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Band 10: Kulturkritik und Gesellschaft I/II www.digitale-bibliothek.de/ebooks Diese Datei wurde aus den Daten des Bandes DB097: Theoder W. Adorno: Gesammelte Schriften mit der Software der Digitalen Bibliothek 5 erstellt und ist nur für den privaten Gebrauch des Nutzers der CD-ROM bzw. der DVD-ROM bestimmt. Bitte beachten Sie die Urheber- und Leistungsschutzrechte der Rechteinhaber der Daten. Weiterführende Informationen: Theoder W. Adorno: Gesammelte Schriften Band 10: Kulturkritik und Gesellschaft I/II
Theodor W. Adorno
Kulturkritik und Gesellschaft I/II Prismen Ohne Leitbild Eingriffe Stichworte © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1977
Prismen Kulturkritik und Gesellschaft
Kulturkritik und Gesellschaft Wer gewohnt ist, mit den Ohren zu denken, der muß am Klang des Wortes Kulturkritik sich ärgern nicht darum bloß, weil es, wie das Automobil, aus Latein und Griechisch zusammengestückt ist. Es erinnert an einen flagranten Widerspruch. Dem Kulturkritiker paßt die Kultur nicht, der einzig er das Unbehagen an ihr verdankt. Er redet, als verträte er sei's ungeschmälerte Natur, sei's einen höheren geschichtlichen Zustand, und ist doch notwendig vom gleichen Wesen wie das, worüber er erhaben sich dünkt. Die von Hegel, zur Apologie von Bestehendem, immer wieder gescholtene Insuffizienz des Subjekts, das in seiner Zufälligkeit und Beschränktheit über die Gewalt von Seiendem richte, wird unerträglich dort, wo das Subjekt selber bis in seine innerste Zusammensetzung hinein vermittelt ist durch den Begriff, dem es als unabhängiges und souveränes sich entgegensetzt. Aber die Unangemessenheit von Kulturkritik läuft dem Inhalt nach nicht sowohl auf Mangel an Respekt vor dem Kritisierten hinaus wie insgeheim auf dessen verblendet-hochmütige Anerkennung. Der Kulturkritiker kann kaum die Unterstellung vermeiden, er hätte die Kultur, welche dieser abgeht. Seine Eitelkeit kommt der ihren zu Hilfe: noch in der anklagenden Gebärde hält er die Idee von Kultur isoliert, unbefragt, dogmatisch fest. Er verschiebt den Angriff. Wo Verzweiflung und unmäßiges Leiden ist, soll darin bloß Geistiges, der Bewußtseinszustand der Menschheit, der Verfall der Norm sich anzeigen. Indem die Kritik darauf insistiert, gerät sie in Versuchung, das Unsagbare zu vergessen, anstatt wie sehr auch ohnmächtig zu trachten, daß es von den Menschen abgewandt werde. Die Haltung des Kulturkritikers erlaubt ihm, kraft der Differenz vom herrschenden Unwesen theoretisch darüber hinauszugehen, obwohl er oft genug bloß dahinter zurückfällt. Aber er gliedert die Differenz in den Kulturbetrieb ein, den er unter sich lassen wollte und der selber der Differenz bedarf, um sich als Kultur zu dünken. Es gehört zu deren Prätention auf Vornehmheit, durch welche sie von der Prüfung an den materiellen Lebensverhältnissen sich dispensiert, nie sich vornehm genug zu sein. Die Überspannung des kulturellen Anspruchs, die doch wieder der Bewegung des Geistes immanent ist, vergrößert den Abstand von jenen Verhältnissen um
so mehr, je zweifelhafter die Würde der Sublimierung, sowohl der zum Greifen nahen materiellen Erfüllung wie der drohenden Vernichtung ungezählter Menschen gegenüber, wird. Solche Vornehmheit macht der Kulturkritiker zu seinem Privileg und verwirkt seine Legitimation, indem er als bezahlter und geehrter Plagegeist der Kultur an dieser mitwirkt. Das jedoch affiziert den Gehalt der Kritik. Noch die unerbittliche Strenge, mit der sie die Wahrheit übers unwahre Bewußtsein ausspricht, bleibt festgehalten im Bannkreis des Bekämpften, auf dessen Manifestationen sie starrt. Wer auf Überlegenheit pocht, fühlt allemal zugleich sich als einer vom Bau. Ginge man aber dem Beruf des Kritikers in der bürgerlichen Gesellschaft nach, der schließlich zum Kulturkritiker avancierte, so stieße man fraglos auf ein usurpatorisches Element im Ursprung, wie es etwa noch Balzac vor Augen stand. Die berufsmäßigen Kritiker waren vorab »Berichterstatter«: sie orientierten über den Markt geistiger Erzeugnisse. Dabei erlangten sie zuweilen Einsicht in die Sache, blieben stets jedoch auch Agenten des Verkehrs, im Einverständnis wo nicht mit dessen einzelnen Produkten so doch mit der Sphäre als solcher. Davon tragen sie die Spur, selbst wenn sie einmal aus der Rolle des Agenten herausgesprungen sind. Daß ihnen die des Sachverständigen und dann des Richters anvertraut wurde, war ökonomisch unvermeidlich, aber zufällig nach dem Maß der Sache. Ihre Agilität, die ihnen in der Konkurrenz bevorzugte Positionen zuspielte – bevorzugt, weil von ihrem Votum weithin das Schicksal des Beurteilten abhängt –, bringt den Schein der Zuständigkeit des Urteils selber hervor. Indem sie geschickt in die Lücken schlüpften und mit der Ausbreitung der Presse an Einfluß gewannen, erlangten sie eben jene Autorität, die ihr Beruf vorgeblich schon voraussetzt. Ihre Überheblichkeit rührt daher, daß, in den Formen der Konkurrenzgesellschaft, in denen alles Sein bloß eines Für anderes ist, auch der Kritiker selbst nur nach seinem marktmäßigen Erfolg gemessen wird, also daran, daß er es ist. Sachverständnis war nicht primär, sondern allenfalls Nebenprodukt, und je mehr es daran mangelt, um so beflissener wird es stets durch Bescheidwissen, Konformismus ersetzt. Wenn die Kritiker auf ihrem Tummelplatz, der Kunst, am Ende nicht mehr verstehen, was sie beurteilen, und mit Gusto zu Propagandisten oder Zensoren sich erniedrigen lassen, so erfüllt sich an ihnen die alte Unehrlichkeit des Gewerbes. Das
Vorrecht von Information und Stellung erlaubt ihnen, ihre Ansicht zu sagen, als wäre sie die Objektivität. Aber es ist einzig die Objektivität des herrschenden Geistes. Sie weben mit am Schleier. Der Begriff der freien Meinungsäußerung, ja der geistigen Freiheit selber in der bürgerlichen Gesellschaft, auf dem die Kulturkritik beruht, hat seine eigene Dialektik. Denn während der Geist der theologisch-feudalen Bevormundung sich entwand, ist er kraft der fortschreitenden Vergesellschaftung aller Beziehungen zwischen den Menschen mehr stets einer anonymen Kontrolle durch die bestehenden Verhältnisse verfallen, die ihm nicht nur äußerlich widerfuhr, sondern in seine immanente Beschaffenheit einwanderte. Im autonomen Geist setzen jene so unerbittlich sich durch, wie vordem im gebundenen die heteronomen Ordnungen. Nicht nur richtet der Geist auf seine marktmäßige Verkäuflichkeit sich ein und reproduziert damit die gesellschaftlich vorwaltenden Kategorien. Sondern er ähnelt objektiv dem Bestehenden sich an, auch wo er subjektiv nicht zur Ware sich macht. Immer enger werden die Maschen des Ganzen nach dem Modell des Tauschakts geknüpft. Es läßt dem einzelnen Bewußtsein immer weniger Ausweichraum, präformiert es immer gründlicher, schneidet ihm a priori gleichsam die Möglichkeit der Differenz ab, die zur Nuance im Einerlei des Angebots verkommt. Zugleich macht der Schein der Freiheit die Besinnung auf die eigene Unfreiheit unvergleichlich viel schwerer, als sie im Widerspruch zur offenen Unfreiheit war, und verstärkt so die Abhängigkeit. Solche Momente, im Verein mit der gesellschaftlichen Selektion der Träger des Geistes, resultieren in dessen Rückbildung. Seine Selbstverantwortung wird, der überwiegenden Tendenz der Gesellschaft nach, zur Fiktion. Er entwickelt von seiner Freiheit bloß das negative Moment, die Erbschaft des planlos-monadologischen Zustands, Unverantwortlichkeit. Sonst aber heftet er sich immer dichter als bloßes Ornament an den Unterbau, von dem sich abzusetzen er beansprucht. Die Invektiven von Karl Kraus gegen die Pressefreiheit sind gewiß nicht buchstäblich zu nehmen: im Ernst die Zensur gegen die Skribenten anrufen, hieße den Teufel mit Beelzebub austreiben. Wohl aber sind Verdummung und Lüge, wie sie unterm Schutz der Pressefreiheit gedeihen, nichts dem historischen Gang des Geistes Akzidentelles sondern die Schandmale der Sklaverei, in welcher seine Befreiung spielt, der falschen Emanzipation. Das wird
nirgends so eklatant wie dort, wo der Geist an den eigenen Ketten zerrt, in der Kritik. Wenn die deutschen Faschisten das Wort verfemten und durch den abgeschmackten Begriff der Kunstbetrachtung ersetzten, so hat sie dabei gewiß nur das handfeste Interesse des autoritären Staates geleitet, der noch in der Schnoddrigkeit des Feuilletonisten das Pathos Marquis Posas fürchtete. Aber die selbstzufriedene Kulturbarbarei, die nach der Abschaffung der Kritik schrie, der Einbruch der wüsten Horde ins Gehege des Geistes, vergalt ahnungslos Gleiches mit Gleichem. In der bestialischen Wut des Braunhemds über den Kritikaster lebt nicht bloß Neid auf die Kultur, gegen die er dumpf aufbegehrt, weil sie ihn ausschließt; nicht bloß das Ressentiment gegen den, welcher das Negative aussprechen darf, das man selber verdrängen muß. Entscheidend ist, daß die souveräne Geste des Kritikers den Lesern die Unabhängigkeit vorspielt, die er nicht hat, und die Führerschaft sich anmaßt, die unvereinbar ist mit seinem eigenen Prinzip geistiger Freiheit. Das innervieren seine Feinde. Ihr Sadismus ward idiosynkratisch von der schlau als Kraft drapierten Schwäche jener angezogen, deren diktatorisches Gebaren es dem der nachfolgenden minder schlauen Machthaber so gern zuvor getan hätte. Nur daß die Faschisten der gleichen Naivetät verfielen wie die Kritiker, dem Glauben an Kultur als solche, der sich nun auf Ostentationen und approbierte Geistesriesen zusammenzog. Sie fühlten sich als Ärzte der Kultur und entfernten aus ihr den Stachel der Kritik. Damit haben sie sie nicht nur zum Offiziellen erniedrigt, sondern obendrein verkannt, wie sehr Kritik und Kultur zum Guten und Schlechten verflochten sind. Wahr ist Kultur bloß als implizit-kritische, und der Geist, der daran vergaß, rächt sich in den Kritikern, die er züchtet, an sich selber. Kritik ist ein unabdingbares Element der in sich widerspruchsvollen Kultur, bei aller Unwahrheit doch wieder so wahr wie die Kultur unwahr. Kritik tut unrecht nicht, sofern sie auflöst – das wäre noch das Beste an ihr –, sondern sofern sie durchs Nichtparieren pariert. Die Komplizität der Kulturkritik mit der Kultur liegt nicht in der bloßen Gesinnung des Kritikers. Vielmehr wird sie von seiner Beziehung zu dem erzwungen, wovon er handelt. Indem er Kultur zu seinem Gegenstand macht, vergegenständlicht er sie nochmals. Ihr eigener Sinn aber ist die Suspension von Vergegenständlichung. Sobald sie selber zu »Kulturgütern« und deren abscheulicher
philosophischer Rationalisierung, den sogenannten »Kulturwerten« gerinnt, hat sie bereits gegen ihre raison d'être gefrevelt. In der Abdestillation solcher Werte, die nicht umsonst an die Sprache des Güteraustauschs anklingen, ist sie dem Geheiß des Marktes zu Willen. Noch in der Begeisterung über fremde Hochkulturen zittert die über das seltene Stück nach, in das man Geld investieren kann. Wenn die Kulturkritik bis hinauf zu Valéry es mit dem Konservativismus hält, so läßt sie insgeheim von einem Kulturbegriff sich leiten, der auf festen, von Konjunkturschwankungen unabhängigen Besitz in der Ära des Spätkapitalismus abzielt. Er behauptet sich als diesem entzogen, gleichsam um inmitten universaler Dynamik universale Sekurität zu gewähren. Das Modell des Kulturkritikers ist der abschätzende Sammler kaum weniger als der Kunstkritiker. Kulturkritik erinnert allgemein an den Gestus des Herunterhandelns, etwa wie der Experte einem Bild die Echtheit bestreitet oder es unter die minderen Werke des Meisters einreiht. Man setzt herab, um mehr zu bekommen. Mit einer von Kulturwerten befleckten Sphäre hat es der Kulturkritiker, als Wertender, unweigerlich zu tun, auch wenn er gegen die Verschacherung der Kultur eifert. In seiner kontemplativen Stellung zu dieser steckt notwendig Durchmustern, Überblicken, Abwägen, Auswählen: dieses paßt ihm, jenes verwirft er. Gerade seine Souveränität, der Anspruch tieferen Wissens dem Objekt gegenüber, die Trennung des Begriffs von seiner Sache durch die Unabhängigkeit des Urteils, droht der dinghaften Gestalt der Sache zu verfallen, indem Kulturkritik auf eine Kollektion gleichsam ausgestellter Ideen sich beruft und isolierte Kategorien wie Geist, Leben, Individuum fetischisiert. Ihr oberster Fetisch aber ist der Begriff der Kultur als solcher. Denn kein authentisches Kunstwerk und keine wahre Philosophie hat ihrem Sinn nach je sich in sich selbst, ihrem Ansichsein erschöpft. Stets standen sie in Relation zu dem realen Lebensprozeß der Gesellschaft, von dem sie sich schieden. Gerade die Absage an den Schuldzusammenhang des blind und verhärtet sich reproduzierenden Lebens, das Beharren auf Unabhängigkeit und Autonomie, auf der Trennung vom geltenden Reich der Zwecke impliziert, als bewußtloses Element zumindest, die Anweisung auf einen Zustand, in dem Freiheit realisiert wäre. Diese bleibt zweideutiges Versprechen der Kultur, solange deren Existenz von
der verhexten Realität, letztlich von der Verfügung über fremde Arbeit abhängt. Daß die europäische Kultur in ihrer Breite, dem, was zum Konsum gelangte und heute von Managern und Psychotechnikern den Bevölkerungen verordnet wird, zur bloßen Ideologie entartete, rührt vom Wechsel ihrer Funktion der materiellen Praxis gegenüber, dem Verzicht auf den Eingriff, her. Dieser Wechsel freilich war kein Sündenfall, sondern historisch erzwungen. Denn nur gebrochen, in der Zurücknahme auf sich selbst geht der bürgerlichen Kultur die Idee der Reinheit von den entstellenden Spuren des zur Totalität über alle Bezirke des Daseins ausgebreiteten Unwesens auf. Nur soweit sie der zum Gegenteil ihrer selbst verkommenen Praxis, der immer neuen Herstellung des Immergleichen, dem Dienst am Kunden im Dienst der Verfügenden sich entzieht und damit den Menschen, hält sie den Menschen die Treue. Aber solche Konzentration auf die absolut eigene Substanz, wie sie in der Dichtung und Theorie von Paul Valéry den großartigsten Niederschlag gefunden hat, arbeitet zugleich an der Aushöhlung jener Substanz. Sobald die gegen die Realität gekehrte Spitze des Geistes von jener abgezogen wird, verändert sich sein Sinn trotz strengster Erhaltung des Sinnes. Durch Resignation gegenüber der Fatalität des Lebensprozesses, und um wieviel mehr noch durch Abdichtung als ein Sonderbereich unter anderen, steht er dem bloß Seienden bei und wird selbst zu einem bloß Seienden. Die Emaskulierung der Kultur, über welche die Philosophen seit Rousseauschen Zeiten und dem Räuberwort vom tintenklecksenden Saeculum über Nietzsche bis zu den Predigern des Engagement um seiner selbst willen sich entrüsten, ist bewirkt vom sich selber zur Kultur Werden der Kultur, damit aber ihrer kräftigen und folgerechten Opposition zur anwachsenden Barbarei der Vorherrschaft von Ökonomie. Was an Kultur Verfall dünkt, ist ihr reines zu sich selber Kommen. Nur als neutralisierte und verdinglichte läßt sie sich vergötzen. Der Fetischismus gravitiert zur Mythologie. Meist berauschen sich die Kulturkritiker an Idolen, von der Frühgeschichte bis zur dubiosen, mittlerweile evaporierten Wärme des liberalistischen Zeitalters, die im Untergang an den Ursprung mahnte. Weil die Kulturkritik gegen die fortschreitende Integration allen Bewußtseins im materiellen Produktionsapparat sich auflehnt, ohne diesen zu durchschauen, wendet sie sich nach rückwärts, verlockt vom Versprechen der Unmittelbarkeit. Dazu
wird sie durch die eigene Schwerkraft genötigt, nicht bloß von einer Ordnung angehalten, die jeden Fortschritt in der Entmenschlichung, die sie herbeiführt, mit Gezeter über Entmenschlichung und Fortschritt übertönen muß. Die Isolierung des Geistes von der materiellen Produktion steigert zwar seine Schätzung, macht ihn aber auch im allgemeinen Bewußtsein zum Sündenbock für das, was die Praxis verübt. Aufklärung als solche, nicht als Instrument realer Herrschaft soll schuld sein: daher der Irrationalismus der Kulturkritik. Hat diese einmal den Geist aus seiner Dialektik mit den materiellen Bedingungen herausgebrochen, so faßt sie ihn einstimmig, geradlinig als Prinzip der Fatalität, und seine eigene Resistenz wird unterschlagen. Versperrt ist dem Kulturkritiker die Einsicht, daß die Verdinglichung des Lebens selbst nicht auf einem Zuviel, sondern einem Zuwenig an Aufklärung beruhe und daß die Verstümmelungen, welche der Menschheit von der gegenwärtigen partikularen Rationalität angetan werden, Schandmale der totalen Irrationalität sind. Deren Abschaffung, die mit der der Trennung körperlicher und geistiger Arbeit zusammenfiele, erscheint der kulturkritischen Verblendung als Chaos: wer Ordnung und Gestalt, welchen Schlages auch immer, glorifiziert, dem wird die versteinerte Trennung zum Urbild des Ewigen. Daß die tödliche Spaltung der Gesellschaft aufhören könnte, setzen sie dem tödlichen Verhängnis gleich: lieber soll das Ende aller Dinge kommen, als daß die Menschheit der Verdinglichung ein Ende machte. Die Angst davor harmoniert mit dem Interesse der Interessenten am Fortbestand der materiellen Versagung. Wann immer Kulturkritik über Materialismus klagt, befördert sie den Glauben, die Sünde sei der Wunsch der Menschen nach Konsumgütern und nicht die Einrichtung des Ganzen, die sie ihnen vorenthält: Sattheit und nicht Hunger. Wäre die Menschheit der Fülle der Güter mächtig, so schüttelte sie die Fesseln jener zivilisierten Barbarei ab, welche die Kulturkritiker dem fortgeschrittenen Stand des Geistes anstatt dem zurückgebliebenen der Verhältnisse aufs Konto schreiben. Die ewigen Werte, auf welche die Kulturkritik deutet, spiegeln das perennierende Unheil. Der Kulturkritiker nährt sich von der mythischen Verstocktheit der Kultur. Weil die Existenz der Kulturkritik, gleichgültig welchen Inhaltes, vom ökonomischen System abhängt, ist sie in dessen Schicksal verflochten. Je vollkommener die gegenwärtigen
gesellschaftlichen Ordnungen, voran die östliche, den Lebensprozeß, die »Muße« inbegriffen, einfangen, um so mehr wird allen Phänomenen des Geistes die Marke der Ordnung aufgeprägt. Entweder sie tragen als Unterhaltung oder Erbauung unmittelbar zu deren Fortbestand bei und werden als ihre Exponenten, nämlich gerade um ihrer gesellschaftlichen Präformiertheit willen, genossen. Als allbekannt, gestempelt, angetastet, schmeicheln sie beim regredierten Bewußtsein sich ein, empfehlen sich als natürlich und erlauben die Identifikation mit den Mächten, deren Übergewicht keine Wahl läßt als die falsche Liebe. Oder sie werden durch Abweichung zur Rarität und abermals verkäuflich. Durch die liberalistische Ära hindurch fiel Kultur in die Zirkulationssphäre, und deren allmähliches Absterben geht ihr selber an den Lebensnerv. Mit der Beseitigung des Handels und seiner irrationalen Schlupfwinkel durch den kalkulierten Verteilungsapparat der Industrie vollendet sich die Kommerzialisierung der Kultur zum Aberwitz. Als ganz gebändigte, verwaltete, gewissermaßen durchkultivierte stirbt sie ab. Spenglers denunziatorischer Satz, Geist und Geld gehörten zusammen, trifft zu. Aber seiner Sympathie mit der unmittelbaren Herrschaft zuliebe redete er einer der ökonomischen wie der geistigen Vermittlungen entäußerten Verfassung des Daseins das Wort und warf den Geist mit einem in der Tat überholten ökonomischen Typus hämisch zusammen, anstatt zu erkennen, daß Geist, wie sehr auch das Produkt jenes Typus, zugleich doch die objektive Möglichkeit impliziert, ihn zu überwinden. – Wie Kultur, als ein von der unmittelbaren, je eigenen Selbsterhaltung sich Absetzendes, im Verkehr, der Mitteilung und Verständigung, dem Markt entsprang; wie sie im Hochkapitalismus dem Handel verschwistert war, wie ihre Träger zu den »dritten Personen« zählten, als Mittelsmänner sich am Leben erhielten, so ist am Ende die nach den klassischen Spielregeln »gesellschaftlich notwendige«, nämlich ökonomisch sich selbst reproduzierende Kultur wieder auf das zusammengeschrumpft, als was sie begann, auf die bloße Kommunikation. Ihre Entfremdung vom Menschlichen terminiert in der absoluten Fügsamkeit gegenüber der von den Lieferanten in Kundenschaft verzauberten Menschheit. Im Namen der Konsumenten unterdrücken die Verfügenden an Kultur, womit sie über die totale Immanenz in der bestehenden Gesellschaft hinausgeht, und lassen übrig nur, was dort seinen eindeutigen
Zweck erfüllt. Die Konsumentenkultur kann sich daher dessen rühmen, kein Luxus, sondern die einfache Verlängerung der Produktion zu sein. Einträchtig stigmatisieren denn auch die auf Massenmanipulation berechneten politischen Tickets als Luxus, Snobismus, highbrow alles Kulturelle, das den Kommissaren mißfällt. Nur wenn die je etablierte Ordnung als Maß aller Dinge akzeptiert ist, wird zur Wahrheit, was sich bei deren bloßer Reproduktion im Bewußtsein bescheidet. Darauf deutet Kulturkritik und empört sich über Flachheit und Substanzverlust. Indem sie jedoch bei der Verfilzung von Kultur mit dem Kommerz stehenbleibt, hat sie an der Flachheit teil. Sie verfährt nach dem Schema der reaktionären Sozialkritiker, die das schaffende gegen das raffende Kapital ausspielen. Während aber in der Tat alle Kultur am Schuldzusammenhang der Gesellschaft teilhat, fristet sie ihr Dasein doch nur, wie, der ›Dialektik der Aufklärung‹ zufolge, der Kommerz, von dem in der Produktionssphäre bereits verübten Unrecht. [ 1 ] Darum verlagert die Kulturkritik die Schuld: sie ist soweit Ideologie, wie sie bloß Kritik der Ideologie bleibt. Die totalitären Regimes beider Spielarten, die das Bestehende noch vor der letzten Unbotmäßigkeit behüten wollen, welche sie der Kultur selbst im Lakaienstande zutrauen, können diese und ihre Selbstbesinnung zwingend des Lakaientums überführen. Sie rücken dem an sich schon unerträglich gewordenen Geist zuleibe und fühlen sich dabei auch noch als Reiniger und Revolutionäre. Die ideologische Funktion der Kulturkritik spannt deren eigene Wahrheit, den Widerstand gegen die Ideologie ein. Der Kampf gegen die Lüge kommt dem nackten Grauen zugute. »Wenn ich Kultur höre, entsichere ich meinen Revolver«, sagte der Sprecher der Hitlerischen Reichskulturkammer. Kulturkritik kann aber nur darum so eindringlich der Kultur ihren Verfall als Verletzung der reinen Autonomie des Geistes, als Prostitution vorwerfen, weil eben Kultur selber in der radikalen Trennung geistiger und körperlicher Arbeit entspringt und aus dieser Trennung, der Erbsünde gleichsam, ihre Kräfte zieht. Wenn Kultur die Trennung bloß verleugnet und unmittelbare Verbundenheit mimt, fällt sie hinter ihren Begriff zurück. Erst der Geist, der im Wahn seiner Absolutheit vom bloß Daseienden ganz sich entfernt, bestimmt in Wahrheit das bloß Daseiende in seiner Negativität: solange nur ein Geringes vom Geiste noch im Zusammenhang der
Reproduktion des Lebens verbleibt, wird er auf diesen auch vereidigt. Die athenische Antibanausie war beides: der dreiste Hochmut dessen, der sich die Hände nicht schmutzig macht, gegen den, von dessen Arbeit er lebt, und die Bewahrung des Bildes einer Existenz, die hinausweist über den Zwang, der hinter aller Arbeit steht. Indem die Antibanausie das schlechte Gewissen zum Ausdruck bringt und auf die Opfer als deren Niedrigkeit projiziert, verklagt sie zugleich, was ihnen widerfährt: die Unterwerfung der Menschen unter die je geltende Form der Reproduktion ihres Lebens. Alle »reine Kultur« ist den Wortführern der Macht unbehaglich gewesen. Platon und Aristoteles haben wohl gewußt, warum sie deren Vorstellung nicht aufkommen ließen, sondern in Fragen der Beurteilung von Kunst einem Pragmatismus das Wort redeten, der zum Pathos der beiden großen Metaphysiken im wunderlichen Gegensatz steht. Die neuere bürgerliche Kulturkritik freilich ist zu vorsichtig geworden, darin offen ihnen zu folgen, obwohl sie insgeheim bei der Scheidung von hoher und populärer Kultur, von Kunst und Unterhaltung, von Erkenntnis und unverbindlicher Weltanschauung sich beruhigt. Sie ist um so viel antibanausischer als die athenische Oberklasse, wie das Proletariat gefährlicher als die Sklaven. Der moderne Begriff der reinen, autonomen Kultur bezeugt den ins Unversöhnliche angewachsenen Antagonismus durch Kompromißlosigkeit gegenüber dem für anderes Seienden sowohl wie durch die Hybris der Ideologie, die sich als an sich Seiendes inthronisiert. Kulturkritik teilt mit ihrem Objekt dessen Verblendung. Sie ist außerstande, die Erkenntnis ihrer Hinfälligkeit, die in der Spaltung gesetzt ist, aufkommen zu lassen. Keine Gesellschaft, die ihrem eigenen Begriff, dem der Menschheit, widerspricht, kann das volle Bewußtsein von sich selber haben. Es zu hintertreiben, bedarf es nicht erst der subjektiven ideologischen Veranstaltung, obwohl diese in Zeiten des historischen Umschlags die objektive Verblendung zu verstärken pflegt. Aber daß jegliche Form der Repression, je nach dem Stand der Technik, zur Erhaltung der Gesamtgesellschaft erfordert war und daß die Gesellschaft, so wie sie ist, trotz aller Absurdität doch ihr Leben unter den bestehenden Verhältnissen reproduziert, bringt objektiv den Schein ihrer Legitimation hervor. Kultur, als der Inbegriff des Selbstbewußtseins einer antagonistischen Gesellschaft, kann solchen Scheines so wenig
sich entäußern wie jene Kulturkritik, welche die Kultur an deren eigenem Ideal mißt. Der Schein ist total geworden in einer Phase, in der Irrationalität und objektive Falschheit hinter Rationalität und objektiver Notwendigkeit sich verstecken. Dennoch setzen die Antagonismen um ihrer realen Gewalt willen auch im Bewußtsein sich durch. Gerade weil Kultur das Prinzip von Harmonie in der antagonistischen Gesellschaft zu deren Verklärung als geltend behauptet, kann sie die Konfrontation der Gesellschaft mit ihrem eigenen Harmoniebegriff nicht vermeiden und stößt dabei auf Disharmonie. Die Ideologie, welche das Leben bestätigt, tritt durch die immanente Triebkraft des Ideals zum Leben in Gegensatz. Der Geist, der sieht, daß die Realität nicht in allem ihm gleicht, sondern einer bewußtlosen und fatalen Dynamik unterliegt, wird selbst gegen seinen Willen über die Apologie hinausgedrängt. Daß die Theorie zur realen Gewalt werde, wenn sie die Menschen ergreift, gründet in der Objektivität des Geistes selber, der kraft der Erfüllung seiner ideologischen Funktion an der Ideologie irre werden muß. Wenn der Geist Verblendung ausdrückt, so drückt er zugleich, von der Unvereinbarkeit der Ideologie mit dem Dasein bewogen, den Versuch aus, ihr sich zu entwinden. Enttäuscht erblickt er das bloße Dasein in seiner Blöße und überantwortet es der Kritik. Entweder er verdammt, nach dem wie immer fragwürdigen Maß seines reinen Prinzips, die materielle Basis, oder er wird an seiner Unvereinbarkeit mit jener der eigenen Fragwürdigkeit inne. Kraft der gesellschaftlichen Dynamik geht Kultur in Kulturkritik über, welche den Begriff Kultur festhält, deren gegenwärtige Erscheinungen aber als bloße Waren und Verdummungsmittel demoliert. Solches kritische Bewußtsein bleibt der Kultur hörig insofern [ 2 ] , als es durch die Befassung mit dieser von dem Grauen ablenkt, aber es bestimmt sie auch als Komplement des Grauens. – Es folgt daraus die doppelschlächtige Stellung der gesellschaftlichen Theorie zur Kulturkritik. Das kulturkritische Verfahren steht selber zur permanenten Kritik sowohl in seinen allgemeinen Voraussetzungen, seiner Immanenz in der bestehenden Gesellschaft, wie in den konkreten Urteilen, die es vollzieht. Denn die Hörigkeit der Kulturkritik verrät sich je an ihrem spezifischen Inhalt und ist nur an diesem verbindlich zu greifen. Zugleich aber hat die dialektische Theorie, will sie nicht dem Ökonomismus verfallen und einer Gesinnung, welche glaubt, die Veränderung der
Welt erschöpfe sich in der Steigerung der Produktion, die Verpflichtung, die Kulturkritik in sich aufzunehmen, die wahr ist, indem sie die Unwahrheit zum Bewußtsein ihrer selbst bringt. Zeigt die dialektische Theorie an der Kultur als bloßem Epiphänomen sich desinteressiert, so trägt sie dazu bei, daß das kulturelle Unwesen fortwuchert, und wirkt mit an der Reproduktion des Schlechten. Der kulturelle Traditionalismus und der Terror der neuen russischen Gewaltherrscher sind eines Sinnes. Daß sie Kultur als ganze unbesehen bejahen und zugleich alle nicht eingeschliffenen Bewußtseinsformen verfemen, ist nicht weniger ideologisch, als wenn die Kritik sich dabei bescheidet, die losgelöste Kultur vor ihr Forum zu rufen, oder gar deren vorgebliche Negativität für das Unheil verantwortlich macht. Wird Kultur einmal als ganze akzeptiert, so ist ihr bereits das Ferment der eigenen Wahrheit entzogen, die Verneinung. Kulturfreudigkeit stimmt zum Klima von Schlachtenmalerei und -musik. Die Schwelle der dialektischen gegenüber der Kulturkritik aber ist, daß sie diese bis zur Aufhebung des Begriffs der Kultur selber steigert. Gegen die immanente Kritik der Kultur läßt sich vorbringen, daß sie das Entscheidende, die jeweilige Rolle der Ideologie in den gesellschaftlichen Konflikten unterschlage. Indem man überhaupt etwas wie eine eigenständige Logik der Kultur, sei's auch bloß methodisch, supponiere, mache man sich zum Mitschuldigen an der Abspaltung der Kultur, dem ideologischen proton peydos, denn ihr Gehalt liege nicht rein in ihr selbst, sondern in ihrem Verhältnis zu einem ihr Auswendigen, dem materiellen Lebensprozeß. Sie sei, wie Marx von den Rechtsverhältnissen und Staatsformen lehrte, insgesamt »weder aus sich selbst zu begreifen ..., noch aus der sogenannten allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes« [ 3 ] . Davon absehen, hieße kaum weniger, als die Ideologie zur Sache selbst machen und damit zu befestigen. In der Tat darf die dialektische Wendung der Kulturkritik nicht die Maßstäbe der Kultur hypostasieren. Sie hält sich dieser gegenüber beweglich, indem sie ihre Stellung im Ganzen einsieht. Ohne solche Freiheit, ohne Hinausgehen des Bewußtseins über die Immanenz der Kultur wäre immanente Kritik selber nicht denkbar: der Selbstbewegung des Objekts vermag nur zu folgen, wer dieser nicht durchaus angehört. Aber die traditionelle Forderung von Ideologienkritik unterliegt selber einer historischen Dynamik. Sie war konzipiert
gegen den Idealismus als die philosophische Form, in welcher die Fetischisierung der Kultur sich spiegelt. Heute aber ist die Bestimmung von Bewußtsein durch Sein zu einem Mittel geworden, alles nicht mit dem Dasein einverstandene Bewußtsein zu eskamotieren. Das Moment der Objektivität von Wahrheit, ohne das Dialektik nicht vorgestellt werden kann, wird stillschweigend durch vulgären Positivismus und Pragmatismus – in letzter Instanz: bürgerlichen Subjektivismus – ersetzt. Im bürgerlichen Zeitalter war die vorherrschende Theorie die Ideologie und die oppositionelle Praxis stand unmittelbar dagegen. Heute gibt es eigentlich kaum mehr Theorie, und die Ideologie tönt gleichsam aus dem Räderwerk der unausweichlichen Praxis. Kein Satz mehr wird zu denken gewagt, dem nicht explizit, in allen Lagern, eben der Hinweis, für wen er gut sei, fröhlich beigegeben wäre, den einmal die Polemik herauszuschälen suchte. Unideologisch ist aber der Gedanke, der sich nicht auf operational terms bringen läßt, sondern versucht, rein der Sache selbst zu jener Sprache zu verhelfen, welche ihr die herrschende sonst abschneidet. Seitdem jedes avancierte wirtschaftspolitische Gremium es für selbstverständlich hält, daß es darauf ankomme, die Welt zu verändern, und es für Allotria erachtet, sie zu interpretieren, fällt es schwer, die Thesen gegen Feuerbach schlicht zu unterstellen. Dialektik schließt auch das Verhältnis von Aktion und Kontemplation ein. In einer Epoche, in der die bürgerliche Sozialwissenschaft, nach Schelers Wort, den marxistischen Ideologienbegriff »geplündert« und in allgemeinen Relativismus verwässert hat, ist die Gefahr, die Funktion von Ideologien zu verkennen, schon geringer als die, subsumierend, sachfremd und administrativ über geistige Gebilde zu befinden und sie blank in jene geltenden Machtkonstellationen einzugliedern, die zu durchschauen dem Geist obläge. Gleich manchen anderen Elementen des dialektischen Materialismus ist auch die Ideologienlehre aus einem Mittel der Erkenntnis zu einem von deren Gängelung geworden. Im Namen der Abhängigkeit des Überbaus vom Unterbau wird der Einsatz der Ideologien überwacht, anstatt daß diese kritisiert wären. Man kümmert sich nicht um ihren objektiven Gehalt, wofern sie nur zweckmäßig sind. Aber die Funktion der Ideologien wird offenbar selbst immer abstrakter. Gerechtfertigt ist der Verdacht früherer Kulturkritiker, daß es in einer Welt, in der Bildungsprivileg und Fesselung des
Bewußtseins die eigentliche Erfahrung geistiger Gebilde sowieso den Massen vorenthält, nicht mehr so sehr auf die spezifischen ideologischen Inhalte ankomme wie darauf, daß überhaupt irgend etwas da sei, was das Vakuum des expropriierten Bewußtseins ausfüllt und vom offenbaren Geheimnis ablenkt. Für den gesellschaftlichen Wirkungszusammenhang ist es vermutlich weit weniger wichtig, welche besonderen ideologischen Lehren ein Film seinen Betrachtern einflößt, als daß die nach Hause Gehenden an den Namen der Schauspieler und ihren Ehehändeln interessiert sind. Vulgäre Begriffe wie der der Zerstreuung sind angemessener als hochtrabende Erklärungen darüber, daß der eine Schriftsteller Vertreter des Klein- und der andere des Großbürgertums sei. Kultur ist ideologisch geworden nicht nur als Inbegriff der subjektiv ausgeheckten Manifestationen des objektiven Geistes, sondern im weitesten Maße auch als Sphäre des Privatlebens. Diese verdeckt mit dem Schein von Wichtigkeit und Autonomie, daß sie nur noch als Anhängsel des Sozialprozesses sich fortschleppt. Leben verwandelt sich in die Ideologie der Verdinglichung, eigentlich die Maske des Toten. Darum hat die Kritik oftmals weniger nach den bestimmten Interessenlagen zu fahnden, denen kulturelle Phänomene zugeordnet sein sollen, als zu entziffern, was von der Tendenz der Gesamtgesellschaft in ihnen zutage kommt, durch die hindurch die mächtigsten Interessen sich realisieren. Kulturkritik wird zur gesellschaftlichen Physiognomik. Je mehr das Ganze der naturwüchsigen Elemente entäußert, gesellschaftlich vermittelt, filtriert, »Bewußtsein« ist, um so mehr wird das Ganze »Kultur«. Der materielle Produktionsprozeß als solcher offenbart sich am Ende als das, was er in seinem Ursprung im Tauschverhältnis, als einem falschen Bewußtsein der Kontrahenten voneinander, neben dem Mittel zur Erhaltung des Lebens zugleich immer schon war: Ideologie. Umgekehrt aber wird zugleich das Bewußtsein mehr stets zu einem bloßen Durchgangsmoment in der Schaltung des Ganzen. Ideologie heißt heute: die Gesellschaft als Erscheinung. Sie ist vermittelt durch die Totalität, hinter der die Herrschaft des Partialen steht, nicht jedoch umstandslos reduktibel auf ein Partialinteresse, und darum gewissermaßen in all ihren Stücken gleich nah dem Mittelpunkt. Die Alternative, Kultur insgesamt von außen, unter dem Oberbegriff der Ideologie in Frage zu stellen, oder sie mit den
Normen zu konfrontieren, die sie selbst auskristallisierte, kann die kritische Theorie nicht anerkennen. Auf der Entscheidung: immanent oder transzendent zu bestehen, ist ein Rückfall in die traditionelle Logik, der Hegels Polemik gegen Kant galt: daß jegliche Methode, welche Grenzen bestimmt und in den Grenzen ihres Gegenstandes sich hält, eben dadurch über die Grenzen hinausgehe. Die kulturtranszendente Position ist von der Dialektik in gewissem Sinn vorausgesetzt als das Bewußtsein, welches vorweg der Fetischisierung der Sphäre Geist sich nicht unterwirft. Dialektik heißt Intransigenz gegenüber jeglicher Verdinglichung. Die transzendente Methode, die aufs Ganze geht, scheint radikaler als die immanente, welche das fragwürdige Ganze zunächst sich vorgibt. Sie bezieht einen der Kultur und dem gesellschaftlichen Verblendungszusammenhang enthobenen Standort, einen archimedischen gleichsam, von dem aus das Bewußtsein die Totalität, wie sehr sie auch laste, in Fluß zu bringen vermag. Der Angriff aufs Ganze hat seine Kraft darin, daß um so mehr Schein von Einheit und Ganzheit in der Welt ist, wie gelungene Verdinglichung, also Trennung. Aber die summarische Abfertigung der Ideologie, wie sie heute schon in der Sowjetsphäre als Ächtung des »Objektivismus« zum Vorwand zynischen Terrors wurde, tut jener Ganzheit wiederum zuviel Ehre an. Sie kauft der Gesellschaft ihre Kultur en bloc ab, gleichgültig wie sie nun darüber verfügt. Die Ideologie, der gesellschaftlich notwendige Schein, ist heute die reale Gesellschaft selber, insofern deren integrale Macht und Unausweichlichkeit, ihr überwältigendes Dasein an sich, den Sinn surrogiert, welchen jenes Dasein ausgerottet hat. Die Wahl eines ihrem Bann entzogenen Standpunkts ist so fiktiv wie nur je die Konstruktion abstrakter Utopien. Daher sieht sich die transzendente Kritik der Kultur, ganz ähnlich der bürgerlichen Kulturkritik, zum Rückgriff verhalten und beschwört jenes Ideal des Natürlichen, das selber ein Kernstück der bürgerlichen Ideologie bildet. Der transzendente Angriff auf die Kultur spricht regelmäßig die Sprache des falschen Ausbruchs, die des Naturburschen. Er verachtet den Geist: die geistigen Gebilde, die ja doch nur gemacht sein, nur das natürliche Leben überdecken sollen, lassen um solcher vorgeblichen Nichtigkeit willen beliebig sich hantieren und für Herrschaftszwecke verwerten. Das erklärt die Unzulänglichkeit der meisten sozialistischen Beiträge zur Kulturkritik: sie entraten der
Erfahrung dessen, womit sie sich befassen. Indem sie das Ganze wie mit einem Schwamm wegwischen wollen, entwickeln sie Affinität zur Barbarei, und ihre Sympathien sind unweigerlich mit dem Primitiveren, Undifferenzierteren, wie sehr es auch im Widerspruch zum Stand der geistigen Produktivkraft selber stehen mag. Die bündige Verleugnung der Kultur wird zum Vorwand, das Gröbste, Gesündeste, selber Repressive zu befördern, zumal den perennierenden Konflikt von Gesellschaft und Individuum, die doch beide gleichermaßen gezeichnet sind, stur zugunsten der Gesellschaft zu entscheiden nach dem Maß der Administratoren, die ihrer sich bemächtigt haben. Von da ist dann nur ein Schritt zur offiziellen Wiedereinführung der Kultur. Dagegen sträubt sich das immanente Verfahren als das wesentlicher dialektische. Es nimmt das Prinzip ernst, nicht die Ideologie an sich sei unwahr, sondern ihre Prätention, mit der Wirklichkeit übereinzustimmen. Immanente Kritik geistiger Gebilde heißt, in der Analyse ihrer Gestalt und ihres Sinnes den Widerspruch zwischen ihrer objektiven Idee und jener Prätention zu begreifen, und zu benennen, was die Konsistenz und Inkonsistenz der Gebilde an sich von der Verfassung des Daseins ausdrückt. Solche Kritik bescheidet sich nicht bei dem allgemeinen Wissen von der Knechtschaft des objektiven Geistes, sondern sucht dies Wissen in die Kraft der Betrachtung der Sache selbst umzusetzen. Einsicht in die Negativität der Kultur ist verbindlich bloß dann, wenn sie sich ausweist im triftigen Befund der Wahrheit oder Unwahrheit einer Erkenntnis, der Konsequenz oder Lahmheit eines Gedankens, der Stimmigkeit oder Brüchigkeit eines Gebildes, der Substantialität oder Nichtigkeit einer Sprachfigur. Wo sie aufs Unzulängliche stößt, schreibt sie es nicht eilfertig dem Individuum und seiner Psychologie, dem bloßen Deckbild des Mißlingens zu, sondern sucht es aus der Unversöhnlichkeit der Momente des Objekts abzuleiten. Sie geht der Logik seiner Aporien, der in der Aufgabe selber gelegenen Unlösbarkeit, nach. In solchen Antinomien wird sie der gesellschaftlichen inne. Gelungen aber heißt der immanenten Kritik nicht sowohl das Gebilde, das die objektiven Widersprüche zum Trug der Harmonie versöhnt, wie vielmehr jenes, das die Idee von Harmonie negativ ausdrückt, indem es die Widersprüche rein, unnachgiebig, in seiner innersten Struktur prägt. Vor ihm verliert das Verdikt »bloße Ideologie« seinen Sinn. Zugleich jedoch hält die immanente Kritik in Evidenz, daß aller
Geist bis heute unter einem Bann steht. Er ist nicht von sich aus der Aufhebung der Widersprüche mächtig, an denen er laboriert. Selbst der radikalsten Reflexion aufs eigene Versagen ist die Grenze gesetzt, daß sie nur Reflexion bleibt, ohne das Dasein zu verändern, von dem das Versagen des Geistes zeugt. Darum vermag die immanente Kritik bei ihrem Begriff sich nicht zu beruhigen. Weder ist sie eitel genug, die Versenkung in den Geist unmittelbar dem Ausbruch aus seiner Gefangenschaft gleichzusetzen, noch auch nur naiv genug, zu glauben, der unbeirrten Versenkung in den Gegenstand fiele kraft der Logik der Sache die Wahrheit zu, wenn nicht das subjektive Wissen ums schlechte Ganze, von außen gleichsam, jeden Augenblick in die Bestimmung des Gegenstandes mit eingeht. Je weniger die dialektische Methode heute die Hegelsche Identität von Subjekt und Objekt sich vorgeben kann, um so mehr ist sie verpflichtet, der Doppelheit der Momente eingedenk zu sein: das Wissen von der Gesellschaft als Totalität, und von der Verflochtenheit des Geistes in jene, zu beziehen auf den Anspruch des Objekts, als solches, seinem spezifischen Gehalt nach, erkannt zu werden. Dialektik läßt daher von keiner Forderung logischer Sauberkeit das Recht sich verkümmern, von einem Genus zum anderen überzugehen, die in sich verschlossene Sache durch den Blick auf die Gesellschaft aufleuchten zu machen, der Gesellschaft die Rechnung zu präsentieren, welche die Sache nicht einlöst. Am Ende wird der dialektischen Methode der Gegensatz der von außen und von innen eindringenden Erkenntnis selber als Symptom jener Verdinglichung suspekt, die anzuklagen ihr obliegt: der abstrakten Zurechnung dort, dem gleichsam verwaltenden Denken, entspricht hier der Fetischismus des gegen seine Genesis abgeblendeten Objekts, die Prärogative des Fachmanns. Wie aber die stur immanente Betrachtung in den Idealismus zurückzuschlagen droht, die Illusion selbstgenügsamen, über sich und die Realität gebietenden Geistes, so droht die transzendente, die Arbeit des Begriffs zu vergessen, und mit der vorschriftsmäßigen Etikettierung, dem gefrorenen Schimpfwort – meist lautet es »kleinbürgerlich« –, dem von oben her abfertigenden Ukas sich zu begnügen. Topologisches Denken, das von jedem Phänomen weiß, wo es hingehört, und von keinem, was es ist, ist insgeheim verwandt dem paranoischen Wahnsystem, dem die Erfahrung des Objekts abgeschnitten ward. Die Welt wird mit leerlaufenden Kategorien in
Schwarz und Weiß aufgeteilt und zu eben der Herrschaft zugerichtet, gegen welche einmal die Begriffe konzipiert waren. Keine Theorie, und auch die wahre nicht, ist vor der Perversion in den Wahn sicher, wenn sie einmal der spontanen Beziehung auf das Objekt sich entäußert hat. Davor muß Dialektik nicht weniger sich hüten als vor der Befangenheit im Kulturobjekt. Sie darf weder dem Geistkult sich verschreiben noch der Geistfeindschaft. Der dialektische Kritiker an der Kultur muß an dieser teilhaben und nicht teilhaben. Nur dann läßt er der Sache und sich selber Gerechtigkeit widerfahren. Die herkömmliche transzendente Kritik der Ideologie ist veraltet. Prinzipiell macht durch ungebrochene Transposition des Kausalbegriffs aus dem Bereich der physischen Natur in die Gesellschaft die Methode eben jene Verdinglichung sich zu eigen, die sie zum kritischen Thema hat, und fällt hinter ihren eigenen Gegenstand zurück. Immerhin kann die transzendente Methode darauf sich berufen, daß sie nur soweit Begriffe verdinglichten Wesens benutzt, wie die Gesellschaft selber verdinglicht ist; daß sie dieser durch die Roheit und Härte des Kausalbegriffes gleichsam den Spiegel vorhält, der sie der eigenen Roheit und Härte wie der Entwürdigung des Geistes in ihr überführt. Aber die finstere Einheitsgesellschaft duldet nicht einmal mehr jene relativ selbständigen, abgesetzten Momente, welche einst die Theorie der kausalen Abhängigkeit von Überbau und Unterbau meinte. In dem Freiluftgefängnis, zu dem die Welt wird, kommt es schon gar nicht mehr darauf an, was wovon abhängt, so sehr ist alles eins. Alle Phänomene starren wie Hoheitszeichen absoluter Herrschaft dessen was ist. Gerade weil es im eigentlichen Sinn von falschem Bewußtsein keine Ideologien mehr gibt, sondern bloß noch die Reklame für die Welt durch deren Verdopplung, und die provokatorische Lüge, die nicht geglaubt werden will, sondern Schweigen gebietet, nimmt die Frage nach der kausalen Abhängigkeit der Kultur, die unmittelbar als Stimme dessen ertönt, wovon sie bloß abhängig sein soll, etwas Hinterwäldlerisches an. Allerdings wird davon am Ende auch die immanente Methode ereilt. Sie wird von ihrem Gegenstand in den Abgrund gerissen. Die materialistisch durchsichtige Kultur ist nicht materialistisch aufrichtiger, nur niedriger geworden. Mit der eigenen Partikularität hat sie auch das Salz der Wahrheit eingebüßt, das einmal in ihrem
Gegensatz zu anderen Partikularitäten bestand. Zieht man sie zu jener Verantwortung vor sich, welche sie verleugnet, so bestätigt man nur die kulturelle Wichtigmacherei. Als neutralisierte und zugerichtete aber wird heute die gesamte traditionelle Kultur nichtig: durch einen irrevokablen Prozeß ist ihre von den Russen scheinheilig reklamierte Erbschaft in weitestem Maße entbehrlich, überflüssig, Schund geworden, worauf dann wieder die Geschäftemacher der Massenkultur grinsend hinweisen können, die sie als solchen Schund behandeln. Je totaler die Gesellschaft, um so verdinglichter auch der Geist und um so paradoxer sein Beginnen, der Verdinglichung aus eigenem sich zu entwinden. Noch das äußerste Bewußtsein vom Verhängnis droht zum Geschwätz zu entarten. Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben. Der absoluten Verdinglichung, die den Fortschritt des Geistes als eines ihrer Elemente voraussetzte und die ihn heute gänzlich aufzusaugen sich anschickt, ist der kritische Geist nicht gewachsen, solange er bei sich bleibt in selbstgenügsamer Kontemplation.
Das Bewußtsein der Wissenssoziologie Die von Karl Mannheim vertretene Wissenssoziologie beginnt abermals in Deutschland zu wirken. Das verdankt sie dem Gestus der harmlosen Skepsis. Sie stellt, gleich ihren existenzphilosophischen Gegenspielern, alles in Frage und greift nichts an. Intellektuelle, die sich vom wirklichen oder vermeintlichen »Dogma« abgestoßen fühlen, sind angeheimelt vom Klima einer Vorurteilslosigkeit und Voraussetzungslosigkeit, die ihnen obendrein etwas vom Pathos der selbstbewußt-einsam ausharrenden Rationalität Max Webers als Wegzehrung fürs schwankende Bewußtsein ihrer Autonomie spendet. Bei Mannheim so gut wie bei seinem Antipoden Jaspers kommen manche Impulse der Weberschen Schule zutage, die einstmals dem polyhistorischen Bau eingemauert waren. Deren wichtigster ist der zur Abwehr der Ideologienlehre in ihrer authentischen Gestalt. All das mag rechtfertigen, auf ein älteres Buch Mannheims wie ›Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus‹ zurückzukommen. Es wendet sich an eine breitere Leserschicht als das Ideologiebuch. Es ist nicht auf jegliche seiner Formulierungen festzulegen. Um so mehr trägt es zur Einsicht in die Wirkung bei. Die Gesinnung ist »positivistisch«: gesellschaftliche Phänomene werden »als solche« hingenommen und dann klassifikatorisch nach Allgemeinbegriffen aufgeteilt. Damit sind die sozialen Antagonismen tendenziell nivelliert: sie erscheinen bloß noch als subtile Modifikationen eines Begriffsapparates, dessen abdestillierte »Prinzipien« sich selbstherrlich installieren und sich schattenhafte Kämpfe liefern: »Die letzte Wurzel aller Konflikte im gegenwärtigen Zeitalter des Umbaus läßt sich in eine einfache Formel fassen. Es geht auf der ganzen Linie um Spannungen, die aus dem unbewältigten Nebeneinanderwirken des ›laisser-faire‹-Prinzips und des neuen Prinzips der Regulierung entstehen.« [ 4 ] Als ob nicht alles davon abhinge, wer wen reguliert. Oder es wird für die Nöte des Zeitalters »das Irrationale« [ 5 ] anstelle bestimmter Menschengruppen oder einer bestimmten Beschaffenheit der Gesellschaft verantwortlich gemacht; das Anwachsen der Antagonismen heißt nobel »disproportionale
Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten« [ 6 ] , wie wenn es sich um Persönlichkeiten handelte und nicht um die anonyme Maschinerie, welche das Individuum abschafft. Die Nivellierung trifft Gerechte und Ungerechte gleichermaßen; aus ihnen wird der »Durchschnittsmensch« ausabstrahiert [ 7 ] und diesem, als »von je vorhanden«, »Engstirnigkeit« zugeschrieben. Mannheim gesteht von der »experimentierenden Selbstbeobachtung«, deren Namen er exakteren Wissenschaften entlehnt, frank zu: »Alle diese Formen der Selbstbeobachtung haben eine Tendenz zur Nivellierung und verzichten auf individuelle Differenzen, weil sie am Generellen des Menschen und seiner Wandelbarkeit interessiert sind.« [ 8 ] Nicht aber an seinen besonderen Verhältnissen und seiner realen Verwandlung. Die generalisierende Ordnung von Mannheims Begriffswelt ist in ihrer Neutralität der realen wohlgesinnt: sie bedient sich der sozialkritischen Termini und nimmt ihnen zugleich den Stachel. Nivelliert wird vorab der Begriff der Gesellschaft als solcher, vermöge einer Redeweise, die den aufs äußerste kompromittierten Terminus »Integration« beschwört. Er tritt nicht zufällig auf. Der Rekurs auf die gesellschaftliche Totalität hat bei Mannheim weniger die Funktion, die verstrickte Abhängigkeit der Menschen im Ganzen hervorzuheben, als den gesellschaftlichen Prozeß selber im Sinne eines mittleren Ausgleichs der Widersprüche im Ganzen zu verklären, durch welchen theoretisch die Widersprüche verschwinden, in denen doch gerade der Lebensprozeß »der« Gesellschaft besteht. »So sieht man es einer sich durchsetzenden Meinung in der Gesellschaft nicht ohne weiteres an, daß sie das Ergebnis eines Selektionsprozesses ist, der viele in dieselbe Richtung strebende Lebensäußerungen integriert« [ 9 ] : in solchem Begriff der Selektion verschwindet die Tatsache, daß Lebensnot unter immerwährender katastrophischer Bedrohung und aberwitzigen Opfern den Mechanismus stöhnend im Gange erhält. Die prekäre und irrationale Selbsterhaltung der Gesellschaft wird umgefälscht zu einer Leistung ihrer immanenten Gerechtigkeit oder »Vernünftigkeit«. Wo integriert wird, sind auch die Eliten nicht weit. Die »Kulturkrise«, zu welcher bei Mannheim Terror und Grauen eilends sich sublimieren, wird ihm zum »Problem der Elitenbildung«. Er weiß vier »Prozesse« herauszupräparieren, in denen dies Problem
sich kristallisieren soll: die wachsende Zahl der Eliten und die daraus entstehende Schwächung ihrer Stoßkraft; die Zerstörung der Geschlossenheit der Elitegruppen; der Wandel im Selektionsprozeß der Eliten; der Wandel in ihrer Zusammensetzung [ 10 ] . Es stehen dabei zunächst die benutzten Kategorien in Frage. Der Positivist, der sine ira et studio die Tatsachen registriert, ist bereit, mit ihnen die Phrasen hinzunehmen, welche die Tatsachen verschleiern. Eine solche Phrase ist der Elitebegriff selber. Seine Unwahrhaftigkeit besteht darin, daß die Privilegien bestimmter Gruppen teleologisch für das Resultat eines wie immer gearteten objektiven Ausleseprozesses ausgegeben werden, während niemand die Eliten ausgelesen hat als etwa diese sich selber. Mannheim aber sieht bei der Verwendung des Elitebegriffs von der gesellschaftlichen Macht ab. Er gebraucht ihn lediglich formalsoziologisch »deskriptiv«. Das erlaubt es ihm, auf die je Privilegierten alles erwünschte Licht fallen zu lassen. Zugleich aber ist der Elitebegriff so gewandt, daß die gegenwärtige Not durch irgendwelche gleichfalls »neutrale« Störungen des Elitemechanismus ohne Rücksicht auf die politische Ökonomie von oben her deduzierbar wird. Dabei gerät Mannheim in offenen Konflikt mit den Fakten. Wenn er behauptet, es sei in der »massendemokratischen« Gesellschaft für jedermann stets leichter geworden, in alle gesellschaftlichen Wirkungssphären Zutritt zu finden, und es werde damit den Eliten »ihre zur Ausformung der geistig-seelischen Impulse nötige Exklusivität« genommen [ 11 ] , so widerspricht dem die bescheidenste vorwissenschaftliche Erfahrung. Die mangelnde Homogenität der Eliten ist eine Fiktion, verwandt der marktgängigen vom Chaos der Wertewelt und der Zersetzung aller festen Ordnungen. Wer nicht hereinpaßt, wird draußengehalten. Noch diejenigen Differenzen der Überzeugung, in denen sich solche der realen Interessen ausprägen, taugen dazu, über die Einigkeit im Entscheidenden zu täuschen. Nichts ist dabei dienlicher als das Gerede von der Kulturkrise, in das Mannheim ohne Zögern einstimmt. Es verzaubert das reale Leiden in die Schuld des Geistes, denunziert die Kultur und kommt meist der Barbarei zugute. Kulturkritik hat ihre Funktion gewechselt. Längst ist der Bildungsphilister nicht mehr der Fortschrittsmann, die Figur, als welche Nietzsche David Friedrich Strauß identifizierte. Sondern er hat Tiefsinn und Pessimismus gelernt, verleugnet in deren Namen die Humanität, die mit seinen gegenwärtigen Interessen unvereinbar
ward, und sein altehrwürdiger Zerstörungsdrang kehrt sich gegen die gleichen Güter, deren Untergang er sentimental bejammert. Den Bildungssoziologen der Kulturkrise ficht das wenig an. Seine heroische ratio hat nicht einmal Bedenken, die abgeleierte These vom Erlöschen der stilbildenden Kraft der europäischen Kunst seit dem Ende des Biedermeiers romantisch-reaktionär gegen die Moderne zu wenden. Hingenommen wird mit der Elitetheorie auch deren spezifische Färbung. Zu den konventionellen Begriffen schickt sich der naive Respekt vor dem, wofür sie einstehen. Mannheim nennt als Selektionsprinzipien der Eliten »Blut, Besitz und Leistung« [ 12 ] , ohne daß die Leidenschaft zur Destruktion von Ideologien ihn etwa dazu bewöge, diesen Prinzipien selber die Legitimation abzuverlangen; ja er weiß zu Hitlers Lebzeiten von einem »echten Blutprinzip« zu erzählen, das früher »die Reinheit edler Zuchtminoritäten und deren Traditionen« [ 13 ] garantiert habe. Von da ist zum Neuadel aus Blut und Boden nur ein Schritt. Ihn zu vollziehen, wird Mannheim durch allgemeinen Kulturpessimismus abgehalten. Für ihn gibt es noch zu wenig Blut. Seine Angst ist eine »Massendemokratie«, in der Blut und Besitz als Selektionsprinzipien wegfielen: durch den allzu raschen Wechsel der Eliten sei die Kontinuität bedroht. Besonders aber liegt ihm am Herzen, daß es mit der Esoterik des »echten Blutprinzips« nicht mehr recht stimme: man sei »in dieser Beziehung demokratisch geworden und möchte den offenen Gruppen der großen Massen plötzlich das Privileg des leistungslosen Emporkommens gewährleisten« [ 14 ] . So wenig die Edlen je edler waren als die anderen, so wenig sind sie objektiv in der Lage oder subjektiv gewillt, vom Prinzip des Privilegs im Ernst etwas nachzulassen. – Vereint die invariantenfrohe Elitetheorie historisch verschiedene Stufen dessen, was die Soziologen heute soziale Differenzierung nennen, wie die feudale und die kapitalistische, als »Blut- und Besitzprinzip«, so reißt sie dafür ebenso gutwillig auseinander, was zusammengehört: Besitz und Leistung. Max Weber hatte dargetan, daß der Geist des Frühkapitalismus beide identifiziert: daß die Leistungsfähigkeit im rational konstituierten Arbeitsprozeß meßbar wird an ihrem materiellen Erfolg. Die Gleichsetzung von Leistung und materiellem Erfolg hat ihren psychologischen Niederschlag in der Bereitschaft gefunden, den Erfolg als solchen zum Fetisch zu
machen. Mannheim erhebt das zum »Geltungstrieb«. In der Ideologie treten Besitz und Leistung erst auseinander, wenn offenkundig der »Leistung« als der ökonomischen ratio des Einzelnen nicht mehr der »Besitz« als ihr möglicher Erfolg entspricht. Dann erst werden die Bürger wahrhaft zu Edelmännern. – Mannheims »Selektionsmechanismen« sind danach Erfindungen: willkürlich gewählte Bezugssysteme, distanziert vom Lebensprozeß der tatsächlichen Gesellschaft. Sie müssen zu Konsequenzen herhalten, die den verdrossenen Vorstellungen der Sombart und Ortega y Gasset fatal ähnlich sehen. Mannheim redet von einer »Proletarisierung der Intelligenz« [ 15 ] . Richtig wird zunächst die Überfüllung des kulturellen Marktes konstatiert: es seien mehr »kulturell«, nämlich bildungsmäßig Qualifizierte vorhanden als ihnen angemessene Positionen. Dadurch aber soll der soziale Wert der Kultur fallen, denn es sei »ein soziologisches Gesetz, daß der soziale Wert des Geistes sich nach der sozialen Geltung derer richtet, die ihn produzieren« [ 16 ] . Zugleich nehme der »soziale Wert« der Kultur zwangsläufig darum ab, weil die Rekrutierung des intellektuellen Nachwuchses mehr und mehr auf niedrige Schichten, zumal des kleinen Beamtentums, sich erstrecke. – Der Begriff des Proletarischen ist dabei formalisiert: er erscheint als bloße Bewußtseinsstruktur, etwa so, wie die obere Bourgeoisie den, der die Spielregeln nicht kennt, einen Proleten schimpft. Die Genesis bleibt außer Betracht. Das resultiert in ihrer Verfälschung. Indem eine »strukturelle« Angleichung des Bewußtseins an das der unteren Schichten festgestellt wird, ist die Schuld stillschweigend diesen und ihrer angeblichen massendemokratischen Emanzipation zugeschrieben. Verdummung wird aber nicht durch die Unterdrückten bewirkt, sondern Unterdrückung macht dumm: die Unterdrückten und – worauf Mannheim wenig Wert legt – wesentlich auch die Unterdrücker. Die Überfüllung der intellektuellen Berufe ist durch die Überfüllung der wirtschaftlichen, im Grunde durch die technologische Arbeitslosigkeit bedingt. Mit der von Mannheim behaupteten Demokratisierung der Eliten hat sie nichts zu tun; die intellektuelle Reservearmee übt auf diese am letzten Einfluß aus. Im übrigen bietet das soziologische Gesetz von der Abhängigkeit der sogenannten Geltung einer Kultur von der ihrer Träger den Schulfall einer falschen Generalisierung. Es sei nur an die Musik des
achtzehnten Jahrhunderts erinnert, deren kulturelle Relevanz im damaligen Deutschland außer Zweifel steht. Während die Musiker, außer den den Höfen besonders attachierten Maestri, Primadonnen und Kastraten, gering geschätzt waren; während Bach als subalterner Kirchenbeamter, der junge Haydn als Bedienter existierte, gewannen die Musiker soziale Geltung erst, als ihre Produkte der unmittelbaren Gebrauchsfähigkeit sich entäußerten, der Komponist der Gesellschaft als selbstherrliches Individuum sich entgegensetzte: mit Beethoven. Der Grund für den Fehlschluß liegt im Psychologismus der Methode. Die individualistische Fassade der Gesellschaft verdeckt für Mannheim, daß sie ihr Wesen gerade darin hat, Formen zu entwickeln, die sich sedimentieren und die Individuen zu bloßen Agenten der objektiven Tendenz herabsetzen. Der desillusionierten Attitüde zum Trotz gehört die Wissenssoziologie auf einen vor-Hegelischen Standpunkt. Ihr Rekurs auf die eine Gruppe bildenden Menschen – im Falle jenes »Gesetzes«: die Kulturträger – setzt eine Übereinstimmung von gesellschaftlichem und individuellem Sein gewissermaßen transzendental voraus, deren Nichtexistenz einen der vordringlichsten Gegenstände der kritischen Theorie bildet. Sie ist nur insoweit die Lehre von den Beziehungen der Menschen, wie sie auch die Lehre von der Unmenschlichkeit ihrer Beziehungen ist. Die wissenssoziologischen Verzerrungen gründen in der Methode. Diese übersetzt die dialektischen Begriffe in klassifikatorische. Indem in die einzelnen logischen Klassen jeweils das gesellschaftlich Widerspruchsvolle eingeht, verschwinden die gesellschaftlichen, und das Bild des Ganzen gerät harmonistisch. Wenn etwa im dritten Abschnitt der Schrift drei Stufen des Bewußtseins: Finden, Erfinden und Planen erdacht werden [ 17 ] , so ist damit nichts anderes versucht, als das dialektische Schema der Epochen als das fließend wechselnder Verhaltensweisen des vergesellschafteten Menschen schlechthin zu interpretieren, in denen die bestimmenden Gegensätze verschwinden: »Es ist klar, daß der Übergang vom erfindenden, unmittelbare Ziele rational verwirklichenden Denken zum planenden Denken flüssig ist. Niemand wird angeben können, bei welcher Art der Voraussicht und bei welcher Verlängerung der Reichweite der bewußten Fernregelung der Übergang von der Stufe des erfindenden zu der des planenden Verstandes beginnt.« [ 18 ] Der Vorstellung eines
bruchlosen Überganges von der liberalen zu der »planenden« Gesellschaft entspricht die Auffassung jenes Überganges als eines zwischen verschiedenen Weisen von »Denken«. Erweckt wird der Glaube, der geschichtliche Prozeß sei von einem in sich einstimmigen gesellschaftlichen Gesamtsubjekt gesteuert. Die Übersetzung der dialektischen in klassifikatorische Begriffe abstrahiert von den Bedingungen der realen gesellschaftlichen Macht, von denen allein jene Stufen des Denkens abhängen. »Das Neue der soziologischen Betrachtung von Vergangenheit und Gegenwart ist es, die Geschichte als ein Experimentierfeld für regulierendes Eingreifen anzusehen« [ 19 ] : als ob die Möglichkeit solchen Eingreifens jeweils mit der Stufe der Einsicht zusammenfiele. Solche Nivellierung der gesellschaftlichen Kämpfe auf formal definierbare und vorweg spiritualisierte Verhaltensweisen erlaubt erbauliche Aussagen über die Zukunft: »Nun bliebe noch ein anderer Weg offen, daß nämlich die einheitliche Planung auf Grund von Einverständnishandlung und Kompromiß zustande kommt, d.h., daß jene Mentalität auch an der Gesellschaftsspitze sich durchsetzt, die vorher eigentlich nur innerhalb der Gesellschaft in den befriedeten Enklaven möglich war.« [ 20 ] Durch die Idee des Kompromisses werden die gleichen Widersprüche weitergeschleppt, die durch die Planung aufgehoben werden sollten: der abstrakte Begriff des Planens verdeckt sie vorweg und ist selber Kompromiß zwischen dem konservierten Laisser faire und der Einsicht in dessen Insuffizienz. Dialektische Begriffe sind nicht in formalsoziologische »übersetzbar«, ohne an ihrer Wahrheit Schaden zu nehmen. Mannheim kokettiert mit dem Positivismus insofern, als er meint, auf objektiv vorgegebene, aber, nach seiner einigermaßen laxen Redeweise, »unartikulierte« Tatsachen sich stützen zu können, die durch den soziologischen Denkmechanismus »verarbeitet« und zu allgemeinen Begriffen erhoben werden können. Er bequemt sich darin der gängigen Wissenschaftslogik an. Die Klassifikation nach Ordnungsbegriffen wäre aber ein zureichendes Verfahren der Erkenntnis nur, wenn die vermeintlich unmittelbar gegebenen Tatsachen abstraktiv so leicht von ihrem Grunde sich ablösen ließen, wie sie einem naiven »ersten Zugriff« sich darbieten. Nicht aber wenn die gesellschaftliche Realität eine jeglichem theoretischen »Zugriff« vorgeordnete und höchst »artikulierte«
Beschaffenheit hat, von der das szientifische Subjekt samt den Gegebenheiten seiner Erfahrung selber abhängt. Je weniger die Ausgangs »tatsachen« als deskriptive Selbstgegebenheiten vor der fortschreitenden Analyse bestehen, um so weniger hat Soziologie die Freiheit, klassifizierend über sie je nach Bedarf zu verfügen. Die notwendige Korrektur der »Tatsachen« im Fortgang der theoretischen Erkenntnis der Gesellschaft bedeutet nicht bloß, daß andere subjektive Ordnungsschemata gewählt werden müssen, als es der naiven Erfahrung scheint, sondern daß die vermeintlichen Gegebenheiten selber mehr als bloßes Material zur begrifflichen Verarbeitung darstellen, nämlich daß sie vom Ganzen geprägt und dadurch an sich »strukturiert« sind. Der Idealismus wäre dann erst verlassen, wenn die Freiheit der abstrahierenden Begriffsbildung preisgegeben wäre. Die These vom Primat des Seins übers Bewußtsein schließt die methodische Forderung ein, Begriffe nicht nach dem Maßstab denkpraktischzweckmäßiger Merkmaleinheiten zu bilden und zu verifizieren, sondern in ihrer Bildung und Bewegung die Bewegungstendenzen der Wirklichkeit auszudrücken. Das Bewußtsein der Wissenssoziologie hat dieser Forderung sich gesperrt. Die Abstraktionsschnitte sind ihm willkürlich, solange sie nur in Übereinstimmung mit einer differenzierenden und korrigierenden Erfahrung bleiben. Mannheim verbietet sich die Konsequenz, daß die »vorurteilslose« Registrierung der Tatsachen fiktiv ist; daß der Sozialforscher nicht ein unqualifiziertes, chaotisches Erfahrungsmaterial zu ordnen hat, sondern daß das Material seiner Erfahrung die soziale Ordnung ist, ein »System« im härteren Sinne als je die Philosophie eines erfand; und daß über Recht und Unrecht seiner Begriffe nicht sowohl deren Allgemeinheit und andererseits deren Annäherung an »reine« Fakten entscheidet als vielmehr, ob sie die realen Bewegungsgesetze der Gesellschaft zureichend fassen und die widerspenstigen Fakten auf jene transparent machen. Auf einem durch Begriffe wie Integration, Elite, Artikulation definierten Koordinatensystem erscheinen jene bestimmenden Gesetze samt allem, was sie fürs Dasein der Menschen bedeuten, als kontingent oder akzidentell, als bloße soziologische »Differenzierungen«; darum wirkt die generalisierende und differenzierende Soziologie wie Hohn auf die Realität. Sie schreckt vor Formulierungen wie »abgesehen von der Konzentration und Zentralisation der Kapitale« [ 21 ] nicht zurück.
Solche Abstraktionsschnitte sind nicht »neutral«. Wovon bei einer Theorie abgesehen und nicht abgesehen wird, das macht ihre Qualität aus. Man könnte, wäre es mit dem Absehen getan, eine Analyse etwa der »Eliten« auch durch Betrachtung von Gruppen wie der Vegetarianer oder der Mazdaznan-Anhänger vollziehen und diese Analyse dann durch begriffliche Verfeinerung so korrigieren, daß ihre offene Absurdität verschwände. Aber keine Korrektur könnte darüber hinweghelfen, daß die Wahl der Grundkategorien falsch: daß die Welt nicht nach jenen Kategorien eingerichtet ist. Diese Falschheit verschöbe noch in aller Korrektur die Akzente so gründlich, daß die Wirklichkeit aus den Begriffen herausfiele: die Eliten blieben immer noch »Gruppen von der Form Mazdaznan« mit der zusätzlichen Qualität »gesellschaftliche Macht«. Wenn Mannheim einmal sagt, »daß es im Kulturellen (eigentlich auch im Wirtschaftlichen) niemals einen absoluten Liberalismus gab in jenem Sinne, daß neben den freiwaltenden gesellschaftlichen Kräften nicht auch Regulierung etwa im Bildungswesen bestanden hätte« [ 22 ] , so ist er offensichtlich bemüht um eine differenzierende Korrektur des Glaubens, das längst als Ideologie durchschaute Laisser-faire-Prinzip habe je ungeschmälert geherrscht. Es wird aber, eben durch die Wahl jenes erst nachträglich differenzierten Ausgangsbegriffes, das Eigentliche entstellt: die Einsicht, daß das Laisser-faire-Prinzip auch unter dem Liberalismus bloß die wirtschaftliche Verfügung verdeckte und daß demgemäß die Selektion der »Kulturgüter« wesentlich nach dem Maß von deren Konformität mit den herrschenden gesellschaftlichen Interessen erfolgte. Die Einsicht in einen Grundtatbestand der Ideologie verflüchtigt sich zur bloßen Finesse: die Methode will konziliant zeigen, daß sie auch das Konkrete nicht vergesse, anstatt vorab, und ohne die unvermeidlichen Allgemeinbegriffe zu verselbständigen, aufs Konkrete sich zu richten. Die Unzulänglichkeit der Methode wird an ihren Polen manifest: beim Gesetz und beim »Beispiel«. Wenn die widerspenstigen Fakten, als bloße Differenzierungen, von der Wissenssoziologie unter die obersten generellen Einheiten subsumiert werden, so wird dafür eben diesen willkürlichen Allgemeinheiten, als sozialen »Gesetzen«, vom Typus etwa jener Relation von Kulturgut und sozialer Geltung der kulturell Produzierenden, selbständige Macht über die Fakten zugeschrieben. Sie werden hypostasiert. Zuweilen
nehmen sie ausschweifenden Charakter an: »Nun gibt es aber ein entscheidendes Gesetz, in dessen Zeichen gerade wir im gegenwärtigen Augenblick stehen. Ungeplante, durch natürliche Selektion regulierte Felder einerseits, zielbewußt erfundene und bedachtsam eingefügte Gebilde andererseits können nur solange reibungslos nebeneinander bestehen, als die Felder des Ungeplanten überwiegen.« [ 23 ] Quantifizierte Sätze von dieser Gestalt sind um nichts evidenter als solche der Baaderschen Metaphysik, vor denen sie lediglich den Mangel an Phantasiekraft voraus haben. – Die Hypostasierung der Allgemeinbegriffe wird präzis als Fehler faßbar an den von Mannheim zwischengeschalteten »principia media«, zu welchen er die dialektischen Bewegungsgesetze erniedrigt. Da heißt es denn: »So stark man freilich die ›principia media‹ und die in ihnen verwendeten Begriffe (›Hochkapitalismus‹, ›strukturelle Arbeitslosigkeit‹ ›Angestelltenideologie‹) historisieren und differenzieren muß, so darf man doch niemals übersehen, daß sich in ihnen dennoch abstrakte und generelle Bestimmungen (allgemeine Wirkkräfte) differenzieren und individualisieren. Sie sind in einem bestimmten Sinne nichts anderes als zeitweilig verfestigte Bündel von Ursachenreihen, die dann in ihrer Geschlossenheit wie ein einziger Ursachenkomplex wirken. Daß es sich in ihnen im Wesentlichen um historisierte und individualisierte generelle Wirkkräfte handelt, läßt sich an unseren Beispielen erweisen. Hinter der ersten Beobachtung steht das allgemeine Prinzip des Funktionierens einer Gesellschaftsordnung mit frei kontrahierenden Rechtspersonen; hinter der zweiten die allgemeinen psychologischen Wirkungen der ›Arbeitslosigkeit‹ überhaupt und hinter dem letzteren das allgemeine Gesetz, wonach bestehende Aufstiegshoffnungen auf Gruppen und Individuen im Sinne der Verdeckung ihrer kollektiven Lage zu wirken tendieren.« [ 24 ] Es sei kein geringerer Fehler, als wenn man mit Vorstellungen vom Menschen überhaupt auskommen zu können glaube, wenn »man in den konkreten Verhaltungsweisen dieser historischen Typen die allgemeinen Prinzipien menschlicher Psyche vernachlässigt und überspringt« [ 25 ] . Danach scheint das historische Ereignis teilweise von »allgemeinen« und teilweise von »besonderen« Ursachen determiniert, die irgendwelche »Bündel« zusammen bilden. Das impliziert aber die Verwechslung von Abstraktionsgraden mit Ursachen. In der Verkennung der »generellen Kräfte« sieht
Mannheim die entscheidende Schwäche dialektischen Denkens [ 26 ] – als ob nicht die Warenform für alle bei ihm behandelten Fragen »generell« genug wäre. Jedoch solche »generellen Kräfte« sind überhaupt nicht selbständig im Gegensatz zu irgendwelchen »besonderen«, so als ob etwa ein konkretes Ereignis einmal durch den Kausalsatz »verursacht« würde und dann durch die spezifische »historische Situation«. Kein Ereignis wird durch generelle Kräfte oder gar Gesetze verursacht: Kausalität ist nicht die »Ursache« von Ereignissen, sondern die oberste begriffliche Allgemeinheit, unter welcher konkrete Verursachungen zusammengefaßt werden können. Auch die Newtonsche Beobachtung am fallenden Apfel hat nicht den Sinn, daß dabei die allgemeine Gesetzmäßigkeit der Kausalität in einer Komplexion mit Faktoren von niedrigerem Abstraktionsgrad »wirkte«. Nur im Besonderen und nicht zusätzlich zu diesem setzt Kausalität sich durch. Einzig soweit kann der fallende Apfel überhaupt »Ausdruck des Fallgesetzes« [ 27 ] genannt werden: das Fallgesetz ist vom Fallen dieses Apfels so gut abhängig wie umgekehrt. Das konkrete Kräftespiel läßt sich auf Schemata verschiedener Allgemeinheitsstufen reduzieren, aber es gibt nicht verschränkte »allgemeine« und »besondere« Kräfte. Der Mannheimsche Pluralismus freilich, bei dem das Eine und Entscheidende als bloß eine Perspektive unter vielen möglichen erscheint, mag der Addition allgemeiner und besonderer Wirkkräfte nicht gerne entraten. Dafür wird das Faktum, vorweg »Einmaligkeitssituation« getauft, zum bloßen Beispiel – während die dialektische Theorie den Begriff des Beispiels so wenig wie schon Kant gelten lassen könnte. Die Beispiele fungieren als beliebige auswechselbare Illustrationen; deshalb sind sie oft aus bequemer Distanz von den wahren Nöten der gegenwärtigen Menschheit gewählt oder aus den Fingern gesaugt. Dafür ereilt sie rasch die Strafe. Mannheim meint etwa: »Ein klärendes Beispiel für Störungen, die aus der substantiellen Irrationalität kommen, liegt vor, wenn z.B. die Diplomaten eines Landes eine Aktionsreihe sorgfältig durchgedacht und auf andere geplante Handlungsreihen abgestimmt haben, und wenn dann einer von ihnen durch einen plötzlichen Nervenzusammenbruch gegen den Plan handelt und ihn zerstört.« [ 28 ] Müßig, solche privaten Begebenheiten als »Wirkkräfte« auszumalen: nicht bloß ist der »Aktionsradius« des einzelnen Diplomaten romantisch überschätzt;
jede solche Fehlhandlung ließe mit einem Telefonat in fünf Minuten sich beheben, es sei denn, daß sie selber im Zuge politischer Entwicklungen liegt, die stärker sind als die Erwägungen der Diplomaten. – Oder, mit der Anschaulichkeit der Kinderbücher: »Ich werde meine Triebregungen und Wünsche als Soldat in ganz anderem Maße zu kontrollieren haben, als wenn ich ein freier Jäger bin, der nur ab und zu fluktuierend zielgerichtet handelt und sich nur gelegentlich in der Gewalt haben muß – im Augenblick etwa, wenn er auf das Wild schießen muß.« [ 29 ] Anstelle des Jägerberufs ist bekanntlich in neuerer Zeit der Jagdsport getreten, aber selbst ein Sportjäger, der sich nur in der Gewalt hat »im Augenblick, wo er auf das Wild schießen muß«, offenbar, um nicht über den Knall der eigenen Flinte zu erschrecken, wird schwerlich etwas zur Strecke bringen; wahrscheinlich das Wild verscheuchen; vielleicht es nicht einmal bloß aufspüren. Die Nichtigkeit solcher Beispiele steht mit der Wirkung der Wissenssoziologie im engsten Zusammenhang. Subjektiv möglichst »neutral« gewählt und darum vorweg unwesentlich, lenken sie ab. Soziologie meinte an ihrem Ursprung Kritik der Prinzipien der Gesellschaft, der sie sich gegenüberfand. Wissenssoziologie begnügt sich mit Reflexionen über den Jägersmann im grünen oder den Diplomaten im schwarzen Frack. Worauf der Formalismus solcher Begriffsbildung inhaltlich hinausläuft, zeigt sich, sobald programmatische Forderungen lautwerden. Für die Durchorganisation der Gesellschaft wird ein »Optimum« verlangt, ohne daß des Bruchs gedacht wäre, der von diesem Optimum trennt. Wenn man sich nur vernünftig zusammensetzt, soll alles in Ordnung kommen. Dem entspricht Mannheims Ideal einer »erwünschten Linie« zwischen »unbewußtem Konservatismus« und »schlechter Utopie« [ 30 ] : »Von hier aus wird aber zugleich eine mögliche Lösung der gegenwärtigen Spannungen in ihren Umrissen sichtbar, nämlich eine Art autoritäre Demokratie mit Planung, die aus den heutigen gegeneinanderlaufenden Prinzipien ein ausbalanciertes System schafft.« [ 31 ] Dazu paßt die Hinaufstilisierung der »Krise« zum »Problem des Menschen« [ 32 ] , in der Mannheim trotz seiner Erklärung gegen die neudeutsche Anthropologie [ 33 ] mit ihr und den Existentialphilosophen einig geht. Zwei Züge aber sind es vor anderen, die den Konformismus der Mannheimschen Wissenssoziologie markieren. Einmal: sie bleibt Symptomdenken.
Sie ist durchweg geneigt, die Bedeutung der Ideologien zu überschätzen gegenüber dem, wofür sie einstehen. Friedlich teilt sie mit ihnen jene äquivoke Auffassung »des« Irrationalen, an der gerade der kritische Hebel anzusetzen wäre: »Ferner muß man einsehen, daß das Irrationale nicht unter allen Umständen etwas Schädliches ist, im Gegenteil, es ist vielleicht das Wertvollste im Vermögen des Menschen, wenn es etwa als mächtiger Antrieb zur Erreichung rationaler objektiver Ziele wirkt oder in Gestalt von Sublimierungen und Kultivation Kulturwerte schafft, oder aber auch als pure Vitalität die Lebensfreude steigert, ohne das Gesellschaftsleben planlos zu zerstören.« [ 34 ] Man erfährt nicht näher, was das Irrationale sei, das da durch Kultivation Kulturwerte schaffe, die doch ex definitione das Produkt von Kultivation sind, oder eine Lebensfreude »steigere«, die ohnehin schon irrational ist. Jedenfalls aber wirkt unheilvoll die Gleichsetzung der Triebmacht mit dem »Irrationalen«. Denn der Begriff deckt die Libido und die Figur ihrer Verdrängung gleichermaßen und »wertfrei«. Das Irrationale scheint bei Mannheim den Ideologien eine Substantialität zu verleihen, die zwar väterlichen Tadel erfährt, aber nicht durch Hinweis aufs Verhüllte selber zerstört wird. Dem positivistischen Hinnehmen der Symptome, der leisen Achtung vorm Anspruch der Ideologien aber ist verschwistert der Vulgärmaterialismus herrschender Praxis: während die Fassade intakt bleibt im Glanze der willigen Betrachtungsweise, ist es die letzte Weisheit dieser Soziologie, daß im Innern des Hauses keine Regung gedeihen könne, die über dessen abgesteckten Umkreis ernsthaft hinausdrängte: »Faktisch überschreitet der vorgegebene Ideenschatz (darin dem Wortschatz durchaus ähnlich) den Horizont und den Aktionsradius der existierenden sozialen Gemeinschaft niemals.« [ 35 ] Dann freilich vermag, was immer »überschreitet«, leicht als »Ausrichtung auf Stimmungserweckung, seelische Werte usw.« [ 36 ] zu erscheinen. Dieser Materialismus, verwandt dem eines Familienoberhauptes, das es von vornherein für ausgeschlossen hält, daß sein Sprößling je einen neuen Gedanken denken könne, da ohnehin alles schon gedacht sei, und das diesem daher empfiehlt, lieber ordentlich Geld zu verdienen – dieser wohlerfahrene und demütigende Materialismus ist das Reversbild eines Idealismus der Geschichtsbetrachtung, dem Mannheim in der Konstruktion insbesondere von »Rationalität« und Fortschritt sonst verschworen
bleibt, und demzufolge Änderungen des Bewußtseins es gar vermögen sollen, »das Aufbauprinzip der Gesellschaft sozusagen von innen heraus aus ihren Angeln« [ 37 ] zu heben. Die eigentliche Attraktionskraft der Wissenssoziologie darf nun darin gesucht werden, daß jene Änderungen des Bewußtseins, als Leistungen von »planender Vernunft«, zur Vernunft der heute Planenden in unmittelbare Beziehung gesetzt werden: »Die Tatsache, daß das Durchdenken der Handlungsreihen in der funktionell durchrationalisierten Gesellschaft sich nur in den Köpfen weniger Organisatoren vollzieht, sichert diesen eine Schlüsselstellung in der Gesellschaft.« [ 38 ] Es verrät sich hier ein Motiv, das weiter reicht als das Bewußtsein der Wissenssoziologie: der objektive Geist als der jener »wenigen Organisatoren« spricht aus ihr. Während die Wissenssoziologie von neuen akademischen Arbeitsgebieten träumt, dient sie ahnungslos denen, die keinen Augenblick gezögert haben, die Arbeitsgebiete zu kassieren. Mannheims vom altliberalen common sense genährte Überlegungen laufen schließlich alle darauf hinaus, gesellschaftliches »Planen« zu empfehlen, ohne zum gesellschaftlichen Grund durchzudringen. Es sollen die Folgen des offenbar gewordenen Widersinns, von Mannheim bloß an der Oberfläche und als »Kulturkrise« gewahrt, von oben her, nämlich durch die Verfügenden beschwichtigt werden. Das bedeutet aber nichts anderes, als daß der Liberale, der keinen Ausweg sieht, zum Sprecher einer diktatorialen Einrichtung der Gesellschaft sich macht, noch während er ihr zu opponieren denkt. Wohl wird der Wissenssoziologe entgegnen, die Instanz seiner Planung sei nicht Macht, sondern Vernunft, und zu ihr gelte es die Mächtigen zu bekehren. Indessen sollte man seit den Platonischen Philosophiekönigen gelernt haben, was es mit solcher Bekehrung auf sich hat. Wenn Mannheim die Intelligenz früher als die freischwebende bestaunte, so wäre dem nicht sowohl mit dem reaktionären Postulat ihrer »Seinsverwurzelung« zu widersprechen als mit der Erinnerung daran, daß eben die Intelligenz, die frei zu schweben vorgibt, in dem gleichen Sein gründlich verwurzelt ist, das es zu verändern gilt und dessen Kritik sie bloß fingiert. Vernünftig heißt ihr das optimale, nämlich die Katastrophe aufschiebende Funktionieren des Getriebes, gleichgültig dagegen, ob es nicht etwa in seiner Totalität die optimale Unvernunft sei. Planend es am Leben zu erhalten, führt in den totalitären Systemen
jeglicher Gestalt dazu, die Widersprüche, die es zwangsläufig produziert, mit barbarischem Druck unter die Oberfläche des gesellschaftlichen Seins zu drängen. Die Advokaten solcher Planung sprechen die Macht im Namen der Vernunft denen zu, denen sie im Namen der Verblendung ohnehin gehört. Die Macht der Vernunft des Heutigen ist die blinde Vernunft der heute Mächtigen. Wie sie aber der Katastrophe zusteuert, verführt sie den Geist, der sie mit Maß verneint, dazu, vor ihr zu abdizieren. Er nennt sich noch liberal, aber schon ist für ihn Freiheit »soziologisch gesehen nichts anderes als eine Disproportionalität zwischen dem Wachstum des Wirkradius der zentral organisierbaren Beeinflussungsmechanismen einerseits und dem Wachstum des Umfanges der zu beeinflussenden Gruppeneinheit andererseits« [ 39 ] . Die Wissenssoziologie richtet der obdachlosen Intelligenz Schulungslager ein, in denen sie lernen soll, sich selber zu vergessen.
Spengler nach dem Untergang Wenn die Geschichte der Philosophie nicht so sehr in der Lösung ihrer Probleme besteht als darin, daß die Bewegung des Geistes jene Probleme wieder und wieder vergessen macht, um die sie sich kristallisiert, dann ist Oswald Spengler vergessen worden mit der Geschwindigkeit der Katastrophe, in die, seiner eigenen Lehre zufolge, die Weltgeschichte überzugehen im Begriff ist. Nach einem populären Anfangserfolg hat sich die öffentliche Meinung in Deutschland sehr rasch gegen den ›Untergang des Abendlandes‹ gekehrt. Die offiziellen Philosophen warfen ihm Flachheit vor, die offiziellen Einzelwissenschaften Inkompetenz und Scharlatanerie, und im Betrieb der deutschen Inflations- und Stabilisierungsperiode wollte niemand etwas mit der Untergangsthese zu schaffen haben. Spengler hatte sich mittlerweile durch eine Reihe kleinerer Schriften anmaßenden Tones und wohlfeiler Antithetik so exponiert, daß die Ablehnung dem gesunden Lebenswillen leicht genug wurde. Als 1922 der zweite Band des Hauptwerks erschien, fand er nicht entfernt mehr die Beachtung des ersten, obwohl eigentlich erst in ihm die Untergangsthese konkret entwickelt wurde. Die Laien, die Spengler lasen wie vordem Nietzsche und Schopenhauer, hatten sich mittlerweile der Philosophie entfremdet; die zünftigen Philosophen hielten sich an Heidegger, der ihrer Verdrossenheit gediegeneren und gehobeneren Ausdruck verlieh. Er veredelte den von Spengler ohne Ansehen der Person dekretierten Tod und versprach, den Gedanken daran in ein akademisches Betriebsgeheimnis zu verwandeln. Spengler hatte das Nachsehen: seine Broschüre über ›Mensch und Technik‹ war gegenüber den gleichzeitigen smarten philosophischen Anthropologien nicht mehr konkurrenzfähig. Kaum daß man noch von seinen Beziehungen zu den Nationalsozialisten, seinem Streit mit Hitler und endlich seinem Tod Notiz nahm. In Deutschland war er als Schwarzseher und Reaktionär, so wie eben die zeitgenössischen Herren solche Worte brauchten, verfemt, im Ausland galt er als einer der ideologischen Mitschuldigen am Rückfall in die Barbarei. All demgegenüber ist guter Grund, die Frage nach der Wahrheit und Unwahrheit Spenglers noch einmal zu stellen. Es hieße ihm
zuviel vorgeben, wollte man in der Weltgeschichte, die über ihn hinweg zur neuen Ordnung ihres Tages schritt, das Weltgericht erblicken, das über den Wert seiner Gedanken zu entscheiden hat. Dazu ist aber um so weniger Anlaß, als der Gang der Weltgeschichte selber seinen unmittelbaren Prognosen in einem Maße recht gab, das erstaunen müßte, wenn man sich an die Prognosen noch erinnerte. Der vergessene Spengler rächt sich, indem er droht, recht zu behalten. Sein Vergessensein inmitten der Bestätigung leiht der Drohung blinder Fatalität, die von seiner Konzeption ausgeht, ein objektives Moment. Als einmal die sieben deutschen Fachgelehrten sich zusammentaten, um in der Zeitschrift ›Logos‹ den Outsider zu erledigen, hat ihr philiströser Eifer Spott provoziert. Heute gewinnt er einen weniger harmlosen Aspekt. Er zeugt von einer intellektuellen Ohnmacht, vergleichbar der politischen der Weimarer Republik im Angesicht Hitlers. Spengler hat kaum einen Gegner gefunden, der sich ihm gewachsen gezeigt hätte: das Vergessen wirkt als Ausflucht. Man braucht nur das Buch Manfred Schröters ›Der Streit um Spengler‹ zu lesen, das einen vollständigen Überblick der Kritiken bis 1922 bietet, um dessen innezuwerden, wie sehr der deutsche Geist versagte einem Widersacher gegenüber, an den die historische Gewalt der eigenen Vergangenheit gänzlich übergegangen schien. Pedantische Kleinlichkeit im Konkreten, phrasenhaft konformistischer Optimismus in der Idee, dazu oft genug das unfreiwillige Zugeständnis der Schwäche in der Versicherung, so schlimm sei es denn doch noch nicht um unsere Kultur bestellt, oder in dem sophistischen Trick, durch Überspannung des Relativismus Spenglers relativistische Position selber aufzulösen – das ist alles, was die deutsche Wissenschaft und Philosophie aufbrachte gegen einen Mann, der sie abkanzelte wie der Feldwebel den Einjährig-Freiwilligen. Fast könnte man in der wichtigtuerischen Hilflosigkeit den geheimen Drang vermuten, dem Feldwebel doch endlich zu parieren. Je mehr aber die Welt nach seinem Rhythmus marschierte, um so dringlicher wäre es, dem Sinn jener Sätze sich zu stellen, die ein Schicksal der Menschheit proklamiert haben, das mit dem Mord an Millionen noch die düstere Prophezeiung seiner selbst überboten hat. Die Gewalt Spenglers wird sichtbar durch Konfrontation einiger seiner Thesen mit den späteren Entwicklungen. Weiter wäre den Kraftquellen nachzuforschen, die
einer Philosophie, deren theoretische und empirische Unzulänglichkeiten so offen zutage liegen, trotz allem jene Gewalt verliehen. Endlich wäre mit gründlichem Mißtrauen gegen das Thema probandum zu fragen, welche Überlegungen es etwa vermöchten, den Spenglerschen ins Auge zu schauen, ohne die Pose der Kraft und ohne das schlechte Gewissen des offiziellen Optimismus. Um die Gewalt Spenglers zu zeigen, seien zunächst nicht die allgemeinen geschichtsphilosophischen Grundgedanken vom pflanzenhaften Wachsen und Absterben der Kulturen diskutiert, sondern die Zuspitzung dieser Geschichtsphilosophie auf die Spengler zufolge bevorstehende Phase, die er nach Analogie mit der römischen Kaiserzeit »Cäsarismus« nennt. Die bezeichnendsten Vorhersagen beziehen sich auf Fragen der Massenbeherrschung, auf Propaganda, Massenkunst, dann auf politische Herrschaftsformen, insbesondere auf gewisse Tendenzen der Demokratie, aus sich heraus in Diktatur umzuschlagen. In Übereinstimmung mit Spenglers Gesamtauffassung, welche die Wirtschaft nicht als tragende gesellschaftliche Realität, sondern vielmehr als »Ausdruck« eines bestimmt gearteten »Seelentums« visiert, treten demgegenüber eigentlich wirtschaftliche Prognosen zurück. Die Frage nach der Vertrustung wird nicht gestellt, so scharfsichtig auch Spengler die kulturellen Konsequenzen der zunehmenden Zentralisierung der Macht sieht. Doch trägt seine Einsicht weit genug, um gewisse triftige ökonomische Konsequenzen, zumal in Hinsicht auf das Absterben der Geldwirtschaft, zu erlauben. Gedankengänge des zweiten Bandes gelten der Zivilisation im Cäsarismus. Zum Beginn einige Sätze zur »Physiognomik der Weltstädte«. Von ihren Häusern heißt es: »Sie sind überhaupt nicht mehr Häuser, in denen Vesta und Janus, die Penaten und Laren irgendeine Stätte besitzen, sondern bloße Behausungen, welche nicht das Blut, sondern der Zweck, nicht das Gefühl, sondern der wirtschaftliche Unternehmungsgeist geschaffen hat. So lange der Herd im frommen Sinne der wirkliche, bedeutsame Mittelpunkt einer Familie ist, so lange ist die letzte Beziehung zum Lande nicht geschwunden. Erst wenn auch das verloren geht und die Masse der Mieter und Schlafgäste in diesem Häusermeer ein irrendes Dasein von Obdach zu Obdach führt, wie die Jäger und Hirten der Vorzeit, ist der intellektuelle Nomade völlig ausgebildet. Diese Stadt ist eine
Welt, ist die Welt. Sie hat nur als Ganzes die Bedeutung einer menschlichen Wohnung. Die Häuser sind nur die Atome, welche sie zusammensetzen.« [ 40 ] Sehr verwandte Gedankengänge waren zu Beginn des Jahrhunderts ausgeführt in Werner Sombarts Broschüre ›Warum gibt es in Amerika keinen Sozialismus?‹ Die Vorstellung vom späten Städtebewohner als zweitem Nomaden verdient, besonders hervorgehoben zu werden. Sie drückt nicht bloß Angst und Entfremdung aus sondern auch die dämmernde Geschichtslosigkeit eines Zustandes, in dem die Menschen sich bloß noch als Objekte undurchsichtiger Prozesse erfahren und, zwischen jähem Schock und jähem Vergessen, zur kontinuierlichen Zeiterfahrung nicht mehr fähig sind. Spengler sieht den Zusammenhang von Atomisierung und regressivem Menschentypus, wie er im Zeichen der totalitären Ausbrüche erst ganz sich enthüllt hat: »Ein grauenvolles Elend, eine Verwilderung aller Lebensgewohnheiten, die schon jetzt zwischen Giebeln und Mansarden, in Kellern und Hinterhöfen einen neuen Urmenschen züchten, hausen in jeder dieser prachtvollen Massenstädte.« [ 41 ] In den »Lagern« jeden Typus, die das Haus nicht mehr kennen, ist jene Regression offenbar geworden. Spengler weiß wenig von den Bedingungen der Produktion zu sagen, die es dahin gebracht haben. Um so genauer aber sieht er dafür den Bewußtseinszustand, der die Massen außerhalb des eigentlichen Produktionsprozesses, in den sie eingespannt sind, ergreift: jene Phänomene, die man als solche der »Freizeit« zu bezeichnen sich gewöhnt hat. »Die intellektuelle Spannung kennt nur noch eine, die spezifisch weltstädtische Form der Erholung: die Entspannung, die ›Zerstreuung‹. Das echte Spiel, die Lebensfreude, die Lust, der Rausch sind aus dem kosmischen Takte geboren und werden in ihrem Wesen gar nicht mehr begriffen. Aber die Ablösung intensivster praktischer Denkarbeit durch ihren Gegensatz, die mit Bewußtsein betriebene Trottelei, die Ablösung der geistigen Anspannung durch die körperliche des Sports, der körperlichen durch die sinnliche des ›Vergnügens‹ und die geistige der ›Aufregung‹ des Spiels und der Wette, der Ersatz der reinen Logik der täglichen Arbeit durch die mit Bewußtsein genossene Mystik – das kehrt in allen Weltstädten aller Zivilisationen wieder.« [ 42 ] Spengler steigert den Gedanken zu der These, die Kunst selber werde zum Sport [ 43 ] . Er hat weder vom Jazz etwas gewußt noch
vom Quiz. Aber wollte man die wichtigsten Tendenzen der gegenwärtigen Massenkunst auf die Formel bringen, keine prägnantere ließe sich angeben als die des Sports, des Nehmens rhythmischer Hindernisse, des Wettbewerbs, sei es unter den Ausführenden, sei es zwischen Produktion und Publikum. Die Opfer des Zivilisationsbetriebs der Reklamekultur, nicht die Manipulierenden, trifft Spenglers ganze Verachtung. »Es entsteht der Typus des Fellachen.« [ 44 ] Dies Fellachentum wird von ihm näher bestimmt als Enteignung des Bewußtseins der Menschen durch die zentralisierten Mittel der öffentlichen Kommunikation. Er sieht diese noch im Zeichen der Geldmacht, obwohl er das Ende der Geldwirtschaft ahnt: Geist im Sinne schrankenloser Autonomie kann es Spengler zufolge nur im Zusammenhang mit der abstrakten Einheit des Geldes geben. Wie immer es sich damit verhalte, seine Beschreibung trifft genau auf die Zustände unter dem totalitären Regime zu, das ideologisch Geld und Geist gleichermaßen den Krieg erklärt. Es ließe sich sagen, daß er an der Presse Züge gewahrte, die erst das Radio völlig ausgebildet hat – so wie er gegen die Demokratie Vorwürfe erhebt, die ihr ganzes Gewicht erst gegenüber der Diktatur gewinnen. »Die Demokratie hat das Buch aus dem Geistesleben der Volksmassen vollständig durch die Zeitung verdrängt. Die Bücherwelt mit ihrem Reichtum an Gesichtspunkten, die das Denken zur Auswahl und Kritik nötigte, ist nur noch für enge Kreise ein wirklicher Besitz. Das Volk liest die eine, ›seine‹ Zeitung, die in Millionen Exemplaren täglich in alle Häuser dringt, die Geister vom frühen Morgen an in ihren Bann zieht, durch ihre Anlage die Bücher in Vergessenheit bringt und, wenn eins oder das andere doch einmal in den Gesichtskreis tritt, seine Wirkung durch eine vorweggenommene Kritik ausschaltet.« [ 45 ] Spengler sieht etwas vom Doppelcharakter der Aufklärung im Zeitalter universaler Herrschaft. »Mit der politischen Presse hängt das Bedürfnis nach allgemeiner Schulbildung zusammen, das der Antike durchaus fehlt. Es ist ein ganz unbewußter Drang darin, die Massen als Objekte der Parteipolitik dem Machtmittel der Zeitung zuzuführen. Dem Idealisten der frühen Demokratie erschien das als Aufklärung ohne Hintergedanken, und heute noch gibt es hier und da Schwachköpfe, die sich am Gedanken der Pressefreiheit begeistern, aber gerade damit haben die kommenden Cäsaren der
Weltpresse freie Bahn. Wer lesen gelernt hat, verfällt ihrer Macht, und aus der erträumten Selbstbestimmung wird die späte Demokratie zu einem radikalen Bestimmtwerden der Völker durch die Gewalten, denen das gedruckte Wort gehorcht.« [ 46 ] Was Spengler den bescheidenen Pressemagnaten des ersten Weltkrieges zuschreibt, ist ausgereift in der Technik der manipulierten Pogrome und spontanen Volkskundgebungen. »Ohne daß der Leser es merkt, wechselt die Zeitung und damit er selbst den Gebieter« [ 47 ] – das ist im Dritten Reich buchstäblich in Erfüllung gegangen. Spengler nennt es den »Stil des zwanzigsten Jahrhunderts«. »Ein Demokrat vom alten Schlage würde heute nicht Freiheit für die Presse, sondern von der Presse fordern, aber inzwischen haben die Führer sich in ›Angekommene‹ verwandelt, die ihre Stellung gegenüber der Masse sichern müssen.« [ 48 ] Spengler hat Goebbels prophezeit: »Kein Tierbändiger hat seine Meute besser in der Gewalt. Man läßt das Volk als Lesermasse los, und es stürmt durch die Straßen, wirft sich auf das bezeichnete Ziel, droht und schlägt Fenster ein. Ein Wink an den Pressestab und es wird still und geht nach Hause. Die Presse ist heute eine Armee mit sorgfältig organisierten Waffengattungen, mit Journalisten als Offizieren, Lesern als Soldaten. Aber es ist hier wie in jeder Armee: der Soldat gehorcht blind, und die Wechsel in Kriegsziel und Operationsplan vollziehen sich ohne seine Kenntnis. Der Leser weiß nichts von dem, was man mit ihm vorhat, und soll es auch nicht, und er soll auch nicht wissen, welch eine Rolle er damit spielt. Eine furchtbarere Satire auf die Gedankenfreiheit gibt es nicht. Einst durfte man nicht wagen, frei zu denken; jetzt darf man es, aber man kann es nicht mehr. Man will nur noch denken, was man wollen soll, und eben das empfindet man als seine Freiheit.« [ 49 ] Nicht minder erstaunlich sind die spezifischen Prognosen. Zunächst die militärische, die im übrigen nicht unbeeinflußt sein mag von gewissen Erfahrungen der deutschen Heeresleitung während des ersten Weltkriegs, die unterdessen in die Praxis umgesetzt wurden. Spengler hält das »demokratische« Prinzip der allgemeinen Wehrpflicht samt den aus ihr entwickelten taktischen Mitteln für überwunden. »An Stelle der stehenden Heere werden von nun an allmählich Berufsheere freiwilliger und kriegsbegeisterter Soldaten treten, an Stelle der Millionen wieder die Hunderttausende, aber eben damit
wird dieses zweite Jahrhundert« (nach den Napoleonischen Kriegen) »wirklich das der kämpfenden Staaten sein. Das bloße Dasein dieser Heere ist kein Ersatz des Krieges« (wie es Spengler zufolge im neunzehnten Jahrhundert der Fall war). »Sie sind für den Krieg da und sie wollen ihn. In zwei Generationen werden sie es sein, deren Wille stärker ist als der aller Ruhebedürftigen. In diesen Kriegen um das Erbe der ganzen Welt werden Kontinente angesetzt, Indien, China, Südafrika, Rußland, der Islam aufgeboten, neue Techniken und Taktiken gegeneinander ausgespielt werden. Die großen weltstädtischen Machtmittelpunkte werden über die kleineren Staaten, ihr Gebiet, ihre Wirtschaft und Menschen nach Gutdünken verfügen; das alles ist nur noch Provinz, Objekt, Mittel zum Zweck; sein Schicksal ist ohne Bedeutung für den großen Gang der Dinge. Wir haben in wenigen Jahren gelernt, Ereignisse kaum noch zu beachten, die vor dem Kriege die Welt hätten erstarren lassen.« [ 50 ] Unterdessen gilt bereits an Auschwitz zu erinnern für langweiliges Ressentiment. Keiner gibt mehr etwas fürs Vergangene. Was auf das von Spengler so genannte Zeitalter der kämpfenden Staaten folgt, ist seiner Konstruktion zufolge eine im dämonischen Sinne geschichtslose Zeit: die Tendenz der gegenwärtigen Wirtschaft, unter Eliminierung des Marktes und der Dynamik der Konkurrenz einen statischen und im eigentlich ökonomischen Sinn »krisenlosen« Zustand unmittelbarer Verfügung herbeizuführen, kommt mit Spenglers Prognose deutlich genug überein. Mehr und sinnfälliger noch erfüllt sie sich in der Statik der »Kultur«, deren avancierten Versuchen seit dem neunzehnten Jahrhundert schon die Gesellschaft Verständnis und eigentliche Rezeption verweigert, die unablässige und tödliche Wiederholung des einmal Akzeptierten erzwingend, während die standardisierte Massenkunst vermöge ihrer »gefrorenen« Modelle Geschichte ausschließt. Man könnte wohl alle spezifisch moderne Kunst als den Versuch betrachten, die Dynamik der Geschichte beschwörend am Leben zu erhalten oder das Grauen über die Erstarrung zum Schock zu steigern, zur Katastrophe, in der das Geschichtslose jäh den Ausdruck des lang Gewesenen annimmt. Was Spengler den kleineren Staaten prophezeit, beginnt sich an den Menschen selber, auch denen der großen Staaten, und gerade der mächtigsten, zu erfüllen. Darum scheint Geschichte erloschen. Alles Geschehende geschieht ihnen, nicht durch sie. Noch den größten strategischen
Unternehmungen und Triumphzügen haftet ein Zug des Illusionären, nicht ganz Realen an. Seine Erfahrung hat das amerikanische Wort phony ein für alle Male festgehalten. Die Ereignisse spielen sich zwischen den Oligarchen und ihren Mordspezialisten ab: sie entspringen nicht aus der Dynamik der Gesellschaft, sondern unterwerfen diese einer zur Vernichtung gesteigerten Verwaltung. Als Objekte der politischen Gewalt begeben sich die Menschen ihrer Spontaneität: »Seit dem Anbruch der Kaiserzeit gibt es keine politischen Probleme mehr. Man findet sich ab mit den Lagen und Gewalten, die vorhanden sind. Ströme von Blut hatten zur Zeit der kämpfenden Staaten das Pflaster aller Weltstädte gerötet, um die großen Wahrheiten der Demokratie in Wirklichkeit zu verwandeln und Rechte zu erkämpfen, ohne die das Leben nicht wert schien, gelebt zu werden. Jetzt sind diese Rechte erobert, aber die Enkel sind selbst durch Strafen nicht mehr zu bewegen, von ihnen Gebrauch zu machen.« [ 51 ] Spenglers Prognose der Wesensveränderung der Partei ist im Nationalsozialismus radikal bestätigt worden: die Parteien werden zu »Gefolgschaften«. Seine Charakteristik der Partei, vermutlich von Robert Michels inspiriert, ist von jener Hellsichtigkeit, die der Faschismus so satanisch auszunutzen verstand, indem er das Unwahre an einer Humanität, die sich zum Maß der Welt erklärt, ohne verwirklicht zu sein, zur Rechtfertigung absoluter Unwahrheit und Inhumanität erhebt. Er sieht die Zugehörigkeit des Parteiwesens zum bürgerlichen Liberalismus. »Das Auftreten einer Adelspartei in einem Parlament ist innerlich ebenso unecht wie das einer proletarischen. Nur das Bürgertum ist hier zu Hause.« [ 52 ] Er insistiert bei den Mechanismen, die das Parteiwesen in Diktatur umschlagen lassen. Solche Erwägungen sind der zyklischen Geschichtsphilosophie seit der Stoa vertraut. Machiavelli entwickelte den Gedanken, daß die Verderbtheit demokratischer Institutionen auf die Dauer wieder Diktaturen notwendig mache. Aber Spengler, der am Ende der Epoche in gewissem Sinne die Position wiederherstellt, die Machiavelli zu ihrem Beginn eingenommen hatte, zeigt sich dem frühbürgerlichen Staatsphilosophen überlegen durch die Erfahrung der historischen Dialektik, deren Namen er an keiner Stelle ausspricht. Ihm entfaltet sich das Prinzip der Demokratie selber
vermöge der Parteiherrschaft zu seinem Gegenteil. »Das Zeitalter der echten Parteiherrschaft umfaßt kaum zwei Jahrhunderte und ist für uns seit dem Weltkrieg bereits in vollem Niedergang begriffen. Daß die gesamte Masse der Wählerschaft aus einem gemeinsamen Antrieb heraus Männer entsendet, die ihre Sache führen sollen, wie es in allen Verfassungen ganz naiv gemeint ist, war nur im ersten Anlauf möglich und setzt voraus, daß nicht einmal die Ansätze zur Organisation bestimmter Gruppen vorhanden sind. So war es 1789 in Frankreich, 1848 in Deutschland. Mit dem Dasein einer Versammlung ist aber sofort die Bildung taktischer Einheiten verbunden, deren Zusammenhalt auf dem Willen beruht, die einmal errungene herrschende Stellung zu behaupten, und die sich nicht im geringsten mehr als Sprachrohr ihrer Wähler betrachten, sondern umgekehrt diese mit allen Mitteln der Agitation sich gefügig machen, um sie für ihre Zwecke einzusetzen. Eine Richtung im Volk, die sich organisiert hat, ist damit bereits das Werkzeug der Organisation geworden und sie schreitet unaufhaltsam auf diesem Wege weiter, bis auch die Organisation das Werkzeug der Führer geworden ist. Der Wille zur Macht ist stärker als alle Theorie. Am Anfang entsteht die Führung und der Apparat des Programms wegen; dann werden sie von den Inhabern um der Macht und Beute willen verteidigt, wie es heute schon ganz allgemein der Fall ist, wo in allen Ländern Tausende von der Partei und den von ihr vergebenen Ämtern und Geschäften leben, und endlich verschwindet das Programm aus der Erinnerung und die Organisation arbeitet für sich allein.« [ 53 ] Zugespitzt auf Deutschland, in Voraussicht der Jahre der Minderheitsregierungen, die Hitler in den Sattel halfen: »Die deutsche Verfassung von 1919, also schon an der Schwelle der absteigenden Demokratie entstanden, enthält in aller Naivität eine Diktatur der Parteimaschinen, die sich selbst alle Rechte übertragen haben und niemand ernsthaft verantwortlich sind. Die berüchtigte Verhältniswahl und die Reichsliste sichern ihnen die Selbstergänzung. Statt der Rechte des ›Volkes‹, wie sie die Verfassung von 1848 der Idee nach enthielt, gibt es nur solche der Parteien, was harmlos klingt, aber den Cäsarismus der Organisationen in sich schließt. In diesem Sinne ist sie allerdings die fortgeschrittenste Verfassung des Zeitalters; sie läßt das Ende bereits erkennen; einige ganz kleine Änderungen, und sie verleiht
Einzelnen die unumschränkte Gewalt.« [ 54 ] Spengler fühlt vor, wie der Gang der Geschichte die Menschen Idee und Wirklichkeit der eigenen Freiheit vergessen macht. »Diese abstrakten Ideale besitzen eine Macht, die sich kaum über zwei Jahrhunderte – die der Parteipolitik – erstreckt. Sie werden zuletzt nicht etwa widerlegt, sondern langweilig. Rousseau ist es längst und Marx wird es in kurzem sein. Man gibt endlich nicht diese oder jene Theorie auf, sondern den Glauben an Theorien überhaupt und damit den schwärmerischen Optimismus des 18. Jahrhunderts, unzulängliche Tatsachen durch Anwendung von Begriffen verbessern zu können.« [ 55 ] – »Niemand sollte sich darüber täuschen, daß das Zeitalter der Theorie auch für uns zu Ende geht.« [ 56 ]
Die Prognose vom Absterben der Denkkraft kulminiert im Denkverbot, das sich mit der Unausweichlichkeit des Geschichtsverlaufs zu legitimieren trachtet. Damit ist aber zugleich der archimedische Punkt des Spenglerschen Entwurfs erreicht. Seine geschichtsphilosophische Behauptung vom Absterben des Geistes und die denkfeindlichen Konsequenzen, die daraus folgen, beziehen sich nicht bloß auf die Phase der »Zivilisation«, sondern sind Grundbestände der Spenglerschen Ansicht vom Menschen schlechthin. »Wahrheiten gibt es für den Geist; Tatsachen gibt es nur in bezug auf das Leben. Historische Betrachtung, in meiner Ausdrucksweise physiognomischer Takt: das ist die Entscheidung des Blutes, die auf Vergangenheit und Zukunft erweiterte Menschenkenntnis, der angeborne Blick für Personen und Lagen, für das, was Ereignis, was notwendig war, was dagewesen sein muß, und nicht die bloße wissenschaftliche Kritik und Kenntnis von Daten.« [ 57 ] Entscheidend dabei ist der Begriff der Menschenkenntnis und seine Verkopplung mit der unterdessen zu sich selbst, dem verkündeten Grauen gekommenen Ideologie des Blutes. Dahinter steht implizit die Machiavellische Annahme von der Unveränderlichkeit der Menschennatur, die man nur ein für allemal, nämlich in ihrer Nichtswürdigkeit, zu kennen brauchte, um ein für allemal, in der Erwartung des Immergleichen, über sie verfügen zu können. Menschenkenntnis im prägnanten Sinn heißt Menschenverachtung: so sind sie nun einmal. Das leitende Interesse der Betrachtung ist das der Beherrschung. Auf sie sind sämtliche
Kategorien zugeschnitten. Bei den Herrschern liegt alle Sympathie, und der Geschichtsphilosoph der Desillusion kann schwärmen wie nur einer der von ihm hartnäckig verhöhnten Pazifisten, wenn er auf die vermeintlich ungeheure Intelligenz und den stahlharten Willen moderner Wirtschaftsführer zu sprechen kommt. Das gesamte Bild der Geschichte wird am Ideal der Herrschaft gemessen. Die Wahlverwandtschaft mit ihr verleiht Spengler den tiefsten Blick, wann immer es sich um Potentialitäten von Herrschaft handelt, und verblendet ihn mit Haß, sobald er Regungen begegnet, die über die bisherige Geschichte als Geschichte von Herrschaftsverhältnissen hinausgehen. Die Tendenz der idealistischen deutschen Systeme, die großen Allgemeinbegriffe zu Fetischen zu erheben und ihnen ungerührt das Opfer der einzelmenschlichen Existenz in der Theorie zu bringen – jene Tendenz, der Schopenhauer, Kierkegaard und Marx an Hegel widersprachen –, ist bei Spengler zur unverhohlenen Freude an den tatsächlichen Menschenopfern gesteigert. Wo Hegels Geschichtsphilosophie in starrer Trauer von der Schlachtbank der Geschichte redet, sieht Spengler nichts als Tatsachen, die man zwar, nach Temperament und Anlage, bedauern könne, um die sich aber besser der nicht bekümmere, der sich in Komplizität mit der historischen Notwendigkeit befindet und dessen Physiognomik es mit den stärkeren Bataillonen hält. In seiner unbefangenen Kritik sagt James Shotwell in den ›Essays in Intellectual History‹: »Spenglers Interesse richtet sich auf das große und tragische Drama, das er schildert, und er verschwendet nicht viel müßige Sympathie auf die Opfer der wiederkehrenden Nacht.« [ 58 ] Im grandios verfügenden Gestus der Spenglerschen Begriffswahl, die mit Kulturen umspringt wie mit bunten Steinen und Schicksal, Kosmos, Blut, Geist in vollendeter Gleichgültigkeit, wie das Naziwort hieß, »einsetzt« – darin spricht selber das Motiv der Herrschaft sich aus. Wer alles Erscheinende blank auf die Formel »alles schon dagewesen« abzieht, übt eben dadurch ein Gewaltregime der Kategorien aus, nur allzu nahe verwandt dem politischen, dem Spenglers Enthusiasmus gilt. Er siedelt die Geschichte in den Sparten seines Großplans an, wie Hitler die Minderheiten von einem Lande ins andere verschob. Am Ende geht die Rechnung auf. Alles ist eingeordnet, und liquidiert sind die Widerstände, die allemal nur beim Unerfaßten liegen. So unzulänglich die einzelwissenschaftliche Kritik an Spengler
gewesen sein mag, hier hat sie ihre Wahrheit. Der Fata Morgana der historischen Großraumwirtschaft entzieht sich bloß das Einzelne, an dessen Starrsinn die befehlshaberische Subsumtion ihre Grenze erreicht. Zeigt Spengler einer detaillistischen Einzelwissenschaft sich überlegen durch Perspektive und Großzügigkeit der Kategorien, so ist er unterlegen zugleich durch eben diese Großzügigkeit, die erreicht wird, indem er die Dialektik von Begriff und Einzelheit niemals ehrlich austrägt, sondern umgeht durch einen Schematismus, der sich der »Tatsache« generell und ideologisch zur Niederschmetterung des Gedankens bedient, ohne ihr jemals mehr als den ersten zuordnenden Blick zu widmen. In Spenglers welthistorischer Perspektive steckt ein Element von Ostentation und Aufgeblasenheit, nicht unähnlich dem Geist der Wilhelminischen Siegesallee: nur wenn die Welt sich in eine Siegesallee verwandelt, nimmt sie die Gestalt an, die er ihr wünscht. Der Aberglaube, daß die Größe einer Philosophie an ihren grandiosen Aspekten haftet, ist schlechtes idealistisches Erbe; etwa wie wenn die Qualität eines Bildes von der Erhabenheit seines Sujets abhinge. Große Themen sagen nichts über die Größe der Erkenntnis. Wenn das Wahre, wie Hegel es will, das Ganze ist, so ist es doch das Wahre nur, wenn die Kraft des Ganzen völlig in die Erkenntnis des Besonderen eingeht. Nichts davon bei Spengler. Nirgendwo offenbart ihm das Besondere, wessen die tabellarische Übersicht seiner vergleichenden Kulturmorphologie ihn nicht vorher schon versichert hätte. Seine Methode nennt sich stolz Physiognomik. In Wahrheit ist sein physiognomisches Denken an den totalen Charakter der Kategorien gebunden. Alles Einzelne und noch das Entlegene wird zur Chiffre des Großen, der »Kultur«, weil die Welt so lückenlos gedacht ist, daß für nichts Raum bleibt, was nicht seinem Wesen nach spannungslos mit jenem Großen identisch wäre [ 59 ] . Es liegt darin ein Element von Wahrheit, insofern als die herrschaftlich organisierte Gesellschaft je und je in der Tat zu Totalitäten zusammenschießt, die dem Einzelnen keine Freiheit lassen: Totalität ist ihre logische Form. Spenglers Physiognomik hat das Verdienst, den Blick aufs »System« im einzelnen auch dort noch freizulegen, wo es mit einer Freiheit sich gibt, hinter der doch bloß die universale Abhängigkeit sich verbirgt. Aber dies Verdienst wird wettgemacht dadurch, daß die Insistenz auf der universalen Abhängigkeit der einzelnen Momente vom Ganzen, als eine
Abhängigkeit der Ausdruckscharaktere von der Totalität der Kultur, in ihrer abstrakten Weite die konkreten und scharf differenzierten Abhängigkeiten verschwinden macht, die über das Leben der Menschen entscheiden. Darum spielt Spengler die Physiognomik gegen die Kausalität aus. Wenn der Typus des passiv reagierenden Massenmenschen, den Spengler beschreibt, kausalitätslos auf der gleichen Ebene erscheint wie die Konzentration der Macht, die doch als Schlüsselkategorie des »Systems« und durchs System hindurch den Massenmenschen erst produziert und reproduziert, dann wird es möglich, gesellschaftliche Abhängigkeitsverhältnisse aufs Schicksal und den Stundenschlag der Kulturphasen zu nivellieren und wohl gar dem ohnmächtigen Massenmenschen metaphysisch die Schmach aufzubürden, die ihm historisch von den Cäsaren angetan wird. Der physiognomische Blick verliert sich, indem er die Phänomene den wenigen Schlagzeilen der Invarianten zurechnet. Anstatt sich in die Ausdruckscharaktere der Phänomene zu versenken, beeilt sich Spengler, die lieblos zusammengerafften mit greller Reklameschrift loszuschlagen. Die Einzelwissenschaften werden von oben herab durchmustert zum Zweck des Ausverkaufs. Wollte man Spengler selbst in der Formensprache der von ihm denunzierten Zivilisation und in seiner Manier benennen, so müßte man den ›Untergang des Abendlandes‹ einem Warenhaus vergleichen, wo die getrockneten Lesefrüchte feilgeboten werden, die der intellektuelle Disponent von der Konkursmasse der Kultur billig zusammengerafft hat. Darin steckt der erbitterte, ressentimenterfüllte Drang des mittelständlerischen deutschen Gelehrten, den Schatz seines Wissens endlich in Kapital zu verwandeln und in den meistversprechenden Zweigen der Wirtschaft – damals der Schwerindustrie – zu investieren. Die Erkenntnis von der Hilflosigkeit der liberalen Intellektuellen unterm Schatten der heraufziehenden totalitären Macht läßt ihn zum Überläufer werden. Durch Selbstdenunziation macht der Geist sich tauglich, anti-ideologische Ideologien zu liefern. Hinter der Spenglerschen Proklamation des Untergangs der Kultur steht der Wunsch als Vater des Gedankens. Der Geist, der sich verneint und auf die Seite der Gewalt stellt, hofft auf Pardon. Lessings Diktum vom Klugen, der klug genug war, nicht klug zu sein, erfüllt sich an Spengler. Die Einleitung zum ›Untergang des Abendlandes‹ enthält einen Satz, der berühmt werden sollte: »Wenn unter dem Eindruck
dieses Buches sich Menschen der neuen Generation der Technik statt der Lyrik, der Marine statt der Malerei, der Politik statt der Erkenntniskritik zuwenden, so tun sie, was ich wünsche, und man kann ihnen nichts Besseres wünschen.« [ 60 ] Man mag sich nach dem Satz die Persönlichkeiten vorstellen, zu denen er respektvoll blinzelnd gesprochen ist. Spengler weiß sich mit ihnen einig in der Überzeugung, daß es Zeit ist, den jungen Leuten die Mucken endgültig auszutreiben. Es sind die gleichen Persönlichkeiten, die sich später auf Realpolitik beriefen. In der Wut auf Bilder, Gedichte und Philosophie meldet sich die tiefe Angst, daß in jenem von Spengler mit schauderndem Entzücken geschilderten »geschichtslosen« Zustand, wo es keine »politischen Probleme« und vielleicht selbst keine Ökonomie mehr gibt, die Kultur, wenn sie nicht rechtzeitig untergeht, aufhören könnte, die harmlose Fassade zu sein, die Spengler herunterschlagen möchte: daß sie die Widersprüche denunziert, die im reglementierten Unterbau keine Stätte mehr haben. Die offiziell in den faschistischen Ländern gelieferte Kultur bewirkte Gelächter und Unglauben bei den von ihr Betroffenen, und viel Opposition fand ihre Zuflucht bei Büchern, in Kirchen und in den Theaterstücken der Klassiker, die man tolerierte, weil sie so klassisch sind, und die als tolerierte aufhörten, es zu sein. Spenglers Verdikt trifft unterschiedslos die offizielle Kultur und ihr Gegenteil: Expressionismus und Kino stehen im gleichen Satz. Die Undifferenziertheit des Verdikts stimmt genau zur Verfassung der Machthaber in den Diktaturstaaten, die die eigenen Lügen verachten, die Wahrheit hassen und erst ruhig schlafen können, wenn keiner mehr zu träumen wagt. Dem einzelwissenschaftlichen Widerstand steht Spengler gemeinhin, und zumal in den angelsächsischen Ländern, vor Augen als ein Metaphysiker, der mit der Willkür seiner Begriffskonstruktion die Realität vergewaltigt. Nächst den Idealisten, die von ihm den Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit verleugnet fühlen, fand er kaum gereiztere Gegner als die Positivisten. Kein Zweifel, daß seine Philosophie der Welt Gewalt antut. Aber es ist dieselbe Gewalt, die ihr täglich in Wirklichkeit angetan wird. Geschichte, so quicken Lebens voll, daß ihr der Fortschritt zu mechanistisch war, scheint dafür um so williger nach dem Spenglerschen Begriffsschema zu erfrieren. Ob eine
Philosophie metaphysisch oder positivistisch ist, läßt sich ihr nicht auf den ersten Blick ansehen. Zuweilen sind die Metaphysiker bloß weiterblickende oder weniger verängstigte Positivisten. Ist Spengler überhaupt der Metaphysiker, als den er und seine Feinde ihn betrachteten? Bleibt man formal beim Übergewicht der Begriffsbildung über den empirischen Inhalt, der Schwierigkeit oder Unmöglichkeit der Verifikation und den grob irrationalistischen Hilfsbegriffen seiner Erkenntnistheorie stehen, so ist er es gewiß. Geht man aber der Substanz dieser Begriffe nach, so führen sie allemal auf positivistische Desiderate; insbesondere auf den Kult der »Tatsache«. Spengler läßt keine Gelegenheit vorübergehen, ohne die Wahrheit, welchen Sinnes auch immer, zu verlästern und das, was nun einmal so und nicht anders ist, was registriert und akzeptiert werden muß, zu glorifizieren. »Aber in der geschichtlichen Wirklichkeit gibt es keine Ideale; es gibt nur Tatsachen ... Es gibt keine Gründe, keine Gerechtigkeit, keinen Ausgleich, kein Endziel; es gibt nur Tatsachen – wer das nicht begreift, der schreibe Bücher über Politik, aber er mache keine Politik.« [ 61 ] Die essentiell kritische Einsicht von der Ohnmacht der Wahrheit in der bisherigen Geschichte, von der Übermacht des bloß Seienden über alle Versuche, durch Bewußtsein aus dessen Kreis auszubrechen, wird unvermerkt für Spengler zur Rechtfertigung des bloß Seienden selber. Daß was ist, was Macht hat und was sich durchsetzt, doch unrecht haben könnte, ist ein Gedanke, der ihm nicht beikommt oder vielmehr einer, den er sich und anderen krampfhaft verbietet. Wut ergreift ihn, wann immer die Stimme der Ohnmacht laut wird, und doch hat er dieser nichts zu entgegnen, als daß sie eben ein für allemal ohnmächtig sei. Hegels Lehre von der Vernünftigkeit des Wirklichen entartet zur Karikatur. Das Hegelsche Pathos des sinnvollen Wirklichen und der Spott gegen den Weltverbesserer wird festgehalten, während zugleich das nackte Herrschaftsdenken der Wirklichkeit den Anspruch auf Sinn und Vernunft raubt, in dem das Hegelsche Pathos allein gründet. Vernunft und Unvernunft der Geschichte sind für Spengler das gleiche, reine Herrschaft, und Tatsache ist, worin diese sich manifestiert. Nietzsche, dessen herrischen Ton Spengler unablässig nachahmt, ohne auch nur einmal wie Nietzsche vom Einverständnis mit der Welt sich loszusagen, sagt an einer Stelle, Kant habe die
Vorurteile des gemeinen Mannes gegen die Wissenschaft mit deren Mitteln verteidigt. Etwas Ähnliches gilt für Spengler. Er hat den Tatsachenglauben und die Fügsamkeit des Positivismus gegen die kritischen Widerstände der Metaphysik mit deren eigenen Waffen verfochten; er hat, ein zweiter Comte, aus dem Positivismus eine Metaphysik gemacht, aus der Unterordnung unter das Seiende die Liebe zum Schicksal, aus dem Mit-dem-Strom-Schwimmen den kosmischen Takt, aus der Sinnlosigkeit das Geheimnis, aus der Verleugnung der Wahrheit die Wahrheit. Daher seine Gewalt. Spengler zählt zu jenen Theoretikern der extremen Reaktion, deren Kritik des Liberalismus der progressiven sich in vielen Stücken überlegen zeigte. Es lohnte die Mühe zu untersuchen, warum. Entscheidend sind die Differenzen im Verhältnis zur Ideologie. Die liberale erschien der historisch-dialektischen Kritik weithin als falsche Versprechung. Ihre Sprecher haben nicht die Ideen der Menschlichkeit, Freiheit, Gerechtigkeit in Frage gestellt, sondern den Anspruch der bürgerlichen Gesellschaft, die Verwirklichung dieser Ideen darzustellen. Ihnen waren die Ideologien Schein, aber doch der Schein der Wahrheit. Versöhnender Abglanz fiel damit wenn nicht aufs Bestehende, so zumindest auf dessen »objektive Tendenzen«. Die Rede vom Anwachsen der Antagonismen und das Zugeständnis der aktuellen Möglichkeit des Rückfalls in die Barbarei wurden kaum so ernst genommen, daß man die Ideologien als Schlimmeres denn apologetische Verhüllungen, nämlich als den objektiven Widersinn, erkannt hätte, der dazu hilft, die Gesellschaft der liberalen Konkurrenz in die der unmittelbaren Unterdrückung zu verwandeln. Die Frage etwa, wie gerade jene das Bestehende verändern sollten, die dessen ganze Last zu tragen haben, ist kaum gestellt worden. Begriffe wie die der Masse und der Kultur blieben positiv hingenommen, ohne daß man auch bloß ihrer Dialektik innegeworden wäre oder gar des Produziert-Werdens der spezifischen Kategorie Masse im gegenwärtigen Stadium der Gesellschaft und der gleichzeitigen Verwandlung der Kultur in ein Kontrollsystem. Daß vollends sogar die »Ideen« in ihrer abstrakten Gestalt nicht bloß die regulative Wahrheit darstellen, sondern selber an dem Unrecht kranken, unter dessen Bann sie gedacht sind, kam nicht zum Bewußtsein. Man hatte es rechts um so viel leichter, die Ideologien zu
durchschauen, als man sich an der Wahrheit desinteressierte, die in falscher Form in den Ideologien enthalten ist. Wem Freiheit, Menschlichkeit und Gerechtigkeit nichts als ein Schwindel sind, den sich die Schwachen zum Schutz vor den Starken ausgedacht haben – und darin folgten die Theoretiker der deutschen Reaktion meist Nietzsche –, der vermag es recht wohl, als Anwalt der Starken auf den Widerspruch zu deuten, der zwischen jenen vorweg schon verkümmerten Ideen und der Realität gilt. Die Kritik an den Ideologien überschlägt sich. Sie lebt von der Verschiebung der Einsicht in die schlechte Wirklichkeit auf die Schlechtigkeit der Ideen, die damit bewiesen sein soll, daß sie nicht verwirklicht sind. Was dieser eingängigen Kritik gleichwohl ihre Erkenntniskraft verleiht, ist ihr tiefes Einverständnis mit den Mächten, die sich durchsetzen. Spengler und seinesgleichen sind weniger die Propheten des Zuges, den der Weltgeist nimmt, als seine beflissenen Agenten. In der Form der Prognose bereits steckt das Verfügen über die Menschen als Außer-Kraft-Setzen ihrer selbst. Die Theorie, die alles von den Menschen und ihrer Aktion erwartet, die nicht mehr mit politischen »Kräfteverhältnissen« rechnet, sondern dem »Kräftespiel« ein Ende bereiten will, prophezeit nicht. Spengler sagt, es käme darauf an, in der Geschichte in weitestem Maße mit Unbekannten zu rechnen. Die Unbekannten der Menschheit sind aber gerade das, womit sich nicht rechnen läßt. Die Geschichte ist keine Gleichung, kein analytisches Urteil. Die Auffassung, sie sei das, schließt vorweg die Möglichkeit des Anderen aus. Die Spenglersche Vorhersage der Geschichte mahnt an die Mythen von Tantalus und Sisyphus und an die Sprüche des Orakels, die von alters her Böses verkünden. Er ist mehr ein Wahrsager als ein Prophet. In der gigantischen und destruktiven Wahrsagerei triumphiert der Kleinbürger. Die Morphologie der Weltgeschichte dient dem gleichen Zweck wie die Graphologie bei Klages. Im Wunsch des Kleinbürgers, aus der Handschrift, dem Vergangenen und den Karten sein Schicksal sich vorhersagen zu lassen, steckt eben, was Spengler den Opfern hämisch ankreidet: der Verzicht auf bewußte Selbstbestimmung. Er identifiziert sich mit der Macht, aber seine Theorie verrät durch ihre wahrsagerische Gestalt zugleich die Ohnmacht der Identifikation. Er ist seiner Sache so sicher wie ein Henker, nachdem die Richter ihren
Urteilsspruch gefällt haben. In der geschichtsphilosophischen Weltformel verewigt sich nicht bloß die fremde, sondern auch die eigene Schwäche. Vielleicht erlaubt solche Charakteristik von Spenglers Denkweise einige prinzipiellere Überlegungen zu seiner Kritik. Positivistisch ist seine Metaphysik im sich Bescheiden bei dem, was nun einmal so und nicht anders ist; im Abschneiden der Möglichkeit, im Haß gegen ein Denken, dem es mit dem Möglichen gegen das Wirkliche ernst sein könnte. Dieser Positivismus ist nun an einer entscheidenden Stelle von Spengler durchbrochen – so sehr, daß einige seiner theologischen Rezensenten ihn schließlich geradezu als Bundesgenossen glaubten reklamieren zu dürfen. Das ist Spenglers Auffassung von der bewegenden Kraft der Geschichte, vom »Seelentum«: von der rätselhaften, durchaus innerlichen, unerklärlich jeweils in die Geschichte eintretenden Beschaffenheit eines besonderen Typus Mensch oder, wie Spengler es gelegentlich nennt, einer »Rasse«. Allem Tatsachenglauben, aller relativistischen Skepsis zum Trotz wird ein metaphysisches Prinzip zur letzten Erklärung der historischen Dynamik herangezogen; ein Prinzip, das, wie Spengler oft versichert, dem Entelechiebegriff Leibnizens und damit Goethes nächstverwandt sei, »geprägte Form, die lebend sich entwickelt«. Diese Metaphysik der pflanzenhaft sich entfaltenden und absterbenden Kollektivseele hat Spengler in die Nachbarschaft der Lebensphilosophen, außer Nietzsches Simmels und des von ihm verketzerten Bergson, gerückt. Dem Taktiker Spengler ist die Rede von Seele und Leben ein willkommenes Hilfsmittel, einen Materialismus flach zu schelten, dem er doch in Wahrheit nur darum grollt, weil er ihm nicht positivistisch genug ist und die Welt anders haben möchte, als sie ist. Aber die Metaphysik des Seelentums hat weiterreichende Konsequenzen als die taktische. Man möchte von einer latenten Identitätsphilosophie reden. Weltgeschichte, so ließe übertreibend sich sagen, wird zur Stilgeschichte: die historischen Schicksale der Menschheit sind so sehr das Produkt ihrer Innerlichkeit wie die Kunstwerke. Der Mann der Tatsachen verkennt den Anteil der Lebensnot an der Geschichte. Die Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur, wie sie die Tendenz der Naturbeherrschung hervorbringt, die sich dann in der Beherrschung
von Menschen durch andere Menschen fortsetzt, tritt im ›Untergang des Abendlandes‹ nicht ins Blickfeld. Spengler sieht nicht, wie sehr die historische Fatalität, auf die alles Licht der Betrachtung fällt, aus dem Zwang der Auseinandersetzung mit der Natur hervorgeht. Er ästhetisiert das Bild der Geschichte. Die Wirtschaft wird ihm eine »Formenwelt« ganz wie die Kunst; eine Sphäre reinen Ausdrucks der so und nicht anders gearteten Seele, die im wesentlichen unabhängig von der Forderung nach der Reproduktion des Lebens sich konstituiere. Kein Zufall, daß Spenglers Verständnis ökonomischer Vorgänge hilflos dilettantisch bleibt. Er spricht von der Allmacht des Geldes im gleichen Tone, in dem ein kleinbürgerlicher Agitator gegen die Weltverschwörung der Börse loszieht. Er verkennt, daß für die Wirtschaft stets die Produktion maßgebend ist und nicht das Tauschmittel. Er ist so fasziniert von der Geldfassade, von der »Symbolkraft« des Geldes, daß er darüber das Symbol zur Sache selbst macht. Er sagt selbst den Arbeiterparteien in eklatantem Widerspruch zu allen Programmen nach, sie wollten »die Geldwerte nicht überwinden, sondern besitzen« [ 62 ] . Sklavenwirtschaft, Industrieproletariat, Maschinenwirtschaft sind bei ihm als Kategorien nicht prinzipiell verschieden von der Plastik, der musikalischen Polyphonie oder der Infinitesimalrechnung. Sie verflüchtigen sich zu Zeichen eines bloß Inwendigen. Während die Querverbindungen zwischen den heterogenen Kategorien von Realität und Bild oftmals die Einheit historischer Epochen überraschend ins Licht setzen, entfällt dafür alles, was nicht frei und autonom dem menschlichen Ausdrucksvermögen angehört. Nur in vagen Reden von kosmischen Zusammenhängen überlebt bei Spengler, was sich nicht als Symbol auf die von ihm trotz allem Fatalismus mit Souveränität ausgestattete Menschennatur reduzieren läßt. So verstellt die schicksalsverfallene Welt der Spenglerschen Geschichtskonzeption sich in ein Reich der Freiheit. Aber sie scheint es bloß. Es bildet sich eine höchst paradoxe Konstellation. Gerade dadurch, daß ihm alles Auswendige zum Bild des Inwendigen wird, und daß es bei ihm zu einem eigentlichen Prozeß zwischen Subjekt und Objekt überhaupt nicht mehr kommt, scheint die Welt organisch aus der Seelensubstanz zu erwachsen wie die Pflanze aus dem Samen. Die Geschichte nimmt durch ihre
Reduktion auf das Wesen Seele einen bruchlos gestalthaften, in sich geschlossenen, damit aber erst recht deterministischen Charakter an. Karl Joël erklärt es in seiner Kritik im Spengler-Sonderheft des ›Logos‹ für »die ganze Krankheit dieses bedeutsamen Buches, daß es den Menschen vergessen hat mit seinem Schaffen und seiner Freiheit. Bei aller Verinnerlichung entmenschlicht es die Geschichte zu einem Ablauf typischer Naturprozesse, bei aller Durchseelung verleiblicht es die Geschichte, indem es ihre ›Morphologie‹ oder ›Physiognomik‹ liefern will, also ihre äußeren Gestalten, ihre Ausdrucksformen, die Sonderzüge ihrer Erscheinungen vergleichen will.« [ 63 ] Nicht bei aller Verinnerlichung jedoch wird die Geschichte entmenschlicht, sondern gerade vermöge ihrer Verinnerlichung. Natur, mit der die Menschen in der Geschichte sich auseinanderzusetzen haben, wird von Spenglers Philosophie souverän beiseite geschoben. Dafür verwandelt sich Geschichte selber in zweite Natur, blind, auswegslos und verhängnisvoll wie nur je das vegetabilische Leben. Was man Freiheit des Menschen nennen mag, konstituiert sich bloß in den menschlichen Versuchen, den Naturzwang zu brechen. Wird dieser ignoriert, wird die Welt zu einem bloßen Gebilde des reinen Menschenwesens gemacht, so geht in solcher Allmenschlichkeit der Geschichte Freiheit verloren. Sie entfaltet sich bloß am Widerstand des Seienden: wird sie absolut gesetzt und das Seelentum zum herrschenden Prinzip erhöht, so verfällt es selber dem bloßen Dasein. Die Hybris des Spenglerschen Geschichtsbildes und die Erniedrigung des Menschen, die er betreibt, sind in Wahrheit identisch. Kultur heißt nicht, wie bei Spengler, das Leben sich entfaltender Kollektivseelen, sondern entspringt im Kampf der Menschen um die Bedingungen ihrer Reproduktion. Damit enthält die Kultur ein Element des Widerspruchs gegen die blinde Notwendigkeit: den Willen, sich selbst zu bestimmen aus Erkenntnis. Spengler reißt die Kultur los von jenem Drang der Menschheit zu überleben. Sie wird ihm zu einem Spiel der Seele mit sich selber. Das Phantasma der Kultur aus bloßer Innerlichkeit aber setzt er gleich mit den realen historischen Kräften – ja mit den naturwüchsigen Kräften, weil die anderen ausgelassen sind, samt der Realität, an der sie erst sich erproben könnten. Damit aber tritt gerade der Spenglersche Idealismus in den
Dienst der Machtphilosophie. Die Kultur wird der Herrschaft ganz immanent; der Prozeß, der aus bloßer Innerlichkeit entspringt und in bloße Innerlichkeit notwendig sich zurücknimmt, zum Schicksal, und Geschichte zersetzt sich zu jener Zeitlosigkeit im ziellosen Auf und Nieder der Kulturen, die Spengler den späten Zivilisationen nachsagt und die den Grund seines eigenen Weltplans ausmacht. Das Element an Kultur, das der Naturbefangenheit widersteht, wird eskamotiert. Reines Seelentum und reine Herrschaft sind das gleiche, so wie bei Spengler die Seele gewalttätig und unerbittlich ihre eigenen Träger beherrscht. Die reale Geschichte verklärt sich ideologisch zur Seelengeschichte, nur damit das Antithetische, sich Auflehnende am Menschen, sein Bewußtsein, der blinden Notwendigkeit um so vollkommener verfällt. Spengler hat die Affinität von absolutem Idealismus – die Lehre vom Seelentum ist Schellingsches Erbe – und dämonischer Mythologie ein letztes Mal unter Beweis gestellt. An manchen exzentrischen Punkten läßt seine mythische Befangenheit sich mit Händen greifen. Die regelhafte Periodizität gewisser Ereignisse, heißt es in einer Fußnote des zweiten Bandes, »deutet wieder darauf hin, daß die kosmischen Flutungen in Gestalt des menschlichen Lebens an der Oberfläche eines kleinen Gestirns nichts irgendwie für sich Bestehendes sind, sondern mit dem unendlichen Bewegtsein des Alls in tiefem Einklang stehen. In einem kleinen merkwürdigen Buch: R. Mewes, Die Kriegs- und Geistesperioden im Völkerleben und Verkündigung des nächsten Weltkrieges (1896) ist die Verwandtschaft dieser Kriegsperioden mit Perioden der Witterung, der Sonnenflecken und gewisser Planetenkonstellationen festgestellt und daraufhin ein großer Krieg für 1910–1920 angesetzt worden. Aber diese und zahllose ähnliche Zusammenhänge, die in den Bereich unsrer Sinne treten, bergen ein Geheimnis, das wir zu ehren haben.« [ 64 ] Spengler, bei all seinem Hohn für zivilisatorische Mystik, kommt in solchen Formulierungen dem astrologischen Aberglauben überaus nahe. So endet die Verherrlichung der Seele. Die Wiederkehr des Immergleichen, in der solche Schicksalslehre terminiert, ist aber nichts anderes als die immerwährende Reproduktion der Schuld von Menschen gegen Menschen. Im Begriff des Schicksals, der den Menschen selber blinder Herrschaft unterstellt, reflektiert sich die Herrschaft, die Menschen ausüben. Sooft Spengler von Schicksal redet, handelt es
sich um die Unterwerfung einer Gruppe von Menschen durch andere. Die Seelenmetaphysik tritt zum Positivismus hinzu, um das Prinzip der unablässig sich reproduzierenden Herrschaft als ewig und unausweichlich zu hypostasieren. Die Unausweichlichkeit des Schicksals ist in Wahrheit definiert durch Herrschaft und Ungerechtigkeit selber, und das vertuscht Spenglers Weltordnung. Gerechtigkeit tritt bei ihm als verpönter Gegenbegriff zu dem des Schicksals auf. An einer der brutalsten Stellen, einer unfreiwilligen Parodie auf Nietzsche, beklagt er, »daß das Weltgefühl des Rassemäßigen, der politische und deshalb nationale Tatsachensinn – right or wrong, my country! –, der Entschluß, Subjekt und nicht Objekt der historischen Entwicklung zu sein – denn etwas Drittes gibt es nicht –, kurz der Wille zur Macht durch eine Neigung überwältigt wird, deren Führer sehr oft Menschen ohne ursprüngliche Triebe, aber desto mehr auf Logik versessen sind, in einer Welt der Wahrheiten, Ideale und Utopien zu Hause, Büchermenschen, welche das Wirkliche durch das Logische, die Gewalt der Tatsachen durch eine abstrakte Gerechtigkeit, das Schicksal durch die Vernunft ersetzen zu können glauben. Es fängt an mit den Menschen der ewigen Angst, die sich aus der Wirklichkeit in Klöster, Denkerstuben und geistige Gemeinschaften zurückziehen und die Weltgeschichte für gleichgültig erklären, und endet in jeder Kultur bei den Aposteln des Weltfriedens. Jedes Volk bringt solchen – geschichtlich betrachtet – Abfall hervor. Schon die Köpfe bilden physiognomisch eine Gruppe für sich. Sie nehmen in der ›Geschichte des Geistes‹ einen hohen Rang ein – eine lange Reihe berühmter Namen ist darunter –, vom Standpunkt der wirklichen Geschichte aus betrachtet sind sie minderwertig.« [ 65 ] Spengler standhalten hieße demnach, den »Standpunkt der wirklichen Geschichte«, die keine Geschichte, sondern schlechte Natur ist, geschichtlich aufzuheben und das geschichtlich Mögliche zu verwirklichen, das Spengler unmöglich nennt, weil es noch nicht verwirklicht ist. In diese Zusammenhänge ist James Shotwells Kritik unbestechlich eingedrungen: »Dem Herbst ist bisher stets der Winter gefolgt, weil das Leben sich im Kreislauf wiederholte und auf dem begrenzten Raum einer autarken Wirtschaft abspielte. Der Verkehr zwischen den einzelnen Gesellschaften trug eher räuberischen als stimulativen Charakter, weil von der Menschheit noch kein Mittel zur Erhaltung der Kultur gefunden worden war, das
sie nicht in unverhältnismäßigem Maße von denen abhängig gemacht hätte, die keinen Anteil an ihren materiellen Segnungen hatten. Von den ersten wilden Raubzügen und der Sklaverei bis zu den industriellen Problemen unserer Tage sind alle Kulturen auf falschen wirtschaftlichen Grundlagen aufgebaut gewesen und von ebenso falschen moralischen und religiösen Spitzfindigkeiten gestützt worden. Es hat ihnen an innerem Gleichgewicht gefehlt, weil sie von der Ungerechtigkeit der Ausbeutung ausgingen. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, daß die moderne Kultur diesen umwälzenden Rhythmus zwangsläufig wiederholen müsse.« [ 66 ] Diese Einsicht vermag es, die ganze Spenglersche Geschichtskonzeption aufzurollen. Ist der Untergang der Antike gesetzt durch autonome Notwendigkeit im Leben und Ausdruck ihres Seelentums, dann gewinnt er in der Tat den Aspekt des Schicksals, und leicht lassen die Züge der Fatalität auf die gegenwärtige Situation sich übertragen. Ist aber, wie es im Sinn von Shotwells Sätzen liegt, der Untergang der Antike zu verstehen aus dem unproduktiven Latifundiensystem und der damit zusammenhängenden Sklavenwirtschaft, so ist das Schicksal zu meistern, wenn es gelingt, solche und ähnliche Herrschaftsformen zu überwinden, und die universale Struktur enthüllt sich als falscher Analogieschluß auf eine schlechte Einmaligkeit. Das involviert freilich mehr als den Glauben an stetigen Fortschritt und ans Überleben der Kultur. Spengler hat die Naturwüchsigkeit der Kultur mit einem Nachdruck hervorgehoben, der ein für allemal das Vertrauen in ihre versöhnende Kraft erschüttern sollte. Schlagender als fast jeder andere hat er demonstriert, wie die Naturwüchsigkeit der Kultur stets wieder zum Untergang treibt, und wie Kultur selber als Form und Ordnung verschworen ist der blinden Herrschaft, die in permanenter Krise sich und ihren Opfern gleichermaßen das Schicksal bereitet. Was Kultur ist, trägt die Spur des Todes – das zu verleugnen, bliebe ohnmächtig vor Spengler, der von den Geheimnissen der Kultur kaum weniger ausgeplaudert hat als Hitler von denen der Propaganda. Um dem Zauberkreis der Spenglerschen Morphologie zu entrinnen, genügt es nicht, die Barbarei zu diffamieren und auf die Gesundheit der Kultur sich zu verlassen – eine Vertrauensseligkeit, in deren Angesicht Spengler hohnlachen könnte. Vielmehr ist das
Element der Barbarei an der Kultur selber zu durchdringen. Nur solche Gedanken haben eine Chance, das Spenglersche Verdikt zu überleben, welche die Idee der Kultur nicht weniger herausfordern als die Wirklichkeit der Barbarei. Die pflanzenhafte Kulturseele Spenglers, das vitale »In-Form-Sein«, die unbewußte archaische Symbolwelt, an deren Ausdruckskraft er sich berauscht – all diese Zeugnisse selbstherrlichen Lebens sind Sendboten des Verhängnisses, wo sie wirklich in Erscheinung treten. Denn sie alle zeugen von Zwang und Opfer, die Kultur den Menschen auferlegt. Auf sie sich verlassen und den Untergang verleugnen, heißt nur ihrer tödlichen Verstrickung um so tiefer verfallen. Es heißt zugleich wiederherstellen wollen, worüber bereits Geschichte jenes Verdikt aussprach, das für Spengler das letzte bleibt, während Weltgeschichte, indem sie ihr Urteil vollstreckt, das mit Recht Verurteilte gerade in seiner Unwiederbringlichkeit ins Recht setzt. Eines ist Spenglers spähendem Jägerblick, der erbarmungslos die Städte der Menschheit durchstreift, als wären sie die Wildnis, die sie sind – eines ist diesem Jägerblick verborgen: die Kräfte, die im Verfall frei werden. »Wie scheint doch alles Werdende so krank« – der Satz des Dichters Georg Trakl transzendiert die Spenglersche Landschaft. In der Welt des gewalttätigen und unterdrückten Lebens ist Dekadenz, die diesem Leben, seiner Kultur, seiner Roheit und Erhabenheit die Gefolgschaft aufsagt, das Refugium des Besseren. Die ohnmächtig, nach Spenglers Gebot, von Geschichte beiseite geworfen und vernichtet werden, verkörpern negativ in der Negativität dieser Kultur, was deren Diktat zu brechen und dem Grauen der Vorgeschichte sein Ende zu bereiten wie schwach auch immer verheißt. In ihrem Einspruch liegt die einzige Hoffnung, es möchten Schicksal und Macht nicht das letzte Wort behalten. Gegen den Untergang des Abendlandes steht nicht die auferstandene Kultur sondern die Utopie, die im Bilde der untergehenden wortlos fragend beschlossen liegt.
Veblens Angriff auf die Kultur Veblens ›Theory of the Leisure Class‹ ist berühmt geworden durch die Lehre von der conspicuous consumption. Ihr zufolge soll der Güterkonsum von einem sehr frühen Stadium der Geschichte an, das durch das Prinzip des Beutemachens bezeichnet ist, bis heute in weitem Maße nicht der Befriedigung der wahren Bedürfnisse der Menschen dienen oder dem, was Veblen mit Vorliebe die Fülle des Lebens nennt, sondern der Aufrechterhaltung von gesellschaftlichem Prestige, von »Status«. Aus der Kritik des Güterverbrauchs als bloßer Ostentation hat er Folgerungen abgeleitet, die ästhetisch mit denen der neuen Sachlichkeit – wie sie gleichzeitig etwa von Adolf Loos formuliert wurden –, praktisch mit denen der Technokratie aufs engste sich berühren. Die historisch wirksamen Elemente von Veblens Soziologie umschreiben aber nicht zureichend die sachlichen Impulse seines Denkens. Sie richten sich gegen den barbarischen Charakter der Kultur. Der Ausdruck barbarian culture wird wie eine Opfermaske starr durch Veblens Hauptwerk hindurch immer wieder präsentiert. Schon im ersten Satz tritt er auf. Während er sich prägnant nur auf [ 67 ] eine freilich ungemein weit gespannte Phase bezieht, die vom archaischen Jäger und Krieger bis zum Feudalherrn und absoluten Monarchen reicht und deren Schwelle gegen das kapitalistische Zeitalter absichtsvoll undeutlich gehalten wird, ist an zahllosen Stellen unverkennbar die Intention, die Moderne gerade dort, wo sie den Anspruch auf Kultur am nachdrücklichsten erhebt, als barbarisch zu denunzieren. Eben jene Züge nämlich, in welchen sie als der nackten Utilität entronnene und menschenwürdige sich gibt, sollen Relikte längst vergangener Geschichtsepochen darstellen. Die Emanzipation vom Reich der Zwecke ist ihm nichts anderes als der Index einer Zwecklosigkeit, die daher rührt, daß kulturelle »institutions« – die deutsche philosophische Sprache müßte den Veblenschen Begriff der institution etwa mit Bewußtseinsform, nicht mit »Einrichtung« übersetzen; er definiert einmal institutions als habits of thought [ 68 ] – und anthropologische Beschaffenheiten sich nicht gleichzeitig und nicht übereinstimmend mit den wirtschaftlichen Produktionsweisen verändern, sondern hinter diesen zurückbleiben und in bestimmten
Perioden in offenen Widerspruch zu ihnen treten. Die Charakteristiken der Kultur, in denen Sucht nach Vorteil, Gier und Beschränkung auf die bloße Unmittelbarkeit überwunden scheinen, sind, wenn man dem Zug von Veblens Gedanken lieber als seinen zwischen Haß und Vorsicht schwankenden Formulierungen folgt, der bloße Rückstand objektiv überwundener Gestalten von Gier, Sucht nach Vorteil und schlechter Unmittelbarkeit. Sie entspringen dem Bedürfnis, den Menschen zu beweisen, daß man der Rücksicht aufs krude praktische Leben enthoben sei; insbesondere, daß man seine Zeit an Unnützes wenden könne, um eben damit seinen Standort in der sozialen Hierarchie und das Maß seiner sozialen Ehre zu erhöhen und schließlich seine Macht über andere Menschen zu befestigen. Die Wendung der Kultur gegen die Utilität geschieht um der mittelbaren Utilität willen. Kultur ist von der Lebenslüge gezeichnet. In der Verfolgung von deren Spur erweist Veblen eine Insistenz, nicht unähnlich der seines Zeitgenossen Freud in der Erforschung des »Abhubs der Erscheinungswelt«. Spazierstock und Rasen, der Schiedsrichter im Sport und die Charaktere der Haustiere werden unter Veblens trübsinnigem Blick zu verräterischen Allegorien des Barbarischen der Kultur. Um dieser Methode nicht minder als der ganzen Lehre willen ist Veblen als destruktiv, als närrisch und als Outsider diffamiert worden und hat es als Dozent in Chicago zu einem akademischen Skandal gebracht, der mit seiner Entlassung endete. Zugleich jedoch hat man seine Lehre adaptiert. Sie findet heute vielfach offizielle Anerkennung, und seine schlagende Terminologie ist wie die Freuds bis in die Tagesschriftstellerei gedrungen. Man mag darin die objektive Tendenz erkennen, einen lästigen Opponenten durch Rezeption zu entgiften. Veblens Denken widerspricht aber nicht durchaus solcher Rezeption. Es hat weniger vom Outsider, als sich ihm auf den ersten Blick anmerken läßt. Wollte man seiner geistigen Ahnenreihe nachgehen, so wären drei Quellen zu nennen. Die erste und wichtigste ist der amerikanische Pragmatismus. Veblen gehört ganz und gar dessen älterer, darwinistisch gefärbter Tradition an. »The life of man in society«, beginnt das zentrale Kapitel des Hauptwerks, »just like the life of other species, is a struggle for existence, and therefore it is a process of selective adaptation. The evolution of social structure has been a process of natural selection of institutions. The progress which has been and is being made in
human institutions and in human character may be set down, broadly, to a natural selection of the fittest habits of thought and to a process of enforced adaptation of individuals to an environment which has progressively changed with the growth of the community and with the changing institutions under which men have lived.« [ 69 ] Der Begriff der adaptation oder des adjustment steht im Mittelpunkt. Der Mensch ist dem Leben gleichwie der Versuchsanordnung eines unbekannten Laboratoriumsleiters unterworfen, und es wird von ihm die Leistung erwartet, den ihm auferlegten Bedingungen, den natürlichen und den historischen, sich so anzupassen, daß ihm die Chance des Überlebens bleibt. Die Wahrheit von Gedanken wird daran ermessen, ob sie dieser Anpassung dienen und zum Überleben der Gattung beitragen. Veblens Kritik setzt stets dort an, wo die Anpassung unvollkommen geleistet sei. Er sieht die Schwierigkeit, auf welche die Anpassungslehre im gesellschaftlichen Bereich stößt, recht wohl. Er weiß, daß die Bedingungen, denen die Menschen sich anpassen müssen, zu weitem Maß selber gesellschaftlich produziert sind: daß zwischen Innen und Außen Wechselwirkung obwaltet und daß Anpassung verdinglichten Verhältnissen zugute kommen mag. Diese Einsicht treibt ihn zur ständigen Verfeinerung und Modifikation der Anpassungslehre. Aber sie erreicht kaum je den Punkt, an dem die absolute Notwendigkeit der Anpassung als solche in Frage gestellt würde. Fortschritt ist Anpassung, nichts anderes. Daß die innere Zusammensetzung dieses Begriffs und dessen Dignität bei bewußten Wesen qualitativ anders sein könnten als im blinden Naturzusammenhang, wird von ihm trotzig ignoriert. Die Übereinstimmung dieser Grundposition Veblens mit dem geistigen Klima, das ihn umgab, hat die Rezeption seiner Ketzereien erleichtert. Der spezifische Inhalt aber seiner Anpassungslehre weist auf eine zweite Quelle des älteren Positivismus zurück, auf die Schule von Saint-Simon, Comte und Spencer. Die Welt, welcher die Menschen Veblen zufolge sich anpassen sollen, ist die Welt der industriellen Technik. Mit Saint-Simon und Comte vertritt er deren Suprematie. Fortschritt heißt bei ihm konkret, die Formen des Bewußtseins und des »Lebens«, als Konsumsphäre, denen der industriellen Technik angleichen. Das Mittel dazu ist das wissenschaftliche Denken. Es wird von Veblen als universale Durchführung des Kausalprinzips gegenüber animistischen
Rückständen betrachtet. Kausaldenken bedeutet für ihn das Übergewicht sachlicher, regelhafter Relationen, deren Begriff am industriellen Arbeitsbegriff gewonnen ist, über personalistische und anthropomorphistische Anschauungsweisen. Insbesondere soll jeglicher Teleologiebegriff strikt ausgeschlossen bleiben. Der Vorstellung vom Geschichtsverlauf als einem langsamen und ungleichmäßigen, in sich aber ungebrochenen Fortschritt in der Anpassung an die Welt und in deren Entzauberung entspricht eine klassifikatorische Stadienlehre, nicht unähnlich der Comteschen. In deren Zusammenhang läßt Veblen zuweilen durchblicken, daß er für die kommende Phase mit der Abschaffung des Privateigentums rechnet. Damit ist auf Marx als auf die dritte Quelle verwiesen. Veblens Stellung zum Marxismus ist kontrovers. Seine Kritik ist keine Kritik der politischen Ökonomie der bürgerlichen Gesellschaft in ihren Voraussetzungen sondern eine ihres unökonomischen Lebens. Der ständige Rekurs auf Psychologie und habits of thought zur Erklärung ökonomischer Tatbestände ist mit der Marxischen objektiven Wertlehre unvereinbar. Dennoch hat Veblen von den sekundären Theorien des Marxismus seiner pragmatistischen Grundansicht soviel einverleibt, wie ihm nur erreichbar war. Dabei ist auch an den Ursprung spezifischer Prägungen, wie conspicuous waste und reversion, zu denken. Die Vorstellung eines Verbrauchs, der nicht um seiner selbst willen, sondern auf Grund als objektiv zurückgespiegelter gesellschaftlicher Qualitäten der Tauschobjekte erfolgt, ist verwandt der Marxischen Lehre vom Fetischcharakter der Ware; die These von der reversion, vom zwangshaften Rückgriff auf veraltete Bewußtseinsformen unter dem Druck ökonomischer Verhältnisse Marx zumindest verpflichtet. Der Versuch, die Antagonismen des von ihm pragmatistisch aufgefaßten Anpassungsprozesses der Menschen zu begreifen, treibt bei Veblen wie bei Dewey dialektische Motive hervor. Sein Denken ist ein Amalgam aus Positivismus und historischem Materialismus. Mit einer solchen Formel ist nun aber zur Einsicht in den Kern seiner Theorie wenig genug geleistet. Es kommt auf die Kraft an, die jene Motive in ihr zusammenzwingt. Veblens Grunderfahrung läßt als die der falschen Einmaligkeit sich charakterisieren. Je weiter die industrielle Massenproduktion von Gütern, die sich untereinander gleichen, und deren zentral gelenkte Verteilung getrieben wird, je weniger die technisch-ökonomische Ordnung des
Lebens die an der handwerklichen Produktionsweise gebildete Individuation des hic et nunc zuläßt, um so mehr wird die Erscheinung des hic et nunc, des nicht durch unzählige andere Gegenstände seinesgleichen Substituierbaren, zur Lüge. Es ist, als verhöhne der unabdingbare und im Interesse des Absatzes unablässig verstärkte Anspruch der Dinge, jedes für sich ein Besonderes zu sein, einen Zustand der Menschheit, in dem alle der Immergleichheit unterworfen sind. Diesen Hohn kann Veblen nicht ertragen. Verbissen insistiert er darauf, die Welt möge sich in jener abstrakten Gleichheit ihrer Objekte präsentieren, die von den Verhältnissen vorgezeichnet wird. Während Veblen einer rationalen Gestaltung des Konsumlebens das Wort redet, verlangt er eigentlich nichts anderes, als daß die Massenproduktion, die den Käufer vorweg als ihr Objekt kalkuliert, in der Konsumsphäre endlich Farbe bekenne. Seitdem »deliciously different« und »quaint« selber längst zu Standardformeln der Reklame erstarrt sind, liegt Veblens Erfahrung auf der Straße. Er als erster hat sie spontan vollzogen. Er hat die falsche Individualität der Dinge erkannt, längst ehe die technische Verfahrungsweise der Individualität ihr Ende bereitete. Er hat die Lüge des Besonderen an der Unstimmigkeit der Gegenstände selber abgelesen: am Widerspruch ihrer Gestalt und ihrer Funktion. Übertreibend könnte man sagen, daß der Kitsch des neunzehnten Jahrhunderts in Gestalt des Protzentums 1 ihm als Bild zukünftiger Gewaltherrschaft aufgegangen ist. Er hat am Kitsch eine Seite gewahrt, die den ästhetischen Kritikern sich entzog, die aber wohl dazu beitragen mag, den Ausdruck des schockhaft Katastrophischen zu erklären, den so viele Architekturen und Intérieurs des neunzehnten Jahrhunderts heute angenommen haben: den der Unterdrückung. Unter Veblens Blick werden die Ornamente zu Drohungen, indem sie alten Modellen von Repression sich anähneln. Nirgendwo hat er das sinnfälliger angezeigt als an einer Stelle, die der Diskussion von Wohltätigkeitsbauten gewidmet ist. »Certain funds, for instance, may have been set apart as a foundation for a foundling asylum or a retreat for invalids. The diversion of expenditure to honorific waste in such cases is not uncommon enough to cause surprise or even to raise a smile. An appreciable share of the funds is spent in the construction of an edifice faced with some aesthetically objectionable but expensive stone, covered with grotesque and incongruous details, and
designed, in its battlemented walls and turrets and its massive portals and strategic approaches, to suggest certain barbaric methods of warfare.« [ 70 ] Die Hervorhebung des drohenden Aspekts von Prunk und Ornamentierung steht im Dienst von Veblens Geschichtsphilosophie. Die Bilder aggressiver Barbarei, die er am Kitsch des neunzehnten Jahrhunderts, insbesondere an den dekorativen Veranstaltungen der Gründerjahre gewahrte, galten seinem Fortschrittsglauben als Relikte vergangener Epochen oder als Züge der Regression der nicht selber Produzierenden, der vom industriellen Arbeitsprozeß Ausgenommenen. Zugleich aber sind die von ihm archaisch genannten Züge die heraufdämmernden Grauens. Seine triste Innervation desavouiert seine fortschrittsfrohe Gesinnung. Ihm hat die Geschichte der Menschheit in der Antezipation von deren furchtbarster Phase sich geformt. Der Schock, den seinem Sensorium das ritterburgähnliche Findlingsheim bereitet, ist im Columbushaus, der neusachlichen Folterstätte der Nationalsozialisten, zur geschichtlichen Macht geworden. Veblen hypostasiert die totale Herrschaft. Alle Kultur der Menschheit wird ihm zur Fratze nackten Entsetzens. Es ist die Faszination durchs Unheil, welche die Ungerechtigkeit erklärt und rechtfertigt, die Veblen der Kultur widerfahren läßt. Hat heute die Kultur den Charakter der Reklame, des bloßen Kitts angenommen, so ist sie bei Veblen nie etwas anderes gewesen als Reklame, als Ausstellung von Macht, Beute, Profit. In großartiger Misanthropie schiebt er alles beiseite, was darüber hinausgeht. Der Splitter in seinem Auge wird ihm zum Mittel, die Blutspuren des Unrechts noch an den Bildern des Glücks zu gewahren. Die Metropolen des neunzehnten Jahrhunderts haben die Säulen des attischen Tempels, die gotischen Kathedralen und die trotzigen Paläste der italienischen Stadtstaaten im Namen grenzenlosen Disponierens über die Menschengeschichte trugvoll versammelt. Veblen aber zahlt ihnen heim: die echten Tempel, Kathedralen und Paläste sind ihm schon so falsch wie die Imitationen. Die Weltgeschichte ist die Weltausstellung. Er erklärt die Kultur aus dem Kitsch, nicht umgekehrt. Man könnte Veblens Verallgemeinerung des Zustands, in welchem die Kultur von der Reklame verzehrt wird, nicht einfacher formulieren als Stuart Chase in seinem Vorwort zur Theory of the Leisure Class: »People above the line of bare subsistence, in this age and all earlier ages, do not use surplus, which society has given them, primarily for useful
purposes.« [ 71 ] Für »all earlier ages« wird unterschlagen, was nicht der business culture des letzten gleicht: der Glaube an die reale Macht ritualer Veranstaltungen, das Motiv der Sexualität und ihrer Symbolik – der Sexualität geschieht in der ganzen Theory of the Leisure Class keine Erwähnung –, der künstlerische Ausdruckszwang, alle Sehnsucht, der Sklaverei der Zwecke zu entfliehen. Der pragmatistische Todfeind teleologischer Betrachtung verfährt wider Willen nach dem Schema einer satanischen Teleologie. Gröbster Rationalismus ist seinem Scharfsinn gerade gut genug, um die Allherrschaft von Fetischen übers vorgebliche Reich der Freiheit ins Licht zu rücken. Die Konkretion, welche dem Einerlei der Naturverfallenheit Einhalt gebietet, pervertiert sich seiner Anklage zum Massenprodukt, das den betrügerischen Anspruch erhebt, konkret zu sein. Der böse Blick ist fruchtbar. Er trifft Phänomene, welche man verfehlt und verharmlost, solange man sie als bloße Fassade der Gesellschaft von obenher abtut, ohne bei ihnen zu verweilen. Dahin gehört der Sport. Veblen hat bündig jegliche Art von Sport, von den Kampfspielen der Kinder und den Leibesübungen der Universitäten bis zu den großen sportlichen Ostentationen, die später in den Diktaturstaaten beider Spielarten blühten, als Ausbruch von Gewalt, Unterdrückung und Beutegeist charakterisiert. »These manifestations of the predatory temperament are all to be classed under the head of exploit. They are partly simple and unreflected expressions of an attitude of emulative ferocity, partly activities deliberately entered upon with a view to gaining repute for prowess. Sports of all kinds are of the same general character.« [ 72 ] Die Sportleidenschaft ist Veblen zufolge regressiver Natur: »The ground of an addiction to sports is an archaic spiritual constitution.« [ 73 ] Nichts aber ist moderner als diese Archaik: die sportlichen Veranstaltungen waren die Modelle der totalitären Massenversammlungen. Als tolerierte Exzesse verbinden sie das Moment der Grausamkeit und Aggression mit dem autoritären, dem disziplinierten Innehalten von Spielregeln: legal wie die neudeutschen und volksdemokratischen Pogrome. Veblen erspürt die Affinität des sportlichen Exzesses und der manipulierenden Führerschicht: »If a person so endowed with a proclivity for exploits is in a position to guide the development of habits in the adolescent members of the community, the influence which he exerts in the
direction of conservation and reversion to prowess may be very considerable. This is the significance, for instance, of the fostering care latterly bestowed by many clergymen and other pillars of society upon ›boys' brigades‹ and similar pseudomilitary organisations.« [ 74 ] Seine Einsicht reicht darüber noch hinaus. Er erkennt den Sport als Pseudo-Aktivität: als Kanalisierung von Energien, die anderwärts gefährlich werden könnten; als Investition sinnloser Tätigkeit mit den trugvollen Zeichen des Ernstes und der Bedeutung. Je weniger man selber mehr erwerben muß, um so mehr sieht man sich veranlaßt, den Schein seriöser, gesellschaftlich bestätigter, doch desinteressierter Tätigkeit zu erwecken. Zugleich aber entspricht der Sport dem aggressiven, praktischen Beutegeist. Er bringt die antagonistischen Desiderate von zweckmäßigem Tun und Zeitvergeudung auf die gemeinsame Formel. So wird er zum Element des Schwindels, zum make believe. Veblens Analyse wäre freilich zu ergänzen. Denn zum Sport gehört nicht bloß der Drang, Gewalt anzutun, sondern auch der, selber zu parieren und zu leiden. Einzig Veblens rationalistische Psychologie verstellt ihm das masochistische Moment im Sport. Es prägt den Sportgeist nicht bloß als Relikt einer vergangenen Gesellschaftsform, sondern mehr noch vielleicht als beginnende Anpassung an die drohende neue – im Gegensatz zu Veblens Klagen, daß die »institutions« hinter dem freilich von ihm auf die Technologie beschränkten Geist der Industrie zurückgeblieben seien. Der moderne Sport, so ließe sich sagen, sucht dem Leib einen Teil der Funktionen zurückzugeben, welche ihm die Maschine entzogen hat. Aber er sucht es, um die Menschen zur Bedienung der Maschine um so unerbittlicher einzuschulen. Er ähnelt den Leib tendenziell selber der Maschine an. Darum gehört er ins Reich der Unfreiheit, wo immer man ihn auch organisiert. Minder zeitgemäß dünkt ein anderer Komplex von Veblens Kulturkritik: die sogenannte Frauenfrage. Den sozialistischen Programmen war die endliche Emanzipation der Frau so selbstverständlich, daß man seit geraumer Zeit vom Durchdenken der konkreten Stellung der Frau sich dispensierte. In der bürgerlichen Literatur vollends gilt die Frauenfrage seit Shaw für komisch. Strindberg hat sie in die Männerfrage pervertiert, so wie Hitler die Emanzipation der Juden in die Emanzipation von den Juden. Die Unmöglichkeit der Befreiung der Frau unter den
herrschenden Bedingungen wird nicht diesen, sondern den Advokaten der Freiheit zur Last geschrieben und die Hinfälligkeit der emanzipatorischen Ideale, die sie der Neurose annähert, mit deren Verwirklichung verwechselt. Die vorurteilsfreie Angestellte, der die Welt recht ist, solange sie mit dem Freund ins Kino gehen kann, hat Nora und Hedda verdrängt, und wenn sie von ihnen wüßte, so würde sie ihnen in kessen Redewendungen ihre mangelnde Realitätsgerechtigkeit vorwerfen. Ihr entspricht der Mann, der von der erotischen Freiheit Gebrauch macht nur, um die Partnerin in ihrer beschränkten Willfährigkeit kalt und glücklos mitzunehmen und sie zum Dank womöglich desto zynischer zu verachten. Veblen, der vieles mit Ibsen gemein hat, ist vielleicht der letzte Denker von Rang, der sich die Frauenfrage nicht ausreden läßt. Als später Apologet der Frauenbewegung hat er die Strindbergschen Erfahrungen in sich aufgenommen. Ihm wird die Frau gesellschaftlich zu dem, was sie psychologisch sich selbst ist, zum Wundmal. Er weiß von ihrer patriarchalen Erniedrigung. Ihre Stellung, die er zu den Relikten aus dem Stadium des Jägers und Kriegers rechnet, gleicht der des Dieners. Freizeit und Luxus, die ihr gelassen werden, sollen nur den Status ihres Meisters bekräftigen. Das involviert zwei einander widersprechende Konsequenzen. In einiger Unabhängigkeit von Veblens Text ließen sie etwa so sich wiedergeben: auf der einen Seite ist die Frau gerade vermöge ihrer wie sehr auch entwürdigenden Situation als »Sklavin« und Gegenstand der Ostentation dem »praktischen Leben« in gewissem Sinn entzogen. Sie ist – oder war noch zu Veblens Zeit – der wirtschaftlichen Konkurrenz nicht in gleichem Maße ausgesetzt wie der Mann. In manchen sozialen Schichten und zu manchen Epochen war sie davor geschützt, jene Qualitäten zu entwickeln, die Veblen unter die oberste Kategorie des Beutegeistes bringt. Vermöge ihrer Distanz zum Produktionsprozeß hält sie Züge fest, in denen der noch nicht ganz erfaßte, noch nicht ganz vergesellschaftete Mensch überlebt. So scheint gerade die Angehörige der Oberschicht am ehesten bestimmt, dieser den Rücken zu kehren. Dem jedoch steht eine Gegentendenz gegenüber, als deren vorwaltendes Symptom Veblen den Konservatismus der Frau designiert. Sie hat als Subjekt an der geschichtlichen Entwicklung kaum wesentlichen Anteil. Die Abhängigkeit, in der sie gehalten wird, verstümmelt sie. Das kompensiert die Chance, die das Ausgeschlossensein vom
ökonomischen Wettkampf ihr gewährt. Gemessen an der geistigen Interessensphäre des Mannes, selbst noch dessen, der in der Barbarei des Erwerbs aufgeht, befinden sich, Veblen zufolge, die meisten Frauen in einem Bewußtseinszustand, den er nicht zögert, Schwachsinn zu nennen [ 75 ] . Man könnte seinen Gedanken dahin treiben, daß die Frau der Produktionssphäre nur entronnen ist, um von der Sphäre der Konsumtion um so vollkommener aufgesaugt zu werden, gebannt in der Unmittelbarkeit der Warenwelt, so wie die Männer fixiert sind an die Unmittelbarkeit des Profits. Das Unrecht, das die männliche Gesellschaft den Frauen angetan hat, wird ihr von diesen zurückgespiegelt: sie gleichen den Waren sich an. Veblens Einsicht indiziert eine Veränderung in der Utopie der Emanzipation. Hoffnung zielt nicht darauf, daß die verstümmelten Sozialcharaktere der Frauen den verstümmelten Sozialcharakteren der Männer gleich werden, sondern daß einmal mit dem Antlitz der leidenden Frau das des tatenfrohen, tüchtigen Mannes verschwindet; daß von der Schmach der Differenz nichts überlebt als deren Glück. Solche Gedanken freilich liegen Veblen fern. Sein Bild der Gesellschaft ist jener undeutlichen Rede von der Fülle des Lebens zum Trotz nicht am Glück gemessen, sondern an der Arbeit. Nur als Erfüllung des »Arbeitsinstinktes«, seiner obersten anthropologischen Kategorie, tritt Glück in sein Blickfeld. Er ist ein Puritaner malgré lui-même. Während er unermüdlich Tabus attackiert, macht seine Kritik vor der Heiligkeit der Arbeit halt. Seine Kritik hat etwas von der väterlichen Weisheit, daß die Kultur ihre eigene Arbeit nicht genug ehre, sondern vielmehr ihre vermessene Ehre am Ausgenommensein von der Arbeit, an der Muße habe. Als deren schlechtes Gewissen konfrontiert er die Gesellschaft mit ihrem eigenen Utilitätsprinzip. Er rechnet ihr vor, daß diesem zufolge Kultur Verschwendung sei und Schwindel, so irrational, daß sie Zweifel weckt an der Rationalität des Systems. Er hat etwas von dem Bürger, der die Forderung der Sparsamkeit grimmig ernst nimmt. Darüber wird ihm die ganze Kultur zum sinnlosen, protzenhaften Aufwand, wie Bankrotteure ihn betreiben. Gerade vermöge der starren Insistenz auf dem einen Motiv deckt er den Widersinn eines gesellschaftlichen Prozesses auf, der sich am Leben erhalten kann nur, indem er auf Schritt und Tritt »falsch kalkuliert« und ein Soffittenwerk von Schein und Betrug aufbaut. Aber Veblen hat selbst den Preis seiner Methode zu entrichten. Er
vergötzt die Sphäre der Produktion. Es gibt bei ihm implizit etwas wie raffend und schaffend. Er unterscheidet zwei Kategorien von modernen ökonomischen »institutions«: »the pecuniary and the industrial« [ 76 ] . Danach teilt er die Beschäftigung der Menschen ein und dann die Verhaltensweisen, die diesen Beschäftigungen entsprechen sollen. »So far as men's habits of thought are shaped by the competitive process of acquisition and tenure; so far as their economic functions are comprised within the range of ownership of wealth as conceived in terms of exchange value, and its management and financiering through a permutation of values; so far their experience in economic life favours the survival and accentuation of the predatory temperament and habits of thought.« [ 77 ] Indem er verfehlt, den gesellschaftlichen Prozeß als Gesamtprozeß zu verstehen, gelangt er innerhalb dieses Prozesses zu einer Scheidung produktiver und nicht produktiver Funktionen, die vorab gegen die unrationellen Verteilungsmechanismen sich kehrt. Das verrät etwa seine Rede von »that class of persons and that range of duties in the economic process which have to do with the ownership of enterprises engaged in competitive industry; especially those fundamental lines of economic management which are classed as financiering operations. To these may be added the greater part of mercantile occupations.« [ 78 ] Erst im Licht dieser Distinktion wird ganz deutlich, was Veblen eigentlich gegen die leisure class einzuwenden hat. Es ist nicht so sehr der Druck, den sie ausübt, als daß, im Sinn seines eigenen puritanischen Arbeitsethos, nicht genug Druck auf ihr lastet. Er mißgönnt ihr die wie sehr auch selber verzerrte Chance des Entrinnens. Daß die wirtschaftlich Unabhängigen noch nicht ganz von den Notwendigkeiten des Lebens erfaßt sind, dünkt ihm archaisch: »An archaic habit of mind persists because no effectual economic pressure constrains this class to an adaptation of its habits of thought to the changing situation« [ 79 ] : jener adaptation, wohlverstanden, der Veblen das Wort redet. Gewiß ist ihm das Gegenmotiv, das der Muße als der Voraussetzung von Humanität, nicht fremd. Aber hier setzt sich ein atheoretisches, pluralistisches Denkschema durch. Die Muße soll ihr Recht haben und die Verschwendung, aber nur »ästhetisch«. Als Ökonom will er darauf nicht sich einlassen. Man braucht den Hohn nicht zu überhören, der gerade durch solche Aufteilung aufs isoliert Ästhetische fällt. Um so eindringlicher aber wird man zu fragen
haben, was bei Veblen ökonomisch eigentlich bedeutet. Es geht dabei nicht darum, wieweit seine Schriften der ökonomischen Schuldisziplin zuzurechnen sind, sondern um seinen Begriff des Ökonomischen selber. Der bleibt aber bei Veblen implizit definiert als »profitable«. Seine Rede von ökonomisch kommt überein mit der des Geschäftsmanns, der eine unnütze Ausgabe als unökonomisch ablehnt. Der vorausgesetzte Begriff des Nützlichen und Unnützen wird nicht analysiert. Er weist nach, daß die Gesellschaft nach ihrem eigenen Maß unökonomisch verfährt. Das ist viel und wenig zugleich. Viel: weil er die Unvernunft der Vernunft grell ins Licht rückt. Wenig: weil er vor der Verschränkung des Nützlichen und Unnützen versagt. Er überläßt die Frage nach dem Unnützen heteronomen, durch die Arbeitsteilung der Wissenschaften vorgegebenen Kategorien und macht sich zu einem Sparkommissar der Kultur, dessen Votum vom ästhetischen Kollegen vetiert werden könnte, anstatt den Gegensatz der Ressorts selber als Ausdruck der fetischistischen Arbeitsteilung zu erkennen. Während er als Ökonom mit der Kultur zu souverän umspringt und sie als Verschwendung vom Budget streicht, resigniert er insgeheim vor ihrem bloßen Dasein außerhalb des Budgetbereichs. Er verkennt, daß über ihr Recht oder Unrecht nicht nach der ressortmäßigen Einstellung des Fragenden, sondern nach der Erkenntnis des Zusammenhanges der Gesellschaft zu urteilen ist. Daher inhäriert seiner Kulturkritik ein Moment der Clownerie. Er möchte tabula rasa machen, den Schutt der Kultur forträumen, das Urgestein bloßlegen. Aber die Suche nach »Residuen« verfällt regelmäßig der Verblendung. Schein ist dialektisch als Widerschein der Wahrheit; was keinen Schein gelten läßt, wird erst recht dessen Opfer, indem es mit dem Schutt die Wahrheit drangibt, die anders als in diesem nicht erscheint. Veblen aber sperrt sich gegen die Motive alles dessen, wogegen seine Grunderfahrung sich kehrt. Im Nachlaß Frank Wedekinds findet sich die Bemerkung, Kitsch sei die Gotik oder der Barock unserer Zeit. Mit der darin visierten historischen Notwendigkeit des Kitsches hat Veblen es sich zu leicht gemacht. Ihm ist die falsche Ritterburg nichts als anachronistisch. Er weiß nichts von der Moderne der Regression. Ihm sind die trugvollen Bilder der Einmaligkeit in der Ära der Massenproduktion bloße Rückstände, nicht aber Repliken auf die hochindustrielle Mechanisierung, die
über diese selber etwas aussagen. Die Welt jener Bilder, die Veblen als conspicuous consumption demaskiert, ist eine synthetische Bilderwelt. Sie stellt den gescheiterten, doch zwangsläufigen Versuch dar, dem Erfahrungsverlust, wie ihn die moderne Produktionsweise involviert, zu entrinnen und durch selbstgemachte Konkretion der Herrschaft des abstrakt Gleichen sich zu entziehen. Lieber wollen die Menschen das Konkrete sich selber vorspiegeln als die Hoffnung von sich werfen, die daran haftet. Die Warenfetische sind nicht bloß die Projektion undurchsichtiger menschlicher Beziehungen auf die Dingwelt. Sie sind zugleich die schimärischen Gottheiten, welche das nicht im Tausch Aufgehende repräsentieren, während sie doch selber dessen Primat entsprungen sind. Von dieser Antinomie ist Veblens Denken zurückgeprallt. Sie aber gerade macht den Kitsch zum Stil. Kitsch bezeichnet nicht einfach Fehlleitung von Arbeit. Daß die synthetischen Bilder Regressionen aufs längst Vergangene darstellen, bezeugt einzig seine Unmöglichkeit. Bilder, welche den Stand des technisch Möglichen und den menschlichen Anspruch aufs Konkrete zusammendächten, hat die avancierte Kunst entworfen. Ihr blieb die gesellschaftliche Rezeption versagt. Vielleicht ist es erlaubt, das Verhältnis von Fortschritt – »Moderne« – und Regression – »Archaik« – thesenhaft zu formulieren. In einer Gesellschaft, in der die Entwicklung und die Stauung der Kräfte aus dem gleichen Prinzip unabdingbar hervorgehen, bedeutet jeglicher technische Fortschritt zugleich auch eine Regression 2 . Veblens Rede vom barbarian normal [ 80 ] verrät davon die Ahnung. Normal ist die Barbarei, weil sie nicht in bloßen Rudimenten besteht, sondern in gleichem Maße wie die Naturbeherrschung immerfort reproduziert wird. Diese Äquivalenz hat Veblen zu harmlos genommen. Er hat die Ungleichzeitigkeit der Ritterburg und des Bahnhofs gewahrt, nicht aber diese Ungleichzeitigkeit als geschichtsphilosophisches Gesetz. Der Bahnhof maskiert sich als Ritterburg, aber die Maske ist seine Wahrheit. Erst wenn die technische Dingwelt unmittelbar der Beherrschung dient, vermag sie es, solche Masken abzuwerfen. Erst in den totalitären Schreckensstaaten gleicht sie sich selber. Wenn Veblen den Zwang in der modernen Archaik verkennt und die synthetischen Bilder als bloße Lebenslüge glaubt ausmerzen zu können, dann versagt er zugleich vor der gesellschaftlichen quaestio iuris von Luxus und Verschwendung, die der
Weltverbesserer wie einen Auswuchs abschaffen möchte. Man könnte vom Doppelcharakter des Luxus reden. Dessen eine Seite ist die, auf welche Veblen seine Scheinwerferbatterien konzentriert: jener Teil des Sozialprodukts, der nicht menschlichen Bedürfnissen und menschlichem Glück zugute kommt, sondern vergeudet wird, um veraltete Verhältnisse aufrechtzuerhalten. Die andere Seite des Luxus ist die Verwendung von Teilen des Sozialprodukts, die weder mittelbar noch unmittelbar der Wiederherstellung verausgabter Arbeitskräfte dient, sondern den Menschen, soweit sie vom Prinzip des Nutzens nicht völlig erfaßt sind. Während Veblen diese beiden Momente des Luxus nicht explizit unterscheidet, ist es fraglos seine Intention, die erste als conspicuous consumption zu beseitigen und die zweite im Namen der fullness of life zu retten. Aber in der Blankheit dieser Intention liegt die Schwäche der Theorie. Am Luxus heute lassen faux frais und Glück nicht sich isolieren. Sie machen die in sich selber vermittelte Identität des Luxus aus. Während Glück nur dort existiert, wo Menschen intermittierend der schlechten Vergesellschaftung sich entziehen, enthält die konkrete Gestalt ihres Glücks allemal den Stand der Gesamtgesellschaft, das Negative in sich 3 . Man könnte Prousts Romanwerk als den Versuch deuten, diesen Widerspruch zu entfalten. So bezieht das erotische Glück sich nie auf den Menschen an sich, sondern auf den Menschen in seiner gesellschaftlichen Bestimmtheit und in seinem gesellschaftlichen Erscheinen. Benjamin hat einmal ausgesprochen, es sei erotisch nicht minder wichtig für den Mann, ob die Geliebte mit ihm sich zeige, als ob sie ihm sich hingebe. Veblen hätte in den Bürgerspott darüber eingestimmt und von conspicuous consumption geredet. Aber das Glück, das der Mann real findet, ist von der conspicuous consumption nicht zu trennen. Kein Glück, das nicht dem gesellschaftlich konstituierten Wunsch Erfüllung verhieße, aber auch keines, das nicht in dieser Erfüllung das Andere verspräche. Die abstrakte Utopie, die darüber sich täuscht, wird zur Sabotage am Glück und spielt dem in die Hände, was sie negiert. Denn während sie vom Glück die gesellschaftlichen Male zu tilgen unternimmt, muß sie zur Leugnung jeglichen konkreten Glücksanspruchs schreiten und den Menschen zur bloßen Funktion seiner eigenen Arbeit reduzieren. Noch der Warenfetischist, der der conspicuous consumption bis zur Obsession verfallen ist, hat an dem Wahrheitsgehalt des Glücks seinen Anteil. Während er das eigene
lebendige Glück verleugnet und durch das Prestige der Dinge – Veblen spricht von social confirmation [ 81 ] – surrogiert, offenbart er wider Willen das Geheimnis, das in allem Aufwand und aller Ostentation beschlossen liegt: daß kein individuelles Glück möglich sei, das nicht virtuell das der Gesamtgesellschaft in sich beschließt. Noch die Bosheit, die Hervorkehrung des Status und der Drang zu imponieren, in welchem unterm Prinzip der Konkurrenz das gesellschaftliche Moment am Glück unausweichlich sich durchsetzt, enthält die Anerkennung der Gesellschaft, des Ganzen als des wahren Subjekts von Glück. Die von Veblen als invidious bezeichneten Züge des Luxus, der böse Wille, reproduzieren nicht nur die Ungerechtigkeit, sondern enthalten verzerrt den Appell an Gerechtigkeit. Die Menschen sind nicht schlechter als die Gesellschaft, in der sie leben: darin liegt das Korrektiv für Veblens Menschenfeindschaft. Aber auch diese ist ein Korrektiv. Sie diffamiert den bösen Willen in seinen sublimsten Regungen, weil sie dem guten starrsinnig die Treue hält. Es ist aber die tiefste Ironie, daß diese Treue zwangshaft bei Veblen jene Gestalt annimmt, die er an der bürgerlichen Gesellschaft am unerbittlichsten verfemt: die der Regression. Ihm liegt Hoffnung nur bei der Urgeschichte der Menschheit. Alles Glück, das ihm vom Anspruch traumloser Realitätsgerechtigkeit, fügsamer Anpassung an die Bedingungen der industriellen Arbeitswelt versperrt ist, wird reflektiert im Bild eines paradiesischen Urzustands. »The conditions under which men lived in the most primitive stages of associated life that can properly be called human, seem to have been of a peaceful kind; and the character – the temperament and spiritual attitude – of men under these early conditions of environment and institutions seems to have been of a peaceful and unaggressive, not to say an indolent, cast. For the immediate purpose this peaceable cultural stage may be taken to mark the initial phase of social development. So far as concerns the present argument, the dominent spiritual feature of this presumptive initial phase of culture seems to have been an unreflecting, unformulated sense of group solidarity, largely expressing itself in a complacent, but by no means strenuous, sympathy with all facility of human life, and an uneasy revulsion against apprehended inhibition or futility of life.« [ 82 ] Die Züge von Entmythologisierung und Humanität, welche die Menschheit im bürgerlichen Zeitalter
aufweist, heißen bei Veblen nicht das Ihrer-selbst-Innewerden der Menschheit, sondern vielmehr der Rekurs auf diesen Urzustand. »Under the circumstances of the sheltered situation in which the leisure class is placed there seems, therefore, to be something of a reversion to the range of non-invidious impulses that characterise the ante-predatory savage culture. The reversion comprises both the sense of workmanship and the proclivity to indolence and good-fellowship.« [ 83 ] Von Karl Kraus, dem Kritiker des sprachlichen Ornaments, stammt der Vers: »Ursprung ist das Ziel.« So geht die Sehnsucht des Technokraten Veblen auf die Wiederherstellung des Ältesten: die Frauenbewegung ist ihm die blinde und brüchige Anstrengung »to rehabilitate the women's pre-glacial standing« [ 84 ] . Solche provokanten Formulierungen scheinen dem Tatsachensinn des Positivisten ins Gesicht zu schlagen. Aber hier eröffnet sich einer der merkwürdigsten Zusammenhänge in Veblens Theorie: der zwischen der Rousseauistischen Lehre vom Ideal des Urzustands und dem Positivismus. Als Positivist, der keine andere Norm als Anpassung gelten läßt, sieht er vor die Frage sich gestellt, warum man nicht auch nach der Gegebenheit der principles of waste, futility and ferocity sich zu richten, ihnen sich anzupassen habe, die seiner Anschauung zufolge den canon of pecuniary decency ausmachten. »But why are apologies needed? If there prevails a body of popular sentiment in favour of sports, why is not that fact a sufficient legitimation? The protracted discipline of prowess to which the race had been subjected under the predatory and quasi-peaceable culture has transmitted to the man of to-day a temperament that finds gratification in these expressions of ferocity and cunning. So, why not accept these sports as legitimate expressions of a normal and wholesome human nature? What other norm is there that is to be lived up to than that given in the aggregate range of propensities that express themselves in the sentiments of this generation, including the hereditary strain of prowess?« [ 85 ] Hier stößt Veblens Konsequenz, mit einem Grinsen, das Ibsen nicht fremd war, bis zu jenem Punkt vor, wo sie in Gefahr steht, vorm bloß Daseienden, vor der normalen Barbarei zu kapitulieren. Die Antwort ist überraschend: »The ulterior norm to which appeal is taken is the instinct of workmanship, which is an instinct more fundamental, of more ancient prescription, than the propensity to predatory
emulation.« [ 86 ] Das ist der Schlüssel für die Theorie des Urzustandes. Der Positivist erlaubt sich die Möglichkeit des Menschen nur zu denken, indem er sie in eine Gegebenheit verzaubert. Mit anderen Worten: in die Vergangenheit. Es gibt für ihn keine Rechtfertigung versöhnten Lebens, als daß es noch gegebener, noch positiver, noch daseiender sei als die Hölle des Daseins. Das Paradies ist die Aporie des Positivisten. Den Arbeitsinstinkt erfindet er nebenher, um Paradies und industrielles Zeitalter doch noch auf den gleichen anthropologischen Nenner zu bringen. Schon vor der Erbsünde wollten ihm zufolge die Menschen im Schweiße ihres Angesichts ihr Brot essen. Mit Theorien solcher Art, ohnmächtigen und leise sich selbst karikierenden Hilfskonstruktionen, in denen der Gedanke des Anderen mit der Anpassung ans Immergleiche zu paktieren trachtet, hat Veblen am meisten sich exponiert. Es ist leicht, den Positivisten, der ausbrechen möchte, einen Narren zu schelten. Veblens ganzes Werk ist vom Motiv des spleen durchsetzt. Es ist ein einziger Hohn auf jenen sense of proportions, den die positivistischen Spielregeln seiner Umwelt erheischen. Er kann sich nicht genugtun in ausgeführten Analogien zwischen Gebräuchen und Einrichtungen des Sports und der Religion, oder zwischen dem aggressiven Ehrenkodex des gentleman und des Verbrechers. Er kann es sich nicht einmal versagen, die Verschwendung zeremonialer Paraphernalien ökonomisch zu beklagen, die in den religiösen Kulten erfolgt. Den Lebensreformern steht er nicht fern. Oft genug verkehrt sich ihm die Utopie der Urzeit zum billigen Glauben ans Natürliche, und er eifert gegen sogenannte Modetorheiten wie lange Röcke und Korsett – meist Attribute des neunzehnten Jahrhunderts, welche der Fortschritt des zwanzigsten weggefegt hat, ohne damit der Barbarei der Kultur Abbruch zu tun. Die conspicuous consumption wird zur fixen Idee. Um den Widerspruch zwischen dieser und dem Scharfsinn von Veblens gesellschaftlichen Analysen zu verstehen, ist von der Erkenntnisfunktion des spleen selber Rechenschaft zu geben. Gleich dem Bild des friedlichen Urzustands ist der spleen bei Veblen – und nicht bloß bei ihm – eine Zufluchtsstätte der Möglichkeit. Der Betrachter, der vom spleen sich leiten läßt, macht den Versuch, die übermächtige Negativität der Gesellschaft seiner eigenen Erfahrung kommensurabel zu machen. Undurchdringlichkeit und Fremdheit des Ganzen sollen gleichsam
mit den Organen ergriffen werden, während sie gerade es ist, die dem Zugriff unmittelbarer und lebendiger Erfahrung sich entzieht. Die fixe Idee ersetzt den abstrakten Allgemeinbegriff, indem sie bestimmte und begrenzte Erfahrung verhärtet und patzig festhält. Der spleen möchte die Unverbindlichkeit und Unevidenz einer bloß vermittelten und abgeleiteten Erkenntnis des Allernächsten, nämlich des realen Leidens, korrigieren. Aber dies Leiden entspringt im umfassenden Unwesen und kann darum nur abstrakt und »vermittelt« zur Erkenntnis erhoben werden. Dagegen rebelliert der spleen. Er entwirft gleichsam Schemata des Gesprächs mit Herrn Kannitverstan. Sie versagen, weil die gesellschaftliche Entfremdung eben darin besteht, daß sie die Gegenstände der Erkenntnis dem Umkreis der unmittelbaren Erfahrung entrückt. Der Erfahrungsverlust des Subjekts in der Welt des Immergleichen, Voraussetzung der gesamten Veblenschen Theorie, bezeichnet die anthropologische Seite des seit Hegel in objektiven Kategorien bestimmten Entfremdungsvorgangs. Der spleen ist eine Abwehrreaktion. Stets und überall, auch schon bei Baudelaire, ist sein Gestus anklagend. Aber er denunziert die Gesellschaft in Formen der Nähe und Unmittelbarkeit, rechnet ihre Schuld den Phänomenen zu. Für die Kommensurabilität der Erkenntnis mit dem Erfahrbaren wird durch die Insuffizienz der Erkenntnis bezahlt. Darin nähert sich der spleen der kleinbürgerlichen Sekte, die das Unheil der Welt Verschwörungen von Mächten zuschreibt, während er freilich den Widersinn dessen, worauf er sich kapriziert, selber einbekennt. Wenn Veblen einem Fassadenphänomen wie dem barbarischen Aufwand wesentlich die Schuld aufbürdet, so wird gerade die Disproportionalität der These zum Element ihrer Wahrheit. Sie zielt auf einen Schock ab. Er bringt die Unangemessenheit dieser Welt und ihrer möglichen Erfahrbarkeit zum Ausdruck. Die Erkenntnis begleitet sich selber mit dem sardonischen Gelächter darüber, daß ihr eigentlicher Gegenstand ihr entschlüpft, solange sie menschliche Erkenntnis bleibt, und daß sie erst als unmenschliche der unmenschlichen Welt gewachsen wäre. Die einzige geistige Kommunikation zwischen dem objektiven System und der subjektiven Erfahrung ist die Explosion, welche beide voneinander reißt, um mit ihrer Stichflamme sekundenweise die Figur zu beleuchten, die sie mitsammen bilden. Indem diese Art Kritik die Barbarei an der nächsten Straßenecke dingfest macht,
anstatt sich im allgemeinbegrifflichen Bereich zu vertrösten, hält sie gegenüber der unnaiven Theorie, vor der sie sich lächerlich macht, ein Memento fest, dessen Vernachlässigung in der Konzeption des wissenschaftlichen Sozialismus beginnt und in dem endet, was Karl Kraus Moskauderwelsch genannt hat. Die Borniertheit ist das Komplement nicht nur, sondern zuweilen die heilsame Brille, die dem allzu umfassenden weiten Blick Einhalt gebietet. Als solche bewährt sie sich bei Veblen. Sein spleen rührt her vom dégoût gegenüber dem offiziellen Optimismus eines Fortschrittsgeistes, dessen Partei er selber nimmt, soweit er mit dem common sense schwimmt. Der spleen diktiert die besondere Art seiner Kritik. Es ist die Desillusionierung, das »debunking«. Mit Vorliebe folgt er einem traditionellen Schema der Aufklärung: dem von der Religion als Pfaffenbetrug. »It is felt that the divinity must be of a peculiarly serene and leisurely habit of life. And whenever his local habitation is pictured in poetic imagery, for edification or in appeal to the devout fancy, the devout word- as a matter of course, brings out before his auditors' imagination a throne with a profusion of the insignia of opulence and power, and surrounded by a great number of servitors. In the common run of such presentations of the celestial abodes, the office of this corps of servants is a vicarious leisure, their time and efforts being in great measure taken up with an industrially unproductive rehearsal of the meritorious characteristics and exploits of the divinity.« [ 87 ] Die Art, mit der hier den Engeln die Unproduktivität ihrer Arbeit vorgeworfen wird, hat etwas von säkularisierten Flüchen, aber auch vom Witz, der verpufft. Ein abgebrühter Mann läßt sich nichts vormachen von den Fehlleistungen, Träumen und Neurosen der Gesellschaft. Sein Humor gleicht dem des Ehemanns, der die hysterische Frau zur Hausarbeit anhält, um ihr die Mucken auszutreiben. Heftet sich der spleen eigensinnig an die entfremdete Dingwelt und macht die Tücke des Objekts für die Untat der Subjekte verantwortlich, so ist die Haltung des debunking die dessen, der auf die Tücke des Objekts nicht hineinfällt. Er reißt den Objekten die ideologischen Fetzen herunter, um jene ungestörter manipulieren zu können. Seine Wut gilt dem verdammten Schwindel eher als dem schlechten Zustand. Nicht zufällig kehrt der Haß des debunking sich so gern gegen Vermittlungsfunktionen: Schwindel und Vermittlung gehören
zusammen. Aber auch Denken und Vermittlung. Auf dem Grunde des debunking wohnt der Haß gegens Denken 4 . Die wahre Kritik der barbarischen Kultur aber könnte sich nicht damit begnügen, barbarisch die Kultur zu denunzieren. Sie müßte die offene, kulturlose Barbarei als Telos jener Kultur bestimmen und verwerfen, nicht aber krud der Barbarei den Vorrang über die Kultur zusprechen, nur weil sie nicht mehr lügt. Ehrlichkeit als Sieg des Grauens hallt wider in Formulierungen Veblens wie der von der industriellen Unproduktivität der himmlischen Heerscharen. Solche Witze appellieren an den Konformismus. Das Gelächter übers Bild der Seligkeit steht der Macht näher als jenes Bild, mag dieses auch selber noch entstellt sein von Macht und Herrlichkeit. Dennoch ist in Veblens Insistenz auf den Fakten, in der Tabuierung aller Bilder ein Gutes und Heilsames gelegen. Der Widerstand gegen das barbarische Leben ist bei ihm eingewandert in die Kraft der Anpassung an dessen unbarmherzige Notwendigkeit. Für den Pragmatisten seiner Art gibt es nicht das Ganze: keine Identität von Denken und Sein, nicht einmal den Begriff einer solchen Identität. Immer wieder kommt er darauf zurück, daß die Bewußtseinsformen und die Anforderungen der konkreten Situation für ewig unversöhnbar seien: »Institutions are products of the past process, are adapted to past circumstances, and are therefore never in full accord with the requirements of the present. In the nature of the case, this process of selective adaptation can never catch up with the progressively changing situation in which the community finds itself at any given time; for the environment, the situation, the exigencies of life which enforce the adaptation and exercise the selection, change from day to day; and each successive situation of the community in its turn tends to obsolescence as soon as it has been established. When a step in the development has been taken, this step itself constitutes a change of situation which requires a new adaptation; it becomes the point of departure for a new step in the adjustment, and so on interminably.« [ 88 ] Unversöhnbarkeit verbietet das abstrakte Ideal oder läßt es als kindliche Phrase erscheinen. Die Wahrheit reduziert sich auf den kleinsten Schritt. Wahr ist das Nächste, nicht das Fernste. Gegen die Forderung, das Interesse des »Ganzen« gegenüber dem wie immer verstandenen Partialinteresse zu vertreten und damit die utilitäre Befangenheit der Wahrheit zu transzendieren, kann der Pragmatist
mit Grund einwenden, daß das Ganze nicht abschlußhaft gegeben, daß nur das Nächste erfahrbar, daß darum das Ideal zum Fragmentarischen und zur Ungewißheit verurteilt sei. Demgegenüber reicht die Berufung auf den Unterschied des Totalinteresses einer richtigen Gesellschaft vom beschränkten Nutzeffekt nicht aus. Die bestehende und die andere Gesellschaft haben nicht zweierlei Wahrheit, sondern die Wahrheit in dieser ist untrennbar von der realen Bewegung innerhalb des Bestehenden und jedem einzelnen ihrer Momente. Daher reduziert sich der Gegensatz von Dialektik und Pragmatismus, gleich jedem echt philosophischen, auf die Nuance. Nämlich auf die Auffassung jenes nächsten Schritts. Er wird aber vom Pragmatisten als Anpassung bestimmt. Sie verewigt die Herrschaft des Immergleichen. Dialektik gäbe mit deren Sanktionierung sich selber, die Idee der Möglichkeit auf. Wie aber wäre diese zu denken, wenn sie nicht abstrakt und willkürlich sein soll, vom Schlage jener Utopie, welche die dialektischen Philosophen verfemt haben? Umgekehrt, wie vermag der nächste Schritt Richtung und Ziel zu erlangen, ohne daß das Subjekt mehr weiß als bloß das Vorgegebene? Wollte man die Kantische Frage umformulieren, sie könnte heute wohl lauten: wie ist ein Neues überhaupt möglich? In der Zuspitzung der Frage liegt der Ernst des Pragmatisten, dem des Arztes vergleichbar, dessen Hilfsbereitschaft an der Tierähnlichkeit des Menschen ihren Kanon hat. Es ist der Ernst des Todes. Der Dialektiker aber sollte der sein, der davor nicht resigniert. Seiner Bestimmung zergeht das Entweder-Oder der diskursiven Logik. Wo dem Pragmatisten die sturen Fakten als »opaque items« [ 89 ] , als undurchsichtiges Dies da zurückbleiben; wo sie sich nur noch klassifizieren [ 90 ] , aber nicht erkennen lassen, sieht der Dialektiker erst seiner Erkenntnisaufgabe sich gegenüber; der, noch die phänomenalen Residuen, die »Atome« durch den Begriff aufzulösen. Nichts aber ist undurchsichtiger als die Anpassung selber, welche die Nachahmung bloßen Daseins als Maß der Wahrheit installiert. Wenn der Pragmatist den geschichtlichen Index jeglicher Wahrheit fordert, so hat seine Idee von der Anpassung selbst einen solchen Index. Es ist der, welchen Freud die Lebensnot genannt hat. Nur soweit ist der nächste Schritt einer der Anpassung, wie Mangel und Armut in der Welt herrschen. Anpassung ist die Verhaltensweise, welche der Situation des Zuwenig entspricht. Der Pragmatismus ist darum befangen und eng,
weil er diese Situation als ewig hypostasiert. Nichts anderes besagen seine Begriffe von Natur und Leben. Was er den Menschen wünscht, ist die »Identifikation mit dem Lebensprozeß« [ 91 ] , ein Verhalten, das jenes perpetuiert, das die Lebewesen in der Natur führen, solange diese ihnen nicht Lebensmittel genug gewährt. Veblens Ausfälle gegen die »Geschützten«, denen es ihre bevorzugte Stellung gestatte, der Anpassung an die veränderte Situation mehr oder minder sich zu entziehen [ 92 ] , kommt auf eine Verherrlichung des Darwinistischen Kampfes ums Dasein hinaus. Es ist aber gerade die Hypostasis der Lebensnot, die heute in ihrer gesellschaftlichen Gestalt als überholt durchsichtig wird, und zwar eben kraft jener Entwicklung der Technik, deren Stand nach Veblens Doktrin die Menschen sich anpassen sollen. So wird der Pragmatist zum Opfer der Dialektik. Der gegenwärtigen technischen Situation gerecht werden, welche den Menschen Fülle und Überfluß verspricht, heißt, sie nach dem Bedürfnis einer Menschheit einrichten, die der Gewalt nicht mehr bedarf, weil sie ihrer selbst mächtig ist. Veblen hat an einer der schönsten Stellen seines Werks den Zusammenhang zwischen der Armut und der Beharrung des Schlechten erkannt: »The abjectly poor, and all those persons whose energies are antirely absorbed by the struggle for daily sustenance, are conservative because they cannot afford the effort of taking thought for the day after tomorrow; just as the highly prosperous are conservative because they have small occasion to be discontented with the situation as it stands to-day.« [ 93 ] Der Pragmatist aber hält, selber regressiv, am Standpunkt dessen fest, der nicht bis übermorgen – über den nächsten Schritt hinaus – denken kann, weil er nicht weiß, wovon er morgen leben soll. Er vertritt die Armut. Das ist seine Wahrheit, weil die Menschen noch zur Armut verhalten sind, und seine Unwahrheit, weil der Widersinn der Armut offenbar geworden ist. Dem heute Möglichen sich anpassen, heißt, nicht länger sich anpassen, sondern das Mögliche verwirklichen.
Fußnoten 1 Dessen ökonomischer Grund wäre zu bestimmen. Es drängt sich auf, jene Art Repräsentation aus der Notwendigkeit abzuleiten, als kreditwürdig sich darzustellen. Diese Notwendigkeit könnte auf die Kapitalknappheit während expansiver Phasen zurückweisen. 2 In der psychologischen Theorie Freuds, welche die Regression zum Produkt einer vom Ich – dem Subjekt allen »Fortschritts« – ausgeübten Zensur macht, ist objektiv etwas davon angelegt. Nur wird es nicht am »Menschen« und seiner Seele, dem Objekt der bisherigen Geschichte, bestimmbar sein, sondern am realen gesellschaftlichen Prozeß, dem bewußtlosen Subjekt, dessen Naturwüchsigkeit eben daran zutage kommt, daß es für jegliche Schöpfung den Preis der Vernichtung einsetzt. Die Doppeldeutigkeit der »Sublimierung« ist die psychologische Chiffre für die Doppeldeutigkeit des gesellschaftlichen Fortschritts, so wie das Freudsche Ökonomieprinzip, das die konstante Gleichheit von Credit und Debet im psychologischen Haushalt formuliert, nicht sowohl einen anthropologischen Ursachverhalt bezeichnet wie die Immergleichheit dessen, was bis heute sich ereignete. 3 Veblens Unfähigkeit, die Dialektik des Luxus zu artikulieren, kommt am schlagendsten in seiner Vorstellung vom Schönen zum Ausdruck. Er sucht das Schöne vom Aufwand, der Ostentation zu reinigen. Damit aber bringt er es um jede konkrete gesellschaftliche Bestimmtheit und fällt auf den vor-Hegelschen Standpunkt eines bloß formalen, an Naturkategorien meßbaren Schönheitsbegriffs zurück. Veblens Rede von der Schönheit ist so abstrakt, weil an keiner Schönheit das immanente Moment des Unrechts getilgt werden kann. Konsequent müßte er die Abschaffung der Kunst verlangen. Sein Pluralismus, der ein ökonomisches Prinzip der Sparsamkeit durch ein ästhetisches der Scheinlosigkeit ergänzt, entspringt dem Unvermögen zu solcher Konsequenz. Die auseinander tretenden Momente aber nähern sich in ihrer Isolierung beide der Absurdität. Wie die vollendete Zweckmäßigkeit des Schönen in unversöhnlichen Widerspruch tritt zu dessen Zwecklosigkeit, so tritt Veblens Fassung des Ökonomischen in
Widerspruch zu seiner Idee einer richtigen Gesellschaft. 4 Von diesem Haß ist Veblen dem Bewußtsein nach ganz frei gewesen. Aber in seinem Kampf gegen die gesellschaftlichen Vermittlungsfunktionen ebenso wie in seiner Denunziation des »higher learning« ist der Anti-Intellektualismus objektiv angelegt. In einem debunker wie Aldous Huxley schlägt er durch. Dessen Werk ist weithin Selbstdenunziation des Intellektuellen als Schwindlers im Namen einer Ehrlichkeit, die auf die Verherrlichung der Natur hinausläuft. – Es ist wohl möglich, daß die Beschränktheit von Veblens Theorie in letzter Instanz durch die Unfähigkeit sich erklärt, die Frage der Vermittlung zu durchdenken. In seiner Physiognomie schickt sich das Zelotentum des skandinavischen Lutheraners, das keinen Vermittler zwischen der Gottheit und der Innerlichkeit zuläßt, verblendet an, in den Dienst einer Ordnung zu treten, welche die Vermittlungen zwischen der kommandierten Produktion und den Zwangskonsumenten kassiert. Beiden Haltungen, der radikal protestantischen und der staatskapitalistischen, ist der Anti-Intellektualismus gemein.
Aldous Huxley und die Utopie Die europäische Katastrophe, die ihren langen Schatten vorauswarf, hat zum ersten Male in Amerika den Typus der intellektuellen Emigration hervorgebracht. Wer im neunzehnten Jahrhundert in die neue Welt ging, den lockten die unbegrenzten Möglichkeiten; er wanderte aus, um sein Glück zu machen oder wenigstens das Auskommen zu finden, das übervölkerte europäische Länder ihm versagten. Das Interesse der Selbsterhaltung war stärker als das der Erhaltung des Selbst, und der wirtschaftliche Aufschwung der Vereinigten Staaten stand im Zeichen des gleichen Prinzips, das den Auswanderer über den Ozean trieb. Er bemühte sich um erfolgreiche Anpassung, nicht um Kritik, welche den Rechtsanspruch und die Aussicht der eigenen Anstrengung angekränkelt hätte. Beherrscht vom Kampf um die Reproduktion des Lebens, waren die Ankömmlinge weder ihrer Bildung und Vergangenheit noch ihrer Stellung im gesellschaftlichen Prozeß nach dazu angetan, von der Übergewalt des tobenden Daseins sich zu distanzieren. Soweit sie an die Umsiedlung utopische Hoffnungen knüpften, gingen diese selber auf im Horizont eines noch nicht durchmessenen Daseins, dem Märchen des Aufstiegs, der Aussicht, vom Tellerwäscher zum Millionär es zu bringen. Die Skepsis eines Besuchers wie Tocqueville, der vor hundert Jahren bereits den Aspekt der Unfreiheit an der hemmungslosen Egalität wahrnahm, blieb die Ausnahme; Auflehnung gegen das, was man im Jargon der deutschen Kulturkonservativen Amerikanismus nannte, gab es eher bei Amerikanern wie Poe, Emerson und Thoreau als bei den Neuankömmlingen. Hundert Jahre später emigrierten nicht mehr einzelne Intellektuelle, sondern die europäische intelligentsia als Schicht, keineswegs bloß die Juden. Sie wollten nicht besser leben, sondern überleben; die Möglichkeiten waren nicht länger unbegrenzt und darum das Diktat von Anpassung unerbittlich von der wirtschaftlichen Konkurrenz auf sie übertragen. Anstelle der Wildnis, die der Pionier, auch geistig, zu erschließen und an der er sich selber zu regenerieren gedenkt, ist eine Zivilisation getreten, die als System das ganze Leben einfängt, ohne dem unreglementierten Bewußtsein auch nur jene Schlupflöcher zu gewähren, welche die europäische Schlamperei bis ins Zeitalter der
großen Konzerne hinein offenhielt. Dem Intellektuellen von drüben wird unmißverständlich bedeutet, daß er sich als autonomes Wesen auszumerzen habe, wenn er etwas erreichen – unter die Angestellten des zum Supertrust zusammengeschlossenen Lebens aufgenommen werden will. Der Renitente, der nicht kapituliert und mit Haut und Haaren sich gleichschaltet, ist preisgegeben den Schocks, welche die zu Riesenblöcken aufgetürmte Dingwelt all dem erteilt, was nicht sich selber zum Ding macht. Die Verhaltensweise aber, mit der der Intellektuelle, ohnmächtig in der Maschinerie des allseitig entwickelten und allein anerkannten Warenverhältnisses, auf den Schock reagiert, ist die Panik. Huxleys ›Brave New World‹ ist deren Niederschlag, oder vielmehr ihre Rationalisierung. Der Roman, eine Zukunftsphantasie mit rudimentärer Handlung, versucht, die Schocks aus dem Prinzip der Entzauberung der Welt zu begreifen, es ins Aberwitzige zu steigern und die Idee von Menschenwürde der durchschauten Unmenschlichkeit abzutrotzen. Ausgangsmotiv scheint die Wahrnehmung der universalen Ähnlichkeit alles Massenproduzierten, von Dingen wie von Menschen. Die Schopenhauersche Metapher von der Fabrikware der Natur wird beim Wort genommen. Wimmelnde Zwillingsherden werden in der Retorte bereitet, ein Alptraum endlosen Doppelgängertums, wie er vom genormten Lächeln der von der charm school gelieferten Anmut bis zum standardisierten, in den Bahnen der communication industry verlaufenden Bewußtsein Ungezählter mit der jüngsten Phase des Kapitalismus in den wachen Alltag einbricht. Das Jetzt und Hier spontaner Erfahrung, längst angefressen [ 94 ] , wird entmächtigt: die Menschen sind nicht mehr bloß Abnehmer der von den Konzernen gelieferten Serienprodukte, sondern scheinen selber von deren Allherrschaft hervorgebracht und der Individuation verlustig. Der panische Blick, dem unassimilierbare Beobachtungen zu Allegorien der Katastrophe versteinern, durchschlägt die Illusion des harmlos Alltäglichen. Ihm wird das Verkaufslächeln der Modelle zu dem, was es ist, dem verzerrten Grinsen des Opfers. Die fünfundzwanzig Jahre seit dem Erscheinen des Buches haben mehr als genug verifiziert: kleine Greuel, wie daß Eignungsprüfungen für den Beruf des Liftjungen die Dümmsten ermitteln, und Schreckensvisionen wie die rationelle Verwertung der Leichen. Die Brave New World ist ein einziges Konzentrationslager, das, seines
Gegensatzes ledig, sich fürs Paradies hält. Wenn, einer Lehre aus Freuds ›Massenpsychologie‹ zufolge, Panik der Zustand ist, in welchem mächtige kollektive Identifikationen zerfallen und die freigesetzte Triebenergie sich in jähe Angst verwandelt, dann vermag der von Panik Ergriffene das Finstere zu innervieren, das auf dem Grunde der kollektiven Identifikation selber liegt, das falsche Bewußtsein der Einzelnen, die ohne durchsichtige Solidarität, in blinder Gebundenheit an Bilder der Macht, sich eines Sinnes mit einem Ganzen meinen, dessen Ubiquität sie erstickt. Huxley ist frei von der törichten Besonnenheit, die noch dem Ärgsten ihr gemäßigtes »Alles nicht so schlimm« abgewinnt. Er macht dem Kinderglauben, daß angebliche Auswüchse der technischen Zivilisation im unaufhaltsamen Fortschritt von selbst ausgeglichen würden, keine Zugeständnisse und verschmäht den Zuspruch, nach dem Exilierte so gern greifen: daß die beängstigenden Aspekte der amerikanischen Kultur ephemere Reste ihrer Primitivität oder kraftvolle Bürgen ihrer Jugend seien. Kein Zweifel daran wird geduldet, daß jene nicht sowohl hinter dem großen Zug der europäischen zurückblieb als vielmehr dieser vorauseilte; daß die Alte Welt beflissen der Neuen es nachtut. Wie der Weltstaat der Brave New World zwischen den Golfplätzen und biologischen Versuchsanstalten von Mombaza, London und dem Nordpol keine anderen Unterschiede mehr kennt als künstlich aufrechterhaltene, so ist der parodierte Amerikanismus die Welt. Sie soll, im Sinn des vorangestellten Mottos von Berdiajew, der Utopie gleichen, deren Verwirklichung nach dem Stand der Technik absehbar ward. Zur Hölle wird sie durch Linienverlängerung: Beobachtungen am gegenwärtigen Zustand der Zivilisation sind aus ihrer eigenen Teleologie vorgetrieben bis zur unmittelbaren Evidenz ihres Unwesens. Der Nachdruck dabei liegt weniger auf gegenständlich-technischen und institutionellen Elementen als auf dem, was aus den Menschen werde, die Not nicht mehr kennen. Die ökonomisch-politische Sphäre als solche tritt dem Gewicht nach zurück. Ausgemacht nur, daß es sich um ein durchrationalisiertes Klassensystem planetarischen Maßstabs, um lückenlos geplanten Staatskapitalismus handelt; daß der totalen Kollektivierung totale Herrschaft entspricht; daß Geldwirtschaft und Profitmotiv fortdauern. Anstelle der drei Parolen der Französischen Revolution heißt es:
Community, Identity und Stability. Community definiert einen Stand der Gemeinschaft, in dem jedes Einzelwesen unbedingt dem Funktionieren des Ganzen untergeordnet ist, nach dessen Sinn in der Neuen Welt keine Frage mehr erlaubt oder auch bloß möglich sein soll; Identity die Auslöschung individueller Differenzen, Standardisierung bis in den biologischen Grund hinein; Stability das Ende jeglicher gesellschaftlichen Dynamik. Der abgefeimt ausgewogene Zustand wird extrapoliert aus gewissen Symptomen eines Wegfalls des ökonomischen »Kräftespiels« unterm Spätkapitalismus: Perversion des Millenniums. Die Panazee, welche die gesellschaftliche Statik garantiert, ist das conditioning, ein schwer übersetzbarer Ausdruck, der von der Biologie und behavioristischen Psychologie – wo er das Hervorrufen bestimmter Reflexe oder Verhaltensweisen durch willkürliche Veränderungen der Umwelt, durch Kontrolle von »Bedingungen« bedeutet – in die amerikanische Alltagssprache drang als Kennwort für jegliche Art wissenschaftlicher Kontrolle über Lebensbedingungen; etwa air conditioning für den maschinellen Temperaturausgleich in geschlossenen Räumen. Bei Huxley meint conditioning vollkommene Präformation des Menschen durch gesellschaftlichen Eingriff, von künstlicher Zeugung und technifizierter Bewußtseinsund Unbewußtseinslenkung im frühesten Stadium bis zum death conditioning, einem Training, das Kindern das Grauen vor dem Tod austreibt, indem ihnen Sterbende vorgeführt und sie gleichzeitig mit Süßigkeiten gefüttert werden, mit denen sie den Tod für alle Zukunft assoziieren. Der Endeffekt des conditioning, der zu sich selbst gekommenen Anpassung, ist Verinnerlichung und Zueignung von gesellschaftlichem Druck und Zwang weit über alles protestantische Maß hinaus: die Menschen resignieren dazu, das zu lieben, was sie tun müssen, ohne auch nur noch zu wissen, daß sie resignieren. So wird ihr Glück subjektiv befestigt und die Ordnung zusammengehalten. Alle Vorstellungen einer bloß äußerlichen und durch Agenturen wie Familie und Psychologie vermittelten Einwirkung der Gesellschaft auf die Einzelnen sind als überholt durchschaut. Was heute schon aus der Familie ward, wird ihr in der Brave New World nochmals von oben her angetan. Als Kinder der Gesellschaft im wörtlichsten Sinn befinden sich die Menschen prinzipiell nicht mehr in dialektischer Auseinandersetzung mit dieser, sondern fallen der Substanz nach mit ihr zusammen.
Willfährige Exponenten der kollektiven Totalität, zu der jede Antithese eingezogen ist, sind sie im unmetaphorischen Sinne »gesellschaftlich bedingt« und nicht erst nachträglich, durch »Entwicklung«, dem herrschenden System angeglichen. Das verewigte Klassenverhältnis wird in die Biologie verlegt, indem die Zuchtdirektoren über die Zugehörigkeit zu den mit griechischen Buchstaben registrierten Kasten schon bei den Embryos entscheiden. Das niedere Volk rekrutiert sich, durch eine ingeniöse Spaltung von Zellen, aus eineiigen Zwillingen, deren physisches und geistiges Wachstum durch künstlichen Zusatz von Alkohol ins Blut unterbunden wird. Gemeint ist, daß die Reproduktion der Dummheit, wie sie vordem bewußtlos, unterm Diktat der bloßen Lebensnot sich vollzog, weil diese abgeschafft werden könnte, von der triumphalen Massenkultur in die Hand genommen wird. In der rationalen Fixierung des irrationalen Klassenverhältnisses meldet Huxley dessen Überflüssigkeit an: daß die Klassengrenze heute bereits den Charakter der »Naturwüchsigkeit« verloren habe, dessen Illusion sie in der ungesteuerten Geschichte der Menschheit hervorbrachte, daß nur noch willkürliche Selektion und Kooption, nur noch administrative Differenzierung in der Verteilung des Sozialprodukts die Fortexistenz von Klassen gewährleistet. Wenn man gar die Embryos und Kleinkinder der Unterkasten in den Brutanstalten der Brave New World knapp an Sauerstoff hält, so bereiten die Lenker eine artifizielle slum-Atmosphäre. Sie veranstalten Entwürdigung und Regression inmitten der schrankenlosen Möglichkeit. Solche vom totalitären System sowohl selbsttätig herbeigeführte wie schließlich ausgeklügelte Regression ist aber wahrhaft total. Huxley, der sich auskennt, bezeichnet die Male der Verstümmelung auch an der Oberklasse: »Even alphas have been conditioned.« Noch das Bewußtsein derer, die sich etwas darauf zugute tun, individuiert zu sein, ist im Bann der Standardisierung kraft ihrer eigenen Identifikation mit der »ingroup«. Automatisch geben sie unablässig die Urteile von sich, zu denen sie conditioned sind, etwa so wie ein Großbürger heute ungereizt davon plappert, daß es nicht auf die materiellen Verhältnisse, sondern auf die religiöse Wiedergeburt ankomme, oder daß er die moderne Kunst nicht verstünde. Nichtverstehen wird zur Tugend. Ein Liebespaar aus der Oberkaste fliegt bei stürmischem Wetter über den Kanal, und der Mann
wünscht den Flug zu verzögern, um nicht in einer Menge, länger mit der Geliebten allein, ihr näher und mehr er selbst zu sein. Ob sie ihn denn nicht verstünde. »I don't understand anything, she said with decision, determined to preserve her incomprehension intact.« Huxleys Beobachtung nagelt nicht bloß die Rancune fest, die das Aussprechen der bescheidensten Wahrheit bei dem erregt, der sie sich nicht gestatten darf, um nicht im Gleichgewicht gestört zu werden, sondern gibt die Diagnose eines mächtigen neuen Tabus. Je mehr das gesellschaftliche Dasein, kraft seiner Allgewalt und Geschlossenheit, den Desillusionierten zur Ideologie seiner selbst wird, um so mehr brandmarkt es den als Sünder, dessen Gedanken dagegen freveln, daß was ist, eben darum auch recht hat. Sie leben in Flugmaschinen, aber parieren dem gleich allen echten Tabus unausdrücklichen Gebot: Du sollst nicht fliegen. Den werden die Götter der Erde strafen, der über die Erde sich erhebt. Die antimythologische Vereidigung aufs Existierende stellt den mythischen Bann wieder her. Huxley demonstriert das am Sprechen. Die Idiotie des obligatorischen small talk, die Konversation als Gewäsch, wird mit Diskretion ins Äußerste verfolgt. Längst handelt es sich nicht mehr bloß um jene Spielregel, die das Gespräch als beschränkte Fachsimpelei oder unverschämte Zumutung verwehrt. Sondern der Verfall des Sprechens liegt in der objektiven Tendenz. Die virtuelle Verwandlung der Welt in Waren, die Vorentschiedenheit dessen, was gedacht und getan wird, durch die gesellschaftliche Maschinerie macht Sprechen illusorisch: es verkommt, unterm Fluch des Immergleichen, zu einer Folge analytischer Urteile. Die Damen der Brave New World – und dazu bedarf es kaum einer Linienverlängerung – unterhalten sich eigentlich nur noch als Konsumentinnen. Prinzipiell betrifft die Unterhaltung nichts anderes mehr, als was im Katalog der allgegenwärtigen Industrie ohnehin verzeichnet steht, Informationen über Angebotenes, sachlich überflüssig, leere Hülse des Dialogs, dessen Idee es war zu finden, was man nicht schon wußte. Bar dieser Idee wäre er reif zu verschwinden. Die vollendet Kollektivierten und unablässig Kommunizierenden müßten zugleich aller Kommunikation sich begeben und als die stummen Monaden sich bekennen, die sie insgeheim seit der bürgerlichen Frühzeit waren. Sie versinken in archaischer Unmündigkeit. Abgeschnitten sind sie vom Geist, den Huxley einigermaßen
handfest den überlieferten Kulturgütern gleichsetzt und an Shakespeare exemplifiziert, und von der Natur als Landschaft, dem Bild unbesetzter Schöpfung jenseits der Gesellschaft. Der Gegensatz von Geist und Natur machte das Thema der bürgerlichen Philosophie auf ihrer Höhe aus. In der Brave New World verbinden sie sich gegen die Zivilisation, die alles antastet, nichts erträgt, was ihr nicht gliche. War die Einheit von Geist und Natur von der idealistischen Spekulation als die oberste Versöhnung konzipiert, so ist sie nun als der absolute Gegensatz zur absoluten Verdinglichung intendiert. Nur so viel Geist, spontane und autonome Synthesis des Bewußtseins, ist möglich, wie er Unerfaßtes, nicht vorweg schon kategorial Umklammertes, »Natur«, sich gegenüber hat; nur so viel Natur wie Geist, der sich als Gegensatz zur Verdinglichung weiß und diese transzendiert, anstatt sie selber in Natur zu verzaubern. Beides verschwindet: Huxley kennt den Normalbürger jüngsten Stils, der die Meeresbucht als Sehenswürdigkeit betrachtet, während er im Auto sitzen bleibt und den Reklameweisen des Radios lauscht. Dem gesellt ist Feindschaft gegen alles Vergangene: Geist selber erscheint vergangen, läppische Zutat zu den glorifizierten Tatsachen, dem je Gegebenen, und was nicht mehr da ist, wird vollends bric-à-brac und Gerümpel. Ein Ford zugeschriebenes Wort, »history is bunk«, wirft alles nicht den jüngsten industriellen Produktionsmethoden Entsprechende, schließlich jegliche Kontinuität des Lebens auf den Schutthaufen. Durch solche Reduktion verkrüppeln die Menschen. Ihre Unfähigkeit, wahrzunehmen und zu denken, was nicht wie sie selber ist, die ausweglose Selbstgenügsamkeit ihres Daseins, das Diktat der reinen subjektiven Zweckmäßigkeit resultiert in der reinen Entsubjektivierung. Die wissenschaftlich hergestellten, von allem Mythos gesäuberten Subjekt-Objekte des realisierten Welt-Ungeistes sind infantil. Die halb unwillkürlichen, halb veranstalteten Rückbildungen von heutzutage werden schließlich, im Sinne der Massenkultur, zu bewußt oktroyierten Geboten für die Freizeit, zum »proper standard of infantile decorum«, zum Gelächter der Hölle über das christliche »So ihr nicht werdet wie die Kindlein«. Schuld daran trägt der Ersatz aller Zwecke durch Mittel. Der Kult des Werkzeugs, abgespalten von jeglichem objektiven Wozu – in der Brave New World herrscht buchstäblich die einstweilen erst implizite Autoreligion, mit Ford für Lord und dem
Zeichen des Modells T für das des Kreuzes; die fetischistische Liebe zur Equipierung, jene unverkennbaren Züge des Irreseins, die gerade jenen eingezeichnet sind, die auf ihren praktischen und realitätsgerechten Sinn sich etwas zugute tun, werden zur Norm des Lebens erhoben. Das gilt aber auch, wo in der Brave New World Freiheit angebrochen scheint. Huxley hat den Widerspruch visiert, daß in einer Gesellschaft, in der die sexuellen Tabus ihre innere Kraft verloren und entweder der Erlaubnis des Unerlaubten weichen oder durch hohlen Zwang fixiert werden, Lust selber verfällt zum armseligen fun und zur Gelegenheit für die narzißtische Befriedigung darüber, daß man diese oder jenen »gehabt« habe. Der Sexus wird gleichgültig durch die Institutionalisierung der Promiskuität, und noch der Ausbruch aus der Gesellschaft wird in dieser angesiedelt. Die physiologische Auslösung ist, als ein Stück Hygiene, erwünscht; der Affekt dabei, als Energievergeudung ohne gesellschaftlichen Nutzen, kassiert. Um keinen Preis darf man ergriffen sein. Die urbürgerliche Ataraxie hat sich über alles Reagieren schlechthin ausgebreitet. Indem sie den Eros ereilt, kehrt sie sich unmittelbar gegen jenes ehemals höchste Gut, subjektive Eudämonie, um dessentwillen die Reinigung von den Affekten verlangt war. Sie greift in der Ekstase zugleich den Kern jeglicher Beziehung zwischen Menschen, das Hinausgehen über die monadologische Existenz an. Huxley erkennt das komplementäre Verhältnis von Kollektivierung und Atomisierung. Seine Darstellung der organisierten Orgiastik jedoch hat einen Unterton, der Zweifel weckt an der satirischen These. Indem diese der Unbürgerlichkeit das Bürgerliche attestiert, verfängt sie selber sich in der Bürgerlichkeit. Huxley entsetzt sich über die Nüchternen, aber ist im Innern dem Rausch feind und keineswegs bloß dem narkotischen, in dessen Verdammung er früher mit der herrschenden Ansicht übereinstimmte. Gleich dem vieler emanzipierter Engländer ist sein Bewußtsein vom selben Puritanismus präformiert, den er abschwört. Ungeschieden sind bei ihm Freigabe und Erniedrigung des Geschlechts. In seinen früheren Romanen schon erscheint die Libertinage als gleichsam lokalisierter Reiz, ohne Aura, etwa wie in sogenannten männlichen Kulturen die Herren unter sich von den Frauen und der Liebe zu reden pflegen, mit jenem Gestus, der in den Stolz über die errungene Souveränität, die Sache zu erwähnen, unweigerlich deren Geringschätzung mischt. Bei Huxley geht es
sublimierter zu als bei dem Lawrence der four letter words, aber dafür ist auch gründlicher verdrängt. Seine Empörung über das falsche Glück opfert mit diesem auch die Idee des wahren. Längst ehe er zu buddhistischen Sympathien sich bekannte, verriet seine Ironie, zumal in der Selbstdenunziation des Intellektuellen, etwas vom wütenden Büßer, von einem Sektierertum, wogegen sein Niveau sonst gefeit ist. Die Weltflucht führt in die Nudistenkolonie, wo ja auch der Sexus durch seine Enthüllung ausgerottet wird. Trotz der Vorkehrungen, die Huxley trifft, um die hinter der absoluten Massenkultur zurückgebliebene Welt des »Wilden«, der als Relikt des Menschlichen in die Brave New World verschlagen wird, ebenfalls als entstellt, abstoßend und wahnhaft auszumalen, dringen reaktionäre Impulse durch. Unter den Figuren der Moderne, über welche das Anathema ergeht, befindet sich auch Freud, der an einer Stelle mit Ford gleichgesetzt ist. Er wird zum bloßen efficiency expert des Innenlebens. Allzu gemütlicher Spott kreidet ihm an, er habe als erster »the appalling dangers of family life« aufgedeckt. Aber er hat es tatsächlich, und die historische Gerechtigkeit ist auf seiner Seite: die Kritik der Familie als Agentur der Unterdrückung, wie sie gerade in der englischen Opposition seit Samuel Butler längst vertraut war, ist im gleichen Augenblick hervorgetreten, in dem die Familie mit ihrer ökonomischen Basis auch den letzten Rechtsausweis verloren hat, über die Entwicklung von Menschen zu bestimmen, und sich in das gleiche neutralisierte Unwesen verwandelte, das Huxley im Bereich der offiziellen Religion schneidend beim Namen ruft. Gegenüber der Ermunterung der infantilen Sexualität, die er der Zukunftswelt, übrigens in vollkommenem Mißverständnis des am Erziehungsziel des Triebverzichts nur allzu orthodox festhaltenden Freud, zuschreibt, schlägt Huxley sich auf die Seite derer, die gegen das Industriezeitalter weniger die Entmenschlichung als den Verfall der Sitten einzuwenden haben. Die abgründige dialektische Fragestellung, ob am Ende nur so viel Glück möglich sei, wie Verbote zu brechen sind, wird von der Gesinnung des Romans ins Affirmative verdorben, zur Ausrede für den Fortbestand hinfälliger Verbote mißbraucht, so als ob je das Glück, das aus der Tabuverletzung hervorgeht, das Tabu legitimieren könnte, das nicht um des Glücks, sondern um dessen Hintertreibung willen in der Welt ist. Wohl werden die regelmäßig stattfindenden
Gemeinde-Orgien des Romans, der anbefohlene kurzfristige Wechsel der Partner folgerecht aus dem stumpfsinnig-offiziellen Sexualbetrieb abgeleitet, der aus der Lust einen Spaß macht und sie durch Gewährung verweigert. Aber eben darin, in der Unmöglichkeit, der Lust ins Auge zu sehen, kraft der Reflexion ihr sich ganz zu überlassen, wirkt das uralte Verbot fort, dem Huxley voreilig nachtrauert. Wäre es durchbrochen, wäre die Lust den Zügel des Institutionellen los, der auch in der orgy-porgy sie bändigt, so löste mit ihrer Totenstarre sich die Brave New World. Deren oberster Moralgrundsatz soll sein, daß jeder jedem gehört, die absolute Fungibilität, die den Menschen als Einzelwesen auslöscht, sein letztes An sich als Mythologie liquidiert und ihn als bloßes Für anderes und damit, im Sinne Huxleys, als nichtig bestimmt. In dem nach dem Kriege hinzugefügten Vorwort zur amerikanischen Ausgabe hat Huxley die Verwandtschaft jenes Prinzips mit der Sadeschen Enunziation entdeckt, daß zu den Menschenrechten die absolute sexuelle Verfügung aller über alle gehöre [ 95 ] . Darin erblickt er die Vollendung der Narrheit folgerechter Vernunft. Aber er verkennt die Unvereinbarkeit der verketzerten Maxime mit seinem Zukunftsweltstaat. Alle Diktaturen haben die Libertinage verfemt, und Himmlers vielberufene SS-Gestüte waren ihr staatsfrommes Widerspiel. Herrschaft wäre geradezu definierbar als Verfügung der einen über die anderen, nicht als totale Verfügung aller über alle. Diese wäre mit keiner totalitären Ordnung zusammenzudenken. Das bezöge sich weit mehr noch als auf den Zustand sexueller Anarchie aufs Arbeitsverhältnis. Die nur noch Für anderes seienden Menschen, das absolute zoon politikon, wären zwar ihres Selbst entäußert, aber auch dem Bann der Selbsterhaltung entronnen, der die Brave New World wie die alte zusammenhält. Reine Fungibilität zersetzte den Kern von Herrschaft und verspräche die Freiheit. Es ist die Schwäche der gesamten Konzeption Huxleys, daß sie zwar all ihre Begriffe rücksichtslos dynamisiert, zugleich jedoch ängstlich vorm Übergang in ihr eigenes Gegenteil behütet. Die scène à faire des Romans ist der erotische Zusammenstoß der beiden »Welten«; der Versuch der Heldin Lenina, des Typus der gepflegten und wohlgeratenen amerikanischen »career woman«, den »Wilden«, der sie liebt, nach den Spielregeln pflichtgemäßer Promiskuität zu verführen. Ihr Gegenspieler entspricht dem scheuen, ästhetischen Jüngling, an die Mutter gebunden und triebgehemmt,
der sein Gefühl lieber betrachtend genießt als ausdrückt und an der lyrischen Verklärung der Geliebten sein Genügen findet; ein Charakter übrigens, der in Oxford und Cambridge kaum weniger gezüchtet wird als die Epsilons in der Retorte und der denn auch zu den sentimentalen Requisiten des neueren englischen Romans gehört. Der Konflikt entsteht dadurch, daß John die sachliche Selbstpreisgabe des schönen Mädchens als Herabwürdigung seines sublimen Gefühls für sie empfindet und davonläuft. Die Überzeugungskraft der Szene kehrt sich gegen ihr thema probandum. Die künstliche Anmut und zellophanhafte Schamlosigkeit Leninas macht keineswegs den unerotischen Effekt, der ihr zugewiesen wird, sondern einen überaus verlockenden, dem selbst der entrüstete Kulturwilde am Ende des Romans erliegt. Wäre sie die imago der Brave New World, so verlöre diese das Grauen. Wohl ist jede ihrer Gebärden gesellschaftlich präformiert, Teil eines konventionellen Rituals. Aber indem sie bis zum Kern mit der Konvention eins ist, zergeht die Spannung des Konventionellen und der Natur, und damit die Gewalt, welche das Unrecht der Konvention ausmacht: psychologisch ist das schlecht Konventionelle immer Mal einer mißlungenen Identifikation. Wie sein Gegensatz würde der Begriff der Konvention selbst hinfällig. Durch die totale gesellschaftliche Vermittlung stellte gleichsam von außen nach innen zweite Unmittelbarkeit, Humanität sich her. Es fehlt nicht an solchen Ansätzen in der amerikanischen Zivilisation. Huxley aber konstruiert Humanität und Verdinglichung in starrem Gegensatz, einig mit der gesamten Romantradition, die den Konflikt des lebendigen Menschen mit versteinerten Verhältnissen zum Gegenstand hat. Er verkennt das humane Versprechen der Zivilisation, weil er vergißt, daß Humanität wie den Gegensatz zur Verdinglichung auch diese selber in sich einschloß, nicht bloß als antithetische Bedingung des Ausbruchs, sondern positiv, als die wie immer brüchige und unzulängliche Form, welche die subjektive Regung verwirklicht einzig, indem sie sie objektiviert. Alle die Kategorien, auf welche das Licht des Romans fällt, Familie, Elternschaft, der Einzelne samt seinem Besitz, sind bereits Produkte der Verdinglichung. Huxley verhängt diese als Fluch über die Zukunft, ohne am Segen des Vergangenen, den er anruft, des gleichen Wesens innezuwerden. So wird er zum unfreiwilligen Sprecher jener nostalgia, deren Affinität zur Massenkultur sein
physiognomischer Blick so durchdringend wahrnimmt in dem Song über die Retorte: »Bottle of mine, it's you I've always wanted! Bottle of mine, why was I decanted? ... There ain't no Bottle in all the world Like that dear Bottle of mine.« Der Ausbruch des »Wilden« gegen die Geliebte ist denn auch nicht sowohl, wie vielleicht intendiert, der Protest reiner Menschennatur gegen die kalte Frechheit der Mode, sondern die poetische Gerechtigkeit gestaltet ihn als Aggression eines Neurotikers, dem der von Huxley schlecht behandelte Freud leicht verdrängte Homosexualität als Motiv der krampfhaften Reinheit vorhalten könnte. Er schimpft auf die Dirne wie der Hypokrit, der bebt vor Wut gegen das, was er sich selber verbieten muß. Indem Huxley ihn ins Unrecht setzt, distanziert er sich von der Gesellschaftskritik. Ihr eigentlicher Träger im Roman ist der »Alpha plus« Bernard Marx, der gegen das eigene conditioning rebelliert, eine skeptisch mitfühlende Judenkarikatur. Daß die Juden als nicht ganz Angepaßte verfolgt werden und daß eben darum ihr Bewußtsein zuweilen übers Gesellschaftssystem hinausreicht, ist Huxley vertraut. Er verdächtigt nicht die Authentizität von Bernards kritischer Einsicht. Aber diese wird selber bloß einer Art von Organminderwertigkeit, dem unvermeidlichen inferiority complex zugeschrieben, und zugleich wird der radikale jüdische Intellektuelle, nach bewährten Mustern, des vulgären Snobismus, schließlich der schmählichen moralischen Feigheit bezichtigt. Seit Ibsens Erfindung von Gregers Werle und Stockmann, eigentlich seit Hegels Geschichtsphilosophie, hat die bürgerliche Kulturpolitik im Namen einer die Totalität überschauenden, abwägenden Gesinnung den, der es anders möchte, als das echte Kind und zugleich die Mißgeburt des Ganzen, dem er widerstrebt, entblößt, und darauf bestanden, daß, sei's gegen ihn, sei's durch ihn hindurch, die Wahrheit doch allemal mit dem Ganzen sei. Damit solidarisiert sich der Romancier Huxley, während der Kulturprophet die Totalität verabscheut. Wohl richtet Gregers Werle die zugrunde, die er retten will, und von der Eitelkeit Bernard Marxens ist keiner frei, der, indem er über die Dummheit sich erhebt, zugleich klüger sich vorkommt. Aber der von außen die Phänomene unbeteiligt, frei, überlegen abschätzende Blick, der über die Beschränktheit der Negation, den Austrag der Dialektik sich zu erheben meint, ist eben darum weder der von Wahrheit noch von Gerechtigkeit. Diese sollte
nicht sowohl die Unzulänglichkeit des Besseren auskosten, um es vorm Schlechten zu kompromittieren, als aus jener Unzulänglichkeit zusätzliche Kraft für die Empörung ziehen. Zu der Geringschätzung der Kräfte der Negativität um ihrer Ohnmacht willen schickt sich die Kraftlosigkeit des Positiven, das als absolut gegen die Dialektik zitiert wird. Wenn der »Wilde«, in dem entscheidenden Gespräch mit dem world controller Mond, erklärt, »what you need is something with tears for a change«, so ist die absichtlich schnoddrig vorgebrachte Exaltation des Leidens keine bloße Charakteristik des verrannten Individualisten, sondern beschwört die christliche Metaphysik, die Erlösung in der Nachfolge einzig kraft des Leidens verheißt. Da jene jedoch im trotz allem durch und durch aufgeklärten Bewußtsein des Romans nicht mehr sich hervortraut, so wird der Kultus des Leidens zum absurden Selbstzweck, dem Gehabe eines Ästhetizismus, dessen Bündnis mit den finsteren Mächten Huxley kaum verborgen sein kann; das Nietzschesche »Lebe gefährlich«, das der »Wilde« gegen den resigniert hedonistischen Weltkontrolleur anmeldet, war als Parole dem totalitären Mussolini, selber so einem Weltkontrolleur, gerade recht. An einer Stelle, in der Erörterung einer vom Weltkontrolleur unterdrückten biologischen Schrift, tritt der allzu positive Kern des Romans unbefangen ans Licht. Es ist »the sort of idea that might easily de-condition the more unsettled minds among the higher castes – make them lose their faith in happiness as the Sovereign Good and take to believing instead, that the goal was somewhere beyond, somewhere outside the present human sphere; that the purpose of life was not the maintenance of well-being, but some intensification and refining of consciousness, some enlargement of knowledge.« So blaß und verdünnt, auch gewitzigt vorsichtig das Ideal formuliert wird, es entgeht darum doch nicht der Widersprüchlichkeit. »Intensification and refining of consciousness« oder »enlargement of knowledge« hypostasiert umstandslos den Geist gegenüber der Praxis und der Erfüllung materieller Bedürfnisse. Wie jedoch aller Geist seinem Sinn nach den gesellschaftlichen Lebensprozeß und zumal die Arbeitsteilung voraussetzt; wie alles Geistige als auf seine »Erfüllung« auf Daseiendes bezogen, implizit auch eine Anweisung auf Praxis ist, so heißt es den arbeitsteiligen und gespaltenen Zustand ideologisch verewigen, wenn der Geist zu den materiellen Bedürfnissen in
unbedingten, zeitlosen Gegensatz gerückt wird. Nichts Geistiges, nicht der weltflüchtigste Traum ward je konzipiert, dessen Gehalt nicht auch die Veränderung der materiellen Realität objektiv in sich begriffe. Kein Affekt, kein Inwendiges, das nicht endlich Auswendiges meinte und, bar solcher wie sehr auch sublimierten Intention, zum bloßen Schein, zur Unwahrheit verdürbe. Noch die selbstvergessene Leidenschaft von Romeo und Julia, aus der Huxley etwas wie einen »Wert« macht, ist kein autarkisches An sich, sondern wird geistig, mehr als bloßes Schauspiel der Seele, indem sie über den Geist hinausweist auf die körperliche Vereinigung. Huxley verrät diese an die Sehnsucht, welche sie bedeutet. Denn untrennbar ist die Schönheit von »Es war die Nachtigall und nicht die Lerche« von der Symbolik des Geschlechts. Das Tagelied um seiner Transzendenz willen verherrlichen, ohne dieser anzuhören, daß sie gerade als Transzendenz nicht in sich ruht, sondern gestillt werden will, wäre so leer wie die physiologisch abgezirkelte Sexualität der Brave New World, die den Zauber tötet, der sich nicht um seiner selbst willen konservieren läßt. Die Schmach heute ist nicht das Überwiegen der sogenannten materiellen Kultur über die geistige: in der Klage darüber fände Huxley unwillkommene Genossen, die Arch-Community-Songsters aller neutralisierten Denominationen und Weltanschauungen. Anzugreifen wäre die gesellschaftlich diktierte Trennung des Bewußtseins von seiner gesellschaftlichen Verwirklichung, an der es doch sein Wesen hätte. Gerade der Chorismos zwischen Geistigem und Materiellem, den Huxleys philosophia perennis aufrichtet, der Ersatz des »faith in happiness« durch ein unbestimmbar abstraktes »goal somewhere beyond« bekräftigt den verdinglichten Zustand, dessen Symptome ihm unerträglich sind, die Neutralisierung der vom materiellen Produktionsprozeß abgespaltenen Kultur. »Wenn zwischen materiellen und ideellen Bedürfnissen schon einmal ein Unterschied gemacht wird«, formulierte einmal Horkheimer, »so muß man zweifellos auf der Erfüllung der materiellen bestehen, denn in dieser Erfüllung ist ... die gesellschaftliche Änderung mitgesetzt. Sie schließt sozusagen die richtige Gesellschaft ein, die allen Menschen möglichst gute Lebensbedingungen gewährt. Das ist mit der schließlichen Ausschaltung der schlechten Herrschaft identisch. Die Betonung der isolierten, ideellen Forderung aber führt zu wirklichem Unsinn. Man kann nicht das Recht auf Sehnsucht, auf
das transzendente Wissen, auf das gefährliche Leben geltend machen. Der Kampf gegen die Massenkultur kann einzig im Nachweis des Zusammenhangs zwischen ihr und dem Fortgang des sozialen Unrechts bestehen. Es ist lächerlich, dem Kaugummi vorzuhalten, daß er den Hang zur Metaphysik beeinträchtige, aber es ließe sich wahrscheinlich zeigen, daß die Gewinne Wrigleys und sein Palast in Chicago in der gesellschaftlichen Funktion begründet waren, die Menschen mit den schlechten Verhältnissen zu versöhnen, sie von ihrer Kritik abzubringen. Nicht daß der Kaugummi der Metaphysik schadet, sondern daß er im Gegenteil selbst Metaphysik ist, gilt es klarzumachen. Wir kritisieren die Massenkultur nicht deshalb, weil sie den Menschen zuviel gibt oder ihr Leben zu sicher macht – das überlassen wir der lutherischen Theologie –, sondern weil sie dazu hilft, daß die Menschen zu wenig und zu Schlechtes bekommen, daß ganze Schichten drinnen und draußen in furchtbarem Elend leben, daß die Menschen sich mit dem Unrecht abfinden, daß sie die Welt in einem Zustand festhält, bei dem man einerseits gigantische Katastrophen, andererseits die Verschwörung abgefeimter Eliten zu einem dubiosen Friedenszustand zu gewärtigen hat.« [ 96 ] Huxley setzt der Sphäre der Bedürfnisbefriedigung korrektiv eine andere entgegen, die jener verdächtig ähnlich sieht, welche das Bürgertum die höhere zu nennen pflegt. Dabei geht er von einem invarianten, gleichsam biologischen Begriff von Bedürfnis aus. Aber jegliches menschliche Bedürfnis ist in seiner konkreten Gestalt historisch vermittelt. Die Statik, welche die Bedürfnisse heute scheinbar angenommen haben, ihre Fixierung auf die Reproduktion des Immergleichen, ist selber bloß der Reflex auf die materielle Produktion, die mit der Eliminierung von Markt und Konkurrenz bei gleichzeitigem Fortbestand der Eigentumsverhältnisse stationären Charakter annimmt. Mit dem Ende dieser Statik wird das Bedürfnis völlig anders aussehen. Wenn die Produktion unbedingt, schrankenlos sogleich auf die Befriedigung der Bedürfnisse, auch und gerade der vom bislang herrschenden System produzierten, umgestellt wird, werden sich eben damit die Bedürfnisse selbst entscheidend verändern. Die Undurchdringlichkeit von echtem und falschem Bedürfnis gehört wesentlich zur gegenwärtigen Phase. In ihr bilden die Reproduktion des Lebens und dessen Unterdrückung eine Einheit, die zwar als Gesetz des Ganzen, doch nicht im einzelnen
durchschaubar ist. Einmal wird sich rasch genug zeigen, daß die Menschen den Schund, den die Kulturindustrie, und die jämmerliche Erstklassigkeit, die ihnen die handfestere liefert, nicht brauchen. Der Gedanke etwa, das Kino sei neben Wohnung und Nahrung zur Reproduktion der Arbeitskraft notwendig, ist »wahr« nur in einer Welt, welche die Menschen auf die Reproduktion der Arbeitskraft zurichtet und ihre Bedürfnisse zur Harmonie mit dem Interesse von Angebot und gesellschaftlicher Kontrolle zwingt. Die Vorstellung, daß eine emanzipierte Gesellschaft nach der schlechten Schauspielerei von Lametta oder den schlechten Suppen von Devory schreie, ist absurd. Je besser die Suppe, um so lustvoller der Verzicht auf Lametta. Ist der Mangel verschwunden, so wird die Relation von Bedürfnis und Befriedigung sich verändern. Heute ist der Zwang, fürs Bedürfnis in seiner durch den Markt vermittelten und dann eingefrorenen Form zu produzieren, eines der Hauptmittel, alle bei der Stange zu halten. Es darf nichts gedacht, geschrieben, getan und gemacht werden, was über einen Zustand hinausginge, der sich weitgehend durch die Bedürfnisse der ihr Ausgelieferten hindurch an der Macht hält. Unvorstellbar, daß der Zwang zur Bedürfnisbefriedigung in einer veränderten Gesellschaft als Fessel fortwirkte. Die gegenwärtige Gesellschaft hat den ihr immanenten Bedürfnissen weithin die Befriedigung versagt, dafür aber die Produktion durch den Verweis eben auf die Bedürfnisse in ihrem Bannkreis festgehalten. Sie war so praktisch wie irrational. Eine Ordnung, welche die Irrationalität abschafft, in welche die Warenproduktion verwickelt war, aber die Bedürfnisse befriedigt, wird ebenso den praktischen Geist abschaffen, der noch in der Zweckferne des bürgerlichen l'art pour l'art sich spiegelt. Sie hebt nicht nur den hergebrachten Antagonismus von Produktion und Konsum auf, sondern auch deren jüngste staatskapitalistische Einheit und konvergiert mit der Idee, daß, nach den Worten von Karl Kraus, »Gott den Menschen nicht als Konsumenten oder Produzenten erschaffen hat, sondern als Mensch«. Daß etwas unnütz sei, ist dann keine Schande mehr. Anpassung verliert ihren Sinn. Die Produktivität wird nun erst im eigentlichen, nicht entstellten Sinn aufs Bedürfnis wirken: nicht indem sie das unbefriedigte mit Unnützem sich stillen läßt, sondern indem das Gestillte vermag, zur Welt sich zu verhalten, ohne sich durch universale Nützlichkeit zuzurichten [ 97 ] .
In der Kritik am falschen Bedürfnis bewährt Huxley die Idee von der Objektivität des Glücks. Die sture Wiederholung des Satzes »Everybody's happy now« wird zur äußersten Anklage. Insofern die Menschen von einer auf Versagung und Betrug gegründeten Ordnung hervorgebracht, ihre Bedürfnisse von dieser ihnen eingebildet werden, ist Glück, das mit der Befriedigung solcher Bedürfnisse zusammenfällt, wahrhaft schlecht, das letzte Anhängsel an die Maschinerie. Während in der integralen Welt, welche Trauer nicht duldet, das Gebot des Römerbriefs »Weinet mit den Weinenden« mehr gilt als je, ist das »Freuet euch mit den Fröhlichen« zum blutigen Hohn geworden: was die Ordnung den Geordneten an Freude läßt, zehrt von der Verewigung des Jammers. Daher wirkt die bloße Absage ans falsche Glück heute bereits subversiv. Die Reaktion Leninas auf ihren »Wilden«, der einen idiotischen Film widerlich findet, »Why did he go out of his way to spoil things?«, ist die typische Manifestation eines dichten Verblendungszusammenhangs. Daß man es den Leuten nicht nehmen darf, hat von je zum Sprichwörterschatz derer gehört, welche es den Leuten nehmen. Aber zugleich enthält die Beschreibung von Leninas Gereiztheit das Element der Kritik an Huxleys eigener Ansicht. Ihm ist der Aufweis der Nichtigkeit des subjektiven Glücks, nach Maßstäben der traditionellen Kultur, gleichbedeutend mit dem der Nichtigkeit von Glück an sich. An seine Stelle soll eine aus der Religion und Philosophie von ehedem destillierte Ontologie treten, Glück und objektiv höchstes Gut seien unversöhnlich. Eine Gesellschaft, die auf nichts anderes aus sei als auf Glück, gehe unweigerlich in die »insanity«, in maschinelle Vertierung über. Aber Leninas übereifrige Defensive verrät Unsicherheit, den Verdacht, daß ihre Art Glück vom Widerspruch verunstaltet, daß es dem eigenen Begriff nach kein Glück sei. Um des Schwachsinns jenes Films – und damit der »objektiven Verzweiflung« des genießenden Betrachters – innezuwerden, bedarf es keiner pharisäischen Erinnerung an Shakespeare. Sondern das Wesen des Films als bloßer Verdopplung und Verstärkung dessen, was ohnehin ist; seine eklatante Überflüssigkeit und Sinnlosigkeit sogar in der zum Infantilismus verhaltenen Freizeit; die Unvereinbarkeit des Verdopplungsrealismus und des Anspruchs, Bild zu sein – all das tritt in der Sache selbst hervor, ohne Rekurs auf dogmatisch zitierte vérités éternelles. Daß der von Huxley so
sorgfältig gezogene circulus vitiosus seine Lücken hat, liegt nicht an Mängeln seiner Phantasiekonstruktion, sondern an der Vorstellung eines subjektiv vollkommenen, aber objektiv widersinnigen Glücks. Gilt seine Kritik des bloß subjektiven, dann verfällt die Idee eines bloß objektiven, vom menschlichen Anspruch getrennten hypostasierten Glücks nicht weniger der Ideologie. Grund des Unwahren ist die zur starren Alternative verdinglichte Trennung. Mustapha Mond, der raisonneur und advocatus diaboli des Buches, der das exponierteste Bewußtsein der Brave New World von sich selber verkörpert, bringt jene Alternative auf die Formel. Auf den Einwand des »Wilden«, es werde der Mensch durch die totale Zivilisation degradiert, antwortet er: »Degrade him from what position? As a happy, hard-working, goods-consuming citizen he's perfect. Of course, if you choose some other standard than ours, then perhaps you might say he was degraded. But you've got to stick to one set of postulates«. In den beiden sets of postulates, die gleich Fertigfabrikaten zur Auswahl gestellt werden, scheint Relativismus durch: die Frage nach Wahrheit löst sich in eine Wenn-dann-Relation auf. So wird denn auch die von Huxley isolierte Wertewelt von Tiefe und Innerlichkeit Beute der Pragmatisierung. Der »Wilde« berichtet, daß er einmal in einer seiner asketischen Anwandlungen mit ausgespannten Armen bei glühender Hitze an einem Felsen gestanden habe, um zu verspüren, wie es einem Gekreuzigten zumute sei. Um Erklärung gebeten, erteilt er die kuriose Antwort: »Because I felt I ought to. If Jesus could stand it. And then, if one has done something wrong ... Besides. I was unhappy, that was another reason.« Wenn der »Wilde« schon selber für seine religiösen Abenteuer, die Wahl des Leidens, keinen anderen Rechtsgrund zu finden vermag, als daß er gelitten habe, kann er kaum seinem Interviewer widersprechen, der meint, es sei denn doch vernünftiger, die euphorische Allheildroge Soma zu nehmen, um sich von Depressionen zu kurieren. Irrational hypostasiert, selber gleichsam zu bloßem Dasein gemacht, verlangt die Ideenwelt immerzu nach Rechtfertigung durchs bloß Daseiende: sie wird um jenes empirischen Glücks willen verordnet, das durch sie verneint werden soll. Die krude Alternative von objektivem Sinn und subjektivem Glück, die These der Ausschließlichkeit, ist der philosophische Grund für das reaktionäre Fazit des Romans. Man habe sich zu
entscheiden zwischen der Barbarei des Glücks und Kultur als dem objektiv höheren Zustand, der Unglück in sich einbegreift. »Fortschreitende Naturbeherrschung und Gesellschaftsbeherrschung« – so interpretierte Herbert Marcuse – »beseitigt alle Transzendenz, physische sowohl als psychische. Kultur, als der zusammenfassende Titel für die eine Seite des Gegensatzes, lebt von Unerfülltem, Sehnsucht, Glauben, Schmerz, Hoffnung, kurz, von dem, was nicht ist, sich aber in der Wirklichkeit anmeldet. Das bedeutet aber, Kultur lebt vom Unglück.« [ 98 ] Der Kern der Kontroverse ist die bündige Disjunktion: daß man nicht das eine ohne das andere haben kann, nicht die Technik ohne death conditioning, nicht den Fortschritt ohne die angedrehte infantile Regression. An der Disjunktion selber aber ist die Unbestechlichkeit des Gedankens vom ideologischen Gewissenszwang abzuheben. Nur der Konformismus könnte mit dem objektiven Wahnsinn heute als bloßem Unfall der Entwicklung sich abfinden. Die Rückbildung ist der folgerechten Entwicklung von Herrschaft wesentlich. Theorie kann nicht in gutmütiger Freiheit der Wahl akzeptieren, was ihr an der geschichtlichen Tendenz paßt, und das andere fortlassen. Weltanschauliche Versuche, zur Technik eine »positive Haltung« einzunehmen, aber zu advozieren, daß ihr ein Sinn gegeben werden müsse, vertrösten kunstgewerblich und kommen bloß der fragwürdigsten Arbeitsfreude zugute. Aber der Druck, den die Brave New World universal ausübt, ist dem Begriff nach mit jener totenhaften Statik unvereinbar, die sie zum Angsttraum macht. Nicht umsonst tragen alle Hauptfiguren, selbst Lenina, Züge von subjektiver Verstörtheit. Das Entweder-Oder ist falsch. Der mit grimmigem Behagen ausgemalte Zustand vollkommener Immanenz transzendiert sich selber, nicht vermöge einer von außen herangebrachten, ohnmächtigen Selektion des Wünschbaren und Verwerflichen sondern vermöge seiner objektiven Beschaffenheit. Huxley weiß von der über den Kopf der Menschen hinweg sich durchsetzenden historischen Tendenz. Sie ist ihm die Selbstentfremdung und vollkommene Entäußerung des Subjekts, das sich zum bloßen Mittel macht, ohne daß ein Zweck überhaupt noch wäre. Aber er fetischisiert den Fetischismus der Ware. Ihm wird der Warencharakter zu einem Ontischen, an sich Seienden, vor dem er kapituliert, anstatt den ganzen Hexenspuk als bloße Reflexionsform,
als das falsche Bewußtsein des Menschen von sich selber zu durchschauen, das mit seinem ökonomischen Grunde zergehen müßte. Er gesteht nicht zu, daß die phantasmagorische Unmenschlichkeit der Brave New World eine ihrer selbst vergessene Beziehung zwischen Menschen, gesellschaftliche Arbeit; daß der total verdinglichte der gegen sich selbst verblendete Mensch ist. Statt dessen hetzt er unanalysierte Fassadenphänomene aufeinander nach Art des »Konflikts zwischen Mensch und Maschine«. Wessen er die Technik bezichtigt, das liegt nicht, wie er es den romantischen Philistern glaubt, in ihrem eigenen Sinne, der Abschaffung der Arbeit, sondern folgt, wie es übrigens im Roman durchschimmert, aus ihrer Verfilzung mit den gesellschaftlichen Verhältnissen der Produktion. Selbst die Unvereinbarkeit von Kunst und Massenreproduktion heute rührt nicht von der Technik als solcher her, sondern davon, daß diese, unterm Diktat jener sinnwidrig fortbestehenden Verhältnisse, den Anspruch von Individuation, nach Benjamins Wort die »Aura«, festhalten muß, den sie nicht einlösen kann. Noch die Verselbständigung des Mittels, die Huxley an der Technik rügt, entzieht nicht notwendig den Zwecken das Ihre. Auf dem bewußtlosen Weg des Bewußtseins, gerade in der Kunst 1 , vermag das blinde Spiel mit Mitteln Zwecke zu setzen und zu entfalten. Das Verhältnis von Mittel und Zweck, von Humanität und Technik läßt sich nicht nach ontologischen Prioritäten regeln. Die Alternative läuft darauf hinaus, daß die Menschheit nicht aus dem Unheil sich herausarbeiten soll. Sie wird vor die Wahl gestellt zwischen dem Rückfall in eine selbst bei Huxley fragwürdige Mythologie und dem Fortschritt zur lückenlosen Unfreiheit des Bewußtseins. Kein Raum bleibt einem Begriff vom Menschen, der weder im kollektiven Systemzwang noch im kontingenten Einzelnen aufginge. Die Konstruktion, die den totalitären Weltstaat denunziert und den Individualismus, der es dahin brachte, retrospektiv verklärt, ist selber totalitär. Der Gedanke, der keinen Ausweg läßt, impliziert bereits die Liquidation alles nicht Aufgehenden, vor der Huxley mit Grund schaudert. Die praktische Konsequenz des bürgerlichen »Man kann nichts machen«, wie es als Echo des Romans nachhallt, ist genau das perfide »Du mußt dich fügen« in totalitären Brave New Worlds. Die Eindeutigkeit der Tendenz, die Geradlinigkeit des Fortschrittsbegriffs, wie er im Roman gehandhabt wird, leitet von
der beschränkten Form der Entfaltung der Produktivkräfte in der »Vorgeschichte« sich her. Unausweichlichkeit kommt in der negativen Utopie dadurch zustande, daß jene Beschränktheit der Produktionsverhältnisse, die profitbedingte Inthronisierung des Produktionsapparats als Eigenschaft der technischen und menschlichen Produktivkräfte an sich zurückgespiegelt wird. In seiner Prophezeiung der Entropie der Geschichte folgt Huxley dem Schein, den die Gesellschaft notwendig verbreitet, gegen die er eifert. Er kritisiert den Geist des Positivismus. Aber weil auch seine Kritik bei Schocks stehenbleibt, bei der erlebten Unmittelbarkeit, und den gesellschaftlichen Schein unbefragt als Tatsache registriert, wird er selber zum Positivisten. Trotz des ungemütlichen Tons stimmt er zusammen mit der deskriptiv gesinnten Kulturkritik, welche durch die Klage über den unausweichlichen Untergang der Kultur der Verfestigung der verklagten Herrschaft Vorwände lieferte. Zivilisation zieht im Namen von Kultur in die Barbarei ein. Er visiert anstelle der Antagonismen etwas wie ein in sich widerspruchsloses Gesamtsubjekt der technologischen ratio, und demgemäß eine simple Totalentwicklung. Solche Vorstellungen gehören zur Fassade, den kurrenten Ideen von Universalgeschichte und Lebensstil. Er verfehlt, die Symptome der Unifizierung selber, deren eindringliche Physiognomik er liefert, als Äußerungen des antagonistischen Wesens zu entziffern, des Drucks der Herrschaft, der Totalität teleologisch ist. Bei allem Hohn über das »Everybody's happy nowadays« wohnt seinem Geschichtsbild der Form nach, die mehr vom Wesen freilegt als der Stoff der Begebenheiten, ein tief Harmonistisches inne. Die Konzeption undurchbrochenen Fortschritts unterscheidet sich von der liberalistischen durch die Akzente, nicht durch den Blick auf die Sache. Wie ein Bentham-Liberaler prognostiziert Huxley eine Entwicklung zum größtmöglichen Glück der größtmöglichen Zahl: nur daß sie ihm nicht behagt. Er verurteilt die Brave New World mit dem gleichen gesunden Menschenverstand, dessen Walten in der Brave New World verhöhnt ist. Allerorten treten daher im Roman unanalysierte Momente eben jener Art ausgelaugter Weltanschauung zutage, der Huxley so wenig hold ist. Das Vergängliche als das Nichtige, Geschichte als Unheilsgeschichte wird den Invarianten kontrastiert, der philosophia perennis, dem ewigen Sonnenschein des
Ideenhimmels. Demgemäß rücken Äußerlichkeit und Innerlichkeit in primitive Antithese: den Menschen wird das Übel, von der künstlichen Zeugung bis zur galoppierenden Vergreisung, bloß angetan, die Kategorie des Einzelnen aber erscheint in unbefragter Würde. Unreflektierter Individualismus behauptet sich, als wäre nicht das Grauen, auf das der Roman hinstarrt, selber die Ausgeburt der individualistischen Gesellschaft. Aus dem historischen Prozeß wird die einzelmenschliche Spontaneität eliminiert, dafür aber der Begriff des Individuums von der Geschichte abgespalten, seinerseits zu einem Stück philosophia perennis gemacht. Individuation, ein wesentlich Gesellschaftliches, wird nochmals zur unabänderlichen Natur. Anstelle der Einsicht in ihre Verstricktheit in den Schuldzusammenhang, deren die bürgerliche Philosophie auf ihrer Höhe mächtig war, tritt die empirische Nivellierung des Individuums durch den Psychologismus. Im Gefolge einer Tradition, deren Übermacht eher zum Widerstand als zum Respekt herausfordert, wird das Individuum als Idee ins Ungemessene erhöht, andererseits aber jeder einzelne Mensch vom Nachzügler der Desillusionsromantik des moralischen Bankrotts überführt. Die Erkenntnis von der Nichtigkeit des Individuums, gesellschaftlich wahr, wird auf das privat überforderte Individuum abgewälzt. Daß es fungibel, in Wahrheit nicht es selber, sondern die »Charaktermaske« der Gesellschaft ist, rechnet Huxleys Buch, wie sein gesamtes oeuvre, dem verabsolutierten Individuum als seine Schuld, als Unechtheit, Verlogenheit, beschränkten Egoismus, als all das an, worauf subtil beschreibende Ichpsychologie pochen kann. Im authentischen bürgerlichen Geiste ist der Einzelne für Huxley zugleich alles – weil er nämlich einmal das Prinzip der Eigentumsordnung abgab – und nichts, absolut ersetzbar als bloßer Träger des Eigentums. Das ist der Preis, den die Ideologie des Individualismus für die eigene Unwahrheit zu entrichten hat. Das fabula docet des Romans ist nihilistischer, als es der Humanität recht sein kann, die er proklamiert. Damit aber widerfährt Unrecht gerade dem Tatsächlichen, auf dem der positivistische Nachdruck liegt. Mit allen ausgeführten Utopien teilt die Huxleysche den Aspekt von Eitelkeit. Es ist anders gegangen und wird weiter anders gehen. Nicht die exakte Phantasie versagt, sondern der Blick in die ferne Zukunft als solcher, das Erraten der Faktizität des Nichtseienden, ist mit der Ohnmacht von
Vermessenheit geschlagen. Das antithetische Moment der Dialektik läßt sich nicht konsequenzlogisch, etwa durch den Oberbegriff der Aufklärung, eskamotieren. Wer das versucht, scheidet das nicht Subjekteigene, nicht selber »Geistige«, sich selbst Durchsichtige aus, das den Triebstoff der dialektischen Bewegung liefert. Die ausgepinselte Utopie, wie sehr auch mit materialistisch-technologischen Elementen versetzt und naturwissenschaftlich korrekt, ist dem Ansatz nach ein Rückfall in die Identitätsphilosophie, den Idealismus. Darum mißrät ihr die ironische »Richtigkeit«, um die Huxleys Verlängerungen sich bemühen. So gewiß der seiner selbst unbewußte Begriff totaler Aufklärung dem Umschlag in Irrationalität zutreibt, so wenig läßt aus ihm sich deduzieren, ob es sich ereignen und ob es dabei sein Bewenden haben wird. Die heraufdämmernden politischen Katastrophen können die Fluchtbahn der technischen Zivilisation nicht unberührt lassen. ›Ape and Essence‹ ist der einigermaßen hastige Versuch, einen Fehler zu korrigieren, der nicht von mangelnder Kenntnis der Atomphysik, sondern von der linearen Geschichtskonzeption herrührt und darum durch Korrekturen, die Verarbeitung zusätzlicher Stoffe, nicht sich überwinden läßt. War die Plausibilität der Prognosen von Brave New World allzu simpel, so tragen die des zweiten Zukunftsbuches, etwa die Teufelsreligion, ein Stigma der Unwahrscheinlichkeit, das inmitten der realistischen Romantechnik durch den Hinweis auf die philosophische Allegorik kaum zu verteidigen ist. Im unvermeidlichen Denkfehler aber rächt sich die ideologische Befangenheit der Konzeption. Die Haltung bleibt unwillentlich jener großbürgerlichen verwandt, die souverän versichert, keineswegs aus eigenem Interesse den Fortbestand der Profitwirtschaft zu befürworten, sondern um der Menschen willen. Diese seien noch nicht reif für den Sozialismus. Hätten sie nichts mehr zu arbeiten, so wüßten sie nichts mit ihrer Zeit anzufangen. Derlei Weisheiten sind nicht bloß durch ihren Gebrauch kompromittiert, sondern ohne Erkenntnisgehalt, weil sie ebenso »die Menschen« als Gegebenheiten verdinglichen, wie den Betrachter als freischwebende Instanz verhimmeln. Solche Kälte wohnt im Innersten von Huxleys Gefüge. Voll fiktiver Sorge um das Unheil, das die verwirklichte Utopie der Menschheit antun könnte, schiebt er das weit dringlichere und realere Unheil von sich, das die Utopie hintertreibt. Müßig, darüber zu klagen, was aus den Menschen wird,
wenn Hunger und Sorge aus der Welt verschwunden sein werden. Denn sie ist deren Beute kraft der Logik eben jener Zivilisation, der der Roman nichts Schlimmeres nachzusagen weiß als die Langeweile des ihr prinzipiell nicht zu erreichenden Schlaraffenlandes. Zugrunde liegt, trotz aller Empörung über das Unwesen, eine Konstruktion der Geschichte, die Zeit hat. Dieser wird zugeschoben, was an den Menschen wäre. Das Verhältnis zu ihr ist parasitär. Der Roman überträgt die Schuld der Gegenwart gleichsam auf die Ungeborenen. Darin reflektiert sich das unselige »Es soll nicht anders werden«, Endprodukt der urprotestantischen Verquickung von Einkehr und Repression. Weil der Mensch erbsündig und auf Erden des Besseren nicht fähig sei, wird die Verbesserung der Welt selber in die Sünde umgebogen. Das Blut der Ungeborenen aber schlägt dem Roman nicht an. Er versagt aus der Schwäche eines mit oft sehr großartigen Erfindungen ausgeschmückten Leerschemas. Weil die Veränderung der Menschen nicht kalkuliert werden kann und der vorgreifenden Imagination sich entzieht, wird sie ersetzt durch die Karikatur der Menschen von heute, nach dem uralten und vernutzten Verfahren der »Satire«. Die Fiktion der Zukunft verbeugt sich vor der Allmacht des Gegenwärtigen: was noch nicht war, wird komisch durch den minderen Effekt, daß es bloß dem gleicht, was ohnehin ist, wie Götter in Offenbachschen Operetten. Fürs Bild des Fernsten wird die Ansicht unterschoben, die das umgekehrte Opernglas vom Nächsten bietet. Der Formtrick, von Zukünftigem als von Vergangenem zu berichten, verleiht dem Gehalt ein abstoßend Einverstandenes. Die Groteske, die das Gegenwärtige durch Konfrontation mit seiner eigenen Verlängerung in die Zukunft ereilt, hat dieselben Lacher auf ihrer Seite wie naturgetreue Darstellungen mit vergrößerten Köpfen. Der pathetische Begriff des ewigen Menschen bescheidet sich zum menschenunwürdigen des Normalen von gestern, heute und morgen. Nicht das kontemplative Moment als solches, das der Roman mit aller Philosophie und Darstellung teilt, ist ihm vorzuwerfen, sondern daß er nicht selber in die Reflexion das Moment einer Praxis hineinnimmt, welche das verruchte Kontinuum sprengte. Die Menschheit hat nicht zwischen totalitärem Weltstaat und Individualismus zu wählen. Ist die große historische Perspektive überhaupt mehr als die Fata Morgana des verfügenden Blicks, so geht sie auf die Frage, ob die Gesellschaft
schließlich sich selbst bestimmen oder die tellurische Katastrophe herbeiführen wird.
Fußnoten 1 Schumann schreibt einmal, in seiner Jugend habe er seinem Instrument, dem Klavier – dem Mittel –, etwas Besonderes bieten wollen, in seiner Reife aber rein an der Musik – dem Zweck – sich interessiert. Aber die fraglose Überlegenheit seiner frühen Werke über die späten ist nicht zu trennen von dem unablässig produktiven Phantasiereichtum des Klaviersatzes, der das Helldunkel, die gebrochene harmonische Farbe, ja die Dichte des kompositorischen Gefüges erst hervorbringt. Künstler realisieren nicht von sich aus die »Idee«. Diese fällt vielmehr technologischen Leistungen zu, oft der unerhellten Spielerei.
Zeitlose Mode Zum Jazz
1 Über mehr als vierzig Jahre, seit 1914 in Amerika die ansteckende Begeisterung für den Jazz ausbrach, hat dieser als Massenphänomen sich behauptet. Die Prozedur, deren Vorgeschichte bis auf gewisse Liedchen wie ›Turkey in the Straw‹ und ›Old Zip Coon‹ aus der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts zurückdatiert, blieb im wesentlichen, allen Erklärungen propagandistischer Historiker zum Trotz, unverändert. Jazz ist Musik, die bei simpelster melodischer, harmonischer, metrischer und formaler Struktur prinzipiell den musikalischen Verlauf aus gleichsam störenden Synkopen zusammenfügt, ohne daß je an die sture Einheit des Grundrhythmus, die identisch durchgehaltenen Zählzeiten, die Viertel gerührt würde. Das will nicht heißen, es sei im Jazz nichts geschehen. So wurde das einfarbige Klavier aus der Vorherrschaft, die es im Ragtime innehatte, von kleinen Ensembles, meist Bläsern, verdrängt; so haben die wild sich gebärdenden Praktiken der frühen Jazzbands aus dem Süden, vor allem New Orleans, und aus Chicago sich mit zunehmender Kommerzialisierung und breiterer Rezeption gemildert, um stets in fachmännischen Versuchen wieder belebt zu werden, die dann aber regelmäßig, mochten sie Swing oder Bebop heißen, abermals dem Geschäft verfielen und rasch ihre Schärfe verloren. Vollends ist das Prinzip selbst, das sich zu Anfang übertreibend hervorheben mußte, mittlerweile so selbstverständlich geworden, daß es jener Akzente auf den schlechten Taktteilen entraten kann, deren man früher bedurfte. Wer heute noch mit solchen Akzenten musizierte, würde als corny verspottet, altmodisch wie Abendkleider von 1927. Widerspenstigkeit hat sich in Glätte zweiten Grades verwandelt, die Reaktionsform des Jazz derart sich niedergeschlagen, daß eine ganze Jugend primär in Synkopen hört und den ursprünglichen Konflikt zwischen diesen und dem Grundmetron kaum mehr austrägt. All das ändert aber nichts an einer Immergleichheit, die das Rätsel aufgibt, wieso Millionen von Menschen des monotonen Reizes immer noch nicht überdrüssig
sind. Der heute als Kunstredakteur des Magazins ›Life‹ weltbekannte Winthrop Sargeant, dem das beste, zuverlässigste und besonnenste Buch über den Gegenstand zu danken ist, schrieb vor siebzehn Jahren, daß der Jazz keineswegs ein neues musikalisches Idiom, sondern »noch in seinen komplexesten Erscheinungen eine sehr einfache Angelegenheit unablässig wiederholter Formeln« [ 99 ] sei. So unbefangen läßt sich das wohl nur in Amerika wahrnehmen: in Europa, wo der Jazz noch nicht zur alltäglichen Einrichtung wurde, neigen zumal jene Gläubigen, die ihn weltanschaulich betreiben, dazu, ihn als Durchbruch ursprünglicher und ungebändigter Natur, als Triumph über die musealen Kulturgüter mißzuverstehen. So wenig aber Zweifel an den afrikanischen Elementen des Jazz sein kann, so wenig auch daran, daß alles Ungebärdige in ihm von Anfang an in ein striktes Schema eingepaßt war und daß dem Gestus der Rebellion die Bereitschaft zu blindem Parieren derart sich gesellte und immer noch gesellt, wie es die analytische Psychologie vom sadomasochistischen Typus lehrt, der gegen die Vaterfigur aufmuckt und dennoch insgeheim sie bewundert, ihr es gleichtun möchte und die verhaßte Unterordnung wiederum genießt. Eben diese Tendenz leistete der Standardisierung, kommerziellen Ausschlachtung und Erstarrung des Mediums Vorschub. Nicht etwa haben erst böse Geschäftsleute von außen der Stimme der Natur ein Leids getan, sondern der Jazz besorgt es selber und zieht durch die eigenen Gebräuche den Mißbrauch herbei, über den dann die Puristen des unverwässerten reinen Jazz sich entrüsten. Schon die Negro Spirituals, Vorformen des Blues, mögen als Sklavenmusik die Klage über die Unfreiheit mit deren unterwürfiger Bestätigung verbunden haben. Übrigens fällt es schwer, die authentischen Negerelemente des Jazz zu isolieren. Das weiße Lumpenproletariat hatte offenbar ebenfalls an seiner Vorgeschichte teil, ehe er ins Scheinwerferlicht einer Gesellschaft gerückt ward, die auf ihn zu warten schien, mit seinen Impulsen durch Cake-walk und Steptänze längst vertraut. Gerade der schmale Vorrat an Verfahrungsweisen und Eigentümlichkeiten jedoch, der rigorose Ausschluß jeglichen unreglementierten Ansatzes, macht die Beharrlichkeit einer nur notdürftig und meist zu Reklamezwecken mit Änderungen ausstaffierten Spezialität so schwer verständlich. Während der Jazz inmitten einer sonst nicht eben statischen Phase sich für eine kleine
Ewigkeit eingerichtet hat und nicht die mindeste Bereitschaft zeigt, von seinem Monopol etwas nachzulassen, sondern einzig die, sich je nachdem hochtrainierten oder undifferenziert rückständigen Hörern anzupassen, hat er doch vom Charakter der Mode nichts eingebüßt. Was da vierzig Jahre lang veranstaltet wird, ist so ephemer, als währte es eine Saison. Jazz ist eine Manier der Interpretation. Wie bei Moden geht es um Aufmachung und nicht um die Sache; leichte Musik, die ödesten Produkte der Schlagerindustrie werden frisiert, nicht etwa Jazz als solcher komponiert. Die Fanatiker – amerikanisch nennen sie sich abgekürzt fans –, die das wohl spüren, berufen sich deshalb mit Vorliebe auf die improvisatorischen Züge der Darbietung. Aber das sind Flausen. Jeder gewitzigte Halbwüchsige in Amerika weiß, daß die Routine heutzutage der Improvisation kaum mehr Raum läßt und daß, was auftritt, als wäre es spontan, sorgfältig, mit maschineller Präzision einstudiert ist. Selbst dort aber, wo einmal wirklich improvisiert ward, und in den oppositionellen Ensembles, die vielleicht heute noch auf dergleichen zu ihrem Vergnügen sich einlassen, bleiben die Schlager das einzige Material. Daher reduzieren sich die sogenannten Improvisationen auf mehr oder minder schwächliche Umschreibungen der Grundformeln, unter deren Hülle das Schema in jedem Augenblick hervorlugt. Noch die Improvisationen sind in weitem Maß genormt und kehren stets wieder. Was im Jazz überhaupt vorkommen darf, ist so beschränkt wie irgendein besonderer Schnitt von Kleidern. Angesichts der Fülle der Möglichkeiten, musikalisches Material selbst in der Unterhaltungssphäre, falls es deren durchaus bedarf, zu erfinden und zu behandeln, zeigt der Jazz sich völlig verarmt. Was er von den verfügbaren musikalischen Techniken anwendet, ist ganz willkürlich. Allein das Verbot, die Grundzählzeit mit dem Fortgang eines Stückes lebendig abzuwandeln, engt das Musizieren derart ein, daß ihm eifrig zu willfahren eher psychologische Regression als ästhetisches Stilbewußtsein erheischt. Nicht minder fesseln die Restriktionen metrischer, harmonischer, formaler Art. Die Immergleichheit des Jazz besteht insgesamt nicht in einer tragenden Organisation des Materials, in der wie in einer artikulierten Sprache Phantasie frei und ungehemmt sich regen könnte, sondern in der Erhebung einiger definierter Tricks, Formeln und Clichés zur Ausschließlichkeit. Es ist, als klammere man sich krampfhaft an den Reiz des en vogue und verleugne den Ausdruck des Bildes einer
Jahreszahl, indem man das Kalenderblatt abzureißen sich weigert. Mode selbst inthronisiert sich als Bleibendes und büßt eben darüber die Würde der Mode ein, die ihrer Vergänglichkeit.
2 Um zu verstehen, warum ein paar Rezepte eine ganze Sphäre umschreiben, als ob es nichts anderes gäbe, wird man von all den Phrasen über Vitalität und Rhythmus der Zeit sich freimachen müssen, welche die Reklame, ihr journalistischer Anhang und schließlich auch die Opfer herbeten. Gerade rhythmisch ist, womit der Jazz aufwartet, äußerst bescheiden. Die ernste Musik seit Brahms hatte alles, was am Jazz etwa auffällt, längst aus sich heraus hervorgebracht, ohne dabei zu verweilen. Vollends fragwürdig ist es um die Vitalität eines noch in den Abweichungen standardisierten Fließbandverfahrens bestellt. Die Jazzideologen zumal in Europa begehen den Fehler, eine Summe psychotechnisch kalkulierter und ausprobierter Effekte für den Ausdruck jener Seelenlage zu halten, deren Trugbild von dem Betrieb im Hörer erweckt wird, etwa wie wenn man jene Filmstars, deren ebenmäßige oder leidvolle Gesichter nach irgendwelchen Porträts berühmter Leute stilisiert sind, eben darum für Wesen wie Lucrezia Borgia oder die Lady Hamilton hielte, falls nicht gar diese selber schon ihre eigenen Mannequins gewesen sein sollten. Was enthusiastisch verstockte Unschuld als Urwald ansieht, ist durch und durch Fabrikware, selbst dort noch, wo in Sonderveranstaltungen Spontaneität als Sparte des Geschäfts ausgestellt wird. Die paradoxe Unsterblichkeit des Jazz gründet in der Ökonomie. Die Konkurrenz des Kulturmarkts hat eine Anzahl von Zügen, wie Synkopierung, halb vokalen, halb instrumentalen Klang, gleitende impressionistische Harmonik, üppige Instrumentation nach dem Grundsatz »Bei uns wird nicht gespart«, als besonders erfolgreich erwiesen. Diese sind dann aussortiert und kaleidoskopisch zu immer neuen Kombinationen zusammengesetzt worden, ohne daß zwischen dem Schema des Ganzen und den kaum minder schematischen Details je auch nur die leiseste Wechselwirkung stattgehabt hätte. Die Resultate der Konkurrenz, die vielleicht selber schon nicht so frei war, sind allein übriggelassen worden, das ganze Verfahren eingeschliffen, insbesondere wohl durchs Radio. Die Investitionen, die in den name bands, den durch wissenschaftlich gelenkte Propaganda berühmten Jazzorchestern stecken, und wohl mehr noch das Geld, das die
Firmen, welche Radiozeit für Reklamezwecke kaufen, für musikalische best-seller-Programme wie die hit parade aufwenden, machen jede Divergenz zum Risiko. Darüber hinaus bedeutet die Standardisierung immer festere Dauerherrschaft über die Hörermassen und ihre conditioned reflexes. Man erwartet, daß sie einzig das verlangen, woran sie gewöhnt sind, und in Wut geraten, wenn etwas die Ansprüche enttäuscht, deren Erfüllung ihnen als Menschenrecht des Kunden gilt. Würde der Versuch, mit etwas anders Geartetem durchzudringen, in der leichten Musik überhaupt noch gewagt, so wäre er durch die ökonomische Konzentration vorweg hoffnungslos. In der Unüberwindlichkeit eines der eigenen Art nach Zufälligen und Willkürlichen spiegelt sich etwas von der Willkür gegenwärtiger sozialer Kontrolle. Je vollständiger die Kulturindustrie Abweichungen ausmerzt und damit die Entwicklungsmöglichkeiten des eigenen Mediums beschneidet, um so mehr nähert sich der lärmend dynamische Betrieb der Statik an. Wie kein Jazzstück, im musikalischen Sinn, Geschichte kennt; wie alle seine Bestandteile umzumontieren sind, und wie kein Takt aus der Logik des Fortgangs folgt, so wird die zeitlose Mode zum Gleichnis einer planmäßig eingefrorenen Gesellschaft, gar nicht so unähnlich dem Schreckbild aus Huxleys ›Brave New World‹. Ökonomen mögen erwägen, ob darin eine Tendenz der überakkumulierenden Gesellschaft zur Rückbildung aufs Stadium der einfachen Reproduktion von der Ideologie sei's ausgedrückt, sei's getroffen ist. Die Befürchtung, die der am Ende gründlich enttäuschte Thorstein Veblen in seinen Spätschriften hegt: daß das wirtschaftliche und gesellschaftliche Kräftespiel in einem negativ-geschichtslosen hierarchischen Zustand, einer Art potenziertem Feudalsystem stillgelegt werde, hat zwar wenig Wahrscheinlichkeit für sich, wohnt jedoch dem Jazz als dessen Wunschbild inne. Die imago der technischen Welt enthält ohnehin ein Geschichtsloses, das sie zum mythischen Blendwerk von Ewigkeit tauglich macht. Die geplante Produktion scheint dem Lebensprozeß, aus dem sie das Ungelenkte, nicht Absehbare und nicht Vorausberechnete ausscheidet, damit das eigentlich Neue zu entziehen, ohne das Geschichte schwer gedacht werden kann, und die Form des standardisierten Massenprodukts teilt auch dem zeitlich aufeinander Folgenden etwas vom Ausdruck der
Immergleichheit mit. An einer Lokomotive von 1950 wirkt paradox, daß sie anders ist als eine von 1850: darum werden die modernsten Schnellzüge angelegentlich mit Photographien altertümlicher dekoriert. Seit Apollinaire haben die Surrealisten, die manches mit dem Jazz verbindet, auf diese Erfahrungsschicht angesprochen: »Ici même les automobiles ont l'air d'être anciennes«. Bewußtlos sind Spuren dessen in die zeitlose Mode eingegangen; der Jazz, der sich nicht umsonst mit der Technik solidarisiert, wirkt als streng wiederholte, doch gegenstandslose Kulthandlung mit am »technologischen Schleier« und täuscht vor, das zwanzigste Jahrhundert wäre ein Ägypten von Sklaven und endlosen Dynastien. Täuscht vor: denn während die Technik nach dem Modell des einförmig kreisenden Rades symbolisiert wird, entfalten sich ihre eigenen Kräfte ins Ungemessene, und sie ist von einer Gesellschaft umklammert, deren Spannungen weitertreiben, deren Irrationalität fortbesteht und die den Menschen mehr an Geschichte angedeihen läßt, als ihnen lieb ist. Zeitlosigkeit wird auf die Technik von einer Weltverfassung projiziert, die sich nicht mehr verändern möchte, um nicht zu stürzen. Die falsche Unvergänglichkeit jedoch wird Lügen gestraft von dem schlecht Zufälligen und Minderen, das sich als allgemeines Prinzip einrichtet. Die Herren der tausendjährigen Reiche von heutzutage sehen wie Verbrecher aus, und die perennierende Gebärde der Massenkultur ist die Asozialer. Daß gerade dem Synkopentrick die musikalische Diktatur über die Massen zufiel, mahnt an Usurpation, die bei aller Rationalität der Mittel im Endzweck irrationale totalitäre Kontrolle. Im Jazz liegen Mechanismen, welche in Wahrheit der gesamten gegenwärtigen Ideologie, aller Kulturindustrie angehören, sichtbar obenauf, weil sie ohne technische Kenntnis nicht ebenso leicht sich festnageln lassen wie etwa im Film. Doch auch der Jazz trifft seine Vorsichtsmaßnahmen. Parallel zur Standardisierung läuft Pseudoindividualisierung. Je mehr die Hörer an die Kandare genommen werden, desto weniger dürfen sie es merken. Es wird ihnen weisgemacht, sie hätten es mit einer ihnen auf den Leib geschnittenen »Konsumentenkunst« zu tun. Die spezifischen Effekte, mit denen der Jazz sein Schema ausfüllt, insbesondere die Synkopierung selber, präsentieren sich jeweils als Ausbruch oder Karikatur unerfaßter Subjektivität – virtuell der des Zuhörers – oder auch als pikfeine Nuance zu dessen höherer Ehre. Nur fängt sich die
Methode im eigenen Netz. Während sie unablässig dem Hörer etwas Apartes versprechen, seine Aufmerksamkeit anstacheln, vom grauen Einerlei sich abheben muß, darf sie doch andererseits selbst nie den abgesteckten Bannkreis überschreiten; sie muß immer neu und immer dasselbe sein. Daher sind die Abweichungen ebenso standardisiert wie die Standards und nehmen sich im gleichen Augenblick zurück, in dem sie auftreten: der Jazz, wie alle Kulturindustrie, erfüllt Wünsche nur, um sie zugleich zu versagen. So sehr das Jazz-Subjekt, der Stellvertreter des Hörers in der Musik, sich als Sonderling aufführt, so wenig ist es doch es selber. Die individuellen Züge, die mit der Norm nicht übereinstimmen, sind von dieser geprägt, Male der Verstümmlung. Voll Angst identifiziert es sich mit der Gesellschaft, die es fürchtet, weil sie es zu dem machte, was es ist. Das verleiht dem Jazzritual den affirmativen Charakter: den der Aufnahme in die Gemeinde unfreier Gleicher. In deren Zeichen kann der Jazz mit teuflisch gutem Gewissen sich auf die Hörermassen selbst berufen. Standardverfahren, die unbestritten herrschen und über sehr lange Zeiträume gehandhabt werden, bringen Standardreaktionen hervor. Viel zu harmlos wäre die Ansicht, es ließe bei geänderter Programmpolitik, wie sie wohlmeinenden Erziehern vorschwebt, den vergewaltigten Menschen etwas Besseres oder auch nur Abwechslung sich aufdrängen. Ernsthafte Änderungen der Programmpolitik würden, sofern sie nicht über den ideologischen Bereich der Kulturindustrie weit hinausgriffen, in der Tat entrüstet abgelehnt. Die Bevölkerung ist so an den Unfug gewöhnt, der ihr widerfährt, daß sie selbst dann nicht auf ihn verzichten mag, wenn sie ihn halb durchschaut; im Gegenteil, sie muß die eigene Begeisterung andrehen, um sich die Schmach als Gunst einzureden. Der Jazz entwirft Schemata eines gesellschaftlichen Verhaltens, zu dem die Menschen ohnehin genötigt sind. An ihm exerzieren sie jene Verhaltensweisen und lieben ihn obendrein, weil er ihnen das Unvermeidliche leichter macht. Er reproduziert seine eigene Massenbasis, ohne daß doch darum die weniger schuld wären, die ihn hervorbringen. Die Ewigkeit der Mode ist ein circulus vitiosus.
3 Die Anhänger des Jazz gliedern sich, wie erneut von David Riesman nachdrücklich hervorgehoben wurde [ 100 ] , in zwei recht deutlich getrennte Gruppen. Im Innern hausen die Experten oder solche, die sich dafür halten – denn sehr oft sind die Fanatiker, die mit einer selbst bereits lancierten Terminologie um sich werfen und mit gewichtigem Anspruch Jazzstile unterscheiden, kaum fähig, in präzisen, technisch-musikalischen Begriffen Rechenschaft von dem zu geben, wovon sie hingerissen sein wollen. Meist halten sie sich, in einer Konfusion, die heute allenthalben zu beobachten ist, für avantgardistisch. Unter den Symptomen des Zerfalls von Bildung ist nicht das letzte, daß der wie sehr auch fragwürdige Unterschied von autonomer »hoher« und kommerzieller »leichter« Kunst zwar nicht kritisch durchschaut, dafür aber überhaupt nicht mehr wahrgenommen wird. Nachdem einige kulturdefaitistische Intellektuelle diese gegen jene ausspielten, haben die banausischen Champions der Kulturindustrie auch noch die stolze Zuversicht, an der Spitze des Zeitgeistes zu marschieren. Die mittlerweile selber nach dem Schema lowbrow, middlebrow und highbrow für Hörer erster, zweiter und dritter Programme organisierte Scheidung von »Kulturniveaus« ist widerwärtig. Aber sie läßt sich nicht dadurch überwinden, daß sich lowbrow-Sekten zu highbrows erklären. Das berechtigte Unbehagen an der Kultur bietet den Vorwand, aber keinen Grund dafür, eine hochrationalisierte Sparte der Massenproduktion, die jene Kultur erniedrigt und ausverkauft, ohne im mindesten sie zu transzendieren, als Aufbruch eines neuen Weltgefühls zu verherrlichen und mit dem Kubismus, der Lyrik von Eliot und der Prosa von Joyce durcheinanderzubringen. Regression ist nicht Ursprung, aber dieser die Ideologie für jene. Wer sich von der anwachsenden Respektabilität der Massenkultur dazu verführen läßt, einen Schlager für moderne Kunst zu halten, weil eine Klarinette falsche Töne quäkt, und einen mit dirty notes versetzten Dreiklang für atonal, hat schon vor der Barbarei kapituliert. Die zur Kultur herabgesunkene Kultur wird von der Strafe ereilt, daß man sie, je mehr sie ihr Unwesen ausbreitet, um so hilfloser mit ihren eigenen Abfallprodukten verwechselt. Selbstbewußtes
Analphabetentum, dem der Stumpfsinn des tolerierten Exzesses fürs Reich der Freiheit gilt, zahlt dem Bildungsprivileg heim. In schwächlicher Rebellion sind sie schon wieder bereit zu ducken, ganz so wie der Jazz es ihnen vormacht, indem er Stolpern und Zufrühkommen mit dem kollektiven Marschschritt integriert. Auffällig ist eine gewisse Ähnlichkeit des Typus des Jazzenthusiasten mit manchen jugendlichen Adepten des logischen Positivismus, die mit demselben Eifer die philosophische Bildung abschütteln wie jene die musikalische. Die Begeisterung ist auf Ernüchterung übergesprungen, die Affekte heften sich an eine Technik, feindlich allem Sinn. Man fühlt sich geborgen in einem System, das so wohl definiert ist, daß keine Fehler unterlaufen können, und die verdrängte Sehnsucht nach dem, was draußen wäre, äußert sich in unduldsamem Haß und einer Miene, in der das Besserwissen des Eingeweihten mit dem Anspruch des Illusionslosen sich paaren. Auftrumpfende Trivialität, das Befangensein in der Oberfläche als zweifelsfreie Gewißheit, verklärt die feige Abwehr jeglicher Selbstbesinnung. All diese altgewohnten Reaktionsformen haben neuerdings ihre Unschuld verloren, werfen sich als Philosophie auf und werden damit erst ganz böse. Um die Sachverständigen einer Sache, an der es wenig zu verstehen gibt außer Spielregeln, kristallisieren sich die unartikulierten, vagen Anhänger. Meist berauschen sie sich an dem Ruhm der Massenkultur, den diese manipuliert; sie können ebensogut sich in Klubs zur Verehrung von Filmstars zusammenfinden oder Autogramme anderer Prominenzen sammeln. Ihnen kommt es auf die Hörigkeit als solche, auf Identifikation an, ohne daß sie viel Aufhebens von dem jeweiligen Inhalt machten. Sind es Mädchen, so haben sie sich geschult, bei der Stimme eines crooner, eines Jazzsängers, in Ohnmacht zu fallen. Ihr auf ein Lichtsignal einschnappender Beifall wird bei populären Radioprogrammen, deren Sendung sie beiwohnen dürfen, gleich mit übertragen; sie nennen sich selbst jitterbugs, Käfer, die Reflexbewegungen ausführen, Schauspieler der eigenen Ekstase. Überhaupt von etwas hingerissen sein, eine vermeintlich eigene Sache haben, entschädigt sie für ihr armes und bilderloses Dasein. Der Gestus der Adoleszenz, entschlossen für diesen oder jenen von einem zum andern Tag zu »schwärmen«, mit der immer gegenwärtigen Möglichkeit, morgen schon als Narrheit zu
verdammen, was man heute eifernd anbetet, ist sozialisiert. Freilich wird in Europa leicht übersehen, daß die Jazzanhänger dort keineswegs denen in Amerika gleichen. Das Exzessive, Unbotmäßige, das am Jazz in Europa immer noch mitgefühlt wird, fehlt heute in Amerika. Die Erinnerung an die anarchischen Ursprünge, die der Jazz mit allen rezipierten Massenbewegungen der Gegenwart teilt, ist gründlich verdrängt, wiewohl sie unterirdisch weitergeistern mag. Jazz als Institution ist vorgegeben, taken for granted, stubenrein und gut gewaschen. Das Moment der Gefügigkeit im parodistischen Überschwang jedoch teilen die Jazzbegeisterten aller Länder. Darin mahnt ihr Spiel an den tierischen Ernst von Gefolgschaften in totalitären Staaten, mag auch der Unterschied von Spiel und Ernst auf den von Leben und Tod hinauslaufen. Die Reklame für irgendeinen Schlager, den eine berühmte name band spielte, lautete: »Follow Your Leader, X.Y.« Während in europäischen Diktaturstaaten die Führer beider Schattierungen wider die Dekadenz des Jazz eiferten, hatte die Jugend der anderen schon längst sich von den synkopierten Gehtänzen, deren Kapelle nicht umsonst von der Militärmusik abstammt, elektrisieren lassen wie von Märschen. Die Zweiteilung in Kerntruppen und unartikulierte Gefolgsleute hat etwas von der zwischen der Partei-Elite und den restlichen Volksgenossen.
4 Das Jazzmonopol beruht auf der Ausschließlichkeit des Angebots und der ökonomischen Übermacht dahinter. Aber es wäre längst gebrochen, enthielte nicht die allgegenwärtige Spezialität ein Allgemeines, auf das die Menschen ansprechen. Der Jazz muß eine »Massenbasis« besitzen, die Technik muß an ein Moment in den Subjekten anknüpfen, das freilich wieder auf die soziale Struktur und auf typische Konflikte zwischen Ich und Gesellschaft zurückverweist. Auf der Suche nach jenem Moment wird man zunächst an den Excentric-Clown denken oder Parallelen mit älteren Filmkomikern ziehen. Die Kundgabe individueller Schwäche wird widerrufen, das Stolpern als eine Art höherer Geschicklichkeit bestätigt. In der Integration des Asozialen berührt sich das Schema des Jazz mit dem ebenso standardisierten des Kriminalromans und seiner Ableger, wo regelmäßig die Welt so verzerrt – oder enthüllt – ist, als wäre das Asoziale, das Verbrechen die alltägliche Norm, und wo man zugleich durch den unvermeidlichen Sieg der Ordnung die lockende und bedrohliche Anfechtung wegzaubert. Dem allen wäre wohl einzig die psychoanalytische Theorie angemessen. Ziel des Jazz ist die mechanische Reproduktion eines regressiven Moments, eine Kastrationssymbolik, die zu bedeuten scheint: gib den Anspruch deiner Männlichkeit auf, laß dich kastrieren, wie der eunuchenhafte Klang der Jazzband es verspottet und proklamiert, und du wirst dafür belohnt, in einen Männerbund aufgenommen, welcher das Geheimnis der Impotenz mit dir teilt, das im Augenblick des Initiationsritus sich lüftet 1 . Daß diese Deutung des Jazz, von dessen sexuellen Implikationen die schockierten Feinde eine bessere Vorstellung haben als die Apologeten, nicht willkürlich und zu weit hergeholt ist, ließe an zahllosen Details der Musik wie der Schlagertexte sich belegen. In dem Buch ›American Jazz Music‹ beschreibt Wilder Hobson einen frühen Jazzkapellmeister namens Mike Riley, der als musikalischer Exzentrik wahre Verstümmelungen an den Instrumenten muß verübt haben. »The band squirted water and tore clothes, and Riley offered perhaps the greatest of trombone comedy acts, an insane rendition of Dinah during which he repeatedly dismembered the horn and reassembled
it erratically until the tubing hung down like brass furnishings in a junk shop, with a vaguely harmonic honk still sounding from one or more of the loose ends.« [ 101 ] Längst zuvor hatte Virgil Thomson die Leistungen des berühmten Jazztrompeters Armstrong mit denen der großen Kastraten des achtzehnten Jahrhunderts verglichen. Für die ganze Sphäre steht der Sprachgebrauch ein, der zwischen long-haired und short-haired musicians unterscheidet. Die letzteren sind die Jazzleute, die Geld verdienen und sich gepflegtes Aussehen leisten können; die andern, etwa der Karikatur des slawischen Pianisten mit der langen Mähne nachgebildet, fallen unter ein geringschätziges Stereotyp des zugleich hungerleidenden und über konventionelle Anforderungen sich frech hinwegsetzenden Künstlers. Soweit der manifeste Inhalt jenes Sprachgebrauchs. Wofür aber das abgeschnittene Haar einsteht, bedarf kaum der Erläuterung. Im Jazz werden die Philister, die über Simson sind, in Permanenz erklärt. Wahrhaft die Philister. Denn während die Kastrationssymbolik tief vergraben ist im Vollzug des Jazz, durch die Institutionalisierung des Immergleichen vom Bewußtsein abgezogen, wenn auch vielleicht darum um so mächtiger, laufen die Praktiken des Jazz sozial auf die fast bis in die Physiologie des Subjekts hinein fortgesetzte Anerkennung einer traumlos-realistischen, von jeglicher Erinnerungsspur ans nicht ganz Eingefangene gereinigten Welt hinaus. Man muß, um die Massenbasis des Jazz zu begreifen, sich Rechenschaft geben von dem Tabu, das in Amerika, allem offiziellen Kunstbetrieb zum Trotz, über dem künstlerischen Ausdruck, sogar den Ausdrucksregungen von Kindern liegt – die progressive education, die sie zum freien Produzieren anhält, ja Ausdrucksfähigkeit zum Selbstzweck erklärt, ist einzig eine Reaktion darauf. Während der Künstler teils toleriert, teils als »Unterhalter«, als Funktionär in die Konsumsphäre eingeschaltet, wie ein höher bezahlter Oberkellner der Forderung nach Diensten unterworfen wird, ist das Stereotyp des Künstlers zugleich das des Introvertierten, des egozentrischen Narren, vielfach des Homosexuellen. Mögen immer solche Eigenschaften den Berufskünstlern nachgesehen, mag selbst ein skandalöses Privatleben als Teil der Unterhaltung von ihnen erwartet werden – jeder andere macht durch die spontane, nicht vorweg gesellschaftlich gesteuerte künstlerische Regung sich bereits
verdächtig. Ein Kind, das lieber ernste Musik hört oder Klavier übt, als sich ein Baseballspiel anzuschauen oder fernzusehen, wird in seiner Klasse oder in den anderen Gruppen, denen es angehört und die ihm weit mehr Autorität verkörpern als Eltern oder Lehrer, als sissy, als weibischer Schwächling, zu leiden haben. Der Ausdrucksregung selber gilt bereits die gleiche Kastrationsdrohung, die im Jazz symbolisiert und mechanischrituell bewältigt wird. Trotzdem jedoch ist gerade während der Entwicklungsjahre das Ausdrucksbedürfnis, das mit Kunst ihrer objektiven Qualität nach gar nichts zu tun zu haben braucht, nicht ganz auszutreiben. Die Halbwüchsigen sind noch nicht völlig vom Erwerbsleben und dessen seelischem Korrelat, dem »Realitätsprinzip«, unterjocht. Ihre ästhetischen Impulse werden von der Unterdrückung nicht einfach ausgelöscht, sondern abgelenkt. Der Jazz ist das bevorzugte Medium solcher Ablenkung. Den Massen der Jugendlichen, die der zeitlosen Mode Jahr um Jahr zulaufen, vermutlich um sie nach ein paar Jahren zu vergessen, liefert er einen Kompromiß zwischen ästhetischer Sublimierung und gesellschaftlicher Anpassung. Das »unrealistische«, praktisch unverwertbare, imaginative Element wird durchgelassen, soweit es im eigenen Charakter derart sich verändert, daß es selber dem Realbetrieb unermüdlich sich anähnelt, seine Gebote in sich wiederholt, ihnen willfahrt und damit dem Bereich wieder sich eingliedert, aus dem es ausbrechen wollte. Kunst wird entkunstet: sie tritt selber als ein Stück jener Anpassung auf, der ihr eigenes Prinzip widerspricht. Von daher fällt Licht auf manche absonderlichen Züge des Jazzverfahrens. So auf die Rolle des Arrangements, die keineswegs bloß aus technischer Arbeitsteilung oder aus dem musikalischen Illiteratentum der sogenannten Komponisten zulänglich sich erklärt. Nichts darf sein, was es an sich ist; alles muß zurechtgestutzt werden, Spuren einer Zubereitung tragen, die es, indem es dem schon Bekannten sich annähert, leichter auffaßbar machen, zugleich aber auch bezeugen, daß es bestimmt ist, dem Hörer zu Willen zu sein, ohne ihn zu idealisieren, und die schließlich es kenntlich machen als ein vom Gesamtbetrieb Gebilligtes, das keinerlei Distanz beansprucht, sondern vorbehaltlos mitspielt: Musik, die sich nichts Besseres dünkt. Ebenso gehorcht dem Primat der Anpassung die spezifische Art von Geschicklichkeit, welche der Jazz von den Musikern und zu
einigem Maß auch von den Hörern, sicherlich von den Tänzern verlangt, welche die Musik imitieren wollen. Ästhetische Technik, als Inbegriff der Mittel zur Objektivierung einer autonomen Sache, wird ersetzt durch die Fähigkeit, Hindernisse zu nehmen, sich nicht durch Störungsfaktoren wie die Synkope irremachen zu lassen und dabei doch die der abstrakten Spielregel unterstellte Sonderaktion schlau durchzuführen. Der ästhetische Vollzug wird sportifiziert von einem Tricksystem. Wer seiner mächtig bleibt, erweist sich zugleich als praktisch. Die Leistung des Jazzmusikers und -kenners addiert sich zu einer Folge glücklich bestandener Tests. Der Ausdruck aber, eigentlicher Träger des ästhetischen Protests, wird ereilt von der Macht, gegen die er protestiert. Vor ihr nimmt er den Klang des Hämischen und Jämmerlichen an, der eben noch flüchtig ins Grelle und Aufreizende sich kostümiert. Das Subjekt, das sich ausdrückt, drückt eben damit aus: ich bin nichts, ich bin Dreck, es geschieht mir recht, was man mit mir macht; es ist potentiell schon einer jener Angeklagten russischen Stils, die zwar unschuldig sind, aber von Anbeginn mit dem Staatsanwalt kooperieren und keine Strafe schwer genug für sich finden. War einmal das ästhetische Bereich, als eine Sphäre eigener Gesetze, aus dem magischen Tabu hervorgegangen, welches das Heilige vom Alltäglichen sonderte und jenes rein zu halten gebot, so rächt sich nun die Profanität am Nachkommen der Magie, der Kunst. Diese wird am Leben gelassen nur, wenn sie aufs Recht der Andersheit verzichtet und der Allherrschaft der Profanität sich einordnet, an welche am Ende das Tabu überging. Nichts darf sein, was nicht ist wie das Seiende. Jazz ist die falsche Liquidation der Kunst: anstatt daß die Utopie sich verwirklichte, verschwindet sie aus dem Bilde.
Fußnoten 1 Die Theorie ist entfaltet in der 1936 in der ›Zeitschrift für Sozialforschung‹ erschienenen Studie ›Über Jazz‹ (S. 252ff.) und ergänzt in einer Kritik der Bücher von Sargeant und Hobson in den ›Studies in Philosophy and Social Science‹, 1941, S. 175.
Bach gegen seine Liebhaber verteidigt 1 Die heute herrschende musikwissenschaftliche Ansicht von Bach trifft zusammen mit der Rolle, die ihm Stagnation und Betriebsamkeit der auferstandenen Kultur zuweisen. Es soll sich in ihm, mitten im aufgeklärten Jahrhundert, nochmals die traditional verbürgte Gebundenheit, der Geist der mittelalterlichen Polyphonie, der theologisch überwölbte Kosmos offenbaren. Seine Musik sei dem Subjekt und seiner Zufälligkeit enthoben; sie töne nicht sowohl vom Menschen und seinem Inwendigen, als daß in ihr die Ordnung des Seins an sich verpflichtend laut werde. Die als unveränderlich und unausweichlich vorgestellte Struktur solchen Seins wird zum Surrogat des Sinnes: was nicht anders sein kann, als es erscheint, zur Rechtfertigung seiner selbst. An ihn halten sich alle, die, des Glaubens wie der Selbstbestimmung entwöhnt oder ihrer nicht mehr fähig, nach Autorität suchen, weil es gut wäre, geborgen zu sein. Die derzeitige Funktion seiner Musik ähnelt der ontologischen Mode: durchs Versprechen, den individualistischen Zustand kraft Setzung eines den Menschen übergeordneten, dem Dasein enthobenen, zugleich jedoch eindeutigen theologischen Inhalts entratenden, abstrakten Prinzips zu überwinden. Sie genießen die Ordnung seiner Musik, weil sie sich unterordnen dürfen. Das Werk, das einmal aus der Enge des theologischen Horizonts sich erzeugte, um ihn zu durchbrechen und in Universalität überzugehen, wird in die Schranken zurückgerufen, die es überstieg: Bach wird von der ohnmächtigen Sehnsucht zu eben dem Kirchenkomponisten degradiert, gegen dessen Amt seine Musik sich sträubte und das er nur unter Konflikten erfüllte. Was ihn von den Verfahrungsweisen seiner Epoche absetzt, wird nicht als Widerspruch seines Gehalts zu diesen verstanden, sondern taugt einzig dazu, den Nimbus handwerkerlicher Beschränktheit ins Klassische zu erhöhen. Die Reaktion, ihrer politischen Helden beraubt, bemächtigt sich vollends dessen, den sie längst unter dem schmachvollen Namen des Thomaskantors beschlagnahmt hatte. Amusische Gymnasien monopolisieren ihn, und seine Wirkung geht nicht länger, wie noch bei Schumann und Mendelssohn, von dem aus, was musikalisch in
seiner Musik sich zuträgt, sondern von Stil und Spiel, von Formel und Symmetrie, vom bloßen Gestus des Bestätigten. Indem der neureligiöse Bach in den Dienst der konvertitenhaften Begierde tritt, wird er zugleich arm, schmal, eben des spezifischen musikalischen Inhalts enteignet, von dem wiederum sein Prestige zehrt. Ihm widerfährt, was seine eifernden Protektoren am letzten Wort haben möchten, er verwandelt sich in ein neutralisiertes Kulturgut, in dem trüb das ästhetische Gelingen mit einer an sich nicht mehr substantiellen Wahrheit sich vermischt. Sie haben aus ihm einen Orgelfestspielkomponisten für wohlerhaltene Barockstädte gemacht, ein Stück Ideologie.
2 Die einfachste historische Reflexion sollte gegen das historistische Bild Bachs mißtrauisch machen. Zeitgenosse der Enzyklopädisten, starb er sechs Jahre vor der Geburt Mozarts, zwanzig nur vor der Beethovens. Nicht die kühnste Konstruktion von der »Ungleichzeitigkeit« der Musik könnte die These tragen, daß in einem einzelnen Ich substantiell sich am Leben erhält, was der Geist der Epoche auflöste, als vermöchte je die Wahrheit eines Phänomens schlicht dessen Rückständigkeit sich zu verdanken. Schlechter Individualismus und der Aberglaube ans Zeitlose finden sich zusammen: nur Willkür unternimmt es, den Einzelnen aus seiner wie immer auch polemischen Beziehung zum geschichtlichen Stand des Bewußtseins zu isolieren. Dem Einwand, Bach habe, in seiner gleichsam geschichtslosen Werkstatt, in die doch alle technischen Funde der Epoche eingingen, von jenem Zeitgeist nichts erfahren als den Pietismus der Texte seiner geistlichen Werke, also eine der Aufklärung feindliche Tendenz, wäre zu erwidern, daß der Pietismus selber, wie alle Gestalten von Restauration, die Kräfte derselben Aufklärung in sich enthielt, der er sich entgegensetzte. Das Subjekt, das vermöge der Versenkung in sich, kraft reflektierter »Innerlichkeit« der Gnade meint habhaft werden zu können, ist bereits aus der dogmatischen Ordnung entlassen und auf sich selbst gestellt, autonom in der Wahl der Heteronomie. Die Teilhabe an der Zeit bezeugen aber drastisch Sachverhalte im Gefüge von Bachs Musik. Man vergißt über dem Gegensatz der Generation Philipp Emanuels zu der des Vaters, daß dessen oeuvre die ganze Sphäre des »Galanten« einbegreift, nicht bloß in Stilmodellen wie den Französischen Suiten, in denen zuweilen die mächtige Hand genrehafte Typen des neunzehnten Jahrhunderts vorweg ein für alle Mal zu prägen scheint, sondern auch in großen durchkonstruierten Gebilden wie der Französischen Ouvertüre, wo auf Bachische Weise das Gefällige und Organisierte nicht weniger vollkommen sich durchdringt als dann im Wiener Klassizismus. Wer aber spielte das Wohltemperierte Klavier, dessen Titel zum Prozeß der Rationalisierung sich bekennt, aufgeschlossen durch, ohne stets wieder auf ein lyrisches Element zu stoßen, das mit
Differenziertheit, Individuation, Freiheit eher zu Vierzehnheiligen paßt als zu einem selbst schon fragwürdigen Bild des Mittelalters? Es sei an Fis-Dur-Präludium und Fuge aus dem ersten Band erinnert; jene Fuge, die einmal ein Komponist dem Kellerschen Tanzlegendchen verglich und in der nicht bloß subjektive Anmut unmittelbar sich darstellt, sondern wo überdies der kompositorische Verlauf selber, indem das Motiv des Zwischensatzes seinen Impuls im Verlauf des Stücks den Durchführungen mitteilt, allem regelhaften ordo der Fuge, den doch Bach selber hervorgebracht hatte, ein Schnippchen schlägt. Oder die Doppelfuge in gis-moll aus dem zweiten Band, die der späte Beethoven gut gekannt haben muß: erstaunlich nicht bloß um der bei Bach keineswegs seltenen Chromatik, sondern mehr noch um der schwebenden, gewählt vagen Harmonisierung willen, die beim Sechsachtelcharakter des Stücks unabweislich den reifsten Chopin heraufruft; das Ganze eine in zahllosen Farbfacetten gebrochene Musik, modern genau in jenem Sinne nervöser Empfindlichkeit, den der Historismus exorzieren möchte. Wer dem gegenüber von romantischen Mißverständnissen reden wollte, der müßte dem thema probandum zuliebe erst jeder spontanen Beziehung zum Sinn des musikalischen Idioms sich entschlagen, wie sie von Monteverdi bis Schönberg überhaupt als Voraussetzung dem Verständnis von Musik zugrunde lag. Aus solchen Gebilden, auf Kosten des Subjekts, nichts als die Ordnung des Seins herauszuhören anstelle des sehnsüchtig beseelten Echos, das die entsinkende im Bewußtsein findet, ergriffe nur das caput mortuum. Das Phantasma der Bachischen Ontologie kommt zustande durch die mechanische Gewalttat des Banausen, der einzig begehrt, der Kunst zu parieren, weil ihm die Organe für ihren Sinn abgehen.
3 All dem freilich stehen jene Züge Bachs entgegen, die man zu seiner Zeit bereits als anachronistisch empfand. Sie tragen Schuld an der rätselhaften Amnesie, die sein Werk achtzig Jahre lang zudeckte und, mit unabsehbarer Folge für die Geschichte der abendländischen Musik, verhinderte, daß seine Errungenschaften in gerader Tradition und ganzem Umfang dem Wiener Klassizismus zuteil wurden. Bach erfüllte in der Tat nicht bloß den Geist des Generalbasses, des stufenmäßig-harmonischen Denkens, sondern er war in jenem Geiste zugleich der Polyphoniker, der aus den tappenden Ansätzen des siebzehnten Jahrhunderts die Form der Fuge schuf – ihre Theorie ist von ihm abgezogen so wie die des strengen Kontrapunkts von Palestrina – und ihr einziger Meister blieb. Aber gerade die Doppelheit harmonischen und kontrapunktischen Bewußtseins, welche ein jegliches der Kompositionsprobleme umschreibt, die Bach paradigmatisch auflöste, schließt das Bild vom Vollender des Mittelalters aus. Wäre er gewesen, wozu sie ihn stempeln, so hätte er weder jene Doppelheit in sich gehabt, noch, zumal in den spekulativen Werken der Spätzeit, um ein Paradoxon sich bemüht, das dem alten polyphonen Bewußtsein unvorstellbar war, nämlich wie Musik es vermöchte, harmonisch-generalbaßmäßig in jeder Fortschreitung als sinnvoll sich auszuweisen und zugleich polyphon, durch die Simultaneität selbständiger Stimmen sich ganz und gar zu organisieren. Schon der bloße Ausdruck mancher der archaisch auftretenden Stücke sollte skeptisch stimmen. Der affirmative Ton der Es-Dur-Fuge aus dem zweiten Band des Wohltemperierten Klaviers ist nicht der unmittelbarer Gewißheit einer musikalisch laut werdenden, in der offenbaren Wahrheit gesicherten sakralen Gemeinschaft – den Niederländern liegt solche Affirmation und Emphase ganz fern. Sondern es ist, der Substanz, gewiß nicht dem subjektiven Bewußtsein nach, die Reflexion aufs Glück des Bestätigten, der musikalischen Geborgenheit, wie sie einzig dem emanzipierten Subjekt zuteil wird: es erst vermag Musik als das nachdrückliche Versprechen objektiver Rettung zu konzipieren. Eine solche Fuge setzt den Dualismus voraus. Sie sagt, wie schön es wäre, die
Botschaft der Bestätigung aus dem umgrenzten Kosmos zum Menschen zurückzubringen: sie ist, zum Ärgernis des religiösen Neophytentums von heutzutage, romantisch, nur freilich unbeschreiblich viel weiter greifend, als es späterhin der romantische Stil sich zutrauen konnte. Sie spiegelt nicht das einsame Subjekt als Garanten des Sinnes zurück, sondern meint dessen Aufhebung in einem objektiv umfassenden Absoluten. Aber dies Absolute wird beschworen, behauptet, gesetzt, gerade weil und soweit es der leibhaften Erfahrung nicht gegenwärtig ist, und Bachs Gewalt ist die solcher Beschwörung. Er war kein archaischer Handwerksmeister, sondern ein Genius des Eingedenkens. Erst die heraufziehende Barbarei, die Kunstwerke aufs Vorfindliche vereidigt, blind gegen die Differenz von Wesen und Erscheinung in ihnen, kann bieder das Sein seiner Musik mit seiner Intention verwechseln und damit genau jene Metaphysik in ihm ausrotten, die zu protegieren man sich vornimmt. Da aber der Barbarei mit dem Wesen auch das Vorfindliche sich verfinstert, so wird übersehen, daß gerade die besonderen polyphonischen Mittel, deren Bach zur Konstruktion musikalischer Objektivität sich bedient, Subjektivierung voraussetzen. Die Kunst der Fugenkomposition ist eine der motivischen Ökonomie: durch Ausnutzung der kleinsten Bestandteile eines Themas aus diesem ein Integrales herzustellen. Es ist eine Kunst der Zerlegung, fast ließe sich sagen, der Auflösung des als Thema gesetzten Seins, unvereinbar mit der Allerweltsvorstellung, dies Sein hielte in der durchgeformten Fuge statisch, unveränderlich sich durch. Solcher Technik gegenüber verwendet Bach die eigentlich mittelalterliche der polyphonen Gestaltung, die Imitatorik, nur an zweiter Stelle. In den übrigens bei Bach keineswegs gehäuften Teilen und Stücken, vo Imitatorik triumphiert, den Engführungen und Engführungsfugen, wie der zu dichtestem Leben gesteigerten in D-Dur aus dem zweiten Bande, ist das ehrwürdige Mittel in den Dienst einer drängenden, durchaus dynamischen – durchaus »modernen« Wirkung getreten. Daß unter dem Angriff der von der Polyphonie entbundenen neuen Kompositionsmittel die Identität der wiederkehrenden Themen bei Bach überhaupt sich erhalten konnte, bedeutet kaum mehr an Statik, als daß die dynamische Beethovensche Sonate durchweg der tektonischen Forderung der Reprise treulich nachkam, freilich um diese selber aus dem »Prozeß« der Durchführung zu entwickeln.
Schönberg spricht in seinem letzten Buch mit Recht von Bachs Technik der entwickelnden Variation, die dann im Wiener Klassizismus zum Kompositionsprinzip schlechthin geworden sei. Eine gesellschaftliche Dechiffrierung Bachs müßte vermutlich jene Aufspaltung des thematisch Vorgegebenen durch die subjektive Reflexion der daran sich bewährenden motivischen Arbeit in Zusammenhang bringen mit den Veränderungen des Arbeitsprozesses, die in derselben Epoche durch die Manufaktur sich durchgesetzt hatten und wesentlich in der Zerlegung der alten handwerklichen Verrichtungen in kleine Teilakte bestanden. Wenn daraus die Rationalisierung der materiellen Produktion resultierte, so hat Bach, der nicht umsonst sein instrumentales Hauptwerk nach der wichtigsten technischen Errungenschaft der musikalischen Rationalisierung nannte, als erster die Idee des rational konstituierten Werkes, der ästhetischen Naturbeherrschung auskristallisiert. Vielleicht ist es Bachs innerste Wahrheit, daß bei ihm jene Tendenz der Gesellschaft, bis heute die mächtigste der bürgerlichen Ära, indem sie im Bilde sich reflektiert, nicht bloß festgehalten ist, sondern versöhnt mit der Stimme des Humanen, die real von der gleichen Tendenz, als diese einmal losgelassen war, zum Schweigen verdammt wurde.
4 Wäre aber Bach in der Tat modern gewesen – warum dann war er archaistisch? Denn kein Zweifel kann daran sein, daß seine Formenwelt, und gerade in den mächtigsten Manifestationen des noch jüngst von Hindemith grotesk verkannten Spätstils, vieles heraufruft, was schon seiner eigenen Zeit vergangen klang und aufs Mißverständnis des Schulmeisterlichen und Pedantischen hintersinnig angelegt scheint. Unmöglich, den Ton des siebzehnten Jahrhunderts zu überhören gerade in so großartigen Konzeptionen wie der Tripelfuge in cis-moll aus dem ersten Band des Wohltemperierten Klaviers, die, um den Gegensatz der drei Themen desto drastischer herauszuarbeiten, alles, was nicht unmittelbar auf diesen Kontrast sich bezieht, gleichsam vorthematisch, motivisch unprofiliert läßt im Sinne der rudimentären vor-Bachischen Fugentypen, auf deren einen, die Ricercata, ein Wortspiel des Musikalischen Opfers anspielt. Wie jene trägt die im großen Alla-breve-Takt geschriebene E-Dur-Fuge des zweiten Bandes das Altertümliche bis ins Notenbild hinein, als wäre sie im gusto einer freilich selber schon fiktiven, hochstilisierten Vergangenheit geschrieben, nicht anders als das berühmte Klavierkonzert im Italienischen. Bach gehorcht oftmals einer mit existentieller Gediegenheit höchst unvereinbaren Neigung, mit fremden, willkürlich ergriffenen Idiomen zu experimentieren und an ihnen die durchformende Kraft der musikalischen Gestaltung zu erwecken. Schon bei ihm bringt die Rationalisierung der kompositorischen Technik, das Vorwalten gleichsam subjektiver Vernunft es mit sich, daß zwischen allen objektiv verfügbaren Verfahrungsweisen der Epoche frei gewählt werden kann. An keine weiß er blind, substantiell sich gebunden, sondern ergreift jeweils die, welche der kompositorischen Intention am genauesten sich anmißt. Solche Freiheit zum Altertümlichen kann aber unmöglich als Vollendung der Tradition aufgefaßt werden, die gerade den disponierenden Blick über die Möglichkeiten verwehren müßte. Noch weniger ließe der Sinn des Bachischen Rückgriffs als restaurativ sich ansprechen. Denn die archaisch getönten Stücke sind oft genug gerade die kühnsten, nicht bloß was die kontrapunktische Kombinatorik
anlangt, die ja unmittelbar durch die älteren polyphonen Veranstaltungen befördert wird, sondern auch mit Rücksicht auf das Avancierte der Wirkung. Jene cis-moll-Fuge, die beginnt, als sei sie ein dichtes Geflecht gleich relevanter Linien, deren »Thema« zunächst nichts anderes scheint als der unauffällige Kitt, der die Stimmen zusammenhält, enthüllt sich in ihrem Verlauf, vom Eintritt des figurierten zweiten Themas an, als ein unaufhaltsam auskomponiertes Crescendo, mit der mächtigen Explosion des Hauptthema-Einsatzes im Baß, der äußersten Zusammenballung einer pseudo-zehnstimmigen Engführung und dem Wendepunkt einer schwer betonten Dissonanz, um dann wie durch ein dunkles Tor zu verschwinden. Kein Hinweis auf den klanglichstatischen Charakter von Cembalo und Orgel vermag über die rein in der Kompositionsstruktur selbst gelegene Dynamik zu betrügen, gleichgültig ob sie auf den Instrumenten als Crescendo zu verwirklichen war, ja ob, wie die müßige Frage lautet, Bach auch nur ein solches Crescendo sich »vorstellte«. Nirgends steht geschrieben, daß die Vorstellung eines Komponisten von seiner Musik mit deren immanentem Wesen, ihrem objektiv eigenen Gesetz, zusammenfallen müsse. Barock ist ein solches Werk weit eher in dem Sinn des vom Theater des siebzehnten Jahrhunderts her vertrauten Exzessiven, zum äußersten allegorischen Ausdruck Gesteigerten, auf perspektivische Wirkung Angelegten als in dem des »Vorklassischen«, dessen Begriff überall dort versagt, wo es um Bachs Spezifisches geht, und am meisten bei seinen archaistischen Tendenzen. Um diesen gerecht zu werden, wird man nach ihrer Funktion im kompositorischen Gefüge fragen müssen. Und dabei stößt man auf eine Doppeldeutigkeit des Fortschritts selber, die mittlerweile universal sich entfaltete. Für modern galt seiner Zeit, was die Last der res severa abschüttelte um des Gaudiums willen, des Gefälligen und Spielerischen im Zeichen der Kommunikation, der Rücksicht auf den präsumtiven Hörer, dem mit der alten theologischen Ordnung das Bewußtsein geschwunden war, die an jene Ordnung mahnende Formensprache sei verbindlich. Weder läßt die historische Notwendigkeit sich verleugnen, daß Kunst Mittel preisgibt, wenn sie nicht länger vom objektiven Geist getragen werden, noch, daß jene Wendung Kräfte des menschlich Beredten in der Musik entband, die schließlich selber in einer höheren Gestalt der Wahrheit resultierten. Der Preis aber, der für die errungene
Freizügigkeit bezahlt wurde, war die immanente Stimmigkeit der Musik. Gerade die frühen Produkte des »ungelehrten« Stils, am auffälligsten die von Bachs eigenen Söhnen, hatten ihn zu entrichten. Jäh erleuchtet sich das Rätselbild solcher Doppeldeutigkeit des Fortschritts, wenn man kommensurable Formtypen des Wiener Klassizismus und Bachs vergleicht, das Rondo eines Mozartschen Klavierkonzerts mit dem Presto des Italienischen. Trotz all der gewonnenen Geschmeidigkeit und Luftigkeit des Komponierens hat Mozarts sprichwörtliche Grazie, verglichen mit dem unendlich in sich vermittelten, unschematischen Verfahren Bachs, als rein musikalische peinture etwas Mechanisches und Vergröbertes. Es ist Grazie des Tons eher als der Faktur. Je deutlicher die Umrisse der Form geworden sind, um so mehr scheint deren dichte und reine Konsequenz durch den Appell ans einmal etablierte Schema ersetzt. Wer, nach andauernder intensiver Beschäftigung mit Bach, zu Beethoven zurückkehrt, dem kommt es selbst dort zuweilen vor, als stünde er einer Art von dekorativer Unterhaltungsmusik gegenüber, wo das Kulturcliché einzig Tiefe vermutet. Gewiß ist ein solches Urteil verzerrt und befangen und bringt den Maßstab an den Gegenstand von außen heran. Nicht umsonst würden ihm die heutigen Apologeten Bachs zustimmen. Aber es enthält doch Elemente der geschichtlichen Konstellation, die Bachs Wesen ausmacht. Seine archaistischen Züge begreifen in sich den Versuch, jene Verarmung und Verhärtung der musikalischen Sprache zu parieren, die den Schatten ihres entscheidenden Fortschritts bildet. Sie meinen den Widerstand gegen den unaufhaltsam in eins mit ihrer Subjektivierung sich durchsetzenden Warencharakter der Musik. Sie sind aber zugleich insofern identisch mit Bachs Moderne, als sie überall die fortgetriebene Konsequenz der musikalischen Logik der Sache selbst gegenüber ihrer Zession an den Geschmack vertreten. Der Archaist Bach unterscheidet von späteren Klassizisten bis hinauf zu Strawinsky sich dadurch, daß er kein abstraktes Stilideal dem geschichtlichen Stand des Materials konfrontiert. Sondern das Gewesene wird zum Mittel, das Zeitgenössische zur Zukunft der eigenen Entfaltung zu zwingen. Die Versöhnung von Gelehrt und Galant, die, wie Alfred Einstein hervorhob, seit Haydn die Idee des Wiener Klassizismus abgibt, ist in gewissem Sinn auch die Bachs. Ihm aber war es nicht um einen mittleren Ausgleich beider
Elemente zu tun. Er hat die Indifferenz der Extreme gegeneinander so radikal angestrebt wie erst wieder Beethovens Spätstil. Bach, als der fortgeschrittenste Generalbaßmeister, sagte zugleich, als altertümlicher Polyphoniker, der Tendenz der Zeit, die er selber ausprägte, den Gehorsam auf, um jener Tendenz zu ihrer eigenen Wahrheit zu verhelfen, der Emanzipation des Subjekts zur Objektivität in einem bruchlosen Ganzen, das in Subjektivität selber entspringt. Es geht um die ungeschmälerte Koinzidenz der harmonischfunktionellen und der kontrapunktischen Dimension bis in die subtilsten Bestimmungen der Struktur. Das längst Vergangene wird zum Träger der Utopie des musikalischen Subjekt-Objekts, der Anachronismus zum Boten der Zukunft.
5 Danach aber wäre nicht nur die Erkenntnis der Bachischen Musik in Gegensatz gerückt zur herrschenden Meinung, sondern es wäre das unmittelbare Verhältnis zu ihr berührt. Es bestimmt sich wesentlich durch die Aufführungspraxis. Die hat aber heute, unterm Unstern des Historismus, einen sektiererischen Gestus angenommen. Er löst ein zelotenhaftes Interesse aus, das dem Werke selbst entzogen wird. Man kann sich zuweilen des Verdachts nicht erwehren, als käme es den heutigen Liebhabern Bachs einzig darauf an, daß nur ja keine unauthentische Dynamik, keine Modifizierungen der Tempi, keine zu großen Chöre und Orchester geduldet würden, und als warteten sie mit potentieller Wut auf jede humanere Regung, die in der Wiedergabe laut wird. Die Kritik an dem aufgeblähten und sentimentalisierten Bachbild der Spätromantik braucht nicht bestritten zu werden, wenn auch etwa die Beziehung zu Bach, die Schumanns Werk bezeugt, als unvergleichlich viel produktiver sich erwies denn die beflissene Reinheit von heutzutage. Wohl aber ist dieser abzuerkennen, worauf sie selber am meisten sich zugute tut: die Sachlichkeit. Sachlich wäre einzig eine Darstellung von Musik, die dem Wesen ihrer Sache angemessen sich zeigt. Das fällt aber nicht, wie auch Hindemith es noch unterstellt, mit der Idee der historisch ersten Wiedergabe zusammen. Daß die koloristische Dimension der Musik in Bachs Ära kaum entdeckt, gewiß nicht als Kompositionsmittel freigesetzt war; daß die Komponisten noch nicht einmal zwischen den verschiedenen Klaviertypen und der Orgel streng unterschieden, sondern den Klang in weitem Maße dem Geschmack anheimgaben, weist in genau umgekehrte Richtung als das Verlangen, den damals gebräuchlichen Klang sklavisch zu imitieren. Wäre Bach wirklich mit den Orgeln und Cembali und gar den dünnen Chören und Orchestern seiner Epoche zufrieden gewesen, so besagte das gar nicht, daß diese der Substanz seiner Musik an sich gerecht werden. Das Bewußtsein der Künstler von sich selbst – ihre »Vorstellung« von den eigenen Werken ist ohnehin nie rekonstruierbar – vermag zwar zur Erkenntnis manches beizutragen, gibt aber nicht deren Kanon ab. Die authentischen Werke entfalten ihren Wahrheitsgehalt, der den individuellen
Bewußtseinskreis überschreitet, kraft der Objektivität ihres eigenen Formgesetzes in der Zeit. Übrigens widerspricht, was vom Interpreten Bach überliefert wird, durchaus dem musikhistorischen Darstellungsstil und deutet auf eine Flexibilität, die lieber aufs Monumentale verzichtet als auf die Möglichkeit, den Ton der subjektiven Regung anzuschmiegen. Gewiß erschien Forkels berühmter Bericht zu lange nach Bachs Tod, um volle Authentizität beanspruchen zu können; aber was er vom Klavierspieler Bach mitteilt, folgt offensichtlich präzisen Angaben, und kein Grund liegt vor, warum in einer Zeit, die die Kontroverse noch nicht kannte und wenig Sympathien fürs Klavichord hegte, das Bild hätte verfälscht werden sollen: »Am liebsten spielte er auf dem Klavichord. Die sogenannten Flügel (scil. Cembali), obgleich auch auf ihnen ein gar verschiedener Vortrag stattfindet« – womit nur die Registrierung gemeint sein kann – »waren ihm doch zu seelenlos, und die Pianoforte waren bei seinem Leben noch zu sehr in ihrer ersten Entstehung, und noch viel zu plump, als daß sie ihm hätten Genüge tun können. Er hielt daher das Klavichord für das beste Instrument zum Studieren, sowie überhaupt zur musikalischen Privatunterhaltung. Er fand es zum Vortrag seiner feinsten Gedanken am bequemsten, und glaubte nicht, daß auf irgendeinem Flügel oder Pianoforte eine solche Mannigfaltigkeit in den Schattierungen des Tons hervorgebracht werden könne, als auf diesem zwar tonarmen, aber im einzelnen außerordentlich biegsamen Instrument.« Was aber für die Differenzierung des Intimen gilt, gilt umgekehrt erst recht für die ausladende Dynamik der großen Chorwerke. Gleichgültig wie in der Thomaskirche verfahren wurde, eine Aufführung etwa der Matthäuspassion mit kargen Mitteln wirkt fürs gegenwärtige Ohr blaß und unverbindlich wie eine Probe, zu der nur zufällig einige Teilnehmer sich eingefunden haben, und nimmt zugleich den lehrhaften Charakter des Justament an. Nicht genug damit aber tritt sie in Gegensatz zum Wesen der Bachischen Musik an sich. Der objektiv in seinem Werke verschlossenen Dynamik gebührt einzig eine Interpretation, welche sie realisiert. Denn die wahre Interpretation ist die Röntgenphotographie des Werks: ihr obliegt, im sinnlichen Phänomen die Totalität all der Charaktere und Zusammenhänge hervortreten zu lassen, welche Erkenntnis aus der Versenkung in den Notentext sich erarbeitet. Das Lieblingsargument der Puristen,
all dies solle man dem Werk an sich überlassen, das man nur mit Selbstverleugnung auszusagen brauche, damit es rede, während die eigentlich interpretative Darstellung herausschreie, was sich ohne Zutun schlicht, doch um so eindringlicher kundgebe und was nur verzerrt werde, wenn man es hervorhebe – dies Argument ist ohne Kraft. Solange Musik überhaupt der Interpretation bedarf, hat sie ihr Formgesetz an der Spannung zwischen dem kompositorischen Wesen und der sinnlichen Erscheinung. In diese das Werk zu versetzen, rechtfertigt sich nur, wenn sie fürs Wesen zeugt. Eben das leistet die Reflexion im Subjekt und dessen Anstrengung. Der Versuch, dem objektiven Gehalt Bachs zu seinem Recht zu verhelfen, indem man die subjektive Anstrengung bloß daran wendet, das Subjekt auszumerzen, überschlägt sich. Objektivität bleibt nicht als Rest nach Subtraktion des Subjekts zurück. Nie und an keiner Stelle ist der musikalische Notentext mit dem Werk identisch; stets vielmehr gefordert, in der Treue zum Text zugleich zu ergreifen, was er in sich verbirgt. Bar solcher Dialektik wird die Treue zum Verrat: die Interpretation, die sich um den musikalischen Sinn nicht kümmert, weil er aus sich heraus sich offenbare, anstatt ihn selber als je sich erst konstituierenden zu erkennen, verfehlt ihn. Er gehört nicht der von vermeintlicher Exhibition gereinigten Wiedergabe an, sondern diese, sinnlos an sich selber und vom »Unmusikalischen« nicht abzuheben, wird zur Mauer vor dem musikalischen Sinn, als dessen Fenster sie sich wähnt. Damit ist nicht den monströse Massen einsetzenden Bachaufführungen das Wort geredet, wie sie bis nach dem Ersten Krieg gang und gäbe waren. Die geforderte Dynamik bezieht sich nicht auf Stärkegrade und den Umfang von crescendo und decrescendo. Sie ist der Inbegriff aller kompositorischen Kontraste, Vermittlungen, Unterteilungen, Übergänge, Beziehungen, die das Werk in sich enthält; und in Bachs reifster Zeit war Komponieren nicht weniger die Kunst des infinitesimalen Übergangs als bei einem der Nachgeborenen. Der ganze Reichtum des musikalischen Gefüges, in dessen Integration seine Kraft eigentlich besteht, muß von der Aufführung zur Evidenz erhoben werden, anstatt daß man der Fülle ein starres, in sich unbewegtes Einerlei entgegensetzt, den nichtigen Schein einer Einheit, die das Mannigfaltige, das sie bewältigen soll, ignoriert. Die Reflexion auf den Stil darf nicht den konkreten musikalischen Inhalt verdrängen und sich selbstzufrieden bei der
Pose transzendenten Seins bescheiden. Sie muß der unter der klanglichen Oberfläche verborgenen, kompositorischen Struktur der Musik folgen. Mechanisch zirpende Continuo-Instrumente, bettelhafte Schulchöre dienen nicht der heiligen Nüchternheit, sondern der hämischen Versagung, und daß etwa schrille und hüstelnde Barockorgeln die langen Wellen der lapidaren großen Fugen aufzufangen vermöchten, ist purer Aberglaube. Vom Gesamtniveau ihrer Epoche trennt Bachs Musik ein astronomischer Abstand. Beredt wird sie erst wieder, wenn sie der Sphäre des Ressentiments und des Obskurantismus entrissen ist, dem Triumph der Subjektlosen über den Subjektivismus. Sie sagen Bach, meinen Telemann und sind heimlich eines Sinnes mit jener Regression des musikalischen Bewußtseins, die ohnehin unterm Druck der Kulturindustrie droht. Freilich zeichnet die Möglichkeit sich ab, daß der Widerspruch zwischen Bachs kompositorischer Substanz und den Mitteln von deren klanglicher Realisierung, den zu seiner Zeit verfügbaren sowohl wie den von der Tradition angesammelten, nicht länger sich schlichten läßt. Im Licht dieser Möglichkeit gewinnt die vielberufene klangliche »Abstraktheit« des Musikalischen Opfers und der Kunst der Fuge als der Werke, in denen die Wahl der Instrumente offenbleibt, einen neuen Horizont. Denkbar, daß in ihnen der Widerspruch von Musik und Klangmaterial – zumal die Unangemessenheit des Orgelklangs überhaupt an die unendlich gegliederte Struktur – damals schon durchschlug. Dann hätte Bach den Klang ausgespart und seine reifsten Instrumentalwerke wartend auf den Klang, der ihnen selber gliche, hinterlassen. Bei diesen Stücken kann es am letzten sein Bewenden damit haben, daß kompositionsfremde Philologen die Stimmen ausschreiben und durchlaufenden Instrumenten oder Gruppen anvertrauen. Gefordert wäre, sie umzudenken für ein Orchester, das weder schmückt noch spart, sondern als Moment der integralen Komposition fungiert. Für die ganze Kunst der Fuge ward das bislang einzig von Fritz Stiedry angestrebt, dessen Bearbeitung es nicht über die eine New Yorker Aufführung hinausbrachte. Gerechtigkeit widerfährt Bach nicht durch die Usurpation stilkundiger Sachverständiger, sondern einzig vom fortgeschrittensten Stande des Komponierens her, der mit dem Stand des sich entfaltenden Werks von Bach konvergiert. Die wenigen Instrumentationen, die Schönberg und Anton von Webern
beistellten, insbesondere die der großen Tripelfuge in Es-Dur und der sechsstimmigen Ricercata, in denen jeder Zug der Komposition in ein farbliches Korrelat übersetzt, die Oberfläche des Liniengeflechts in die kleinsten Motivzusammenhänge aufgelöst und diese dann durch die konstruktive Gesamtdisposition des Orchesters wieder vereint sind – diese Instrumentationen sind Modelle einer Stellung des Bewußtseins zu Bach, die dem Stande von dessen Wahrheit entspräche. Vielleicht ist der überlieferte Bach in der Tat uninterpretierbar geworden. Dann fällt sein Erbe dem Komponieren zu, das ihm die Treue hält, indem es sie bricht, und seinen Gehalt beim Namen ruft, indem es ihn aus sich heraus nochmals erzeugt.
Arnold Schönberg 1874–1951 Heard melodies are sweet, but those unheard Are sweeter; therefore, ye soft pipes, play on; Not to the sensual ear, but, more endear'd, Pipe to the spirit ditties of no tone.
Keats
Dem öffentlichen Bewußtsein heute gilt Schönberg als Neuerer, als Reformator, wohl gar als Erfinder eines Systems. In widerwilligem Respekt räumt man ein, er habe für andere einen Weg bereitet, den zu betreten jene freilich keine große Neigung zeigen, läßt aber durchblicken, er habe es nicht selbst vollbracht und sei bereits veraltet. Der einst Verfemte wird verdrängt zugleich und gefahrlos aufgesogen. Nicht nur die Jugendwerke, sondern auch die der mittleren Zeit, die ihm einst den Haß aller Kulturbesitzer eintrugen, schiebt man als wagnerisch und spätromantisch ab, obgleich man sie in vierzig Jahren kaum nur richtig aufzuführen lernte. Was er dann nach dem Ersten Krieg erscheinen ließ, wird als Exempel der Zwölftontechnik gewertet. Wohl haben ihr neuerdings zahlreiche junge Komponisten sich anvertraut, aber eher wie einem Gehäuse, in das man unterschlüpft, als aus der Not der eigenen Erfahrung heraus, und daher ohne Sorge um die Funktion des Zwölftonverfahrens in Schönbergs eigenem oeuvre. Solche Verdrängung und Zurichtung wird herausgefordert von den Schwierigkeiten, die Schönberg einer von der Kulturindustrie gekneteten Hörerschaft bereitet. Wer etwas nicht versteht, projiziert gleich dem hohen Verstand von Mahlers Esel seine Unzulänglichkeit auf die Sache und erklärt diese für unverständlich. Tatsächlich erheischt Schönbergs Musik von Anbeginn aktiven und konzentrierten Mitvollzug; schärfste Aufmerksamkeit für die Vielheit des Simultanen; Verzicht auf die üblichen Krücken eines Hörens, das immer schon weiß, was kommt; angespannte Wahrnehmung des Einmaligen, Spezifischen und die Fähigkeit, die oftmals auf kleinstem Raume wechselnden Charaktere und ihre wiederholungslose Geschichte präzis aufzufassen. Die Reinheit und
Unbeirrtheit, mit der Schönberg der Forderung der Sache jeweils sich anvertraut, hat ihn von der Wirkung abgeschnitten; Rancune weckt gerade der Ernst, der Reichtum, die Integrität seiner Musik. Je mehr sie den Hörern schenkt, desto weniger bietet sie ihnen zugleich. Sie verlangt, daß der Hörer ihre innere Bewegung spontan mitkomponiert, und mutet ihm anstelle bloßer Kontemplation gleichsam Praxis zu. Damit aber frevelt Schönberg gegen die im Widerspruch zu allen idealistischen Beteuerungen gehegte Erwartung, daß Musik als eine Folge gefälliger sinnlicher Reize dem bequemen Hören sich präsentiere. Selbst Schulen wie die Debussys haben trotz der ästhetischen Atmosphäre des l'art pour l'art jener Erwartung entsprochen. Die Grenze zwischen dem jungen Debussy und der Salonmusik war fließend, und die technischen Errungenschaften des reifen wurden der kommerziellen Massenmusik behend einverleibt. Bei Schönberg hört die Gemütlichkeit auf. Er kündigt einen Konformismus, der die Musik als Naturschutzpark infantiler Verhaltensweisen inmitten einer Gesellschaft beschlagnahmt, die längst erkannte, daß sie sich ertragen läßt nur, wenn sie ihren Gefangenen eine Quote kontrollierten Kinderglücks zukommen läßt. Er versündigt sich gegen die Zweiteilung des Lebens in Arbeit und Freizeit; er verlangt für die Freizeit eine Art Arbeit, die an dieser selbst irremachen könnte. Sein Pathos gilt einer Musik, deren der Geist sich nicht zu schämen brauchte und die damit den herrschenden beschämt. Seine Musik will mündig werden an ihren beiden Polen: sie setzt das bedrohlich Triebhafte frei, das sonst Musik nur filtriert und harmonistisch gefälscht durchläßt; und spannt die geistige Energie aufs äußerste an; das Prinzip eines Ichs, das stark genug wäre, den Trieb nicht zu verleugnen. Kandinsky, in dessen Blauem Reiter er die ›Herzgewächse‹ veröffentlichte, formulierte das Programm des »Geistigen in der Kunst«. Dem hielt Schönberg die Treue, nicht indem er auf Abstraktionen ausging, sondern indem er die konkrete Gestalt der Musik selber vergeistigte. Daraus wird ihm der beliebteste Vorwurf gemacht, der des Intellektualismus. Die immanente Kraft der Vergeistigung wird entweder verwechselt mit einer der Sache äußerlichen Reflexion, oder es wird dogmatisch Musik von jener Forderung der Vergeistigung ausgenommen, die als Korrektiv der Verwandlung von Kultur in Kulturgut für alle ästhetischen Medien unabweisbar
ward. In Wahrheit ist Schönberg ein naiver Künstler gewesen, nicht zuletzt in den oft hilflosen Intellektualisierungen, mit denen er das Eigene zu rechtfertigen suchte. Wenn einer, so gehorchte er der überquellend unwillkürlichen musikalischen Anschauung. Die Sprache der Musik war dem halben Autodidakten selbstverständlich. Nur mit äußerstem Widerstreben hat er sie bis in ihre Grundschichten hinein verändert. Während seine Musik alle Kräfte des Ichs an die Objektivierung ihrer Impulse wandte, ist sie ihm zugleich zeitlebens »ichfremd« geblieben. Er selbst hat gern mit dem Erwählten sich identifiziert, der sich gegen den Auftrag wehrt; tapfer waren ihm »solche, die Taten vollbringen, an die ihr Mut nicht heranreicht«. Die Paradoxie der Formel charakterisiert seine Stellung zur Autorität. Ästhetischer Avantgardismus und konservative Gesinnung laufen nebeneinander her. Während er der Autorität durchs Werk die tödlichsten Schläge versetzt, möchte er es wie vor einer verborgenen Autorität verteidigen, schließlich selbst zur Autorität erheben. Dem Wiener aus engen Verhältnissen dünkten die Normen einer geschlossenen und halbfeudalen Gesellschaft gottgewollt. Aber solcher Respekt fand sich mit einem konträren, ob auch mit dem Begriff des Intellektuellen ebenso unvereinbaren Element zusammen. Etwas nicht Integriertes, nicht ganz Zivilisiertes, ja Zivilisationsfeindliches hielt ihn aus der gleichen Ordnung draußen, an der er so wenig Zweifel hegte. Wie ein Ursprungsloser, vom Himmel Gefallener, ein musikalischer Kaspar Hauser traf er jäh ins Schwarze. Nichts sollte an den Naturzusammenhang erinnern, dem er doch angehörte, und damit ward das Naturwüchsige an ihm selber um so sinnfälliger. Der die Fäden abgeschnitten hatte, um alles nur sich zu verdanken, gewann gerade in solcher Isolierung Kontakt mit dem kollektiven Unterstrom der Musik und jene Verbindlichkeit, die jedes einzelne seiner Gebilde für die ganze Gattung einstehen ließ. Nichts konnte mehr überraschen, als wenn der heiser und gereizt Sprechende ein paar Takte sang. Die warme, freie und wohltönende Stimme kannte das Fürchten nicht: das vorm Singen selber, das den Zivilisierten eingebrannt ist und die falsche Unbefangenheit des Berufssängers doppelt peinlich macht. Anstatt der Eltern hatte er Musik selber eingesetzt, »musikalisch« als ein von der Sprache der Musik Getragener, sie wie einen Dialekt Sprechender, darin vergleichbar etwa Richard Strauss oder slawischen Komponisten. Von den
allerersten Werken an, ganz deutlich schon in der ›Verklärten Nacht‹, strömt diese Sprache spezifische Wärme aus im Ton wie in der Fülle sukzessiver und simultaner musikalischer Gestalten, ungehemmt erzeugend, fast orientalisch fruchtbar. Genug ist nicht genug. Schönbergs Unduldsamkeit gegen alles ornamental Überladene, Aufgezäumte stammt aus Generosität: keine Ostentation soll dem Hörer den gediegensten Reichtum ersetzen. Schenkende Phantasie, eine künstlerische Gastfreundschaft, die jeden Geladenen mit dem Besten bedenkt, inspiriert ihn vielleicht mehr, als was man gemeinhin, fragwürdig genug, Ausdrucksbedürfnis nennt. Ganz unwagnerisch, entspringt seine Musik aus dem zeugenden Rausch, nicht der sehrenden Sehnsucht: unersättlich im Gewähren. Als wären alle künstlerischen Stoffe, an denen Schönberg sich erproben konnte, noch erborgt, schafft er schließlich den Stoff und dessen Widerstände sich selber in rastlosem Überdruß an allem, was er nicht hervorbringt wie am allerersten Tage. Die Flamme des Ungebändigten, Mimetischen, die Schönberg aus dem unterirdischen Erbe zuwächst, verzehrt zugleich das Erbe. Tradition und Neubeginn verschränken sich in ihm wie der revolutionäre und konservative Aspekt. Der Vorwurf des Intellektuellen geht mit dem des Mangels an Melodie zusammen. Aber er war der Melodiker schlechthin. Anstelle der eingeschliffenen Formel hat er unablässig neue Gestalten produziert. Kaum je kann seine melodische Eingebung mit einer einzelnen Melodie haushalten, sondern alle gleichzeitigen musikalischen Ereignisse werden als Melodien profiliert und damit gerade die Auffassung erschwert. Die ursprüngliche musikalische Reaktionsweise Schönbergs selbst ist melodisch: alles bei ihm eigentlich »gesungen«, auch die instrumentalen Linien. Das verleiht seiner Musik das Artikulierte, zugleich frei Schwingende und bis zum letzten Ton Gegliederte. Der Primat des Atmens über den Schlag der abstrakten Zeit macht den Gegensatz Schönbergs zu Strawinsky aus und all denen, die, der gegenwärtigen Existenz besser angepaßt, sich für moderner halten als Schönberg. Das verdinglichte Bewußtsein ist allergisch gegen die ausgreifende Erfüllung der Melodie und substituiert sie durch die gehorsame Wiederholung ihrer verstümmelten Bruchstücke. Das Vermögen, dem musikalischen Atem ohne Angst zu folgen, hat aber Schönberg bereits von anderen, älteren Komponisten der neudeutschen Schule
wie Strauss und Wolf unterschieden, bei denen stets wieder die Entfaltung der Musik aus ihrer eigenen Substanz heraus paralysiert erscheint und ohne literarischprogrammatische Lückenbüßer, selbst im Lied, nicht auskommt. Ihnen gegenüber sind schon die Werke der ersten Periode, die noch die symphonische Dichtung ›Pelleas und Melisande‹ und die Gurrelieder einschließt, auskomponiert. Der Wagnerischen Verfahrungsweise so wenig wie dem Wagnerischen Ausdruck ist Schönberg verwandt: indem der musikalische Impuls ans Ziel kommt, anstatt abzubrechen und abermals anzusetzen, verliert er das Moment des Süchtigen, obsessiv Befangenen. Schönbergs ursprünglicher Ausdruck, generös und im bedeutenden Sinne jovial, mahnt an den Beethovenschen des Humanen. Er ist freilich von Anbeginn bereit, in Trotz sich zu verwandeln gegen eine Welt, die den Schenkenden zurückstößt. Spott und Gewalt wollen das Kalte, Widerstrebende bezwingen, und zur Angst wird das Gefühl dessen, der die Menschen, eben weil er sie als Menschen anspricht, nicht erreicht. Daraus entsteht Schönbergs Ideal der Perfektion. Er reduziert, konstruiert, panzert die Musik; das zurückgewiesene Geschenk soll so vollkommen werden, bis es empfangen werden muß. Seine Liebe mußte sich reaktiv verhärten wie die allen Geistes seit Schopenhauer, der sich nicht bescheidet bei dem, was ist. Der Kraussche Vers »Was hat die Welt aus uns gemacht« gilt emphatisch für den Musiker. Schönbergs Nonkonformismus ist keine Sache der Gesinnung. Ihm ließ die Komplexion seiner musikalischen Anschauung keine Wahl als auszukomponieren. Zur Lauterkeit war er genötigt; die Spannung zwischen Brahmsischen und Wagnerischen Elementen mußte er austragen. Am Wagnerischen Material entzündete sich seine expansive Phantasie, zur Brahmsischen Verfahrungsweise zog ihn die Forderung kompositorischer Konsequenz, die Verantwortung vor dem, wohin Musik von sich aus will. Demgegenüber war die Frage nach dem Brahmsischen oder Wagnerischen Stil bei Schönberg irrelevant. So wenig der Wagnerische Stil um seiner kompositorischen Schranken willen ihn kann befriedigt haben, so wenig konnte er sich bei dem akademischen Aspekt der Brahmsischen Lösung bescheiden. Er hat um der »Idee«, also der reinen Ausprägung musikalischer Gedanken willen, den Begriff des Stils, als eine der Sache vorgeordnete und am äußerlichen Consensus orientierte Kategorie, in seiner Praxis
stets so verworfen wie dann auch theoretisch. Auf allen Stufen kam es ihm auf das Was, nicht auf das Wie, die Selektionsprinzipien und Mittel der Präsentation an. Daher sollten denn auch die verschiedenen Stilphasen in seinem oeuvre nicht allzusehr belastet werden. Das Entscheidende findet sich schon recht früh, sicherlich nicht später als in den Liedern op. 6 und dem d-moll-Quartett op. 7. Wer in diesen Werken zu Hause ist, dem werden alle späteren zufallen. In den Neuerungen, die einmal Sensation machten, wurden einzig auch für die Sprache der Musik die vollen Konsequenzen aus dem gezogen, was die je einzelnen musikalischen Ereignisse im spezifischen Werk hervorgebracht hatten. Die Dissonanzen und weiten Intervalle, das Auffallendste an der Verfahrungsweise des reifen Schönberg, sind sekundär, bloße Derivate der inneren Zusammensetzung all seiner Musik; übrigens kommen die großen Intervalle schon beim jungen vor. Zentral ist die Bewältigung des Widerspruchs von Wesen und Erscheinung. Reichtum und Fülle soll Wesen werden, nicht bloßer Schmuck; das Wesen aber zutage kommen, nicht länger mehr starres Skelett, das die Musik umkleidet, sondern konkret und offenbar im subtilsten ihrer Züge. Das, was er das »Subkutane« nannte, das Gefüge der musikalischen Einzelereignisse als der unabdingbaren Momente einer in sich konsistenten Totalität, durchbricht die Oberfläche, wird sichtbar und behauptet sich unabhängig von jeglicher stereotypischen Form. Das Innere tritt nach außen. Das musikalische Phänomen reduziert sich auf die Elemente seines Strukturzusammenhangs. Ordnungskategorien, die auf Kosten der reinen Ausprägung des Gebildes das Mithören erleichtern, werden beseitigt. Solche Absenz aller von außen ins Werk eingelegten Vermittlungen läßt dem unnaiv-naiven Hörer den musikalischen Vorgang, je höher er in sich organisiert ist, als zerrissen und abrupt erscheinen. Das frühe Lied ›Lockung‹ aus op. 6 etwa, Prototyp eines Charakters, der bis in die Zwölftonphase wiederkehrt, hat eine zehntaktige Einleitung. Sie reiht drei scharf kontrastierende und auch im Tempo unterschiedene Gruppen aneinander: die erste viertaktig, die zweite und dritte je dreitaktig. Keine wiederholt sinnfällig etwas aus einer der vorhergehenden, alle aber sind durch eingreifende Variation aufeinander bezogen. Zugleich hängen die Gruppen syntaktisch zusammen: stürmische Frage, Nachdrängen und eine halbe, vorläufige und schon überleitende Antwort. Unendlich viel
geschieht auf knappstem Raum und ist doch derart durchgeformt, daß es sich nie verwirrt. So variiert die zweite Gruppe die erste, indem zwar die Intervalle der kleinen Sekund und übermäßigen Quart erhalten bleiben, zugleich aber der Dreiachtel- zu einem Zweiachteltakt verkürzt wird, der eben den drängenden Charakter stiftet. Inmitten radikaler Veränderung waltet melodische Ökonomie. Solche Organisation des musikalischen Gefüges, nicht die Bevorzugung sinnfälliger Mittel ist das eigentlich Schönbergische: buntester Wechsel voneinander verschiedener und genau gegeneinander schattierter Gestalten bei universaler Einheit motivisch-thematischer Beziehungen. Es ist eine Musik der Identität in der Nichtidentität. Alle Entwicklungen vollziehen sich gedrängter und rascher, als die träge Gewohnheit des kulinarischen Hörens gutheißt; die Polyphonie operiert mit realen Stimmen, nicht mit umkleidenden Kontrapunkten; die Einzelcharaktere werden aufs äußerste geschärft, die Artikulation verzichtet auf alle fertigen Sigel, und der im neunzehnten Jahrhundert durch den Übergang verdrängte Kontrast wird, unterm Zwang einer nach Extremen polarisierten Gefühlslage, zum formbildenden Mittel. Technisch heißt das Mündigwerden der Musik Protest gegen die musikalische Dummheit. Ist Schönbergs Musik nicht intellektuell, so erheischt sie dafür musikalische Intelligenz. Ihr Grundprinzip ist, nach seinem Ausdruck, das der entwickelnden Variation. Was erscheint, will seine Konsequenz, will weitergetrieben werden, gespannt, aufgelöst bis zum Ausgleich. Es herrscht universale Verpflichtung und Idiosynkrasie gegen alle Züge der Musik, die der journalistischen Sprache ähneln. Die Albernheit der Phrase ebenso wie der betrügerische Gestus, der mehr verspricht, als er hält, werden geächtet. Schönbergs Musik tut dem Hörer Ehre an, indem sie ihm nichts konzediert. Daher wird sie experimentell gescholten. Zugrunde liegt die Vorstellung, der Fortschritt der künstlerischen Mittel vollziehe sich in stetigem, gleichsam organischem Übergang. Wer eigenmächtig, ohne offenbare geschichtliche Deckung, Neues erfinde, verletze nicht nur die Ehrfurcht vorm Überkommenen, sondern verfalle der Eitelkeit und Ohnmacht. Aber in die Kunstwerke, auch die musikalischen, gehen Bewußtsein und Spontaneität von Menschen ein, und stets wieder machen sie den Schein kontinuierlichen Wachstums zunichte. Als die neue Musik noch das gute Gewissen
ihrer Feindschaft gegen jene Tradition hatte, die Mahler als Schlamperei definierte, und nicht ängstlich zu beweisen suchte, eigentlich meine sie es nicht so böse, hat sie denn auch zum Begriff des Experimentellen sich bekannt. Einzig der Aberglaube, der das Verdinglichte und Verfestigte, wenn man will, gerade das der Natur Entfremdete, fetischistisch mit Natur verwechselt, wacht darüber, daß in Kunst nichts versucht werden darf. Gleichwohl hat das künstlerische Extrem zu verantworten, ob es der Logik der Sache, einer wie sehr auch verborgenen Objektivität gehorcht, oder bloß der privaten Willkür oder dem abstrakten System. Seine Legitimität aber zieht es wesentlich aus der Tradition, die es negiert. Hegel hat gelehrt, daß, wo ein Neues unvermittelt, schlagend, authentisch sichtbar wird, es längst sich bildete und nun die Hülle abwirft. Nur was von den Säften der Überlieferung sich nährte, hat wohl überhaupt die Kraft, dieser authentisch gegenüberzutreten; das andere wird zur hilflosen Beute der Mächte, von denen es allzu wenig in sich selber bewältigte. Jedoch das Band der Überlieferung ist schwerlich die simple Verwandtschaft dessen, was in der Geschichte aufeinanderfolgt, sondern ein Unterirdisches. »Eine Tradition«, heißt es in Freuds Spätschrift über Moses und den Monotheismus, »die nur auf Mitteilung gegründet wäre, könnte nicht den Zwangscharakter erzeugen, der den religiösen Phänomenen zukommt. Sie würde angehört, beurteilt, eventuell abgewiesen werden wie jede andere Nachricht von außen, erreichte nie das Privileg der Befreiung vom Zwang des logischen Denkens. Sie muß erst das Schicksal der Verdrängung, den Zustand des Verweilens im Unbewußten durchgemacht haben, ehe sie bei ihrer Wiederkehr so mächtige Wirkungen entfalten, die Massen in ihren Bann zwingen kann.« [ 102 ] Nicht nur die religiöse, auch die ästhetische Tradition ist Erinnerung an ein Unbewußtes, ja Verdrängtes. Wo sie in der Tat »mächtige Wirkungen« entfaltet, gehen diese nicht vom vordergründigen und geradlinigen Bewußtsein der Fortsetzung aus sondern eher von dort, wo das unbewußt Erinnerte die Kontinuität aufsprengt. Tradition ist gegenwärtig in den als experimentell gescholtenen Werken und nicht in den der eigenen Absicht nach traditionalistischen. Was an der neuen französischen Malerei längst bemerkt ward, trifft nicht minder für Schönberg und die Wiener Schule des Komponierens zu. Am manifesten Klangmaterial des Klassizismus und der Romantik,
den tonalen Akkorden und ihren genormten Verbindungen, der zwischen Dreiklangs- und Sekundintervallen ausgewogenen Melodik, kurz der ganzen Fassade der Musik der letzten zweihundert Jahre wird von ihm produktive Kritik geübt. Aber in der großen Musik der Tradition kam es nicht auf jene Elemente als solche an sondern darauf, daß sie in der Darstellung des spezifisch musikalischen Inhalts, des Komponierten, eine genaue Funktion übernahmen. Unter der Fassade lag eine zweite, latente Struktur. Sie war vielfältig von der Fassade determiniert, hat aber zugleich auch jene, als ein dauernd Problematisches, stets aufs neue aus sich hervorgebracht und gerechtfertigt. Traditionelle Musik verstehen hieß immer auch: mit der Fassadenstruktur jener zweiten innewerden und das Verhältnis der beiden realisieren. Dies Verhältnis war, kraft der gesellschaftlichen Emanzipation der Subjektivität, so prekär geworden, daß am Ende beide Strukturen auseinanderklafften. Schönbergs spontane Produktivkraft vollstreckte einen objektiven historischen Richterspruch: er hat die latente Struktur freigesetzt, die manifeste beseitigt. So wurde er gerade im »Experiment«, in der Ungewohntheit des Erscheinenden zum Erben der Tradition. Er hat Normen gehorcht, die im Wiener Klassizismus und dann in Brahms teleologisch enthalten waren, und auch in diesem historischen Sinn Verpflichtungen eingelöst. Die objektivierende Leistung unterm Primat des »Auskomponierens« war bei Brahms unverbindlich geraten, weil sie gleichsam leerläuft, nicht in einen ihr widerstrebenden musikalischen Stoff eingreift, den ausbrechenden Impuls überhaupt verleugnet. Bei Schönberg aber ist das musikalische Einzelmoment an sich, bis hinab zum »Einfall«, unvergleichlich viel substantieller. Seine Totalität geht, getreu dem geschichtlichen Stand des Geistes, vom Individuellen, nicht vom Plan oder der Architektur aus. Er zieht, wie rudimentär schon Beethoven, das romantische Element ins integrale Komponieren hinein. Es findet sich gewiß auch bei Brahms als liedähnliche Melodik inmitten der instrumentalen Form; dort aber wird es ausgeglichen, balanciert, in einer Art Äquilibrium mit der »Arbeit« gehalten, und daher rührt das Scheinhafte und, wenn man will, Resignierte der Brahmsischen Form, welche die Gegensätze weise schlichtet, anstatt sie sich durchdringen zu lassen. Bei Schönberg wird die Objektivierung des subjektiven Impulses zum Ernstfall. War die variierende motivisch-thematische Arbeit an Brahms
geschult, so gehört die Polyphonie, kraft deren die Objektivierung des Subjektiven bei Schönberg ihre Schärfe gewinnt, ganz ihm an, buchstäblich das Eingedenken eines seit zweihundert Jahren Verschütteten. Sie wäre daraus abzuleiten, daß die Beethovensche »thematische Arbeit« insbesondere der Kammermusik polyphonische Verpflichtungen einging, ohne ihnen bis auf wenige Ausnahmen der Spätzeit nachzukommen. Wilhelm Fischer hat in seiner Studie ›Zur Entwicklungsgeschichte des Wiener klassischen Stils‹ die Einsicht erreicht: »Im allgemeinen ist die Wiener klassische Durchführung der Tummelplatz für die nunmehr aus der Exposition verdrängten melodischen Mittel des alten klassischen Stils.« [ 103 ] Nicht nur jedoch für das »barocke« melodische Fortspinnungsprinzip, sondern in viel höherem Maße für die Polyphonie, wie sie immer wieder in den Durchführungen sich regt, um zu versanden. Schönberg denkt zu Ende, was der Klassizismus versprach und nicht hielt, und darüber zerbricht die traditionelle Fassade. Er hat die Bachische Forderung wieder aufgenommen, der der Klassizismus, Beethoven einbegriffen, sich entzog, ohne daß Schönberg doch hinter den Klassizismus zurückgefallen wäre. Dieser hatte Bach aus geschichtlicher Notwendigkeit vernachlässigt. Die Autonomie des musikalischen Subjekts überwog jedes andere Interesse und schloß kritisch die überkommene Gestalt der Objektivierung aus, während man mit dem Schein der Objektivierung vorlieb nehmen konnte, so wie das ungehemmte Zusammenspiel der Subjekte die Gesellschaft zu garantieren schien. Heute erst, da die Subjektivität in ihrer Unmittelbarkeit nicht länger als höchste Kategorie waltet, sondern als der gesamtgesellschaftlichen Verwirklichung bedürftig durchschaut ist, wird die Insuffizienz selbst der Beethovenschen Lösung, die das Subjekt zum Ganzen ausbreitet, ohne das Ganze in sich zu versöhnen, erkennbar. Schönbergs Polyphonie bestimmt die Durchführung, die bei Beethoven noch auf der Höhe der Eroica »dramatisch«, nicht ganz auskomponiert bleibt, als dialektische Auseinanderlegung des subjektiven melodischen Impulses in der objektiv organisierten Mehrstimmigkeit. Dies Organisierende, kein Beliebiges Duldende unterscheidet den Schönbergschen Kontrapunkt von jedem anderen seiner Epoche. Es überwindet zugleich das lastende harmonische Schwergewicht. Er soll einmal gesagt haben, bei wirklich gutem Kontrapunkt denke man gar nicht
an die Harmonie; das charakterisiert aber nicht nur Bach, bei dem die Stringenz der Mehrstimmigkeit das Generalbaßschema vergessen läßt, in dem sie spielt, sondern auch Schönbergs eigenes Verfahren, in dem solche Stringenz schließlich jegliches Akkordschema und jegliche Fassade überflüssig macht: Musik des spirituellen Ohrs. Als »entwickelnde Variation« wird Vergeistigung zum technischen Prinzip. Es hebt alle bloße Unmittelbarkeit auf, indem es deren eigener Bewegung sich anvertraut. Schönberg hat ironisch davon gesprochen, daß die Musiktheorie eigentlich immer nur vom Anfang und vom Schluß handle, und nie von dem, was dazwischen geschieht, also von der Musik selber. Sein ganzes Werk ist ein einziger Versuch der Antwort auf jene von der Theorie umgangene Frage. Die Themen und ihre Geschichte, der musikalische Verlauf, haben das gleiche Gewicht: ja die Differenz von beiden wird liquidiert. Das geschieht in der Gruppe der Werke, die etwa von den Liedern op. 6 bis zu den Georgeliedern reicht und die beiden ersten Quartette, die Erste Kammersymphonie und den ersten Satz der Zweiten umfaßt. Nur der Obsession mit »Stil« können sie als bloßer »Übergang« erscheinen; als Kompositionen sind sie von der höchsten Reife. Das d-moll-Quartett hat ein ganz neues Niveau bis zur letzten Note thematisch auskomponierter Kammermusik geschaffen. Wie es gestaltet ist, wurden später die Zwölftonwerke gestaltet; wer diese begreifen will, sollte lieber das d-moll-Quartett studieren als Reihen abzählen. Jeder »Einfall« vom ersten Takt an ist kontrapunktisch und birgt die Möglichkeit seiner Durchführung in sich; jede Durchführung bewahrt sich die Spontaneität des ersten Einfalls. In den knappen Dimensionen und der Vielstimmigkeit der Ersten Kammersymphonie dann ist, was immer noch im Ersten Quartett sukzessiv sich auslebte, zur Simultaneität zusammengedrängt. Damit beginnt die Fassade zu zerfallen, die das Quartett noch einigermaßen duldet. Schönberg hat in seinem letzten Buch beschrieben und belegt, wie er in der Exposition der Kammersymphonie dem unbewußten Impuls – also dem Desiderat der latenten Struktur – folgte, die übliche Vorstellung von der »Konsequenz« offenbarer thematischer Bezüge opferte und statt dessen die Konsequenz aus dem inneren Gefüge der Themen zog. Die beiden an der Oberfläche voneinander ganz unabhängigen Hauptmelodien des ersten Themenkomplexes erweisen sich als
verwandt im Sinne des Reihenprinzips der späteren Zwölftontechnik: so weit reicht diese in Schönbergs Entwicklung zurück, ein Implikat des Kompositionsverfahrens eher als des bloßen Materials. Der Zwang jedoch, Musik vom Vorgedachten zu reinigen, führt nicht nur auf neue Klänge wie die berühmten Quartenakkorde, sondern auch auf eine neue, der Abbildung menschlicher Gefühle entrückte Ausdruckssphäre. Ein Dirigent hat das Auflösungsfeld am Ende der großen Durchführung mit Glück einer Gletscherlandschaft verglichen. Die Kammersymphonie sagt sich zum erstenmal von einer Grundschicht der Musik seit dem Generalbaßzeitalter los, dem stile rappresentativo, der Anpassung der musikalischen Sprache an die meinende der Menschen. Zum erstenmal schlägt die Schönbergsche Wärme ins Extrem einer Kälte um, deren Ausdruck das Ausdruckslose ist. Später hat er polemisch gegen die sich gewandt, die von der Musik »animalische Wärme« verlangen; sein Diktum, daß Musik ein nur durch Musik zu Sagendes sage, entwirft die Idee einer Sprache, die der der Menschen nicht gleicht. Das Helle, beweglich Spröde und gleichsam Stachlige, ein Charakter, der sich im Fortgang der Ersten Kammersymphonie verstärkt, antezipiert vor fast fünfzig Jahren die spätere Sachlichkeit ohne alle vorklassische Gebärde. Musik, die sich treiben läßt von der reinen und unverstellten Expression, wird gereizt empfindlich gegen alles, was diese Reinheit antasten könnte, gegen jegliche Anbiederung an den Hörer wie jegliche des Hörers an sie, gegen Identifikation und Einfühlung. In der Konsequenz des Expressionsprinzips selbst liegt auch das Moment von dessen Verneinung als jene negative Form der Wahrheit, welche die Liebe in die Kraft des unbeirrten Protests versetzt. Zunächst, und für viele Jahre, ging Schönberg dem nicht weiter nach. Der gleichzeitig entstandene erste Satz der Zweiten Kammersymphonie ist expressiv durchaus und harmonisch gehört, eines der vollkommensten Beispiele des Ausharmonisierens, der Fülle qualitativ verschiedener und konstruktiv eingesetzter Akkordstufen, die Schönbergs Phantasie der vertikalen Dimension abgewann. Der auf Anregung Fritz Stiedrys in Amerika nachkomponierte zweite Satz aber, der die Erfahrungen der Zwölftontechnik auf die späte Tonalität anwendet, zeitigt eine selbst bei Schönberg einzigartige Verschränkung von Ausdruck und Konstruktion: das Stück setzt spielerisch wie eine Serenade ein, aber
je mehr es kontrapunktisch sich verdichtet, um so mehr schürzt sich der tragische Knoten, bis es am Ende bestätigend in den düsteren Ton des ersten Satzes mündet. Dieser Zweiten Kammersymphonie steht technisch das fis-moll-Quartett op. 10 näher als der Ersten. H.F. Redlich hat darauf aufmerksam gemacht, daß es als Mikrokosmos die gesamte Entwicklung Schönbergs retrospektiv wie vorblickend repräsentiert. Der erste Satz holt, mit einem Äußersten an Stufenreichtum und thematischen Profilen, wie auf einem Fuße stehend heraus, was die bereits souverän überschaute und bewußt wie ein Darstellungsmittel ausgenützte Tonalität an ihrem Ende zu geben vermag. Der zweite, scherzoartige läßt alles grelle Weiß und alle schwarzen Fratzen des Strindbergschen Expressionismus los: Dämonen zerfetzen die Tonalität. Im dritten, den Gesangsvariationen zu der Georgeschen ›Litanei‹, besinnt Musik sich auf sich selbst. Reihenartig treten im Thema die wesentlichsten Motivbestandteile des Materials der beiden ersten zusammen. Integrale Konstruktion bändigt den Ausbruch von Trauer. Der letzte Satz aber, wiederum mit Gesang, tönt herüber aus dem Reich der Freiheit, die neue Musik schlechthin, trotz des Fis-Dur am Ende, ihr erstes schlackenloses Zeugnis, so utopisch inspiriert wie keine andere danach. Die instrumentale Einleitung dieser ›Entrückung‹ tönt wahrhaft, als wäre Musik aller Fesseln ledig geworden und dränge über ungeheure Abgründe hinweg zu jenem anderen Planeten, den das Gedicht beschwört. Schönbergs Zusammentreffen mit Georges ihm schroff entgegengesetzter und dennoch wahlverwandter Lyrik ist einer der wenigen Glücksfälle in seiner sporadischen und unsicheren Erfahrung dessen, was außerhalb der Musik zu seiner Zeit geistig sich zutrug. Solange er an George sich maß, war er gefeit vor den literarischen Versuchungen des wohlfeilen Urlauts: das Georgesche »Strengstes maaß ist zugleich höchste freiheit« hätte er als Maxime wählen können. Gewiß hängt die Qualität von Musik nicht simpel von der von Gedichten ab, aber authentische Vokalmusik will nur dort gelingen, wo sie im Gehalt der Dichtung einem Authentischen begegnet. Die Georgelieder op. 15 bezeugen bereits den manifesten Stilbruch und sind denn auch bei der Uraufführung durch eine programmatische Erklärung Schönbergs eingeleitet worden. Aber der Substanz nach gehören sie zum fis- zumal dessen letztem Satz. Die damals überaus ungewohnten und befremdenden Kompositionsmittel rufen noch
einmal die Idee der großen Liederzyklen, der Fernen Geliebten, der Müllerin, der Winterreise, herauf. Stets ist bei Schönberg das Zum-ersten-Mal ein Noch-einmal. Knappheit, Prägnanz und Charakteristik eines jeden einzelnen Liedes sind der Architektur des Ganzen ebenbürtig, mit dem Einschnitt nach dem achten Lied, dem Adagioschwerpunkt im elften und der Steigerung des letzten zum Finale. Der Klaviersatz hat sich asketisch aller herkömmlichen Sonorität entäußert und bringt dafür den gedämpften Zauber weltweiter Ferne heim. Die lyrische Wärme des »Saget mir auf welchem pfade«, die schleierlose Nacktheit von »Wenn ich heut nicht deinen leib berühre«, das auf der Höhe einer kaum mehr zu ertragenden Intensität des Ausdrucks bebende Pianissimo von »Als wir hinter dem beblümten tore« – das klingt, als könnte es nicht anders sein und wäre immer schon dagewesen. Der düstere Abschied des Endes aber weitet sich symphonisch wie einst der Jubel von »Und ein liebend Herz erreichet / was ein liebend Herz geweiht«. Mit den Georgeliedern beginnt die Phase der »freien Atonalität«, die Schönberg den Ruf des Umstürzlers eintrug, nachdem bereits die Kammersymphonie und das Zweite Quartett offenen Skandal erregt hatten. Heute erscheint der radikale Bruch von damals einzig das Unvermeidliche zu ratifizieren. Schönberg hat das Vokabular, vom Einzelklang bis zu den Schemata der großen Form, umgestülpt, aber er hat weiter das Idiom gesprochen, die Art musikalischer Textur angestrebt, die nicht nur genetisch, sondern auch dem Sinn nach mit den von ihm eliminierten Mitteln verwachsen ist. Solcher Widerspruch hat Schönbergs Entwicklung nicht weniger weitergetrieben als gehindert. Auch in den exponiertesten Werken blieb er traditionell derart, daß er zwar den musiksprachlichen Stoff ausschied, an dem seit dem beginnenden siebzehnten Jahrhundert der musikalische Zusammenhang sich herstellte, daß aber die Kategorien des Zusammenhangs als solche, die Träger eben der »subkutanen« Momente seiner Musik fast unangefochten bewahrt wurden. Das Idiom war ihm so selbstverständlich und jeder Frage entzogen wie nur Schubert, und etwas vom Überzeugenden seiner Gebilde rührt daher. Zugleich aber kommen die vertrauten Kategorien des musikalischen Zusammenhangs – etwa die von Thema, Fortsetzung, Spannung, Auflösungsfeld – mit dem von ihm freigesetzten Material nicht
mehr überein. Gereinigt von allen vorgegebenen Implikationen, ist es zugleich entqualifiziert. Eigentlich müßte jeder Augenblick und jeder Ton gleich nah zum Zentrum sein, und das schlösse die bei Schönberg vorwaltende Organisation des musikalischen Zeitverlaufs aus. Gelegentlich, in besonders ungebärdigen Stücken wie dem dritten aus op. 11, hat er danach gehandelt; sonst aber, als hätte er es noch mit vorstrukturiertem Material zu tun. Vielleicht war die Zwölftontechnik im innersten gemeint als Versuch, dem Material auf eigene Faust etwas von jener Vorstrukturiertheit zu verleihen. Denn sonst nimmt die schaltende Verfügung über das Material ein Äußerliches, Willkürliches, ja Blindes an. Nirgends wird das deutlicher als in Schönbergs Verhältnis zum musikalischen Drama. Es war, bei allem Expressionismus der beiden ersten Bühnenwerke, schlicht von der Wagnerischen Ästhetik diktiert. Noch in ›Moses und Aron‹ steht die Musik kaum anders zum Text als bei einem Neudeutschen, so wenig sie auch als solche mit den musikdramatischen Partituren zu schaffen hat. In Schönberg prallt Ungleichzeitiges aufeinander. Der immanent-musikalisch seiner Epoche um Lichtjahre voraus war, blieb ein Kind des neunzehnten Jahrhunderts, wo es um den terminus ad quem der Musik, ihre Funktion ging. Insofern ist die Kritik, die an Schönberg von Strawinsky her geübt wird, nicht bloß reaktionär, sondern markiert eine Grenze, die Schönbergs Naivetät vorzeichnet. Gegen sie wendet sich freilich das kunstfeindlich explosive Element Schönbergs. Die Klavierstücke op. 11 sind anti-ornamental bis zum Gestus des Zerschlagens. Unstilisierter, nackter Ausdruck und Kunstfeindschaft sind eins 1 . Etwas in Schönberg, vielleicht Gehorsam vor jenem »Du sollst dir kein Bild machen«, das ein Text der Chorstücke op. 27 zitiert, möchte in Musik, der bilderlosen Kunst, die abbildlich-ästhetischen Züge ausmerzen. Aber diese Züge sind zugleich Charaktere des Idioms, in dem jeder musikalische Gedanke Schönbergs gedacht wird. Daran hat er bis zum Ende laboriert. Immer wieder, auch in der Zwölftonphase, hat er heroische Anstrengungen des Vergessens, des Abbaus überdeckender musikalischer Schichten gemacht, aber immer wieder hat demgegenüber das musikalische Idiom sich zäh behauptet. Immer wieder folgen daher auf die Reduktionen komplexe, reich gewobene Werke, in denen musikalische Sprache wird, was eben noch die musikalische Sprache kündigen wollte. So
sind nach den ersten atonalen Klavierstücken die Orchesterstücke op. 16 entstanden, die zwar von der Emanzipation des Materials nichts nachlassen, aber, inmitten ihrer »Prosa«, aufs neue in Polyphonie und thematischer Arbeit sich entfalten. Diese resultiert, längst vor der Zwölftontechnik, bereits in »Grundgestalten«. Auch der ›Pierrot Lunaire‹ kennt ihresgleichen, etwa der »Mondfleck«, der berühmt ward durchs tour de force einer von zwei simultanen krebsgängigen Kanons begleiteten Fuge, aber überdies das Fugenthema und das des Bläserkanons schon streng aus einer Reihe ableitet, während der Streicherkanon ein »Begleitsystem« von der Art bildet, die dann in der Zwölftontechnik fast zur Regel ward. Wie die freie Atonalität aus dem Gefüge der großen tonalen Kammermusiken hervorging, so das Zwölftonverfahren aus der Kompositionsweise der freien Atonalität. Daß die Orchesterstücke das Reihenprinzip entdecken, ohne es zum System zu verfestigen, rückt sie zu den gelungensten Werken. Einige daraus, die verästelte Lyrik des zweiten und das in einem Schluß von beispielloser perspektivischer Kraft gesammelte letzte, sind den großen tonalen Kammermusikwerken und den Georgeliedern ebenbürtig. Als Kompositionen stehen die Bühnenwerke ›Erwartung‹ und ›Glückliche Hand‹ nicht dahinter zurück. Aber in ihnen fährt Schönbergs Kunstfeindschaft, als Kunstfremdheit, der Konzeption in die Parade. Sicherlich hat er kaum je etwas Freieres als die ›Erwartung‹ komponiert. Nicht nur die Darstellungsmittel, sondern die Syntax selber emanzipiert sich. Webern übertrieb nicht, als er in der ersten Sammelpublikation über Schönberg schrieb, die Partitur sei »ein unerhörtes Ereignis. Es ist darin mit aller überlieferter Architektonik gebrochen; immer folgt Neues von jähster Veränderung des Ausdrucks.« [ 104 ] Jeder Augenblick überantwortet sich der spontanen Regung, und der Gegenstand, die Darstellung der Angst, bewährt Schönbergs geschichtliche Innervation, verwandt der tiefsten des Expressionismus unmittelbar vor 1914. Aber in der Wahl des Textes hat Schönberg nicht zu unterscheiden vermocht. Marie Pappenheims Monodram ist Expressionismus aus zweiter Hand, dilettantisch nach Sprache und Bau, und das teilt sich auch der Musik mit. So ingeniös Schönberg das Ganze dreiteilig, in Suchen, Ausbruch und klagenden Abgesang gliedert, so wenig kann doch die Musik aus dem Text innere Form ziehen und muß, indem sie sich ihm anschmiegt, dieselben Gesten und Konfigurationen stets
wiederholen. So verstößt sie gegen das Postulat des unablässig Neuen. In der ›Glücklichen Hand‹, die bei nicht minder expressionistischer Haltung kompositorisch zum objektiv Symphonischen sich wendet und pastose Formflächen entwirft, wird solche Objektivität vom töricht-narzißtischen Sujet trostlos kompromittiert. Die Symphonie, zu der Schönbergs Werk zusammenschießen wollte, ist nicht geschrieben worden. Die Orchesterlieder op. 22 schließen mit den Worten »Und bin ganz allein in dem großen Sturm«. Schönberg muß damals die äußerste Steigerung seiner Kräfte erfahren haben. Seine Musik dehnt sich wie ein Riese: als wolle aus der selbstvergessenen Subjektivität – »ganz allein« – das Totale, der »große Sturm« aufrauschen. Diesen Jahren gehört der ›Pierrot Lunaire‹ an, von allen Werken Schönbergs seit der Preisgabe der Tonalität das bekannteste. Glücklich wird die Tendenz zum Objektiven, umfassend Weiten balanciert mit dem, was das Subjekt zu füllen vermag. Ein Kosmos aller erdenklichen musikalischen und expressiven Charaktere wird erstellt, aber wie im Spiegel isolierter Inwendigkeit, in einem Seelentreibhaus gleich dem, das kurz zuvor im Maeterlincklied besungen war; märchenhaft und absurd. Das Restaurative dabei, Passacaglia, Fuge, Kanon, Walzer, Serenade und strophisches Lied, zieht einzig ironisch, gleichsam denaturiert ins paradis artificiel ein, und die zu Aphorismen verkürzten Themen klingen bloß noch wie das ferne Echo buchstäblich gemeinter. Solche Gebrochenheit läßt sich aber nicht trennen vom anachronistischen Vorwurf. Die von Hartleben übertragenen Gedichte Albert Girauds regredieren hinter den Expressionismus in eine Sphäre des Kunstgewerbes, des figürlich Ornamentalen, Stilisierten. Was da an Form und Gehalt dem Subjekt verpflichtend gegenübertritt, bleibt dessen ihrer selbst unkundige Projektion. Nicht nur der Vorwurf bringt Schönbergs exquisites Meisterstück in eine paradox allem Exquisiten drohende Affinität zum Kitsch, sondern die Musik selber opfert in ihrer Neigung zu eingängigem Fließen und sinnfälligen Pointen etwas von dem, was Schönberg seit der ›Erwartung‹ vollbracht hatte. Bei aller virtuosen Spiritualität und obwohl im ›Pierrot‹ einige seiner kompliziertesten Kompositionen stehen, nimmt das musikalische Vorhaben, als Herstellung von Oberflächenzusammenhängen, die avancierteste Position unmerklich zurück. Das aber ist keiner Minderung des
kompositorischen Vermögens zuzuschreiben. Schönberg hat nie souveräner über die Mittel verfügt als in den Arabesken, die jegliche musikalische Schwerkraft spielend überwinden. Aber er kollidiert mit eben der geschichtlichen Notwendigkeit, die in keinem Musiker der Epoche vollkommener sich verkörpert hatte als in ihm selber. Er ist in die Aporie des falschen Übergangs geraten. Nichts Geistiges seit Hegel ist ihr entronnen – vielleicht weil Widerspruchslosigkeit im selbstgenügsamen Bereich des Geistes nicht mehr zu erlangen ist, wenn anders sie je zu erlangen war. Das ästhetische wie das philosophische Subjekt kann, als voll entfaltetes und seiner selbst mächtiges, sich nicht bei sich selbst und seinem »Ausdruck« bescheiden und muß auf objektive Verbindlichkeit zielen, wie sie Schönbergs schenkender Gestus vom ersten Tag an gemeint hat. Aus bloßer Subjektivität heraus jedoch, und wäre sie gespeist von aller gesellschaftlichen Dynamik, läßt diese Verbindlichkeit sich nicht bereiten, wenn sie nicht substantiell in der Gesellschaft gegenwärtig ist, von der doch heute das ästhetische Subjekt sich lossagen muß, eben weil sie jenes substantiellen Gehalts enträt. An Schönberg hat sich das Schicksal von Nietzsches Neuen Tafeln wiederholt und das Georges, der um der Möglichkeit kultischer Lyrik willen sich einen Gott erfand; nicht umsonst hat Schönberg zu beiden sich hingezogen gefühlt. Nach dem ›Pierrot‹ und den Orchesterliedern hat er die Komposition eines Oratoriums begonnen. Die Bruchstücke der Musik, die veröffentlicht wurden, zeigen nochmals Schönbergs Fähigkeit, ohne Umschweife das Äußerste zu treffen wie der Hammerschlag der ›Glücklichen Hand‹; der Text aber enthüllt das Verzweifelte des Unternehmens. In der literarischen Unzulänglichkeit kommt die Unmöglichkeit der Sache selbst, das Ungemäße eines religiösen Chorwerks inmitten der spätkapitalistischen Gesellschaft zutage: der ästhetischen Gestalt von Totalität. Das Ganze als Positives läßt sich nicht antithetisch, aus dem Willen und der Kraft des Einzelnen heraus, der entfremdeten und gespaltenen Realität abzwingen, sondern ist verwiesen auf die Negation, wofern es nicht zum Trugbild und zur Ideologie verderben soll. Das chef d'oeuvre blieb unvollendet, und das Eingeständnis des Scheiterns, Schönbergs Erkenntnis »Bruchstück wie alles« zeugt vielleicht mehr als jedes Gelingen für ihn. Fraglos hätte er forcieren können, was ihm vorschwebte, aber er muß in dem, was ihm vorschwebte, ein Falsches gespürt haben: die
Idee des chef d'oeuvre ist heute ins genre chef d'oeuvre verhext. Zu tief ist der Bruch zwischen der Substantialität des Ichs und einer Gesamtverfassung des gesellschaftlichen Daseins, die ihm nicht bloß die äußere Sanktion, sondern die apriorischen Bedingungen versagt, als daß Kunstwerken die Synthesis beschieden wäre. Das Subjekt weiß von sich selbst als einem Objektiven, der Zufälligkeit seines bloßen Daseins Entrückten, aber dies Wissen, das wahr ist, ist zugleich auch unwahr. Jener im Subjekt angelegten Objektivität ist die Versöhnung verwehrt mit einem Zustand, der ihren eigenen Gehalt negiert, gerade soweit die volle Versöhnung mit ihr gemeint ist, und in den sie doch übergehen müßte, um von der Ohnmacht des bloßen Für sich Seins geheilt zu werden. Je höher geartet der Künstler, um so größer die Verführung des Schimärischen. Denn wie Erkenntnis kann die Kunst nicht warten, aber sobald sie der Ungeduld nachgibt, verstrickt sie sich. Darin ähnelt Schönberg nicht nur Nietzsche und George sondern auch Wagner. Die Male des Sektierertums an ihm und seinem Umkreis sind Symptome des falschen Übergangs. Sein autoritäres Wesen ist so geartet, daß er, der sich folgerecht zum Prinzip der gesamten Musik aufwirft, es sich selber vorschreiben und ihm dann parieren muß. Die Idee der Freiheit in seiner Musik wird blockiert von dem desperaten Bedürfnis, einem Heteronomen sich zu beugen, weil die Anstrengung, bloße Individualität zu überschreiten und sich zu objektivieren, fehlschlägt. Die innere Unmöglichkeit der Objektivation der Musik manifestiert sich an den Zwangszügen ihrer ästhetischen Komplexion. Sie kann nicht wahrhaft aus sich herausgehen und muß darum die eigene Willkür, in deren Zeichen sie es versucht, zur Autorität über sich selber erhöhen. Der Bilderstürmer wird zum Fetischisten. Das Prinzip rational durchsichtiger und gleichwohl das Subjekt einschließender Musik, von der Verwirklichung abgeschnitten, verwandelt als Abstraktes sich in die starre, unbefragte Vorschrift. Die biblisch lange Schaffenspause läßt sich nicht aus Schönbergs privatem Schicksal in Krieg und Inflation zureichend erklären. Wie nach einer tödlichen Niederlage haben seine Kräfte sich umgruppiert. In jenen Jahren hat er sich ungemein intensiv mit dem von ihm gegründeten »Verein für musikalische Privataufführungen« befaßt. Was er für die musikalische Interpretation bedeutet, kann kaum überschätzt werden. Der als
Komponist das Subkutane nach außen kehrte, hat eine Darstellungsweise gefunden und tradiert, in der die subkutane Struktur sichtbar, in der die Aufführung zur integralen Realisierung des musikalischen Zusammenhangs wird. Das Interpretationsideal konvergiert mit dem kompositorischen. Der Traum vom musikalischen Subjekt-Objekt konkretisiert sich technologisch, nachdem der Komponist auf den Abschluß der ›Jakobsleiter‹ verzichtet hat. Er erwartet die Ausweitung ins Verbindliche nicht länger von überpersonalen Vorwürfen und Formen, sondern einzig von der Selbstbewegung der Sache kraft konsequenter Kompositionsverfahren. Er hat damit allen usurpatorischen und restaurativen Tendenzen, die in der nachexpressionistischen Musik sich hervorwagten, unbestechlich überlegen sich gezeigt selbst dort noch, wo er mit dem von ihm verspotteten Neoklassizismus sich berühren mochte. Aber das verbissene Vertrauen des späteren Schönberg auf die Verfahrensweise als Garantin umfassender Totalität schob die Aporie bloß zurück. Ein fast Unmerkliches hat mit der Musik unterm Primat der höchst ingeniösen Zwölftontechnik sich zugetragen. Wohl sind in ihr Erfahrungen und Regeln, die zwangvoll und überzeugend im kompositorischen Prozeß zusammenschossen, zum Bewußtsein erhoben, kodifiziert und systematisiert worden. Aber dieser Akt berührt den Wahrheitscharakter jener Erfahrungen. Sie sind nicht länger offen und der dialektischen Korrektur zugänglich. Als Nemesis droht Schönberg, was Kandinsky 1912 in einem Aufsatz zu seinem Ruhm geschrieben hatte: »Der Künstler meint, daß er, nachdem er ›endlich seine Form gefunden hat‹, jetzt ruhig weiter Kunstwerke schaffen kann. Leider merkt er gewöhnlich selbst nicht, daß von diesem Moment (des ›ruhig‹) er sehr bald diese endlich gefundene Form zu verlieren beginnt.« Denn jedes Kunstwerk ist ein Kraftfeld, und wie vom Wahrheitsgehalt des logischen Urteils denkender Vollzug nicht sich abtrennen läßt, so sind wahr Kunstwerke nur so weit, wie sie ihre materialen Voraussetzungen überschreiten. Das wahnhafte Element, das technisch-ästhetische Systeme mit solchen der Erkenntnis gemeinsam haben, sichert ihnen zwar ihre Suggestivkraft. Sie werden zum Modell. Aber indem sie der Selbstreflexion sich verweigern und sich stillstellen, befällt sie ein Totenhaftes und lähmt eben jene Impulse, die zuvor das System hervorgetrieben hatten. Kein Mittelweg entgeht der Alternative. Die
Einsichten, die im System geronnen sind, zu ignorieren, heißt ohnmächtig ans Überholte sich klammern. Das System selbst aber wird zur fixen Idee und zum Universalrezept. Falsch ist nicht das Verfahren an sich – keiner wohl kann heute mehr komponieren, der die Gravitation zur Zwölftontechnik nicht mit den eigenen Ohren verspürt hätte – sondern dessen Hypostasierung, die Abwehr des Anderen, nicht bereits analytisch Eingeschlossenen. Musik darf nicht die Methode, ein Stück subjektiver Vernunft, als die Sache selbst, als Objektives unterschieben. Dazu wird sie aber um so mehr genötigt, je weniger das ästhetische Subjekt an einem ihm Gegenüberstehenden und zugleich mit ihm Harmonierenden sich ausrichten kann: die Zauberformel ersetzt das umfassende Werk, das sich selbst verbietet. Wer Schönberg die Treue hält, müßte warnen vor allen Zwölftonschulen. Indem diese heute wie von Vorsicht und vom Tasten so vom Risiko nichts mehr wissen, haben sie sich in den Dienst des zweiten Konformismus gestellt. Die Mittel werden zum Zweck. Schönberg selber kam seine Bindung an die musiksprachliche Tradition zugute: er organisierte durchs Zwölftonverfahren höchst komplexe und solcher Stütze bedürftige Musik. Bei den Nachfolgern verliert es allmählich die Funktion und wird als bloßer Tonalitätsersatz mißbraucht, gut genug, um musikalische Phänomene aneinander zu kitten, die so simpel sind, daß man nicht so viele Umstände mit ihnen machen müßte. Auch an dieser Wendung indessen war Schönberg nicht ganz unschuldig. Zuzeiten schrieb er Zwölftongiguen und -rondos, Formen, an denen die Zwölftontechnik zur Überbestimmung wird, während sie zugleich unvereinbar bleibt mit Typen, welche so unmißverständlich die tonale Modulatorik voraussetzen. Er hat im Anfang die Inkonsistenz des allzu Konsistenten durch derlei Anleihen grell ins Licht gerückt, um dann jahrelang um die Korrektur sich zu bemühen. Bis heute noch ist das Potential der Zwölftontechnik offen. Sie erlaubte in der Tat die Synthesis von ganz freiem und ganz strengem Verfahren. Indem die thematische Arbeit ganz und gar das Material durchherrscht, könnte die Komposition selber wirklich athematisch, »Prosa« werden, ohne darüber der Zufälligkeit zu verfallen. Aber die Verdinglichung der Verfahrungsweise wird daran flagrant, daß Schönberg den Zwölftonreihen selber, die einzig das Material prädisponieren, zutraut, daß sie große Formen stiften. Was jedoch
einmal die Tonalität vermöge der modulatorischen Proportionen leistete, leistet eine Technik nicht, in deren Sinn es geradezu liegt, nicht auswendig zu erscheinen. Würden Zwölftonreihen und -relationen in einer größeren Form ebenso evident wie in der traditionellen Musik die Verhältnisse von Tonarten, so klapperte die Form mechanisch. Die Zwölftonreihen definieren nicht einen musikalischen Raum, innerhalb dessen das Werk spielt und der die Anschauung vorweg regelt. Sondern sie sind die kleinsten Einheiten, die es gestatten, ein integrales Ganzes allseitiger Beziehungen zu konstruieren. Würden sie manifest, so zerginge das Ganze in seine Atome. Schönbergs variative Phantasie hat denn auch selbstverständlich die Reihen hinter dem realen Verlauf der Musik versteckt. Dort konnten sie dann aber auch nicht die architektonische Wirkung ausüben, die er sich erhoffte. Der Widerspruch latenter Organisation und manifester Musik reproduziert sich auf höherer Stufe. Ihn zu bannen, beschwört Schönberg traditionelle Formmittel. Weil er der Zwölftontechnik Objektivität als eine Art allgemeinbegrifflicher Ordnung aufbürdete, die sie nicht trug, mußte er Kategorien solcher Ordnung von außen, ohne Rücksicht aufs Material heranholen. Des Glaubens an musikalische Ordnungskategorien an sich hat er sich nie entschlagen. Viele der großen zwölftönigen Sätze, besonders aus der amerikanischen Zeit, sind überzeugend gelungen. Die besten aber haben sich weder auf die Zwölftonreihen noch auf die traditionellen Typen verlassen. Es sind jene, in denen er unbefangen mit eigentlich kompositorischen Mitteln operiert; etwa um je verschiedene Kernmodelle geordnete thematische Flächen aneinander schichtet. Die Logik des Aufbaus wird nochmals gesteigert: die Konstruktion etwa des Hauptthemas aus dem ersten Satz des Violinkonzerts ist prägnanter als irgend etwas vor Einführung der Zwölftontechnik. An ihren Widerständen hat das kompositorische Vermögen sich potenziert. Aber der Schein des Natürlichen, des musikalischen ordo, den sie im Bewußtsein der Adepten als schlechte Erbschaft der Tonalität annimmt, die selber schon nicht Natur, sondern Produkt der Rationalisierung war, ist bloßes Zeugnis der Schwäche, der hilflosen Sehnsucht nach Sekurität. Das läßt drastisch etwa am Verhältnis der Zwölftontechnik zur Oktav sich zeigen. Die Identität der Oktav wird stillschweigend akzeptiert: sonst wäre eines der wichtigsten Zwölftonprinzipien, Versetzbarkeit jedes Tons in jede
beliebige Oktavlage, undenkbar. Zugleich aber haftet der Oktav selber etwas »Tonales« und das Gleichgewicht der zwölf Halbtöne Störendes an: wo Oktaven verdoppelt werden, assoziiert man Dreiklänge. Der Widerspruch hat sich in Schönbergs schwankender Praxis ausgeprägt. Früher, weithin schon in den Werken der freien Atonalität, war die Oktav vermieden. Dann aber hat Schönberg, wohl der klanglichen Verdeutlichung von Bässen und thematischen Hauptstimmen zuliebe, doch Oktaven geschrieben, und zwar zuerst in einem mit der Tonalität spielenden Stück, der Ode an Napoleon; hier so wenig wie dann im Klavierkonzert läßt eine gewisse Gewaltsamkeit und Unreinheit des Satzes sich überhören. Vollends in der Frühzeit der Technik verrät sich falsche Natur in Zügen des Apokryphen, Schäbigen und Absurden. Zuweilen droht Musik in zugleich formelhaftem und sinnleerem Wesen all ihre Sublimierung ungeschehen zu machen, zum kruden Stoff zu werden. So wie das Dogma der Astrologen die Bewegung der Gestirne und die Prognose menschlicher Schicksale zwar zusammenbringt, beide aber dem Vollzug der Einsicht unverbunden bleiben, so enthält auch die Folge der bis zur letzten Note determinierten Zwölftonereignisse für die lebendige Erfahrung den Rest eines Unverbundenen. Zum Hohn auf die mögliche Synthesis von Gesetzmäßigkeit und Freiheit erweist sich die verabsolutierte Notwendigkeit als Zufall. Nochmals siegte der große Komponist über den Erfinder, als Schönberg alle Energie seines späteren Lebens daran wandte, das apokryphe Element der Zwölftontechnik auszutreiben. Von ihm waren die ersten, nicht strikt zwölftönigen Reihenkompositionen noch frei. In den vier ersten Stücken aus op. 23 zittert die eruptive Gewalt der expressionistischen Phase nach. Kaum finden sich starre Partien. Das zweite etwa, eine Peripetie, jenem Typus zugehörig, zu dem unter Schönbergs Händen das Scherzo wurde, ist nur ein auskomponiertes Diminuendo höchster Originalität: der Ausbruch klingt rasch ab und läßt einen nächtlich ruhigen und tröstlich schließenden Nachsatz übrig. Das schwungvolle vierte Stück kommt der Idee einer athematischen Zwölftonkomposition nahe wie kaum ein anderes. Ganz und gar zwölftönig sind erst die Klaviersuite op. 25 und das Bläserquintett op. 26. Sie heben das Zwangshafte eigens hervor, eine Art Bauhausmusik, metallischer Konstruktivismus, dessen Schlagkraft gerade von der Absenz primären Ausdrucks herrührt; wo Ausdruckscharaktere begegnen, sind diese selber
»auskonstruiert«. Das Quintett, am schwierigsten wohl zu hören von allem, was Schönberg schrieb, treibt in seiner Schroffheit die Sublimierung nach einer Dimension hin am weitesten: es sagt der Farbe den Krieg an. Der Impuls gegen das Infantile, musikalisch Dumme ergreift das Medium, das mehr als andere kulinarisch, bloßer sinnlicher Reiz diesseits des geistigen Vollzugs scheint. Unter Schönbergs Akten der Integration musikalischer Mittel war nicht der letzte, daß er endgültig die Farbe der Sphäre des Schmückenden entriß und zum Kompositionselement eigenen Rechtes erhob. Sie verwandelt sich in ein Mittel der Verdeutlichung des Zusammenhangs. Solche Einbeziehung in die Komposition aber wird ihr zum Verhängnis. An einer Stelle von ›Style and Idea‹ hat er sie ausdrücklich verworfen. Je nackter die Konstruktion sich darstellt, um so weniger bedarf sie der koloristischen Hilfe. So kehrt sich das Prinzip gegen Schönbergs eigene Errungenschaften, vergleichbar vielleicht dem letzten Beethoven, bei dem alle sinnliche Unmittelbarkeit zu einem bloß Vordergründigen, Allegorischen sich reduziert. Man kann sich diese Spätform der Schönbergschen Askese, der Negation alles Fassadenhaften, leicht genug ausgedehnt denken auf alle musikalischen Dimensionen überhaupt. Mündige Musik schöpft Verdacht gegen das real Erklingende schlechthin. Ähnlich wird mit der Realisierung des »Subkutanen« das Ende der musikalischen Interpretation absehbar. Stumm imaginatives Lesen von Musik könnte das laute Spielen ebenso überflüssig machen wie etwa das Lesen von Schrift das Sprechen, und solche Praxis könnte zugleich Musik von dem Unfug heilen, der dem kompositorischen Inhalt von fast jeglicher Aufführung heute angetan wird. Die Neigung zum Verstummen, wie sie in Weberns Lyrik die Aura jeden Tones bildet, ist dieser von Schönberg ausgehenden Tendenz verschwistert. Sie läuft aber auf nicht weniger hinaus, als daß Mündigkeit und Vergeistigung der Kunst mit dem sinnlichen Schein virtuell die Kunst selber tilgen. Emphatisch arbeitet in Schönbergs Spätwerk die Vergeistigung der Kunst an deren Auflösung und findet sich so mit dem kunstfeindlichen und barbarischen Element abgründig zusammen. Daher sind denn auch Bestrebungen völliger Abstraktion, wie die von Boulez und jüngeren Zwölftonkomponisten in allen Ländern, keineswegs bloße »Verirrung«, sondern denken eine Intention Schönbergs weiter. Aber er hat sich doch nie ganz zum Sklaven der
eigenen Intention und der objektiven Tendenz gemacht. Das Schaltende und gewaltsam Verfügende im Verhältnis zum Material, immer schroffer im Alter, hat, paradox genug, in manchem Betracht den Systemzwang der losgelassenen Konsequenz gebrochen. Sein Komponieren hat niemals die primitive Einheit von Komposition und technischer Verfahrungsweise vorgetäuscht. Die Erfahrung, daß kein musikalisches Subjekt-Objekt heut und hier sich konstituieren kann, war an ihm nicht verschwendet. Das hat ihm auf der einen Seite die subjektive Bewegungsfreiheit gerettet, auf der andern den Dämon der Komponiermaschine von der objektiven Gestalt ferngehalten. Jene Freiheit gewann er wieder, sobald er mit der Zwölftontechnik abermals wie mit einer vertrauten »Sprache« umgehen konnte, in der Schule der unbelastet heiteren Kammersuite op. 29 und der fast didaktischen Orchestervariationen, aus denen Leibowitz ein Kompendium der neuen Technik destillierte. Die enge Fühlung mit dem Text und den wie sehr auch bescheidenen Pointen der Lustspieloper ›Von heute auf morgen‹ hat ihm vollends alle Flexibilität des musikalischen Idioms zurückgegeben. Ihrer bewußt, holt er zum zweitenmal zum chef d'oeuvre aus, und wieder verschiebt er den Abschluß mit jenem rätselvollen Glauben an eine endlose Lebenszeit, in den sich seine Verzweiflung über das Es-soll-nicht-sein maskierte. Daß in den frühen dreißiger Jahren tatsächlich seine Kraft nochmals zum Gipfel sich erhob, tat die unvergeßliche Darmstädter Uraufführung des ›Tanzes um das goldene Kalb‹ unter Scherchen im Sommer 1951 dar, die wenige Tage vor Schönbergs Tod zum erstenmal einem der Zwölftonwerke jenen Jubel eintrug, dessen der Verächter des Beifalls mehr als jeder andere bedurfte. Die Intensität des Ausdrucks, die Disposition der Farbe, die Gewalt des Aufbaus trägt über Stock und über Stein. Nach dem Text des Bruchstückes zu urteilen, wäre ›Moses und Aron‹ als vollendete Oper verloren gewesen; die unvollendete zählt zu den großen Fragmenten der Musik. Schönberg, der allen Konventionen im Bereich der Musik widerstand, hat in die Rolle sich gefunden, die ihm in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung zufiel, die ihn aufs Bereich der Musik vereidigte. Seine Regung, als Maler und Dichter darüber hinauszugehen, wurde vereitelt: Arbeitsteilung ist nicht durch den Anspruch des Universalgenies zu widerrufen. So hat er sich denn unter die »großen Komponisten« eingereiht, als wäre ihr Begriff
ewig. Die leiseste Kritik an einem der Meister seit Bach war ihm unerträglich; er bestritt nicht nur Qualitätsunterschiede im oeuvre jedes einzelnen, sondern womöglich auch noch stilistische zwischen ihren Arbeiten aus verschiedenen Gattungen, selbst so fraglose wie den zwischen Beethovens Symphonik und Kammermusik. Daß die Kategorie des großen Komponisten geschichtlich variieren könnte, kam ihm so wenig bei wie der Zweifel daran, daß sein Werk, wenn es an der Zeit sei, ähnlich etabliert sein müsse wie das eines Klassikers. Gegen seinen Willen, im Innern seines Werks kristallisierte sich, was musikalisch-immanent solchen gesellschaftlich naiven Vorstellungen entgegen ist. Der Überdruß am sinnlichen Scheinen in seinem Spätstil entspricht der Emaskulierung von Kunst im Angesicht der Möglichkeit, ihr Versprechen real einzulösen, aber auch dem Grauen, das, um solche Möglichkeit zu hintertreiben, jegliches Maß dessen sprengt, was noch Bild werden könnte. Inmitten des verblendeten Spezialistentums sind seiner Musik die Lichter aufgegangen, die über das ästhetische Bereich hinausstrahlen. Einmal hat seine unbestechliche Redlichkeit das Bewußtsein davon erreicht, in den ersten Monaten der Hitlerdiktatur, als er unverblümt sagte, daß zu überleben wichtiger sei als Kunst. Wenn sein Spätwerk, wie sonst wohl nur das Picassos, von der Hinfälligkeit aller Kunst nach dem Zweiten Krieg verschont blieb, so hat sie das jener Relativierung des Künstlerischen zu danken, zu der das kulturfremde Element Schönbergs selber sich vergeistigte. Vielleicht enträtselt das erst ganz die didaktischen Züge. Valérys Bemerkung, daß die Arbeit großer Künstler etwas von Fingerübungen hat, etwas von Studien zu Werken, die selber nie gelingen, könnte auf Schönberg gemünzt sein. Die Utopie der Kunst überflügelt die Werke. Übrigens schafft einzig dies Medium das eigentümliche Einverständnis zwischen Musikern, in dem der Unterschied von Produktion und Reproduktion gleichgültig wird. Sie spüren, daß sie an der Musik arbeiten und nicht an den Werken, wenngleich nur durch diese hindurch. Der späte Schönberg komponiert an deren Stelle Paradigmata einer möglichen Musik. Um so durchsichtiger wird die Idee der Musik selber, je weniger die Werke auf ihrem Schein bestehen. Sie nähern sich dem Fragmentarischen, dessen Schatten Schönbergs Kunst sein Leben lang begleitete. Nicht nur in ihrer Kürze, sondern in ihrer geschrumpften Diktion wirken die letzten
Arbeiten bruchstückhaft. An Splitter geht die Dignität des großen Werkes über. Oratorium und biblische Oper werden aufgewogen von den paar Minuten der Erzählung des ›Überlebenden von Warschau‹, in denen Schönberg von sich aus den ästhetischen Bereich suspendiert durchs Eingedenken an Erfahrungen, welche der Kunst schlechterdings sich entziehen. Schönbergs Ausdruckskern, die Angst, identifiziert sich mit der Angst der Todesqual von Menschen unter der totalen Herrschaft. Die Klänge der ›Erwartung‹, die Schocks der Filmmusik von »drohender Gefahr, Angst, Katastrophe«, treffen, was sie seit je prophezeiten. Was die Schwäche und Ohnmacht der individuellen Seele auszudrücken schien, bezeugt, was der Menschheit angetan wird in denen, die als Opfer das Ganze vertreten, das es ihnen antut. So wahr hat nie Grauen in der Musik geklungen, und indem es laut wird, findet sie ihre lösende Kraft wieder vermöge der Negation. Der jüdische Gesang, mit dem der ›Überlebende von Warschau‹ schließt, ist Musik als Einspruch der Menschheit gegen den Mythos.
Fußnoten 1 Der Gestus vollzieht vor den Ohren des Hörers, worauf Schönbergs Entwicklung abzielt: das Subkutane aufzudecken, analog zum gleichzeitigen Kubismus, in dem ebenfalls latente Strukturen ins unmittelbare Phänomen versetzt werden. Die Analogie betrifft zumal die Abschaffung der traditionellen Perspektive in der Malerei und die der tonalen – »räumlichen« – Harmonik. Beides folgt aus dem Impuls der Ornamentfeindschaft. Die malerische Perspektive, nicht umsonst »trompe-l'oeil« geheißen, enthält ein Element der Täuschung, das auch, auf eine freilich schwer zu bestimmende Weise, der tonalen Harmonik eignet, welche die Illusion räumlicher Tiefe hervorbringt. Eben diese wird vom Satz der Klavierstücke op. 11 zerstört. Unerträglich ward an der Harmonie das Illusionsmoment, und die Reaktion dagegen hat entscheidend dazu beigetragen, das Innere nach außen zu wenden. Das Illusionsmoment aber war aufs tiefste verbunden mit jenem stile rappresentativo, von dem Schönberg sich distanzierte. Soweit Kunst nachmacht, war sie immer auf Illusion aus. Aber wie die Malerei schaffte auch die Musik den Raum nicht einfach ab, sondern ersetzte den illusionären, vorgetäuschten durch einen gleichsam erweiterten, nur der Musik selber zugehörigen.
Valéry Proust Museum Hermann von Grab zum Gedächtnis
Der Ausdruck »museal« hat im Deutschen unfreundliche Farbe. Er bezeichnet Gegenstände, zu denen der Betrachter nicht mehr lebendig sich verhält und die selber absterben. Sie werden mehr aus historischer Rücksicht aufbewahrt als aus gegenwärtigem Bedürfnis. Museum und Mausoleum verbindet nicht bloß die phonetische Assoziation. Museen sind wie Erbbegräbnisse von Kunstwerken. Sie bezeugen die Neutralisierung der Kultur. Kunstschätze sind in ihnen angehortet: der Marktwert verdrängt das Glück der Betrachtung. Aber es ist doch auf die Museen verwiesen. Wer nicht selbst eine Sammlung besitzt – und die großen privaten Sammler werden zu Raritäten – kann Malerei und Plastik zu weitem Maß nur in Museen kennenlernen. Wo das Unbehagen an diesen überwiegt und der Versuch gemacht wird, etwa Bilder in ihrer ursprünglichen Umgebung zu zeigen oder einer, welche dieser ähnelt, in Barockoder Rokokoschlössern, stellt peinlichere Abneigung sich ein, als wo sie abgesprengt und wieder zusammengebracht erscheinen; das Feinsinnige tut der Kunst mehr Harm als selbst das Sammelsurium. Analoges gilt für die Musik. Die Programme der großen Konzertgesellschaften, meist retrospektiv gerichtet, haben mehr stets mit den Museen gemeinsam, aber der bei Kerzenlicht aufgeführte Mozart wird zum Kostümstück erniedrigt, und die Anstrengungen, Musik aus der Distanz der Aufführung in den Zusammenhang des unmittelbaren Lebens zurückzurufen, haben nicht nur etwas Hilfloses, sondern obendrein etwas von geschäftig rückschrittlicher Rancune. Mit Grund sagte Mahler, als ein Wohlmeinender ihm riet, der Stimmung zuliebe beim Konzert den Saal verdunkeln zu lassen, eine Aufführung, über der man nicht die Umgebung vergäße, tauge nichts. Es zeichnet in dergleichen Schwierigkeiten etwas von der fatalen Lage dessen sich ab, was kulturelle Tradition heißt. Sobald dieser keine umfangende, substantielle Kraft mehr innewohnt, sondern sie herbeizitiert wird, weil es doch gut wäre, Tradition zu haben, löst sich als Mittel zum Zweck auf, was von ihr noch übrig sein mag. Die kunstgewerbliche Veranstaltung spottet dessen, was da konserviert werden soll. Glaubt man, das Ursprüngliche lasse sich aus dem Willen
wiederherstellen, so verfängt man sich in hoffnungsloser Romantik; die Modernisierung des Vergangenen tut diesem Gewalt an und wenig Gutes; wollte man aber auf die Möglichkeit, das Traditionelle zu erfahren, radikal verzichten, so überlieferte man sich aus lauter Kulturtreue der Barbarei. Daß die Welt aus den Fugen ist, zeigt allerorten sich daran, daß man es falsch macht, wie man es auch macht. Bei der allgemeinen Einsicht in den negativen Zustand sollte man sich jedoch nicht beruhigen. Ein geistiger Rechtsstreit wie der ums Museum wäre mit spezifischen Argumenten durchzufechten. Dazu gibt es nun zwei außerordentliche Dokumente. Die beiden authentischen Dichter der letzten Generation in Frankreich, Paul Valéry und Marcel Proust, haben zur Frage des Museums sich geäußert, und zwar in genau entgegengesetztem Sinn; ohne daß übrigens jene Äußerungen polemisch aufeinander zugeschnitten wären oder daß auch nur die eine Kenntnis der anderen verriete. Valéry hat in seinem Beitrag zu einem Proust gewidmeten Sammelband hervorgehoben, wie wenig er mit dessen Romanwerk vertraut sei. Das in Rede stehende Stück von ihm heißt »Le problème des musées« und steht in dem Essayband ›Pièces sur l'art‹. Die Stelle bei Proust kommt im dritten Band von ›A l'ombre des jeunes filles en fleurs‹ vor. Valérys Plädoyer bezieht sich offensichtlich auf die verwirrende Überfülle des Louvre. Er habe die Museen nicht allzu gern. So viel des Bewundernswerten in ihnen aufbewahrt werde, so wenig gebe es dort das Köstliche. Das Wort délices, das er dafür verwendet, gehört, beiläufig gesagt, zu den schlechterdings unübersetzbaren: Köstlichkeiten klänge wie aus dem Feuilleton, Wonnen schwerfällig-wagnerisch, Entzückungen käme vielleicht dem Gemeinten am nächsten, aber keines von all den Worten drückt die leise Erinnerung an feudalen Genuß aus, die der Haltung des l'art pour l'art seit Villiers de l'Isle-Adam gesellt war und die auf deutsch nur in der Rosenkavalierkomik von »deliziös« anklingt. Jedenfalls fühlt der seigneuriale Valéry sich bedrängt schon von der autoritären Geste, die ihm den Spazierstock abnimmt, und von dem Schild, welches das Rauchen verbietet. Kalte Verwirrung herrsche unter den Skulpturen, ein Tumult gefrorener Geschöpfe, deren jedes die Nichtexistenz des anderen fordert, sonderbar organisierte Unordnung. Inmitten der zur Kontemplation dargebotenen Bilder
werde man, spottet Valéry, von heiligem Schauder ergriffen: man spreche zwar eben noch lauter als in der Kirche, aber doch leiser als im Leben. Man wisse nicht, warum man gekommen sei: um sich Bildung zu holen, um Entzücken zu suchen oder um eine Pflicht zu erfüllen, einer Konvention nachzukommen. Ermüdung und Barbarei fänden sich zusammen. Keine Kultur der Wollust und keine der Vernunft hätten ein derartiges Haus des Unzusammenhängenden errichten können. Tote Visionen seien darin aufgebahrt. Das Sinnesorgan des Ohrs, meint Valéry, der der Musik ferner stand und daher Illusionen hegen mochte, sei besser daran: niemand könne ihm zumuten, zehn Orchester zugleich zu hören. Vollends der Geist führe nicht simultan alle möglichen Operationen aus. Nur das bewegliche Auge müsse im gleichen Augenblick ein Portrait und ein Seestück, eine Küche und einen Triumphzug auffassen, vor allem aber: miteinander schlechterdings unvereinbare Malweisen. Je schöner jedoch Bilder seien, um so mehr seien sie voneinander verschieden: seltene Objekte, Unica. Dies Bild, so sage man zuweilen, tötet die anderen, die es umgeben. Wird daran vergessen, so gehe das Erbe zugrunde. Wie der Mensch seine Kräfte einbüße durchs Übermaß von technischen Hilfsmitteln, so verarme er durchs Übermaß seiner Reichtümer. Valérys Argumentation trägt durchaus kulturkonservative Akzente. Er hat sich gewiß wenig um die Kritik der politischen Ökonomie bekümmert. Um so erstaunlicher, daß die ästhetischen Nerven, die den falschen Reichtum registrieren, so genau auf den Tatbestand der Überakkumulation ansprechen. Metaphorisch gebraucht er einen Ausdruck, der wörtlich für die Wirtschaft gilt, und spricht von der Ansammlung eines exzessiven und daher unverwertbaren Kapitals. Was immer geschehe – ob Künstler produzieren oder reiche Leute sterben, es komme den Museen zugute; wie die Spielbank könnten sie nicht verlieren, und eben das sei ihr Fluch. Denn die Menschen seien trostlos verloren in den Galerien, Einsame gegen so viel Kunst. Keine andere Reaktion darauf sei möglich als jene, die Valéry überhaupt als den Schatten des Fortschritts jeglicher Materialbeherrschung ansieht, anwachsende Oberflächlichkeit. Kunst werde zur Sache von Erziehung und Information, Venus zum Dokument, und Bildung sei, in Angelegenheiten der Kunst, eine Niederlage. Ganz ähnlich argumentierte Nietzsche in der Unzeitgemäßen Betrachtung über
den Nutzen und Nachteil der Historie. Valéry erreicht, im Schock des Museums, die geschichtsphilosophische Einsicht ins Absterben der Kunstwerke: wir richten dort, sagte er, die Kunst der Vergangenheit hin. Er werde das großartige Chaos des Museums – ein Gleichnis, könnte man es nennen, für die Anarchie der Warenproduktion in der entfalteten bürgerlichen Gesellschaft – noch auf der Straße nicht los und suche nach dem Grund seines Unbehagens. Malerei und Skulptur, so spreche zu ihm der Dämon der Erkenntnis, seien verlassene Kinder. »Ihre Mutter ist tot, ihre Mutter, die Architektur. Solange sie lebte, gab sie ihnen ihren Ort, ihre Beschränkung. Die Freiheit zu irren war ihnen versagt. Sie hatten ihren Raum, ihr wohldefiniertes Licht, ihren Stoff. Es herrschten zwischen ihnen die rechten Verbindungen. Solange jene lebte, wußten sie, was sie wollten ... Leb wohl, sagt mir der Gedanke, weiter will ich nicht gehen.« Mit einem romantischen Gestus hält Valérys Reflexion inne. Indem er sie offenläßt, vermeidet er die sonst unvermeidliche Konsequenz des radikalen Kulturkonservativen: die Kultur zu kündigen, um ihr die Treue zu halten. Prousts Ansicht über das Museum ist aufs kunstvollste in den Zusammenhang der ›Recherche du temps perdu‹ verwoben. Nur dort erschließt sie sich ganz in ihrem Stellenwert. Durchweg bei Proust sind die Reflexionen, durch deren Gebrauch er auf die ältere vor-Flaubertsche Übung des Romans zurückgreift, nicht bloße Betrachtungen über das Dargestellte, sondern durch unterirdische Assoziationen mit diesem zusammengewachsen und fallen dergestalt wie die Erzählung selbst ins große ästhetische Kontinuum, das des inwendigen Selbstgesprächs. Er berichtet von seiner Reise nach dem Seebad Balbec. Dabei markiert er die Zäsur, die Reisen in den Ablauf des Lebens setzen, indem sie »uns von einem Namen zu einem anderen Namen führen«. Schauplätze jener Zäsur seien zumal die Bahnhöfe, »diese ganz besonderen Stätten ..., die sozusagen kein Teil der Stadt sind und doch die Essenz ihrer Persönlichkeit so deutlich enthalten, wie sie in dem Signalschild ihren Namen tragen«. Bahnhöfe werden, wie alles unter dem Blick der Proustschen Erinnerung, die gleichsam die Intention aus ihren Gegenständen saugt, zu geschichtlichen Urbildern, und zwar, als solche des Abschieds, zu tragischen. Von der Glashalle der Gare Saint-Lazare heißt es: »Über einer auseinandergerissenen Stadt
spannte sie ihren weiten wüsten Himmel voll drohender Dramen; so modern, so fast pariserisch sind manche Himmel von Mantegna oder Veronese, unter solcher Wölbung kann sich nur etwas Furchtbares und Feierliches vollziehen, eine Abfahrt auf der Eisenbahn oder die Kreuzerhöhung.« Der assoziative Übergang zum Museum ist im Roman verschwiegen: das Bild jenes Bahnhofs, gemalt von dem von Proust leidenschaftlich geliebten Claude Monet, das jetzt in der Sammlung des Jeu de Paume sich befindet. Ohne viel Worte vergleicht er den Bahnhof dem Museum. Beide Orte sind dem konventionellen Oberflächenzusammenhang der Aktionsobjekte entzogen, und dem mag man hinzufügen: beide sind Träger einer Todessymbolik, der Bahnhof der uralten des Reisens, das Museum jener, die sich auf das Werk bezieht, »l'univers nouveau et périssable«, den neuen und hinfälligen Kosmos, den der Künstler geschaffen habe. Gleich den Erwägungen Valérys kreisen die Prousts um die Sterblichkeit der Artefakte. Was ewig dünkt, sagt er an anderer Stelle, enthalte in sich die Motive seiner Destruktion. Die entscheidenden Sätze übers Museum sind eingelassen in die Physiognomik des Bahnhofs. »Aber auf allen Gebieten hat ja unsere Zeit die Manie, uns die Dinge in ihrer natürlichen Umgebung vor Augen führen zu wollen und damit das Wesentliche zu unterschlagen, nämlich den geistigen Vorgang, der sie aus jener heraushob. Man ›präsentiert‹ heute ein Bild inmitten von Möbeln, kleinen Kunstgegenständen und Vorhängen ›aus der Epoche‹ in einer belanglosen Dekoration, die jetzt in neu eingerichteten Stadthäusern eine gestern noch in diesen Dingen völlig unwissende Hausherrin großartig zustande bringt, nachdem sie ihre Tage in Archiven und Bibliotheken verbracht hat; aber das Meisterwerk, das man während des Abendessens betrachtet, schenkt uns nicht mehr das gleiche berauschende Glücksgefühl, das man nur in einem Museumssaal – der viel besser in seiner nüchternen Enthaltung von allen Details die inneren Räume symbolisiert, in die sich der Künstler zurückgezogen hat, um es zu erschaffen – wird erwarten können.« Prousts These ist der Valéryschen vergleichbar, weil er mit ihm die Voraussetzung des Glücks an den Kunstwerken teilt. Wie Valéry von den délices, spricht er von der joie enivrante, der berauschenden Freude. Weniges könnte den Abstand nicht nur zwischen der gegenwärtigen Generation von der vorhergehenden, sondern auch
zwischen dem deutschen Verhältnis zur Kunst und dem französischen genauer charakterisieren als jene Voraussetzung; schon als ›A l'ombre‹ geschrieben ward, muß im Deutschen der Ausdruck Kunstgenuß rührend philiströs geklungen haben wie ein Reimwort aus Wilhelm Busch. Übrigens war es um diesen Genuß, an den Valéry und Proust glauben wie an die Versicherung einer bewunderten Mutter, immer schon fraglich bestellt. Wer den Kunstwerken nah ist, dem pflegen sie so wenig Gegenstände des Entzückens zu sein wie der eigene Atem. Weit eher lebt er mit ihnen wie der moderne Einwohner einer mittelalterlichen Stadt, der, vom Besucher auf die Schönheit von Gebäuden aufmerksam gemacht, darauf brummig »ja, ja« antwortet, aber in jedem Winkel und unter jedem Torbogen sich auskennt. Nur dort jedoch, wo jene feste Distanz zwischen den Kunstwerken und dem Betrachter herrscht, welche den Genuß erlaubt, kann die Frage nach deren Lebendigoder Totsein aufkommen. Wer im Kunstwerk zu Hause ist, anstatt es zu besuchen, verfiele schwerlich darauf. Die beiden Franzosen aber, die doch nicht bloß selbst produzieren, sondern zudem stetig über die eigene Produktion nachdenken, sind gleichwohl des Glückes noch gewiß, das die Werke dem draußen spenden. So weit sogar stimmen sie überein, daß sie etwas von der Todfeindschaft der Werke untereinander wissen, die jenes Glück begleitet, das im Wettkampf entsprang. Proust jedoch, anstatt vor solcher Feindschaft zu erschrecken, bejaht sie, als wäre er so deutsch, wie Charlus es affektiert. Der Prozeß zwischen den Werken ist ihm einer von Wahrheit; die Schulen, heißt es an einer Stelle von ›Sodome et Gomorrhe‹, verschlingen sich gegenseitig wie Mikroorganismen und sorgen durch ihren Kampf dafür, daß das Leben sich erhält. Diese dialektische, übers Beharren vorm Sein des je Einzelnen hinausgehende Ansicht bringt Proust in Gegensatz zu dem Artisten Valéry und erlaubt ihm die perverse Toleranz für die Museen, während jenem die Sorge um die Dauer der Werke alles ist. Sie mißt sich am Jetzt und Hier. Die Kunst ist für Valéry verloren, wenn sie ihren Platz im unmittelbaren Leben eingebüßt hat, den Funktionszusammenhang, in dem sie stand; schließlich: ihre Beziehung auf möglichen Gebrauch. Der Handwerker in ihm, der Dinge, Gedichte mit jener Präzision der Konturen herstellt, die stets den Blick auf ihre Umgebung einbegreift, ist für den Ort des Kunstwerkes, den buchstäblichen und den geistigen, unendlich
hellsichtig geworden, so als wäre bei ihm das perspektivische Gefühl des Malers zu einem für die Perspektive der Realität gesteigert, in der das Werk selber erst seine Tiefe empfängt. Sein Standpunkt ist der künstlerische als der der Unmittelbarkeit, aber zur verwegensten Konsequenz getrieben. Er gehorcht dem Prinzip des l'art pour l'art bis zur Schwelle von dessen Verneinung. Ihm liegt am reinen Kunstwerk als Objekt der durch nichts verwirrten Kontemplation, aber er faßt es so lange und so starr ins Auge, bis er sieht, daß es gerade als Gegenstand solcher reinen Kontemplation abstirbt, zum kunstgewerblichen Zierstück degeneriert und jener Würde beraubt wird, die fürs Werk wie für Valéry selbst die raison d'être ausmacht. Dem reinen Werk droht Verdinglichung und Gleichgültigkeit. Mit dieser Erfahrung überwältigt ihn das Museum. Er entdeckt, daß die reinen Werke, die der Betrachtung im Ernst standhalten, nur die nicht reinen Werke sind, die in jener Betrachtung sich nicht erschöpfen, sondern auf einen gesellschaftlichen Zusammenhang hinweisen. Und da Valéry mit der Unbestechlichkeit des großen Rationalisten weiß, daß dieser Stand der Kunst unwiederbringlich ist, so bleibt dem Antirationalisten und Bergsonianer in ihm nichts übrig als die Trauer um die versteinerten Werke. Fast beginnt der Romancier Proust dort, wo der Lyriker Valéry ins Schweigen fällt, beim Nachleben der Werke. Denn Proust primäres Verhältnis zur Kunst ist das Gegenteil der Haltung des Experten und des Produzenten. Er ist zunächst der bewundernd Konsumierende, der Amateur, geneigt zu jenem überschwenglichen und unter Künstlern verdächtigen Respekt, den nur jene für Werke aufbringen, die gleichwie durch einen Graben von ihnen getrennt sind. Fast könnte man sagen, seine Genialität habe nicht zum letzten darin bestanden, diese Haltung des Konsumenten – auch die dessen, der im Leben selber als Zuschauer sich geriert – so unbeirrt einzunehmen, bis sie umschlug in einen neuen Typus der Produktivität, bis die Kraft der Kontemplation des Inwendigen und Auswendigen sich steigerte zum Eingedenken, zur unwillkürlichen Erinnerung. Der Liebhaber paßt von vornherein unvergleichlich viel besser ins Museum als der Sachverständige. Dieser, Valéry, fühlt sich dem Atelier zugehörig, jener, Proust, flaniert durch die Ausstellung. Seine Beziehung zur Kunst hat etwas Exterritoriales, und manche seiner Fehlurteile, etwa in Fragen der Musik – was hat
der konziliante Kitsch seines Freundes Reynaldo Hahn mit Prousts Roman zu tun, der in jedem seiner Sätze durch unerbittliche Zartheit eine etablierte Ansicht außer Kurs setzt – zeigen bis zum Ende Spuren des Dilettanten. Aber er hat diese Schwäche so großartig zum Instrument der Stärke umgeschmiedet wie nur Kafka die seine. So viel naiver sein enthusiastisches Urteil über die einzelnen Kunstwerke, zumal die italienische Renaissance, sich anhört als das Valérys, so viel weniger naiv stand er zur Kunst als solcher. Von Naivetät gerade bei Valéry zu reden, bei dem der künstlerische Produktionsvorgang und die Reflexion auf diesen Vorgang unauflöslich ineinander verschlungen sind, mag provokatorisch klingen. Aber er war in der Tat naiv insofern, als er keinen Zweifel an der Kategorie des Kunstwerks als solcher hegte. Er nahm es, nach einer englischen Redensart, for granted; und die Dynamik seines Denkens, seine geschichtsphilosophische Energie steigerte sich gerade im Festhalten an jener Kategorie. Sie wird zum Kriterium dafür, wie die innere Zusammensetzung der Kunstwerke und der Erfahrung von ihnen sich verändert. Proust aber ist ganz frei von dem unabdingbaren Fetischismus des Künstlers, der die Dinge selber macht. Ihm sind von Anbeginn die Kunstwerke, neben ihrem spezifisch Ästhetischen, ein anderes, ein Stück des Lebens dessen, der sie betrachtet, ein Element seines eigenen Bewußtseins. Dadurch gewahrt er an ihnen eine Schicht, die sehr verschieden ist von der, auf welche das Formgesetz der Werke sich bezieht. Das ist aber keine andere als die, welche an den Kunstwerken erst mit ihrer geschichtlichen Entfaltung frei wird, eben die, welche bereits den Tod der lebendigen Intention des Kunstwerks voraussetzt. Prousts Naivetät ist eine zweite; auf jeder Stufe des Bewußtseins reproduziert sich erweitert neue Unmittelbarkeit. Wenn Valérys konservativer Glaube an Kultur als ein reines Ansichsein schneidende Kritik an einer Kultur übt, die jenes Ansichsein vermöge ihrer eigenen historischen Tendenz zerstört, dann resultiert Prousts außerordentliche Sensibilität für Änderungen der Erfahrungsweise, seine bestimmende Reaktionsform, in der paradoxen Fähigkeit, Geschichtliches als Landschaft wahrzunehmen. Museen adoriert er wie Gottes wahre Schöpfung, die ja, Prousts Metaphysik zufolge, nicht fertig ist, sondern kraft jeden konkreten Moments der Erfahrung, kraft jeder ursprünglichen künstlerischen Anschauung aufs neue sich ereignet. In seinem
staunenden Blick hat er sich ein Stück Kindheit gerettet; ihm gegenüber spricht Valéry von Kunst wie ein Erwachsener. Weiß dieser etwas von der Macht, die Geschichte über Produktion und Apperzeption der Werke hat, so weiß Proust, daß Geschichte im Innern der Kunstwerke selbst gleichwie ein Verwitterungsprozeß waltet. »Ce qu'on appelle la postérité, c'est la postérité de l'oeuvre« – das darf man wohl übersetzen: was die Nachwelt heißt, ist das Nachleben der Werke. In der Fähigkeit der Artefakte zu verwittern, entdeckt Proust ihre Ähnlichkeit mit dem Naturschönen. Er kennt die Physiognomik des Verfalls der Dinge als die ihres zweiten Lebens. Weil nichts bei ihm Bestand hat als das bereits durch die Erinnerung Vermittelte, haftet seine Liebe am zweiten schon vergangenen Leben eher als am ersten. Die Frage nach der ästhetischen Qualität ist dem Proustschen Ästhetizismus sekundär; an einer berühmten Stelle hat er die mindere Musik verherrlicht um der Erinnerung ans Leben des Hörers willen, die jeder alte Schlager so viel treuer und eindringlicher bewahrt, als ein Satz von Beethoven, ein an sich Seiendes, je es vermöchte. Der saturnische Blick der Erinnerung durchdringt den Schleier von Kultur: kulturelle Niveaus und Distinktionen, nicht länger als Domäne des objektiven Geistes isoliert, sondern hereingezogen in die strömende Subjektivität, verlieren jenen pathetischen Anspruch, den ihnen noch Valérys Ketzereien ungebrochen konzedieren. Das Chaotische des Museums, an dem Valéry sich stößt, weil es den Ausdruck der Werke verwirrt, gewinnt bei Proust eigenen Ausdruck: den tragischen. Der Tod der Werke im Museum erweckt diese für Proust zum Leben; durch den Verlust der Ordnung des Lebendigen, in der sie fungiert haben, soll erst ihre wahre Spontaneität sich entbinden: das je Einmalige, ihr Name, das, worin die großen Werke der Kultur mehr sind als bloß Kultur. Prousts Reaktionsform bewährt in abenteuerlichem Raffinement das Goethesche Diktum aus Ottiliens Tagebuch, daß alles in seiner Art Vollkommene über seine Art hinausweise – einen sehr unklassischen Satz, der der Kunst Ehre widerfahren läßt, indem er sie relativiert. Wer aber nicht beim geistesgeschichtlichen Verständnis sich bescheiden will, kann nicht der Frage sich entziehen, wer recht habe, der Kritiker oder der Retter des Museums. Für Valéry ist das Museum Stätte der Barbarei. Zugrunde liegt die Anschauung von der Heiligkeit der Kultur, die er mit Mallarmé teilt. Gegenüber allen
Einwänden, welche von dieser Religion des spleen herausgefordert werden, zumal den eilfertig sozialen, ist auf dem Moment ihrer Wahrheit zu bestehen. Nur was um seiner selbst willen, ohne den Blick auf die Menschen, denen es gefällig sein soll, da ist, erfüllt seine menschliche Bestimmung. Wenig hat zur Enthumanisierung so viel beigetragen wie der an der Vorherrschaft der schaltenden Vernunft gebildete, allmenschliche Glaube, geistige Gebilde empfingen ihre Rechtfertigung nur, insoweit sie für anderes da sind. Valéry hat ihren objektiven Charakter, die immanente Stimmigkeit des Kunstwerks und die Zufälligkeit des Subjekts ihr gegenüber, mit unvergleichlicher Autorität dargetan, weil er die Einsicht an subjektiver Erfahrung, dem Zwang in der Arbeit des Künstlers selber gewann. Darin war er fraglos Proust überlegen: unverführbar, von größerer Resistenz, während der Proustische Primat des Erfahrungsstroms, der nichts Verhärtetes duldet, einen finsteren Aspekt, den des Konformismus, der bereitwilligen Anpassung an die je wechselnde Situation mit Bergson gemein hat. Es gibt bei ihm Stellen über Kunst, die aus losgelassenem Subjektivismus jener banausischen Ansicht ähneln, die aus den Kunstwerken eine Batterie projektiver Tests macht, während Valéry gelegentlich, und kaum ohne Ironie, darüber klagt, daß die Qualität von Gedichten nicht sich testen lasse. Nach einer Äußerung im zweiten Band des ›Temps retrouvé‹ ist das Werk des Schriftstellers nichts als eine Art von optischem Instrument, das er dem Leser anbietet, damit dieser in sich entdeckt, was er ohne das Buch vielleicht nicht hätte entdecken können. Auch was Proust zugunsten des Museums vorbringt, ist vom Menschen, nicht von der Sache her gedacht. Nicht zufällig identifiziert er, was im musealen Nachleben der Werke aufgehen soll, mit einem Subjektiven, dem jähen Akt der Produktion, durch den das Kunstwerk von der Realität sich scheidet. Ihn findet er in jener Isolierung der Gebilde widergespiegelt, die Valéry als deren Schandmal betrachtet. Erst diese Treulosigkeit der fessellosen Subjektivität dem objektiven Geist gegenüber befähigt Proust, die Immanenz der Kultur zu durchbrechen. Weder Valéry noch Proust hat recht in dem latenten Prozeß, der zwischen ihnen anhängig ist, noch ließe gar eine mittlere Versöhnung zwischen beiden sich herbeiführen. Aber ihr Konflikt bezeichnet aufs eindringlichste einen der Sache selbst, und beide stellen Momente jener Wahrheit bei, welche die Entfaltung des
Widerspruchs ist. Die Fetischisierung des Objekts und die Vernarrtheit des Subjekts in sich selber finden wechselseitig ihr Korrektiv. Die Positionen gehen ineinander über. Valéry wird des Ansichseins der Werke in unablässiger Selbstreflexion gewahr, während umgekehrt der Proustsche Subjektivismus das Ideal, die Rettung des Lebendigen von der Kunst erhofft. Er vertritt gegen die Kultur, und durch diese hindurch, Negativität, Kritik, den spontanen Akt, der beim Sein sich nicht bescheidet. Damit läßt er den Kunstwerken Gerechtigkeit widerfahren, die nur so weit welche sind, wie sie den Inbegriff solcher Spontaneität verkörpern. Er hält um des objektiven Glücks willen an der Kultur fest, während Valérys Loyalität dem objektiven Anspruch der Werke gegenüber die Kultur verloren geben muß. Und wie beide kontradiktorische Momente der Wahrheit repräsentieren, so haben beide, die Wissendsten, die in der neuen Zeit über Kunst geschrieben haben, Schranken, ohne die ihr Wissen selber nicht möglich gewesen wäre. Valéry ließ wenig Zweifel darüber, daß er mit seinem Lehrer Mallarmé darin übereinstimmte, daß, wie es in dem Essay »Triomphe de Manet« heißt, Dasein und Dinge einzig dazu da seien, um von der Kunst verzehrt zu werden; daß die Welt existiere, um ein schönes Buch hervorzubringen; daß ein absolutes Gedicht ihre Vollendung sei. Er gewahrte auch scharf den Fluchtpunkt, dem die poésie pure zustrebt. »Nichts führt so sicher zur vollkommenen Barbarei«, beginnt ein anderer seiner Essays, »wie die ausschließliche Bindung an den reinen Geist.« In der Tat kam seine eigene Anschauung, die Erhöhung der Kunst zum Bilderdienst, jenem Prozeß der Verdinglichung und des Verschleißes der Kunst zugute, als dessen Stätte Valéry das Museum verfemt: erst im Museum, wo die Bilder der Betrachtung als Selbstzweck dargeboten sind, werden sie so absolut, wie Valéry es sich erträumte, und er erschrickt tödlich vor der Verwirklichung des eigenen Traums. Dagegen weiß Proust das Heilmittel. Indem die Kunstwerke, als Elemente des subjektiven Bewußtseinsstroms ihres Betrachters, gleichsam nach Hause geholt werden, verzichten sie auf die kultische Prärogative und sind damit befreit von dem usurpatorischen Zug, der ihnen in der heroischen Ästhetik der Impressionisten eignet. Dafür überschätzt Proust nach Art der Amateure den Akt der Freiheit in der Kunst. Oft versteht er die Werke, gar nicht so verschieden von den Nervenärzten, allzu sehr
als Abdruck des Seelenlebens dessen, der das Glück und Unglück hatte, sie hervorzubringen oder zu genießen, und gibt nicht volle Rechenschaft davon, daß das Kunstwerk seinem Autor und seinem Publikum bereits im Augenblick der Konzeption als ein Objektives, Forderndes mit eigener Konsequenz und Logik gegenübertritt. Wie das Leben der Künstler, so erscheinen auch ihre Gebilde nur von außen »frei«. Weder sind sie Spiegelungen der Seele, noch Verkörperungen Platonischer Ideen, reines Sein, sondern »Kraftfelder« [ 105 ] zwischen Subjekt und Objekt. Das objektiv Notwendige, für das Valéry spricht, verwirklicht sich nur durch den Akt der subjektiven Spontaneität hindurch, in den Proust allen Sinn und alles Glück verlegt. Der Kampf gegen die Museen hat etwas von Donquichotterie nicht bloß, weil der Einspruch der Kultur gegen die Barbarei ungehört verhallt: es bedarf des hoffnungslosen Einspruchs. Aber Valéry ist noch um ein weniges zu harmlos im Verdacht, daß lediglich die Museen es an den Bildern verüben. Noch die an der alten Stelle in den Schlössern jener Adeligen hängen, um die wiederum Proust mehr sich bemühte als Valéry, wären Museumsstücke ohne Museen. Was am Leben des Kunstwerks zehrt, ist zugleich dessen eigenes Leben. Wenn Valérys kokette Allegorie Malerei und Skulptur den Kindern vergleicht, welche die Mutter verloren haben, dann wäre daran zu erinnern, daß in den Mythen die Helden, in denen das Menschliche dem Schicksal sich entringt, allemal die Mutter verloren. Zur vollen promesse du bonheur werden Kunstwerke erst losgerissen von ihrem Nährboden, auf der Bahn zum eigenen Untergang. Das hat Proust erkannt. Der Vorgang, der jedes Kunstwerk heute, und wäre es die jüngste Plastik von Picasso, dem Museum überantwortet, ist irreversibel. Er ist aber nicht nur verworfen, sondern deutet auf einen Zustand, in dem die Kunst, die ihre eigene Entfremdung von den menschlichen Zwecken vollendet, nach dem Vers des Novalis ins Leben zurück sich begibt. Etwas davon ist in Prousts Roman zu spüren, wo die Physiognomien von Bildern und Personen ohne Schwelle fast ineinander gleiten und die Erinnerungsspuren an Erlebnisse und an musikalische Passagen. An einer der exponiertesten Stellen des Ganzen, auf der ersten Seite von ›Du côté de chez Swann‹, bei der Beschreibung des Einschlafens, sagt der Erzähler: »es kam mir so vor, als sei ich selbst, wovon das Buch handelte: eine Kirche, ein Quartett, die
Rivalität zwischen Franz dem Ersten und Karl dem Fünften«. Das ist die Versöhnung des Getrennten, dem Valérys unversöhnliche Klage gilt. Das Chaos der Kulturgüter verdämmert in die Seligkeit des Kindes, dessen Leib sich eins fühlt mit dem Nimbus der Ferne. Die Museen lassen sich nicht zusperren, es wäre auch nicht einmal zu wünschen. Die Naturalienkabinette des Geistes haben recht eigentlich die Kunstwerke in eine Hieroglyphenschrift der Geschichte verwandelt und ihnen einen neuen Gehalt hinzugefügt, während der alte einschrumpfte. Dagegen ist kein der Vergangenheit abgeborgter und zugleich ihr unangemessener Begriff reiner Kunst aufzubieten. Keiner hätte das besser gewußt als Valéry, der eben darum seine Reflexion abbrach. Wohl aber verlangen die Museen nachdrücklich, was eigentlich schon jedes Kunstwerk verlangt: etwas vom Betrachter. Denn auch der Flaneur, in dessen Schatten Proust wandelte, ist längst hinab, und keiner kann mehr durch Museen schlendern, um hier und dort sein Entzücken zu finden. Das einzige Verhältnis zur Kunst, das in der katastrophisch verhängten Realität noch anstünde, wäre eines, das die Kunstwerke so blutig ernst nimmt, wie der Weltlauf es geworden ist. Des von Valéry diagnostizierten Übels erwehrt sich bloß, wer mit Stöcken und Schirmen die Reste seiner Naivetät draußen abgegeben hat, genau weiß, was er will, zwei oder drei Bilder sich aussucht und vor ihnen so konzentriert verharrt, als wären es wirklich Idole. Manche Museen kommen ihm dabei entgegen. Mit Luft und Licht haben sie auch jenes Prinzip der Auswahl sich zugeeignet, das Valéry zu dem seiner Schule erklärt hat und das er an den Museen vermißt. In jenem Jeu de Paume, wo jetzt die Gare St.-Lazare hängt, wohnen Prousts Elstir und Valérys Degas friedlich nahe und doch diskret getrennt beieinander.
George und Hofmannsthal Zum Briefwechsel: 1891–1906 Walter Benjamin zum Gedächtnis
Wer den Briefwechsel zwischen George und Hofmannsthal zur Hand nimmt, um daraus Erkenntnis dessen zu gewinnen, was mit der deutschen Lyrik in den fünfzehn Jahren sich zutrug, die der Band umschließt, der wird vorab enttäuscht. Während die beiden mit Strenge und Vorsicht bis zur Stummheit sich voreinander verschließen, fördert ihre persönliche Disziplin kaum je die sachliche Erörterung. Vielmehr scheint der Gedanke von der Starre mitbefallen. Publikationstechnische und verlagspolitische Details, dazwischen gereizt-zurückhaltende Angriffe und stereotype Verteidigungen füllen die Seiten. Stellen, wie Georges Kritik eines überzähligen Wortes in einem Hofmannsthalschen Vers, wie seine Polemik gegen Dehmel und sein gleichsam verhandlungsloses Urteil über das ›Gerettete Venedig‹ sind die Ausnahme. Der Gestus der Briefe möchte glauben machen, daß die Materialnähe des Künstlers weitgreifender Reflexionen nicht bedürfe oder auch, daß man gemeinsamer Erfahrungen und Anschauungen zu sicher sei, um sich auf profanierendes Zerreden einzulassen. Dieser Anspruch indessen beruht eher auf stillschweigender Vereinbarung, als daß die Briefe selber ihn bewährten. Ihm widerspricht der formale Charakter der Rezeption zumal von Hofmannsthals Gedichten durch George, der dem Jüngeren gegenüber durchweg in der Position des Redaktors sich befindet. Nicht von George, sondern von einem wohlwollenden Herausgeber wären Sätze zu erwarten wie: »ich empfange und lese Ihre gedichte und danke Ihnen. Sie können kaum eine strofe schreiben die einen nicht um einen neuen schauer ja um ein neues fühlen bereichert.« [ 106 ] Es handelt sich um zwei von Hofmannsthals denkwürdigsten lyrischen Modellen, »Manche freilich müssen drunten sterben« und das »Weltgeheimnis«, das noch in dem »Lied« aus Georges letztem Band erinnert wird. An das erledigende Lob schließt George die unbegreifliche Frage: »Ist es Ihre absicht das gedicht ›Manche
freilich müssen‹ ... auf ›Weltgeheimnis‹ folgen zu lassen? oder ist es teil? eine angabe darüber fehlt.« [ 107 ] Die Unterstellung der bloßen Möglichkeit, daß die zwei Gedichte, das eine trochäisch, vier- und sechszeilig gegliedert, das andere jambisch-daktylisch, durchweg vierfüßig, in dreizeiligen gereimten Strophen, zusammen eines abgeben könnten, straft das vorausgesetzte sachliche Einverständnis Lügen. So muß die Armut an theoretischem Gehalt aus der Position der beiden wenig naiven Autoren geklärt werden. Unter den Plänen zur Zusammenarbeit an den ›Blättern für die Kunst‹, wie sie Hofmannsthal 1892 mit dem Bevollmächtigten Georges, Carl August Klein, brieflich erwog, fehlen nicht durchaus solche theoretischer Publikationen. Hofmannsthal fragt am 26. Juni: »Womit werden die einzelnen [Hefte] bei der notwendiger Weise geringen Zahl der Mitarbeiter und der quantitativ geringen Produktion von wirklichen Kunstwerken ausgefüllt werden? oder soll der Kritik und der technischen Theorie Raum gewährt werden, und wenn, wieviel?« [ 108 ] Er erhält den Bescheid: »von landläufigen kritischen essays kann keine rede sein« [ 109 ] , der dann von Klein einigermaßen undeutlich dahin abgemildert wird, es bleibe »nicht ausgeschlossen dass jeder von uns über ein beliebiges kunstwerk sein urteil abgibt« [ 110 ] . Denn es sei – im altfränkischen Sprachgebrauch der deutschen décadence – »sehr interessant über bilder über ein theater- oder musikstück irgend eine neue oder pikante ansicht zu hören« [ 111 ] . Hofmannsthal, längst Mitarbeiter an Zeitschriften wie ›Die Moderne‹ oder die ›Moderne Rundschau‹, gibt sich dabei nicht zufrieden. »Unter Prosaaufsätzen hatte ich mir weit weniger landläufige kritische Essays als vielmehr Reflexionen über technische Fragen, Beiträge zur Farbenlehre der Worte und ähnliche Nebenproducte des künstlerischen Arbeitsprocesses vorgestellt, durch deren Mittheilung einer den andern, wie ich meine, wohl zu fördern im Stande wäre.« [ 112 ] Die »Farbenlehre der Worte« spielt vermutlich auf die »Voyelles« an, eines der drei Gedichte Rimbauds, die George später in die Übertragungen zeitgenössischer Dichter aufgenommen hat. Die »Voyelles« sind eine Litanei der Moderne, die ihre Macht noch über die Surrealisten behauptet. Wenn Rimbaud darin die Enthüllung der naissances latentes der Vokale für die Zukunft verspricht, dann hat mittlerweile das Geheimnis des Gedichtes selber sich enthüllt. Es ist die Genauigkeit des Ungenauen, wie sie erstmals in Verlaines »Art
poétique« als Verbindung des Indécis und des Précis gefordert war. Poesie wird zur technischen Beherrschung dessen, was vom Bewußtsein sich nicht beherrschen läßt. Die Belehnung von Lauten mit Farben, die mit ihnen in keinem Zusammenhang als dem der bedeutungsfernen Gravitation der Sprache stehen, emanzipiert das Gedicht vom Begriff. Zugleich indessen überantwortet die Sprache als Instanz das Gedicht der Technik: die Charakteristik der Vokale ist nicht sowohl deren assoziative Verkleidung als eine Anweisung, wie sie im Gedicht sprachgerecht zu verwenden seien. Auch die »Voyelles« sind ein Lehrgedicht. Das Verlainesche kommt mit ihm überein. Die Nuance, die Verlaine als Regel proklamiert, ist vom Schlage jener Korrespondenz von Laut und Farbe: ihre Unterstellung unter den Primat der Musik hält zugleich ihre Bedeutungsferne fest und macht die technische Stimmigkeit zum Kriterium der Nuancen selber, der recht oder falsch gegriffenen Töne 1 . Das schweigsame Verfahren von George und Hofmannsthal appelliert an nichts anderes als Rimbauds und Verlaines Manifeste: das Inkommensurable. Das ist nicht das metaphysische Absolutum, auf welchem die erste deutsche Romantik und ihre Philosophie bestand. Träger des Inkommensurablen ist nicht zufällig der Ton: es ist nicht intelligibel sondern sinnlich. Der Dichtung fallen jene sensuellen Momente des Gegenstandes – fast könnte man sagen: des naturwissenschaftlichen Objekts – zu, die sich exakten Meßmethoden entziehen. Der poetische Kontrast des Lebens zu dessen technischer Entstellung ist selbst technischer Art. Die überlaut gepriesene Feinnervigkeit des Künstlers macht ihn gewissermaßen zum Komplement des Naturforschers: als befähigte ihn sein Sensorium, kleinere Differenzen zu registrieren als die den Apparaten zugänglichen 2 . Er versteht sich als Präzisionsinstrument. Die Sensibilität wird zur Versuchsanordnung, ja zur Veranstaltung, jene Grundreize auf der Skala der Empfindungen ablesbar zu machen, die anders der subjektiven Herrschaft sich entzögen. Als Techniker wird der Künstler zur Kontrollinstanz seiner Sensibilität, die er an- und abstellen kann, wie Niels Lyhne sein Talent. Er bemächtigt sich des Unerwarteten: dessen, was unter den kurrenten Ausdrucksmaterien noch nicht vorkommt; des Neuschnees, in welchem noch keine Intentionen ihre Spur hinterlassen haben 3 . Wenn aber die nackte Empfindung der Deutung durch den Dichter sich verweigert, unterjocht er sie, indem er die unberechenbare in
den Dienst berechneter Wirkung stellt. Das Geheimnis des sinnlichen Datums ist kein Geheimnis sondern die blinde Anschauung ohne Begriff. Es ist vom Schlag des gleichzeitig etwa von Ernst Mach formulierten Empiriokritizismus, in dem das Ideal naturwissenschaftlicher Akribie mit der Preisgabe jeglicher Selbständigkeit der kategorialen Form sich zusammenfindet. Die reine Gegebenheit, welche diese Philosophie herauspräpariert, bleibt undurchdringlich wie das Ding an sich, das sie verwirft. Das Gegebene läßt sich nur »haben«, nicht halten. Als Erinnerung und gar in Worten ist es nicht mehr es selbst; ein Abstraktum, in dessen Bereich man das unmittelbare Leben verwiesen hat, nur um es mit der Technik desto besser manipulieren zu können. Nicht länger vermögen die kategorialen Formen Subjekt und Objekt zu fixieren: beide versinken im »Bewußtseinsstrom« als im wahren Lethe der Moderne. Das Gedicht an George, das den Briefwechsel eröffnet, hat zum Titel: »Einem, der vorübergeht«. George wird sogleich des Ungehörigen gewahr: »aber bleibe ich für Sie nichts mehr als ›einer, der vorübergeht‹?« [ 113 ] 4 Er ist von Anbeginn darauf aus, das Sein vorm Strom des Vergessens zu schützen, an dessen Rand gleichsam er seine Gebilde aufrichtet 5 . Zum Schutz dient die Esoterik: als Geheimnis wird festgebannt, was anders entglitte. Daher das Schweigen des nicht existenten Einverständnisses. Denn das statuierte Geheimnis existiert selber nicht. Das hochtrabende Gleichnis, worin der Briefwechsel es designiert, bleibt ganz inhaltslos: »später aber wär ich gewiss zusammengebrochen hätt ich mich nicht durch den Ring gebunden gefühlt, das ist eine meiner lezten weisheiten – das ist eins der geheimnisse!« [ 114 ] Es muß gewahrt werden, nicht sowohl um Profanierung als um Demaskierung zu verhüten. In der mystischen Zelle sind die puren Stoffe versammelt. Würde aber die Technik öffentlich, die über die Stoffe disponiert, so ginge mit ihr der Anspruch des Dichters auf eine Herrschaft verloren, die längst an die Veranstaltung zediert ward. Geheimgehalten wird das nicht Geheime; eingeweiht wird ins Rationale die Technik selber. Je mehr die Fragen der Dichtung in Fragen der Technik sich übersetzen, um so lieber bilden sich exklusive Zirkel. Der Teppich, das intentionslose Stoffgewirk, stellt ein technisches Rätsel; dessen »lösung« aber »wird den vielen nie und nie durch rede« [ 115 ] . Die Rechtfertigung des Zirkels jedoch, wie er für George in der
Mitarbeiterschaft an den ›Blättern für die Kunst‹ sich auswies, ist keineswegs die Teilnahme an verborgenen Gehalten, keineswegs die Substantialität des Einzelnen, sondern technische Kompetenz: »Und nicht einmal von den ganz kleinen will ich schweigen · den zufälligen schnörkeln und zieraten · die ich an sich betrachtet völlig preisgebe. Dass aber diese kleinsten solche arbeit zu liefern vermochten: dass man ihnen rein handwerklich bei aller dünnheit nicht soviel stümperei anzukreiden hat als manchen Vielgerühmten: das scheint mir zeitlich und örtlich betrachtet für unsre kunst und kultur von höherer bedeutung als alle verbände und alle theaterstücke auf die Sie damals hoffnungen sezten.« [ 116 ] Es bleibt offen, ob die Technik als Arcanum, sakramental tradiert, nicht notwendig in technische Insuffizienz umschlägt: in jene Routine, die der vulgären Kritik vor Augen steht, wenn sie von Formalismus schwatzt. Je leerer das Geheimnis, um so mehr bedarf sein Wahrer der Haltung. Sie ist es, die George an seinen Schülern außer Technik zu rühmen weiß: »Ihnen aber mit Ihrem grossen gefühl für stil muss es doch mindestens zu denken gegeben haben – muss es doch sehr anmutend geschienen haben – diese menschen zu sehen ›die nie mitthaten‹ ›sich nie öffentlich machten‹ von so vornehmer haltung wie sie in Ihrem kreis etwa durch unsren gemeinsamen freund Andrian vertreten sind.« [ 117 ] Wie sehr auch das nicht Mittun und die Distanz vom Betrieb für diese Haltung spricht, es wird der Begriff zugleich kompromittiert durch das Epitheton vornehm, das jene Distanz positiv bestimmen soll. Ja, dem Begriff Haltung selber ist nicht zu trauen. In der intelligiblen Welt spielt er eine ähnliche Rolle, wie in der profanen das Rauchen. Wer Haltung hat, lehnt sich in seine Persönlichkeit zurück: die Kälte, die sein Ausdruck vorstellt, macht einen guten Eindruck. Monaden, die durch ihr Interesse voneinander abgestoßen werden, ziehen durch die Geste des Uninteressierten noch am ehesten sich an. Die Not der Entfremdung wird in die Tugend der Selbstsetzung umgebogen. Darum sind im Lob der Haltung alle einig. Sie wird an einem Revolutionär so gern gerühmt wie an Max Weber, und in den ›Nationalsozialistischen Monatsheften‹ präsentierten bereits die Jagdhunde sich knapp, gefaßt und entschlossen. Das Unrecht, das der überlegene Einzelne in der Konkurrenzgesellschaft allen anderen notwendig antut, schreibt er sich durch Haltung als
moralischen Profit gut. Nicht bloß die stramme, noch die edle Haltung ist stigmatisiert, und selbst jene Anmut, die nach Georges Ideenhierarchie als Schönheit des einfach gestalthaften Seins die oberste Stelle einnimmt. War Anmut einmal Ausdruck des Dankes am Menschen – des Dankes, den diesem die Götter abstatten, wenn er ohne Angst und ohne Hochmut in der Schöpfung sich zu bewegen vermag, als wäre sie es noch –, dann ist Anmut heute, entstellt, Ausdruck jenes Dankes am Menschen, den ihm die Gesellschaft abstattet, weil er als einstimmend Zugehöriger sicher zugleich und widerstandslos in ihr sich bewegt. Charme und Grazie und ihr Erbe, der gut Aussehende, taugen eben noch dazu, das Privileg vergessen zu machen. Das Edle selber ist edel kraft des Unedlen. Das kommt bei George nicht bloß in sinistren Formulierungen zu Tage wie: »Ich habe nie etwas andres als Ihr bestes gewollt. Mögen Sie sich davon nicht zu spät überzeugen.« [ 118 ] Wer vor seinen Gedichten die Besonnenheit aufbringt, den pragmatischen Gehalt nicht über der prätendierten Identität mit dem lyrischen zu vergessen, dem ist ein Niedriges an den gehobenen Stellen oft unverkennbar. Schon im berühmten Eingangszyklus des ›Jahres der Seele‹, »Nach der Lese«, wird eine demütigende Ersatzliebe vorgeführt, deren Restriktionen vor der Beleidigung der Geliebten nicht zurückscheuen. Zwischen den zartesten Versen stehen solche von unbedachter Roheit. Kein Geschäftsmann ließe so leicht sich beikommen, seiner Freundin »und ganz als glichest du der Einen Fernen« und ähnliche karge Freundlichkeiten zu sagen. Mit Grund stellt der Gedanke an den Geschäftsmann sich ein: das Ideal, das man sich selber nicht gönnt und das einem gerade gut genug dazu ist, das herabzusetzen, was man ohnehin hat, gehört zur eisernen Ration des Bürgers. Solche Idealität ist die Kehrseite von Sein, Gehalt und Kairos. »Der heut nicht kam bleib immer fern!« [ 119 ] Er muß sich am Parkgitter die Nase plattdrücken und obendrein noch eine platte Nase nachsagen lassen. In jedem Augenblick wird die Georgesche Kultur mit Barbarei erkauft. Der Gegensatz von George und Hofmannsthal bewegt sich um das Postulat der Haltung, das George durch Vorbild wie Rede immer wieder erhebt und dem Hofmannsthal mit unablässig variierten Wendungen sich entzieht, wie dem Ausfall »es widerstrebt mir sehr, den Ausdruck der Herrschaft über das Leben, der Königlichkeit des Gemüthes aus einem Munde zu vernehmen,
dessen Ton mich nicht zugleich mit der wahren Ehrfurcht erfüllt« [ 120 ] oder der Parade »in mir ist vielleicht die Dichterkraft mit anderen geistigen Drängen dumpfer vermischt als in Ihnen« [ 121 ] . Er setzt jedoch der Haltung eine Lässigkeit entgegen, die kaum menschlicher sich bewährt als das Unerbittliche. Es ist die geflissentliche Weltoffenheit des Jungen Herren aus großem Hause, als welchen Hofmannsthal später seine am ersten Tage schon legendäre Vergangenheit stilisierte; dessen der keiner Haltung bedarf, weil er ohnehin dazugehöre. Krampfhaft identifiziert er sich mit der Aristokratie oder wenigstens jener Art großbürgerlicher society, die mit ihr manche Interessen teilt und Bescheid weiß: »Soviel von mir: außerdem bin ich wohl, werde ein paar Tage dieses Sommers in München vor den Bildern zubringen, den Herbst wohl in Böhmen zur Jagd. Und Sie? Wenigstens ein paar Zeilen bei Gelegenheit wären mir sehr erwünscht. Hugo Hofmannsthal.« [ 122 ] Die böhmischen Wälder haben es ihm angetan. Von »einem meiner Freunde« heißt es: »Er gehört völlig dem Leben an, keiner Kunst. Er wird Ihnen einen schönen Begriff von österreichischem Wesen geben, bei reichlicher Übersicht über vielfältige äußere und innere Verhältnisse auch der anderen Länder. Es ist der Graf Joseph Schönborn, von der böhmischen Linie des Hauses« [ 123 ] , deren mit Nonchalance Erwähnung geschieht. George, in chthonischen Dingen zuständiger und nüchtern genug, um die Hoffnungslosigkeit solcher Anbiederung zu erkennen, nennt darauf das Kind beim Namen: »Sie schreiben einen satz, mein lieber freund: ›er gehört völlig dem Leben an, keiner Kunst‹ den ich fast als lästerung auffassen möchte. Wer gar keiner kunst angehört darf sich der überhaupt rühmen dem leben anzugehören? Wie? höchstens in halbbarbarischen zeitläuften.« [ 124 ] Hofmannsthals Lässigkeit assimiliert die Kritik in weniger als einem halben Jahr: »Mir schwebt eine Art von Brief an einen sehr jungen Freund vor, der dem Leben dient, und dem gezeigt werden soll, daß er sich mit dem Leben niemals recht verknüpfen kann, wenn er sich ihm nicht zuerst in der geheimnisvollen Weise entfremdet, deren Werkzeug das Aufnehmen von Dichtungen ist.« [ 125 ] Unbestimmt bleibt, zu welcher Art Leben der junge Freund vorbereitet werden soll. Es ist aber Grund zur Annahme, daß das höhere von Attachés und Offizieren gemeint ist, die sich mit den Söhnen der Bankiers und Fabrikbesitzer beim Vornamen nennen, wobei alle Beteiligten ihren
Adel taktvoll sich verschweigen 6 . Man braucht das Glücksverlangen nicht zu verkennen, das den Snob inspiriert, der aus dem Bereich des Praktischen in ein gesellschaftliches zu entweichen trachtet, das dem Geist in der Absage an Utilität verschworen scheint. Die Mädchen zu Hofmannsthals Gedichten waren nicht im Mittelstand zu finden. Aber der Geist, der auf jene gesellschaftlichen Abenteuer sich einläßt, hat es nicht leicht. Er kann beim Glanz des schönen Lebens sich nicht bescheiden und muß in dessen Mitte die Erfahrung des Das ist es nicht wiederholen, von der er sich abwandte. Dem ist der eine Proust gerecht geworden. Seine Jugendphotographien ähneln denen Hofmannsthals, als hätte die Geschichte zweimal an verschiedenen Stellen das gleiche Experiment geplant. An Hofmannsthal ist es gescheitert. Der Intellektuelle, der, von Hunden umspielt, fröhlichem Waidwerk obliegt oder »viel Reiten durch Abenddämmerung, Wind und Sternlicht« [ 126 ] vorhat, kann sich schwerlich gut sein. Der Geist ist reçu um den Preis seiner Selbstdenunziation. Hofmannsthals böhmischen Affiliationen entspricht der verstohlene Eifer des Umgänglichen, von anderen Intellektuellen sich fernzuhalten. In seinem paradis artificiel waltet kein Bergotte und kein Elstir: »Leider ist meine Gesellschaft eine so durchaus unlitterarische, daß ich Ihnen keinen ernst zu nehmenden Mitarbeiter vorzuschlagen weiß.« [ 127 ] Solche krampfhafte Selbstverleugnung des Literaten gründet in den problematischen Beziehungen zwischen der Macht und den Intellektuellen. Ohne angedrehten Charme und gewundene Schultern geht es nicht ab. Die deutsche society, die sich aus Landadligen und Großunternehmern rekrutierte, war der künstlerischen und philosophischen Tradition weniger verbunden als die westliche. Die feinen Leute nach 1870 haben meist unsicher und nervös mit der Kultur sich eingelassen; unsicher und nervös sind die Intellektuellen denen entgegengekommen, die keinen Augenblick ihre Bereitschaft vergessen ließen, jeden herauszuwerfen, der unbequem wurde. Die paar Schriftsteller, die darauf bestanden, die »Nation« zu repräsentieren, hatten die Wahl, entweder die herrschende Halbroheit als Substantialität und »Leben« zu glorifizieren, oder der wirklichen society, der sie nachliefen und vor der sie Angst hatten, eine Traumsociety zu substituieren, die sich nach ihnen richtete und die man jener als
pädagogisches Muster vor Augen stellen konnte. Hofmannsthal hat beides versucht: er hat, vertrauend auf substantielle Momente der österreichischen Tradition, eine Ideologie für das high life gemacht, welche diesem eben jene humanistische Gesinnung zuschiebt, gegen die der Jagdstiefel erhoben ist, und hat eine fiktive Aristokratie sich ausgedacht, die seine Sehnsucht als erfüllt vorspiegelt. Der Schwierige Kari Bühl ist das Produkt dieser Bemühung. Der junge Hofmannsthal war derart kunstreicher Kreationen noch nicht mächtig. Er macht sich bei den Feudalen als Zwischenhändler des fin du siècle beliebt; er vermittelt ihnen bald auf anpreisende, bald auf apologetische Weise, womit die Eliten in England, Frankreich und Italien den Ton angeben. Es ist, als wolle er manche derer, die er sucht, zum Dank intellektuelle Manieren lehren. Das eröffnet ihm zugleich den Zugang zum Markt. Die Unterweisungen, die er den Wiener Phäaken über d'Annunzio, die Bashkirtseff und den modern style erteilt, waren als Feuilletons recht wohl danach angetan, dem mittleren Bürger, der von alldem ausgeschlossen ist, das Wasser im Munde zusammenlaufen zu lassen, wie denn in der ganzen Esoterik der schmeichelnde Appell an jene mitklingt, die nicht mitspielen dürfen 7 . Auch darin erweisen die Geheimnisse des Ästhetizismus sich als öffentliche. Der Plauderer Loris gibt mit der Miene der Heimlichkeit den Zeitgeist jenem Publikum preis, von dem er ohnehin stammt. – Der Flügel der deutschen Rechten, mit dem Hofmannsthal sympathisiert, ist zum Nationalsozialismus übergegangen, soweit man es ihm erlaubt hat, oder tobt sich in jener geistigen Handweberei aus, deren Figuren Lorenz und Cordula heißen. Sie dienen der Propaganda auf eigene Weise: ihr besonnenes Maßhalten dementiert das maßlose Grauen. 1914 begnügte sich die äußerste Gemeinheit mit den Reimen, zu denen freilich auch Hofmannsthal beitrug. Im Zeitalter der Konzentrationslager haben die Skribenten das verschlossene Schweigen, die herbe Rede und die nachsommerliche Fülle gelernt. Hans Carossa übertäubt mit dem Wachsen des Grases das Donnern der Geschütze 8 . Die Georgesche Schule hat, bei geringerer Weitläufigkeit, mehr Widerstand aufgebracht: darin zeigte die angestrengte Haltung immer noch jener »Herrschaftlichkeit«, jenem Blick »von oben herab« sich überlegen, den Borchardts Mißverständnis an Hofmannsthal zu rühmen wußte [ 128 ] . George selber zumindest blieb unverführt von einer mondanité, die auch über Hitler
internationale Gespräche zu führen verstand. Das »geheime Deutschland«, das George proklamierte, vertrug sich weniger gut mit dem aufgebrochenen als das legere Einverständnis, das von Anbeginn sich nicht durch die Landesgrenzen beengt fühlte, die später revidiert werden sollten. Er hatte den Blick für die fatale Toleranz, die ihm die maßgebenden Salons hätten bewilligen mögen. Diesen zieht er Konventikel vor, zu denen er ohnehin gravitiert: als Verfemter. Davon gibt der Briefwechsel Zeugnis. Der Grund der Aufregung, die George im Hause des siebzehnjährigen Hofmannsthal hervorrief, wird nicht ausgesprochen. Robert Boehringer datiert die Affäre auf einen Tritt zurück, den George im Café einem Hund mit den Worten »sale voyou« erteilt haben soll [ 129 ] . Die Sphäre des Konflikts wird richtiger wohl bezeichnet in dem Brief, mit dem George – in der Absicht nach Mexiko auszuwandern – von Hofmannsthals Vater sich verabschiedet: »Mögen ihr hr. sohn und ich uns auch im ganzen leben nicht mehr kennen wollen, wendet er sich weg, wende ich mich weg, für mich bleibt er immer die erste person auf deutscher seite die ohne mir vorher näher gestanden zu haben mein schaffen verstanden und gewürdigt – und das zu einer zeit wo ich auf meinem einsamen Felsen zu zittern anfing es ist schwer dem nicht-dichter zu erklären von wie grosser bedeutung das war. Das konnte denn kein wunder sein dass ich mich dieser person ans herz warf (Carlos? Posa?) und habe dabei durchaus nichts anrüchiges gefunden.« [ 130 ] Zwei Tage früher heißt es in einem Brief an Hofmannsthal selber: »Also auf etwas hin und gott weiss welches etwas ›das Sie verstanden zu haben glauben‹ schleudern Sie einem gentleman der dazu im begriff war Ihr freund zu werden eine blutige kränkung zu. Wie konnten Sie nur so unvorsichtig sein, selbst jeden verbrecher hört man nach den schreiendsten indizien.« [ 131 ] Das ist die Sprache des Verfemten: nichts als die Angst, in die Maschinerie der Sittlichkeit zu geraten, kann George dazu vermocht haben, sich einen Gentleman zu nennen. Besser als jeder andere mußte er die Spielregel der Sprache kennen, der zufolge die Anrufung eines solchen Wortes genügt, um den Anrufenden von dessen Inhalt auszunehmen. Dafür bietet es bei ihm einen zweiten Aspekt. Der Sprengstoff der Angst fördert das Bild des Gentleman als historisches Modell des zeitlosen George zutage: das Phantasma des fin du siècle. Wie hier das priesterhafte Zivil des Unholds inkognito 9 , wird in Georges Traumprotokollen
aus ›Tage und Taten‹ – nur in diesen – die Eisenbahn vor dem Zeit-Ende zitiert [ 132 ] ; nicht anders stehen englische Titel in Gedichten Verlaines. Die »blutige Beleidigung« scheint weniger dem Gentleman zugefügt, als daß sein beleidigendes Antlitz von Anbeginn die Blutspur trägt. Aus Georges Sätzen blickt das Wort Gentleman wie ein Mörder. Seine Korrektheit bedarf des Frevels wie der Anzug des Dandys der Gardenia. In Georges Ära nimmt der Verfemte die Last des unfruchtbaren Widerstandes auf sich. Er erfährt das Unwesen der Gesellschaft an der Familie, zu deren Vernichtung es ihn treibt. Das hält der Spruch »Vormundschaft« des ›Siebenten Ringes‹ fest: »Als aus dem schönen sohn die flammen fuhren / Umsperrtest du ihn klug in sichern höfen. / Du hieltst ihn rein für seine ersten huren .. / Öd ist dies haus nun: asche deckt die öfen.« [ 133 ] Der von der Familie Umsperrte verfällt eben der Welt als Markt und Öde, vor welcher der moralische Verfall ihn hätte bewahren mögen. In den sichern Höfen aber erkennt George den Besitz, der diese Welt am Leben erhält, und ihnen gegenüber pointiert er sich in dem Spruch an Derleth: »In unsrer runde macht uns dies zum paare: / Wir los von jedem band von gut und haus.« [ 134 ] 10 Von der Bohème trennt ihn deren Schlamperei, die auf die Welt vertraut, wie sie ist; mit der Bohème verbindet ihn die Möglichkeit der Kriminalität als der Weise von Opposition, die der Welt das letzte Vertrauen kündigt. Der Beginn des Gedichtes an den Jugendfreund Carl August: »Du weisst noch ersten stürmejahrs gesell /Wie du voll trotz am zaun den hagelschlossen / Hinwarfst den blanken leib auf den blauschwarz / die trauben hingen?« [ 135 ] mahnt an den Weinberg Hänschen Rilows in ›Frühlings Erwachen‹. Die Tradition, der zufolge George Wedekind hoch soll geschätzt haben, ist einleuchtend. Der Möglichkeit der Kriminalität zeigt Georges großes Gedicht vom Täter eher sich verschworen als daß es sie, eine Möglichkeit unter anderen, gestaltete. Dazu stehen noch petrifizierte Verse wie der dritte Jahrhundertspruch des ›Siebenten Ringes‹ und der »Gehenkte« des ›Neuen Reichs‹. Hier allein liegt das Recht von Georges Haltung beschlossen: der Baudelairesche Hochmut des Verstoßenen, »trésor de toute gueuserie« 11 . Wenn freilich der Gehenkte in einer ungefügen Metapher sich rühmt »und eh ihrs euch versahet · biege / Ich diesen starren balken um zum rad« [ 136 ] , so degeneriert im Stiftertum des späten George der Frevler zum Helden. Der Protest gegen Ehe und Familie schlägt um,
sobald der totalitäre Staat, dessen Schatten über den letzten Büchern Georges liegt, selber von Ehe und Familie sich lossagt und deren Geschäfte in die Hand nimmt. Dann wird der Brandstifter als Entzünder, der Täter als Prophet des Büttels rezipiert. Wer eben noch »los von jedem band von gut und haus« sich wußte, versteht sich nun als Freischärler: »Wir einzig können stets beim ersten saus / Wo grad wir stehn nachfolgen der fanfare.« [ 137 ] Die ominöse Reinheit, die schon den ›Algabal‹ des frühen George befleckte und den Täter so gut wie das bündische Wesen entgleisten Schulmeistern empfahl, pervertiert ihn schließlich zur Lichtgestalt. Georges Transzendenz zur Gesellschaft entlarvt deren Humanität. Seine Unmenschlichkeit aber wird von der Gesellschaft aufgesogen. Transzendenz zur Gesellschaft beansprucht auch Hofmannsthal, und der Gedanke an Outsidertum ist dem nicht fremd, der seine society fingieren muß. Aber es ist ein konziliantes Outsidertum, zu verliebt in sich selber, um den anderen ernsthaft böse zu sein. »Ich hatte von der Kindheit an ein fieberhaftes Bestreben, dem Geist unserer verworrenen Epoche auf den verschiedensten Wegen, in den verschiedensten Verkleidungen beizukommen. Und die Verkleidung eines gewissen Journalismus – in einem so anständigen Sinn genommen, daß allenfalls jemand wie Ruskin, bei uns dagegen niemand als Vertreter davon anzusehen wäre – hat mich öfters mächtig angezogen. Indem ich in den Tagesblättern und vermischten Revuen veröffentlichte, gehorchte ich einem Trieb, den ich lieber gut erklären als irgendwie verleugnen möchte.« [ 138 ] Der Trieb zur Verkleidung, in prästabilierter Harmonie auf die Erfordernisse des Marktes eingestimmt, ist der des Schauspielers. Ihn wiederum hat George sehr früh erkannt. Einem Brief vom 31. Mai 1897 sind Verse eingefügt, die gemildert im ›Jahr der Seele‹ mit Hofmannsthals Initialen wiederkehren: »Finder / Des flüssig rollenden gesangs und sprühend / Gewandter zwiegespräche. frist und trennung / erlaubt dass ich auf meine dächtnistafel / Den alten hasser grabe. thu desgleichen!« [ 139 ] Damit ist nicht der Dramatiker charakterisiert, sondern der »Schauspieler deiner selbstgeschaffnen Träume« [ 140 ] , der Page im ›Tod des Tizian‹, den sein Freund, der Dichter, verteidigend apostrophiert 12 . Vor aller Stilkostümierung, ja vor aller dramatischen Absicht komponieren die Gedichte Hofmannsthals, und gerade die vollkommensten, die rollende Stimme des Schauspielers mit. Es ist, als objektiviere diese Stimme
das Gedicht so, wie in Musik die lyrische Unmittelbarkeit des Subjekts durchs mitgedachte Instrument objektiviert wird. Verse wie: »Er glitt durch die Flöte / Als schluchzender Schrei, / An dämmernder Röte / Flog er vorbei« [ 141 ] tragen in sich den Ton von Josef Kainz, dem Hofmannsthal den Nekrolog geschrieben hat 13 . Hofmannsthals Schauspielertum, gleichgültig worauf Psychologie es zu reduzieren vermöchte, entspringt in der technischen Handhabung der Lyrik. Wie zur eigenen Kontrolle rezitieren seine Gedichte sich selbst. Ihr Redendes gestattet es den Versen sich zuzuhören 14 . Daher die Vorliebe für den redenden, den Blankvers. Dessen Synkopierung, Hofmannsthals berühmtes Stilmittel, hat er den Engländern abgelernt. Sie ist eine Veranstaltung des technischen Dichters, die dem formimmanenten Schauspieler dient: sie nimmt die Freiheit, mit der der Vers sonst erst rezitiert wird, in die Geschlossenheit des poetischen Metrons selber auf. Es ist aber zugleich der Vers, der dem Kind aus einem Theater übriggeblieben ist, das seit Hofmannsthals Jugend den Hamlet und wieviel mehr Schiller Schülern vorbehält. Mit Grund datiert Hofmannsthal das Bestreben zur intellektuellen Verkleidung auf die Kindheit zurück. Wer da Theater spielt, hängt die Worte und ihren Widerstand um wie den ererbten Bühnenschmuck mit bunten Steinen und Rheinkieseln. Wohl mag von Hofmannsthal bestehen bleiben, daß er unermüdlich die Gestik dieses Kindes geübt und gleichsam die Stufe wiederhergestellt hat, auf der allein noch das Trauerspiel sich erfahren läßt. Unter den Händen seiner Stimme verzaubert jeglicher Stoff sich in Kindheit, und es ist diese Transformation, kraft deren er der Gefahr von Haltung und Verantwortung stets wieder entschlüpft. Die magische Verfügung über Kindheit ist die Stärke des Schwachen 15 : er entrinnt der Unmöglichkeit seiner Aufgabe als Peter Pan der Lyrik. Wahrhaft einer Unmöglichkeit. Denn Hofmannsthals Schauspielertum verdankt sich bis in seine alexandrinischen Konsequenzen hinein, bis zu den Pseudomorphosen der späteren Zeit einer höchst realen Einsicht: daß die Sprache nichts mehr zu sagen erlaubt, wie es erfahren ist 16 . Entweder ist sie die verdinglichte und banale von Warenzeichen und fälscht vorweg den Gedanken. Oder sie installiert sich selber, feierlich ohne Feier, ermächtigt ohne Macht, bestätigt auf eigene Faust, kurz, von dem Schlage, wie Hofmannsthal an der Georgeschen Schule es bekämpfte. Sie verweigert sich vollends dem
Gegenstand in einer Gesellschaft, in der die Gewalt der Fakten solches Entsetzen annimmt, daß noch das wahre Wort wie Spott klingt. Hofmannsthals Kindertheater ist der Versuch, die Dichtung von der Sprache zu emanzipieren. Indem dieser die Substantialität aberkannt wird, verstummt sie: Ballett und Oper sind die notwendige Folge. Unter den tragischen und komischen Masken ist kein menschliches Antlitz übrig. Daher die Wahrheit von Hofmannsthals Schein. Dort gerade nimmt diese Sprache den Ausdruck des Schreckhaft-Schwankenden an, wo sie aus epischer Vernunft zu reden vorgibt. »Circe, kannst du mich hören? / Du hast mir fast nichts getan« [ 142 ] , heißt es im Text der ›Ariadne‹. Das epische Fast, das noch im Angesicht der mythischen Metamorphose einschränkend innehält, entzieht dem gleichen Mythos den Boden durch neuzeitliche Lässigkeit. Gegen Hofmannsthals Schauspielertum hält George den trivialsten Einwand bereit: »Woran Sie am schmerzlichsten leiden ist eine gewisse wurzellosigkeit ...« ...« [ 143 ] Er scheint damit das Vokabular eines Antisemitismus zu bemühen, dessen Spuren seinem Werk trotz der Absage an Klages nicht fehlen. Der Übersetzer der Baudelaireschen ›Malabaraise‹ proklamiert im ›Stern des Bundes‹: »Mit den frauen fremder Ordnung / Sollt ihr nicht den leib beflecken / Harret! lasset pfau bei affe! / Dort am see wirkt die Wellede /Weckt den mädchen tote kunde: / Weibes eigenstes geheimnis« [ 144 ] – Verse, die in der Turnhalle eines rheinländischen Gymnasiums nicht übel sich ausgenommen hätten. Aber mit deren Atmosphäre möchte George am wenigsten zu schaffen haben: »Es war nur unfug des schreibenden pöbels diese äusserst Verschiedenartigen zu einem haufen zu werfen weil sie sich in gleicher weise von ihm entfernten – eine ähnliche scheidung wie dermalen des rheinischen janhagels der alle die sich anders trugen als ›juden‹ anrief.« [ 145 ] Dem Wurzellosen hat George nicht seine empirische Existenz als verwurzelte gegenüberstellen wollen: »Um weihnachten hab ich hier wenig zu bieten · weiss auch kaum ob ich dann hier bin. das von Ihnen ausgemalte trauliche winterzusammensein gewährt nur (sei es in stadt oder land) wer wie Sie ein Heim hat · nicht wer wie ich überall gleichsam nur besucher ist.« [ 146 ] Erstaunlicher noch formuliert ein kaum wohl ironisch gemeinter Brief Georges vom 27. August 1892: »ich glaube in der leidenschaft für ein schönes und klangvolles können Sie sich nicht so weit reissen lassen. Das ist das
graniten-germanische in Ihnen, das romanische an mir. Das werden Sie bei dauerndem verkehr mit leuten wälscher zunge merken dass die in ihren vor- und abneigungen thätlicher · lauter sind.« [ 147 ] 17 Seinen Gegensatz zum »Wurzellosen« legt George zu Anfang nicht als einen der Ursprünge aus, sondern vielmehr als einen des Entschlusses 18 . Er beruft sich nicht auf Erde, Seinsgewalt und Unbewußtes. Strategische Überlegungen zur Situation, und zwar recht genau zur literarischen, inspirieren ihn zu dem prinzipiellen Brief an Hofmannsthal vom Juli 1902, ohne daß dabei die Gegenposition von Anbeginn als minderwertig oder unebenbürtig ausgeschlossen wäre: »So lassen Sie mich ausreden nachdem Sie es getan: Wenn Sie es als schön preisen sich von den vielfarbigen thatsächlichkeiten treiben zu lassen bedeuten sie mir nichts ohne auswahl und zucht. Was das bessere sei bleibe ganz unberedet · nur soviel ist gewiss: dass in allgemeinem wie besonderem sinn etwas geschehe ermöglicht nur die eine art der führung · wol weiss ich: durch alle haltung und führung wird kein meisterwerk geboren – aber ebensogut wird ohne diese manches oder alles unterdrückt. auch Ihnen wird schon aufgefallen sein wie unsre ganze kunst bestürzt durch das fetzen- und sprunghafte · durch die reihe von kraftmenschen denen immer das lezte versagt blieb – all das hat seinen grund in derselben geistesart ... Und nun die höhere tagesschriftstellerei die Sie rühmen und die sehr zu billigen ist – erfordert nicht die lauliche reizbarkeit und weichtierhafte eindrucksfähigkeit die heut ›Berliner naturalismus‹ morgen ›Wiener symbolismus‹ untergeht – sondern das gegenteil: das strenge sich-aufeinenpunktstellen ...« [ 148 ] Über den Sprachzerfall kennt er so wenig Illusionen wie Hofmannsthal: »Sagbar ward Alles: drusch auf leeres stroh.« [ 149 ] Aber wo Hofmannsthal die Finte wählt, greift er mit Desperation zur Gewalt. Er würgt die Worte, bis sie ihm nicht mehr enteilen können: der toten meint er sich sicher, während sie als tote vollends ihm so verloren sind, wie die flüchtigen es waren. Darum überschlägt sich der Georgesche Heroismus. Seine mythischen Züge sind das Gegenteil jenes Erbgutes, als welches die politische Apologetik sie beschlagnahmte. Sie sind Züge von Trotz. »Es ist worden spät.« [ 150 ] Keine Spur des Archaischen in Georges Werk, die nicht diesem Späten als Gegensatz unmittelbar verschwistert wäre. Er blickt auf die Worte so nah und fremd, als vermöchte er dadurch ihrer an ihrem ersten Schöpfungstag
innezuwerden. Solche Entfremdung ist vom liberalen Zeitalter so vollkommen determiniert wie die antiliberale Politik, die in Deutschland so gern auf George sich berief. Wie sehr bei ihm die liberale Vorstellung von Rechtssicherheit, der trotzige Drang zur Herrschaft und der Vorstellungskreis urgeschichtlicher Verhältnisse ineinanderspielen, zeigen Sätze aus einem Brief vom 9. Juli 1893: »Jede gesellschaft auch die kleinste und loseste baut sich auf verträge Ihre stimme gilt soviel als jede andre sie muss sich aber in jedem fall unverhüllt vernehmen lassen.« [ 151 ] Setzen die Verträge anscheinend die volle Rechtsgleichheit bürgerlicher Kontrahenten voraus, so ist ihre Anrufung in Fragen geistiger Solidarität doch ein Mittel zur Suspension der Gleichheit und zur Unterdrückung und nimmt einen Zustand tödlicher Feindschaft zwischen den Subjekten an, durch den die Gesellschaft der Konkurrenten der der Horden sich annähert. Die Aufforderung, sich »unverhüllt vernehmen zu lassen« jedoch, wie sie George Hofmannsthal gegenüber immer wieder mit Rücksicht auf die ›Blätter für die Kunst‹ erhebt, kann dem von ihr Betroffenen allemal nur Unheil bringen. Wann immer Hofmannsthal zur Kritik an George und dessen Hörigen sich verführen ließ, ist es ihm übel angeschlagen. George ruft gegen jene Welt, die ihm als wurzellos erscheint, die Eindeutigkeit der Natur auf. Eindeutig aber wird dieser Moderne Natur nur durch Naturbeherrschung. Das gibt den berühmten Schlußstrophen des Templergedichtes, die die Georgesche Lehre von der Gestalt umreißen, ihren geschichtsphilosophischen Sinn, so wie er an Ort und Stelle nicht vermeint war: »Und wenn die grosse Nährerin im zorne / Nicht mehr sich mischend neigt am untern borne / In einer weltnacht starr und müde pocht: / So kann nur einer der sie stets befocht / Und zwang und nie verfuhr nach ihrem rechte / Die hand ihr pressen · packen ihre flechte / Dass sie ihr werk willfährig wieder treibt: /Den leib vergottet und den gott verleibt.« [ 152 ] 19 Wer Natur nur denken kann, indem er ihr Gewalt antut, sollte nicht das eigene Wesen als Natur rechtfertigen. Solcher Widersinn ist das Georgesche Gegenbild zur Hofmannsthalschen Fiktion. – George möchte Hofmannsthal beherrschen. Was in dem Andrian gewidmeten Gedicht »Den Brüdern« von Österreich gesagt wird, bezeichnet das Verhältnis: »Da wollten wir euch freundlich an uns reissen / Mit dem was auch in euch noch keimt und wächst.« [ 153 ] Hofmannsthal ist in der Verteidigung. Wie er privat der Werbung
um Freundschaft und Nähe sich entzieht, nimmt er literarisch den Standpunkt des hochmütig Unbeteiligten ein. Es macht ihm nicht einmal viel aus, seine Gedichte in obskuren Zeitschriften erscheinen zu sehen, während George, sobald es ums schriftstellerische Metier geht, auf Haltung verzichtet und so leidenschaftlich sich zeigt wie nur je einer seiner Pariser Freunde. Hofmannsthals Abwehr bietet umsichtig alle Kräfte der Phantasie auf. Bald surrogiert er das Zeremonial des alten Goethe oder der Wahnsinnsbriefe Hölderlins; bald desertiert er kokett zur »lesenden menge«; bald versöhnt er durch Teilnahme, selbst für die sonst verachteten Freunde Georges, bald kränkt er durch das Pathos eines Dankes, der Distanz setzt. Selbst die unzählige Male und bis zum Schluß beteuerte »Nähe« zu George wird durch die Stereotypie der Versicherung in den Dienst der Ferne gestellt. Er versteckt sich in die Nähe und schlüpft in Georges Sprache: seine Briefe an andere ließen niemals den gleichen Verfasser erraten. Die zuverlässigste Technik aber ist die der Selbstanklage. Unübertrefflich die von George als solche durchschaute »bescheidene ausflucht« [ 154 ] , mit der er auf den Vorschlag Georges reagiert, mit diesem gemeinsam die Redaktion der ›Blätter für die Kunst‹ zu übernehmen [ 155 ] . Hofmannsthal fängt selbst beleidigende Vorwürfe Georges wie den der Solidarität mit der »schwindelhaftigkeit« durch die Berufung auf den eigenen schlechten Zustand ab [ 156 ] . Seine Nachgiebigkeit und Belehrbarkeit – noch im letzten Brief teilt er mit, daß er Georges vernichtende »Beurtheilung des ›geretteten Venedig‹ die im ersten Augenblick hart erschien, nach und nach« sich »völlig zu eigen machen konnte« [ 157 ] – ist so grenzenlos, daß er unbelehrbar erscheint: nur wen keine Kritik je erreicht, kann so widerstandlos jede akzeptieren. Die Freundschaft der beiden ist im Zerfall, ehe sie jemals sich verwirklichte. Damals bereits war Freundschaft selbst unter Menschen der außerordentlichsten Produktivkraft nicht mehr aus bloßer Sympathie und bloßem Geschmack möglich, sondern einzig auf dem Grunde bindend gemeinsamer Erkenntnis: Freundschaft aus Solidarität, welche die Theorie als Element ihrer Praxis einschließt. Im Briefwechsel wird Erkenntnis von den Voraussetzungen der Freundschaft beklommen ferngehalten: das Trauma des ersten Wiener Zusammentreffens wirkt fort und macht jeden Versuch der Explikation zum neuen Akt der Verwirrung: »ich ging vielleicht
früher zu streng mit Ihnen zu gericht · nicht wegen gesühnter that sondern wegen der geäusserten gesinnung. ich zog Ihre ganz verschiedene art des fühlens zu wenig in betracht wie Ihre ganz verschiedene erziehung unter andrem himmelstrich · ich glaubte der satz von der edlen plötzlichkeit an der grosse und vornehme menschen sich allzeit erkannt haben erleide keine ausnahme und ich wies in meinem geist Ihnen den platz an ›wo die schweren ruder der schiffe streifen‹. doch immer wieder hatte ich als entschuldigung für Sie die unbegreiflichkeit des wahnsinnes und habe nie aufgehört Sie zu lieben mit jener liebe deren grundzug die verehrung ist und die für die höhere menschlichkeit allein in betracht kommt. Soweit das persönliche.« [ 158 ] Man kann kaum erwarten, das Persönliche sei durch diese undeutlichen, zugleich saugenden und beißenden Sätze gefördert worden. Sie stehen in Georges feierlichem Versöhnungsbrief, dem gleichen, dem die Verse über den »alten hasser« beigefügt sind. Durch den Briefwechsel hindurch variiert George die allemal fatale Absicht, das Frühere vergessen und vergeben sein zu lassen. Jeder freundlich intermittierende Brief sucht eine Schuld auszulöschen, während doch durch die hartnäckige Nachsicht das Schuldkonto unaufhaltsam anschwillt: es bedarf nur einer entgegenkommenden Geste des einen, um den anderen zur Bosheit oder zum Zurückweichen zu inspirieren. Hinter der Kasuistik der Briefe stehen Fragen des Prestiges, des Verfügungsrechts über fremde – sei's auch geistige – Arbeit und schließlich selbst des intellektuellen Eigentums und einer Art von Originalität, die dem von beiden Autoren emphatisch vertretenen Begriff des Stils kraß widerspricht. 1892 heißt es in einem Brief Hofmannsthals an George: »Im ›Tod des Tizian‹ wird Ihnen ein bekanntes Detail entgegentreten: ich meine das Bild des Infanten.« [ 159 ] Das spielt an auf ein Gedicht der ›Hymnen‹ [ 160 ] . Mit gereizt ostentativer Noblesse entgegnet George: »Da Sie über den ›Prolog‹ kein motto setzen so liess ich da man in der selben nummer auszüge aus meinen büchern bringt meinen ›Infanten‹ streichen, die masse könnte da leicht mit misverständnis reden.« [ 161 ] Die Verachtung gegen die Masse hat George nicht vor einer Eifersucht bewahrt, wie sie in eben den Zirkeln alltäglich ist, denen seine Exklusivität ausweicht. Nichts aber könnte die Absurdität solcher Besorgnisse greller ins Licht stellen als der Gegenstand der Kontroverse. Das Bildungserlebnis des Infanten ist weder von George noch von
Hofmannsthal zuerst gemacht worden: es stammt von Baudelaire 20 . Kalkulationen solcher Art sind es, die Solidarität ausschließen und noch solidarische Handlungen wie das publizistische Eintreten des einen für den anderen belasten. Hofmannsthal hat zwar wiederholt über George, nie aber dieser über jenen geschrieben, obwohl der Vorwurf mangelnder Solidarität stets vom Älteren ausgeht. Einmal ist es beinahe soweit gewesen, aber die vorweg aufgebrachte Mitteilung über den Plan, die implizit Hofmannsthal seinen Ruhm vorwirft, läßt keinen Zweifel daran, warum Georges Essay nie zustande kam. »Ich sinne seit einiger zeit an einem aufsatz über Sie – doch werde ich mir zur veröffentlichung ein grosses ausländisches blatt aussuchen müssen – wo künstlerische ereignisse überhaupt als ereignisse gelten – Ich rede nicht über Sie nachdem alle wilden volksstämme alle gold- und gewürz-händler zu wort gekommen sind.« [ 162 ] Im Zerfall der Freundschaft Georges mit Hofmannsthal setzt der Markt sich durch, in dessen Negation ihre Lyrik entspringt: die sich gegen die Erniedrigung durch Konkurrenz wehren, verlieren sich als Konkurrenten. George stand weniger naiv zum Markt als Hofmannsthal. Aber er stand kaum weniger naiv zur Gesellschaft. So handelt er dem Markt als Phänomen entgegen, ohne an dessen Voraussetzungen zu rühren. Er möchte die Dichtung von der Nachfrage des Publikums emanzipieren und gleichwohl in einem sozialen Zusammenhang verbleiben, den er später mit Worten wie Bund und Held, Volk und Tat mythologisiert hat. Sich der »rücksicht auf die lesende menge« [ 163 ] entheben, heißt ihm, durch eine Technik der Beherrschung, die der artistischen aufs engste verknüpft ist, die lesende Menge in eine von Zwangskonsumenten verwandeln. Daher seine ambivalente Stellung zum Erfolg. Der Entwurf eines verlorengegangenen Briefes an Hofmannsthal enthält die Sätze: »Keinesfalls beginne ich eh ich vertragsmässig mit allen über lieferung und belohnung format und haltung mich geeinigt habe. das ist bei einigen meiner freunde unnötig bei andern jedoch umsomehr. Nichts zufälliges darf dazwischentreten was den erfolg verhindern könnte. denn wie Sie wissen ist keinen erfolg suchen: gross – ihn suchen und nicht haben unanständig.« [ 164 ] 21 Die Verachtung des Erfolgs bezieht sich bloß auf den Marktmechanismus, der die Konkurrierenden Fehlschlägen aussetzt. Erfolg wird angestrebt unter Umgehung des Marktes. Die Größe, die sich stolz dazu bescheidet, ihn nicht zu suchen, ist die
des literarischen Trustmagnaten, als den George sich früher konzipierte, als ihm zumindest die deutsche Wirtschaft die Modelle beistellen konnte: »Ich war des festen glaubens dass wir · Sie und ich · durch jahre in unsrem schrifttum eine sehr heilsame diktatur hätten üben können · dass es dazu nicht kam dafür mach ich Sie allein verantwortlich.« [ 165 ] Schwer nur können Diktatoren Fehler begehen. Die gefährlich leben, haben die wahre Sekurität. Ihnen ist auf längere Frist die Unanständigkeit des Fehlschlags erspart. Mit der Hellsichtigkeit des Hasses hat Borchardt in der Polemik gegen das ›Jahrbuch für die geistige Bewegung‹ die monopolistischen Züge der Georgeschen Schule getroffen: »Das Zentralblatt für die deutschen Industriellen muß verkünden, daß wirtschaftliche Kraft nur frei werde, wo der Mensch sich dem Menschen um des Menschen willen verbinde, daß der Eigenbrödler sich über wirtschaftlichen Ruin nicht beklagen solle, und dergleichen mehr ... Die Freunde des Herrn Wolfskehl machen diese Not nicht sowohl zur Tugend als zum Dogma von der verödenden und verschrumpfenden Wirkung dessen, was sie strafend ›Vereinzelung‹ nennen, und variieren Schillers Heldenwort in ihr modernes: ›Der Starke ist am mächtigsten im Kreis‹, im Syndikat der Seelen.« [ 166 ] 22 Konkurrenz wird in die Herrschaft überzuführen gesucht, und ans Konkurrenzmotiv wird zynisch appelliert, wenn die Herrschaft es verlangt. 1896 trägt George Hofmannsthal die Mitredaktion der ›Blätter für die Kunst‹ an. Dem verleiht er Nachdruck durch die Worte: »Da es sich hier um ein ernsthaftes zusammenwirken aller kräfte dreht so wäre Ihre gelegentliche mitarbeiterschaft (die Sie wol anbieten könnten) bedeutungslos. Ihre stelle müssen wir alsdann durch einen andren auszufüllen trachten, doch will ich an diesen schweren verlust lieber nicht denken.« [ 167 ] Die ›Blätter für die Kunst‹ machen den sinnfälligen Gegenstand der Differenz Georges und Hofmannsthals aus. Im Verhalten der beiden zu den Blättern und deren Partei 23 offenbart sich eine wahre Antinomie. Sie hat später im eigentlich politischen Bereich sich durchgesetzt an Stellen, von denen beide Autoren sich nichts träumen ließen. Hofmannsthal teilt 1893 Klein mit: »Einen Aufsatz über die ›Blätter‹ in einem Tagesblatt zu schreiben, ist mir nicht sehr genehm: in den bisherigen Heften steht für meinen Geschmack 1. zu wenig wirklich wertvolles, 2. zu viel von mir. Beides müßte mein Reden so einschränken, daß ich vorziehe, zu schweigen.« [ 168 ]
Der Hintergrund dieser Äußerung wird in einem früheren Brief Hofmannsthals an Klein aufgedeckt: »Überhaupt befremdet mich Ihr Vorschlag, in einem andern öffentlichen Blatt unser Unternehmen zu besprechen, aufs höchste. Wozu? warum dann nicht gleich meine Sachen wo anders unter Fremden abdrucken lassen? dann habe ich offenbar das ganze Wesen der Gründung falsch verstanden. Ich habe absolut keine Angst davor mich zu ›compromittieren‹ und ich bin in künstlerischen Dingen durch keine Rücksicht und Verbindung gehemmt. Aber bitte, sagen Sie mir klar, was Sie wollen und wozu Sie es wollen.« [ 169 ] Es geht dialektisch genug zu: Georges Exklusivität drängt als diktatoriale auf öffentliche, selbst journalistische Stellungnahme und hebt damit virtuell sich selber auf: das aber erlaubt Hofmannsthal, sich eben auf die verletzte Esoterik zu berufen und seine Sachen »wo anders unter Fremden«, also vollends unter Preisgabe der Esoterik, drucken zu lassen. Die Furcht, sich zu kompromittieren, die er verleugnet, bestimmt sein Verhalten: sich zu kompromittieren nicht sowohl, indem er sich mit der kommerziellen Öffentlichkeit einläßt, als vielmehr, indem er es mit ihr verdirbt. Seine Isolierung im Kreis der Blätter macht ihn zum verständnisvollen Sprecher des profanum vulgus, gegen den die Blätter gegründet waren: »Wonach es mich verlangt ist nicht sosehr, dreinzureden, als minder spärliches zu erfahren. Ich berechne nach meiner mangelnden Einsicht in Vieles die fast vollständige Ratlosigkeit des Publicums einem so fremdartigen und herb-wortkargen Unternehmen gegenüber.« [ 170 ] Die Aversion des Publikums hat Hofmannsthal durch kritische Einsicht überboten. Mit seiner Ablehnung nicht bloß der schlechten Gedichte, die die Blätter füllten, sondern auch der Nachahmer Georges selber hielt er nicht hinterm Berge. Noch zu den höflicheren rechnet eine Formulierung wie: »Hätten Sie die Freunde und Begleiter die Sie verdienen, wieviele Freude würde dadurch auch auf mein Theil kommen.« [ 171 ] Wie es mit den Blättern bestellt war, hat George fraglos so gut gewußt wie Hofmannsthal. Er konnte diesem den Vorwurf der geringen literarischen Qualität seiner Freunde bequem zurückgeben, nur daß mit diesen Hofmannsthal niemals ebenso verbindlich sich eingelassen hatte wie George mit seinen Mitarbeitern. Aber George hat sich damit nicht begnügt: »Ich halte nun meine ansicht ... der Ihrigen gegenüber die alle mitarbeit ausser der Ihren und meinen ablehnt. Gar nicht zu reden von
ausländern wie Lieder · Verwey begreife ich nicht wie Sie an künstlern und denkern wie z.B. Wolfskehl und Klages vorüber gehen konnten. – die dunklen gluten des Einen wie die scharfe ebnenluft des andren sind so einzig so urbedingt dass ich aus Ihrem kreis (soweit er sich geoffenbart hat) niemanden auch nur annähernd mit ihnen vergleichen dürfte ... Reden Sie aber von den kleineren sternen – so ist es leicht das urteil zu fällen das sie selber kannten – doch befinden Sie sich in grossem irrtum wenn Sie dort die von Ihnen angeführte unehrlichkeit und falsche abgeklärtheit wittern – es sind alle menschen von guter geistiger zucht mit denen Sie wenn Sie sie kennten · aufs schönste leben würden · sich wie geniusse geberden – thaten sie nie, sondern grade diejenigen die Sie den unsren gegenüber in schutz nahmen ... In den ›Blättern‹ weiss jeder was er ist · hier wird der scharfe unterschied gezeigt zwischen dem geborenen werk und dem gemachten · hasser der ›Blätter‹ ist jeder dem es darum zu thun ist diesen unterschied zu verwischen ... Wenn aber auch Sie mir erklärten dort nur eine ansammlung mehr oder minder guter verse zu sehen – und nicht das Bauliche (construktive) von dem freilich heut nur die wenigsten wissen – so würden Sie mir eine neue grosse enttäuschung bringen.« [ 172 ] Das Konstruktive umschließt ebenso die Gleichschaltung der Beherrschten wie die Einheit der bewußt tradierten Technik: Unterdrückung und Steigerung der Produktivkraft. Hofmannsthal sieht das Unterdrückende, hat aber dagegen nichts aufzubieten als kurrente Ansichten von Tradition und Individualität: »ich würde vieles wertvolle, dem Individuum homogene an Formen, Beziehungen, Einsichten dadurch gegen Flacheres eintauschen.« [ 173 ] Beide sind gegeneinander im Recht. George wittert in Hofmannsthals für sich Stehen »die ausgespiztheit die sofort aus der milchstraße butter machen und für die jeweiligen marktbedürfnisse herrichten will« [ 174 ] ; Hofmannsthal enthüllt dafür das Pseudos des kommandierten, der Spontaneität entäußerten Kollektivs und das Verhängnis des »Ordinären« [ 175 ] , dem kein solches Kollektiv entrinnt. Der Einzelgänger und der Organisierte sind gleich bedroht, dem Bestehenden zu verfallen; jener durch die eigene Ohnmacht, die trügerisch sich als Maß installiert und real der feindlichen Macht das Recht überläßt; dieser durch die Macht, der er gehorcht und die das gleiche Unrecht, dem widerstanden werden soll, in die Reihen der Widerstehenden trägt. Denn beide müssen in der Welt des
universalen Unrechts leben. Bis in die Sprache hinein ist Georges Haltung von ihr stigmatisiert. In den Tagen des ursprünglichen Konflikts fordert er Hofmannsthal heraus: »Wie lange noch das versteckspiel? Wenn Sie frei reden wollen (was nun auch meine absicht ist) so lade ich Sie ein noch einmal auf neutralem gebiet zu erscheinen. Ihr Brief der ja auch so diplomatisch war – aber war es meine schuld dass Sie gerade in jenes unglückl. cafe kamen ...?« [ 176 ] Wie später die Rede von Verträgen, so bläht hier die von neutralem Gebiet und Diplomatie das Private zum Allgemeinen auf, als wäre es politisch relevant. Das aber reflektiert die Zeitung, die das Allgemeine, politisch Bedeutsame dem Privaten zuträgt. Leicht könnte das esoterische Pathos in der Warenwelt entspringen: die Würde des Einzelnen ist der der Schlagzeilen abgeborgt. Georges ausgreifende Gebärde hat die Naivetät dessen, der mit den großen Worten sich bekleidet, ohne zu erröten. Er vermag keine Sache, und wäre es die privateste, je anders denn als öffentliche anzuschauen. Seine literarische Strategie stammt von verirrten politischen Impulsen. Einmal jedenfalls haben diese Impulse an ihrem wahren Objekt sich bewährt. 1905 hat Hofmannsthal im Namen des von ihm selbst, in einigen Briefen an Bodenhausen, höchst kritisch beurteilten Grafen Harry Kessler [ 177 ] sich zum Sprachrohr jenes schillernden Pazifismus der ruling class gemacht, der teleologisch schon die Attitüde derer in sich trug, die später während der Okkupation von Paris sich aufführten, als wäre sie vom Penklub arrangiert, damit sie mit den französischen Kollegen bei Prunier speisen könnten. George sollte mittun. Hofmannsthals Brief, Weimar, 1. Dezember 1905 datiert, lautet: mein lieber George ich werde gebeten, zu einem sehr ernsthaften und über das Persönliche hinausgehenden Zwecke an Sie zu schreiben. Die furchtbare nicht auszudenkende Gefahr eines englisch-deutschen Krieges – wenn auch im Sommer beschworen – ist näher, fortdauernd näher als die zeitungschreibenden und die meisten der politikmachenden Individuen sich ahnen lassen. Die wenigen die diesseits die Ernsthaftigkeit der Situation kennen, und die wenigen die jenseits dem drohenden Losbrechen sich entgegenstemmen wollen, haben – wissend wieviel Gewalt in
solchen Epochen die imponderabilia in sich tragen – sich geeinigt offene Briefe zu wechseln, jederseits unterschrieben von 40–50 der absolut ersten Namen des Landes (mit Ausschluß von Berufspolitikern). Der englische offene Brief (unterschrieben von Lord Kelvin, George Meredith, A. Swinburne u.s.f.) wird an die Herausgeber der deutschen Journale gerichtet sein, der deutsche an die englischen. (da die Journale die eigentlichen Pulverfässer sind.) Man bittet ganz ausnahmsweise und wohl wissend, wie wenig Sie Publicität lieben, um Ihren Namen, während man sich z.B. nicht mit der Absicht trägt, den des bekannten Sudermann aufzunehmen. Man wünscht in dieser tiefernsten Angelegenheit durchaus die ernsthaftesten geistigen Kräfte der Nation zu vereinigen. Wenn es Ihnen gefällt, den beigelegten Brief zu unterzeichnen so senden Sie ihn dann bitte innerhalb 10 Tagen zurück an Harry Graf Kessler Weimar Cranachstraße 3. Ihr Hofmannsthal [ 178 ] Die Musterkollektion der »absolut ersten Namen«, der Ausschluß des unseligen Sudermann, der dazu herhalten muß, die Zugelassenen im Gefühl ihrer Superiorität zu bestärken, und das vage »Man«, das hinter der Wichtigmacherei gewaltige Mächte suggeriert, die so erhaben sind, daß ihr Beauftragter vor eitel Respekt sie nicht zu nennen wagt – all das hat soviel Stil wie die ›Josephslegende‹. George hat das unwürdige Schriftstück nicht beantwortet. Aber ein Entwurf zur Antwort ist erhalten geblieben und in den Briefwechsel, unterm Druck des Hitlerregimes ohne den wichtigsten Satz, nun vollständig, aufgenommen worden: »Käme diese zuschrift nicht von Einem dessen verstand ich aufs höchste bewundre: so würd ich sie für einen scherz halten. wir treiben doch weder mit geistigen noch mit greifbaren dingen handel von hüben nach drüben. was soll uns das? Und dann: so einfach wie diese zettel vermelden liegen die verhältnisse doch nicht. Krieg ist nur lezte folge eines jahrelangen sinnlosen draufloswirtschaftens von beiden seiten. das verklebmittel einiger menschen däucht mir ohne jede wirkung. Und noch weiter gesehen: Wer weiss ob man als echter freund der Deutschen ihnen nicht eine kräftige See-schlappe wünschen soll damit sie jene völkische bescheidenheit wieder erlangen die sie von neuem zur erzeugung geistiger werte befähigt. Ich hätte mit grösserer gelassenheit erwidert wenn sich nicht die
trauer darüber einstellte dass es kaum noch einen punkt zu geben scheint wo wir uns nicht misverstehn.« [ 179 ] Kurz danach bot eine Verlagsangelegenheit den Anlaß zur endgültigen Entzweiung. Daß George den Zusammenhang internationaler Betriebsamkeit und imperialistischer Ambitionen durchschaut; daß der spätere Emigrant damals schon Worte über Deutschland findet, die seinem eigenen Kreis blasphemisch klingen mußten; ja, daß er ohne theoretische Einsicht in Gesellschaft den objektiven Zwang wahrnimmt, der zum Krieg treibt – all das wird nicht mit seinem von Borchardt notierten »bedeutenden Weltverstand« [ 180 ] hinreichend erklärt. Vielmehr ist seine Erkenntniskraft dem dichterischen Gehalt zuzuschreiben. In der Arbeiterbewegung ist es zumal seit Mehring üblich, die auf die unmittelbare Abbildung des gesellschaftlichen Lebens gerichteten Tendenzen der Kunst, naturalistische und realistische, dem Fortschritt zuzurechnen und die ihnen entgegengesetzten der Reaktion. Wer nicht Hinterhöfe, werdende Mütter und neuerdings Prominenzen darstellt, sei Mystiker. Solche Stempel mögen das Bewußtsein der zensierten Autoren zuweilen treffen. Aber die Insistenz auf der Wiedergabe des gesellschaftlich Unmittelbaren teilt die empiristische Befangenheit der bekämpften Bürger. Die Tauschgesellschaft treibt ihre Kinder dazu, unablässig Zwecke zu verfolgen, stur auf sie hin zu leben, die Augen von dem Vorteil aufgezehrt, nach dem man schnappt, ohne nach rechts und links zu blicken. Wer aus seinem Weg geht, dem droht der Untergang. Die zwangshafte Unmittelbarkeit hindert die Menschen daran, bewußt eben den Mechanismus zu erkennen, der sie verstümmelt: er reproduziert sich in ihrem fügsamen Bewußtsein. Dies Bewußtsein wird in dem Postulat der Anschauung und Abbildung des Unmittelbaren – mit ihrem Komplement, der fetischisierten Theorie, die man durch Treue verrät – hypostasiert. Der Realist, der literarisch aufs Handgreifliche sich eingeschworen weiß, schreibt aus der Perspektive des Hirnverletzten, dessen Regungen nicht weiter reichen als die Reflexe auf Aktionsobjekte. Er tendiert zum Reporter, der den sinnfälligen Begebenheiten nachjagt, wie Wirtschaftskonkurrenten dem geringsten Profit. Solcher Promptheit sind die als Luxus verpönten literarischen Gebilde entzogen. Heute vollends ist mit dem längst staatsfrommen sozialistischen Realismus
kein Staat mehr zu machen. Selbst an den Konservativen George und Hofmannsthal indessen träfe die Rede von der Flucht vor der Realität kaum die halbe Wahrheit. Zunächst kehrt beider Werk pointiert sich wider die mystische Innerlichkeit: »Schwärmer aus zwang weil euch das feste drückt / Sehner aus not weil ihr euch nie entfahrt / Bleibt in der trübe schuldlos die ihr preist – / Ein schritt hinaus wird alles dasein lug!« [ 181 ] In Hofmannsthals ›Gespräch über Gedichte‹, seiner verbindlichen Äußerung zu Georges Lyrik, bemüht er sich um die Theorie dazu: »Wollen wir uns finden, so dürfen wir nicht in unser Inneres hinabsteigen: draußen sind wir zu finden, draußen. Wie der wesenlose Regenbogen spannt sich unsere Seele über den unaufhaltsamen Sturz des Daseins. Wir besitzen unser Selbst nicht: von außen weht es uns an, es flieht uns für lange und kehrt uns in einem Hauch zurück.« [ 182 ] Wie der nachkonstruierende Empiriokritizismus in der reinen Immanenz der Subjektivität zur Verneinung des Subjekts und zum zweiten naiven Realismus gelangt, so verlöscht Innerlichkeit in Hofmannsthals Konzeption. Ist aber das Geheimnis der Symbolisten nicht sowohl eines von Innerlichkeit als von Metier, so geht es gewiß nicht an, ihnen anstandslos als »Formalisten« technisch fortschrittliche Funktion zuzumessen, die mit reaktionären Inhalten verkoppelt seien. Viele Progressive haben das grobschlächtige Form-Inhalt-Schema vom Positivismus auf die Kunst übertragen, als sei deren Sprache jenes ablösbare Zeichensystem, das sie schon in Wissenschaften nicht ist. Selbst wenn sie recht hätten jedoch, fiele keineswegs alles Licht auf die souveräne Form und alles Dunkel auf den hörigen Inhalt. Falsch wäre es, in Lob oder Tadel George, Hofmannsthal und den unter dem Namen Symbolismus und Neuromantik figurierenden Bewegungen, aus denen sie hervorgegangen sind, zu attestieren, was sie wohl selber sich attestiert hätten: daß sie das Schöne bewahrten, während die Naturalisten vor der Verwüstung des Lebens im Industrialismus resignierten. Die Preisgabe des Schönen vermöchte dessen Idee mächtiger festzuhalten als die scheinhafte Konservierung verfallender Schönheit. Umgekehrt ist nichts an George und Hofmannsthal so vergänglich wie das Schöne, das sie zelebrieren: das schöne Objekt. Es tendiert zum Kunstgewerbe, dem George seinen Segen nicht versagt hat: wie in der Vorrede der zweiten Ausgabe der ›Hymnen‹ dem »freudigen aufschwunge von
malerei und verzierung« [ 183 ] , so in einem nicht abgesandten Brief an Hofmannsthal von 1896: »Es macht sich in unsrem deutschland an vielen stellen eine sehnsucht nach höherer kunst bemerkbar nach jahrzehnten einer rein körperlichen oder auch wissenschaftlichen anstrengung. Sie geht von malerei ton und dichtung durch verzierung und baukunst sogar allmählich in mode und leben.« [ 184 ] Auf dem Weg in Mode und Leben fraternisiert die Schönheit mit der gleichen Häßlichkeit, der sie, die Nutzlose, den Kampf ansagte. Das Leben der Gemeinschaft, die George sich wünschte, hat kunstgewerbliche Färbung: »Heut ist dies nun alles leichter zu vergessen da unsre bestrebungen doch zu einem guten ende geführt wurden und eine jugend hinter uns kommt voll vertrauen selbstzucht und glühendem schönheitswunsch.« [ 185 ] Das sind die »grossen und vornehmen menschen« [ 186 ] , wie sie seit Charcot und Monna Vanna der Familie in die Krankheit entflohen. Die Depravation ins Kunstgewerbe hat mit den Dingen die Individuen betroffen: Kunstgewerbe ist das Mal der emanzipierten Schönheit. Sie erliegt, sobald die neugewonnenen und technisch beherrschten Stoffe, beliebig herstellbar, billig und marktfähig werden. George ist dem Bewußtsein dessen im Schlußgedicht der ›Pilgerfahrten‹, das zum ›Algabal‹ überleitet, sehr nahegekommen. Es redet vom Ideal des Schönen im Gleichnis der Spange: »Ich wollte sie aus kühlem eisen / Und wie ein glatter fester streif · / Doch war im schacht auf allen gleisen /So kein metall zum gusse reif. / Nun aber soll sie also sein: / Wie eine grosse fremde dolde / Geformt aus feuerrotem golde / Und reichem blitzendem gestein.« [ 187 ] Wenn »so kein metall zum gusse reif«, in den Bedingungen des materiellen Lebens die objektive Möglichkeit des Schönen nicht angelegt war, das vielmehr »wie eine grosse fremde dolde« schimärisch in der Negation des materiellen Lebens sich öffnet, so zieht das materielle Leben die Schimäre wiederum in sich hinein durch Imitation. Die schlichte Spange des Kunstgewerbes, aus wohlfeilem Eisen, stellte allegorisch jene goldene dar, die gegossen werden mußte, weil es am rechten Eisen gebrach. Über den schimärischen Charakter des Erlesenen läßt der Briefwechsel keinen Zweifel. Es geht selber aus ökonomischen Machinationen hervor. Georges bibliophiles Pathos hat eine Druckschrift ersonnen, die seine Handschrift nachahmt: »Ich sende hier neue proben des einbandes · sowie der schrift (meiner eignen an deren besserung ich schon lang arbeite) ich
glaube dass sie Ihnen gefallen wird. Sie sehen dass sie meiner handschrift angeglichen ist: jedenfalls ein guter weg nachdem alle neueren zeichner von buchstaben die bereits bestehenden mit irgendwelchen erdachten schnörkeln versahen · um so vom alten loszukommen.« [ 188 ] Das kunstgewerbliche Pseudos des technisch Massenhaften, das als originär auftritt, entspringt in der Not einer Veranstaltung, die kein sachlich bindendes Maß des Schönen hat, sondern nur das dürre Programm: »vom alten loszukommen«. Die trügende Einmaligkeit wird aber zugleich um des materiellen Wertes willen geplant: »Erstes ziel ist unsrem kreis (durch die festen abnehmer der händler erweitert) wahrhaft schöne und dabei erschwingliche bücher zu geben · die auch für den liebhaber ein wesentliches: die seltenheit nicht einbüssen dürfen · der nachhinkende uns ganz ferne leser mag dann den erhöhten preis zahlen ... Einen andren weg wie den der Einzeichnung giebt es nicht.« [ 189 ] Daß schon der erlesene Reiz nach Wertbegriffen sich ausdrücken, das Einmalige sich vergleichen läßt; diese Abstraktheit von Malachit und Alabaster macht das Erlesene fungibel. Doppelt entstellt ist das symbolistisch Schöne: durch krude Stoffgläubigkeit und durch allegorische Ubiquität. Auf dem kunstgewerblichen Markt kann alles alles bedeuten. Je weniger vertraut die Stoffe, desto schrankenloser ihre Verfügbarkeit für Intentionen. Lange Seiten bei Oscar Wilde könnten den Katalog eines Juweliers abgeben, ungezählte Interieurs vom fin du siècle gleichen dem Raritätenladen. Noch George und Hofmannsthal zeigen rätselhaften Ungeschmack in Dingen der bildenden Kunst ihrer Ära. Unter den Malern, die der Briefwechsel preist, nehmen Burne-Jones, Puvis de Chavannes, Klinger, Stuck und der unsägliche Melchior Lechter die hervorragendsten Stellen ein. Der großen französischen Malerei der Epoche geschieht zwischen ihnen mit keinem Wort Erwähnung 24 . Wenn George in freilich ganz anderem Zusammenhang mit Bedauern davon redet, daß »unsre besseren geister ... den kecken farbenkleckser nicht mehr vom maler trennen konnten« [ 190 ] , so ist das vom Wilhelminischen Urteil über Impressionismus und Kloakenkunst nicht so gar sehr verschieden. Tabuiert sind die Bilder, in denen die wahren Impulse des Gedichts vom Frühlingswind oder der Eislandschaften des ›Jahres der Seele‹ sich verwirklichen. Bejaht werden abbildlich treue Idealgestalten, schöne Wesen im erotischen Geschmack der Zeit, welche die erhabenen
Bedeutungen auf sich nehmen, ohne daß die autonome peinture der allegorischen Absicht im Wege stünde. Verkannt wird nichts Geringeres als das Formgesetz, dem die eigene Dichtung untersteht. Diesem Formgesetz aber entzieht George sich späterhin um so vollkommener, je mehr er die Stoffe Deutungen unterwirft, um sich vom Vorwurf des Ästhetizismus zu reinigen. In seiner Jugend war er noch so gleichgültig gegen den Sinn wie der Rimbaud der »Voyelles«: »Den einen fehler ›sangen‹ st. saugen brauchen Sie nicht zu bedauern denn er verschlimmert nichts. es passt auch sehr gut.« [ 191 ] Der wahre Symbolismus ist ein lucus a non lucendo. In Hofmannsthals Georgedialog meint der Schüler von der Sprache: »Sie ist voll von Bildern und Symbolen. Sie setzt eine Sache für die andere.« Hofmannsthal weist ihn zurecht mit den Worten: »Welch ein häßlicher Gedanke! Sagst du das im Ernst? Niemals setzt die Poesie eine Sache für eine andere, denn es ist gerade die Poesie, welche fieberhaft bestrebt ist, die Sache selbst zu setzen, mit einer ganz anderen Energie als die stumpfe Alltagssprache, mit einer ganz anderen Zauberkraft als die schwächliche Terminologie der Wissenschaft. Wenn die Poesie etwas tut, so ist es das: daß sie aus jedem Gebilde der Welt und des Traumes mit durstiger Gier sein Eigenstes, sein Wesenhaftestes, herausschlürft.« Und auf den Einwand: »Es gibt keine Symbole?« – »Oh, vielmehr, es gibt nichts als das, nichts anderes.« [ 192 ] Mit dem intentionsfremden Stoff die in konventionellen Bedeutungen verhärtete Realität aufzusprengen, ist das Desiderat: zu den frischen Daten flüchtet, was sein könnte, daß es von keiner geläufigen Kommunikation hinabgezogen werde in den Kreis dessen, was ist. Durch jeden deutenden Zugriff über die bloßen Stoffe hinaus kompromittiert sich diese Dichtung: mit dem Engel des ›Vorspiels‹ triumphiert Melchior Lechter. Schuld daran aber trägt nicht Georges besondere Verblendung. Was er den reinen Stoffen zutraute, konnten diese nicht bewähren. Als abstrakte Relikte der Dingwelt so gut wie als »Erlebnis« des Subjekts gehören sie eben jenem Umkreis an, dem man sie entrückt meinte. Ironisch bleibt Hofmannsthal im Recht: das Unsymbolische verkehrt notwendig sich ins Allsymbolische. Zwischen den reinen Lauten Rimbauds und den edlen Materialien der Späteren ist darin kein Unterschied. Wohl mag man den frühen ästhetischen George real nennen und schlecht ästhetisch den späten realen: dennoch ist dieser in jenem mitgesetzt. Die Schönheit, aus deren blinden Augen grelle
Preziosen blicken, enthält schon die Ideologie vom »Jungen Führer im ersten Weltkrieg«, die das Geschäft zudeckt, von dessen Fluch der Zauber befreien sollte. Die Preziosen empfangen ihren Wert aus der Mehrarbeit. Das Geheimnis der intentionslosen Stoffe ist das Geld. Baudelaire ist allen, die ihm folgten, überlegen darum, weil er an keiner Stelle jener Schönheit als positiver und unmittelbarer sich zugeneigt hat, sondern bloß als unwiederbringlich verlorener oder in äußerster Verneinung. Ihm ist Satan, der vom Schicksal verratene deus absconditus, »le plus savant et le plus beau des Anges« [ 193 ] ; ihn betrügt nicht der rosige Engel des schönen Lebens, zu dessen Fidusbild Schönheit selber in George sich hergibt. Durch sie kommuniziert George mit den realistischen Abbildnern. Was ihn zu dieser Schönheit zog, war nicht vorab der dichterische Formwille, sondern ein Inhaltliches. Wie ein Schibboleth wird der Gegenstand unter Anrufung seiner Schönheit dem drohenden Verderben entgegengehalten. Die Korrespondenz mit Hofmannsthal gibt dafür ein merkwürdiges Beispiel. Es handelt sich um die Publikation des ›Tod des Tizian‹ in den ›Blättern für die Kunst‹: »die lesezeichen wo unbeabsichtigt weggelassen vervollständigte ich in Ihrem sinn ... und dann auf eigne faust (es war so wenig zeit) in der anmerkung ›da Tizian 99jährig an der pest starb‹ das bestrichene. damit brachten Sie eine schädliche luft in Ihr werk und augenscheinlich ungewollt.« [ 194 ] Demnach könnte die bloße Erwähnung der Pest im Kunstwerk diesem Schaden tun und nicht diesem allein. Die Magie krampfhafter Schönheit beherrscht den Symbolismus. Hofmannsthal sucht im Georgedialog das ästhetische Symbol als Opferritual zu fassen: »Weißt du, was ein Symbol ist? ... Willst du versuchen dir vorzustellen, wie das Opfer entstanden ist? ... Mich dünkt, ich sehe den ersten, der opferte. Er fühlte, daß die Götter ihn haßten ... Da griff er, im doppelten Dunkel seiner niedern Hütte und seiner Herzensangst, nach dem scharfen krummen Messer und war bereit, das Blut aus seiner Kehle rinnen zu lassen, dem furchtbaren Unsichtbaren zur Lust. Und da, trunken vor Angst und Wildheit und Nähe des Todes, wühlte seine Hand, halb unbewußt, noch einmal im wolligen warmen Vlies des Widders. – Und dieses Tier, dieses Leben, dieses im Dunkel atmende, blutwarme, ihm so nah, so vertraut – auf einmal zuckte dem Tier das Messer in die Kehle, und das warme Blut rieselte zugleich an dem Vlies des Tieres und an der Brust, an den Armen
des Menschen hinab: und einen Augenblick lang muß er geglaubt haben, es sei sein eigenes Blut; einen Augenblick lang, während ein Laut des wollüstigen Triumphes aus seiner Kehle sich mit dem ersterbenden Stöhnen des Tieres mischte, muß er die Wollust gesteigerten Daseins für die erste Zuckung des Todes genommen haben: er muß, einen Augenblick lang, in dem Tier gestorben sein, nur so konnte das Tier für ihn sterben ... Das Tier starb hinfort den symbolischen Opfertod. Aber alles ruhte darauf, daß auch er in dem Tier gestorben war, einen Augenblick lang ... Das ist die Wurzel aller Poesie.« – »Er starb in dem Tier. Und wir lösen uns auf in den Symbolen. So meinst du es?« – »Freilich. Soweit sie die Kraft haben, uns zu bezaubern.« [ 195 ] Diese blutrünstige Theorie des Symbols, welche die finsteren politischen Möglichkeiten der Neuromantik einbegreift, spricht etwas von ihren eigentlichen Motiven aus. Angst zwingt den Dichter, die feindlichen Lebensmächte anzubeten: mit ihr rechtfertigt Hofmannsthal den symbolischen Vollzug. Im Namen der Schönheit weiht er sich der übermächtigen Dingwelt als Opfer. Ist aber der Primitive, dem Hofmannsthal die Ideologie beistellt, nicht wirklich gestorben, sondern hat das Tier geschlachtet, so ist dafür das unverbindliche Opfer des Modernen um so drastischer zu nehmen. Er möchte sich retten, indem er sich wegwirft und zum Mund der Dinge macht. Die von George und Hofmannsthal urgierte Entfremdung der Kunst vom Leben [ 196 ] , die die Kunst zu erhöhen gedenkt, schlägt in grenzenlose und gefügige Nähe zum Leben um. Symbolismus ist in Wahrheit nicht darauf aus, alle Stoffmomente sich als Symbole eines Inwendigen zu unterwerfen. Eben an dieser Möglichkeit verzweifelt man und proklamiert, das Absurdum, die entfremdete Dingwelt selber, in ihrer Undurchdringlichkeit fürs Subjekt, verleihe diesem Weihe und Sinn, wenn nur das Subjekt in die Dingwelt sich auflöse. Nicht länger weiß sich Subjektivität als das beseelende Zentrum des Kosmos. Sie überliefert sich jenem Wunderbaren, das geschähe, wenn die bloßen sinnverlassenen Stoffe von sich aus die verlöschende Subjektivität beseelten. Anstatt daß die Dinge als Symbole der Subjektivität nachgäben, gibt Subjektivität nach als Symbol der Dinge, bereit, in sich selber schließlich zu dem Ding zu erstarren, zu dem sie von der Gesellschaft ohnehin gemacht wird. So ist denn der arglosen Zutraulichkeit des früheren Rilke gerade das Wort Dinge zur kultischen Formel geworden. Solche Angst meldet
Erfahrungen von der Gesellschaft an, die dem unmittelbaren Blick auf diese verwehrt sind. Sie beziehen sich auf die Komposition des Individuums. Ehmals forderte Autonomie, daß die unverbrüchliche Äußerlichkeit des Objekts durch Aufnahme in den eigenen Willen überwunden werde. Der wirtschaftlich Konkurrierende bestand, indem er die Schwankungen des Marktes, wenn er schon nichts darüber vermochte, bewußt vorwegnahm. Der Dichter der Moderne läßt von der Macht der Dinge sich überwältigen wie der Outsider vom Kartell. Beide gewinnen den Schein der Sekurität: der Dichter jedoch auch die Ahnung ihres Gegenteils. Die »Chiffern, welche aufzulösen die Sprache ohnmächtig ist« [ 197 ] – nämlich die, welche sich in der Signifikation ihrer Gegenstände erschöpft –, werden Hofmannsthal zum Menetekel. Die Entfremdung der Kunst vom Leben ist doppelten Sinnes. In ihr liegt nicht bloß, daß man mit dem Bestehenden sich nicht einlassen will, während die Naturalisten immerzu in Versuchung sind, die von ihnen mit zärtlich-scharfen Künstleraugen gesehenen Abscheulichkeiten als einmal so seiende zu bejahen. Nicht weniger haben George und Hofmannsthal mit der Ordnung sich encanailliert. Aber eben als mit einer entfremdeten. Die veranstaltete Entfremdung enthüllt soviel vom Leben, wie nur ohne Theorie sich enthüllen läßt, weil das Wesen die Entfremdung selber ist. Die anderen stellen die kapitalistische Gesellschaft dar, aber lassen die Menschen fiktiv so reden, als ob sie noch miteinander reden könnten. Die ästhetischen Fiktionen sprechen den wahrhaften Monolog, den die kommunikative Rede bloß verdeckt. Die anderen erzählen Begebenheiten, als ob vom Kapitalismus sich noch erzählen ließe. Alle neuromantischen sind letzte Worte 25 . Die anderen bedienen sich der Psychologie als Klebemittels zwischen Innen und entfremdetem Außen, einer Psychologie, die an die gesellschaftlichen Tendenzen des Zeitalters nicht heranreicht, während sie zugleich, nach einer Bemerkung Leo Löwenthals, hinter der wissenschaftlich entwickelten seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts zurückbleibt [ 198 ] 26 . Anstelle der Psychologie tritt bei ihren ästhetischen Gegnern das unauflösliche Bild, das – wie sehr auch der Transparenz entratend – doch die Kräfte designiert, die zur Katastrophe treiben. Es ist die Konfiguration dessen, wovon die Psychologie nur abgeleitete und zerstreute Kunde gibt, so wie die Individuen, mit denen sie sich einläßt, selber nur Ableitungen des geschichtlich Wirklichen sind.
Baudelaires »Petites Vieilles«, noch Georges »Täter« oder »Ihr tratet zu dem herde« stehen der Einsicht ins Zusammenbruchsgesetz näher als die unverdrossene Beschreibung von Slums und Bergwerken. Tönt in dieser dumpf das Echo des historischen Stundenschlags, so wissen jene Gedichte, was die Stunde geschlagen hat. In diesem Wissen und nicht im unerhörten Gebet zur Schönheit entspringt die Form: im Trotz. Die leidenschaftliche Bemühung um sprachlichen Ausdruck, der bannend das Banale fernhält, ist der sei's auch hoffnungslose Versuch, das Erfahrene dem tödlichsten Feind zu entziehen, der ihm in der späten bürgerlichen Gesellschaft heranwächst: dem Vergessen. Das Banale ist dem Vergessen geweiht; das Geprägte soll dauern als geheime Geschichtsschreibung. Daher die Verblendung gegen den Impressionismus: man verkennt, daß keine Macht der Erde mehr der Vergängnis standzuhalten vermag, die nicht auch selber Macht der Vergänglichkeit wäre. – Der Trotz gegen die Gesellschaft ist einer gegen deren Sprache 27 . Die anderen teilen die Sprache der Menschen. Sie sind »sozial«. Die Ästheten sind ihnen um so weit voraus, wie sie asozial sind 28 . Ihre Werke messen sich an der Erkenntnis, daß die Sprache der Menschen die Sprache ihrer Entwürdigung ist. Die Sprache ihnen rauben, der Kommunikation sich versagen, ist besser als Anpassung. Der Bürger verklärt das Daseiende als Natur und verlangt vom Mitbürger, daß er »natürlich« rede. Diese Norm wird von der ästhetischen Affektation umgestoßen. Der Affektierte redet, als wäre er sein Idol. Er macht sich damit zum billigen Ziel. Alle können ihm beweisen, er sei ihresgleichen. Er jedoch vertritt die Utopie, nicht man selber zu sein. Wohl üben die anderen Kritik an der Gesellschaft. Aber sie bleiben sich so treu wie deren Vorstellung vom Glück der eines gesunden, wohl organisierten, vernünftig eingerichteten Lebens. Die Utopie des Ästhetizismus kündigt dem Glück den Gesellschaftsvertrag. Es lebt von der antagonistischen Gesellschaft, einer Welt, »où l'action n'est pas la soeur du rêve« [ 199 ] 29 . Noch als gemäßigte Schüler Baudelaires haben George und Hofmannsthal das Glück dort aufgesucht, wo es verfemt ist. Vorm Verfemten sinkt ihnen das Erlaubte in nichts zusammen. Unnatur soll die vom Primat der Zeugung entstellte Vielheit des Triebes wieder herstellen, unverantwortliches Spiel den verderblichen Ernst dessen überkommen, was man bloß ist. Beide rütteln lautlos lärmend an der
Identität der Person, aus deren Mauern die innerste Gefängniszelle des Bestehenden sich fügt. Was immer sie der herrschenden Gesellschaft positiv kontrastieren mögen, ist ihr untertan als Spiegel des Individuums, so wie Georges Engel dem Dichter gleicht, so wie der Liebende im ›Stern des Bundes‹ am Geliebten »mein eigen fleisch« [ 200 ] errät. Was überlebt, ist die bestimmte Negation.
Fußnoten 1 Der junge George hat die Musik noch nicht mit jenem Verdikt bedacht, das er später seinen Gehilfen zu exekutieren erlaubte, ohne sich im Beethovenspruch des ›Siebenten Ringes‹ selber daran zu kehren. Dafür ersetzt er das Wort Musik durch »Ton« oder »Töne«. Der Protest gegen ein Cliché, das der Muse ein einzelnes ästhetisches Stoffbereich zuteilt, verführt ihn dazu, die ausgebildete Kunst in ihr mythisches Urstadium romantisch zu transponieren. Dem ist dann die Doktrin des Kreises in der Tat gefolgt. Zugleich jedoch enthält die Reduktion der Musik auf Töne den Verweis auf das technische Element. Nahe verwandt ist die Gewohnheit Georges, das Wort Dichter im Plural zu bringen. 2 An Jacobsen, der Naturwissenschaften studierte und den Darwinismus propagierte, ehe seine literarische Produktion begann, ist das früh bemerkt worden. In einer 1898 geschriebenen, ungemein eindringlichen Einleitung zu der Ausgabe der ›Gesammelten Werke‹ bei Eugen Diederichs von 1905 sagt Marie Herzfeld: »J.P. Jacobsen ist zugleich ein traumwirrer Phantasiemensch und ein hellwacher Realist.« [ 201 ] Die Einheit beider Momente in der Komplexion der Neuromantik konnte damals noch nicht durchschaut werden. Die Verfasserin jener Einleitung befindet sich unter den vier Lesern, die Hofmannsthal am 24. August 1892 »persönlich von unsern Absichten verständigen« [ 202 ] möchte. – Der erste Band von Georges Übertragung zeitgenössischer Dichter stellt Jacobsen zu Rossetti und Swinburne. 3 In der Musik handhabt Berlioz, der Platzhalter des modern style in der älteren Romantik, das Orchester als Palette im Namen des imprévu. Er ist der erste Orchestertechniker. Der Begriff des imprévu geht auf Stendhal zurück. Der junge Hofmannsthal bezieht sich darauf: »Es ist nichts anderes als die suchende Sehnsucht des Stendhal nach dem ›imprévu‹; nach dem Unvorhergesehenen, nach dem, was nicht ›ekel, schal und flach und unerträglich‹ in der Liebe, im Leben.« [ 203 ] Das imprévu suspendiert die gleichförmige Mechanik des bürgerlichen Lebens und ist doch selber mechanisch hervorzubringen: durch Tricks. – Die Interpretation
vor-Berliozscher Musik in Kategorien ihrer Technik gehört einem späteren Aspekt an und konnte sich erst historisch erschließen. Man wird in der Zeit Mozarts oder Beethovens schwerlich dem Wort Kompositionstechnik begegnen. Beethoven freilich begann, sich der Relevanz technischer Mittel im Gegensatz zum »Naturgenie des Komponisten« bewußt zu werden. 4 Die mutwillige Verfügung über die Vergänglichkeit gehört zum ältesten Inventar des Ästhetizismus. In den Diapsalmata aus Kierkegaards ›Entweder-Oder‹ heißt es 1843: »An jedem Erlebnis vollziehe ich die Taufe der Vergessenheit und weihe es der Ewigkeit der Erinnerung.« [ 204 ] 5 Von diesem Impuls zeugt eine Briefstelle, wo er nach ein paar Sätzen über eine Nummer der ›Blätter für die Kunst‹ fortfährt: »Verzeihen Sie dass ich den geschichtlichen teil meines briefes wieder so wenig ausdehne.« [ 205 ] Ihm wird das Vergängliche sogleich als Geschichtliches verewigt. Die Überspannung des Geschichtlichen ist die Gegenwehr gegen den Zerfall des Gegenstandes. Hofmannsthals »organische« und Georges »plastische« Formgesinnung, die man zu kontrastieren pflegt, datieren auf den gleichen geschichtsphilosophischen Sachverhalt zurück. 6 Der junge Hofmannsthal hat sich der Einsicht in solche Aspekte seiner Welt nicht durchaus versagt. Von Marie Bashkirtseff, der Schutzheiligen des fin du siècle, sagte er: »En attendant ist sie so hochmütig als möglich. Alles, was an Macht und Königlichkeit erinnert, berauscht sie: Die Paläste der Colonna und Sciarra; die königlichen Treppen des Vatikan; irgendein Triumphwagen in irgendeinem Museum; irgendein hochmütiges und ruhig überlegenes Wort, eine feine und legitime Arroganz. Sie selbst ist für diesen großen Stil der Vornehmheit bei aller inneren Eleganz ihres Wesens zu lebhaft und nervös; es liegt in ihrer stark betonten Sympathie dafür etwas von dem Neid, mit dem Napoleon einsah, daß er das legitime Gehen nicht erlernen könne; sie spricht zu laut und wird zu leicht heftig; auch der Ton des Tagebuchs ist lauter, weniger reserviert, als man in guter Gesellschaft gewöhnlich spricht.« [ 206 ] Man mag in diesen Sätzen ein Stück uneingestandener
Selbstkritik Hofmannsthals suchen. Der Vorwurf der Lautheit zeigt eine von Proust beschriebene Urgeste des Snobs: den anderen einen Snob zu nennen [ 207 ] . Sie entspringt dem Konkurrenzmotiv. Vornehmheit verbietet dem vitalen Aufstiegswillen niemals den Gebrauch der Ellenbogen. 7 Am deutlichsten bei Oscar Wilde: der ›Dorian Gray‹ reklamiert l'art pour l'art und ist ein Kolportageroman. In Deutschland hat diese Tendenz auf der Bühne sich durchgesetzt. Die Vorbilder waren d'Annunzios ›Gioconda‹ und Maeterlincks ›Monna Vanna‹. Hofmannsthal hing mit der Sphäre schon vor seiner Kollaboration mit Richard Strauss zusammen. – George hat das früh erkannt und gegen Hofmannsthal den Vorwurf des Sensationalismus erhoben, insbesondere in der Kritik am ›Geretteten Venedig‹: »Das ganze neuere geschichts- und sittenstück leidet · für mich · an übelangewandtem Shakespeare. Bei ihm bildet sich die handlung aus gestalten seiner leidenschaftlichen seele · bei den heutigen aus gedanklichem: aus abwickelungen bei diesen oder jenen voraussetzungen · dort ist alles rauhe und rohe notwendigkeit – hier aber befleckende zutat oder gar kitzel ...« [ 208 ] In der Sensation kommt das technische Geheimnis des Künstlers unter die Leute. Am Sensationellen hat George selbst größeren Anteil, als die asketische Ideologie zumal der Spätwerke glauben machen möchte: keineswegs nur mit den Provokationen des ›Algabal‹, sondern noch mit einem Gedicht wie der »Porta Nigra« des ›Siebenten Ringes‹. Der römische Buhlknabe Manlius, der die moderne Zivilisation verflucht, mahnt an Hugenbergs Nachtausgabe, wenn sie gegen den Kurfürstendamm wettert. Man wirbt von alters her Bundesgenossen gegen die Verderbtheit, indem man mit dieser auf vertrautem Fuße sich zeigt. 8 Hofmannsthal schreibt am 5. August 1909 an Rudolf Alexander Schröder, daß er von Carossa »viel halte« [ 209 ] . 9 Der Name des Unholden erscheint im ›Stern des Bundes‹ als Symbol für »nicht ganz gestalte kräfte«. Es liegt nahe, diese als noch jenseits der Polarität der Geschlechter vorzustellen, etwa wie die Hexen des Macbeth. Das Gedicht mißt ihnen gerade die Möglichkeit zu, welche die Epoche versäumte. »Unholdenhaft nicht
ganz gestalte kräfte: / Allhörige zeit die jedes schwache poltern / Eintrug ins buch und alles staubgeblas / Vernahm nicht euer unterirdisch rollen – / Allweis und unkund des was wirklich war. /Euch trächtig von gewesnem die sie nutzen / Sich zur belebung hätte bannen können / Euch übersah sie dunkelste Verschollne .. / So seid ihr machtlos rückgestürzt in nacht / Schwelende sprühe um das innre Licht.« [ 210 ] 10 Borchardt kontrastiert Hofmannsthal der »zernichteten Bagage, die von keinem Hause mehr weiß als dem Kaffeehause, dem Pfandhause und dem verrufenen« [ 211 ] . Solch schändliches Lob könnte George nicht gespendet werden, davon zu schweigen, daß der Wiener Schauplatz der Freundschaft mit Hofmannsthal nach allen Zeugnissen des Briefwechsels eben das Café ist. Klagend über einen unterbliebenen Besuch Hofmannsthals findet George ein Wort, das allein genügt, ihn untauglich zu machen zur Hetze gegen den Literaten: das von der »landschaft als haus« [ 212 ] . Die chthonische Erfahrung, die es anmeldet, ist aufs tiefste verschränkt mit der des Obdachlosen. Homer hat sein ganzes Epos aus dem Heimweh dessen hervorgesponnen, der Ithaka noch einmal sehen will. Die Chthoniker von heutzutage kennen das Heimweh nicht. Sie sind immer bei sich zu Hause. In Gedichten wie der »Rückkehr« des ›Jahres der Seele‹ zeigt George ihnen sich weit überlegen: »Du wohntest lang bei fremden stämmen · / Doch unsre liebe starb dir nicht.« [ 213 ] – Solche Verse freilich verdanken sich eher dem mächtigen Kindergefühl bei Indianergeschichten als dem Gedanken an gentile Gesellschaftsformen, der dem früheren George verhaßt war: »Gegen das biderbe das Sie so erträglich finden hab ich auch wenig einzuwenden wo es den grund bildet auf dem noch etwas wachsen kann wo · Sie es aber hervorheben wird Ihnen bei näherer betrachtung klar werden dass nichts verlogener versunkener wurmstichiger sein kann als dieses derb und dumm-thun.« [ 214 ] 11 Baudelaire, Le Vin du Solitaire, ›Les Fleurs du Mal‹. – Von den Perfidien des verstorbenen Gundolf ist nicht die geringste die Herrichtung des Verfemten für den Nachttisch von Rechtsanwälten. In der dritten Auflage des Georgebuchs heißt es geschwollen, doch beschwichtigend: »Was jeweils Tugend, Ordnung, Macht dünkt, bedarf eines unterirdischen Tilgers, zugleich Hegers und Erneuerers,
des Trägers der künftigen Gottesgeschichte. Genauer ertönt hier eine Lehre Georges, die schon der ›Siebente Ring‹ verkündet: sein Glaube an die Erneuerung der Welt aus dem Fernsten, an ihren Umbau auf dem Stein des Anstoßes, der Grundstein wird ... an den Vollzug jeder heilsamen Tat durch die jeweiligen Verbrecher, ja Zuchthäusler.« [ 215 ] Für Zwecke der Erneuerung, des Umbaus und ähnliche Kulturmaßnahmen sind Gundolf auch die Verbrecher recht, als wäre bei George an deren Zwangsarbeit gedacht und nicht ans Attentat. Georges Gehenkter ist zweideutig genug, aber er bringt immerhin noch den blutigsten Hohn für jene Sittlichkeit auf, in deren Dienst der Kommentator die Unsittlichkeit stellen möchte: »Als ich zum richtplatz kam und strenger miene / Die Herrn vom Rat mir beides: ekel zeigten / Und mitleid musst ich lachen: ›ahnt ihr nicht / Wie sehr des armen sünders ihr bedürft?‹ /Tugend – die ich verbrach – auf ihrem antlitz / Und sittiger frau und maid · sei sie auch wahr · / So strahlen kann sie nur wenn ich so fehle!« [ 216 ] Gundolf fährt fort: »In solchen Gedichten (auch der ›Täter‹ im ›Teppich des Lebens‹ gehört dazu) verrät George den Abgrund, woraus seine vielgepriesene und vielbelächelte Schönseligkeit steigt. Mit Genießertum hat sie nichts zu tun, sondern setzt – wie der griechische Apollo die Titanen, wie Dantes Paradies seine Hölle, wie Shakespeares Lustspiele seine Tragödien, den Aufenthalt in der unbarmherzigen Schrecknis voraus.« [ 217 ] Diesen aber kann der Literarhistoriker nur kurzfristig sich vorstellen. Die Unmoral wird erst zur mythischen Amoral neutralisiert und dann in den Zug positiver Entwicklung als eben die Schwelle eingefügt, deren Begriff George als idealistisch verworfen hat. Einzig als Ausflugsort wird die Hölle in der Landkarte des »gotthaft gestaltigen Seins« [ 218 ] verzeichnet. 12 An das Wort des Pagen glaubt Borchardt in der Rede über Hofmannsthal die Verteidigung vor dem Vorwurf des Ästhetizismus anschließen zu müssen: »Er, den man als ›bildungssatten Décadent‹, als ästhetenhaften Klängehascher abzutun vermeint, – denn dafür wagt das dummdreiste Gezücht, das bei uns Bücher und Theater beurteilt, ihn immer noch auszugeben – ist seit Goethe der erste deutsche Dichter, der einem selbstdurchlittenen problematischen Zustande durch den Ernst der Vertiefung, die Gewalt der Vision und die Verbindung mit allem höheren Dasein seiner Zeit
Allgemeingültigkeit und völligen Kunstwert zu geben gewußt hat.« [ So armselig der Vorwurf, gegen den Borchardt zu Felde zieht, Begriffe wie Ernst der Vertiefung und höheres Dasein sind ihm nicht überlegen. Hofmannsthal ist nicht vor der Verleumdung in Schutz zu nehmen, er sei ein Ästhet: zu retten ist der Ästhetizismus selber. Leicht genug könnte sich herausstellen, daß die von Borchardt so genannten »moralischen Dramen«, wie ›Der Tor und der Tod‹ und ›Der Kaiser und die Hexe‹, in denen der Schein thematisch und eben jenem »Ernst der Vertiefung« zur Korrektur überantwortet wird, in Wahrheit den Verrat Hofmannsthals an seiner tragenden Erfahrung darstellen, gar nicht so verschieden von der Wendung Georges seit dem ›Teppich‹. 13 George bietet dazu ein Seitenstück. Die Beschreibung der Anemonen am Ende von »Betrübt als führten sie zum totenanger«: »Und sind wie seelen die im morgengrauen / Der halberwachten wünsche und im herben / Vorfrühjahrwind voll lauerndem verderben /Sich ganz zu öffnen noch nicht recht getrauen« [ 220 ] nimmt in ihrer letzten Zeile akustisch fast den rheinischen Tonfall an, der dem Dichter mag eigen gewesen sein. 14 Das Sich selbst Zuhören Hofmannsthals tendiert zur Anpreisung. Gelegentlich schließen Gedichte die Augen und schmecken sich mit der Zunge ab, als wollten sie ihr Unvergleichliches empfehlen. Nach den Zeilen: »Dein Antlitz war mit Träumen ganz beladen. / Ich schwieg und sah dich an mit stummem Beben« folgt der Satz: »Wie stieg das auf!« [ 221 ] Er wird dreimal wiederholt. 15 Sie bedingt den Ton der zweiten Naivetät in Hofmannsthals Dichtung. Ihr Begriff gehört Jacobsen an. Er findet sich in der kleinen Prosa ›Es hätten Rosen da sein müssen‹ (1881), einer Schatzkammer Hofmannsthalscher Motive. Die Personen des »Proverbs«, das zu einem südlichen Garten geträumt wird, sind zwei Pagen. Deren Beschreibung springt über zu der der beiden Schauspielerinnen, die die Pagen geben. »Die Schauspielerin, welche der jüngere von den Pagen sein soll, ist in dünner Seide, die ganz dicht anschließt und die blaßblau ist, mit eingewebten, heraldischen Lilien aus lichtestem Gold. Das und dann so viele Spitzen als anzubringen möglich, ist das hervorstechendste an der 219 ]
Tracht, die nicht so sehr auf ein bestimmtes Jahrhundert hinweisen, als die jugendlich volle Figur, das prachtvolle blonde Haar und den durchsichtigen Teint hervorheben will. Sie ist verheiratet, aber es währte bloß anderthalb Jahre; dann wurde sie von ihrem Manne geschieden, und soll sich gegen ihn durchaus nicht gut aufgeführt haben. Und das mag schon sein; allein etwas Unschuldigeres kann man nicht leicht vor seinen Augen sehen. Das will sagen, es ist ja nicht jene ungemein niedliche Unschuld aus erster Hand, die gewiß auch ihr Ansprechendes hat; es ist im Gegenteil jene soignierte, wohl entwickelte Unschuld, in der kein Mensch sich irren kann und die Einem geradewegs in's Herz geht und Einen gefangen nimmt mit all der Macht, die einmal dem Vollendeten gegeben ist.« [ 222 ] 16 Diese Einsicht ist, wie sehr auch lebensphilosophisch verdorben, von Hofmannsthal im Chandosbrief formuliert worden: »Mein Fall ist, in Kürze, dieser: Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen. Zuerst wurde es mir allmählich unmöglich, ein höheres oder allgemeineres Thema zu besprechen und dabei jene Worte in den Mund zu nehmen, deren sich doch alle Menschen ohne Bedenken geläufig zu bedienen pflegen. Ich empfand ein unerklärliches Unbehagen, die Worte ›Geist‹, ›Seele‹ oder ›Körper‹ nur auszusprechen ... Die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgendwelches Urteil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze.« [ 223 ] 17 Noch am 26. März 1896 schreibt George an Hofmannsthal: »wer weiss ob ich – wenn ich Sie nicht oder Gérardy als dichter gefunden hätte – in meiner muttersprache weitergedichtet hätte!« [ 224 ] ; noch Februar 1893 hat er im ›Floréal‹ die ursprünglich französische Fassung eines Gedichtes publiziert. Der treudeutsche Gundolf hat davon nichts wissen wollen: »Wenn man ihn als Jünger der französischen Parnassiens und Symbolisten in die ›Richtung‹ Swinburnes oder d'Annunzios eingereiht hat, so verwechselt man die Oberfläche mit dem Grund: diese Dichter waren für ihn – einerlei was sie ihrem Land als Literaturrichtungen bedeuten, welche Motive oder Techniken sie brachten – lediglich willkommen als die damals dichtesten, reinsten und feinsten Sprachkomplexe ihres Volkes. Baudelaires Höllenweihe und Verlaines
Endschafts-anmut und Müdigkeit, d'Annunzios Sinnenprunk, Swinburnes rauschende Seelenwoge, Rossettis keltisch-italische schwermütige Glut, selbst die Poesie seiner persönlichen Freunde Verwey und Lieder, gingen ihn nur insofern an, als sie die Sprache um neue Massen, Gewichte, Widerstände, Bewegungen, Tiefen und Lichter bereicherten. Es ist ein Literatenmißverständnis, wenn man nachher auf Georges Spuren all diese Dichter als ›Richtungen‹ oder Seelenwerte, als Stimmung oder Manier importierte, und ihren ersten Vermittler als Jünger ihrer Gesinnung ansah.« [ 225 ] Nur Dilettanten vermögen den dichterischen »Grund« von bloßen »Motiven oder Techniken« abzuheben; nur Banausen bringen den Namen Baudelaires nicht über die Lippen, ohne den Verlaines mitzuplappern. 18 Es wird dem Entschluß – und in letzter Instanz der politischen Aktion – von George zugemutet, was gerade nicht Sache des Entschlusses sein kann: die Präsenz des Gewesenen. Damit aber wandelt sich der Entschluß in den Feind dessen, wozu man sich entschließt. Die Neuchthoniker haben vergessen, daß Rumpelstilzchen sich in Stücke reißt, sobald ihm sein Name vorgehalten wird. Solches Unheil bereitet der agitatorische Kult der Ursprungsmächte. George und Klages nehmen darin verhängnisvolle Tendenzen des Nationalsozialismus vorweg. Unablässig zerstören die Mythologen, was sie für ihre Substanz halten, durch Benennung. Sie waren die Herolde des Ausverkaufs vorgeblicher Urworte wie Tod, Innerlichkeit und Echtheit, der dann im Dritten Reich Platz griff. Die Phänomenologie, welche die Wesenheiten gewissermaßen ausstellt, hat ebenfalls für diesen Ausverkauf gute Vorarbeit geleistet. Das Buch ›Die Transzendenz des Erkennens‹ von Frau Edith Landmann stellt zwischen der Georgeschen und der phänomenologischen Schule die Verbindung her. 19 In der Vorstellung des Zwanges, der der »großen Nährerin« widerfahren soll, tritt George in so bestimmten Gegensatz zu Klages, wie er diesem durch die neuheidnische Invokation der Erde ähnlich bleibt. So schwankend war seine Stellung zu Klages insgesamt. Im Briefwechsel mit Hofmannsthal verteidigt er den Pelasger. Hofmannsthal hatte bereits 1902 die bizarre Inkonsistenz
zwischen der pedantischen Nüchternheit des Ausdrucks und dem Dogma des Rausches erkannt, welche die Klagessche Philosophie unablässig desavouiert und der Kostümfestlyrik von Alfred Schuler nahebringt: »Aber ich muß offen gestehen, daß mir in Klages' Schrift über Sie an unendlich wichtigen Stellen der Ausdruck, also die Kraft das Innerlich-geschaute zu verleiblichen, peinlich zurückzubleiben schien. Es fanden sich da Metaphern, die ich zu vergessen trachte.« [ 226 ] Georges Antwort darauf ist recht allgemein: »Wegen K. und seinem Buch lassen Sie mich heut nur sagen dass wir uns da auf würdigem streit-boden befinden. Er ist ein Edler der für höchste werte glüht aber auch ein titan der blöcke entgegen wälzt.« [ 227 ] Im ›Stern des Bundes‹ von 1913 wird den Chthonikern eine Absage erteilt, die auf den gleichen Nationalsozialismus auftrifft, dessen Sprachbereich sie selber angehört: »Ihr habt fürs recken-alter nur bestimmte / Und nacht der urwelt später nicht bestand. / Dann müsst ihr euch in fremde gaue wälzen /Eur kostbar tierhaft kindhaft blut verdirbt / Wenn ihrs nicht mischt im reich von korn und wein. / Ihr winkt im andren fort · nicht mehr durch euch · / Hellhaarige schar! wisst dass eur eigner Gott / Meist kurz vorm siege meuchlings euch durchbohrt.« [ 228 ] Der Dialog von Mensch und Drud jedoch im ›Neuen Reich‹ ist in der Tendenz von Klages nicht mehr zu unterscheiden. Je mehr die von George abstrakt verherrlichte Tat in tödlich politische Praxis überging, um so notwendiger bedurfte sie der unverstörten Natur und des »Lebens« als Ideologie. 20 »Je suis comme le roi d'un pays pluvieux, / Riche, mais impuissant, jeune et pourtant très-vieux.« Das Gedicht ist von George übersetzt [ 229 ] . 21 Der Briefentwurf ist von 1897. Damals erschien das ›Jahr der Seele‹. Man mag die Wendung vom ›Buch der Hängenden Gärten‹ zum ›Jahr der Seele‹ mit dem Gedanken an die Technik des Erfolgs wohl in Zusammenhang bringen. Die Wendung hat ihr Vorbild an Verlaine, dem das ›Jahr der Seele‹ Entscheidendes verdankt. Der Titel »Traurige Tänze«, Gedichte wie »Es winkte der abendhauch« mit den Schlußzeilen: »Meine trübste stunde / Nun kennest du sie auch« [ 230 ] sind ohne Verlaine nicht zu denken. Die Lobrede aus ›Tage und Taten‹ beschreibt den für George maßgeblichen Vorgang:
»Nach seinen ersten Saturnischen Gedichten wo der jüngling in persischem und päpstlichem prunke sich berauscht · aber noch gewohnte parnassische Klänge spielt · führt er uns in seinen eigenen rokokogarten der Galanten Feste wo gepuderte ritter und geschminkte damen sich ergehen oder zu zierlichen gitarren tanzen · wo stille paare in kähnen rudern und kleine mädchen in versteckten gängen lüstern zu den nackten marmorgöttern aufblicken. Über dieses leichte lockende Frankreich aber haucht er eine nie empfundene luft peinigender innerlichkeit und leichenhafter schwermut ... Was aber ein ganzes dichtergeschlecht am meisten ergriffen hat das sind die Lieder ohne Worte – strofen des wehen und frohen lebens .. hier hörten wir zum erstenmal frei von allem redenden beiwerk unsre seele von heute pochen: wussten dass es keines kothurns und keiner maske mehr bedürfe und dass die einfache flöte genüge um den menschen das tiefste zu verraten. Eine farbe zaubert gestalten hervor indes drei spärliche striche die landschaft bilden und ein schüchterner klang das erlebnis gibt.« [ 231 ] Die Wendung besteht im Versuch, dem Interieur zu entweichen und die »landschaft als haus« zu betreten. Sie involviert die äußerste Vereinfachung der Mittel: die Sprache des ganz Einsamen tönt als Echo der vergessenen Sprache aller. Diese Vereinfachung eröffnet nochmals die Lyrik einem Leserkreise: der ganz Einsame aber ist der Diktator derer, die ihm gleichen (vgl. Walter Benjamin, Über einige Motive bei Baudelaire, in: Schriften, Frankfurt a.M. 1955, Bd. 1, S. 426ff.). 22 Borchardts Kritik hat der Georgeschen Schule gegenüber den Standpunkt des Ultrarechten eingenommen. Er erlaubt zuweilen materialistische Durchblicke. Der bedeutende Aufsatz über die toskanische Villa entwickelt diese als Kunstform aus den ökonomischen Voraussetzungen der Pachtherrschaft. 23 Aber auch in anderen Sphären, von der Bayreuther Runde bis zu den Psychoanalytikern, haben sich um die gleiche Zeit sektenhafte Gruppen formiert. Bei divergierendem Inhalt zeigen sich auffallende Übereinstimmungen im Bau. Gemeinsam ist ihnen ein mehrdeutiger Begriff von Reinigung und Erneuerung, der die Resistenz gegen das Bestehende vortäuscht und zugleich vereitelt. Politische Solidarität wird vom Glauben an die Panazee ersetzt. Die Realitätsgerechtigkeit
solcher Katharsis bewährte sich im Guerillakrieg der Konkurrenz ebenso wie im Einparteiensystem. 24 Nochmals ist an Marie Bashkirtseff zu erinnern. Sie war ohne die leiseste Beziehung zur avancierten Kunst. Ihr malerischer Horizont war durch den Salon bestimmt; bewundert hat sie Bastien-Lepage. Ihre Bilder sind wie frühe Ansichtskarten. Mit jener Offenheit, die dem Geständniszwang gleichkommt und die zumal die gesunde Erfolgsgier der Kranken preisgibt, charakterisiert sie sich gelegentlich selber als rohe und ignorante Barbarin [ 232 ] . Ihr Urteil über besuchte Kunststätten ist das der Bildungsreisenden; zur Wahrnehmung von Nuancen ist sie unfähig, da sie alles, was ihr begegnet, brutal ihrem Geltungsinteresse subsumiert. Das hat nicht verhindert, daß die Mischung von Machtkult, Naivetät und Morbidezza, die sie zur Schau stellt, sie zur Heroine einer Bewegung machte, mit der sie sachlich nichts gemeinsam hat. 25 Der Testamentsvollstrecker war Wedekind. Sein Dialog beruht auf dem Prinzip, daß kein Sprecher je den anderen versteht. Wedekinds Stücke sind Mißverständnisse in Permanenz. Darauf hat erstaunlicherweise Max Halbe in seinen Memoiren hingewiesen. Die dramatischen Personen nähern als Akrobaten den Mechanismen sich an. Sie können bereits nicht mehr sprechen – daher das tiefe Recht des Wedekindschen Papierdeutschs –, wissen es aber noch nicht. 26 Hofmannsthal, der mit Schnitzler befreundet war, hat der Psychoanalyse Interesse entgegengebracht, ohne daß sie doch in seine Werke eingegangen wäre. Vom psychologischen Roman hat er sich ferngehalten. Die Georgesche Schule vollends ist anti-psychologistisch gleich der Phänomenologie. 27 Daher die Vormacht der Übersetzung von Rossetti und Baudelaire bis George und Borchardt. Sie alle suchen die eigene Sprache vorm Fluch des Banalen zu retten, indem sie sie von der fremden her visieren und ihre Alltäglichkeit unterm Gorgonenblick der Fremdheit erstarren lassen; jedes Gedicht von Baudelaire so gut wie von George ist der eigenen Sprachform nach am Ideal der Übersetzung einzig zu messen [ 233 ] .
28 Freilich nur um so weit; solange sie den Anstoß der »Entartung« bieten, die ihnen seit Max Nordaus Buch vorgeworfen worden ist [ 234 ] . Jede Wendung ins Positive ist in der Tat Verfall. Ein Beleg für viele: das große Baudelairesche Motiv der Unfruchtbarkeit. Die Unfruchtbare entzieht sich dem Generationszusammenhang der verhaßten Gesellschaft. Von Baudelaire wird sie mit der Lesbierin und der Dirne gefeiert. Er vergleicht die froide majesté de la femme stérile [ 235 ] mit dem nutzlosen Sternenlicht, das dem Umkreis der gesellschaftlichen Zwecke entrückt ist. Hofmannsthal übernimmt das Motiv, um es ins Staatserhaltende und zugleich Triviale zu wenden. Von »allen diesen Dingen / Und ihrer Schönheit – die unfruchtbar war« [ 236 ] , sagt er sich um der Geliebten willen los. In der ›Frau ohne Schatten‹ ist Unfruchtbarkeit ein Fluch, von dem erlöst werden soll. 29 George übersetzt: »Ich fliehe wahrlich gerne dies geschlecht / Das traum und tat sich zu verbinden wehrte.« [ 237 ] Die Übersetzung ist ein Verrat. Baudelaire spricht vom monde, der Gesamtverfassung der Wirklichkeit, die den Traum vom tätigen Handeln fernhält. George macht daraus das »geschlecht«, als ob es sich um einen Abfall, um »Dekadenz« handelte, wo die Baudelairesche Revolte das Prinzip der Ordnung selber trifft. Bei George tritt an Stelle des Aufruhrs jene »Erneuerung«, die dem »Geschlecht« allemal sich assoziiert.
Charakteristik Walter Benjamins ... und den Geräuschen des Tages zu lauschen, als wären es die Akkorde der Ewigkeit. Karl Kraus
Der Name des Philosophen, der auf der Flucht vor den Schergen Hitlers sein Leben auslöschte, hat in den fünfzehn Jahren, die seitdem vergingen, Nimbus gewonnen trotz des esoterischen Charakters seiner früheren Arbeiten und des fragmentarischen der späteren. Die Faszination von Person und oeuvre ließ keinen Ausweg als magnetisches Hingezogensein oder schaudernde Abwehr. Unter dem Blick seiner Worte verwandelte sich, worauf immer er fiel, als wäre es radioaktiv geworden. Die Fähigkeit, unablässig neue Aspekte herzustellen, weniger indem er Konventionen kritisch durchbrach, als indem er durch seine innere Organisation zum Gegenstand sich verhielt, wie wenn die Konvention keine Macht über ihn hätte – diese Fähigkeit wird gleichwohl vom Begriff des Originellen kaum erreicht. Keiner der Einfälle des Unerschöpflichen dünkte je bloßer Einfall. Das Subjekt, dem leibhaft alle die originären Erfahrungen zuteil wurden, welche die offizielle zeitgenössische Philosophie einzig formal beredet, schien zugleich keinen Anteil an ihnen zu haben, wie denn seiner Art, zumal der Kunst augenblicklich-endgültiger Formulierung, das Moment des im herkömmlichen Sinne Spontanen und Sprudelnden durchaus abging. Er wirkte nicht wie einer, der Wahrheit erzeugte oder denkend gewann, sondern, indem er sie durch den Gedanken zitierte, wie ein höchstes Instrument von Erkenntnis, auf dem diese ihren Niederschlag hinterließ. Nichts hatte er vom Philosophierenden nach traditionellem Maß. Was er selber zu seinen Funden beitrug, war kaum ein Lebendiges und »Organisches«; gründlich verfehlte ihn das Gleichnis des Schöpfers. Die Subjektivität seines Denkens war verhutzelt zur spezifischen Differenz; das idiosynkratische Moment seines eigenen Geistes, das Singuläre daran, das der herkömmlich philosophischen Verfahrungsweise für das Zufällige, Ephemere, ganz Nichtige gelten würde, bewährte sich bei ihm als das Medium des Verbindlichen. Angegossen ist ihm der Satz, in der Erkenntnis sei das Individuellste das Allgemeinste. Wäre nicht im Zeitalter der radikalen Divergenz
von gesellschaftlichem und naturwissenschaftlichem Bewußtsein jedes physikalische Gleichnis tief suspekt, so könnte man bei ihm tatsächlich von der Energie intellektuellen Atomzerfalls reden. Seiner Insistenz löste das Unauflösliche sich auf; dort gerade ward er des Wesens habhaft, wo die Mauer bloßer Tatsächlichkeit alles trugvoll Wesenhafte unerbittlich verwehrt. Ihn trieb es, formelhaft gesprochen, dazu, aus einer Logik auszubrechen, welche das Besondere mit dem Allgemeinen überspinnt oder das Allgemeine bloß aus dem Besonderen herausabstrahiert. Er wollte das Wesen begreifen, wo es weder in automatischer Operation sich abdestillieren noch dubios sich erschauen läßt: es methodisch erraten aus der Konfiguration bedeutungsferner Elemente. Das Rebus wird zum Modell seiner Philosophie. Ihrem planvoll Abwegigen jedoch kommt ihre zarte Unwiderstehlichkeit gleich. Sie liegt weder im magischen Effekt, der ihm nicht fremd war, noch in »Objektivität«, als dem bloßen Untergang des Subjekts in jenen Konstellationen. Vielmehr rührt sie her von einem Zug, den die Departementalisierung des Geistes sonst der Kunst vorbehält, der aber, umgesetzt in Theorie, des Scheins sich entäußert und unvergleichliche Würde annimmt; dem Versprechen von Glück. Was Benjamin sagte und schrieb, lautete, als nähme der Gedanke die Verheißungen der Märchen- und Kinderbücher, anstatt mit schmachvoller Reife sie von sich zu weisen, so buchstäblich, daß die reale Erfüllung selber der Erkenntnis absehbar wird. Von Grund auf verworfen ist in seiner philosophischen Topographie die Entsagung. Wer auf ihn ansprach, dem war es zumute wie einem Kind, das durch die Ritze der verschlossenen Tür das Licht des Weihnachtsbaums gewahrt. Aber das Licht verhieß zugleich, als eines der Vernunft, die Wahrheit selber, nicht deren ohnmächtigen Abglanz. War Benjamins Denken kein Schaffen aus dem Nichts, so war es dafür Schenken aus dem Vollen; alles wollte es wiedergutmachen, was Anpassung und Selbsterhaltung an der Lust verbietet, in welcher Sinne und Geist sich verschränken. In seinem Aufsatz über Proust hat er Glücksverlangen als das Motiv des wahlverwandten Dichters bestimmt [ 238 ] , und man geht kaum fehl, wenn man dort den Ursprung einer Passion vermutet, der zwei der vollkommensten Übersetzungen der deutschen Sprache – die von ›A l'ombre des jeunes filles en fleurs‹ und von ›Le côté de Guermantes‹ – zu
danken sind. Wie aber bei Proust das Glücksverlangen seinen Tiefgang gewinnt durch die lastende Schwere des Desillusionsromans, der in der ›Recherche du temps perdu‹ tödlich sich vollendet, so wird die Treue zum verweigerten Glück bei Benjamin erkauft mit einer Trauer, von der die Geschichte der Philosophie sonst so wenig Zeugnis gibt wie von der Utopie des wolkenlosen Tages. Nicht ferner ist er mit Kafka verwandt als mit Proust. Daß es unendlich viel Hoffnung gebe, nur nicht für uns, könnte seiner Metaphysik als Motto dienen, hätte er je sich herbeigelassen, eine solche zu schreiben, und im Zentrum seines theoretisch entfaltetesten Werkes, des Barockbuchs, steht nicht umsonst die Konstruktion der Trauer als der letzten umschlagenden Allegorie, der von Erlösung. Die in den Abgrund der Bedeutungen stürzende Subjektivität wird »zum förmlichen Garanten des Wunders, weil sie die göttliche Aktion selbst ankündigt« [ 239 ] . In all seinen Phasen hat Benjamin den Untergang des Subjekts und die Rettung des Menschen zusammengedacht. Das definiert den makrokosmischen Bogen, dessen mikrokosmischen Figuren er nachhing. Denn das Unterscheidende seiner Philosophie ist ihre Art von Konkretion. Wie sein Denken in immer erneuten Ansätzen dem klassifikatorischen sich zu entziehen trachtet, so ist ihm das Urbild aller Hoffnung der Name der Dinge und Menschen, und ihn sucht seine Besinnung zu rekonstruieren. Darin scheint er mit der Gesamttendenz sich zu begegnen, die gegen Idealismus und Erkenntnistheorie aufbegehrte, nach den »Sachen selbst« anstatt deren gedanklichem Abguß verlangte und in der Phänomenologie und den an diese anschließenden ontologischen Richtungen ihren schulgerechten Ausdruck fand. Aber wie die entscheidenden Differenzen zwischen den Philosophen allemal in Nuancen sich verstecken, und wie am unversöhnlichsten zueinander steht, was sich ähnelt, aber aus verschiedenen Zentren gespeist ist, so verhält Benjamin sich zu der heute akzeptierten Ideologie des Konkreten. Diese durchschaute er als bloße Maske des an sich selbst irregewordenen Begriffs, ebenso wie er den existential-ontologischen Geschichtsbegriff als bloßes Destillat verwarf, aus dem der Stoff der historischen Dialektik verdampft. Die kritische Einsicht des späten Nietzsche, daß die Wahrheit nicht mit dem zeitlos Allgemeinen identisch sei, sondern daß einzig das
Geschichtliche die Gestalt des Absoluten abgebe, hat er, ohne sie vielleicht zu kennen, als Kanon seines Verfahrens befolgt. Das Programm ist formuliert in einer Notiz zum fragmentarischen Hauptwerk, daß »das Ewige jedenfalls eher eine Rüsche am Kleid ist als eine Idee« [ 240 ] . Dabei hat er keineswegs harmlos die Illustration von Begriffen durch bunte geschichtliche Objekte gemeint, so wie es Simmel hielt, wenn er seine schlichte Metaphysik von Form und Leben am Henkel, am Schauspieler, an Venedig dartat. Sondern seine desperate Anstrengung, aus dem Gefängnis des Kulturkonformismus auszubrechen, galt Konstellationen des Geschichtlichen, die nicht auswechselbare Beispiele für Ideen bleiben, jedoch in ihrer Einzigkeit die Ideen als selber geschichtliche konstituieren. Das hat ihm den Ruf des Essayisten eingetragen. Bis heute noch ist sein Nimbus der des raffinierten Literators, wie er selber mit antiquarischer Koketterie es würde genannt haben. Angesichts der hintergründigen Absicht seiner Wendung gegen die ausgeleierte Thematik der Philosophie und ihren Jargon – er pflegte ihn Zuhältersprache zu nennen – fällt es leicht genug, das Cliché des Essayisten als bloßes Mißverständnis fortzuweisen. Aber die Berufung auf Mißverständnisse in der Wirkung geistiger Gebilde führt nicht weit. Sie setzt ein Ansichsein des Gehaltes unabhängig von dessen geschichtlichem Schicksal voraus, gar was der Autor sich dabei dachte, und was prinzipiell kaum je auszumachen ist, gewiß nicht bei einem so vielschichtigen und gebrochenen Schriftsteller wie Benjamin. Mißverständnisse sind das Medium der Kommunikation des Nicht-Kommunikativen. Die Herausforderung, ein Aufsatz über Pariser Passagen enthalte mehr an Philosophie als Betrachtungen über das Sein des Seienden, schlägt genauer in den Sinn von Benjamins Werk als die Suche nach jenem sich selbst gleichbleibenden Begriffsskelett, das er in die Rumpelkammer verbannte. Im übrigen hat er, indem er die Grenze zwischen dem Literaten und dem Philosophen nicht respektierte, aus der empirischen Not seine intelligible Tugend gemacht. Zu ihrer Schande haben ihn die Universitäten refüsiert, während der Antiquar in ihm zum Akademischen auf ähnlich ironische Weise sich hingezogen fühlte wie etwa Kafka zum Versicherungswesen. Der perfide Vorwurf des Übergescheiten hat ihn sein Leben lang verfolgt: ein existentieller Bonze hat es gewagt, ihn als »von
Dämonen geschlagen« zu beschimpfen, wie wenn das Leiden dessen, den der Geist beherrscht und entfremdet, das metaphysische Vernichtungsurteil über ihn wäre, bloß weil es die quicklebendige Ich-Du-Beziehung verstört. Dabei scheute er zurück vor aller Gewalttat gegen die Worte; Spitzfindigkeit war ihm bis ins Innerste fremd. In Wahrheit erregte er den Haß, weil sein Blick unwillkürlich, ohne alle polemische Absicht die gewohnte Welt in der Sonnenfinsternis zeigte, die ihr permanentes Licht ist. Zugleich jedoch erlaubte ihm dafür das Inkommensurable seiner Natur, durch keine Taktik überwindbar und unfähig zum Gesellschaftsspiel in der Republik der Geister, auf eigene Faust und ungeschützt als Essayist sein Leben sich zu verdienen. Das hat die Agilität seines Tiefsinns unendlich gefördert. Er lernte, mit lautlosem Kichern die gewaltigen Uransprüche der prima philosophia ihrer Hohlheit zu überführen. All seine Äußerungen sind gleich nah zum Mittelpunkt. Die in der ›Literarischen Welt‹ und der ›Frankfurter Zeitung‹ verstreuten Aufsätze zeugen kaum weniger für die hartnäckige Intention als die Bücher und die großen Abhandlungen aus der ›Zeitschrift für Sozialforschung‹. Die Maxime der ›Einbahnstraße‹, alle entscheidenden Schläge heute würden mit der linken Hand geführt [ 241 ] , hat er selber befolgt, ohne doch darum von der Wahrheit das Mindeste nachzulassen. Noch die preziösesten literarischen Spielereien fungieren als Etüden zum chef d'oeuvre, dessen Genre er zugleich gründlich mißtraute. Der Essay als Form besteht im Vermögen, Geschichtliches, Manifestationen des objektiven Geistes, »Kultur« so anzuschauen, als wären sie Natur. Benjamin war dazu fähig wie kaum einer. Sein gesamtes Denken ließe als »naturgeschichtlich« sich bezeichnen. Ihn sprachen die versteinerten, erfrorenen oder obsoleten Bestandstücke der Kultur, alles an ihr, was der anheimelnden Lebendigkeit sich entäußerte, so an, wie den Sammler das Petrefakt oder die Pflanze im Herbarium. Kleine Glaskugeln, die eine Landschaft enthalten, auf die es schneit, wenn man sie schüttelt, zählten zu seinen Lieblingsutensilien. Das französische Wort für Stilleben, nature morte, könnte über der Pforte zu seinen philosophischen Verliesen geschrieben stehen. Der Hegelsche Begriff der zweiten Natur als der Vergegenständlichung sich selbst entfremdeter menschlicher Verhältnisse, auch die Marxische Kategorie des Warenfetischismus gewinnt bei Benjamin eine
Schlüsselposition. Ihn fesselt es nicht bloß, geronnenes Leben im Versteinten – wie in der Allegorie – zu erwecken, sondern auch Lebendiges so zu betrachten, daß es längst vergangen, »urgeschichtlich« sich präsentiert und jäh die Bedeutung freigibt. Philosophie eignet den Warenfetischismus sich selber zu: alles muß ihr zum Ding sich verzaubern, damit sie das Unwesen der Dinglichkeit entzaubere. So gesättigt ist dies Denken mit Kultur als seinem Naturgegenstand, daß es der Verdinglichung sich verschwört, anstatt ihr unentwegt zu widersprechen. Das ist der Ursprung von Benjamins Neigung, seine geistige Kraft ans ganz Entgegengesetzte zu zedieren, wie sie in der Arbeit über das ›Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit‹ den extremen Ausdruck fand. Der Blick seiner Philosophie ist medusisch. Besetzt in ihr, zumal ihrer älteren, eingestanden theologischen Phase, der Begriff des Mythos die zentrale Stelle als Widerpart zur Versöhnung, dann wird seinem eigenen Denken wiederum alles, und zumal das Ephemere, mythisch. Die Kritik der Naturbeherrschung, welche das letzte Stück der ›Einbahnstraße‹ programmatisch anmeldet, hebt den ontologischen Dualismus von Mythos und Versöhnung auf: diese ist die des Mythos selber. Im Fortgang solcher Kritik wird der Begriff des Mythos säkularisiert. Seine Lehre vom Schicksal als dem Schuldzusammenhang des Lebendigen geht über in die vom Schuldzusammenhang der Gesellschaft: »Solange es noch einen Bettler gibt, gibt es noch Mythos.« [ 242 ] So wendet sich Benjamins Philosophie, die einmal, etwa in der ›Kritik der Gewalt‹, die Wesenheiten unmittelbar beschwören wollte, immer entschiedener zur Dialektik. Diese wuchs nicht einem an sich statischen Denken von außen oder durch bloße Entwicklung zu, sondern war vorgebildet in dem Quid pro quo des Starrsten und des Beweglichsten, das in all seinen Phasen wiederkehrt. Immer deutlicher trat die Konzeption von der »Dialektik im Stillstand« in den Vordergrund. Die Versöhnung des Mythos ist das Thema von Benjamins Philosophie. Aber es bekennt sich, wie in guten musikalischen Variationen, kaum je kahl ein, sondern hält sich verborgen und schiebt die Last seiner Legitimation der jüdischen Mystik zu, von der er in der Jugend durch seinen Freund Gerhard Scholem, den bedeutenden Kabbalaforscher, erfuhr. Es steht dahin, wie weit er in der Tat auf jene neuplatonischen und antinomistisch-messianischen
Überlieferungen sich stützte. Manches spricht dafür, daß er, der kaum je mit aufgedeckten Karten spielte, aus eingewurzelter Opposition gegen amateurhaftes Drauflosdenken und »freischwebende« Intelligenz die unter Mystikern beliebte Technik der Pseudepigraphie auch seinerseits benutzte – freilich ohne mit den Texten herauszurücken –, um damit die Wahrheit zu überlisten, von der er argwöhnte, sie sei der autonomen Besinnung unzugänglich. Auf jeden Fall hat er an der Kabbala seinen Begriff des heiligen Textes orientiert. Philosophie bestand ihm wesentlich aus Kommentar und Kritik, und der Sprache, als der Kristallisation des »Namens«, schrieb er höheres Recht zu als das des Bedeutungs-und selbst Ausdrucksträgers. Die Beziehung von Philosophie auf je kodifiziert vorliegende Lehrmeinungen ist ihrer großen Tradition weniger fremd, als Benjamin glauben mochte. Zentrale Schriften oder Partien von Aristoteles und Leibniz, von Kant und Hegel sind »Kritiken« nicht nur implizit, als Arbeit an aufgeworfenen Problemen, sondern als spezifische Auseinandersetzungen. Erst als die zur Branche zusammengeschlossenen Philosophen des eigenen Denkens sich entwöhnten, glaubte ein jeder dadurch sich decken zu müssen, daß er vor Erschaffung der Welt anfing oder womöglich diese in eigene Regie nahm. Demgegenüber hat Benjamin den entschlossenen Alexandrinismus vertreten und damit alle wurzelwütigen Affekte gegen sich aufgebracht. Die Idee des heiligen Textes transponierte er in eine Aufklärung, in die umzuschlagen nach Scholems Aufweis die jüdische Mystik selber sich anschickte. Sein Essayismus ist die Behandlung profaner Texte, als wären es heilige. Keineswegs hat er an theologische Relikte sich geklammert oder, wie die religiösen Sozialisten, die Profanität auf einen transzendenten Sinn bezogen. Vielmehr erwartete er einzig von der radikalen, schutzlosen Profanisierung die Chance fürs theologische Erbe, das in jener sich verschwendet. Der Schlüssel zu den Rätselbildern ist verloren. Sie sollen, wie es in dem barocken Gedicht von der Melancholie heißt, »selber reden« [ 243 ] . Das Verfahren ähnelt der Blague Thorstein Veblens, er studiere fremde Sprachen, indem er jedes Wort so lange anstarre, bis er wisse, was es heiße. Unverkennbar die Analogie zu Kafka. Aber er unterscheidet sich von dem älteren Prager, dem noch in der äußersten Negativität ein Ländliches, episch Traditionales innewohnt, sowohl durch das weit prononciertere Element von
Urbanität als Widerspiel zum Archaischen, wie dadurch, daß sein Denken, kraft des aufklärerischen Zuges, gegen die dämonische Regression unendlich viel gefeiter sich zeigt als Kafka, dem deus absconditus und Teufel sich verwirrten. Vorbehaltlos, ohne Mentalreservat konnte Benjamin in seiner reifen Zeit gesellschaftlich-kritischen Einsichten sich überlassen und hat doch von seinen Impulsen keinen sich verboten. Die Kraft der Auslegung hat sich umgesetzt in die, Äußerungen der bürgerlichen Kultur als Hieroglyphen ihres finsteren Geheimnisses zu durchschauen; als Ideologien. Gelegentlich hat er von dem »materialistischen Giftstoff« gesprochen, den er seinem Denken beimischen müsse, damit es überlebe. Zu den Illusionen, deren er sich entschlug, um nicht entsagen zu müssen, gehörte auch die von der monadologischen, in sich ruhenden Gestalt der eigenen Reflexion, die er unermüdlich, unbekümmert um den Schmerz der Entäußerung, an der zwangvollen Tendenz des Kollektivs maß. Aber er hat das fremde Element so ganz der eigenen Erfahrung assimiliert, daß es dieser zum Guten anschlug. Asketische Gegenkräfte hielten denen des an jedem Gegenstand sich erneuenden Einfalls die Waage. Das hat Benjamin zur Philosophie wider die Philosophie verholfen. Nicht übel ließe sie sich darstellen an den Kategorien, die in ihr nicht vorkommen. Von ihnen vermittelt eine Vorstellung die Idiosynkrasie gegen Worte wie Persönlichkeit. Sein Denken sträubt sich von Anbeginn gegen die Lüge, Mensch und Menschengeist gründeten in sich selbst, und in ihnen entspränge ein Absolutes. Das Schneidende dieser Reaktionsweise läßt sich nicht verwechseln mit den neureligiösen Bewegungen, welche den Menschen in der Reflexion nochmals zu jener Kreatur machen wollen, zu der ihn die vollendete gesellschaftliche Abhängigkeit ohnehin degradiert. Er zielt nicht gegen den angeblich aufgeblähten Subjektivismus sondern gegen den Begriff des Subjektiven selber. Zwischen den Polen seiner Philosophie, Mythos und Versöhnung, zergeht das Subjekt. Dem medusischen Blick verwandelt der Mensch weithin sich zum Schauplatz objektiven Vollzugs. Darum verbreitet Benjamins Philosophie Schrecken kaum weniger, als sie Glück verspricht. Wie im Umkreis des Mythos anstelle von Subjektivität Vielfalt und Vieldeutigkeit herrscht, so ist die Eindeutigkeit der Versöhnung – nach dem Modell des »Namens« vorgestellt – das Widerspiel
menschlicher Autonomie. Diese wird, beim tragischen Helden etwa, zum dialektischen Durchgangsmoment herabgesetzt, und die Versöhnung des Menschen mit der Schöpfung hat die Auflösung alles selbstgesetzten Menschenwesens zur Bedingung. Einer mündlichen Äußerung zufolge erkannte Benjamin das Selbst nur als mystisches, nicht als metaphysisch-erkenntniskritisches, als »Substantialität« an. Innerlichkeit ist ihm nicht bloß die Heimstätte von Dumpfheit und trüber Selbstgenügsamkeit sondern auch das Phantasma, welches das mögliche Bild des Menschen verstellt: überall kontrastiert er ihr das leibhaft Auswendige. So wird man denn nach Begriffen nicht nur wie Autonomie, sondern auch wie Totalität, Leben, System, die alle dem Bannkreis der subjektiven Metaphysik angehören, vergebens bei ihm suchen. Was er an dem sonst von ihm gänzlich verschiedenen Karl Kraus zu dessen Mißvergnügen feierte, ist ein eigener Zug Benjamins: Unmenschlichkeit gegen den Trug des Allmenschlichen [ 244 ] . Die von ihm außer Kurs gesetzten Kategorien sind aber zugleich die eigentlich gesellschaftlich-ideologischen. Je und je wirft in ihnen der Herr sich als Gott auf. Der Kritiker der Gewalt ruft die subjektive Einheit gleichsam ins mythische Gewimmel zurück, um sie selber noch als bloßes Naturverhältnis zu begreifen; der an der Kabbala ausgerichtete Sprachphilosoph betrachtet sie als Gekritzel für den Namen. Das verbindet seine materialistische Phase der theologischen. Seine Anschauung von Moderne als Archaik bewahrt nicht Spuren eines vorgeblich alten Wahren auf, sondern meint den realen Ausbruch aus der Traumbefangenheit der bürgerlichen Immanenz. Er läßt es nicht sowohl sich angelegen sein, die Totalität der bürgerlichen Gesellschaft nachzukonstruieren, als vielmehr sie als Verblendetes, Naturhaftes, Diffuses unter die Lupe zu nehmen. Den Gedanken der universalen Vermittlung, der bei Hegel wie bei Marx die Totalität stiftet, hat dabei seine mikrologische und fragmentarische Methode nie ganz sich zugeeignet. Unbeirrt stand er zu seinem Grundsatz, die kleinste Zelle angeschauter Wirklichkeit wiege den Rest der ganzen Welt auf. Ihm hieß, Phänomene materialistisch interpretieren, weniger sie aus dem gesellschaftlichen Ganzen erklären, als sie unmittelbar, in ihrer Vereinzelung, auf materielle Tendenzen und soziale Kämpfe beziehen. So gedachte er der Entfremdung und Vergegenständlichung zu entgehen, in der die Betrachtung des
Kapitalismus als System diesem sich anzugleichen droht. Motive des frühen Hegel, den er kaum kannte, treten hervor: auch im dialektischen Materialismus hat er verspürt, was jener »Positivität« nannte, und auf seine Weise ihr opponiert. In der Tuchfühlung mit dem stofflich Nahen, der Affinität zu dem was ist, war seinem Denken, bei aller Fremdheit und Schärfe, stets ein eigentümlich Bewußtloses, wenn man will Naives gesellt. Solche Naivetät ließ ihn zuweilen mit machtpolitischen Tendenzen sympathisieren, welche, wie er wohl wußte, seine eigene Substanz, unreglementierte geistige Erfahrung, liquidiert hätten. Aber auch ihnen gegenüber hat er verschmitzt eine auslegende Haltung eingenommen, als wäre, wenn man nur den objektiven Geist deutet, gleichzeitig ihm Genüge getan und sein Grauen als begriffenes gebannt. Eher war er bereit, der Heteronomie spekulative Theorien beizustellen als auf Spekulation zu verzichten. Politik und Metaphysik, Theologie und Materialismus, Mythos und Moderne, intentionsloser Stoff und extravagante Spekulation – alle Straßen von Benjamins Stadtschaft konvergierten in dem Plan des Buchs über Paris als in ihrer Etoile. Aber es wäre ihm nicht beigekommen, etwa an dem ihm gleichsam apriorisch zubestimmten Gegenstand seine Philosophie zusammenfassend darzustellen. Wie die Konzeption vom konkreten Anstoß ausgelöst ward, so bewahrte sie sich durch all die Jahre hindurch die monographische Form. Ein in der ›Neuen Rundschau‹ erschienener Aufsatz ›Traumkitsch‹ beschäftigte sich mit dem schockhaften Aufblitzen obsoleter Elemente des neunzehnten Jahrhunderts im Surrealismus. Die stoffliche Einsatzstelle bot ein Magazinaufsatz über Pariser Passagen, den er und Franz Hessel projektierten. Am Titel Passagenarbeit hielt er fest, nachdem längst ein Entwurf zusammengeschossen war, der mit extremen physiognomischen Zügen des neunzehnten Jahrhunderts ähnlich verfahren sollte wie das Trauerspielbuch mit denen des Barock. Aus ihnen dachte er die Idee der Epoche zu konstruieren im Sinne einer Urgeschichte von Moderne. Diese sollte nicht etwa archaische Rudimente im Jüngstvergangenen entdecken, sondern das je Neueste selber als Figur des Ältesten bestimmen: »Der Form des neuen Produktionsmittels, die im Anfang noch von der des alten beherrscht wird ..., entsprechen im Kollektivbewußtsein Bilder, in denen das Neue sich mit dem Alten durchdringt. Diese Bilder sind
Wunschbilder, und in ihnen sucht das Kollektiv die Unfertigkeit des gesellschaftlichen Produkts sowie die Mängel der gesellschaftlichen Produktionsordnung sowohl aufzuheben wie zu verklären. Daneben tritt in diesen Wunschbildern das nachdrückliche Streben hervor, sich gegen das Veraltete – das heißt aber: gegen das Jüngstvergangene – abzusetzen. Diese Tendenzen weisen die Bildphantasie, die von dem Neuen ihren Anstoß erhielt, an das Urvergangene zurück. In dem Traum, in dem jeder Epoche die ihr folgende in Bildern vor Augen tritt, erscheint die letztere vermählt mit Elementen der Urgeschichte, das heißt einer klassenlosen Gesellschaft. Deren Erfahrungen, welche im Unbewußten des Kollektivs ihr Depot haben, erzeugen in Durchdringung mit dem Neuen die Utopie, die in tausend Konfigurationen des Lebens, von den dauernden Bauten bis zu den flüchtigen Moden, ihre Spur hinterläßt.« [ 245 ] Solche Bilder indessen galten Benjamin für mehr als für Archetypen des kollektiven Unbewußten wie bei Jung: er verstand unter ihnen objektive Kristallisationen der geschichtlichen Bewegung und belegte sie mit dem Namen dialektische Bilder. Eine grandios improvisierte Theorie des Spielers erstellte deren Modell: sie sollten geschichtsphilosophisch die Phantasmagorie des neunzehnten Jahrhunderts als Figur der Hölle enträtseln. Jene ursprüngliche Schicht der Passagenarbeit, etwa von 1928, wurde dann von einer zweiten materialistischen überlagert: sei es, daß die Bestimmung des neunzehnten Jahrhunderts als Hölle angesichts des hereinbrechenden Dritten Reichs unhaltbar ward, sei es, daß der Gedanke an die Hölle in eine gänzlich veränderte politische Richtung drängte, als Benjamin von der strategischen Rolle der Haussmannschen Boulevarddurchbrüche Rechenschaft sich ablegte [ 246 ] , und vor allem, als er auf eine verschollene, im Gefängnis entstandene Schrift von Auguste Blanqui, ›L'éternité par les astres‹, stieß, welche mit dem Akzent absoluter Verzweiflung Nietzsches Lehre von der ewigen Wiederkehr vorwegnimmt. Die zweite Phase des Passagenplans ist dokumentiert in dem 1935 geschriebenen Memorandum ›Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts‹. Es bezieht jeweils Schlüsselgestalten der Epoche auf Kategorien der Bilderwelt. Von Fourier und Daguerre, von Grandville und Louis Philippe, von Baudelaire und Haussmann sollte gehandelt werden, aber es ging um Themen wie Mode und nouveauté, Ausstellungswesen und Gußeisenkonstruktion, den Sammler, den
Flaneur, die Prostitution. Von dem mit äußerster Erregung besetzten Bereich der Interpretation mag etwa eine Stelle über Grandville zeugen: »Die Weltausstellungen bauen das Universum der Waren auf. Grandvilles Phantasien übertragen den Warencharakter aufs Universum. Sie modernisieren es. Der Saturnring wird ein gußeiserner Balkon, auf dem die Saturnbewohner abends Luft schöpfen ... – Die Mode schreibt das Ritual vor, nach dem der Fetisch Ware verehrt sein will, Grandville dehnt ihren Anspruch auf die Gegenstände des alltäglichen Gebrauchs so gut wie auf den Kosmos aus. Indem er sie in ihren Extremen verfolgt, deckt er ihre Natur auf. Sie steht im Widerstreit mit dem Organischen. Sie verkuppelt den lebendigen Leib der anorganischen Welt. An dem Lebenden nimmt sie die Rechte der Leiche wahr. Der Fetischismus, der dem Sex-Appeal des Anorganischen unterliegt, ist ihr Lebensnerv. Der Kultus der Ware stellt ihn in seinen Dienst.« [ 247 ] Überlegungen solchen Stils führten in das geplante Baudelairekapitel. Benjamin zweigte es von dem großen Entwurf ab, um ein kürzeres dreiteiliges Buch daraus zu machen; ein großes Stück erschien 1939–40 in der ›Zeitschrift für Sozialforschung‹ als Aufsatz ›Über einige Motive bei Baudelaire‹. Er zählt zu den wenigen Texten, die er aus dem Passagenkomplex unter Dach und Fach brachte. Ein zweiter sind die Thesen ›Über den Begriff der Geschichte‹, welche gleichsam die erkenntnistheoretischen Erwägungen zusammenfassen, deren Entwicklung die des Passagenentwurfs begleitet hat. Von diesem liegen Tausende von Seiten vor, Materialstudien, die während der Okkupation in Paris versteckt waren. Das Ganze jedoch läßt sich kaum rekonstruieren. Benjamins Absicht war es, auf alle offenbare Auslegung zu verzichten und die Bedeutungen einzig durch schockhafte Montage des Materials hervortreten zu lassen. Philosophie sollte nicht bloß den Surrealismus einholen, sondern selber surrealistisch werden. Den Satz aus der ›Einbahnstraße‹, Zitate aus seinen Arbeiten seien wie Räuber am Wege, die hervorbrechen und dem Leser seine Überzeugungen abnehmen [ 248 ] , faßte er wörtlich auf. Zur Krönung seines Antisubjektivismus sollte das Hauptwerk nur aus Zitaten bestehen. Nur spärlich finden sich Interpretationen notiert, die nicht im Baudelaire und den geschichtsphilosophischen Thesen aufgegangen wären, und kein Kanon besagt, wie das verwegene Unterfangen einer vom Argument gereinigten Philosophie etwa sich
realisieren ließe, auch nur, wie die Zitate einigermaßen sinnvoll aneinanderzureihen wären. Die fragmentarische Philosophie blieb Fragment, Opfer vielleicht einer Methode, von der nicht entschieden ist, ob sie im Medium des Gedankens überhaupt sich einlösen läßt. Die Methode aber kann vom Gehalt nicht getrennt werden. Benjamins Ideal von Erkenntnis beschied sich nicht bei der Reproduktion dessen, was ohnehin ist. In der Einschränkung des Umkreises möglicher Erkenntnis, dem Stolz der neueren Philosophie auf illusionslose Reife, witterte er die Sabotage am Glücksanspruch, die bloße Bekräftigung des endlos Gleichen: den Mythos selber. Gepaart aber ist das utopische Motiv mit dem antiromantischen. Unverführt blieb er von allen dem Scheine nach verwandten Versuchen – etwa dem Schelerschen –, aus natürlicher Vernunft Transzendenz zu ergreifen, als wäre der grenzensetzende Prozeß der Aufklärung widerrufbar, und es ließe auf vergangene theologisch überwölbte Philosophien unbekümmert sich rekurrieren. Darum verwehrt sein Denken seinem Ansatz nach sich selbst das »Gelingen« bruchloser Einstimmigkeit und macht das Fragmentarische zum Prinzip. Um zustande zu bringen, was ihm vorschwebte, wählte er die vollkommene Exterritorialität zur manifesten Überlieferung der Philosophie. Trotz aller Bildung gehen die Elemente ihrer approbierten Geschichte nur versprengt, unterirdisch, quer in sein Labyrinth ein. Das Inkommensurable beruht auf einem unmäßigen sich Überlassen an den Gegenstand. Indem der Gedanke gleichsam zu nah an die Sache herantritt, wird diese fremd wie jegliches Alltägliche unterm Mikroskop. Wollte man ihn, um der Absenz von System und geschlossenem Begründungszusammenhang willen, unter die Repräsentanten von Intuition oder Schau einreihen – und so ist er oft selbst von Freunden mißverstanden worden –, dann vergäße man das Beste. Nicht der Blick als solcher beansprucht unvermittelt das Absolute, aber die Weise des Blickens, die gesamte Optik ist verändert. Die Technik der Vergrößerung läßt das Erstarrte sich bewegen und das Bewegte innehalten. Seine Vorliebe für minimale oder schäbige Objekte wie Staub und Plüsch in der Passagenarbeit steht komplementär zu jener Technik, die von all dem angezogen wird, was durch die Maschen des konventionellen Begriffsnetzes hindurchschlüpfte oder vom herrschenden Geist zu sehr verachtet ist, als daß er andere Spuren daran hinterlassen hätte als die des
hastigen Urteils. Wie Hegel hofft der Dialektiker der Phantasie, die er als »Extrapolation im Kleinsten« definierte [ 249 ] , die »Sache, wie sie an und für sich selber ist, zu betrachten«, also ohne Anerkennung der unaufhebbaren Schwelle zwischen Bewußtsein und Ding an sich. Aber die Distanz solcher Betrachtung ist verrückt. Weil nicht sowohl, wie bei Hegel, Subjekt und Objekt als schließlich identisch entwickelt werden, sondern vielmehr die subjektive Intention als im Gegenstand erlöschende vorgestellt ist, gibt dies Denken mit Intentionen nicht sich zufrieden. Der Gedanke rückt der Sache auf den Leib, als wollte er in Tasten, Riechen, Schmecken sich verwandeln. Kraft solcher zweiten Sinnlichkeit hofft er, in die Goldadern einzudringen, die kein klassifikatorisches Verfahren erreicht, ohne doch darüber dem Zufall der blinden Anschauung sich zu überantworten. Die Herabsetzung der Distanz zum Gegenstand stiftet zugleich die Beziehung auf mögliche Praxis, die später dann Benjamins Denken leitet. Was die Erfahrung im déjà vu unerhellt und ohne Objektivität vorfindet, was Proust für die dichterische Rekonstruktion durch unwillkürliche Erinnerung sich versprach, wollte Benjamin einholen und zur Wahrheit erheben durch den Begriff. Diesen verpflichtet er, in jedem Augenblick selber zu leisten, was sonst dem begrifflosen Erfahren vorbehalten wird. Der Gedanke soll die Dichte der Erfahrung gewinnen und doch auf nichts von seiner Strenge verzichten. Die Utopie der Erkenntnis aber hat die Utopie zum Inhalt. Benjamin nannte sie die »Unwirklichkeit der Verzweiflung«. Philosophie verdichtet sich zur Erfahrung, daß ihr die Hoffnung zuteil werde. Diese jedoch erscheint einzig als gebrochene. Wenn Benjamin die Überbelichtung der Gegenstände veranstaltet um der verborgenen Konturen willen, die einmal im Stande der Versöhnung an ihnen offenbar werden sollen, dann tritt zugleich der Abgrund zwischen diesem und dem Dasein schroff hervor. Der Preis für die Hoffnung ist das Leben: »messianisch ist die Natur aus ihrer ewigen und totalen Vergängnis« und Glück, nach einem alles einsetzenden Fragment der Spätzeit, deren eigener »Rhythmus« [ 250 ] . Darum ist die Mitte von Benjamins Philosophie die Idee der Rettung des Toten als der Restitution des entstellten Lebens durch die Vollendung seiner eigenen Verdinglichung bis hinab ins Anorganische. »Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben« [ 251 ] , schließt die Abhandlung über die ›Wahlverwandtschaften‹. Im
Paradoxon der Möglichkeit des Unmöglichen hat bei ihm ein letztes Mal Mystik und Aufklärung sich zusammengefunden. Er hat des Traumes sich entschlagen, ohne ihn zu verraten und sich zum Komplizen dessen zu machen, worin stets die Philosophen sich einig waren: daß es nicht sein soll. Der Charakter des Rätsel- und Vexierbildes, den er selbst den Aphorismen der ›Einbahnstraße‹ verlieh und der alles markiert, was er überhaupt schrieb, hat in jener Paradoxie seinen Grund. Sie mit den einzigen Mitteln, über welche Philosophie verfügt, den Begriffen, doch noch auseinanderzulegen, ist das Eine, um dessentwillen er ins Mannigfaltige rückhaltlos sich versenkte.
Aufzeichnungen zu Kafka
Für Gretel Si Dieu le Père avait créé les choses en les nommant, c'est en leur ôtant leur nom, ou en leur en donnant un autre, que l'artiste les recréait. Marcel Proust
1 Die Beliebtheit Kafkas, das Behagen am Unbehaglichen, das ihn zum Auskunftsbüro der je nachdem ewigen oder heutigen Situation des Menschen erniedrigt und mit quickem Bescheidwissen eben den Skandal wegräumt, auf den das Werk angelegt ist, weckt Widerwillen dagegen, mitzutun und den kurrenten Meinungen eine sei's auch abweichende anzureihen. Aber gerade der falsche Ruhm, die fatale Variante des Vergessens, das Kafka bitter ernst sich gewünscht hätte, zwingt zur Insistenz vor dem Rätsel. Weniges von dem, was über ihn geschrieben ward, zählt; das meiste ist Existentialismus. Er wird eingeordnet in eine etablierte Denkrichtung, anstatt daß man bei dem beharrte, was die Einordnung erschwert und eben darum die Deutung erheischt. Als ob es der Sisyphusarbeit Kafkas bedurft hätte, als ob es die Maelstrom-Gewalt seines Werkes erklärte, wenn er nichts anderes sagte, als daß dem Menschen das Heil verloren, der Weg zum Absoluten verstellt, daß sein Leben dunkel, verworren oder, wie man das heute so nennt, ins Nichts gehalten sei, und daß ihm nichts bleibe, als bescheiden und ohne viel Hoffnung die nächsten Pflichten zu besorgen und einer Gemeinschaft sich einzufügen, die genau dies erwartet und die Kafka nicht hätte vor den Kopf zu stoßen brauchen, wenn er darin mit ihr eines Sinnes gewesen wäre. Werden Deutungen dieses Typus damit erläutert, daß Kafka mit so dürren Worten es freilich nicht ausgesprochen, sondern als Künstler der Realsymbolik sich befleißigt habe, so meldet das zwar das Ungenügen an den Formeln an, aber nicht viel mehr. Denn eine Darstellung ist entweder realistisch oder symbolisch; gleichgültig wie dicht gefügt die Symbole auch sein mögen, ihr Eigengewicht an
Realität tut dem Symbolcharakter keinen Abtrag. Goethes ›Pandora‹ steht gewiß an sinnlicher Gestaltung nicht hinter einem Roman von Kafka zurück, und trotzdem kann an der Symbolik des Fragments kein Zweifel sein, mag auch die Kraft der Symbole darin, etwa der Elpore, welche Hoffnung verkörpert, weiter reichen als das unmittelbar Vermeinte. Wenn der Symbolbegriff in der Ästhetik, mit dem es überhaupt nicht recht geheuer ist, irgend etwas Triftiges besagen soll, so einzig, daß die einzelnen Momente des Kunstwerks aus der Kraft ihres Zusammenhangs über sich hinausweisen: daß ihre Totalität bruchlos übergehe in einen Sinn. Nichts aber paßt schlechter auf Kafka. Selbst in Gebilden wie jenem Goetheschen, das mit allegorischen Momenten so tiefsinnig spielt, geben doch diese, vermöge des Zusammenhangs, in dem sie stehen, ihre Bedeutung ab an den Schwung des Ganzen. Bei Kafka aber ist alles so hart, bestimmt, abgesetzt wie möglich; wie in Abenteuerromanen, nach jener Maxime, die James Fennimore Cooper dem ›Roten Freibeuter‹ voranstellte: »Das wahre Goldene Zeitalter der Literatur kann nicht erscheinen, bis die Werke in ihrem Druck genau sind wie ein Schiffsbuch – in ihrem Inhalt körnig wie ein Wachtrapport.« Nirgends verdämmert bei Kafka die Aura der unendlichen Idee, nirgends öffnet sich der Horizont. Jeder Satz steht buchstäblich, und jeder bedeutet. Beides ist nicht, wie das Symbol es möchte, verschmolzen, sondern klafft auseinander, und aus dem Abgrund dazwischen blendet der grelle Strahl der Faszination. Kafkas Prosa hält es, trotz dem Protest seines Freundes, auch darin mit den Verfemten, daß sie eher der Allegorie nacheifert als dem Symbol. Benjamin hat sie mit Grund als Parabel definiert. Sie drückt sich nicht aus durch den Ausdruck sondern durch dessen Verweigerung, durch ein Abbrechen. Es ist eine Parabolik, zu der der Schlüssel entwendet ward; selbst der, welcher eben dies zum Schlüssel zu machen suchte, würde in die Irre geführt, indem er die abstrakte These von Kafkas Werk, die Dunkelheit des Daseins, mit seinem Gehalt verwechselte. Jeder Satz spricht: deute mich, und keiner will es dulden. Jeder erzwingt mit der Reaktion »So ist es« die Frage: woher kenne ich das; das déjà vu wird in Permanenz erklärt. Durch die Gewalt, mit der Kafka Deutung gebietet, zieht er die ästhetische Distanz ein. Er mutet dem angeblich interesselosen Betrachter von einst verzweifelte Anstrengung zu, springt ihn an und suggeriert ihm, daß weit mehr als sein geistiges Gleichgewicht davon abhänge,
ob er richtig versteht, Leben oder Tod. Unter den Voraussetzungen Kafkas ist nicht die geringfügigste, daß das kontemplative Verhältnis von Text und Leser von Grund auf gestört ist. Seine Texte sind darauf angelegt, daß nicht zwischen ihnen und ihrem Opfer ein konstanter Abstand bleibt, sondern daß sie seine Affekte derart aufrühren, daß er fürchten muß, das Erzählte käme auf ihn los wie Lokomotiven aufs Publikum in der jüngsten, dreidimensionalen Filmtechnik. Solche aggressive physische Nähe unterbindet die Gewohnheit des Lesers, mit Figuren der Romane sich zu identifizieren. Um jenes Prinzips willen kann der Surrealismus mit Recht ihn für sich in Anspruch nehmen. Er ist die Schrift gewordene Turandot. Wer es merkt und nicht vorzieht fortzulaufen, muß seinen Kopf hinhalten oder vielmehr versuchen, mit dem Kopf die Wand einzurennen, auf die Gefahr hin, daß es ihm nicht besser ergeht als den Vorgängern. Anstatt abzuschrecken, steigert ihr Los, wie im Märchen, den Anreiz. Solange das Wort nicht gefunden ist, bleibt der Leser schuldig.
2 Mehr als leicht für einen anderen gilt für Kafka, daß zwar nicht verum, wohl aber falsum index sui sei. Zur Verbreitung des Falschen jedoch hat er selbst einiges beigetragen. Den beiden großen Romanen ›Schloß‹ und ›Prozeß‹ scheinen, wenn schon nicht im Detail, so jedenfalls im großen Philosopheme auf die Stirn geschrieben, die trotz ihres gedanklichen Gewichts den Titel ›Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg‹ keineswegs Lügen strafen, den man einem theoretischen Konvolut Kafkas verliehen hat. Immerhin ist dessen Inhalt nicht kanonisch für die Dichtung. Der Künstler ist nicht gehalten, das eigene Werk zu verstehen, und man hat besonderen Grund zum Zweifel, ob Kafka es vermochte. Jedenfalls reichen seine Aphorismen kaum an die enigmatischsten Stücke und Episoden heran, wie die ›Sorge des Hausvaters‹ oder den ›Kübelreiter‹. Kafkas Gebilde hüteten sich vor dem mörderischen Künstlerirrtum, die Philosophie, die der Autor ins Gebilde pumpt, sei dessen metaphysischer Gehalt. Wäre sie es, das Werk wäre totgeboren: es erschöpfte sich in dem, was es sagt, und entfaltete sich nicht in der Zeit. Vorm Kurzschluß auf die allzu frühe, vom Werk schon gemeinte Bedeutung vermöchte als erste Regel zu schützen: alles wörtlich nehmen, nichts durch Begriffe von oben her zudecken. Die Autorität Kafkas ist die von Texten. Nur die Treue zum Buchstaben, nicht das orientierte Verständnis wird einmal helfen. In einer Dichtung, die unablässig sich verdunkelt und zurücknimmt, wiegt jede bestimmte Aussage die Generalklausel der Unbestimmtheit auf. Kafka hat diese Regel zu sabotieren gesucht, indem er an einer Stelle verkünden läßt, die Mitteilungen aus dem Schloß wären nicht »wortwörtlich« zu nehmen. Gleichviel, will man nicht jeden Boden unter den Füßen verlieren, so muß man festhalten, daß am Anfang des Prozesses steht, jemand müsse Josef K. verleumdet haben, »denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet«. Man darf auch nicht in den Wind schlagen, daß K. am Anfang des Schlosses fragt: »In welches Schloß habe ich mich verirrt? Ist denn hier ein Schloß?«, also unmöglich berufen sein kann. Auch ist ihm nichts von jenem Grafen West-west bekannt, dessen Name nur einmal genannt, dessen
allmählich weniger und dann gar nicht mehr gedacht wird, so wie, nach einer Parabel Kafkas, Prometheus eins wird mit dem Felsen, an den er geschmiedet ist, und dann vergessen. Das Prinzip der Wörtlichkeit, wohl Erinnerung an die Thora-Exegese der jüdischen Tradition, findet aber seine Stütze an manchen Kafkaschen Texten. Zuweilen lösen die Worte, insbesondere Metaphern, sich los und gewinnen eigene Existenz. »Wie ein Hund« stirbt Josef K., und Kafka teilt die Forschungen eines Hundes mit. Gelegentlich wird die Wörtlichkeit bis zum Assoziationswitz getrieben. So in der Geschichte der Familie des Barnabas im Schloß, wo von dem Beamten Sortini gesagt ist, er sei während des Festes des Feuerwehrvereins »bei der Spritze« geblieben. Die hemdsärmelige Redensart für die Pflichttreue wird ernst genommen, die Respektsperson bleibt bei der Feuerspritze, und zugleich wird wie in Fehlleistungen auf die grobe Begierde angespielt, die den Beamten den verhängnisvollen Brief an Amalia schreiben läßt – Kafka, Verächter der Psychologie, ist überreich an psychologischen Einsichten, gleich der von der Beziehung zwischen triebhaftem und Zwangscharakter. – Das Prinzip der Wörtlichkeit, ohne dessen Maß das Vieldeutige ins Gleichgültige zerfließen müßte, verbietet den geläufigsten Versuch, in der Auffassung Kafkas den Anspruch auf Tiefe mit Unverbindlichkeit zu vereinen. Mit Recht hat Cocteau darauf aufmerksam gemacht, daß die Einführung von Befremdendem als Traum stets den Stachel entfernt. Kafka selber hat zur Verhinderung solchen Mißbrauchs den Prozeß an einer entscheidenden Stelle durch einen Traum unterbrochen – das wahrhaft ungeheure Stück publizierte er im ›Landarzt‹ – und durch den Kontrast dieses Traums alles andere als Wirklichkeit bekräftigt, wäre es auch jene aus den Träumen geschöpfte, an welche zuweilen in Schloß und ›Amerika‹ so qualvoll ausgesponnene Partien gemahnen, daß der Leser fürchten muß, nicht wieder auftauchen zu können. Unter den Schockmomenten ist nicht das schwächste, daß er die Träume à la lettre nimmt. Weil alles ausgeschieden ist, was nicht dem Traum und seiner prälogischen Logik gliche, ist der Traum selber ausgeschieden. Nicht das Ungeheuerliche schockiert, sondern dessen Selbstverständlichkeit. Kaum hat der Landvermesser aus seinem Zimmer im Wirtshaus die lästigen Gehilfen vertrieben, so kommen sie durchs Fenster wieder herein, ohne daß der Roman, über die bloße Mitteilung hinaus, sich auch nur mit einem Wort
darüber aufhielte; der Held ist zu müde, um sie nochmals zu vertreiben. So aber wie Kafka zu dem Traum sich verhält, soll der Leser zu Kafka sich verhalten. Nämlich auf den inkommensurablen, undurchsichtigen Details, den blinden Stellen beharren. Daß Lenis Finger durch eine Schwimmhaut verbunden sind oder daß die Exekutoren wie Tenöre aussehen, ist wichtiger als die Exkurse übers Gesetz. Das betrifft zugleich Darstellungsweise und Sprache. Oft setzen Gesten Kontrapunkte zu den Worten: das Vorsprachliche, den Intentionen Entzogene fährt der Vieldeutigkeit in die Parade, die wie eine Krankheit alles Bedeuten bei Kafka angefressen hat. »›Den Brief‹, begann K., ›habe ich gelesen. Kennst du den Inhalt?‹ ›Nein‹, sagte Barnabas, sein Blick schien mehr zu sagen als seine Worte. Vielleicht täuschte sich K. hier im Guten, wie bei den Bauern im Bösen, aber das Wohltuende seiner Gegenwart blieb.« Oder: »›Nun‹, sagte sie versöhnlich, ›es war Grund zum Lachen. Sie fragten, ob ich Klamm kenne, und ich bin doch‹ – hier richtete sie sich unwillkürlich ein wenig auf, und wieder ging ihr sieghafter, mit dem, was gesprochen wurde, gar nicht zusammenhängender Blick über K. hin – ›ich bin doch seine Geliebte.‹« Oder, in der Szene der Trennung Friedas vom Landvermesser: »Frieda hatte ihren Kopf an K.s Schulter gelegt, die Arme umeinander geschlungen, gingen sie schweigend auf und ab. ›Wären wir doch‹, sagte dann Frieda langsam, ruhig, fast behaglich, so als wisse sie, daß ihr nur eine ganz kleine Frist der Ruhe an K.s Schulter gewährt sei, diese aber wolle sie bis zum letzten genießen, ›wären wir doch gleich noch in jener Nacht ausgewandert, wir könnten irgendwo in Sicherheit sein, immer beisammen, deine Hand immer nahe genug, sie zu fassen; wie brauche ich deine Nähe, wie bin ich, seitdem ich dich kenne, ohne deine Nähe verlassen, deine Nähe ist, glaube mir, der einzige Traum, den ich träume, keinen andern.‹« Solche Gesten sind die Spuren der Erfahrungen, die vom Bedeuten zugedeckt werden. Der jüngste Stand einer Sprache, die denen im Munde quillt, die sie sprechen; die zweite babylonische Verwirrung, der ohnehin Kafkas ernüchterte Diktion ohne zu ermüden widersteht, nötigt ihn dazu, das geschichtliche Verhältnis von Begriff und Gestus spiegelbildlich umzukehren. Der Gestus ist das »So ist es«; die Sprache, deren Konfiguration die Wahrheit sein soll, als zerbrochene die Unwahrheit. »›Auch sollten Sie überhaupt im Reden zurückhaltender sein, fast alles, was Sie vorhin gesagt haben, hätte
man auch, wenn Sie nur ein paar Worte gesagt hätten, Ihrem Verhalten entnehmen können, außerdem war es nichts für Sie übermäßig Günstiges.‹« Den in den Gesten sedimentierten Erfahrungen wird einmal die Deutung folgen, in ihrer Mimesis ein vom gesunden Menschenverstand verdrängtes Allgemeines wiedererkennen müssen. »Durch das offene Fenster erblickte man wieder die alte Frau, die mit wahrhaft greisenhafter Neugierde zu dem gegenüberliegenden Fenster getreten war, um auch weiterhin alles zu sehen«, heißt es in der Verhaftungsszene am Anfang des Prozesses. Wer hätte nicht schon, in einer Pension, auf die gleiche, genau die gleiche Weise von Nachbarn sich beobachtet gefühlt, und wem wäre nicht daran samt allem Abstoßenden, Altgewohnten, Unverständlichen und Unvermeidlichen das Bild des Schicksals aufgeblitzt. Der aber solche Rebusse aufzulösen vermöchte, wüßte mehr von Kafka, als wer in ihm die Ontologie illustriert findet.
3 Nahe liegt der Einwand, dem dürfe die Deutung so wenig sich anvertrauen wie irgendeinem anderen Element von Kafkas verstörtem Kosmos. Jene Erfahrungen seien nichts als zufälligprivate, psychologische Projektionen. Wer glaubt, die Nachbarn beobachteten ihn aus Fenstern, oder aus dem Telephon töne dessen eigene singende Stimme – und Kafkas Schriften wimmeln von solchen Aussagen –, der leide an Beziehungs- und Verfolgungswahn, und wer daraus eine Art System mache, sei von der Paranoia angesteckt; ihm taugten Kafkas Werke einzig dazu, die eigene Beschädigung zu rationalisieren. Der Einwand ist zu widerlegen bloß durch Reflexion aufs Verhältnis von Kafkas Werk selber zu jener Zone. Sein Wort »Zum letztenmal Psychologie«, seine Bemerkung, alles von ihm ließe psychoanalytisch sich interpretieren, nur bedürfte diese Interpretation dann weiterer ad indefinitum – solche Verdikte sollten so wenig wie der geweihte Hochmut, die jüngste ideologische Abwehr des Materialismus, zur These verführen, Kafka habe nichts mit Freud zu tun. Schlecht wäre es um die Tiefe bestellt, die man ihm nachrühmt, wenn in ihr verleugnet würde, was drunten west. Die Ansicht von der Hierarchie bei Kafka und Freud ist kaum zu unterscheiden. Eine Stelle aus ›Totem und Tabu‹ lautet: »Das Tabu eines Königs ist zu stark für seinen Untertan, weil die soziale Differenz zwischen ihnen zu groß ist. Aber ein Minister kann etwa den unschädlichen Vermittler zwischen ihnen machen. Das heißt aus der Sprache des Tabu in die der Normalpsychologie übersetzt: Der Untertan, der die großartige Versuchung scheut, welche ihm die Berührung mit dem König bereitet, kann etwa den Umgang des Beamten vertragen, den er nicht so sehr zu beneiden braucht, und dessen Stellung ihm vielleicht selbst erreichbar scheint. Der Minister aber kann seinen Neid gegen den König durch die Erwägung der Macht ermäßigen, die ihm selbst eingeräumt ist. So sind geringere Differenzen der in Versuchung führenden Zauberkraft weniger zu fürchten als besonders große.« [ 252 ] Im Prozeß sagt ein Hochgestellter: »Schon den Anblick des dritten Türhüters kann nicht einmal ich mehr ertragen«, und Analoges kommt im Schloß vor. Licht fällt von hier
zugleich auf einen entscheidenden Komplex bei Proust, den Snobismus als den Willen, durch Aufnahme unter die Eingeweihten die Angst vorm Tabu zu beschwichtigen: »denn nicht Klamms Nähe an sich war ihm das Erstrebenswerte, sondern daß er, K., nur er, kein anderer mit seinen, mit keines anderen Wünschen an Klamm herankam, nicht um bei ihm zu ruhen, sondern um an ihm vorbeizukommen, weiter, ins Schloß«. Der ebenfalls für die Sphäre des Tabus zuständige, von Freud zitierte Ausdruck délire de toucher trifft genau den sexuellen Zauber, der bei Kafka Menschen, zumal niedrige mit höheren zusammentreibt. Selbst auf die von Freud geargwöhnte »Versuchung« – die des Mords an der Vaterfigur – wird bei Kafka angespielt. Am Ende des Kapitels aus dem Schloß, wo die Wirtin dem Landvermesser auseinandersetzt, es sei unbedingt unmöglich für ihn, Herrn Klamm selbst zu sprechen, behält er das letzte Wort: »›Was fürchten Sie also? Sie fürchten doch nicht etwa für Klamm?‹ Die Wirtin sah ihm schweigend nach, wie er die Treppe hinabeilte und die Gehilfen ihm folgten.« Man wird dem Verhältnis zwischen dem Erforscher des Unbewußten und dem Paraboliker der Undurchdringlichkeit am nächsten kommen, wenn man sich daran erinnert, daß Freud eine archetypische Szene wie die Ermordung des Urhordenvaters, eine vorzeitliche Erzählung wie die von Moses, oder die Beobachtung des Beischlafs der Eltern in der frühen Kindheit nicht als Verdichtungen der Phantasie, sondern weithin als reale Begebenheiten auffaßte. In solchen Exzentrizitäten folgt Kafka Freud, mit eulenspiegelhafter Treue, bis zum Absurden. Er entreißt die Psychoanalyse der Psychologie. Diese selbst bereits ist, indem sie das Individuum aus amorphen und diffusen Trieben, das Ich aus dem Es herleitet, in gewissem Sinn dem spezifisch Psychologischen entgegen. Die Person wird aus einem Substantiellen zum bloßen Organisationsprinzip somatischer Impulse. Bei Freud wie bei Kafka ist die Geltung des Beseelten ausgeschaltet; ja Kafka hat eigentlich von Anbeginn kaum Notiz davon genommen. Er unterscheidet von dem viel Älteren, naturwissenschaftlich Gesinnten sich nicht durch zartere Spiritualität, sondern indem er ihn in der Skepsis gegen das Ich womöglich noch überbietet. Dazu taugt die Kafkasche Buchstäblichkeit. Wie in einer Versuchsanordnung studiert er, was geschähe, wenn die Befunde der Psychoanalyse allesamt nicht metaphorisch und mental, sondern leibhaft zuträfen. Er pflichtet ihr
bei, soweit sie Kultur und bürgerliche Individuation ihres Scheins überführt; er sprengt sie, indem er sie genauer beim Wort faßt als sie sich selber. Freud zufolge widmet die Psychoanalyse ihre Aufmerksamkeit dem »Abhub der Erscheinungswelt«. Er denkt dabei an Psychisches, an Fehlleistungen, Träume und neurotische Symptome. Kafka versündigt sich gegen eine althergebrachte Spielregel, indem er Kunst aus nichts anderem fertigt als aus dem Kehricht der Realität. Das Bild der heraufziehenden Gesellschaft entwirft er nicht unmittelbar – denn Askese herrscht bei ihm wie in aller großen Kunst gegenüber der Zukunft –, sondern montiert es aus Abfallsprodukten, welche das Neue, das sich bildet, aus der vergehenden Gegenwart ausscheidet. Anstatt die Neurose zu heilen, sucht er in ihr selbst die heilende Kraft, die der Erkenntnis: die Wunden, welche die Gesellschaft dem Einzelnen einbrennt, werden von diesem als Chiffren der gesellschaftlichen Unwahrheit, als Negativ der Wahrheit gelesen. Seine Gewalt ist eine des Abbaus. Er reißt die beschwichtigende Fassade vorm Unmaß des Leidens nieder, der die rationale Kontrolle mehr stets sich einfügt. Im Abbau – nie war das Wort populärer als in Kafkas Todesjahr – hält er nicht, wie die Psychologie, beim Subjekt inne, sondern dringt auf das Stoffliche, bloß Daseiende durch, das im ungeminderten Sturz des nachgebenden, aller Selbstbehauptung sich entäußernden Bewußtseins auf dem subjektiven Grunde sich darbietet. Die Flucht durch den Menschen hindurch ins Nichtmenschliche – das ist Kafkas epische Bahn. Dies Fallen des Ingeniums, die krampfhafte Widerstandslosigkeit, die mit Kafkas Moral so ganz übereinkommt, wird paradox belohnt durch die zwingende Autorität ihres Ausdrucks. Der zum Zerreißen angespannten Entspannung fällt, was Metapher, Bedeutung, Geist war, unmittelbar, intentionslos zu, als »spiritueller Leib«. Es ist, als würde die philosophische Lehre von der kategorialen Anschauung, die zur gleichen Zeit sich ausbreitete, als Kafka schrieb, in der Hölle honoriert. Die fensterlose Monade bewährt sich als Laterna magica, Mutter aller Bilder wie bei Proust und Joyce. Worüber Individuation sich erhebt, was sie verdeckt und was sie selber aus sich hervortrieb, ist allen gemein, aber nirgends als in der Verlassenheit und der Versenkung, die nicht um sich blickt, läßt es sich greifen. Wer nachvollziehen will, wie es zu den abnormen Erfahrungen kommt, die bei Kafka die Norm umschreiben, muß einmal in einer großen Stadt einen Unfall erlitten
haben: ungezählte Zeugen melden sich und erklären sich als Bekannte, als hätte das ganze Gemeinwesen sich versammelt, um dem Augenblick beizuwohnen, da der mächtige Autobus in die schwache Autodroschke hineinfuhr. Das permanente déjà vu ist das déjà vu aller. Daher der Erfolg Kafkas, der zum Verrat wird erst, wenn das Allgemeine aus seinen Schriften abdestilliert wird und die Anstrengung der tödlichen Verschlossenheit erspart. Vielleicht ist das verborgene Ziel seiner Dichtung überhaupt die Verfügbarkeit, Technifizierung, Kollektivierung des déjà vu. Das Beste, das man vergißt, wird erinnert und in die Flasche gebannt wie die cumäische Sibylle. Nur verwandelt es sich dabei ins Schlimmste: »Sterben will ich«, und das wird ihm versagt. Die verewigte Vergängnis ereilt ein Fluch.
4 Verewigte Gesten bei Kafka sind ein erstarrt Momentanes. Wie der surrealistische ist der Schock Veranstaltung dessen, den alte Photographien dem Betrachter erteilen. Eine solche, undeutlich, fast verblichen, spielt im Schloß ihre Rolle. Die Wirtin, die sie als Überbleibsel ihrer Berührung mit Klamm – und dadurch mit der Hierarchie – aufbewahrt, zeigt sie K., der nur mühsam etwas darauf erkennen kann. Vorgestrig grelle Tableaux, der Zirkussphäre entstammend, zu der Kafka mit der Avantgarde seiner Generation Affinität fühlte, sind vielfach in sein Werk eingelassen; vielleicht hätte alles Tableau werden sollen, und einzig ein Überschuß an Intention hat es durch lange Dialoge verhindert. Was auf der Spitze des Augenblicks balanciert wie ein Pferd auf den Hinterbeinen, wird geknipst, als solle die Pose für immer währen. Das grausigste Exempel enthält wohl der Prozeß: Josef K. öffnet die Rumpelkammer, in der am Tag zuvor seine Wächter geprügelt wurden, um die Szene getreu, auch mit der Anrufung seiner selbst, wiederholt zu finden. »Sofort warf K. die Tür zu und schlug noch mit den Fäusten gegen sie, als sei sie dann fester verschlossen.« Das ist die Gebärde von Kafkas eigenem Werk, das, wie manchmal schon das Poes, von den äußersten Gesichten sich abwendet, als könnte kein Auge den Anblick überleben. In diesem durchdringen sich das Immergleiche und das Ephemere. Stets wieder malt Titorelli jenes abgestandene Genrebild, die Heidelandschaft. Gleichheit oder intrigierende Ähnlichkeit einer Mehrzahl rechnet zu den hartnäckigsten Motiven Kafkas; alle möglichen Halbgeschöpfe treten paarweise auf, oftmals mit der Signatur des Kindischen und Albernen, oszillierend zwischen Gutmütigkeit und Grausamkeit wie Wilde aus Kinderbüchern. So schwer ist den Menschen die Individuation geworden, und so schwankend blieb sie bis zum heutigen Tag, daß sie tödlich erschrecken, wenn ihr Schleier um ein weniges sich hebt. Proust wußte von dem leisen Unbehagen, das den überrieselt, der auf seine Ähnlichkeit mit einem ihm fremden Verwandten aufmerksam gemacht wird. Bei Kafka ist es zur Panik gesteigert. Das Reich des déjà vu wird von Doppelgängern bevölkert, Wiederkehrern, Pojatzen, chassidischen Tänzern,
Knaben, die den Lehrer nachmachen und plötzlich uralt aussehen, archaisch; einmal zweifelt der Landvermesser, ob seine Gehilfen ganz am Leben sind. Zugleich aber Abdrücke des Heraufziehenden, Menschen, die im Fließbandverfahren hergestellt sind, mechanisch reproduzierte Exemplare, Huxleysche Epsilons. Der gesellschaftliche Ursprung des Individuums enthüllt sich am Ende als die Macht von dessen Vernichtung. Kafkas Werk ist ein Versuch, diese zu absorbieren. Nichts Irres – wie bei dem Erzähler, dem er Entscheidendes absah, Robert Walser – ist in seiner Prosa, jeden Satz hat der seiner selbst mächtige Geist geprägt, aber jeden Satz hat er auch zuvor der Zone des Wahnsinns entrissen, in die wohl im Zeitalter der universalen Verblendung, welche der gesunde Menschenverstand bloß befestigt, jegliche Erkenntnis sich getrauen muß, um eine zu werden. Das hermetische Prinzip hat unter anderem die Funktion einer Schutzmaßnahme: den andrängenden Wahn draußen zu halten. Das heißt aber: die eigene Kollektivierung. Das Werk, das die Individuation zerrüttet, will um keinen Preis nachgeahmt werden: darum wohl ordnete er an, es zu vernichten. Wohin es sich begab, dort soll kein Fremdenverkehr aufblühen; wer aber so sich gebärdete, ohne dort gewesen zu sein, verfiele der puren Unverschämtheit. Er möchte den Reiz und die Gewalt der Verfremdung ohne Risiko einheimsen. Ohnmächtige Manier wäre die Folge. Karl Kraus, zu gewissem Maß auch Schönberg, haben darin ähnlich reagiert wie Kafka. Solche Unnachahmbarkeit affiziert aber auch die Lage des Kritikers. Seine Position Kafka gegenüber ist nicht mehr zu beneiden als die des Nachfolgers: sie wäre vorweg Apologie der Welt. Nicht daß es an Kafkas Werk nichts zu kritisieren gäbe. Unter den Mängeln, die in den großen Romanen obenauf liegen, ist der empfindlichste die Monotonie. Die Darstellung des Vieldeutigen, Ungewissen, Versperrten wird endlos wiederholt, oft auf Kosten der überall angestrebten Anschaulichkeit. Die schlechte Unendlichkeit des Dargestellten teilt sich dem Kunstwerk mit. Wohl mag in diesem Mangel einer des Gehalts zutage kommen, ein Übergewicht der abstrakten Idee, die selber der Mythos ist, den Kafka befehdet. Die Gestaltung will das Unsichere nochmals unsicher machen, aber provoziert die Frage: wozu die Anstrengung? Wenn ohnehin alles fraglich ist, warum dann nicht ans gegebene Minimum sich halten. Kafka würde darauf erwidern, gerade zur hoffnungslosen Anstrengung forderte er auf, ähnlich wie
Kierkegaard durch Weitschweifigkeit den Leser verärgern und damit aus der ästhetischen Kontemplation aufscheuchen wollte. Erwägungen über Recht und Unrecht solcher literarischen Taktik sind aber darum so fruchtlos, weil Kritik sich immer nur auf das an einem Werk beziehen kann, worin es Muster sein will; wo es spricht: so wie ich bin, so soll es sein. Genau dieser Anspruch wird von dem ungetrösteten So ist es Kafkas emphatisch fortgewiesen. Trotzdem hat die Gewalt der Bilder, die er beschwört, ihre Isolierschicht zuweilen zerrissen. Einige stellen die Selbstbesinnung des Lesers, vom Autor zu schweigen, auf eine harte Probe: Strafkolonie und Verwandlung, Berichte, wie sie erst durch die von Bettelheim, Kogon und Rousset eingeholt wurden, etwa wie Aufnahmen der von Bomben zerstörten Städte aus der Vogelperspektive den Kubismus durch die Verwirklichung dessen, worin er die Wirklichkeit aufgekündigt hatte, gleichsam versöhnten. Kennt Kafkas Werk Hoffnung, dann eher in jenen Extremen als in den milderen Phasen: im Vermögen, noch dem Äußersten standzuhalten, indem es Sprache wird. Sind es auch diese Werke, welche den Schlüssel zur Deutung bieten? Fast wäre es zu vermuten. In der ›Verwandlung‹ läßt sich die Bahn der Erfahrung an der Wörtlichkeit rekonstruieren, als Verlängerung der Linien. »Diese Reisenden sind wie Wanzen«, heißt die Redensart, die Kafka aufgegriffen haben muß, aufgespießt wie ein Insekt. Wanzen, nicht wie die Wanzen. Was wird aus einem Menschen, der eine Wanze ist, so groß wie ein Mensch? So groß aber müßten einem Kind die Erwachsenen aussehen und so verschoben, mit riesigen, zertretenden Beinen und fernen, winzigen Köpfen, wenn der kindliche Blick des Schreckens ganz isoliert, festgebannt würde; mit schräger Kamera läßt sich das photographieren. Ein ganzes Leben reicht bei Kafka nicht aus, um ins nächste Dorf zu kommen; und das Schiff des Heizers, das Wirtshaus des Landvermessers sind von so unmäßigen Dimensionen, wie nur in verschollener Frühe dem Menschen das von Menschen Gemachte dünkt. Der so blicken will, muß sich ins Kind verwandeln und vieles vergessen. Er erkennt den Vater wieder als den Oger, den er immer schon in winzigen Anzeichen gefürchtet hat, der Ekel vor Käserinden erweist sich als die schmähliche vormenschliche Begierde nach ihnen. Sichtbar umdunstet die Zimmerherrn, als ihre Emanation, der Horror, der vordem unmerklich fast in dem Wort mitschwang. Die
schriftstellerische Technik, die durch Assoziation an Worte sich heftet, wie die Proustische der unwillkürlichen Erinnerung an Sinnliches, bewirkt deren Gegenteil: anstelle des Eingedenkens ans Menschliche die Probe aufs Exempel der Entmenschlichung. Ihr Druck nötigt die Subjekte zu einer gleichsam biologischen Rückbildung, wie sie den Kafkaschen Tierparabeln den Boden bereitet. Der Augenblick des Einstands aber, auf den alles bei ihm abzielt, ist der, da die Menschen dessen innewerden, daß sie kein Selbst – daß sie selbst Dinge sind. Die langen und ermüdenden bilderlosen Partien verfolgen, seit dem Gespräch mit dem Vater im ›Urteil‹, den Zweck, den Menschen zu demonstrieren, was kein Bild vermöchte, ihre Unidentität, das Komplement ihrer kopienhaften Ähnlichkeit untereinander. Die minderen Beweggründe, die dem Landvermesser von der Wirtin und dann auch von Frieda schlüssig nachgewiesen werden, sind ihm fremd – den späteren psychoanalytischen Begriff des Ichfremden hat Kafka großartig antezipiert. Aber der Landvermesser gibt jene Motive zu. Sein individueller und sein Sozialcharakter klaffen auseinander wie bei Chaplins Monsieur Verdoux; Kafkas hermetische Protokolle enthalten die soziale Genese der Schizophrenie.
5 Trist und ramponiert ist die gesamte Bilderwelt Kafkas, auch dort, wo sie hoch hinaus will, im ›Naturtheater von Oklahoma‹ – als hätte er die Wanderungen von Arbeitern aus diesem Staat vorausgesehen – oder in der Sorge des Hausvaters; der Schatz der Blitzlichtaufnahmen kreidig und mongoloid wie eine kleinbürgerliche Hochzeit Henri Rousseaus; der Geruch der von ungelüfteten Betten, die Farbe das Rot von Matratzen, deren Überzüge abhanden kamen; die Angst, die Kafka hervorruft, die vorm Erbrechen. Und doch ist das meiste in seinem Werk Reaktion auf grenzenlose Macht. Benjamin hat diese Macht, die wütender Patriarchen, parasitär genannt: sie zehrt von dem Leben, auf dem sie lastet. Aber das parasitäre Moment ist eigentümlich verschoben. Gregor Samsa, nicht sein Vater wird zur Wanze. Nicht die Mächte, sondern die ohnmächtigen Helden erscheinen überflüssig, keiner leistet gesellschaftlich nützliche Arbeit; selbst daß der angeklagte Bankprokurist Josef K., vom Prozeß präokkupiert, nichts Rechtes zustande bringt, wird verbucht. Sie kriechen eigentlich zwischen Requisiten umher, die längst amortisiert sind und ihnen ihr Dasein nur als Almosen gewähren, indem sie über die eigene Lebensdauer hinaus fortexistieren. Die Verschiebung ist der ideologischen Gewohnheit nachgebildet, welche die Reproduktion des Lebens zum Gnadenakt der Verfügenden, der »Arbeitgeber« verklärt. Sie beschreibt ein Ganzes, in dem die überzählig werden, die es umklammert und durch die es sich erhält. Aber darin erschöpft das Schäbige bei Kafka sich nicht. Es ist das Kryptogramm der auf Hochglanz polierten kapitalistischen Spätphase, die er ausspart, um sie desto genauer in ihrem Negativ zu bestimmen. Kafka nimmt die Schmutzspuren unter die Lupe, welche von den Fingern der Macht in der Prachtausgabe des Lebensbuchs zurückbleiben. Denn keine Welt könnte einheitlicher sein als die beklemmende, die er durchs Mittel der Kleinbürgerangst zur Totalität zusammenpreßt; geschlossen logisch durch und durch und des Sinnes bar wie jegliches System. Alles, was er erzählt, gehört der gleichen Ordnung an. Alle seine Geschichten spielen in demselben raumlosen Raum, und so gründlich sind dessen Fugen verstopft, daß man
zusammenzuckt, wenn einmal etwas erwähnt wird, was nicht in ihm seinen Ort hat, wie Spanien und Südfrankreich an einer Stelle des Schlosses, während ganz Amerika, als imago des Zwischendecks, jenem Raum einverleibt ist. So hängen Mythologien untereinander zusammen wie Kafkas labyrinthische Schilderungen. Das Mindere, Abstruse, Angestochene ist aber ihrem Kontinuum so wesentlich wie Korruption und verbrecherische Asozialität der totalitären Herrschaft und wie die Liebe zum Kot dem Kultus der Hygiene. Systeme des Gedankens und der Politik wollen nichts, was ihnen nicht gleicht. Je mehr sie sich jedoch verstärken, je mehr sie was ist gleichnamig machen, desto mehr unterdrücken sie es zugleich, desto weiter entfernen sie sich davon. Deshalb gerade wird ihnen die geringste »Abweichung« als Bedrohung des gesamten Prinzips so untragbar, wie den Mächten bei Kafka Fremde und Einzelgänger es sind. Integration ist Desintegration, und in ihr findet der mythische Bann mit der herrschaftlichen Rationalität sich zusammen. Das sogenannte Problem der Zufälligkeit, an dem die philosophischen Systeme sich abquälen, wird von ihnen selbst gezeitigt: nur um ihrer eigenen Unerbittlichkeit willen wird ihnen zum Todfeind, was durch ihre Maschen schlüpft, so wie die mythische Königin keine Ruhe hat, solange weit über den Bergen eine lebt, die schöner ist als sie, das Kind des Märchens. Kein System ohne Bodensatz. Aus ihm weissagt Kafka. Wenn alles, was in seiner Zwangswelt sich ereignet, mit dem Ausdruck des schlechthin Notwendigen den des schlechthin Zufälligen kombiniert, der dem Schäbigen eignet, so entziffert er das verruchte Gesetz in seiner Spiegelschrift. Die vollendete Unwahrheit ist der Widerspruch ihrer selbst, darum braucht ihr nicht ausdrücklich widersprochen zu werden. Kafka durchschaut den Monopolismus an den Abfallsprodukten der liberalen Ära, die von jenem liquidiert wird. Dieser geschichtliche Augenblick, nicht ein angeblich durch Geschichte hindurch scheinendes Überzeitliches ist die Kristallisation seiner Metaphysik, und Ewigkeit bei ihm keine andere als die des endlos wiederholten Opfers, aufgehend am Bilde des jüngsten. »Nur unser Zeitbegriff läßt uns das Jüngste Gericht so nennen, eigentlich ist es ein Standrecht.« Das jüngste Opfer ist immer das gestrige. Darum gerade wird fast jeder offene Hinweis auf Historisches – der aus der Kohlennot herausgesponnene Kübelreiter ist eine seltene Ausnahme – bei Kafka vermieden. Hermetisch verhält sich sein Werk auch zur
Geschichte: über ihrem Begriff liegt ein Tabu. Der Ewigkeit des geschichtlichen Augenblicks korrespondiert die Ansicht von der Naturverfallenheit und Invarianz des Weltlaufs; der Augenblick, das absolut Vergängliche, ist Gleichnis der Ewigkeit des Vergehens, der Verdammnis. Der Name von Geschichte darf nicht genannt werden, weil das, was Geschichte wäre, das Andere noch nicht begonnen hat. »An Fortschritt glauben, heißt nicht glauben, daß ein Fortschritt schon geschehen ist.« Inmitten scheinbar statischer, oft handwerkerlicher oder bäuerlicher Verhältnisse, solcher der einfachen Warenwirtschaft, wird Geschichtliches von Kafka nur als Gerichtetes vorgeführt, so wie jene Verhältnisse selber gerichtet sind. Seine Szenerie ist immer obsolet; von dem »niedrigen langen Gebäude«, das als Schule fungiert, wird gesagt, es vereinige »merkwürdig den Charakter des Provisorischen und des sehr Alten«. Schwerlich sind die Menschen anders. Das Veraltete ist das Schandmal des Gegenwärtigen; von solchen Malen hat Kafka ein Inventar aufgenommen. Zugleich aber das Bild dessen, woran Kindern, die es mit dem Abfall der historischen Welt zu tun haben, Geschichtliches überhaupt aufgeht, das »Kinderbild der Moderne«, die ihnen vermachte Hoffnung, daß einmal noch Geschichte sein könnte. »Das Gefühl eines, der in Not ist, und es kommt Hilfe, der sich aber nicht freut, weil er gerettet wird – er wird gar nicht gerettet –, sondern weil neue junge Menschen kommen, zuversichtlich, bereit, den Kampf aufzunehmen, zwar unwissend hinsichtlich dessen, was bevorsteht, aber in einer Unwissenheit, die den Zuschauenden nicht hoffnungslos macht, sondern ihn zur Bewunderung, zur Freude, zu Tränen bringt. Auch Haß gegen den, dem der Kampf gilt, mischt sich ein.« Zu diesem Kampf gibt es einen Aufruf: »In unserem Haus, diesem ungeheuren Vorstadthaus, einer von unzerstörbaren mittelalterlichen Ruinen durchwachsenen Mietskaserne, wurde heute am nebeligen eisigen Wintermorgen folgender Aufruf verbreitet: An alle meine Hausgenossen! Ich besitze fünf Kindergewehre. Sie hängen in meinem Kasten, an jedem Haken eines. Das erste gehört mir, zu den andern kann sich melden, wer will. Melden sich mehr als vier, so müssen die überzähligen ihre eigenen Gewehre mitbringen und in meinem Kasten deponieren. Denn Einheitlichkeit muß sein, ohne Einheitlichkeit kommen wir nicht vorwärts. Übrigens habe ich nur
Gewehre, die zu sonstiger Verwendung ganz unbrauchbar sind, der Mechanismus ist verdorben, der Pfropfen abgerissen, nur die Hähne knacken noch. Es wird also nicht schwer sein, nötigenfalls noch weitere solche Gewehre zu beschaffen. Aber im Grunde sind mir für die erste Zeit auch Leute ohne Gewehre recht. Wir, die wir Gewehre haben, werden im entscheidenden Augenblick die Unbewaffneten in die Mitte nehmen. Eine Kampfesweise, die sich bei den ersten amerikanischen Farmern gegenüber den Indianern bewährt hat, warum sollte sie sich nicht auch hier bewähren, da doch die Verhältnisse ähnlich sind. Man kann also sogar für die Dauer auf die Gewehre verzichten, und selbst die fünf Gewehre sind nicht unbedingt nötig, und nur weil sie schon einmal vorhanden sind, sollen sie auch verwendet werden. Wollen sie aber die vier andern nicht tragen, so sollen sie es bleiben lassen. Dann werde also ich allein als Führer eines tragen. Aber wir sollen keinen Führer haben, und so werde auch ich mein Gewehr zerbrechen oder weglegen. Das war der erste Aufruf. In unserem Haus hat man keine Zeit und keine Lust, Aufrufe zu lesen oder gar zu überdenken. Bald schwammen die kleinen Papiere in dem Schmutzstrom, der, vom Dachboden ausgehend, von allen Korridoren genährt, die Treppe hinabspült und dort mit dem Gegenstrom kämpft, der von unten hinaufschwillt. Aber nach einer Woche kam ein zweiter Aufruf: Hausgenossen! Es hat sich bisher niemand bei mir gemeldet. Ich war, soweit ich nicht meinen Lebensunterhalt verdienen muß, fortwährend zu Haus und für die Zeit meiner Abwesenheit, während welcher meine Zimmertür stets offen war, lag auf meinem Tisch ein Blatt, auf dem sich jeder, der wollte, einschreiben konnte. Niemand hats getan.« Das ist die Figur der Revolution in Kafkas Erzählungen.
6 Klaus Mann hat auf der Ähnlichkeit des Kafkaschen Reiches mit dem Dritten bestanden. So fern gewiß die unmittelbare politische Anspielung einem Werk liegt, dessen »Haß gegen den, dem der Kampf gilt«, viel zu unversöhnlich war, als daß es die Fassade durch die leiseste Konzession an einen wie immer gearteten ästhetischen Realismus, durchs Hinnehmen dessen, wofür sie sich gibt, hätte bestätigen dürfen – jedenfalls zitiert der Stoffgehalt jenes Werkes eher den Nationalsozialismus als das verborgene Walten Gottes. Seine Beschlagnahmung für die dialektische Theologie mißglückt, außer wegen des mythischen Charakters der Mächte, von dem Benjamin mit Recht handelt, weil bei Kafka Vieldeutigkeit und Unverständlichkeit keineswegs bloß, wie in ›Furcht und Zittern‹, dem schlechthin Anderen zugeschrieben werden, sondern ebenso den Menschen und ihren Verhältnissen. Gerade der »unendliche qualitative Unterschied«, den Barth mit Kierkegaard lehrt, ist eingeebnet; zwischen Dorf und Schloß sei eigentlich kein Unterschied. Kafkas Methode ward verifiziert, als die veraltet liberalen, der Anarchie der Warenproduktion abgeborgten Züge, die er überhöht, in der politischen Organisationsform der sich überschlagenden Ökonomie wiederkehrten. Nicht bloß Kafkas Prophezeiung von Terror und Folter ward erfüllt. »Staat und Partei«: so tagen sie auf Dachböden, hausen in Wirtshäusern wie Hitler und Goebbels im Kaiserhof, eine als Polizei installierte Verschwörerbande. Ihre Usurpation offenbart das Usurpatorische am Mythos der Macht. Im Schloß tragen die Beamten eine Spezialuniform wie die SS, die man als Paria zur Not auch sich selber zusammenflicken kann; auch die Eliten im Faschismus haben sich selber ernannt. Verhaftung ist Überfall, Gericht Gewalttat. Mit der Partei gab es für deren potentielle Opfer immerzu einen fragwürdigen, korrupten Verkehr wie mit Kafkas verrammelten Behörden; das Wort Schutzhaft hätte er erfinden können, wäre es nicht bereits während des Ersten Krieges im Schwang gewesen. Die blonde Lehrerin Gisa, wohl das einzige schöne Mädchen, grausam und tierlieb, das unverletzt, als spotte seine Härte des Kafkaschen Strudels, von ihm geschildert wird, ist aus der präadamitischen
Rasse der Hitlerjungfrauen, welche die Juden hassen, längst bevor es diese gibt. Ungezügelte Gewalt wird ausgeübt von Gestalten der Subalternität, Typen wie Unteroffizieren, Kapitulanten und Portiers. Das sind allemal Deklassierte, die im Sturz vom organisierten Kollektiv aufgefangen werden und überleben dürfen gleich dem Vater Gregor Samsas. Wie im Zeitalter des defekten Kapitalismus wird die Last der Schuld von der Produktionssphäre abgewälzt auf Agenten der Zirkulation oder solche, die Dienste besorgen, auf Reisende, Bankangestellte, Kellner. Arbeitslose – im Schloß – und Emigranten – in Amerika – werden wie Fossilien der Deklassierung präpariert. Die ökonomischen Tendenzen, deren Relikte sie darstellen, schon ehe jene sich durchgesetzt haben, waren Kafka keineswegs so fremd, wie die hermetische Verfahrensweise vermuten läßt. Eine merkwürdig empirische Stelle aus dem Amerikaroman, dem frühesten, verrät das: »Es war eine Art Kommissions- und Speditionsgeschäft, wie sie, soweit sich Karl erinnern konnte, in Europa vielleicht gar nicht zu finden war. Das Geschäft bestand nämlich in einem Zwischenhandel, der aber die Waren nicht etwa von den Produzenten zu den Konsumenten oder vielleicht zu den Händlern vermittelte, sondern welcher die Vermittlung aller Waren und Urprodukte für die großen Fabrikkartelle und zwischen ihnen besorgte.« Genau dieser monopolistische Verteilungsapparat, »riesigen Umfangs«, hat den Handel und Wandel vernichtet, dessen hippokratisches Antlitz Kafka verewigt. Das geschichtliche Verdikt ergeht von der vermummten Herrschaft. So bildet es sich dem Mythos ein, der blinden, endlos sich reproduzierenden Gewalt. In deren neuester Phase, der bürokratischen Kontrolle, erkennt er die erste wieder; was sie ausscheidet, als urgeschichtlich. Risse und Deformationen der Moderne sind ihm Spuren der Steinzeit, die Kreidefiguren auf der Schultafel von gestern, die keiner wegwischte, die wahre Höhlenzeichnung. Die abenteuerliche Verkürzung, in der solche Rückbildungen erscheinen, trifft aber zugleich die gesellschaftliche Tendenz. Mit seiner Übersetzung in Archetypen verendet der Bürger. Die Preisgabe seiner individuellen Züge, die Aufdeckung des wimmelnden Grauens unter dem Stein der Kultur markiert den Verfall von Individualität selber. Das Grauen jedoch ist, daß der Bürger keinen Nachfolger fand; »niemand hat's getan«. Das meint vielleicht die Erzählung von Gracchus, dem nicht mehr wilden
Jäger, einem Mann der Gewalt, dem das Sterben mißlang. So ist es dem Bürgertum mißlungen. Zur Hölle wird bei Kafka die Geschichte, weil das Rettende versäumt ward. Diese Hölle hat das späte Bürgertum selber eröffnet. In den Konzentrationslagern des Faschismus wurde die Demarkationslinie zwischen Leben und Tod getilgt. Sie schufen einen Zwischenzustand, lebende Skelette und Verwesende, Opfer, denen der Selbstmord mißrät, das Gelächter Satans über die Hoffnung auf Abschaffung des Todes. Wie in Kafkas verkehrten Epen ging da zugrunde, woran Erfahrung ihr Maß hat, das aus sich heraus zu Ende gelebte Leben. Gracchus ist das vollendete Widerspiel der Möglichkeit, die aus der Welt vertrieben ward: alt und lebenssatt zu sterben.
7 Die hermetische Prägung von Kafkas Schriften verführt dazu, nicht nur ihre Idee so abstrakt der Geschichte gegenüberzustellen, wie über weite Strecken hin bei ihm verhandelt wird, sondern auch das Werk selbst mit wohlfeilem Tiefsinn aus der Geschichte zu sekretieren. Aber gerade als hermetisches hat es teil an der literarischen Bewegung des Dezenniums um den Ersten Krieg, deren einer Brennpunkt Prag war und deren Milieu das Kafkas. Nur wer aus den schwarzen Broschüren Kurt Wolffs, dem »Jüngsten Tag«, das ›Urteil‹, die ›Verwandlung‹, das ›Heizer‹-Kapitel kennt, hat Kafka in seinem authentischen Horizont erfahren, dem des Expressionismus. Seine epische Gesinnung hat dessen Sprachgestus zu vermeiden getrachtet, obwohl Sätze wie: »Pepi, stolz, mit zurückgeworfenem Kopf, ewig gleichem Lächeln, ihrer Würde unwiderlegbar sich bewußt, schwenkend den Zopf bei jeder Wendung, eilte hin und her« oder: »Auf die wildumwehte Freitreppe trat K. hinaus und blickte in die Finsternis« großartig beherrscht ihn zeigen. Eigennamen, zumal aus der Kleinen Prosa, der Vornamen beraubt, wie Wese und Schmar, mahnen an die Personenverzeichnisse expressionistischer Stücke. Nicht selten desavouiert Kafkas Sprache den Inhalt so verwegen wie bei jener rauschenden Beschreibung des kleinen Hilfsausschankmädchens: ihr Schwung reißt den Vortrag mit weit ausgreifender Gebärde aus dem trostlos Stagnierenden der Fabel. Mit der Liquidation des Traums durch dessen Allgegenwart verfolgte der Epiker Kafka den expressionistischen Impuls so weit wie nur die radikalen Lyriker. Sein Werk hat den Ton des Ultralinken: wer es aufs allgemein Menschliche nivelliert, verfälscht ihn bereits konformistisch. Anfechtbare Formulierungen wie die von der »Trilogie der Einsamkeit« behalten ihren Wert, weil sie eine Voraussetzung hervorheben, die jedem Satz Kafkas innewohnt. Das hermetische Prinzip ist das der vollendet entfremdeten Subjektivität. Nicht umsonst hat er in den Kontroversen, von denen Brod berichtet, jeglicher sozialen Eingliederung widerstrebt; diese ist nur um solchen Widerstrebens willen im Schloß thematisch geworden. Schüler Kierkegaards ist er einzig im Zeichen »objektloser
Innerlichkeit«. Sie erklärt extreme Züge. Was Kafkas Glaskugel umfängt, ist einstimmiger und darum gräßlicher noch als das System draußen, weil im absolut subjektiven Raum und in absolut subjektiver Zeit nichts Platz hat, was deren eigenes Prinzip stören könnte, das der unabdingbaren Entfremdung. Immer wieder wird das Raum-Zeit-Kontinuum des »empirischen Realismus« durch kleine Sabotageakte lädiert wie die Perspektive in der zeitgenössischen Malerei; etwa wenn der umherwandernde Landvermesser vom viel zu frühen Einbruch der Nacht überrascht wird. Das Differenzlose der autarken Subjektivität verstärkt das Gefühl der Ungewißheit und die Monotonie des Wiederholungszwangs. Der widerstandslos in sich kreisenden Innerlichkeit wird versagt und zum Rätsel, was immer der schlecht unendlichen Bewegung Einhalt geböte. Ein Bann liegt über Kafkas Raum; das in sich verschlossene Subjekt hält den Atem an, als dürfe es nichts anfassen, was nicht ist wie es. Unter diesem Bann schlägt reine Subjektivität in Mythologie, der konsequente Spiritualismus in Naturverfallenheit um. Kafkas absonderliche Neigung zu Nacktkultur und Naturheilverfahren, seine sei's auch gebrochene Toleranz für den wüsten Aberglauben Rudolf Steiners sind nicht Rudimente intellektueller Unsicherheit, sondern gehorchen einem Prinzip, das, indem es unerbittlich das Unterscheidende sich verbietet, die Kraft zur Unterscheidung einbüßt und von derselben Regression bedroht wird, über die Kafka als Darstellungsmittel so souverän verfügt, vom Vieldeutigen, Amorphen, Namenlosen. »Geist setzt gegen Natur sich frei und autonom, weil er sie als dämonisch erkennt: wie in der auswendigen Realität so bei sich selber. Indem aber der autonome Geist als leibhaft erscheint, nimmt Natur vom Geiste Besitz, wo er am geschichtlichsten auftritt: im objektlosen Innen ... Der Naturgehalt bloßen, in sich ›geschichtlichen‹ Geistes mag mythisch heißen.« [ 253 ] Die absolute Subjektivität ist zugleich subjektlos. Das Selbst lebt einzig in der Entäußerung; als sicherer Rest des Subjekts, der vorm Fremden sich verkapselt, wird er zum blinden Rest der Welt. Je mehr das Ich des Expressionismus auf sich selber zurückgeworfen wird, um so mehr ähnelt es der ausgeschlossenen Dingwelt sich an. Vermöge dieser Ähnlichkeit zwingt Kafka den Expressionismus, dessen Schimärisches er wie keiner seiner Freunde muß verspürt haben und dem er doch treu blieb, zu einer vertrackten Epik; die reine
Subjektivität, als notwendig auch sich selber entfremdete und zum Ding gewordene, zu einer Gegenständlichkeit, der die eigene Entfremdung zum Ausdruck gerät. Die Grenze zwischen dem Menschlichen und der Dingwelt verwischt sich. Das macht den Grund der oft bemerkten Verwandtschaft mit Klee aus. Kafka nannte sein Schreiben »Kritzeln«. Das Dinghafte wird zum graphischen Zeichen, die gebannten Menschen handeln nicht von sich aus, sondern als wäre ein jeglicher in ein magnetisches Feld geraten 1 . Genau dies gleichsam äußerliche Bestimmtsein inwendiger Figuren verleiht Kafkas Prosa den abgründigen Schein nüchterner Objektivität. Die Zone des Nichtsterbenkönnens ist zugleich das Niemandsland zwischen Mensch und Ding: in ihm begegnet sich Odradek, den Benjamin als einen Engel Kleeschen Stils betrachtete, mit Gracchus, dem bescheidenen Nachbild Nimrods. Vom Verständnis dieser vorgeschobensten, inkommensurabeln Produktionen und einiger anderer, die ebenfalls der kurrenten Vorstellung von Kafka sich entziehen, dürfte einmal das Ganze abhängen. Durchs gesamte Werk hindurch jedoch geht Depersonalisierung im Bereich des Sexuellen. Wie nach dem Ritus des Dritten Reichs die Mädchen den Hoheitsträgern nicht nein sagen durften, so hat der Kafkasche Bann, das große Tabu, alle jene geringeren Tabus ausgelöscht, die der individuellen Sphäre zugehören. Der Schulfall dafür ist die Bestrafung Amalias und ihrer Familie – Sippenhaft –, weil sie Sortini nicht zu Willen war. In den Mächten triumphiert die Familie als archaisches Kollektiv über ihre spätere, individuierte Gestalt. Widerstandslos, aufeinander gehetzt wie Tiere müssen Männer und Frauen zusammenkommen. Kafka hat das eigene neurotische Schuldgefühl, seine infantile Sexualität wie seine Obsession mit »Reinheit«, zum Instrument geschaffen, das den approbierten Begriff von Erotik wegkratzt. Das Wahl- und Erinnerungslose der Verhältnisse von Angestellten in den Großstädten des zwanzigsten Jahrhunderts wird, wie später in einer berühmten Stelle aus Eliots ›Waste Land‹, zur imago eines seit undenklichen Zeiten vergangenen Zustands. Er ist alles eher als hetärisch. In der Suspension der Regeln der patriarchalischen Gesellschaft wird deren eigenes Geheimnis entblößt, das unmittelbarer barbarischer Unterdrückung. Frauen sind verdinglicht als bloßes Mittel zum Zweck: als Sexualobjekte und als Konnexionen. Aber mitten im Trüben fischt Kafka nach dem Bild
vom Glück. Es ist aus dem Staunen des hermetisch abgeschlossenen Subjekts über das Paradoxon erzeugt, daß es gleichwohl geliebt werden kann. So unbegreiflich wie die Neigung aller Frauen zu den Gefangenen im Prozeß ist jegliche Hoffnung; Kafkas entzauberter Eros ist zugleich überschwengliche männliche Dankbarkeit. Wenn die dürftige Frieda sich Klamms Geliebte nennt, so strahlt die Aura des Wortes heller als in den erhobensten Augenblicken bei Balzac oder Baudelaire; wenn sie, während sie die Anwesenheit des unter dem Tisch Versteckten vor dem forschenden Wirt verleugnet, ihm »ihren kleinen Fuß auf die Brust setzt« und dann sich zu ihm hinabneigt und ihn »flüchtig küßt«, so findet sie die Geste, auf welche die Sehnsucht eines Menschenlebens vergebens warten mag, und die Stunden, welche die beiden »in den kleinen Pfützen Biers und dem sonstigen Unrat, von dem der Boden bedeckt war«, zusammenliegen, sind die der Erfüllung in einer Fremde, »in der selbst die Luft keinen Bestandteil der Heimatluft« hat. Diese Schicht wurde von Brecht der Lyrik aufgeschlossen. Wie bei diesem jedoch ist bei Kafka die Sprache der Ekstase ganz fern der expressionistischen. Er hat die Quadratur des Zirkels, dem Raum der objektlosen Innerlichkeit die Worte zu finden, während doch der Umfang eines jeglichen über das absolute Dies da hinausreicht, das angerufen werden soll – den Widerspruch, an dem alle expressionistische Dichtung scheiterte – ingeniös gemeistert durchs visuelle Element. Als das der Gesten behauptet es den Vorrang. Nur von Sichtbarem läßt sich erzählen, während es zugleich vollkommen zum Bilde verfremdet wird. Wahrhaft zum Bilde. Kafka rettet die Idee des Expressionismus, indem er, anstatt Urlauten vergebens nachzuhorchen, den Habitus expressionistischer Malerei auf die Dichtung überträgt. Zu jener verhält er sich ähnlich wie Utrillo zu den Ansichtspostkarten, nach denen er seine fröstelnden Straßen soll gemalt haben. Dem panischen Blick, der alle affektive Besetzung von den Objekten abgezogen hat, erstarren diese zu einem Dritten, weder Traum, der nur sich fälschen läßt, noch Nachäffung der Realität, sondern deren Rätselbild, zusammengefügt aus ihren zerstreuten Bruchstücken. Manche entscheidenden Partien Kafkas lesen sich, als wären sie expressionistischen Gemälden nachbuchstabiert, die hätten gemalt werden müssen. Am Ende des Prozesses fallen Josef K.s Blicke »auf das letzte Stockwerk des an den Steinbruch angrenzenden Hauses. Wie ein Licht aufzuckt, so
fuhren die Fensterflügel eines Fensters dort auseinander, ein Mensch, schwach und dünn in der Ferne und Höhe, beugte sich mit einem Ruck weit vor und streckte die Arme noch weiter aus. Wer war es? Ein Freund, ein guter Mensch?« Solche Transpositionsarbeit bereitet Kafkas Bilderwelt. Sie beruht auf dem strikten Ausschluß alles Musikalischen im Sinn des Musikähnlichen, dem Verzicht auf die antithetische Abwehr des Mythos; Kafka ist, Brod zufolge, nach den üblichen Begriffen unmusikalisch gewesen. Sein stummes Schlachtgeschrei gegen den Mythos ist: ihm nicht widerstehen. Und diese Askese beschenkt ihn mit der tiefsten Beziehung zur Musik an Stellen wie jenem Gesang des Telephons im Schloß, der Musikwissenschaft aus den ›Forschungen eines Hundes‹ und in einer der letzten vollendeten Erzählungen, ›Josefine‹. Indem seine spröde Prosa alle musikalischen Wirkungen verschmäht, verfährt sie wie Musik. Sie bricht ihre Bedeutungen ab wie Lebenssäulen auf Friedhöfen des neunzehnten Jahrhunderts, und erst die Bruchlinien sind ihre Chiffren.
Fußnoten 1 Das verurteilt alle Dramatisierungen. Drama ist nur so weit möglich, wie Freiheit, wäre es auch als sich entringende, vor Augen steht; alle andere Aktion bliebe nichtig. Die Figuren Kafkas sind von einer Fliegenklatsche getroffen, ehe sie nur sich regen; wer sie als Helden auf die tragische Bühne schleppt, verhöhnt sie bloß. Der Dichter von ›Paludes‹ wäre André Gide geblieben, wenn er nicht am ›Prozeß‹ sich vergriffen hätte; er wenigstens hätte nicht im Zuge des fortschreitenden Analphabetismus vergessen dürfen, daß Kunstwerken, die es sind, ihr Medium nicht zufällig ist. Adaptations wären der Kulturindustrie vorzubehalten.
8 Expressionistische Epik ist paradox. Sie erzählt von dem, wovon sich nicht erzählen läßt, dem ganz auf sich eingeschränkten und damit zugleich unfreien, ja eigentlich gar nicht recht seienden Subjekt. Dissoziiert in die Zwangsmomente der eigenen Befangenheit, der Identität mit sich selbst beraubt, kennt es keine Lebensdauer; die objektlose Innerlichkeit ist Raum in dem genauen Sinn, daß alles, was sie stiftet, dem Gesetz zeitfremder Wiederholung gehorcht. Dies Gesetz nicht zuletzt verhält das Kafkasche Werk zur Geschichtslosigkeit. Keine durch Zeit als Einheit des inneren Sinns konstituierte Form ist ihm möglich; er vollstreckt einen Richtspruch über die große Epik, dessen Gewalt Lukács schon an so frühen Autoren wie Flaubert und Jacobsen beobachtet hat. Das Fragmentarische der drei großen Romane, die übrigens kaum mehr vom Begriff des Romans gedeckt werden, wird bedingt von ihrer inneren Form. Sie lassen sich nicht als zur Totalität gerundete Zeiterfahrung zu Ende bringen. Die Dialektik des Expressionismus resultiert bei Kafka in der Angleichung an Abenteuererzählungen aus aufgereihten Episoden. Er hat solche Romane geliebt. Durch die Übernahme ihrer Technik sagt er zugleich der etablierten literarischen Kultur ab. Seinen bekannten Modellen wären außer Walser wohl etwa der Anfang von Poes ›Arthur Gordon Pym‹ und manche Kapitel aus Kürnbergers ›Amerika-Müdem‹ wie die Beschreibung einer New Yorker Wohnung hinzuzufügen. Vor allem aber solidarisiert sich Kafka mit apokryphen literarischen Gattungen. Den Zug des universal Verdächtigen, tief eingegraben der Physiognomie des gegenwärtigen Zeitalters, hat er dem Kriminalroman abgelernt. In diesem hat die Dingwelt das Übergewicht übers abstrakte Subjekt gewonnen, und Kafka benutzt es dazu, die Dinge zu allgegenwärtigen Emblemen umzuschaffen. Die großen Werke sind gleichsam Detektivromane, in denen die Entlarvung des Verbrechers mißlingt. Aufschlußreicher noch das Verhältnis zu Sade, von dem dahinsteht, ob er Kafka bekannt war. Wie Unschuldige bei Sade – auch im amerikanischen Groteskfilm und in den »Funnies« – gerät das Kafkasche Subjekt, insbesondere der Auswanderer Karl Roßmann, aus einer verzweifelten und
ausweglosen Situation in die nächste: die Stationen epischer Abenteuer werden zu solchen der Leidensgeschichte. Der geschlossene Immanenzzusammenhang konkretisiert sich als Flucht von Gefängnissen. Das Ungeheuerliche, zu dem der Kontrast fehlt, wird wie bei Sade zur ganzen Welt, zur Norm, im Gegensatz zum unreflektierten Abenteuerroman, der es stets auf außergewöhnliche Begebenheiten abgesehen hat und damit die gewöhnlichen bestätigt. In Sade aber und Kafka ist Vernunft am Werk, durchs principium stilisationis des Wahns den objektiven hervortreten zu lassen. Beide gehören, auf verschiedenen Stufen, der Aufklärung an. Bei Kafka ist ihr Entzauberungsschlag das »So ist es«. Er berichtet, wie es eigentlich zugeht, doch ohne Illusion übers Subjekt, das im äußersten Bewußtsein seiner selbst – seiner Nichtigkeit – sich auf den Schrotthaufen wirft, nicht anders als die Tötemaschine mit dem ihr Überantworteten verfährt. Er hat die totale Robinsonade geschrieben, die einer Phase, in der jeder Mensch sein eigener Robinson wurde und auf einem mit zusammengerafftem Zeug beladenen Floß ohne Steuer umhertreibt. Die Verbindung von Robinsonade und Allegorie, die ihren Ursprung in Defoe selber hat, ist der Tradition der großen Aufklärung nicht fremd. Sie gehört dem frühbürgerlichen Kampf gegen die religiöse Autorität an. Im VIII. Stück der wider den orthodoxen Hauptpastor Goeze gerichteten ›Axiomata‹ des von Kafka als Dichter hochgeschätzten Lessing steht der Bericht von einem »abgesetzten, lutherischen Prediger aus der Pfalz« und seiner Familie, »die aus zusammengebrachten Kindern beiderlei Geschlechts bestand«. Das Schiff scheitert, und die Familie rettet sich samt einem Katechismus auf eine kleine unbewohnte Gruppe der Bermudas. Generationen später findet ein hessischer Prediger die Nachkommen auf der Insel. Sie sprechen ein Deutsch, »in welchem er nichts als Redensarten und Wendungen aus Luthers Katechismus zu hören glaubte«. Sie sind orthodox, »einige Kleinigkeiten ausgenommen. Der Katechismus war, wie natürlich, in den anderthalbhundert Jahren aufgebraucht, und sie hatten nichts davon mehr übrig als die Bretterchen des Einbands. In diesen Bretterchen, sagten sie, steht das alles, was wir wissen. – Hat es gestanden, meine Lieben! sagte der Feldprediger. – Steht noch, steht noch weiter! sagten sie. Wir können zwar selbst nicht lesen, wissen auch kaum, was Lesen ist: aber unsere Väter haben es ihre Väter daraus herlesen hören. Und diese haben den Mann gekannt,
der die Bretterchen geschnitten. Der Mann hieß Luther und lebte kurz nach Christo.« Womöglich noch näher dem Kafkaschen Duktus ist die ›Parabel‹, die mit ihm ein gewiß ungewolltes Moment des Verdunkelten teilt. Der Adressat Goeze hat sie ganz mißverstanden. Die parabolische Form selbst aber ist von der aufklärerischen Intention schwerlich zu trennen. Indem naturhaften Stoffen – stammt nicht der äsopische Esel von dem des Oknos ab? – menschliche Bedeutungen und Lehren eingelegt werden, erkennt der Geist in ihnen sich wieder. So bricht er den mythischen Bann, dem sein Blick standhält. Einige Stellen der Lessingschen Parabel, die er unter dem Titel ›Der Palast im Feuer‹ neu herausbringen wollte, sind dafür um so exemplarischer, als ihnen das Bewußtsein mythischer Verstrickung ganz fern lag, zu dem sie in analogen Passagen bei Kafka erwacht sind. »Ein weiser, tätiger König eines großen, großen Reiches hatte in seiner Hauptstadt einen Palast von ganz unermeßlichem Umfange, von ganz besonderer Architektur. Unermeßlich war der Umfang, weil er in demselben alle um sich versammelt hatte, die er als Gehülfen oder Werkzeuge seiner Regierung brauchte. Sonderbar war die Architektur: denn sie stritt so ziemlich mit allen angenommenen Regeln ... Der ganze Palast stand nach vielen, vielen Jahren noch in eben der Reinlichkeit und Vollständigkeit da, mit welcher die Baumeister die letzte Hand angelegt hatten: von außen ein wenig unverständlich, von innen überall Licht und Zusammenhang. Wer Kenner von Architektur sein wollte, ward besonders durch die Außenseiten beleidigt, welche mit wenig hin und her zerstreuten großen und kleinen, runden und viereckten Fenstern unterbrochen waren, dafür aber desto mehr Türen und Tore von mancherlei Form und Größe hatten ... Man begriff nicht, wozu so viele und vielerlei Eingänge nötig wären, da ein großes Portal auf jeder Seite ja wohl schicklicher wäre und eben die Dienste tun würde. Denn daß durch die mehreren kleinen Eingänge ein jeder, der in den Palast gerufen würde, auf dem kürzesten und unfehlbarsten Wege gerade dahin gelangen solle, wo man seiner bedürfe, wollte den wenigsten zu Sinn. Und so entstand unter den vermeintlichen Kennern mancherlei Streit, den gemeiniglich diejenigen am hitzigsten führten, die von dem Inneren des Palastes viel zu sehen die wenigste Gelegenheit gehabt hatten. Auch war da etwas, wovon man bei dem ersten Augenblick geglaubt hätte, daß es den Streit sehr leicht und kurz machen müsse, was ihn
aber gerade am meisten verwickelte, was ihm gerade zur hartnäckigsten Fortsetzung die reichste Nahrung verschaffte. Man glaubte nämlich verschiedene alte Grundrisse zu haben, die sich von den ersten Baumeistern des Palasts herschreiben sollten: und diese Grundrisse fanden sich mit Worten und Zeichen bemerkt, deren Sprache und Charakteristik so gut als verloren war ... Einsmals, als der Streit über die Grundrisse nicht sowohl beigelegt als eingeschlummert war – einsmals um Mitternacht erscholl plötzlich die Stimme der Wächter: Feuer! Feuer in dem Palaste! ... Da fuhr jeder von seinem Lager auf; und jeder, als wäre das Feuer nicht in dem Palaste, sondern in seinem eigenen Hause, lief nach dem Kostbarsten was er zu haben glaubte – nach seinem Grundrisse. Laßt uns den nur retten! dachte jeder. Der Palast kann dort nicht eigentlicher verbrennen, als er hier steht! ... Über diese geschäftigen Zänker hätte er denn auch wirklich abbrennen können, der Palast, wenn er gebrannt hätte. – Aber die erschrockenen Wächter hatten ein Nordlicht für eine Feuersbrunst gehalten.« Es bedürfte bloß der geringsten Akzentverschiebungen, um aus der Geschichte, einem Bindeglied zwischen Pascal und Kierkegaards ›Diapsalmata ad se ipsum‹, eine von Kafka zu machen. Er hätte nur die bizarren und monströsen Züge des Baus auf Kosten seiner Zweckmäßigkeit stärker hervorzuheben, nur den Satz, der Palast könnte nicht eigentlicher verbrennen, als er im Grundriß steht, als Bescheid einer jener Kanzleien vorzubringen brauchen, deren einziger Rechtsgrundsatz ohnehin quod non est in actis non est in mundo lautet, und es wäre aus der Apologie der Religion gegen ihre verknöcherte Auslegung die Denunziation der numinosen Macht selber durchs Medium ihrer eigenen Auslegung geworden. Die Verdunkelung, das Abbrechen der parabolischen Intention sind Konsequenzen der Aufklärung. Je mehr Objektives sie auf den Menschen reduziert, desto trostloser, undurchdringlicher liegen die Umrisse des bloß Seienden vor ihm, das er nie vollends in Subjektivität aufzulösen vermag und aus dem er doch das Vertraute heraussaugte. Kafka reagiert im Geiste der Aufklärung auf deren Rückschlag in Mythologie. Man hat ihn oft mit der Kabbala verglichen. Mit welchem Recht, können einzig die der Texte Kundigen entscheiden. Wenn aber in der Tat die jüdische Mystik in ihrer späten Phase in Aufklärung verschwindet, dann ist Einsicht geboten in die Affinität des späten Aufklärers Kafka zur
antinomistischen Mystik.
9 Antinomistisch ist Kafkas Theologie – wenn anders von einer solchen die Rede sein kann – gegenüber demselben Gott, dessen Begriff Lessing gegen die Orthodoxie verfocht, dem der Aufklärung. Das ist aber ein deus absconditus. Kafka wird zum Ankläger der dialektischen Theologie, der man ihn irrig zurechnet. Ihr schlechterdings Verschiedenes konvergiert mit den mythischen Mächten. Der völlig abstrakte, unbestimmte, von allen anthropomorph-mythologischen Qualitäten gereinigte Gott verwandelt sich in den schicksalhaft vieldeutigen und drohenden, der nichts erweckt als Angst und Schauer. Seine »Reinheit«, dem Geiste nachgeschaffen, den bei Kafka die expressionistische Innerlichkeit als absolute aufrichtet, stellt im Entsetzen vorm radikal Unbekannten das uralte der naturbefangenen Menschheit wieder her. Kafkas Werk hält den Schlag der Stunde fest, da der gereinigte Glaube als unreiner, die Entmythologisierung als Dämonologie sich enthüllt. Aufklärer jedoch bleibt er im Versuch, den Mythos, der dergestalt hervortritt, zu rektifizieren, den Prozeß gegen ihn gleichwie vor einer Revisionskammer nochmals anzustrengen. Die Variationen von Mythen, die in seinem Nachlaß sich gefunden haben, bezeugen sein Bemühen um solche Korrektur. Der Prozeßroman selber ist der Prozeß über den Prozeß. Als Kritiker, nicht als Erbe hat er Motive aus Kierkegaards ›Furcht und Zittern‹ verwandt. In Kafkas Eingaben an den, welchen es betreffen mag, wird das Gericht über den Menschen beschrieben, um das Recht zu überführen. Am mythischen Charakter des letzteren hat er keinen Zweifel gelassen. Eine Stelle im Prozeß handelt von der Göttin der Gerechtigkeit, des Krieges und der Jagd als Einer. Kierkegaards Lehre von der objektiven Verzweiflung greift auf die absolute Innerlichkeit selbst über. Absolute Entfremdung, preisgegeben dem Dasein, von dem sie sich abgezogen hat, wird als die Hölle durchforscht, die sie an sich schon, ohne es zu wissen, bei Kierkegaard war. Als Hölle aus der Perspektive der Erlösung. Kafkas künstlerische Verfremdung, das Mittel, die objektive Entfremdung sichtbar zu machen, empfängt ihre Legitimation aus dem Gehalt. Sein Werk fingiert einen Ort, von dem her die
Schöpfung so durchfurcht und beschädigt erscheint, wie nach ihren eigenen Begriffen die Hölle sein müßte. Im Mittelalter hat man Folter und Todesstrafe an den Juden »verkehrt« vollzogen; schon an der berühmten Stelle des Tacitus wird ihre Religion als verkehrt angeprangert. Delinquenten wurden mit dem Kopf nach unten aufgehängt. So wie diesen Opfern in den endlosen Stunden ihres Sterbens die Erdoberfläche muß ausgesehen haben, wird sie vom Landvermesser Kafka photographiert. Nicht um Geringeres als um solche ungemilderte Qual bietet ihm die Optik des Heils sich dar. Seine Einreihung unter die Pessimisten, die Existentialisten der Verzweiflung ist verfehlt wie die unter die Heilslehrer. Nietzsches Verdikt über die Worte Optimismus und Pessimismus hat er geehrt. Die Lichtquelle, welche die Schründe der Welt als höllisch aufglühen läßt, ist die optimale. Aber was der dialektischen Theologie Licht und Schatten war, wird vertauscht. Nicht wendet das Absolute dem bedingten Geschöpf seine absurde Seite zu – eine Doktrin, die schon bei Kierkegaard zu Ärgerem führt als bloß der Paradoxie und die bei Kafka auf die Inthronisierung des Wahns hinausliefe. Sondern die Welt wird als so absurd enthüllt, wie sie dem intellectus archetypus wäre. Das mittlere Reich des Bedingten wird infernalisch unter den künstlichen Engelsaugen. So weit spannt Kafka den Expressionismus. Das Subjekt objektiviert sich, indem es das letzte Einverständnis aufkündigt. Dem freilich widerspricht scheinbar, was an Lehre aus Kafka herauszulesen ist, ebenso wie die Berichte vom byzantinischen Respekt, den er als Person absonderlichen Mächten skurril zollte. Aber die oft bemerkte Ironie dieser Züge rechnet selbst zu dem Lehrgehalt. Nicht Demut hat Kafka gepredigt, sondern die erprobteste Verhaltensweise wider den Mythos empfohlen, die List. Ihm ist die einzige, schwächste, geringste Möglichkeit dessen, daß die Welt doch nicht recht behalte, die, ihr recht zu geben. Wie der Jüngste im Märchen soll man ganz unscheinbar, klein, zum wehrlosen Opfer sich machen, nicht auf dem eigenen Recht bestehen nach der Sitte der Welt, der des Tausches, welcher ohne Unterlaß das Unrecht reproduziert. Kafkas Humor wünscht die Versöhnung des Mythos durch eine Art von Mimikry. Auch darin folgt er jener Tradition von Aufklärung, die vom homerischen Mythos bis Hegel und Marx reicht, bei denen die spontane Tat, der Akt der Freiheit, gleichkommt dem Vollzug der objektiven Tendenz. Seitdem aber ist die lastende Schwere des
Daseins außer allem Verhältnis zum Subjekt angewachsen und mit ihr die Unwahrheit der abstrakten Utopie. Wie vor Jahrtausenden wird von Kafka Rettung gesucht bei der Einverleibung der Kraft des Gegners. Der Bann von Verdinglichung soll gebrochen werden, indem das Subjekt sich selbst verdinglicht. Was ihm widerfährt, soll es vollziehen. »Zum letztenmal Psychologie« – Kafkas Figuren werden angewiesen, ihre Seele in der Garderobe zurückzulassen, in einem Augenblick des gesellschaftlichen Kampfes, in dem die einzige Chance des bürgerlichen Individuums bei der Negation seiner eigenen Zusammensetzung steht und der der Klassenlage, die es zu dem verdammt hat, was es ist. Gleich seinem Landsmann Gustav Mahler hält Kafka es mit den Deserteuren. Anstelle der Menschenwürde, des obersten bürgerlichen Begriffs, tritt bei ihm das heilsame Eingedenken der Tierähnlichkeit, von der eine ganze Schicht seiner Erzählungen zehrt. Die Versenkung in den Innenraum der Individuation, die in solcher Selbstbesinnung sich vollendet, stößt aufs Prinzip der Individuation, jenes sich selbst Setzen, das die Philosophie sanktionierte, den mythischen Trotz. Wiedergutmachung wird gesucht, indem das Subjekt ihn fahren läßt. Kafka verherrlicht nicht die Welt durch Unterordnung, er widerstrebt ihr durch Gewaltlosigkeit. Vor dieser muß die Macht sich als das bekennen, was sie ist, und darauf allein baut er. Dem eigenen Spiegelbild soll der Mythos erliegen. Schuldig werden die Helden von Prozeß und Schloß nicht durch ihre Schuld – sie haben keine –, sondern weil sie versuchen, das Recht auf ihre Seite zu bringen. »Die Erbsünde, das alte Unrecht, das der Mensch begangen hat, besteht in dem Vorwurf, den der Mensch macht und von dem er nicht abläßt, daß ihm Unrecht geschehen ist, daß an ihm die Erbsünde begangen wurde.« Darum haben ihre klugen Reden, zumal die des Landvermessers, ein Törichtes, Tölpelhaftes, Naives: ihre gesunde Vernunft verstärkt die Verblendung, gegen welche sie aufbegehrt. Kafka will durch die Verdinglichung des Subjekts, die ohnehin von der Welt verlangt wird, diese womöglich noch überbieten: Totenhaftes wird zur Botschaft der sabbatischen Ruhe. Das ist die Kehrseite der Kafkaschen Lehre vom mißlingenden Tod: daß die beschädigte Schöpfung nicht mehr sterben kann das einzige Versprechen von Unsterblichkeit, das der Aufklärer Kafka nicht mit dem Bilderverbot ahndet. Es knüpft sich an die Rettung der Dinge; derer, die nicht länger in den Schuldzusammenhang verflochten, die
untauschbar, unnütz sind. Auf sie hat es die innerste Bedeutungsschicht des Obsoleten bei ihm abgesehen. Seine Ideenwelt gleicht – wie im Naturtheater von Oklahoma – einer von Ladenhütern: kein Theologumenon könnte ihm näher kommen als der Titel eines amerikanischen Filmlustspiels: Shopworn Angel. Während in den Interieurs, in denen Menschen wohnen, das Unheil haust, sind Schlupfwinkel der Kindheit, verlassene Stätten wie das Treppenhaus, solche der Hoffnung. Die Auferstehung der Toten müßte auf dem Autofriedhof stattfinden. Die Schuldlosigkeit des Unnützen setzt den Kontrapunkt zum Parasitären: »Müßiggang aller Laster Anfang, aller Tugenden Krönung.« Nach dem Zeugnis von Kafkas Werk befördert in der verstrickten Welt jegliches Positive, jeglicher Beitrag, fast könnte man denken, die Arbeit selbst, die das Leben reproduziert, bloß die Verstrickung. »Das Negative zu tun, ist uns noch auferlegt: das Positive ist uns schon gegeben.« Heilmittel gegen die halbe Nutzlosigkeit des Lebens, das da nicht lebt, wäre einzig die ganze. So verbrüdert sich Kafka mit dem Tode. Die Schöpfung gewinnt den Vorrang übers Lebendige. Das Selbst, die innerste Position des Mythos, wird zertrümmert, verworfen der Trug bloßer Natur. »Der Künstler wartete, bis K. sich beruhigt hatte, und entschloß sich dann, da er keinen andern Ausweg fand, dennoch zum Weiterschreiben. Der erste kleine Strich, den er machte, war für K. eine Erlösung, der Künstler brachte ihn aber offenbar nur mit dem äußersten Widerstreben zustande; die Schrift war auch nicht mehr so schön, vor allem schien es an Gold zu fehlen, blaß und unsicher zog sich der Strich hin, nur sehr groß wurde der Buchstabe. Es war ein J, fast war es schon beendet, da stampfte der Künstler wütend mit einem Fuß in den Grabhügel hinein, daß die Erde ringsum in die Höhe flog. Endlich verstand ihn K.: ihn abzubitten war keine Zeit mehr; mit allen Fingern grub er in die Erde, die fast keinen Widerstand leistete; alles schien vorbereitet; nur zum Schein war eine dünne Erdkruste aufgerichtet; gleich hinter ihr öffnete sich mit abschüssigen Wänden ein großes Loch, in das K., von einer sanften Strömung auf den Rücken gedreht, versank. Während er aber unten, den Kopf im Genick noch aufgerichtet, schon von der undurchdringlichen Tiefe aufgenommen wurde, jagte oben sein Name mit mächtigen Zieraten über den Stein. Entzückt von diesem Anblick erwachte er.« Der Name allein, der offenbar wird durch den natürlichen Tod, nicht die lebendige Seele steht ein fürs unsterbliche
Teil.
Ohne Leitbild Parva Aesthetica
Ohne Leitbild Anstelle einer Vorrede Als ich seinerzeit vom Rias eingeladen wurde, über ästhetische Normen und Leitbilder der Gegenwart zu sprechen, erklärte ich mich für ungeeignet, einen Begriff wie den des Leitbilds zu übernehmen und positiv anzuwenden. Die Formulierung einer wie immer auch gearteten allgemein-normativen, invarianten Ästhetik heute dünkt mir unmöglich. Nur unter der Voraussetzung, daß ich diese Position ausdrücken könnte, wäre es mir möglich, den Gegenstand zu behandeln. Liberalerweise hat mir die Leitung der Funk-Universität das konzediert. Ich will und kann also nicht als Schnellmaler Leitbilder an die Wand zaubern oder, nach der einstweilen immer noch verbreiteten ontologischen Mode, mehr oder minder verbrämt etwas von künstlerischen Ewigkeitswerten schwafeln. Erörtern kann ich, fragmentarisch genug, Leitbilder und Normen einzig als Problem. Ich befinde mich in einer ähnlichen Lage wie der in einem philosophiehistorisch berühmten Text ausgesprochenen: »Was in einem bestimmten gegebenen Zeitmoment zu tun ist, unmittelbar zu tun ist, hängt natürlich ganz und gar von den gegebenen historischen Umständen ab, worin zu handeln ist. Jene Frage aber stellt sich in Nebelland, stellt sich also in der Tat ein Phantomproblem, worauf ihre einzige Antwort – die Kritik der Frage selber sein muß.« Das Wort Leitbild, mit seinem leise militärischen Klang, dürfte in Deutschland erst nach dem zweiten Weltkrieg populär geworden sein. Es ist heimisch im Bereich einer konservativ-restaurativen Kulturkritik diesseits und jenseits der Grenze zur DDR, die von Motiven der früheren deutschen Romantik, zumal solchen von Novalis und Friedrich Schlegel, zehrt. Zugrunde liegt meist die negative Reaktion auf die zeitgenössische Kunst. Diese sei zerrissen, von subjektiver Willkür durchherrscht, abstoßend, unverständlich, im elfenbeinernen Turm vermauert. Die Gestalt, welche die moderne Kunst in all ihren Manifestationen aus der Konsequenz ihrer sachlichen Entwicklung angenommen hat, wird als Schuld einer esoterischen, volksfremden und womöglich wurzellosen Gesinnung den Produzierenden aufgebürdet, allenfalls
ihrem beklagenswerten Schicksal zugeschrieben. Man wird die Affinität von solchen Überlegungen zu den unter den totalitären Systemen beider Spielarten gängigen auch dann nicht überhören, wenn sie im Westen einstweilen humanerer Terminologie sich bedienen. Sie operieren mit einer Vulgärsoziologie. Die frühere Gesellschaft, die feudale, etwa auch die frühbürgerlich-absolutistische sei geschlossen gewesen, die gegenwärtige offene entrate des verpflichtenden Gesetzes. Geschlossenheit wird dabei dem Sinn Verleihenden, Positiven gleichgesetzt; jedes Kunstwerk habe einst seinen Ort, seine Funktion, seine Legitimation besessen, heute sei es zur Willkür verdammt und darum nichts wert. Damit Kunst überhaupt als objektiv gültige möglich sei, bedürfe sie eines festen Gefüges, das ihr den Kanon des Richtigen und Falschen liefere. Da nun aber die Gesellschaft ein solches Gefüge nicht mehr beistelle, so wird, wofern man nicht geradeswegs totalitär dekretieren kann, verlangt, man solle wenigstens eine geistige Ordnung aufrichten, von der man freilich gern behauptet, sie wäre nicht aufzurichten, sondern im Sein schlechthin zu entdecken. Sie soll besorgen, was im Stande seliger Naivetät die Beschaffenheit der Gesellschaft und die des Geistes garantiert habe. Die Frage nach ästhetischen Normen und Leitbildern entsteht, wo Erlaubnis und Verbot nicht länger mehr einigermaßen fraglos sind, während man doch ohne ihre Vorgegebenheit oder, wie man in Amerika zu sagen pflegt, ohne frame of reference nicht mehr auskäme. Ich habe die Gedankengänge dieses Typus vereinfacht, um die Frage zuzuspitzen. Aber die Struktur der mit dem Begriff des Leitbilds umgehenden Kulturkritik entfernt sich tatsächlich von der Schlichtheit jener Überlegungen nicht allzu weit. Es ist nicht die der großen Einfachheit, des alten Wahren, auf das sie sich etwas zugute tun, sondern eher die des unterdessen selber überbeanspruchten terrible simplificateur. So plausibel die Thesen klingen, so effektsicher sie an die appellieren, welche von der neuen Kunst sich ausgeschlossen fühlen und in Wut geraten über das, was jene ausspricht und was sie sich selbst nicht zugestehen möchten, so falsch ist alles daran. Die soziale Geschlossenheit, der man um der Kunst willen nachtrauert, war heteronom, den Menschen in weitem Maße aufgezwungen. Sie ging zugrunde nicht in einem historischen Sündenfall; auch nicht dadurch, daß schicksalhaft die sogenannte
Mitte verlorengegangen wäre. Sondern der Zwang, nach dem heute so viele gieren, war unerträglich geworden, weil der geistige Gehalt, an dem er sich rechtfertigte und den man seiner Verbindlichkeit wegen glorifiziert, der fortschreitenden Erkenntnis als unwahr, unverbindlich sich erwies. Schämt man sich schon, wie vor hundertundfünfzig Jahren vom Mittelalter zu schwärmen, weil man der Ohnmacht solcher Begeisterung, der Unmöglichkeit sich bewußt ist, die Menschheit auf eine vorbürgerliche Stufe zurückzuschrauben, so kann man erst recht nicht einen geistigen Zustand proklamieren, der ohne eine Sozialstruktur wie die mittelalterliche oder die der Zunftzeit ohne reale Basis – der also wahrhaft wurzellos wäre. Zu den aufgewärmten Ewigkeitswerten verführt das Argument, die ästhetische Qualität von Werken aus der vorbürgerlichen Zeit sei durch Rundheit, Einstimmigkeit, unmittelbares Einleuchten der neueren Kunst überlegen. Der qualitative Vorrang der Kunstwerke aus den vermeintlich sinnerfüllten Zeiten jedoch ist fragwürdig. Was deren Ordnung sprengte, ist nicht veranlaßt durch einen abstrakten Wechsel der Zeitläufte oder »Denkstile«, sondern das kritische Bedürfnis hat am Wechsel wesentlich teil. Worin Bach von Vorgängern wie Schütz oder Johann Kaspar Fischer sich unterscheidet, das ist nicht bloß der Zeitgeist beginnender subjektiver Gestimmtheit, sondern ebenso auch das stringente Bewußtsein von der Unzulänglichkeit seiner Vorgänger. Eine Bachische Fuge ist als Fuge zunächst einmal besser, gefügter, in sich durchgebildeter und konsequenter als die rudimentären Gebilde des siebzehnten Jahrhunderts; räumliche Perspektive hat die Malerei mühsam erlernen müssen. Im verrufenen neunzehnten Jahrhundert hat man solche Dinge noch auszusprechen gewagt, anstatt es als selbstverständlich zu unterstellen, daß dem Naiveren, seiner selbst weniger Bewußten in der Kunst die höhere Dignität zukomme. Die Polemik Gottfried Kellers gegen den anachronistischen Epiker Jeremias Gotthelf ist ein großes Dokument solcher geistigen Unbefangenheit und Zivilcourage. Heute aber geht vom Historismus, der höchst unnaiven Bildung ein derartiger Terror aus, daß niemand mehr wagt, dumpfen und unfreien Produkten eben das als Insuffizienz vorzuhalten, für die nicht ohne weiteres eine Frühe entschädigt, deren Heiliges nicht selten dem niedrigeren Stand der Produktivkräfte zuzurechnen ist, nicht dem Hauch des ersten
Schöpfungstages. Je unnaiver das ästhetische Bewußtsein, desto höher steigt Naivetät im Kurs. Vielfach wird dabei die Einheit des Stils, dem die Gebilde angehören, ihre Kanalisierung in traditionellen Verfahrungsweisen, ihrer eigenen Qualität gleichgesetzt. Man übersieht, daß die ästhetische Qualität Resultante aus der spezifischen Forderung des einzelnen Gebildes und der übergreifenden Einheit des Stils ist, dem sie angehören. Die Kanalisierung durch den Stil, die eingeschliffenen Bahnen, denen ohne zu große Anstrengung sich folgen läßt, werden mit der Sache selbst, der Realisierung ihrer spezifischen Objektivität verwechselt. Kaum hat große Kunst jemals in der Konkordanz des einzelnen Gebildes mit seinem Stil sich erschöpft. Der Stil wird ebenso vom Einzelgebilde erzeugt, wie es in der Fühlung mit ihm sich konstituiert. Grund ist zur Annahme, daß auch in der Vergangenheit die bedeutendsten Gebilde jene sind, in denen das Subjekt und sein Ausdruck gerade nicht in jener unangefochtenen Einheit mit dem Ganzen sich befinden, welche die stilistische Fügsamkeit suggeriert. Nur an der Oberfläche scheinen die großen Kunstwerke der Vergangenheit geschlossen und mit ihrer Sprache einfach identisch. In Wahrheit sind sie Kraftfelder, in denen der Konflikt zwischen der anbefohlenen Norm und dem ausgetragen wird, was in ihnen Laut sucht. Je höher sie rangieren, um so energischer fechten sie diesen Konflikt durch, häufig unter Verzicht auf das affirmative Gelingen, das man rühmt. Ist es wahr, daß die großen Kunstwerke der Vergangenheit nicht möglich waren ohne Stil, so sind sie immer zugleich auch gegen den Stil gewesen. Er hat die Produktivkräfte gespeist und gefesselt in eins. Tritt in der gegenwärtigen Musik die Dissonanz entscheidend hervor, um schließlich die Konsonanz abzuschaffen und damit auch den Begriff von Dissonanz selbst, so ließe sich zeigen, daß seit vielen Jahrhunderten die Komponisten von der Dissonanz gelockt wurden, als der Möglichkeit, unterdrückte Subjektivität, Leiden unter der Unfreiheit, die Wahrheit über das herrschende Unwesen auszusprechen. Die obersten Augenblicke waren jene, in denen das dissonante Moment sich durchsetzte und gleichwohl im Äquilibrium des Ganzen sich löste, innere Geschichtsschreibung der Negativität sowohl wie vorwegnehmendes Bild von Versöhnung. – Entäußert sich die gegenwärtige Malerei der letzten Ähnlichkeit mit Gegenständlichem, so waren auch die bedeutenden Bilder und
Plastiken der Vergangenheit nur durch die Konvention, durch den Zwang der Auftraggeber oder des Marktes a priori zur rückhaltlosen Ähnlichkeit mit der Dingwelt genötigt. Sie sind von der Gewalt des Werkes darüber hinaus getrieben worden wie die Musiker über den verklärenden Wohllaut: ich nenne, auf die Gefahr hin, allzu Bekanntes zu wiederholen, die Namen gerade von zwei Malern, die im theologischen Bereich beheimatet waren, von Grünewald und Greco. Der Satz Valérys, das Beste am Neuen in der Kunst entspreche stets einem alten Bedürfnis, ist von unabsehbarer Tragweite; er erklärt nicht nur die exponierten Regungen des Neuen, die man als Experimente diffamiert, als notwendige Antwort auf ungelöste Fragen, sondern zerstört zugleich den ideologischen Schein glückvoller Geborgenheit, den das Vergangene vielfach nur darum annimmt, weil das alte Leiden darin nicht unmittelbar mehr zu lesen ist als Chiffre des Leidens der gegenwärtigen Welt. Weil ihre Voraussetzungen entfielen, lassen die vergangenen Normen nicht wiederum sich aufrichten; an ihnen sich zu orientieren wäre nicht weniger willkürlich als jener Zustand, den der Kulturkonservatismus allzu unbesehen anarchisch schilt. Die Normen, deren ehemalige Legitimation selbst mittlerweile in Frage gerückt ist, waren allenfalls sinnvoll kraft dessen, was Hegel Substantialität nennt – daß sie dem Leben und dem Bewußtsein nicht als schlechterdings von außen her Gesetztes gegenüberstanden, sondern bei aller Fragwürdigkeit in einer gewissen Einheit mit dem Leben und dem Geist sich befanden. Ohne solche Substantialität; ohne daß der Geist in den Normen sich wiederfände, der ihnen zufolge verfährt, ist es vergeblich. Normen und Leitbildern nachzujagen. Daß man dabei ins Vergangene tastet, ist kein Zufall. Gespürt wird, daß substantielle Normen fehlen; daß ihre Verkündigung einem Willkürakt entspringen müßte und zwielichtig bliebe. Dem Vergangenen aber traut man Substantialität zu. Nur verkennt man, daß der Prozeß, der sie tilgte, irreversibel ist. Der Geist vermag, wie es bei Hegel heißt, nicht, sich in vergangene Weltanschauungen der Kunst wegen wieder festzumachen, sie sich substantiell anzueignen. Die kritische Gesamtbewegung des Nominalismus, welche die abstrakte Vorgeordnetheit des Begriffs vor dem darunter befaßten Einzelnen zerstörte, läßt im ästhetischen Bereich so wenig mit einem Spruch sich auslöschen wie in der Metaphysik und der Erkenntnislehre. Die Sehnsucht danach, als eine
nach Haltung und Ordnung verdächtig genug, garantiert nicht die Wahrheit und Objektivität dessen, worauf sie zielt. Heute wie vor achtzig Jahren gilt die Einsicht Nietzsches, daß die Rechtfertigung eines Gehalts aus dem Bedürfnis, ihn zu haben, eher ein Argument gegen ihn ist als eines für ihn. Unleugbar hat dies Bedürfnis zugenommen; wenigstens trachten diejenigen, die sich positiv nennen, ohne Unterlaß, es den Menschen einzuhämmern. Kritik hätte aber jenes Bedürfnis ebenso zu durchdringen wie die Situation, aus der es aufsteigt und der es scheinbar opponiert. Beides ist eigentlich das Gleiche, ein verdinglichtes Bewußtsein. Die geschichtliche Bewegung hat die herrschende Vernunft als Selbstzweck und das, worauf sie geht, als bloße Materie jener Vernunft auseinandergerissen. Sie hat damit die Idee von Objektivität und Wahrheit, die sie erst formulierte, zugleich ausgehöhlt. Deren Sturz ist dann zum Leiden der Reflexion geworden. Die gefrorene Antithese von Subjekt und Objekt aber setzt sich fort in einer Haltung, die abstrakt, getrennt, vergegenständlicht Normen sich vorstellt, die gleich jenen Heringen von der Decke herunterhängen, nach denen Hungrige schnappen. Sie werden so äußerlich, entfremdet dem eigenen Bewußtsein kontrastiert, werden so wenig von ihm als seine eigene Sache erfahren wie die übermächtige Dingwelt des gegenwärtigen Zustands, deren Diktat die Menschen einspruchslos und, als wären sie ohnmächtig, sich fügen. Das Wort Werte, das seit Nietzsche für nicht substantielle, von den Menschen abgespaltene Normen in Schwang gekommen ist und das nicht umsonst der Sphäre des Dinghaften par excellence, der des wirtschaftlichen Tauschverhältnisses entlehnt ward, benennt besser als jede Kritik, was es mit dem Ruf nach Leitbildern auf sich hat. Schreit man nach ihnen, so sind sie bereits nicht mehr möglich; verkündigt man sie aus dem verzweifelten Wunsch, so werden sie zu blinden und heteronomen Mächten verhext, welche die Ohnmacht nur noch verstärken und insofern mit der totalitären Sinnesart übereinstimmen. In den Normen und Leitbildern, die fix und unverrückbar den Menschen zur Orientierung einer geistigen Produktion, deren innerstes Prinzip doch Freiheit ist, verhelfen sollen, spiegelt sich bloß die Schwäche ihres Ichs gegenüber Verhältnissen, über die sie nichts zu vermögen meinen, und die blinde Macht des nun einmal so Seienden. Die dem sogenannten
Chaos von heute beschwörend einen Kosmos von Werten entgegenstrecken, bekunden nur, wie sehr dies Chaos bereits zum Gesetz ihres eigenen Handelns und ihrer Vorstellung geworden ist. Sie verkennen, daß künstlerische Normen und Kriterien, sollen sie wirklich mehr sein als Kennmarken vorschriftsmäßiger Gesinnung, gerade nicht als fertig, als gültig jenseits des Bereichs der lebendigen Erfahrung hypostasiert werden können. Für die Kunst gibt es keine anderen Normen mehr denn die, welche in der Logik ihrer eigenen Bewegung sich ausformen, und die ein Bewußtsein zu füllen vermag, das sie achtet, produziert und auch wiederum ändert. Zu dieser Leistung aber, die freilich im Angesicht des Zerfalls aller vorgegebenen Ausdruckssprachen prohibitiv schwierig geworden ist, sind nur die wenigsten noch fähig und willens. Die kompakte Majorität, die ihnen gegenüber von Leitbildern und Normen tönt, hat es darum so bequem, weil sie die Linie des geringsten Widerstands mühelos als eine des höheren Ethos, der wurzelhaften Gebundenheit und womöglich der existentiellen Würde propagieren kann. Verpflichtende Normen wären heute bloß verordnet und darum nicht verpflichtend, selbst wo sie Gehorsam sich verschaffen. Was ihnen willfahrt, wäre nichts als willfährig und liefe auf das Pastiche oder die Kopie hinaus. Schwer jedoch fällt den meisten die Einsicht, auf die es ankäme: daß durch die rückhaltlose Absage an die statische und abstrakte Norm künstlerische Produktion nicht der Relativität verfällt. Darauf zu bestehen ist so mißlich, weil man damit in die Nähe jener gerät, die an die Kritik, die sie üben, um sich nur ja nicht unbeliebt zu machen, die beflissene Beteuerung anschließen, eigentlich sei es gar nicht so böse gemeint, und das zur Vordertür Hinausgejagte verstohlen durch die Hintertür wieder hereinschmuggeln. Auch wer gegen diese Gewohnheit waches Mißtrauen hegt, wird indessen dem nicht ausweichen dürfen, daß die Kraft, die in der Leitbildnerei verraten wird, eben darin besteht, ohne jeglichen falschen Rückhalt, rein in der Sache selbst richtig und falsch, wahr und unwahr zu unterscheiden. Der Verzicht darauf, der den ästhetischen Ernst drangibt und das Verfahren eingestandenermaßen jenem Belieben überantwortet, das uneingestanden auch die Leitbildnerei motiviert, ist genau so schwächlich wie umgekehrt die autoritätsgebundene Gesinnung in der Kunst. Nur darf die Einsicht in die konkrete, von der
allgemeinen Vorschrift emanzipierte Gesetzmäßigkeit der Kunstwerke nicht doch abermals zu einem Katalog des Erlaubten und Verbotenen erstarren. Ich habe einmal die künstlerische Produktion und das Verfahren ihrer angemessenen Erkenntnis mit dem übel beleumundeten Bergmann ohne Licht verglichen, der zwar nicht sieht, wohin es ihn treibt, dem aber doch sein Tastsinn genau die Beschaffenheit der Stollen, die Härte der Widerstände, die schlüpfrigen Stellen und gefährlichen Kanten anzeigt und seine Schritte lenkt, ohne daß sie je dem Zufall überantwortet wären. Wollte man allerdings daraus schließen, jede weitergreifende Einsicht in das Richtige und Falsche zeitgenössischer Kunst wäre verpönt, und man habe, buchstäblich blind, einzig dem Zusammenhang der je einzelnen Konzeption zu gehorchen, so wäre eine solche Resignation des Gedankens gegenüber dem Dunkel der ästhetischen Gestalt allzu voreilig. Indem die Beschaffenheiten der erst zu realisierenden Sachen, die dem Sensorium des Künstlers sich mitteilen, durch Reflexion zum selbstkritischen Bewußtsein erhoben werden müssen, damit er überhaupt etwas Menschenwürdiges hervorbringt, wird die Produktion, bei aller konkreten Immanenz im besonderen Gegenstand, doch auch auf den Begriff verwiesen. Die verborgene Rechtfertigung dessen mag darin liegen, daß noch in den individuellsten, allen von außen herangebrachten Schemata inkommensurablen Impulsen des Kunstwerks eine objektive Gesetzmäßigkeit überlebt, wie sie zuzeiten die offenbare, objektive Formsprache der Kunst ausmachte. Die einzige mögliche Antwort auf das Bedürfnis nach Normen, soweit es nicht nur Schwäche ist, sondern als Schwäche auch eine Not anzeigt, wäre, daß die Produktion sich ergeben, ganz ohne nach außen zu schielen, dem Zwang ihres Jetzt und Hier überläßt, hoffend, durch die Konsequenz solcher ungedeckten Individuation möchte diese als Objektivität sich bewähren; das Besondere, dem das Kunstwerk rein gerecht wird, als das Allgemeine sich enthüllen. Trotz aller Vorbehalte wäre das etwas genereller auszusprechen. Jedes Kunstwerk heute müßte vollends durchgebildet sein, keinen toten Fleck, keine heteronom empfangene Form enthalten. Ob das visiert wird oder ob das Werk den Anspruch des Absoluten, den es durch seine bloße Existenz schon erhebt, dem eigenen Ansatz nach gar nicht erst mehr respektiert, das entscheidet über sein Formniveau. In einer Situation, in der keine Stilsprache mehr das
Mittlere erhöht, wenn anders sie es je tat, haben wohl überhaupt nur Werke des obersten Formniveaus noch Anspruch auf Dasein; das Mittlere, das die Anstrengung bis ins kleinste scheut, ist unmittelbar zum Schlechten geworden. Wie aber das Kunstwerk zu verfahren hat, um derart rigorosen Kriterien zu genügen, das hängt nicht von einer zufälligen, bloß von einem selbst gesetzten Regel ab, der man dann folge. So genau Hans Sachsens Ratschlag an Walter Stolzing den Verfall eben dessen benennt, was man heute als Normen und Leitbilder auskramt, so wenig gibt er doch Rechenschaft vom Objektivitätsgehalt des subjektiven Verfahrens. Die Bindung vielmehr, die man vergebens aus Weltanschauung herbeizitiert, steckt zunächst in dem Material, mit dem die Künstler zu arbeiten haben. Es ist das kaum zu überschätzende Verdienst der unter dem Namen der Sachlichkeit und der Zweckform bekannt gewordenen Richtungen, das erkannt zu haben. Im Material aber ist Geschichte sedimentiert. Einzig wer das geschichtlich Fällige und das unwiederbringlich Veraltete im Material selber zu unterscheiden vermag, wird materialgerecht produzieren. Den Künstlern ist das gegenwärtig, wann immer sie Farben, Formen, Klänge vermeiden, die zwar als Naturstoffe möglich wären, aber durch geschichtliche Assoziationen dem spezifischen Sinn dessen widerstreiten, was sie an Ort und Stelle leisten sollen. Nur eine andere Wendung dafür ist, daß das Material nicht aus abstrakten, atomistischen Urelementen besteht, die an sich ganz intentionslos wären und deren die künstlerischen Intentionen beliebig sich bemächtigen könnten, sondern selbst schon Intentionen an das Werk heranbringt. Es vermag sie nur dadurch in seinen eigenen Zusammenhang hineinzunehmen, daß es sie versteht, ihnen sich anschmiegt und dadurch sie modifiziert. Gemalt wird nicht mit Farben, komponiert nicht mit Tönen, sondern mit Farb- und Tonrelationen. Der künstlerische Materialbegriff müßte verarmen und um seine Objektivität sich bringen, wofern er tabula rasa machte und die Bestimmtheiten dessen ignorierte, woran er sich betätigt. Die Sphäre aber, in der über richtig und falsch zwingend, doch ohne Rekurs auf trügerische Leitbilder sich entscheiden läßt, ist die technische. Diese Einsicht, die in den ästhetischen Schriften Valérys unvergleichlich formuliert ward, sollte aller neuen Kunst gegenwärtig bleiben, solange sie nicht wirklich in den schlechten Zufall abgleiten will. Von den technischen Anweisungen des
Kunstunterrichts, die noch an äußerlichen Normen und Verfahrungsweisen sich ausrichten, aber nach deren Maß recht genau zu unterscheiden vermögen, ist zu jenem Begriff von Technik aufzusteigen, der jenseits aller solchen scheinbar gesicherten Vorstellungen, rein aus der Komplexion der Sache heraus diese darüber belehrt, wie sie zu sein habe und wie nicht. Wird darauf entgegnet, Technik sei bloßes Mittel und einzig der Gehalt sei Zweck, so ist das halbwahr wie alles Triviale. Denn kein Gehalt ist in der Kunst gegenwärtig, der nicht vermittelt wäre in der Erscheinung, und Technik ist der Inbegriff solcher Vermittlung. Nicht anders als im Vollzug technischer Gesetzmäßigkeiten ist darüber zu urteilen, ob ein Kunstwerk sinnvoll sei oder nicht; nur in den Zentren seiner Komplexion, nicht als ein von ihm lediglich Gemeintes oder Ausgedrücktes ist sein Sinn zu begreifen. Die obersten Fragen freilich wären die nach der Wahrheit von solchem Sinn selber, nach der des Gehalts, schließlich die, ob der traditionelle Begriff der sinnvollen Organisation an das vom Kunstwerk heute Erheischte überhaupt noch heranreicht. Der Schatten von Relativität, der damit am Ende über das ästhetische Urteil fällt, ist kein anderer als der einer Bedingtheit, die allem von Menschen Gemachten anhaftet. Der Kurzschluß zu solcher radikalen Frage jedoch, zur emphatischen Philosophie der Kunst unabhängig von den Vermittlungen der Technik, würde nur dazu führen, daß man aus abstraktem Räsonnement die spezifischen Entscheidungen der künstlerischen Verfahrungsweise sabotiert. Die Ungewißheit der Kunst als eines Produkts von sterblichem Bewußtsein darf nicht zur Ausrede dafür mißbraucht werden, die bündig erkennbaren qualitativen Differenzen zu verleugnen und den geglätteten Kitsch dem großen Werk gleichzusetzen, von dessen Größe die eigene Brüchigkeit kaum wegzudenken ist. Erlaubt schließlich die ungeschlichtete Offenheit der Frage nach ästhetischem Sinn heute Werken zu erscheinen, bei denen dieser Sinn fragwürdig ist, so hat kein Leitbildner das Recht, sie mit Gekreisch wegzuscheuchen. Was er für geborgen hält, ist von vornherein verlorener, als was ihm verloren dünkt. Einzig in jener Zone, die der Konformismus als experimentell ächten möchte, findet die Möglichkeit des künstlerisch Wahren noch ihre Zuflucht.
Amorbach Wolkmann: ein Berg, der Bild seines Namens ist, freundlich übriggebliebener Riese. Nun ruht er lange, breit gestreckt über dem Städtchen, das er von den Wolken grüßt. – Gotthard: der kleinste Gipfel in der Umgebung trägt den Namen des mächtigsten Massivs der Zentralalpen, als möchte er das Kind sacht an den Umgang mit dem Gebirge gewöhnen. Um keinen Preis hätte es sich ausreden lassen, daß ein geheimer unterirdischer Gang von einer Höhle der Klosterruine St. Gotthard in den Amorbacher Konventsbau hinabführt. Der war bis zur napoleonischen Säkularisierung eine Benediktinerabtei, niedrig, außergewöhnlich lang, mit grünen Läden, angeschmiegt an die Abteikirche. Ihm fehlt, außer den Eingängen, jede energische Gliederung. Dennoch erfuhr ich daran zum erstenmal, was Architektur sei. Bis heute weiß ich nicht, ob der Eindruck einfach darauf zurückgeht, daß mir am Konventsbau das Wesen von Stil aufging, oder ob doch in seinen Maßen, unter Verzicht auf jeglichen Eklat, etwas sich ausspricht, was danach die Bauten verloren. Die Vedute, auf die er offenbar angelegt war, eine Stelle im Seegarten, kunstvoll hinter einer Baumgruppe versteckt an dem von Karpfen bevölkerten, sympathisch riechenden Weiher, gibt einen kleinen, überschaubaren Abschnitt des Klosters frei. Stets noch stellt an dem Teil die Schönheit wieder sich her, nach deren Grund ich vorm Ganzen vergeblich frage. In der Hauptstraße, um die Ecke der geliebten Post, befand sich eine offene Schmiede mit grell loderndem Feuer. Jeden Morgen ganz früh weckten mich die dröhnenden Schläge. Nie habe ich ihnen deshalb gezürnt. Sie brachten mir das Echo des längst Vergangenen. Mindestens bis in die zwanziger Jahre hinein, als es schon Gasolinstationen gab, hat die Schmiede existiert. In Amorbach ragt die Vorwelt Siegfrieds, der nach einer Version an der Zittenfelder Quelle tief im waldigen Tal soll erschlagen worden sein, in die Bilderwelt der Kindheit. Die Heunesäulen unterhalb von Mainbullau datieren, so wenigstens wurde mir damals erzählt, auf die
Völkerwanderung zurück, nach den Hunnen benannt. Das wäre schöner, als wenn sie aus früherer namenloser Zeit stammten. Die Fähre über den Main, die man benutzen muß, wenn man hinauf will aufs Kloster Engelberg, hat ihren besonderen Ausdruck daran, daß sie, archaisches Fahrzeug, nicht die Spur des willentlich Bewahrten von Trachtenverein und historischem Denkmal trägt. Keine einfachere und nüchternere Möglichkeit, ans andere Ufer zu gelangen, als das Fahrzeug, von dem Hagen den Kaplan in die Donau warf, der als einziger vom Nibelungenzug gerettet wurde. Die Schönheit des Zweckmäßigen hat rückwirkende Kraft. Die Laute der Fähre über dem Wasser, denen man schweigend nachhorcht, sind so beredt, weil sie vor Jahrtausenden nicht anders waren. Tatsächlich kam ich mit der Sphäre Richard Wagners in Amorbach in Berührung. Dort hatte, in einem Anbau an den Konvent, der Maler Max Rossmann sein Atelier; oft waren wir auf der Terrasse nachmittags bei ihm zum Kaffee. Rossmann hatte Dekorationen für Bayreuth gefertigt. Der eigentliche Wiederentdecker von Amorbach, brachte er Sänger des Festspielensembles dorthin. Etwas von dem üppigen Lebensstil mit Kaviar und Champagner teilte sich der Post mit, deren Küche und Keller übertrafen, was man von einem ländlichen Gasthof hätte erwarten dürfen. An einen der Sänger erinnere ich mich genau. Obwohl ich nicht älter als zehn Jahre kann gewesen sein, ließ er sich gern in Gespräche mit mir ein, als er meine Passion für Musik und Theater bemerkte. Unverdrossen berichtete er dem Knirps von seinen Triumphen, zumal dem in der Rolle des Amfortas; die erste Silbe sprach er eigentümlich gedehnt aus, er muß wohl ein Holländer gewesen sein. Mit ein und demselben Schlag fühlte ich mich aufgenommen in die Welt der Erwachsenen und in die geträumte, noch nicht ahnend, wie unversöhnlich beide sind. Auf jene Tage geht zurück, daß ich die Meistersinger-Takte »Dem Vogel, der da sang, dem war der Schnabel hold gewachsen«, Rossmanns Lieblingsstelle, als Amorbach empfinde. Das Städtchen ist nur achtzig Kilometer von Frankfurt entfernt, aber in Franken. – Ein Bild Rossmanns, die ›Konfurter Mühle‹, unvollendet und auf bedeutende Weise zerrüttet, riß mich hin. Meine Mutter schenkte es mir, ehe ich Deutschland
verließ. Es hat mich nach Amerika und zurück begleitet. Rossmanns Sohn habe ich in Amorbach wieder getroffen. Trieb ich halbwüchsig allein durch das Städtchen im tiefen Abend, so hörte ich auf dem Kopfsteinpflaster die eigenen Schritte nachhallen. Das Geräusch erkannte ich erst wieder, als ich, 1949 aus der amerikanischen Emigration zurückgekehrt, um zwei Uhr durchs nächtliche Paris vom Quai Voltaire in mein Hotel ging. Der Unterschied zwischen Amorbach und Paris ist geringer als der zwischen Paris und New York. Jene Amorbacher Dämmerung jedoch, da ich als kleines Kind von einer Bank auf der halben Höhe des Wolkmann zu sehen glaubte, wie gleichzeitig in allen Häusern das soeben eingeführte elektrische Licht aufblitzte, nahm jeden Schock vorweg, der nachmals dem Vertriebenen in Amerika widerfuhr. So gut hatte mein Städtchen mich behütet, daß es mich noch auf das ihm gänzlich Entgegengesetzte vorbereitete. Kommt man nach Amerika, so sehen alle Orte gleich aus. Die Standardisierung, Produkt von Technik und Monopol, beängstigt. Man meint, die qualitativen Differenzen wären derart real aus dem Leben verschwunden, wie sie fortschreitende Rationalität in der Methode ausmerzt. Ist man dann wieder in Europa, so ähneln plötzlich auch hier die Ortschaften einander, deren jede in der Kindheit unvergleichlich schien; sei es durch den Kontrast zu Amerika, der alles andere unter sich plattwalzt, sei es auch, weil, was einmal Stil war, schon etwas von jenem normierenden Zwang besaß, den man arglos erst der Industrie, zumal der kulturellen, zuschreibt. Auch Amorbach, Miltenberg, Wertheim sind davon nicht ausgenommen, wäre es auch nur durch den Grundton roten Sandsteins, der Formation der Gegend, die den Häusern sich mitteilt. Dennoch läßt einzig an einem bestimmten Ort die Erfahrung des Glücks sich machen, die des Unaustauschbaren, selbst wenn nachträglich sich erweist, daß es nicht einzig war. Zu Unrecht und zu Recht ist mir Amorbach das Urbild aller Städtchen geblieben, die anderen nichts als seine Imitation. Zwischen Ottorfszell und Ernsttal verlief die bayerische und badische Grenze. Sie war an der Landstraße durch Pfähle markiert, die stattliche Wappen trugen und in den Landesfarben spiralig
bemalt waren, weiß-blau der eine, der andere, wenn mein Gedächtnis mich nicht trügt, rot-gelb. Reichlicher Zwischenraum zwischen beiden. Darin hielt ich mit Vorliebe mich auf, unter dem Vorwand, an den ich keineswegs glaubte, jener Raum gehöre keinem der beiden Staaten, sei frei, und ich könne dort nach Belieben die eigene Herrschaft errichten. Mit der war es mir nicht ernst, mein Vergnügen darum aber nicht geringer. In Wahrheit galt es wohl den bunten Landesfarben, deren Beschränkendem ich zugleich mich entronnen fühlte. Ähnlich empfand ich auf Ausstellungen wie der ›Ila‹ im Anblick der zahllosen Wimpel, die da einverstanden nebeneinander flatterten. Das Gefühl der Internationale lag mir von Haus aus nahe, auch durch den Gästekreis meiner Eltern, mit Namen wie Firino und Sidney Clifton Hall. Jene Internationale war kein Einheitsstaat. Ihr Friede versprach sich durch das festliche Ensemble von Verschiedenem, farbig gleich den Flaggen und den unschuldigen Grenzpfählen, die, wie ich staunend entdeckte, so gar keinen Wechsel der Landschaft bewirkten. Das Land aber, das sie umschlossen und das ich, spielend mit mir selbst, okkupierte, war ein Niemandsland. Später, im Krieg, tauchte das Wort auf für den verwüsteten Raum vor den beiden Fronten. Es ist aber die getreue Übersetzung des griechischen – Aristophanischen –, das ich damals desto besser verstand, je weniger ich es kannte, Utopie. Besser als mit der Kleinbahn nach Miltenberg zu fahren, die auch ihre Meriten hatte, war es, dorthin von Amorbach auf einem weiten Höhenweg zu gehen. Er führt über Reuenthal, ein sanftes Taldorf abseits vom Gotthard, angeblich die Heimat Neidhards, und über das stets noch einsame Monbrunn, in geschwungenem Bogen durch den Wald, der sich zu verdichten scheint. In seiner Tiefe birgt sich allerhand Gemäuer, schließlich ein Tor, das man der Kälte der waldigen Örtlichkeit wegen Schnatterloch nennt. Durchschreitet man es, so ist man plötzlich, ruckhaft ohne Übergang wie in Träumen, auf dem schönsten mittelalterlichen Marktplatz. Im Frühjahr 1926 saßen Hermann Grab und ich im Löwensteinschen Park bei Klein-Heubach. Mein Freund stand damals unter dem Einfluß Max Schelers und sprach enthusiastisch vom Feudalismus, der Schloß und Anlagen derart aufeinander abzustimmen
vermochte. Im gleichen Augenblick erschien eine Aufsichtsperson, die uns rauh verscheuchte: »Die Bänke sind für die fürstlichen Herrschaften reserviert.« Als Schuljunge stellte ich mir unter den Worten sittlich und keusch etwas besonders Unanständiges vor, darum wohl, weil sie meist bei Anlässen wie Sittlichkeitsverbrechen gebraucht wurden, weniger zum Lob, als wo einer dagegen frevelte. Jedenfalls hatten sie, obzwar als deren Gegenteil, etwas mit der verbotenen Sphäre zu tun. Amorbach trug zu dem Mißverständnis eine kräftige Assoziation bei. Der bärtige und würdevolle Oberhofgärtner hieß Keusch. Er hatte eine Tochter, die mir abstoßend häßlich vorkam; es verbreitete sich aber, er hätte sich an ihr vergangen. Wie in der Oper bedurfte es der Intervention des gütigen Fürsten, um den Skandal niederzuschlagen. Ich war schon recht erwachsen, als ich die Wahrheit meines Irrtums entdeckte, daß keusch und sittlich unanständige Begriffe sind. Neben dem Pianino mit dem Mozart-Medaillon hing im Gastzimmer der Post eine Gitarre. Ihr fehlten ein oder zwei Saiten, die restlichen waren sehr verstimmt. Ich konnte nicht Gitarre spielen, aber riß mit einem Griff alle Saiten zugleich an und ließ sie vibrieren, berauscht von der dunklen Dissonanz, wohl der ersten so vieltönigen, an die ich geriet, Jahre ehe ich eine Note von Schönberg kannte. Ich fühlte den Wunsch: so müßte man komponieren, wie diese Gitarre klingt. Als ich später den Vers von Trakl »Traurige Gitarren rinnen« las, hörte ich keine andere als die beschädigte von Amorbach. Nicht selten kam in die Post, vormittags um elf, ein Mann, halb Bauer, halb Händler, aus Hambrunn, einem jener benachbarten Odenwalddörfer, die man oben auf den abgeflachten Höhen gebaut hat. Herkert, wie er sein Schöppchen trank, mit Bärtchen und wilder Kleidung, schien mir versprengt aus dem Bauernkrieg, von dem ich aus der Lebensbeschreibung Gottfrieds von Berlichingen wußte, die ich als Reclambändchen im Bücherautomaten des Miltenberger Bahnhofs gezogen hatte. »Miltenberg brennt.« Was alles in der Gegend, an Leuten und Dingen, aus dem sechzehnten Jahrhundert noch vorhanden war, ließ mich gar nicht zum Gedanken kommen, wie lange es schon zurücklag; räumliche Nähe wurde zur zeitlichen.
In seinem Schultersack aber hatte Herkert frische Nüsse in ihren grünen äußeren Schalen. Die wurden gekauft und für mich geschält. Ihren Geschmack behielten sie das Leben hindurch, als hätten die aufständischen Bauernführer von 1525 sie mir aus Sympathie zugedacht, oder um meine Angst vor den gefährlichen Zeitläuften zu beschwichtigen. Auf der Rossmannschen Terrasse vernahm ich eines Nachmittags, vom Platz vor der Schloßmühle her, wüst grölenden Gesang. Ich erblickte drei, vier ganz junge Burschen, unziemlich verkleidet, es sollte malerisch sein. Mir wurde erklärt, das seien Wandervögel, ohne daß ich mir darunter etwas Rechtes hätte vorstellen können. Mehr noch als die greulichen, obendrein falsch auf Klampfen begleiteten Volkslieder erschreckte mich der Anblick. Keineswegs entging mir, daß das nicht Arme waren wie die, welche in Frankfurt auf den Bänken der Mainanlagen zu nächtigen pflegten, sondern, nach kindlichem Sprachgebrauch, bessere Leute. Keine Not, vielmehr eine mir unverständliche Absicht veranlaßte ihren Aufzug. Er erfüllte mich mit der Angst, es ebenso halten und eines Tages schutzlos lärmend durch die Wälder stampfen zu müssen: die Drohung des Deklassiertseins in der Jugendbewegung, längst ehe in dieser die deklassierten Bürger sich verbanden und auf große Fahrt zogen. Läse man es in einem Roman, es wäre unerträglich wie von Schriftstellern, die das Kauzige als unverwüstlichen Humor aufwärmen. Aber ich erfuhr es aus erster Hand; ein Stück der anachronistischen Mitgift, die ich von Amorbach empfing. Wenn der Rentamtmann zu seinem Stammtisch ging, pflegte ihn, sicherlich gegen seinen Willen, seine Frau zu begleiten. Sooft er einen über den Durst trank und für ihren Geschmack allzu lebhaft schwadronierte, ermahnte sie ihn mit den Worten: Siebenlist, beherrsch dich! – Nicht minder verbürgt, wenngleich mehr der Sphäre von Witzblättern um 1910 zugehörig, ist ein Ereignis aus Ernsttal, dem Leiningenschen Besitz. Dort erschien eine Respektsperson, die Gattin des Eisenbahnpräsidenten Stapf, in knallrotem Sommerkleid. Die gezähmte Wildsau von Ernsttal vergaß ihre Zahmheit, nahm die laut schreiende Dame auf den Rücken und raste davon. Hätte ich ein Leitbild, so wäre es jenes
Tier. Wildschweinfütterung bei Breitenbuch, ganz einsam im höchsten Odenwald, nicht weit vom Hainhaus mit den steinernen Sitzen der Feme, von der ich nicht bezweifelte, es sei die gleiche, welche Adelheid von Weislingen verurteilte, eine meiner frühesten Geliebten aus Büchern. Ich meinte, noch vor wenigen Jahren, die Wildschweine, viele Hunderte, würden um ihrer selbst willen gefüttert. So hatte ich in der Kindheit unter den Anständen, die man mir in den Amorbacher Wäldern zeigte, eine Einrichtung mir vorgestellt, die dem Wild zugute kommen sollte, das da, wenn es gar zu heftig gejagt wurde oder fror, über die Leitern hinaufklettere, Schutz und Zuflucht finde. Das wäre doch Anstand gewesen, der dem Wild gegenüber. Wie ich lernen mußte, daß jene luftigen Baumhütten Jägern dienen, die auf dem Anstand lauern, um das Wild zu schießen, erklärte mir ein Kundiger, die Fütterung in Breitenbuch fände nicht den friedlichen Sauen zuliebe statt, nicht einmal bloß, um die Äcker vor angeblichen Verwüstungen zu behüten, sondern vorweg, um den Jägern ihre Beute am Leben zu erhalten, bis sie ihnen vor die Büchse liefe. Solche bedrohliche Vernunft indessen konnte keineswegs den mächtigen Keiler beirren, der aus dem Farnkraut sich erhob und auf uns zukam, ungemütlich wie einst der Wildschweinduft im Forst von Preunschen und Mörschenhardt, bis wir bemerkten, daß er, offenbar aus der weiteren Umgegend erst nach der allgemeinen Fütterung eingetroffen, von uns eine individuelle erwartete. Vorweg gab er Zeichen des Dankes von sich und trottete enttäuscht davon, als wir nichts für ihn hatten. – Inschrift am Gehege: »Wir bitten um Sauberkeit und Ordnung.« Wer wen?
Über Tradition
1 Tradition kommt von tradere, weitergeben. Gedacht ist an den Generationszusammenhang, an das, was von Glied zu Glied sich vererbt; wohl auch an handwerkliche Überlieferung. Im Bild des Weitergebens wird leibhafte Nähe, Unmittelbarkeit ausgedrückt, eine Hand soll es von der anderen empfangen. Solche Unmittelbarkeit ist die mehr oder minder naturwüchsiger Verhältnisse etwa familialer Art. Die Kategorie Tradition ist wesentlich feudal, so wie Sombart die feudale Wirtschaft traditionalistisch nannte. Tradition steht im Widerspruch zur Rationalität, obwohl diese in jener sich bildete. Nicht Bewußtsein ist ihr Medium, sondern vorgegebene, unreflektierte Verbindlichkeit sozialer Formen, die Gegenwart des Vergangenen; das hat unwillkürlich auf Geistiges sich übertragen. Mit bürgerlicher Gesellschaft ist Tradition strengen Sinnes unvereinbar. Das Prinzip des Tauschs von Äquivalenten hat, als das der Leistung, das der Familie zwar nicht abgeschafft. Doch es hat die Familie sich untergeordnet. Die in kurzen Abständen sich wiederholenden Inflationen weisen aus, wie sinnfällig anachronistisch die Idee des Erbes wurde, und das geistige war nicht krisenfester. Jene Unmittelbarkeit des Von-Hand-zu-Hand ist in den sprachlichen Ausdrücken für Tradition bloßer Rückstand im gesellschaftlichen Getriebe universaler Vermittlung, in dem der Warencharakter der Dinge herrscht. Längst hat die Technik die Hand, die sie schuf und die sich in ihr verlängert, vergessen lassen. Angesichts der technischen Produktionsweisen ist Handwerk so wenig mehr substantiell, wie etwa der Begriff der handwerklichen Lehre noch gilt, die für Tradition, und gerade auch die ästhetische, sorgte. In einem radikal bürgerlichen Land wie Amerika wurde daraus allseitig die Konsequenz gezogen. Tradition sei verdächtig oder Importartikel mit vermeintlichem Seltenheitswert. Die Abwesenheit traditioneller Momente drüben, und der Erfahrungen, die mit ihnen verbunden sind, verhindert ein Bewußtsein zeitlicher Kontinuität. Was nicht heut und hier als gesellschaftlich nützlich auf dem Markt
sich ausweist, gilt nicht und wird vergessen. Noch wenn einer stirbt, ist es so gut, als wäre er nie gewesen, und er so absolut ersetzlich wie alles Funktionale; unersetzlich ist nur das Funktionslose. Daher die verzweifelten und archaistischen Einbalsamierungsrituale. Sie möchten den Verlust des Zeitbewußtseins magisch bannen, der doch im gesellschaftlichen Verhältnis selber gründet. In all dem ist Europa nicht Amerika voran, das dort Tradition lernen könnte, sondern folgt Amerika nach, und dazu bedarf es keineswegs der Nachahmung. Die vielfach in Deutschland bemerkte Krise jeglichen historischen Bewußtseins, bis zur blanken Unkenntnis des noch nicht einmal allzu lang Vergangenen, ist einzig Symptom eines tragenden Sachverhalts. Offenbar zerfällt für die Menschen der Zusammenhang der Zeit. Daß diese philosophisch so beliebt ward, bezeugt, daß Zeit aus dem Geist der Lebendigen sich verflüchtigt; der italienische Philosoph Enrico Castelli hat das in einem Buch behandelt. Auf den Traditionsverlust reagiert die gegenwärtige Kunst insgesamt. Sie hat die traditional verbürgte Selbstverständlichkeit ihres Verhältnisses zum Objekt, zum Material, und die ihrer Verfahrungsweisen verloren und muß diese in sich reflektieren. Das Ausgehöhlte, Fiktive der traditionalen Momente wird gefühlt, und die bedeutenden Künstler schlagen es wie Gips mit dem Hammer weg. Was immer als Intention der Sachlichkeit sich bezeichnen läßt, hat den traditionsfeindlichen Impuls. Darüber zu klagen, Tradition als heilsam zu empfehlen, ist ohnmächtig und widerspricht deren eigenem Wesen. Zweckrationalität, die Erwägung, wie gut es in einer angeblich oder wahrhaft entformten Welt wäre, Tradition zu besitzen, kann nicht verordnen, was von Zweckrationalität kassiert ist.
2 Real verlorene Tradition ist nicht ästhetisch zu surrogieren. Eben das tut die bürgerliche Gesellschaft. Auch die Gründe dafür sind real. Je weniger ihr Prinzip duldet, was ihm nicht gleicht, desto eifriger beruft es sich auf Tradition und zitiert, was dann, von außen, als »Wert« erscheint. Dazu ist die bürgerliche Gesellschaft gezwungen. Denn die Vernunft, die in ihrem Produktions- und Reproduktionsprozeß waltet und vor deren Gericht sie alles bloß Gewordene und Daseiende ruft, ist nicht die volle. Der selbst durchaus bürgerliche Max Weber definierte sie als eine im Verhältnis von Zwecken und Mitteln, nicht in den Zwecken an sich; die überantwortete er der subjektiven, irrationalen Entscheidung. Das Ganze bleibt, in der Verfügung Weniger über die Produktionsmittel und in den unerbittlich davon verursachten Konflikten, so unvernünftig, schicksalhaft und bedrohlich wie von altersher. Je rationaler sich das Ganze ineinanderfügt und schließt, desto furchtbarer wächst seine Gewalt über die Lebendigen an samt der Unfähigkeit von deren Vernunft, es zu ändern. Will aber das Bestehende in solcher Irrationalität rational sich rechtfertigen, so muß es Sukkurs suchen bei eben dem Irrationalen, das es ausrottet, bei der Tradition, die doch, ein Unwillkürliches, dem Zugriff sich entzieht, falsch wird durch den Appell. Die Gesellschaft appliziert sie planvoll als Kitt, in der Kunst hält sie her als verordneter Trost, der die Menschen über ihre Atomisierung auch in der Zeit beruhigen soll. Seit den Anfängen der bürgerlichen Periode haben die Angehörigen des Dritten Standes gefühlt, daß ihrem Fortschritt und ihrer Vernunft, die virtuell alle qualitativen Differenzen des Lebendigen ausmerzt, etwas fehlt. Ihre Dichter, die mit dem Hauptstrom schwammen, haben über den prix du progrès gespottet, von Molières Komödie ›Le Bourgeois Gentilhomme‹ bis zu Gottfried Kellers Familie Litumlei, die sich synthetische Ahnenbilder zulegt. All die Literatur, welche den Snobismus anprangert, der doch einer Gesellschaftsform immanent ist, in der die formale Gleichheit der inhaltlichen Ungleichheit und der Herrschaft dient, verdeckt die Wunde, in die sie Salz streut. Schließlich verwandelt sich die vom bürgerlichen Prinzip abgetötete
und manipulierte Tradition in Giftstoff. Auch genuin traditionale Momente, bedeutende Kunstwerke der Vergangenheit arten in dem Augenblick, in dem das Bewußtsein sie als Reliquien anbetet, in Bestandstücke einer Ideologie aus, die am Vergangenen sich labt, damit am Gegenwärtigen nichts sich ändere, es sei denn durch ansteigende Gebundenheit und Verhärtung. Wer Vergangenes liebt und, um nicht zu verarmen, solche Liebe nicht sich austreiben läßt, exponiert sich sogleich dem perfid begeisterten Mißverständnis, er meine es nicht so böse und lasse auch über die Gegenwart mit sich reden.
3 Die falsche Tradition, die fast gleichzeitig mit der Konsolidierung der bürgerlichen Gesellschaft aufkam, wühlt in falschem Reichtum. Er stand der alten, erst recht der neuen Romantik lockend vor Augen. Auch der Begriff der Weltliteratur, der gewiß von der Enge der nationalen befreite, verleitete von Anbeginn dazu. Falsch ist der Reichtum darum, weil er, im bürgerlichen Geist des Disponierens über Besitz, verwertet wurde, als stünde dem Künstler alles zu Gebote, was je an künstlerischen Stoffen und Formen hoch und teuer war, nachdem einmal die Historie seiner sich versicherte. Gerade weil keine Tradition dem Künstler mehr substantiell, verbindlich ist, falle eine jegliche ihm kampflos als Beute zu. Hegel hat die neuere Kunst, die er die romantische nannte, in diesem Sinn bestimmt; Goethe war nicht spröde dagegen, erst die Allergie gegen Tradition heute ist es. Während scheinbar dem autonom gewordenen Künstler alles gleich offen steht, schlagen ihm ausgegrabene Schätze keineswegs zum Guten an, wie es zuletzt noch, bereits gebrochen, die neoklassizistischen Richtungen, in der Literatur etwa der spätere Gide und Cocteau, verhießen. Macht er davon Gebrauch, so verfertigt er Kunstgewerbe, erborgt sich aus Bildung, was seinem eigenen Stand widerspricht, Leerformen, die nicht sich füllen lassen: denn keine authentische Kunst hat je ihre Form gefüllt. Der Künstler nach dem Zerfall der Tradition erfährt diese vielmehr an dem Widerstand, den das Traditionale ihm entgegensetzt, wo immer er seiner sich bemächtigen will. Was in den verschiedensten künstlerischen Medien heute Reduktion heißt, gehorcht der Erfahrung, nichts mehr ließe sich verwenden als das von der Gestalt jetzt und hier Geforderte. Die Beschleunigung im Wechsel ästhetischer Programme und Richtungen, die der Philister als Modeunwesen begrinst, rührt her von dem unablässig sich steigernden Zwang zum Refus, den Valéry als erster notierte. Das Verhältnis zur Tradition setzt sich um in einen Kanon des Verbotenen. Er saugt, mit anwachsendem selbstkritischen Bewußtsein, immer mehr in sich hinein, auch scheinbar Ewiges, Normen, die, direkt oder indirekt der Antike entlehnt, im bürgerlichen Zeitalter wider die Auflösung der traditionalen
Momente mobilisiert wurden.
4 Während jedoch subjektiv Tradition zerrüttet ist oder ideologisch verdorben, hat objektiv die Geschichte weiter Macht über alles, was ist und worin sie einsickerte. Daß die Welt aus bloßen Gegebenheiten, ohne die Tiefendimension des Gewordenen, sich zusammenaddierte, das positivistische Dogma, das von ästhetischer Sachlichkeit zu unterscheiden mitunter schwerfällt, ist so illusionär wie die autoritätsgläubige Berufung auf Tradition. Was sich geschichtslos, reiner Anfang dünkt, ist erst recht Beute der Geschichte, bewußtlos und darum verhängnisvoll; an den archaisierenden ontologischen Richtungen der Philosophie ist das mittlerweile dargetan worden. Der Schriftsteller, der des scheinhaften Moments an der Tradition sich erwehrt, und der sich selbst in keiner mehr empfindet, ist doch in sie eingespannt, vorab durch die Sprache. Die schriftstellerische ist kein Agglomerat von Spielmarken, sondern die Valeurs eines jeden Worts und einer jeden Wortverbindung empfangen objektiv ihren Ausdruck aus ihrer Geschichte, und in dieser steckt der geschichtliche Prozeß überhaupt. Das Vergessen, von dem einmal Brecht das Rettende sich versprach, ist unterdessen ins mechanisch Leere übergegangen; die Armut des reinen Jetzt und Hier hat sich als bloß abstrakte Verneinung des falschen Reichtums herausgestellt, vielfach als Apotheose des bürgerlichen Puritanismus. Der jeglicher Erinnerungsspur entäußerte Augenblick ist ganz hinfällig in dem Wahn, gesellschaftlich Vermitteltes sei natürliche Form oder Naturmaterial. Was in den Verfahrungsweisen das geschichtlich einmal Errungene opfert, regrediert. Verzicht hat seinen Wahrheitsgehalt nur, wo er als verzweifelter sich gestaltet, nicht wo er stur triumphiert. Das Glück der Tradition, das Reaktionäre preisen, ist nicht nur die Ideologie, die es ist. Wer leidet unter der Allherrschaft des bloß Seienden und Sehnsucht hat nach dem, was noch nie war, der mag mehr Wahlverwandtschaft zu einem süddeutschen Marktplatz spüren als zu einem Staudamm, obwohl er weiß, wie sehr das Fachwerk zur Konservierung von Muff herhält, dem Komplement technifizierten Unheils. Wie die in sich verbissene Tradition ist das absolut Traditionslose naiv: ohne
Ahnung von dem, was an Vergangenem in der vermeintlich reinen, vom Staub des Zerfallenen ungetrübten Beziehung zu den Sachen steckt. Inhuman aber ist das Vergessen, weil das akkumulierte Leiden vergessen wird; denn die geschichtliche Spur an den Dingen, Worten, Farben und Tönen ist immer die vergangenen Leidens. Darum stellt Tradition heute vor einen unauflöslichen Widerspruch. Keine ist gegenwärtig und zu beschwören; ist aber eine jegliche ausgelöscht, so beginnt der Einmarsch in die Unmenschlichkeit.
5 Diese Antinomie schreibt die mögliche Stellung des Bewußtseins zur Tradition vor. Kants Satz, der kritische Weg sei allein noch offen, ist einer von jenen verbürgtesten, deren Wahrheitsgehalt unvergleichlich viel größer ist als das an Ort und Stelle Gemeinte. Er trifft nicht nur die besondere Tradition, von der Kant sich lossagte, die der rationalistischen Schule, sondern Tradition insgesamt. Sie nicht vergessen und ihr doch nicht sich anpassen heißt, sie mit dem einmal erreichten Stand des Bewußtseins, dem fortgeschrittensten, konfrontieren und fragen, was trägt und was nicht. Es gibt keinen ewigen Vorrat, kein auch nur in der Idee noch denkbares deutsches Lesebuch. Wohl aber eine Beziehung zur Vergangenheit, die nicht konserviert, doch manchem durch Unbestechlichkeit zum Überleben verhilft. Bedeutende Traditionalisten der vergangenen Generation wie die Georgeschule und wie Hofmannsthal, Borchardt und Schröder haben, bei aller restaurativen Absicht, davon etwas gefühlt, wofern sie dem Nüchternen, Gedrungenen den Vorzug gaben vor dem Idealischen. Sie schon klopften die Texte ab nach dem, was hohl klingt und was nicht. Sie haben den Übergang von Tradition ans Unscheinbare, nicht sich selbst Setzende registriert, liebten mehr Gebilde, in denen der Wahrheitsgehalt tief dem Stoffgehalt eingesenkt ward, als solche, in denen er als Ideologie darüber schwebt und deshalb keiner ist. An nichts Traditionales ist besser anzuknüpfen als daran, den Zug der in Deutschland verratenen und geschmähten Aufklärung, eine unterirdische Tradition des Antitraditionellen. Aber auch der integre Wille zur Wiederherstellung hatte seinen Zoll zu entrichten. Seine Positivität wurde einer ganzen gehobenen Literatur zum Vorwand. Das Körnige, Gediegene von Stifter-Imitatoren und Hebel-Auslegern ist heute so billig wie die hochtrabende Geste. In die allgemeine Manipulation sanktionierter Kulturgüter ist das vermeintlich Unverschandelte unterdessen einverleibt; auch bedeutende ältere Gebilde wurden durch Rettung zerstört. Sie weigern sich der Restauration dessen, was sie einmal waren. Objektiv, nicht erst im reflektierenden Bewußtsein lösen kraft ihrer eigenen Dynamik wechselnde Schichten von ihnen sich ab. Das
jedoch stiftet eine Tradition, der allein noch zu folgen wäre. Ihr Kriterium ist correspondance. Sie wirft, als neu Hervortretendes, Licht aufs Gegenwärtige und empfängt vom Gegenwärtigen ihr Licht. Solche correspondance ist keine der Einfühlung und unmittelbaren Verwandtschaft, sondern bedarf der Distanz. Schlechter Traditionalismus scheidet vom Wahrheitsmoment der Tradition sich dadurch, daß er Distanzen herabsetzt, frevelnd nach Unwiederbringlichem greift, während es beredt wird allein im Bewußtsein der Unwiederbringlichkeit. Ein Modell genuiner Beziehung durch Distanz ist Becketts Bewunderung der ›Effi Briest‹. Es lehrt, wie wenig die unter dem Begriff der correspondance zu denkende Tradition das Traditionelle als Vorbild duldet.
6 Fremd ist dem kritischen Verhältnis zur Tradition der Gestus des »Das interessiert uns nicht mehr«, nicht anders als die naseweise Subsumtion von Gegenwärtigem unter allzu weite geschichtliche Begriffe wie den des Manierismus, insgeheim gehorsam der Maxime »Alles schon dagewesen«. Solche Verhaltensweisen nivellieren. Sie frönen dem Aberglauben an ungebrochene historische Kontinuität und, in eins damit, ans historische Verdikt; sind konformistisch. Wo die Idiosynkrasie gegen Vergangenes sich automatisiert hat, wie Ibsen oder Wedekind gegenüber, sträubt sie sich gegen das in solchen Autoren, was unerledigt blieb, geschichtlich nicht sich entfaltete oder, wie die Emanzipation der Frau, bloß brüchig. In derlei Idiosynkrasien stößt man auf das wahrhafte Thema der Besinnung auf Tradition, das am Weg liegen Gebliebene, Vernachlässigte, Besiegte, das unter dem Namen des Veraltens sich zusammenfaßt. Dort sucht das Lebendige der Tradition Zuflucht, nicht im Bestand von Werken, die da der Zeit trotzen sollen. Dem souveränen Überblick des Historismus, in dem der Aberglaube ans Unvergängliche und die eifrige Angst vorm Altmodischen fatal sich verschränken, entgeht es. Nach dem Lebendigen der Werke ist in ihrem Inneren zu suchen; nach Schichten, die in früheren Phasen verdeckt waren und erst sich manifestieren, wenn andere absterben und abfallen. Daß Wedekinds ›Frühlings Erwachen‹ Ephemeres, das Pult von Gymnasiasten und die finsteren Abtritte von Wohnungen des neunzehnten Jahrhunderts, das Unsägliche des Flusses vor der Stadt in der Dämmerung, den Tee, den die Mutter den Kindern auf dem Tablett hereinbringt, das Plappern der Backfische von der Verlobung mit Forstreferendar Pfälle zum Bild eines Unvergänglichen, von je Gewesenen bereitete, offenbart sich erst, nachdem die Wünsche des Stücks nach rechtzeitiger Aufklärung und Toleranz für Halbwüchsige längst erfüllt und gleichgültig geworden sind, ohne die doch jene Bilder nie sich formiert hätten. Gegen das Verdikt des Veralteten steht die Einsicht in den Gehalt der Sache, der sie erneuert. Rechnung trägt dem nur ein Verhalten, das Tradition ins Bewußtsein hebt, ohne ihr sich zu beugen. Sie ist ebenso vor der
Furie des Verschwindens zu behüten, wie ihrer nicht minder mythischen Autorität zu entreißen.
7 Das kritische Verhältnis zur Tradition als Medium ihrer Bewahrung betrifft keineswegs bloß das Vergangene, sondern ebenso die der Qualität nach gegenwärtige Produktion. Soweit sie authentisch ist, beginnt sie nicht frisch-fröhlich von vorn, übertrumpft nicht eine ersonnene Verfahrungsweise durch die nächste. Vielmehr ist sie bestimmte Negation. Die Bühnenwerke Becketts bilden in all ihren Perspektiven die traditionelle dramatische Form parodisch um. Die furchtbaren Spiele, in denen mit tierisch-komischem Ernst Gummigewichte gestemmt werden und an deren Schluß alles bleibt, wie es von Anfang an war, replizieren auf die Vorstellungen von steigender und fallender Handlung, Peripetie, Katastrophe, Entwicklung der Charaktere. Solche Kategorien sind scheinhafter Überbau über dem geworden, was wirklich Mitleid und Furcht erregt, dem Immergleichen. Der Zusammensturz jenes Überbaus in seiner leibhaft gegenwärtigen Kritik gibt Stoff und Gehalt einer Dramatik ab, die nicht wissen will, was es ist, was sie sagt. Insofern ist der sei's auch clichéhafte Begriff Antidrama nicht schlecht gewählt, auch nicht der des Antihelden. Die Zentralfiguren bei Beckett sind nur noch schlotternde Vogelscheuchen des Subjekts, das einmal die Szene beherrschte. Die Clownerie, die sie betreiben, hält Gericht über das Ideal der selbstherrlichen Persönlichkeit, die bei Beckett verdientermaßen zugrunde geht. Das Wort absurd, das für seine Dramatik und die ihr verpflichtete sich eingebürgert hat, ist gewiß inferior. Dem konventionellen gesunden Menschenverstand, dem hier der Prozeß gemacht wird, konzediert es allzuviel; tut so, als sei das Absurde die Gesinnung solcher Kunst, nicht das objektive Unwesen, das sie entblößt. Einverstandenes Bewußtsein versucht, noch das ihm Unversöhnliche zu verschlucken. Dennoch ist selbst die peinliche Parole nicht durchaus falsch. Sie designiert die fortgeschrittene Literatur als konkret durchgeführte Kritik des traditionellen Begriffs von Sinn, dem des Weltlaufs, den bis dahin die sogenannte hohe Kunst, auch und gerade wo sie Tragik als ihr Gesetz erkor, bestätigte. Das affirmative Wesen der Tradition bricht zusammen. Tradition selbst behauptet durch ihre pure Existenz, daß im zeitlich aufeinander Folgenden Sinn sich erhalte, forterbe.
Soweit die neue Literatur zählt, rüttelt sie, analog übrigens zur Musik und Malerei, an der Ideologie des Sinns dessen, was in der Katastrophe dessen Schein so gründlich abwarf, daß der Zweifel daran auch den vergangenen in sich hineinreißt. Sie kündigt die Tradition und folgt ihr doch: Hamlets Frage nach Sein oder Nichtsein nimmt sie so buchstäblich, daß sie die Antwort Nichtsein sich zutraut, die in der Tradition so wenig ihren Ort hatte wie im Märchen der Sieg des Ungeheuers über den Prinzen. Derlei produktive Kritik bedarf nicht erst der philosophischen Reflexion. Sie wird geübt von den exakt reagierenden Nerven der Künstler und ihrer technischen Kontrolle. Beides ist gesättigt mit geschichtlicher Erfahrung. Jede von Becketts Reduktionen setzt die äußerste Fülle und Differenziertheit voraus, die er verweigert und die er in den Müllkästen, Sandhaufen und Urnen krepieren läßt, bis in die Sprachform und die beschädigten Witze hinein. Dem verwandt ist das Ungenügen der neuen Romanciers an der Fiktion jenes Guckkastens, in den sie hineinschauen und über den sie alles wissen. All das reibt sich an der Tradition, ärgert sich an ihr als an dem Ornament, der täuschenden Herstellung eines Sinns, der nicht ist. Ihm halten sie die Treue, indem sie es verschmähen, ihn vorzuspiegeln.
8 Nicht minder dialektisch als die Stellung der authentischen Gebilde zur Kritik ist die der Autoren. So wenig wie je muß ein Dichter Philosoph sein; so wenig wie je darf er es, wenn damit die Verwechslung des hineingepumpten Sinngehalts, für den mit Recht nur noch das grauslige Wort Aussage übrig ist, mit dem Wahrheitsgehalt der Sache gemeint wird. Leidenschaftlich wehrt Beckett jede Besinnung über den vermeintlichen Symbolgehalt seines Schaffens von sich ab: der Gehalt ist, daß kein Gehalt positiv vor Augen steht. Gleichwohl hat in der Stellung der Autoren zu dem, was sie tun, etwas Konstitutives sich geändert. Daß sie weder in Tradition mehr sich finden, noch im Vakuum operieren können, zerschlägt den mit Tradition so innig verwachsenen Begriff künstlerischer Naivetät. In der unumgänglichen Reflexion, was möglich, was nicht mehr möglich sei; in der hellen Einsicht in Techniken und Materialien und die Stimmigkeit ihres Verhältnisses konzentriert sich geschichtliches Bewußtsein. Es räumt radikal mit der Schlamperei auf, der Mahler die Tradition gleichsetzte. Aber im traditionsfeindlichen Bewußtsein des geschichtlich Fälligen überlebt auch die Tradition. Das Verhältnis des Künstlers zu seinem Werk ist ganz blind geworden und ganz durchsichtig in eins. Wer traditionell derart sich verhält, daß er spricht, wie er sich einbildet, daß der Schnabel ihm gewachsen sei, wird im Wahn der Unmittelbarkeit seiner Individualität erst recht schreiben, was nicht mehr geht. Damit jedoch triumphiert nicht der sentimentalisch reflektierende Künstler, dessen Typus das ästhetische Selbstverständnis seit Klassizismus und Romantik der Naivetät kontrastiert hatte. Er wird Gegenstand einer zweiten Reflexion, die ihm das sinnsetzende Recht, das auf die »Idee«, entzieht, welches der Idealismus ihm zugesprochen hatte. Insofern konvergiert das fortgeschrittene ästhetische Bewußtsein mit dem naiven, dessen begriffslose Anschauung keinen Sinn sich anmaßte und vielleicht darum zuzeiten ihn gewann. Aber auch auf diese Hoffnung ist kein Verlaß mehr. Dichtung errettet ihren Wahrheitsgehalt nur, wo sie in engstem Kontakt mit der Tradition diese von sich abstößt. Wer die Seligkeit, die sie in manchen ihrer Bilder stets noch verheißt, nicht
verraten will, die verschüttete Möglichkeit, die unter ihren Trümmern sich birgt, der muß von der Tradition sich abkehren, welche Möglichkeit und Sinn zur Lüge mißbraucht. Wiederzukehren vermag Tradition einzig in dem, was unerbittlich ihr sich versagt.
Im Jeu de Paume gekritzelt Richtet man einmal die Aufmerksamkeit, anstatt auf Wahrnehmungsform und Malweise der französischen Impressionisten, auf ihre Gegenstände, so drängt sich auf, daß ihre Landschaften mit allen möglichen Signa der Moderne durchsetzt sind, zumal mit Momenten der Technik. Dadurch unterscheiden sie sich ausdrücklich von der deutschen Nachfolge. Will diese etwa dem Spiel von Sonnenreflexen in einem Waldinnern ohne Störung der Natur sich überlassen, so ist die Störung gerade das Lebenselement der großen französischen Maler. Die Flüsse mit Eisenbahnbrücken, die sie bevorzugen, haben selber schon, vielleicht in Erinnerung an die römischen Aquädukte, eine Tendenz, wenn nicht den Kontrapunkt ihrer Umgebung abzugeben, so jedenfalls als alt zu erscheinen, wie wenn sie selber die Natur wären, der ihre Steine oft entstammen. Die Bilder aber wollen diese Verschmelzung des Entgegengesetzten von sich aus vollziehen: die Schocks absorbieren, die den Nerven von Artefakten angetan werden, die gegen den Leib und gegen die Augen der Menschen sich verselbständigt haben. Das Allbekannte der impressionistischen Verfahrungsweise: die Auflösung der gegenständlichen Welt in ihre perzeptiven Korrelate; der Versuch, sie ins Subjekt nach Hause zu bringen, enthüllt sich erst ganz in der Wahl der Objekte. Was der Erfahrung spottet, soll doch noch erfahren, das Entfremdete soll doch Nähe werden. Das ist der Impuls, an dem der Begriff der modernen Malerei eigentlich sich gebildet hat. Die bildliche Realisierung will noch das Entfremdete dem Lebendigen gleichmachen, dem Leben erretten. Die Neuerung war eminent konservativer Intention. Die Kraft, mit der diese bewußtlos in die Malweise sich umgesetzt hat, macht die Tiefe des Impressionismus aus. Jenes Moment sublimiert sich sogleich aus einem Stofflichen in ein rein Malerisches: Sisleys Faszination durch den Schnee meint wohl, daß dem Abgestorbenen der Natur, der winterlichen Decke, ihr optisches Leben abgezwungen wird wie den Eisendingen, deren es nicht mehr bedarf, die sogar Sisleys Augen als allzu groben Einbruch der Dingwelt in sein Farbkontinuum bereits verschmähen mochten. Daß bei allen die grauen Dinge ihre bunten Schatten
haben, ist nicht bloß, wofür man es nimmt, eine Eigentümlichkeit der Technik, sondern die sinnliche Erscheinung solcher Metamorphose. Und die kahlen Bäume Pissarros, die opponierenden Vertikalen, welche die Farbflächen durchschneiden, verwandeln schon die gegenständlichen Störungsfaktoren, um deren Bewältigung es den Impressionisten ging, in Formelemente. Erlaubt ist die Spekulation, der Übergang des Impressionismus in Konstruktion, und damit der konstruktive Aspekt der modernen Malerei im Gegensatz zum expressiven, sei in jener gegenständlichen Schicht entsprungen. Äpfel auf einem Stilleben von Manet, hart, konturiert, aus allem fließenden Lichterspiel herausgenommen, mahnen an Stilleben von Cézanne. So vertrackt ist es in der Kunst um den Fortschritt bestellt. Das Ältere kann das Neuere überholen. Dieser Akt des Überholens dürfte überhaupt das Überleben an Kunstwerken konstituieren: insgesamt wirkt Manet moderner, verfremdeter als die aufgelösteren, die Technik konsequenter vorwärts treibenden Hochimpressionisten. Ähnliches läßt sich später an Van Gogh beobachten. Gewisse Bilder von ihm sehen heute denen Hodlers ähnlich, mehr Jugendstil als Impressionismus; übrigens zeigt auch Monet, und keineswegs erst der späte, eine Jugendstilseite, vor allem in seinen großen Formaten, wie den ›Truthähnen‹. Bei Van Gogh dünkt manches mittlerweile mehr Effekt als peinture; Theaterdekoration zu unrealistischen Stücken mehr als selber unrealistisch: so die grellen Bühnenfarben der ›Eglise d'Auvers‹. Analoges drängte sich mir einmal musikalisch auf, in einem Darmstädter Konzert, in dem die ›Chansons madécasses‹ von Ravel, um ihrer schieren kompositorischen Qualität willen, bereits das in den Mitteln viel avanciertere Vierte Quartett von Bartók ausstachen. Eigentümlich setzt die Qualität gegen das verwendete Material sich durch; aber damit sie sich durchsetze, bedarf es eben der Evolution des Materials; hätte es keinen Bartók nach Ravel gegeben, so wäre an diesem nicht eine Qualität hervorgetreten, die Bartók überdauert. Am Überdauern könnte man gerade bei Van Gogh im Zeitalter seines Ruhms zweifeln. Aber kommt es denn wirklich in der Kunst zentral an auf das, was übrigbleibt? Ist danach zu fragen nicht selber bereits Symptom verdinglichten Bewußtseins, dem Eigentum nachgeahmt und unangemessen jener Idee des Momentanen, an der
jedes Kunstwerk sich nährt und die im Impressionismus fast thematisch ward? Ist nicht die wahre Unsterblichkeit von Kunst ein Augenblick, der der Explosion? Dann freilich hätte Van Gogh nicht seinesgleichen. Solche ausschweifenden Gedanken vertraute ich einem Freund an, der für Picasso zuständig ist wie kein anderer. Ich meinte, man sollte diesen nicht vorm Verdacht der Mode verteidigen, sondern die Mode in ihm selber, als metaphysisches Bestreben des Kunstwerks, à fond perdu an den Augenblick sich wegzuwerfen. Wie in Paris kein großes Kunstwerk aus neuerer Zeit sich findet, das nicht durch eine wie sehr auch versteckte Eleganz Mode an sich trüge, so, schlug ich vor, sollte Picasso sich einmal daran versuchen, Sachen zu machen, die nichts anderes wären als flüchtig drapierter Stoff. Aber mein Freund wehrte ab: Picasso, Proteus seiner selbst und aller Stoffe, wolle, daß seine Gebilde dauerten. Ist, am Ende, auch er ein Konservativer? Jeder weiß, der Impressionismus hat die Gegenstände in Farbflecke, Licht, Atmosphäre zerlegt und damit das Bild der Welt subjektiviert. Aber je weniger die Objekte, so wie sie sind, in ihrer Zufälligkeit, mehr über das Bild herrschen, um so freier werden sie zur Konstruktion: das Gemalte läßt ganz sich organisieren erst in dem Augenblick, in dem nichts ihm Äußerliches mehr darüber gebietet. Erst wenn die Sache vollends durchs Subjekt hindurchgegangen ist, vermag sie abermals Objektivität zu gewinnen. Die Versöhnung mit dem Objekt gelingt, wenn überhaupt, bloß durch dessen Negation. Daran denken alle Verteidigungen des Realismus vorbei. Ihre Ansicht von der Objektivität des Kunstwerks ist zu kurzatmig. Keine vorgegebene läßt sich mehr halten; keine andere ist zu hoffen als derart, daß das Subjekt, ganz auf sich zurückgeworfen und in äußerster Disziplin sich alles versagend, was es nicht zu füllen vermag, eben in solcher Versagung selber in sein Anderes übergeht. Die Funde Manets, die Entdeckung der ungemilderten Kontraste, die Emanzipation der Farbe von aller vorgedachten Harmonie – all das hängt zusammen mit dem Bösen. Die Schocks der Farbenkombination, die sich heute noch mit der ganzen Kraft ihres Zum ersten Male fühlen lassen, drücken den Schock aus, der um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts von den Gesichtern der Kokotten ausgehen mußte, die Manets Modelle waren: daß
Schönheit bestehen kann in der paradoxen Einheit des Unzerstörten und des Zerstörenden. Ineinandergemalt sind von Manet, bei dem die soziale Bewegung noch ungeschieden ist von der künstlerischen, die soziale Kritik: der Schauder vor dem, was die Welt aus den Menschen macht; und das Entzücken über den Reiz, der dem abgestumpften Kollektivbewußtsein genau von dem widerfährt, was selbst Opfer ist eines negativ Kollektiven. So reimen sich heute die Bilder Manets mit Baudelaire. Warum ich zur unbeschreiblich virtuosen und originellen Malerei von Toulouse-Lautrec keine rechte Beziehung finden kann, suchte ich mir klarzumachen. Schuld hat vermutlich das spezifische Talent selber: jener Schmiß, der mich fatal erinnert an das, was in der Musik eine abscheuliche Phrase »musikantisch« nennt. Es ist das prompte Malerauge, das durch seine Affinität zu den Dingen Affinität zur Welt bekundet, wartend auf die Antwort eines Aha: so hätte man es auch längst sehen müssen. Man stellt sich dazu einen Vater vor, der, mit dem unerfahren souveränen Gestus des Sachverständigen, auf so ein Plakat deutet und sagt: der Mann kann was. Die Schocks, die Manet registrierte, sind bei Lautrec schon ausgemünzt; untrüglicher Blick und die Hand ohne Zögern sind disponibel, und während alles unterstreicht, daß auch Gebrauchskunst große Kunst sein kann, kommt deren Triumph über die Reklame der Reklame zugute. Nicht anders ist in der Urnatur fidelnder Musikanten das Trinkgeld mitkomponiert. Auf diesem voyage jusqu'au bout de la nuit entrollt sich ein Fremdenverkehr, den in den Seitenstraßen der Place Pigalle die Pfiffe von Zuhältern bedienen, als wären sie von einer Distriktbehörde einstudiert. Kein Zufall, daß man einen kolorierten Film über seine Biographie gedreht hat. Asphalt-Blubo. Um im Ernst zu wissen, ob ein Kunstwerk gut oder schlecht ist, muß man doch die spezifische Technik verstehen. Diese späten rosigen Renoirs, Früchtekörper, rund bis zur Unsinnlichkeit, wahrhaft jeunes filles en fleurs, aber keine Albertine – ich sträube mich dagegen, als wären sie für den Export gemacht, und kann sie mit den genialen Landschaften, Gruppen, Porträts der früheren Zeit schlechterdings nicht zusammenbringen. Sind sie nun die autonome malerische Konsequenz aus jenem Gefühl des Vegetativen, das
Samuel Beckett für das Zentrum Prousts hält und das vielleicht die Einheit von Jugendstil und Impressionismus definiert – oder sind sie wirklich Zeugnisse des Spannungsverlusts einer Malerei in dem Augenblick, in dem sie sich durchgesetzt hat? – eines Spannungsverlusts übrigens, von dem Monet, der Renoir überlebte, offenbar verschont blieb. Ich weiß es nicht; in der Musik wüßte ich es. Abschied: der Eiffelturm, aus nächster Nähe von unten besehen, ist ein grausiges Monstrum, squat, sagte man englisch, breit auf vier kurzen, ungeheuerlichen, krummen Beinen, gierig wartend, ob es nicht doch noch die Stadt verschlingen kann, über die so viele Bilder des Unheils dahinzogen, daß sie verschont blieb. Aus der Ferne aber ist der Eiffelturm das schlanke, dunstige Zeichen, welches das unverwüstliche Babylon in den Himmel der Moderne streckt.
Aus Sils Maria Aus einiger Entfernung eine Kuh, die sich am See, weidend zwischen Booten, zu schaffen machte. Optische Täuschung bewirkte, daß ich sie sah, als stünde sie in einem Boot. Wahrhaft heitere Mythologie: Stier der Europa, triumphal über den Acheron schiffend. Mit sichtlichem Behagen marschieren in den Bergen die Kühe auf den breiten Wegen, welche die Menschen angelegt haben, ohne viel Rücksicht auf diese. Modell dafür, wie die Zivilisation, die Natur unterdrückte, der unterdrückten beistehen könnte. Aus der Höhe nehmen die Dörfer sich aus, als wären sie von oben mit leichten Fingern hingesetzt, beweglich und ohne Fundament. So gleichen sie dem Spielzeug, mit dem Glücksversprechen der Riesenphantasie: man könnte mit ihnen machen, was man will. Unser Hotel aber, in seinen unmäßigen Dimensionen, ist einer von den winzigen mit Zinnen gekrönten Bauten, die in der Kindheit die Tunnels zierten, durch welche die Zimmereisenbahn hindurchbrauste. Nun betritt man sie endlich und weiß, was darin ist. Vom Dach dort mußten wir abends den Sputnik beobachten. Er wäre von keinem Stern, nicht von der Venus zu unterscheiden gewesen, hätte er nicht auf seiner Bahn getorkelt. Das hat es mit den Siegen der Menschheit auf sich. Womit sie den Kosmos beherrschen, der verwirklichte Traum, das ist traumhaft verwackelt, ohnmächtig, als wolle es stürzen. Wer einmal den Laut von Murmeltieren hörte, wird ihn nicht leicht vergessen. Daß er ein Pfeifen sei, sagt zu wenig: es klingt mechanisch, wie mit Dampf betrieben. Und eben darum zum Erschrecken. Die Angst, welche die kleinen Tiere seit unvordenklichen Zeiten müssen empfunden haben, ist ihnen in der Kehle zum Warnsignal erstarrt; was ihr Leben beschützen soll, hat den Ausdruck des Lebendigen verloren. In Panik vorm Tod haben
sie Mimikry an den Tod geübt. Täusche ich mich nicht, so haben sie während der letzten zwölf Jahre, als das Camping vordrang, immer tiefer in die Berge sich geflüchtet. Selbst die Pfiffe, mit denen sie klaglos die Naturfreunde verklagen, sind selten geworden. Zu ihrer Ausdruckslosigkeit paßt die der Landschaft. Sie atmet keine mittlere Humanität aus. Das verleiht ihr das Pathos der Distanz Nietzsches, der dort sich versteckte. Zugleich ähneln die Moränen, für jene Landschaft charakteristisch, Industriehalden, Schutthaufen des Bergbaus. Beides, die Narben der Zivilisation und das Unberührte jenseits der Baumgrenze, steht konträr zur Vorstellung von Natur als einem tröstlich, wärmend den Menschen Zubestimmten; es verrät schon, wie es im Kosmos aussieht. Die gängige imago von Natur ist begrenzt, bürgerlich eng, geeicht auf die winzige Zone, in der geschichtlich vertrautes Leben gedeiht; der Feldweg ist Kulturphilosophie. Wo die Herrschaft über Natur jene beseelte und trugvolle imago zerstört, scheint sie der transzendenten Trauer des Raumes sich zu nähern. Was die Engadinlandschaft an illusionsloser Wahrheit vor der kleinbürgerlichen voraushat, wird wettgemacht von ihrem Imperialismus, dem Einverständnis mit dem Tod. Gipfel, die durchbrechend Nebelschwaden überragen, wirken unvergleichlich viel höher, als wenn sie im klaren Licht, ohne Hülle sich erheben. Trägt aber die Margna ihren leichten Nebelshawl, so ist sie, verspielt und dennoch reserviert, eine Dame, von der man sicher sein darf, daß sie es verschmäht, nach St. Moritz zu fahren und Einkäufe zu machen. In der Pensiun Privata, die heute noch von Intellektuellen frequentiert wird, findet sich in einem alten Fremdenbuch Nietzsches Eintragung. Als Beruf gibt er an: Universitätsprofessor. Sein Name steht unmittelbar unter dem des Theologen Harnack. Das Haus, in dem Nietzsche wohnte, wird entstellt von einer unsäglich philiströsen Inschrift. Aber es zeigt, wie würdig man vor achtzig Jahren arm sein konnte. Heute wäre man, unter ähnlichen materiellen Bedingungen, bürgerlich deklassiert; angesichts des ostentativ hohen Gesamtstandards fühlte man von der Kargheit sich
gedemütigt. Damals erkaufte man um den Preis bescheidenster Lebensführung die geistige Unabhängigkeit. Auch das Verhältnis zwischen Produktivität und ökonomischer Basis unterliegt der Geschichte. Cocteau schrieb versiert, Nietzsches Urteile über französische Literatur hätten nach den Vorräten der Bahnhofsbuchhandlung von Sils Maria sich gerichtet. Aber es gibt in Sils keine Bahn, keinen Bahnhof, keine Bahnhofsbuchhandlung. Die Geschichten, denen zufolge im Keller des Hotels Edelweiß oder der Alpenrose Stapel Nietzschescher Manuskripte verstaubt lagerten, sind gewiß apokryph. Wäre etwas dergleichen vorhanden, so hätte es die Forschung längst aufgestöbert. Man muß wohl die Hoffnung fahren lassen, daß unbekanntes Material es erlaubte, den Streit zwischen Lama und Schlechta zu schlichten. Aber ich erfuhr vor einigen Jahren, der Seniorchef der opulenten Kolonialwarenhandlung des Ortes, Herr Zuan, habe als Kind Nietzsche noch gekannt. Wir gingen, Herbert Marcuse und ich, hin, und wurden liebenswürdig in einer Art Privatkontor empfangen. Tatsächlich konnte Herr Zuan sich erinnern. Des Näheren befragt, erzählte er, Nietzsche hätte, bei Regen wie bei gutem Wetter, einen roten Sonnenschirm getragen – anzunehmen, daß er davon Schutz gegen die Kopfschmerzen sich erhoffte. Eine Bande von Kindern, zu der auch Herr Zuan gehörte, hatte sich ein Vergnügen daraus gemacht, ihm in den zusammengefalteten Schirm Steinchen zu praktizieren, die ihm, sobald er den Schirm öffnete, auf den Kopf fielen. Drohend wäre er dann mit gehobenem Schirm hinter ihnen hergelaufen, hätte sie aber nie erwischt. Wir dachten, in welche schwierige Situation der Leidende gekommen sein mußte, der seine Quälgeister vergebens verfolgte und ihnen am Ende womöglich noch recht gab, weil sie das Leben gegen den Geist repräsentierten; es sei denn, die Erfahrung realer Mitleidlosigkeit hätte ihn an einigen Philosophemen irregemacht. Auf weitere Details wußte Herr Zuan nicht sich zu besinnen, wohl aber hätte er uns über den Besuch der Queen Victoria berichten können, und war leise enttäuscht, daß uns der nicht ebenso wichtig war. Unterdessen ist Herr Zuan, über neunzigjährig, gestorben.
Vorschlag zur Ungüte In der Zweiteilung zwischen Freunden und Gegnern der neuen Kunst steckt ein Denkfehler. Sie unterstellt eine gewisse Beliebigkeit des Verhaltens, nach dem kunstfremden bürgerlichen Convenu vom Geschmack als bloßer Vorliebe oder Abneigung. Man kann nicht, in plumper Analogie zu den Spielregeln des politischen Parlamentarismus, für oder gegen neue Kunst sich entscheiden, so wie im Zweiparteiensystem, wo einem zwei »tickets« präsentiert werden, deren Verhältnis zu den eigenen Interessen und Ansichten einigermaßen durchsichtig sein soll. Mit dem Gestus der Liberalität wird unterschlagen, worauf es in ästhetischen Kontroversen zu allererst ankommt, die Beziehung zum Gegenstand selbst. Kaum läßt sich bezweifeln, daß im allgemeinen jene, die mit der Tendenz der neuen Kunst sich identifizieren – und das braucht so wenig zu heißen, daß sie jedes neue Bild gut finden wie ein Kunsthistoriker jedes drittrangige Altargemälde einer gottverlassenen Barockkirche lieben müßte –, die sind, die sie verstehen, auf ihre Impulse und ihre Realisierung ansprechen und der Disziplin sich unterwerfen, die jedes einzelne qualitativ neue Werk dem Betrachter oder dem Hörer auferlegt. Die prinzipiellen Gegner aber sind die Ratlosen; jene, denen ein tachistisches Bild buchstäblich aussieht wie ein Haufen von Flecken und denen eine Partitur von Boulez klingt, als wäre sie wirklich so exotisch wie ihre Perkussionsinstrumente. Man meint, über das herfallen zu dürfen, was man nicht versteht, weil in solchem Unverständnis ohnehin alle vernünftigen Leute übereinstimmten. Hinter dem Zugeständnis, es liege an einem selbst, lauert urteilslose Verdammung. Die Bescheidenheit ist verlogen, die gleiche fatale Selbststilisierung wie die des deutschen Michel, der sich als naiv und tumb ausgibt, nur um daraus ableiten zu können, daß er immerzu über die Ohren gehauen werde, permanentes Opfer jener Manipulationen, an welche nach alter Vätersitte ganz gewiß auch die denken, welche der neuen Kunst vorhalten, sie werde gemanagt. Die stolz darauf sind, nichts zu verstehen, sollte man nicht zu Partnern dort erküren, wo das Urteil eben jenes Verständnis voraussetzt, daß sie sich selber aberkennen. Sie sollten lieber schweigen, als ihr Nichtverständnis in die Waagschale zu werfen.
Rede ich allzu summarisch, so doch gewiß nicht so summarisch wie jene, zu deren Habitus das Denken in Stereotypen unverbrüchlich gehört und welche die eigene Empörung andrehen, als wäre jedermann sein eigener Goebbels. Wohl enthält die idiosynkratische Abwehr des Neuen zuweilen eine genauere Erfahrung des Unbewußten von dem, worauf es stößt, als der heutzutage schwächliche Glaube an die Einheitsfront aller Unsterblichen, der am liebsten suggerieren möchte, Picasso sei ein Raffael. Der Satz aus Victor Hugos Shakespearebuch, man könne es den alten Meistern nur dadurch gleichtun, daß man ihnen nicht gleiche, hat während der letzten hundert Jahre in seiner ganzen Wahrheit sich entfaltet. Wenn indessen die Idiosynkrasien der Feinde auf etwas reagieren, was die Erklärungen der Freunde leicht zum Schaden der Werke wegerklären, dann dürften jene doch bei ihrer Idiosynkrasie, bei der bloßen Unruhe, mit der Erfahrung anhebt, nicht sich beruhigen, sondern müßten sie in die Kraft wenden, die in die Sache selber führt und allein erst das Urteil legitimiert. Ich weiß, daß es unter den Feinden solche gibt, die sehr wohl verstehen. Aber ich kann mir nicht helfen: lese ich etwa in einem ihrer Haupttexte eine subtile, präzise, höchst angemessene Cézanne-Analyse, so spüre ich in solchem Verständnis die nur mühsam von der These verdrängte Sympathie. Wer seinen Cézanne so gut sieht, dem glaube ich die Entrüstung nicht, und er wird sie kaum ganz sich selber glauben. Das verrät sich in jenen geschichtsphilosophischen Passagen, wo allen reflektierten Rechtfertigungen des sturen Vorurteils zum Trotz durchscheint, heute und hier sei keine andere Kunst möglich als die in die Hölle verbannte. Übrigens ist Ähnliches an den Ästhetikern des Ostblocks zu beobachten, deren administrativer Haß gegen die neue Kunst mit dem abendländischen Kulturkonservativismus der freien Welt nur allzu gut harmoniert. Wettert Lukács gegen Kafka, so merkt man ebensogut, daß er ihn lieber hat als die Schundliteratur des sozialistischen Realismus, wie man ahnt, daß dem retrospektiven Kulturkritiker, der den Banausen ihre Parolen liefert, heimlich der Cézanne gefällt. Danach würde ich denn doch dafür plädieren, die Zweiteilung zwischen Freunden und Gegnern zu ersetzen durch die zwischen den Freunden und dem Bund für deutsche Hotelbildmalerei (BfdH).
Man sage nicht, daß es so etwas nicht gebe. Schließlich müssen die Bilder, die in den Hotelzimmern so standhaft wiederkehren wie die ewigen Werte bei den Philosophieprofessoren, ja irgendwoher kommen. Eines schönen Tages habe ich denn auch in einem großen Münchner Hotel einen Laden entdeckt, wo all das konzentriert ist: die Heidelandschaften, die Seen mit Mondreflexen, die Gänserupferinnen und die Blumenstücke; ich weiß nicht, ob am Ende der Besitzer ein Manager war. Setzt man die entschlossenen Gegner der neuen Kunst denen gleich, welche die Hotelbildmalerei goutieren, so wird man zwar vermutlich nicht alle fangen, dafür aber doch, in ihrem eigenen Jargon zu reden, die Fronten klären. Überdies verhilft man ihnen damit zu der Organisation, die sie den anderen nachsagen, weil sie sie selbst gar zu gern hätten. Da wären sie denn alle versammelt, die Spitzwegeriche mit golden-versöhnlichem Humor, die nachmaréesischen Schinkenhäger mit Vordergrundslinie, die innigen Symboliker à la Thoma und die kernigen Percheron-Freunde à la Boehle; lauter mittlere Malerei mit Mitte, garantiert seinsverbundene, echte Aussage auf Feld- und Holzwegen, eine entfesselte Orgie der Stillen im Lande. Man nehme auch ein paar bärtige Jugendstilgreise hinzu und ein paar kommerzielle Impressionisten; ich weiß da einen, der das Revier von Fräulein Nitribitt abmalt, als ob es die Grands Boulevards wären und er der Monet, und die Interessenten reißen es sich aus den Händen. Keinesfalls vergesse man die Segelboote im Hafen von Portofino. Auf den Ehrenplatz aber womöglich ein Gemälde von Ganghofers Leichenbegängnis, wie er von sechs Jägern über den Königssee gerudert wird, während röhrende Hubertushirsche am Ufer stehen und Krokodilstränen weinen. Hotelbildmalerei und moderne: es geht wirklich nicht mehr anders. Tertium non datur. Schon sieht zuweilen selbst manches ältere Bild, das es nicht ist, wie ein Hotelbild aus. Der Hotelbildmalerei würde ich weit entgegenkommen und empfehlen, daß ihr die andere, zu deren organisatorischer Macht sie soviel Vertrauen hat, eine eigene Ausstellung verschafft, eine umgekehrte Sezession sozusagen, mit nichtentarteter Kunst. Da könnte denn alles aus den Löchern kriechen, was sowieso darauf wartet, nachdem es das Dritte Reich glücklich überdauert hat. Eine solche Ausstellung, schräg gegenüber einer mit Winter und Nay, Emil Schumacher und Bernard Schultze, würde zwar die Frage nach
dem Managertum nicht lösen, aber überflüssig machen. Denn wahrlich, die Hotelbildmalerei braucht keine Manager, sondern lebt vom gesunden Volksempfinden; soll sie es nur ohne Erröten eingestehen. Dem Haus der Hotelbildmaler wird es also nicht an Zustrom fehlen. Vielleicht wird er noch größer sein als einst der zur Ausstellung ›Entartete Kunst‹. Aber man wird dann doch das Gedränge sich näher betrachten dürfen. 1950 erschien in Amerika ein Buch unter dem Titel ›The Authoritarian Personality‹; obwohl ich daran keineswegs unbeteiligt war, hat eine höchst objektive Befragung es als das einflußreichste sozialwissenschaftliche Werk seiner Jahre bestätigt. Darin wurden drastisch und grob, aber mit reichem Material zwei Typen unterschieden, die highs und die lows; einerseits die Autoritätsgebundenen, die Vorurteilsvollen, starr, konventionell, konformistisch reagierend; andererseits die Autonomen, von blinden Abhängigkeiten Freien, Ansprechbaren. Die Autoritätsgebundenen sympathisierten mehr oder minder offen mit dem damals florierenden Faschismus. Wäre man in Deutschland nicht zu innerlich, um auf dergleichen Tests sich einzulassen, so ergäbe sich wohl eine recht hohe Korrelation zwischen den Mitgliedern des BfdH und der autoritätsgebundenen Charakterstruktur. Ihre Sorge um die reine irrationale Unmittelbarkeit des Seelentums ist, selbst wenn sie es nicht wissen, nach dem Unsäglichen, was geschah, ein abscheuliches Politikum. Ach, was ist das für eine Frage, ob die moderne Kunst gemanagt sei; als ob nicht hinter der Hotelbildmalerei die kompakte Majorität, das establishment und seine gesamte Apparatur stünden; als ob nicht, was sie proklamieren, die verrucht eingeschliffene zweite Natur wäre, die alle Schwerkraft des nun einmal Bestehenden für sich mobilisieren kann. Als ob nicht die Hotelbildmaler wüßten, daß schon in der liberalen Gesellschaft die Künstler und sogar die Hotelbildmaler der Kunsthändler bedurften, wenn sie nicht verhungern wollten. In der verwalteten Welt brauchen sie zum selben Zwecke große Institutionen, die einsichtig genug sind, ihnen Unterschlupf zu gewähren und damit etwas wie Korrektur an sich selbst zu üben. Was wäre aus den Impressionisten geworden ohne Vollard, was aus Van Gogh ohne Théo? Man sage nicht, den Hotelbildmalern könne es nur lieb sein, wenn jene, ihr stummes Gewissen, zugrunde gegangen wären. Ein Gewissen haben sie nicht, sondern nur ihr Ethos. Ohne Hilfe von Renoir und Van Gogh
könnten heute nicht einmal die Hotelbildmaler die Wände der Hotelzimmer vollschmieren. Selbst die negative Ewigkeit des Kitschs hat ihre Geschichte. Sie regeneriert sich am herabgesunkenen Kulturgut der Oberschicht. Im Vergleich zu solcher Macht und Herrlichkeit ist ein Managertum, das dafür sorgte, daß das oeuvre von Picasso und Klee zustande kam, so bescheiden wie unvermeidlich; solange Kunst überhaupt nach Brot geht, bedarf sie derjenigen ökonomischen Formen, die den Produktionsverhältnissen einer Epoche angemessen sind, und als erste konformieren die, welche über Managertum und Profitinteresse am lautesten sich entrüsten, der Nachfrage auf dem Markt. Aber man soll die Brusttöne von Persönlichkeit und Seele, mit denen sie gegen den Amerikanismus eifern, dessen Segnungen sie keineswegs verschmähen würden, so wenig ernst nehmen wie die larmoyanten Beteuerungen, die moderne Kunst werde der unschuldigen Bevölkerung von Jobbern aufgezwungen. Die kulturelle Unschuldsmiene hat ihr hochpolitisches Vorbild. Schrie nicht Hitler in die Welt, er allein mit seinen sieben Getreuen habe Deutschland gerettet; während die anderen den Rundfunk, die Presse, alle Macht der Erde in Händen gehabt hätten? Nun, er verstand sich aufs Managertum ganz gut, er hat sogar den Tod verwaltet, und mit der Spontaneität, auf die er sich berief, war es nie so weit her. Vom ersten Tag an hatte er seine Hintermänner, vom ersten Tag an war er selbst gemanagt, Exponent der eigentlichen Macht jenseits der schwächlichen des Staats. Sein Lamento über das angebliche System hat er angestimmt nur, um die dumpfe Wut all derer, die von den Mächten und ihrer Reklame unablässig sich betrogen fühlen, in den Dienst der Mächte selbst zu spannen. Das Argument, man wolle eine volksfremde Kunst dem Volk aufnötigen, war schon den reaktionären Kampfbünden der Weimarer Zeit vertraut. Es wurde nicht besser, seitdem heraus ist, wohin es will. Die Berufung auf Demokratie dort, wo der Stimmzettel nicht hingehört, taugt bloß dazu, die Demokratie tückisch zu diffamieren. Sie gieren nach einer Ordnung, in der, wie im Ostbereich, der Terror verhindert, daß die unreglementierte Stimme des Menschlichen, das Nichterfaßte, Nichtmanipulierte – daß das Nichtgemanagte laut werde. Die Deklamationen über die gemanagte moderne Kunst entsprechen genau dem, was die Psychologie als Projektion kennt: dem Verhaßten eben das
zuzuschreiben, was man selber ist oder möchte. Wer gegen die befreite Kunst an die Geistesfreiheit appelliert, will in Wahrheit deren Resten die Gurgel abdrehen. Nicht umsonst hat so einer den Westdeutschen Rundfunk der Vergeudung öffentlicher Gelder angeklagt, weil er das Elektronische Studio unterhalte. Der avantgardistischen Musik hätte er gern die materiellen und technischen Voraussetzungen abgeschnitten. Auf der Tagung einer evangelischen Akademie hat man ihm den gebührenden Bescheid erteilt. Ich bin kein Fachmann für Malerei, aber ich müßte einen schlechten Instinkt haben, wäre das Ethos der Hotelbildmaler nicht vom gleichen Schlage. Muß ich mich vor dem Mißverständnis schützen, daß die neue Kunst es leicht habe und im Sicheren sei? Es wäre ein bedenkliches Kompliment, wenn sie es wäre; die Welt ist aus den Fugen, und die Beteuerung, sie sei sinnvoll, mögen die Künstler getrost den totalitären Managern beider Spielarten überlassen. Das Recht, mit den Hotelbildmalern Fraktur zu reden, nehme ich in Anspruch, weil ich die Antinomien der neuen Kunst keineswegs unterschlagen habe. Hans Sedlmayr weiß das sehr genau. Er hat sich deshalb wiederholt auf mich berufen. So war's freilich nicht gemeint. Man glaube ja nicht, die neue Kunst sei so, wie sie ist, weil die Welt so schlecht sei, und in einer besseren sei sie besser. Das ist Hotelbildperspektive. Wohl ließe der Nachweis sich führen, daß in allen anstößigen Zügen der neuen Kunst Kritik an der traditionellen am Werk ist; daß jede verzerrte Form die allzu glatte demaskiert, die an den Wänden unserer Museen hängt, jede Negation der Gegenstände deren lobrednerische Verdoppelung trifft; kurz, daß die neue Kunst das affirmative Wesen der traditionellen als Lüge, als Ideologie abwirft. Nicht sie hat dessen sich zu schämen, sondern das alte Unwahre. Die Hotelbildmaler haben ganz recht, sie ist nicht harmlos. Wer sie erfahren hat, kann das Harmlose selber nicht mehr ertragen. Sie wird dem Vorwurf, sie sei gemanagt, um so besser widerstehen, je weniger sie die Kraft des Widerstandes sich verkümmern läßt.
Résumé über Kulturindustrie Das Wort Kulturindustrie dürfte zum ersten Mal in dem Buch ›Dialektik der Aufklärung‹ verwendet worden sein, das Horcheimer und ich 1947 in Amsterdam veröffentlichten. In unseren Entwürfen war von Massenkultur die Rede. Wir ersetzten den Ausdruck durch »Kulturindustrie«, um von vornherein die Deutung auszuschalten, die den Anwälten der Sache genehm ist: daß es sich um etwas wie spontan aus den Massen selbst aufsteigende Kultur handele, um die gegenwärtige Gestalt von Volkskunst. Von einer solchen unterscheidet Kulturindustrie sich aufs äußerste. Sie fügt Altgewohntes zu einer neuen Qualität zusammen. In all ihren Sparten werden Produkte mehr oder minder planvoll hergestellt, die auf den Konsum durch Massen zugeschnitten sind und in weitem Maß diesen Konsum von sich aus bestimmen. Die einzelnen Sparten gleichen der Struktur nach einander oder passen wenigstens ineinander. Sie ordnen sich fast lückenlos zum System. Das gestatten ihnen ebenso die heutigen Mittel der Technik wie die Konzentration von Wirtschaft und Verwaltung. Kulturindustrie ist willentliche Integration ihrer Abnehmer von oben. Sie zwingt auch die jahrtausendelang getrennten Bereiche hoher und niederer Kunst zusammen. Zu ihrer beider Schaden. Die hohe wird durch die Spekulation auf den Effekt um ihren Ernst gebracht; die niedrige durch ihre zivilisatorische Bändigung um das ungebärdig Widerstehende, das ihr innewohnte, solange die gesellschaftliche Kontrolle nicht total war. Während die Kulturindustrie dabei unleugbar auf den Bewußtseins-und Unbewußtseinsstand der Millionen spekuliert, denen sie sich zuwendet, sind die Massen nicht das Primäre sondern ein Sekundäres, Einkalkuliertes; Anhängsel der Maschinerie. Der Kunde ist nicht, wie die Kulturindustrie glauben machen möchte, König, nicht ihr Subjekt, sondern ihr Objekt. Das Wort Massenmedien, das für die Kulturindustrie sich eingeschliffen hat, verschiebt bereits den Akzent ins Harmlose. Weder geht es um die Massen an erster Stelle, noch um die Techniken der Kommunikation als solche, sondern um den Geist, der ihnen eingeblasen wird, die Stimme ihres Herrn. Kulturindustrie mißbraucht die Rücksicht auf die Massen dazu, ihre als gegeben und
unabänderlich vorausgesetzte Mentalität zu verdoppeln, zu befestigen, zu verstärken. Durchweg ist ausgeschlossen, wodurch diese Mentalität verändert werden könnte. Die Massen sind nicht das Maß sondern die Ideologie der Kulturindustrie, so wenig diese auch existieren könnte, wofern sie nicht den Massen sich anpaßte. Die Kulturwaren der Industrie richten sich, wie Brecht und Suhrkamp schon vor dreißig Jahren aussprachen, nach dem Prinzip ihrer Verwertung, nicht nach dem eigenen Gehalt und seiner stimmigen Gestaltung. Die gesamte Praxis der Kulturindustrie überträgt das Profitmotiv blank auf die geistigen Gebilde. Seitdem diese als Waren auf dem Markt ihren Urhebern das Leben erwerben, hatten sie schon etwas davon. Aber sie erstrebten den Profit nur mittelbar, durch ihr autonomes Wesen hindurch. Neu an der Kulturindustrie ist der unmittelbare und unverhüllte Primat der ihrerseits in ihren typischesten Produkten genau durchgerechneten Wirkung. Die Autonomie der Kunstwerke, die freilich kaum je ganz rein herrschte und stets von Wirkungszusammenhängen durchsetzt war, wird von der Kulturindustrie tendenziell beseitigt, mit oder ohne den bewußten Willen der Verfügenden. Diese sind sowohl Vollzugsorgane wie Machthaber. Ökonomisch sind oder waren sie auf der Suche nach neuen Verwertungsmöglichkeiten des Kapitals in den wirtschaftlich entwickeltesten Ländern. Die alten werden immer prekärer durch den gleichen Konzentrationsprozeß, der seinerseits die Kulturindustrie als allgegenwärtige Einrichtung allein ermöglicht. Kultur, die dem eigenen Sinn nach nicht bloß den Menschen zu Willen war, sondern immer auch Einspruch erhob gegen die verhärteten Verhältnisse, unter denen sie leben, und die Menschen dadurch ehrte, wird, indem sie ihnen gänzlich sich angleicht, in die verhärteten Verhältnisse eingegliedert und entwürdigt die Menschen noch einmal. Geistige Gebilde kulturindustriellen Stils sind nicht länger auch Waren, sondern sind es durch und durch. Diese quantitative Verschiebung ist so groß, daß sie ganz neue Phänomene zeitigt. Schließlich braucht die Kulturindustrie gar nicht mehr überall die Profitinteressen direkt zu verfolgen, von denen sie ausging. Sie haben in ihrer Ideologie sich vergegenständlicht, zuweilen sich unabhängig gemacht vom Zwang, die Kulturwaren zu verkaufen, die ohnehin geschluckt werden müssen. Kulturindustrie geht über in public relations, die Herstellung eines good will schlechthin, ohne Rücksicht auf
besondere Firmen oder Verkaufsobjekte. An den Mann gebracht wird allgemeines unkritisches Einverständnis, Reklame gemacht für die Welt, so wie ein jedes kulturindustrielles Produkt seine eigene Reklame ist. Dabei jedoch werden die Züge festgehalten, die der Verwandlung von Literatur in Ware ursprünglich einmal zukamen. Wenn irgend etwas in der Welt, dann hat die Kulturindustrie ihre Ontologie, ein Gerüst starr konservierter Grundkategorien, die etwa am kommerziellen Roman des England vom Ende des siebzehnten und Anfang des achtzehnten Jahrhunderts sich ablesen lassen. Was an der Kulturindustrie als Fortschritt auftritt, das unablässig Neue, das sie offeriert, bleibt die Umkleidung eines Immergleichen; überall verhüllt die Abwechslung ein Skelett, an dem so wenig sich änderte wie am Profitmotiv selber, seit es über Kultur die Vorherrschaft gewann. Der Ausdruck Industrie ist dabei nicht wörtlich zu nehmen. Er bezieht sich auf die Standardisierung der Sache selbst – etwa die jedem Kinobesucher geläufige der Western – und auf die Rationalisierung der Verbreitungstechniken, nicht aber streng auf den Produktionsvorgang. Während dieser in dem zentralen Sektor der Kulturindustrie, dem Film, technischen Verfahrungsweisen durch weitgetriebene Arbeitsteilung, Einbeziehung von Maschinen, Trennung der Arbeitenden von den Produktionsmitteln sich anähnelt – diese Trennung spricht im ewigen Konflikt zwischen den in der Kulturindustrie tätigen Künstlern und den Verfügungsgewaltigen sich aus –, werden individuelle Produktionsformen gleichwohl beibehalten. Jedes Produkt gibt sich als individuell; die Individualität selber taugt zur Verstärkung der Ideologie, indem der Anschein erweckt wird, das ganz Verdinglichte und Vermittelte sei eine Zufluchtsstätte von Unmittelbarkeit und Leben. Kulturindustrie besteht nach wie vor in den »Diensten« der dritten Personen, und behält ihre Affinität zu dem veraltenden Zirkulationsprozeß des Kapitals, zum Handel, von dem sie herkam. Ihre Ideologie bedient sich vor allem des von der individualistischen Kunst und ihrer kommerziellen Exploitation erborgten Starsystems. Je entmenschlichter ihr Betrieb und ihr Gehalt, um so emsiger und erfolgreicher propagiert sie angeblich große Persönlichkeiten und operiert mit Herztönen. Industriell ist sie mehr im Sinn der soziologisch vielfach beobachteten Angleichung an industrielle
Organisationsformen auch dort, wo nicht fabriziert wird – zu erinnern ist an die Rationalisierung des Bürobetriebs –, als daß wirklich und eigentlich technologischrational produziert würde. Demgemäß sind auch die Fehlinvestitionen der Kulturindustrie erheblich und stürzen ihre jeweils durch neuere Techniken überholten Branchen in Krisen, die selten zum Besseren führen. Nur dem Namen nach ist der Begriff der Technik in der Kulturindustrie derselbe wie in den Kunstwerken. Der bezieht sich auf die Organisation der Sache in sich, ihre innere Logik. Die kulturindustrielle Technik dagegen, vorweg eine der Verbreitung und mechanischen Reproduktion, bleibt ihrer Sache darum immer zugleich äußerlich. Ideologischen Rückhalt hat die Kulturindustrie gerade daran, daß sie vor der vollen Konsequenz ihrer Techniken in den Produkten sorgsam sich hütet. Sie lebt gleichsam parasitär von der außerkünstlerischen Technik materieller Güterherstellung, ohne die Verpflichtung zu achten, die deren Sachlichkeit für die innerkünstlerische Gestalt bedeutet, aber auch ohne Rücksicht aufs Formgesetz ästhetischer Autonomie. Daraus resultiert das für die Physiognomik der Kulturindustrie wesentliche Gemisch aus streamlining, photographischer Härte und Präzision einerseits und individualistischen Restbeständen, Stimmung, zugerüsteter, ihrerseits bereits rational disponierter Romantik. Nimmt man Benjamins Bestimmung des traditionellen Kunstwerks durch die Aura, die Gegenwart eines nicht Gegenwärtigen auf, dann ist die Kulturindustrie dadurch definiert, daß sie dem auratischen Prinzip nicht ein Anderes strikt entgegensetzt, sondern die verwesende Aura konserviert, als vernebelnden Dunstkreis. Dadurch überführt sie sich selbst unmittelbar ihres ideologischen Unwesens. Mittlerweile ist es unter Kulturpolitikern, auch Soziologen üblich geworden, unter Hinweis auf die große Wichtigkeit der Kulturindustrie für die Bildung des Bewußtseins ihrer Konsumenten davor zu warnen, sie zu unterschätzen. Man sollte sie frei von Bildungshochmut ernst nehmen. Tatsächlich ist die Kulturindustrie wichtig als Moment des heute herrschenden Geistes. Wer, aus Skepsis gegen das, was sie in die Menschen stopft, ihren Einfluß ignorieren wollte, wäre naiv. Aber die Ermahnung, sie ernst zu nehmen, schillert. Um ihrer sozialen Rolle willen werden lästige Fragen nach ihrer Qualität, nach Wahrheit oder Unwahrheit, nach dem ästhetischen Rang des Übermittelten unterdrückt oder
wenigstens aus der sogenannten Kommunikationssoziologie ausgeschieden. Dem Kritiker wird vorgeworfen, er verschanze sich in arroganter Esoterik. Der unvermerkt sich einschleichende Doppelsinn von Bedeutsamkeit wäre zunächst zu bezeichnen. Die Funktion einer Sache, beträfe sie auch das Leben ungezählter Menschen, ist keine Bürgschaft ihres eigenen Ranges. Die Vermengung des Ästhetischen und seines kommunikativen Abhubs führt nicht die Kunst, als ein Gesellschaftliches, auf ihr rechtes Maß gegenüber vorgeblichem Artistenhochmut zurück, sondern dient vielfach der Verteidigung eines in seiner gesellschaftlichen Wirkung Funesten. Die Wichtigkeit der Kulturindustrie im seelischen Haushalt der Massen dispensiert nicht, und am letzten eine pragmatistisch sich dünkende Wissenschaft davon, über ihre objektive Legitimation, ihr An sich nachzudenken; vielmehr nötigt sie eben dazu. So ernst sie nehmen, wie es ihrer fraglosen Rolle entspricht, heißt, sie kritisch ernst nehmen, nicht vor ihrem Monopol sich ducken. Unter den Intellektuellen, die mit dem Phänomen sich abfinden wollen, und die versuchen, ihre Vorbehalte gegen die Sache mit dem Respekt vor ihrer Macht auf die gemeinsame Formel zu bringen, ist, wofern sie nicht schon aus der angedrehten Regression einen neuen Mythos des zwanzigsten Jahrhunderts machen, ein Ton ironischer Duldsamkeit gängig. Man wisse ja, was es mit all dem, mit Illustriertenromanen und Filmen von der Stange, mit zu Serien ausgewalzten Familien-Fernsehspielen und Schlagerparaden, mit Seelenberatungs- und Horoskopspalten auf sich habe. All das jedoch sei harmlos und überdies demokratisch, weil es der freilich erst angekurbelten Nachfrage gehorche. Auch stifte es allen möglichen Segen, etwa durch Verbreitung von Informationen, Ratschlägen und entlastenden Verhaltensmustern. Allerdings sind die Informationen, wie jede soziologische Studie über ein so Elementares wie den Stand politischer Informiertheit dartut, ärmlich oder gleichgültig, die Ratschläge, die man aus den kulturindustriellen Manifestationen herausliest, nichtssagend banal oder schlimmer; die Verhaltensmuster schamlos konformistisch. Die verlogene Ironie im Verhältnis lammfrommer Intellektueller zur Kulturindustrie ist keineswegs auf jene beschränkt. Man darf annehmen, daß das Bewußtsein der Konsumenten selbst gespalten ist zwischen dem vorschriftsmäßigen Spaß, den ihnen die
Kulturindustrie verabreicht, und einem nicht einmal sehr verborgenen Zweifel an ihren Segnungen. Der Satz, die Welt wolle betrogen sein, ist wahrer geworden, als wohl je damit gemeint war. Nicht nur fallen die Menschen, wie man so sagt, auf Schwindel herein, wenn er ihnen sei's noch so flüchtige Gratifikationen gewährt; sie wollen bereits einen Betrug, den sie selbst durchschauen; sperren krampfhaft die Augen zu und bejahen in einer Art Selbstverachtung, was ihnen widerfährt, und wovon sie wissen, warum es fabriziert wird. Uneingestanden ahnen sie, ihr Leben werde ihnen vollends unerträglich, sobald sie sich nicht länger an Befriedigungen klammern, die gar keine sind. Die anspruchsvollste Verteidigung von Kulturindustrie heute feiert ihren Geist, den man getrost Ideologie nennen darf, als Ordnungsfaktor. Sie gebe den Menschen in einer angeblich chaotischen Welt etwas wie Maßstäbe zur Orientierung, und das allein schon sei billigenswert. Was sie jedoch von der Kulturindustrie bewahrt wähnen, wird von ihr desto gründlicher zerstört. Das gemütliche alte Wirtshaus demoliert der Farbfilm mehr, als Bomben es vermochten: er rottet noch seine imago aus. Keine Heimat überlebt ihre Aufbereitung in den Filmen, die sie feiern, und alles Unverwechselbare, wovon sie zehren, zum Verwechseln gleichmachen. Was überhaupt ohne Phrase Kultur konnte genannt werden, wollte als Ausdruck von Leiden und Widerspruch die Idee eines richtigen Lebens festhalten, nicht aber das bloße Dasein, und die konventionellen und unverbindlich gewordenen Ordnungskategorien, mit denen die Kulturindustrie es drapiert, darstellen, als wäre es richtiges Leben und jene Kategorien sein Maß. Entgegnen dem die Anwälte der Kulturindustrie, sie liefere ja gar keine Kunst, so ist selbst das Ideologie, die der Verantwortung für das ausweichen möchte, wovon das Geschäft lebt. Keine Schandtat wird dadurch besser, daß sie sich als solche erklärt. Die Berufung auf Ordnung schlechthin, ohne deren konkrete Bestimmung; auf die Verbreitung von Normen, ohne daß diese in der Sache oder vorm Bewußtsein sich auszuweisen brauchten, ist nichtig. Eine objektiv verbindliche Ordnung, wie man sie den Menschen aufschwätzt, weil es ihnen an einer fehlte, hat keinerlei Recht, wenn sie es nicht in sich und den Menschen gegenüber bewährt, und eben darauf läßt kein kulturindustrielles Produkt sich
ein. Die Ordnungsbegriffe, die sie einhämmert, sind allemal solche des status quo. Sie werden unbefragt, unanalysiert, undialektisch unterstellt, auch wenn sie keinem derjenigen mehr substantiell sind, die sie sich gefallen lassen. Der kategorische Imperativ der Kulturindustrie hat, zum Unterschied vom Kantischen, mit der Freiheit nichts mehr gemein. Er lautet: du sollst dich fügen, ohne Angabe worein; fügen in das, was ohnehin ist, und in das, was, als Reflex auf dessen Macht und Allgegenwart, alle ohnehin denken. Anpassung tritt kraft der Ideologie der Kulturindustrie anstelle von Bewußtsein: nie wird die Ordnung, die aus ihr herausspringt, dem konfrontiert, was sie zu sein beansprucht, oder den realen Interessen der Menschen. Ordnung aber ist nicht an sich ein Gutes. Sie wäre es einzig als richtige. Daß die Kulturindustrie darum nicht sich kümmert; daß sie Ordnung in abstracto anpreist, bezeugt nur die Ohnmacht und Unwahrheit der Botschaften, die sie übermittelt. Während sie beansprucht, Führer der Ratlosen zu sein, und ihnen Konflikte vorgaukelt, die sie mit ihren eigenen verwechseln sollen, löst sie die Konflikte nur zum Schein, so wie sie in ihrem eigenen Leben kaum gelöst werden könnten. In den kulturindustriellen Produkten kommen die Menschen in Schwierigkeiten bloß, damit sie, meist durch Vertreter eines allgütigen Kollektivs, unbehelligt wieder herausgelangen, um in eitel Harmonie jenem Allgemeinen zuzustimmen, dessen Forderungen sie zunächst als unvereinbar mit ihren Interessen erfahren mußten. Dafür hat die Kulturindustrie Schemata ausgebildet, die noch bis in so begriffsferne Gebiete wie die Unterhaltungsmusik hineinreichen, in der man ja auch in »jam« gerät, in rhythmische Probleme, die sogleich mit dem Triumph des guten Taktteils sich entwirren. Auch die Verteidiger aber werden kaum dem Platon darin offen widersprechen, daß, was objektiv, an sich unwahr ist, auch nicht subjektiv, für die Menschen gut und wahr sein kann. Was die Kulturindustrie ausheckt, sind keine Anweisungen zum seligen Leben und auch keine neue Kunst moralischer Verantwortung, sondern Ermahnungen, dem zu parieren, wohinter die mächtigsten Interessen stehen. Das Einverständnis, das sie propagiert, verstärkt blinde, unerhellte Autorität. Mäße man die Kulturindustrie, wie es ihrer Stellung in der Realität entspricht und wie sie es zu verlangen vorgibt, nicht an ihrer eigenen Substantialität und Logik sondern an ihrer Wirkung; kümmerte man sich im Ernst um das, worauf sie sich
immerzu beruft, so wäre das Potential solcher Wirkung doppelt schwer zu nehmen. Das ist aber die Beförderung und Ausbeutung der Ich-Schwäche, zu der die gegenwärtige Gesellschaft, mit ihrer Zusammenballung von Macht, ihre ohnmächtigen Angehörigen ohnehin verurteilt. Ihr Bewußtsein wird weiter zurückgebildet. Nicht umsonst kann man in Amerika von zynischen Filmproduzierenden hören, ihre Streifen hätten auf das Niveau Elfjähriger Rücksicht zu nehmen. Indem sie das tun, möchten sie am liebsten die Erwachsenen zu Elfjährigen machen. Wohl hat man einstweilen nicht, durch exakte Forschung, die regressive Wirkung an einzelnen kulturindustriellen Produkten hiebund stichfest bewiesen; phantasievolle Versuchsanordnungen könnten das gewiß besser leisten, als den finanzkräftigen Interessenten angenehm wäre. Ohne Bedenken jedenfalls darf man annehmen, daß steter Tropfen den Stein höhlt, vollends, da das System der Kulturindustrie die Massen umstellt, kaum ein Ausweichen duldet und unablässig die gleichen Verhaltensschemata einübt. Nur ihr tief unbewußtes Mißtrauen, das letzte Residuum des Unterschieds von Kunst und empirischer Wirklichkeit in ihrem Geist, erklärt, daß sie nicht längst allesamt die Welt durchaus so sehen und akzeptieren, wie sie ihnen von der Kulturindustrie hergerichtet ist. Auch wenn deren Botschaften so harmlos wären, wie man sie macht – ungezählte Male sind sie es so wenig wie etwa die Filmstreifen, die rein durch typische Charakteristik in die heute beliebte Hetze gegen die Intellektuellen einstimmen –: die Haltung, welche die Kulturindustrie zeitigt, ist alles andere als harmlos. Ermahnt ein Astrologe seine Leser, sie sollten an einem bestimmten Tag vorsichtig Auto fahren, so wird das gewiß niemandem schaden; wohl aber die Verdummung, die in dem Anspruch liegt, der jeden Tag gültige und daher blödsinnige Rat hätte des Winks der Sterne bedurft. Abhängigkeit und Hörigkeit der Menschen, Fluchtpunkt der Kulturindustrie, könnten kaum treuer bezeichnet werden als von jener amerikanischen Versuchsperson, die da meinte, die Nöte des gegenwärtigen Zeitalters hätten ein Ende, wenn die Leute einfach prominenten Persönlichkeiten folgen wollten. Die Ersatzbefriedigung, die die Kulturindustrie den Menschen bereitet, indem sie das Wohlgefühl erweckt, die Welt sei in eben der Ordnung, die sie ihnen suggerieren will, betrügt sie um das Glück,
das sie ihnen vorschwindelt. Der Gesamteffekt der Kulturindustrie ist der einer Anti-Aufklärung; in ihr wird, wie Horkheimer und ich es nannten, Aufklärung, nämlich die fortschreitende technische Naturbeherrschung, zum Massenbetrug, zum Mittel der Fesselung des Bewußtseins. Sie verhindert die Bildung autonomer, selbständiger, bewußt urteilender und sich entscheidender Individuen. Die aber wären die Voraussetzung einer demokratischen Gesellschaft, die nur in Mündigen sich erhalten und entfalten kann. Werden die Massen, zu Unrecht, von oben her als Massen geschmäht, so ist es nicht zum letzten die Kulturindustrie, die sie zu den Massen macht, die sie dann verachtet, und sie an der Emanzipation verhindert, zu der die Menschen selbst so reif wären, wie die produktiven Kräfte des Zeitalters sie erlaubten.
Nachruf auf einen Organisator Wird von einem Toten gesagt, er sei unersetzlich, so ist das meist nur ein Deckbild dafür, daß man ihn bereits ersetzt hat. Die Innerlichkeit des Gedächtnisses wird zum Vorwand für die eilfertige Praxis, welche über den Toten hinweggeht, weil doch das Leben selbst weitergehen müsse. Ihm wird gleichsam gesellschaftlich ein zweites Mal das Unrecht angetan, das einem jeden Einzelnen der Tod antut. Was nützliche Arbeit leistet, das können auch andere besorgen; alle sind darin sich einig, und das ist eine Anklage gegen die Einrichtung des Lebens und den Begriff von Nützlichkeit, dem es sich unterwirft. Wahrhaft unersetzlich jedoch ist Wolfgang Steinecke, der erste Leiter des Kranichsteiner Musikinstituts und der Kranichsteiner Ferienkurse und, wie man hinzufügen darf, der, dessen Kraft, ohne daß es ihm vielleicht ganz bewußt war, etwas wie Einheit der musikalischen Bewegung nach dem Zweiten Krieg stiftete. Er war die Ausnahme, einer, der mitten im Betrieb verwirklichte, was den Betrieb sprengt. Mit dessen eigenen Mitteln hat er der Kunst zu jenem Ernst verholfen, den der Betrieb zerstört. Das einzige, was nach seinem Tod ansteht, wenn man ihn nicht durch die tröstende Phrase zudecken will, ist, so vernehmbar wie nur möglich und so vielen wie nur möglich zu sagen, wer Wolfgang Steinecke war. Auch die Respektsperson sollte es erfahren, die ihn umbrachte: sie soll wenigstens wissen, was ihre feuchtfröhliche Stimmung angerichtet hat. Bestürzende Logik waltet darin: die Musik, für die Steinecke lebte, war die, welche solcher Stimmung in nichts gleicht, und hätte diese nicht geherrscht, so hätte er nicht sterben müssen. Das Einzigartige von Steineckes Wirksamkeit wird umschlossen von der Paradoxie, daß er das mit allen Spielregeln des Musiklebens Unvereinbare nach dessen Spielregeln durchsetzte. Er hat, mit bescheidenen Mitteln, ohne den Stempel der Prominenz, ohne die Attraktionskraft des Festivals einen Kristallisationspunkt der Neuen Musik geschaffen, der in der Welt nicht seinesgleichen kennt. Er hat keine Plattform erstellt, nicht Musik im Ausstellungssinn organisiert und alles mögliche Vorhandene mit törichter Klugheit nebeneinander gezeigt, sondern hat die radikalsten und
exponiertesten Intentionen verfolgt, Reibung und Austausch derer ermöglicht, die nichts hinter sich hatten, lautlos und diskret eine Idee hervortreten lassen, die latent, dumpf vielleicht in zahlreichen Musikern der Nachkriegsgeneration lebte, die aber ohne ihn niemals solche Gewalt gewonnen hätte. Wenn es seit 1946, trotz aller Unterschiede, etwas wie eine Schule kompromißloser Musik gibt, deren Intransigenz den Vergleich mit der zweiten Wiener Schule Schönbergs aushält, dann war es sein Verdienst und sein Verdienst allein. Kein anderer hätte die durchweg ungebärdigen, refraktären und schwierigen Menschen, die zu dieser Schule zählen – und wären sie minder schwierig, dann hätten sie alle den leichteren Weg gewählt –, zusammengebracht, sie gehalten, mit unmerklicher Energie die bedächtigeren Autoritäten ausgeschaltet, ohne die es im Anfang nicht abging, und eine Atmosphäre bereitet, wo noch in den heftigsten Konflikten das gemeinsam Treibende, Solidarität gedieh. Sie entsprang aus so tiefen Reaktionsweisen, daß, was da sich regte, bis heute nicht einmal auf einen Namen zu bringen ist. Denn die Parolen, die von Darmstadt ausstrahlten: serielle, punktuelle, aleatorische, postserielle, informelle Musik, widerstreiten vielfach einander unversöhnlich. Dennoch lebt in all dem ein gemeinsamer Impuls. Unbeirrt hat Steinecke überall ihn herausgespürt. Gerade weil ich selbst, Angehöriger einer älteren Generation, gar nicht unmittelbar von jenem Impuls mich beseelt fühlte, der wohl die Einheit der Kranichsteiner oder Darmstädter Schule ausmacht, war ich vielleicht in besonders günstiger Position, die Einheit zu bemerken. Daß Steinecke mir das Vertrauen schenkte, trotz des Generationsunterschieds, der kein bloß chronologischer ist, mich oft zuzuziehen, und daß ich dadurch mit den begabtesten jungen Musikern in Kontakt kam, ohne daß sie oder ich einander hätten Konzessionen machen müssen, sondern daß gerade die Gegensätze, wenn ich mich nicht täusche, fruchtbar wurden, dafür bin ich ihm aufs tiefste dankbar. Nichts vielleicht bezeugt eindringlicher die Kraft, die von Steinecke und seiner Kranichsteiner Idee – denn es war die seine, so wenig er sie je für sich reklamierte – ausging, als daß ein jeder von uns leidenschaftlich daran hing, als Dozent eingeladen zu werden. Das Materielle spielte dabei keine Rolle; die Honorare, die er zahlen konnte, waren bescheiden. Jedoch es kam uns allen zu Recht oder Unrecht so vor, als ob wir in Kranichstein – man mag mir die
großen Worte verzeihen – unmittelbar in die formativen Prozesse der Neuen Musik eingriffen. Wurde man einmal nicht eingeladen, so war man enttäuscht. Aber auch deshalb hat man sich nie zerstritten – vielleicht die erstaunlichste Leistung des Toten. Nicht daß er, wie man so leicht in solchen Fällen sagt, auszugleichen oder zu glätten versucht und vermocht hätte – das wäre mit seinem Flair fürs Extreme unvereinbar gewesen. Aber Attacken, Vorwürfe prallten derart an ihm ab, daß niemals jene sogenannten Aussprachen überhaupt stattfanden, nach denen man dann im Bösen auseinandergeht. Die Genialität des Mannes zeigte sich darin, daß mit seinem Wesen Aussprachen unvereinbar waren, ohne daß er auch je nur irgendwelcher Veranstaltungen bedurft hätte, ihnen sich zu entziehen. Es glitt von ihm ab. Schweigsamkeit und Schüchternheit, die fraglos ihm ursprünglich eigneten, hatten, ohne Absicht wohl, zu einer Lebenstechnik sich gesteigert, die etwas Fernöstliches hatte. Mit dem Lächeln eines Buddha, von dem keiner entscheiden konnte, ob es arglos oder Schutzmaske war, und in dem beides wahrscheinlich sich verband, hörte er sich Klagen und Einwände an, nicht um sein Verhalten zu erklären, sondern um das Gesagte mit wenigen Worten wegzuwischen. So wenig trat er in die Argumentation ein, daß der Opponent entwaffnet war und womöglich im Unrecht sich fühlte. Berichtet man das, so klingt es wie ein taktisches Rezept. Wer es aber nachahmend befolgen wollte, der wäre verloren. Steinecke kam damit nur deshalb durch, weil die Taktik gar keine Taktik war, sondern eine unreflektierte Verhaltensweise, ein sprachloser Gestus, so sprachfern vielleicht wie das Bild der Neuen Musik, das er hegte. Tatsächlich war er so human wie unansprechbar. Geriet einer im Ernst in Schwierigkeiten, durch Krankheit etwa, so half er, wiederum sprachlos und selbstverständlich, mit souveräner Noblesse. Der, durchs Gelingen seines wahrhaft utopischen Projekts, alle Manager der Musik überspielte und darum die Rancune der Untalentierten erregte, die aufs Wort Manager anspricht, war selber das Gegenteil eines solchen. Mit sanfter inertia tat er, was zu tun seine Bestimmung war; nie hat er andere manipuliert, nie Menschen als Dinge, nie umgekehrt Mittel als Zweck mißbraucht; so rein von jeglicher Interessiertheit wie nur je ein Künstler, der von der Welt nicht sich verführen läßt. Nicht bloß
war ihm der eigene Vorteil höchst gleichgültig, er trat auch in seiner geistigen Leistung, dort, wo alles auf ihn ankam, bis zur Anonymität zurück. Er vermied es, öffentlich zu sprechen, vermied es, bekannt werden zu lassen, wie sehr die ganze Darmstädter Schule sein Produkt war; das macht erst recht zur Pflicht, öffentlich zu sagen, was er zu seinen Lebzeiten sicherlich nicht geduldet hätte. Kaum wäre er besser zu ehren als durch den Hinweis darauf, daß seine Funktion, die er selber überhaupt erst schuf und für die er so unvergleichlich geeignet war, dennoch nicht sich erschöpfte in der glücklichen Fügung, der die Existenz eines Menschen seiner spezifischen Qualität zu danken ist. Sondern seine Leistung wurde objektiv gefordert vom Stand der Musik in den Jahren, in denen er eingriff. Nicht zuletzt an ihm, im geistigen Bereich, hat sich bewahrheitet, daß die Gesellschaft die Kräfte hervorbringt, deren sie zur Lösung ihrer Aufgaben bedarf. Die Neue Musik, von Anbeginn Widerspruch zur offiziellen Kultur und zum künstlerischen establishment, entstand aus individualistischem Pathos und unter durchaus individualistischen Bedingungen der Produktion. Der Protest gegen die Verhärtung gesellschaftlicher Verhältnisse und gegen die verhärtete Kultur, in der jene sich fortsetzen, war damals eins mit dem Protest gegen Vergesellschaftung überhaupt und gegen Organisation. Freilich hatte Schönberg schon früh genug, um 1920, erkannt, daß dieser Protest künstlerisch, in der Aufführungspraxis, nicht sich realisieren kann, wofern er nicht selbst zum Organisatorischen sich entäußert; darum gründete er den Wiener Verein für musikalische Privataufführungen, dessen Arbeit bis heute Vorbild jeglicher wahren Interpretation blieb. In den fünfundvierzig Jahren seitdem ist die Vergesellschaftung und Verwaltung der Gesellschaft, und in ihr die des Musiklebens, unermeßlich angewachsen; die Konzentration musikalischer Wiedergabe in den Massenmedien ist dafür nur der sinnfälligste Ausdruck. Die alten individualistischen Formen des Musiklebens, auch die der Produktion, des Komponierens, könnten diesem Druck unmöglich mehr standhalten, weder den ökonomischen Voraussetzungen nach, noch selbst technologisch. Der gesamte Problemkreis dessen etwa, was durch das Stichwort Elektronik angezeigt wird, bedarf einer Apparatur, über die kein Einzelner mehr verfügt. Je ernster und radikaler mit den neuen Materialien gearbeitet wird, um so tiefer reichen die
technologischen Bedingungen in den Produktionsprozeß hinein. Auch wo man gar nicht unmittelbar die Mittel der elektronischen Tonerzeugung benutzt, breitet, aus immanenter Logik, der Laboratoriumscharakter des Komponierens sich aus. Die extreme Formulierung des Begriffs Experiment, die Rationalisierung der Kompositionstechniken und deren eingeborenes Widerspiel, die Versuche mit dem Zufall, verlangen eine Art kollektiver Kooperation, von der Webern, der Anachoret, und Berg, der späte Sezessionist, nichts sich hätten träumen lassen. Die Empörung über diese Tendenz, die künstlerisch so irrevokabel ist, wie sie der sozialen Entwicklung gehorcht, verhüllt nur mühsam die allzu verständliche Empörung derer, die ihr, der eigenen individualistischen Beschaffenheit und der eigenen sozialen Position nach, ohnmächtig gegenüberstehen. Weil sie fürchten, auch im substantiellen geschichtlichen Sinn zu veralten, wettern sie gegen die angebliche Veräußerlichung, Mechanisierung und gegen das Managertum. Steinecke ist genau in die kulturelle Lücke zwischen dem unaufhebbaren Element des künstlerischen Individualismus – denn Kunst ist gesellschaftlicher Einspruch gegen die Gesellschaft – und den unvermeidlichen kollektiven Produktionsformen gesprungen. Sozial heißt die Paradoxie seines Werkes: daß er all das, was der Zellophanwelt von Musical und U-Musik, von geschlecktem Festspiel und »streamlining« für Zwecke des musikalischen Fremdenverkehrs ernsthaft widersteht, selber derart organisierte, daß es inmitten der verwalteten Welt ohne Konzession sich entfalten konnte. Wo der Erfolg die Qualität der Sache an sich verdrängte, hat er das Prinzip durchbrochen und dem a priori Erfolglosen den Erfolg erzwungen. Er verwaltete das Nichtverwaltbare, ohne es zu verderben. Der scheue, allem zeit gemäßen sich Aufspielen, Wichtigtun, Angeben unendlich ferne Mensch hatte einen Realitätssinn, um den ihn der reklametüchtigste Impresario hätte beneiden können. Wie er wirklich war; wie der Zögling konservativer Musikwissenschaft seine geistige Position fand, kraft welcher Eigenschaften er sie in eine Machtposition der Neuen Musik verwandelte, das werden heute nur die wissen, die ihm ganz nah standen, so verschlossen war er. Das Phänomen hat wahrhaft etwas Rätselhaftes. Keine Übertreibung, daß sein unseliger Tod eine Katastrophe für die Musik ist, deren Tragweite noch gar nicht sich abschätzen läßt. Der
Trost, das Echte bleibe der Nachwelt unverloren und setze von selbst sich durch, ist fadenscheinig geworden. Steineckes Arbeit war nicht zuletzt Antwort auf eine Situation, in der auf eben jenes laisser faire auch in der Kunst kein Verlaß mehr ist. Nur ein anderer Ausdruck dafür ist es, daß er den Begriff musikalischer Produktivität selbst verändert hat. Die herkömmliche Sprache behält ihn der Kraft des Komponisten vor. Aber wo der Komponist, um überhaupt produzieren zu können, unmittelbar auf Institutionen angewiesen ist, nicht nur mittelbar auf den Markt, der ihm Unterhalt gewährt, sondern auf technische und planende Hilfe, auf Aufträge, auf Verfahrungsweisen, die in seinem isolierten Arbeitszimmer nicht mehr gedeihen wollen, dehnt musikalische Produktivität über das Schreiben von Musik hinaus sich aus. Schon in Wagners Konzeption von Bayreuth, ohne die dessen späteres Werk kaum vorstellbar wäre, hatte etwas davon sich angekündigt; Steinecke zog die ganze Konsequenz daraus. Dabei hat er diese Expansion keinen Augenblick als eine der dekretierenden Macht ausgenutzt. Er tat weniger und mehr. Weniger, indem er, auch wo die kompositorische Leistung überhaupt erst ihm zu verdanken war, in strenger Arbeitsteilung die Funktion der anderen niemals antastete; mehr, indem er nicht bloß die praktischen Möglichkeiten beistellte, sondern auf seine überaus unaufdringliche und zurückhaltende Weise, durch Personal- und Programmpolitik, aber auch in der privaten Diskussion, bis in die verzweigtesten geistigen Zusammenhänge hinein wirkte. Gilt der ehrwürdige Begriff der künstlerischen Produktion nicht mehr wie einst; ward sie erniedrigt durch Angleichung an industrielle Verfahren im Zeichen des Profits, so hat Steinecke der Produktion in der Musik ihre Würde gerettet. Ihre gesellschaftlich und technisch fällige Gestalt und ihre fortgeschrittenste geistige Intention brachte er, kraftvoll-zart, zur Deckung. Das Gedächtnis an den großen Organisator ist das an einen, der den bedeutenden Komponisten ebenbürtig war, nicht bloß weil er sie förderte und stützte, sondern weil, was er tat, im neuen Produktionsprozeß selbst so wesentlich ist wie das, was sie schrieben.
Filmtransparente Kinder, die neckend sich beschimpfen, folgen der Spielregel: Retourkutsche gilt nicht. Ihre Weisheit scheint den allzu gründlich Erwachsenen verloren zu sein. Die Oberhausener attackierten den bald sechzig Jahre lang eingeübten Schund der Filmindustrie mit der Formel: Papas Kino. Dessen Interessenten wußten nichts Besseres zu antworten als »Bubis Kino«. Diese Retourkutsche nimmt, wie es abermals unter Kindern heißt, dich nicht mit. Armselig, Erfahrung gegen Unreife dort auszuspielen, wo es gegen die Unreife der Erfahrung selbst geht, die sie sich erwarben, als sie sich die Hörner abliefen. Das Abscheuliche an Papas Kino ist das Infantile, die industriell in Betrieb gesetzte Regression. Das Sophisma insistiert auf jener Art von Leistung, deren Begriff die Opposition herausfordert. Wäre jedoch auch an dem Vorwurf etwas daran; wären wirklich die Filme, die mit dem Geschäft nicht mitspielen, in manchem ungeschickter als dessen glattpolierte Waren, so wäre der Triumph erbärmlich, daß jene, welche die Macht des Kapitals, technische Routine, hochtrainierte Spezialisten hinter sich haben, manches besser können als die, welche gegen den Koloß sich aufbäumen und dabei notwendig auf das in diesem akkumulierte Potential verzichten müssen. In die Züge des im Vergleich mit ihm Unbeholfenen, nicht Gekonnten, nicht der Wirkung Sicheren hat sich die Hoffnung eingegraben, die sogenannten Massenmedien möchten etwas qualitativ anderes werden. Während in der autonomen Kunst nichts taugt, was hinter deren einmal erreichtem technischen Standard herhinkt, haben gegenüber der Kulturindustrie, deren Standard das nicht Vorgekaute, nicht schon Erfaßte ausschließt, so wie die kosmetische Branche die Runzeln der Gesichter beseitigt, Gebilde ein Befreiendes, die ihre Technik nicht gänzlich beherrschen und darum ein Unbeherrschtes, Zufälliges tröstlich durchlassen. In ihnen werden die Mängel des Teints eines schönen Mädchens zum Korrektiv des fleckenlosen der approbierten Stars. Der ›Törless‹ – Film hat, wie man weiß, große Partien aus Musils Jugendroman unverändert fast in den Dialog übernommen. Man
traut ihnen Überlegenheit über jene Sätze der Scriptschreiber zu, deren keinen ein lebendiger Mensch spräche. Unterdessen wurden sie in Amerika zum Gespött der Kritiker. Aber die Musilschen Sätze klingen auf ihre Weise ebenfalls oft papieren, sobald man sie hört, nicht liest. Daran mag die Romanvorlage nicht ohne Schuld sein, die, vermeintlich als Psychologie, eine Art rationalistischer Kasuistik in den inwendigen Verlauf trägt, welche die fortgeschrittene Psychologie der gleichen Epoche, die Freudsche, als Rationalisierung demolierte. Schwerlich indessen ist das alles. Die künstlerische Differenz der Medien wiegt offenbar stets noch schwerer, als man glaubt, wenn man, um der schlechten Prosa zu entgehen, gute verfilmt. Auch wo der Roman des Dialogs sich bedient, ist das gesprochene Wort nicht unmittelbar gesprochen, sondern wird, durch den Gestus des Erzählens, vielleicht bereits durch die Typographie, distanziert, der Leibhaftigkeit lebendiger Personen entrückt. So gleichen Romanfiguren selber, wären sie noch so minutiös beschrieben, niemals den empirischen, sondern entfernen sich womöglich durch die Genauigkeit der Darstellung nur desto weiter von der Empirie, werden ästhetisch autonom. Jene Distanz ist im Film eingezogen: der Schein von Unmittelbarkeit ist ihm, soweit er realistisch sich verhält, unabdingbar. Dadurch hören Sätze, die in Erzählungen durchs Stilisationsprinzip sich rechtfertigen, von der falschen Alltäglichkeit der Reportage sich abheben, im Film geschwollen und unglaubhaft sich an. Er hätte nach anderen Mitteln der Unmittelbarkeit zu suchen. Unter ihnen mag die Improvisation, die dem Zufall ungesteuerter Empirie planvoll sich überläßt, obenan rangieren. Die späte Entstehung des Films erschwert es, zwischen den beiden Bedeutungen von Technik so strikt zu unterscheiden wie etwa in der Musik, wo bis zur Elektronik eine immanente Technik – die stimmige Organisation des Gebildes – von der Wiedergabe – den Mitteln der Reproduktion – sich abhob. Identität beider Techniken zu unterstellen, veranlaßt der Film, in dem es, worauf Benjamin aufmerksam machte, kein Original gibt, das massenreproduziert würde, sondern wo das Massenprodukt die Sache selbst ist. Dennoch gilt, übrigens analog zur Musik, die Identität nicht ohne weiteres. Kenner der spezifischen Filmtechnik verweisen darauf, daß Chaplin über deren Möglichkeiten nicht verfügte oder sie links
liegen ließ, zufrieden damit, Sketches, Slapstickszenen oder was immer zu photographieren. Dadurch jedoch wird Chaplins Rang nicht herabgedrückt, und kaum wird jemand bezweifeln, er sei filmisch. Anders als auf der Leinwand hätte die enigmatische Figur – wie gleicht sie nicht altertümlichen Photographien schon am ersten Tag – ihre Idee nicht entfalten können. Unmöglich demnach, aus der Filmtechnik als solcher Normen herauszulesen. Die plausibelste, die der Konzentration auf bewegte Objekte 1 , wird in Streifen wie Antonionis ›La Notte‹ provokativ ausgeschaltet; ist freilich in der Statik solcher Filme als negierte aufbewahrt. Das Filmwidrige des Films verleiht ihm die Kraft, wie mit hohlen Augen die leere Zeit auszudrücken. – Die Ästhetik des Films wird eher auf eine subjektive Erfahrungsform rekurrieren müssen, der er, gleichgültig gegen seine technologische Entstehung, ähnelt und die das Kunsthafte an ihm ausmacht. Wer etwa, nach einem Jahr in der Stadt, für längere Wochen im Hochgebirge sich aufhält und dort aller Arbeit gegenüber Askese übt, dem mag unvermutet widerfahren, daß im Schlaf oder Halbschlaf bunte Bilder der Landschaft wohltätig an ihm vorüber oder durch ihn hindurch ziehen. Sie gehen aber nicht kontinuierlich ineinander über, sondern sind in ihrem Verlauf gegeneinander abgesetzt wie in der Laterna magica der Kindheit. Diesem Innehalten in der Bewegung verdanken die Bilder des inneren Monologs ihre Ähnlichkeit mit der Schrift: nicht anders ist auch diese ein unterm Auge sich Bewegendes und zugleich in ihren einzelnen Zeichen Stillgestelltes. Solcher Zug der Bilder dürfte zum Film sich verhalten wie die Augenwelt zur Malerei oder die akustische zur Musik. Kunst wäre der Film als objektivierende Wiederherstellung dieser Weise von Erfahrung. Das technische Medium par excellence ist tief verwandt dem Naturschönen. Entschließt man sich schon dazu, gleichsam die Selbstkontrolleure beim Wort zu nehmen und die Filme mit dem Wirkungszusammenhang zu konfrontieren, so wird man subtiler zu verfahren haben als jene älteren Content-Analysen, die notwendig allzusehr von der Intention der Filme ausgingen und die Variationsbreite zwischen jener und der Wirkung vernachlässigten. Sie ist aber in der Sache selbst präformiert. Liegen tatsächlich, nach der These von ›Fernsehen als Ideologie‹, verschiedene Schichten
von Verhaltensmodellen in den Filmen übereinander, so impliziert das, die offiziellen, intendierten Modelle, die von der Industrie gelieferte Ideologie, müßten keineswegs automatisch das sein, was in die Zuschauer eindringt; suchte die empirische Kommunikationsforschung sich endlich Probleme, bei denen etwas herauskäme, so wäre jenes der Bevorzugung wert. Die offiziellen Modelle sind überlagert von inoffiziellen, welche für die Attraktion sorgen und, der Absicht nach, von den offiziellen außer Kurs gesetzt werden. Um die Kunden zu fangen, ihnen Ersatzbefriedigungen zu beschaffen, muß die inoffizielle, wenn man will, heterodoxe Ideologie vielfach breiter und saftiger ausgemalt werden, als dem fabula docet bekömmlich ist; die illustrierten Zeitungen liefern dafür allwöchentlich das Beispiel. Das im Publikum von den Tabus Verdrängte, die Libido, dürfte darauf um so prompter reagieren, als auch jene Verhaltensmodelle, indem sie überhaupt durchgelassen werden, ein Element kollektiver Billigung mit sich führen. Während die Intention immerzu gegen den playboy, die dolce vita und die wild parties geht, wird doch die Gelegenheit, sie zu erblicken, vermutlich mehr genossen als das eilfertige Verdikt. Sieht man heute allerorten, in Deutschland, in Prag, in der konservativen Schweiz, im katholischen Rom Jungen und Mädchen eng umschlungen über die Straße gehen und ungeniert sich küssen, so haben sie das, und wahrscheinlich mehr, aus den Filmen gelernt, welche die Pariser Libertinage als Folklore verhökern. Will sie die Massen ergreifen, so gerät selbst die Ideologie der Kulturindustrie in sich so antagonistisch wie die Gesellschaft, auf die sie es abgesehen hat. Sie enthält das Gegengift ihrer eigenen Lüge. Auf nichts anderes wäre zu ihrer Rettung zu verweisen. Die photographische Technik des Films, primär abbildend, verschafft dem zur Subjektivität fremden Objekt mehr an Eigengeltung als die ästhetisch autonomen Verfahrungsarten; das ist im geschichtlichen Zug der Kunst das retardierende Moment des Films. Selbst wo er die Objekte, wie es ihm möglich ist, auflöst und modifiziert, ist die Auflösung nicht vollständig. Sie erlaubt daher auch keine absolute Konstruktion; die Elemente, in die zerlegt wird, behalten etwas Dinghaftes, sind keine reinen Valeurs. Kraft dieser Differenz ragt die Gesellschaft ganz anders, weit unmittelbarer vom Objekt her, in den Film hinein als in avancierte Malerei oder
Literatur. Das im Film Irreduzible an den Objekten ist an sich gesellschaftliches Zeichen, wird es nicht erst durch die ästhetische Realisierung einer Intention. Die Ästhetik des Films ist darum immanent, vermöge ihrer Stellung zum Objekt, mit Gesellschaft befaßt. Keine Ästhetik des Films, auch keine rein technologische, die nicht seine Soziologie in sich einschlösse. Kracauers Filmtheorie nötigt zu dem, was in seinem Buch, das soziologisch Enthaltung übt, ausgespart ist. Sonst schlägt der Antiformalismus in Formalismus um. Ironisch spielt Kracauer mit dem Vorsatz seiner frühesten Jugend, den Film als Entdecker der Schönheiten des täglichen Lebens zu feiern; jenes Programm aber war ein Jugendstilprogramm, so wie all die Filme, die wandernde Wolken und verdüsterte Teiche für sich selbst sprechen lassen wollen, ein Rest Jugendstil sind. Durch die Objektwahl infiltrieren sie dem von subjektivem Sinn gereinigten Objekt jenen Sinn, gegen den sie sich spröde machen. Benjamin ist nicht darauf eingegangen, wie tief manche seiner für den Film postulierten Kategorien: Ausstellungswert, Test, mit dem Warencharakter verschworen sind, dem seine Theorie opponiert. Von jenem untrennbar aber ist das reaktionäre Wesen eines jeglichen ästhetischen Realismus heute, tendenziell der affirmativen Bekräftigung der erscheinenden Oberfläche der Gesellschaft, die zu durchdringen der Realismus als romantisch abwehrt. Jede dem Film vom Kamera-Auge verliehene Bedeutung, auch die kritische, verletzte bereits das Gesetz der Kamera und frevelte an Benjamins Tabu, ersonnen mit der ausdrücklichen Absicht, den auftrumpfenden Brecht zu übertrumpfen, und wohl der geheimen, damit Freiheit von ihm zu gewinnen. Der Film findet sich vor der Alternative, wie er ohne Kunstgewerbe einerseits, andererseits ohne ins Dokumentarische abzugleiten verfahren solle. Die Antwort, die primär sich darbietet, ist wie vor vierzig Jahren die der Montage, die nicht in die Dinge eingreift, aber sie in schrifthafte Konstellation rückt. Die Dauerhaftigkeit der auf den Schock abzielenden Prozedur weckt Zweifel. Das rein Montierte, ohne Zusatz von Intention in den Details, weigert sich, allein aus dem Prinzip heraus Intentionen anzunehmen. Daß aus dem wiedergegebenen Material als solchem, bei Verzicht auf allen Sinn, zumal dem materialgerechten auf Psychologie, Sinn herausspringe, scheint illusionär. Überholt sein
mag die gesamte Fragestellung durch die Einsicht, der Verzicht auf Sinngebung, auf subjektive Zutat, sei seinerseits subjektiv veranstaltet und insofern a priori sinngebend. Das Subjekt, das sich verschweigt, redet durchs Schweigen nicht weniger, eher mehr, als wo es redet. Das müßte die Verfahrungsweise der als intellektuell verfemten Filmproduzierenden in zweiter Reflexion sich zueignen. Bei all dem indessen besteht die Divergenz zwischen den fortgeschrittensten Tendenzen der bildenden Kunst und denen des Films fort. Sie kompromittiert noch dessen kühnste Absichten. Offenbar hat er im Augenblick sein fruchtbarstes Potential bei anderen Medien zu suchen, die in ihn übergehen, wie manche Musik. Der Fernsehfilm ›Antithèse‹ des Komponisten Mauricio Kagel bietet dafür eines der eindringlichsten Beispiele. Daß die Filme Schemata kollektiver Verhaltensweisen liefern, wird ihnen nicht erst zusätzlich von der Ideologie abverlangt. Vielmehr reicht Kollektivität ins Innerste des Films hinein. Die Bewegungen, die er darstellt, sind mimetische Impulse. Vor allem Inhalt und Begriff animieren sie die Betrachter und Zuhörer, sich wie im Zug mitzubewegen. Insofern ist der Film musikähnlich, so wie Musik in den Frühzeiten des Radios streifenähnlich war. Kaum abwegig, das konstitutive Subjekt des Films als ein Wir zu bezeichnen: darin konvergieren sein ästhetischer und sein soziologischer Aspekt. Ein Film aus den dreißiger Jahren, mit der berühmten englischen Volksschauspielerin Gracie Fields, hieß ›Anything Goes‹; dies Es trifft recht genau, inhaltlich das formale Moment der Bewegung des Films, diesseits von allem Inhalt. Indem das Auge mitgeschwemmt wird, gerät es in den Strom all derer hinein, die dem gleichen Appell folgen. Die Unbestimmtheit des kollektiven Es freilich, die mit dem formalen Charakter des Films zusammengeht, leiht ihn dem ideologischen Mißbrauch, jenem scheinrevolutionär Verschwimmenden, das sprachlich die Wendung, es müsse anders werden, gestisch der Faustschlag auf den Tisch anmeldet. Der emanzipierte Film hätte seine apriorische Kollektivität dem unbewußten und irrationalen Wirkungszusammenhang zu entreißen und in den Dienst der aufklärenden Intention zu stellen. Die Technologie des Films entwickelte eine Reihe von Mitteln, die seinem von der Photographie unabtrennbaren Realismus entgegen
sind; so die unscharfe Einstellung – entsprechend einem in der Photographie längst überholten, kunstgewerblichen Usus –, die Überblendung, häufig auch Rückblenden. Es wäre Zeit, das Alberne solcher Wirkungen zu innervieren und ihrer sich zu entschlagen. Sein Grund ist, daß derlei Mittel nicht aus den Notwendigkeiten der Einzelproduktion geschöpft werden, sondern aus der Konvention. Sie avisieren dem Zuschauer, was hier bedeutet sei oder wodurch er zu ergänzen habe, was dem Filmrealismus sich entzieht. Da aber jenen Mitteln stets fast gewisse sei's auch heruntergekommene expressive Valeurs eignen, so bildet sich ein Mißverhältnis heraus zwischen diesen und dem eingeschliffenen Zeichen. Das verleiht den Einschiebseln das Kitschige. Ob es noch in der Montage und in hereingezogenen Assoziationen außerhalb des Filmverlaufs sich fortsetzt, bliebe zu prüfen; jedenfalls verlangen solche Divagationen ein besonderes Maß an Takt vom Regisseur. Zu lernen aber ist an dem Phänomen ein Dialektisches: daß die Technologie, isoliert genommen, also unter Absehen vom Sprachcharakter des Films, in Widerspruch zu seinen immanenten Gesetzmäßigkeiten treten kann. Die emanzipierte Filmproduktion sollte sich nicht länger, nach dem Modus einer keineswegs mehr neuen Sachlichkeit, unreflektiert auf die Technologie verlassen, auf den Fundus des Metiers. In ihm erreicht der Begriff des Materialgerechten seine Krisis, ehe ihm nur recht gehorcht ward. Die Forderung nach sinnvoller Relation von Verfahrungsweisen, Stoff und Gehalt und der Fetischismus der Mittel vermischen sich trüb. Unbestreitbar, daß Papas Kino tatsächlich dem entspricht, was die Konsumenten wollen, oder besser vielleicht: daß es ihnen einen unbewußten Kanon dessen an die Hand gibt, was sie nicht wollen, nämlich was anders wäre, als womit man sie füttert. Sonst wäre die Kulturindustrie nicht zur Massenkultur geworden, obwohl die Identität von beidem nicht so über jedem Zweifel ist, wie der Kritische denkt, solange er auf der Produktionsseite verbleibt und nicht die Rezeption empirisch überprüft. Dennoch ist die bei der ganzen und halben Apologetik beliebte These, Kulturindustrie sei Konsumentenkunst, unwahr, die Ideologie der Ideologie. Schon die nivellierende Gleichsetzung der Kulturindustrie mit der niedrigen Kunst aller Zeiten taugt nichts. Der Kulturindustrie eignet ein Moment der Rationalität, der planvollen Reproduktion des
Niedrigen, das in der niederen Kunst von anno dazumal sicherlich nicht fehlte, aber auch nicht deren kalkulables Gesetz war. Zudem rechtfertigt die ehrwürdige Roheit und Idiotie etwa der in der römischen Kaiserzeit beliebten Zwischengebilde von circenses und Posse nicht, dergleichen aufzuwärmen, nachdem es ästhetisch wie gesellschaftlich einmal durchschaut ist. Jedoch selbst in der puren Gegenwart, ohne Rücksicht auf die geschichtliche Dimension, ist die These von der Konsumentenkunst anzufechten. Sie malt das Verhältnis zwischen der Kunst und ihrer Rezeption statisch-harmonistisch aus, nach dem selbst dubiosen Modell von Angebot und Nachfrage. So wenig wie ohne Relation zum objektiven Geist ihrer Epoche indessen ist Kunst vorzustellen ohne das Moment, das über jenen hinausgeht. Die Trennung von der empirischen Realität, die in der Konstitution von Kunst vorweg gelegen ist, verlangt nach jenem Moment. Die Anpassung an den Konsumenten dagegen, die sich am liebsten als Humanität erklärt, ist ökonomisch nichts als die Technik seiner Ausbeutung. Künstlerisch bedeutet sie den Verzicht auf allen Eingriff in die dickflüssige Masse des gängigen Idioms, und damit auch ins verdinglichte Bewußtsein des Publikums. Indem die Kulturindustrie es mit scheinheiliger Ergebenheit reproduziert, verändert sie es erst recht, nämlich in ihrem Sinn: verhindert, daß es von sich aus so sich änderte, wie es das insgeheim, tief uneingestanden, möchte. Die Konsumenten sollen bleiben, was sie sind, Konsumenten; deshalb ist die Kulturindustrie nicht Konsumentenkunst, sondern verlängert den Willen der Verfügenden in ihre Opfer hinein. Die automatische Selbstreproduktion des Bestehenden in seinen etablierten Formen ist Ausdruck der Herrschaft. Man wird beobachtet haben, daß es einem im ersten Augenblick schwerfällt, die Vorschau auf einen demnächst zu bringenden Film vom Hauptfilm, auf den man wartet, zu unterscheiden. Das sagt etwas über die Hauptfilme. Wie die Vorschauen und wie die Schlager sind sie die Reklame ihrer selbst, tragen den Warencharakter als Kainszeichen auf der Stirn. Jeder kommerzielle Film ist eigentlich nur die Vorschau auf das, was er verspricht und worum er zugleich betrügt. Wie schön wäre es, wenn man, in der gegenwärtigen Situation,
behaupten dürfte, die Filme seien um so mehr Kunstwerke, je weniger sie als Kunstwerke auftreten. Den piekfeinen, zumal psychologischen class A-pictures gegenüber, welche die Kulturindustrie der kulturellen Repräsentation zuliebe sich abringt, neigt man dazu. Gleichwohl muß man sich vorm Optimismus des Justament hüten: die standardisierten Westerns und Krimis, vom deutschen Humor und der Heimatschnulze zu schweigen, sind schlimmer noch als die offiziellen Spitzen. In der integralen Kultur ist nicht einmal mehr Verlaß auf ihren Bodensatz.
Fußnoten 1 Vgl. Siegfried Kracauer, Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit, Frankfurt a.M. 1964, S. 71ff.
Zweimal Chaplin I Prophezeit von Kierkegaard In einer seiner früheren pseudonymen Schriften, der ›Wiederholung‹, befaßt Kierkegaard sich des näheren mit der Posse, getreu einer Überzeugung, die ihn im Abfall von Kunst oftmals suchen läßt, was dem Anspruch ihrer großen geschlossenen Werke etwa entgeht. Dort redet er über das alte Friedrichstädter Theater in Berlin und beschreibt einen Komiker namens Beckmann, in dessen Bild er das des späteren Chaplin mit der sanften Treue der Daguerreotypie zitiert. Die Sätze lauten: »Er kann nicht bloß gehen, sondern er kann gehend kommen. Das ist etwas ganz anderes, gehend zu kommen, und durch diese Genialität improvisiert er zugleich die ganze szenische Umgebung und kann nicht bloß einen wandernden Handwerksburschen vorstellen, sondern er kann wie ein solcher gehend kommen, und zwar so, daß man alles erlebt, daß man vom Staub der Landstraße aus das freundliche Dorf erblickt und seinen stillen Lärm hört, den Fußweg selber, der dort unten am Dorfteich geht, wenn man beim Schmied abbiegt – wo man Beckmann kommen sieht mit seinem kleinen Bündel auf dem Rücken, seinen Stock in der Hand, sorglos und unverdrossen. Er kann gehend auf die Bühne kommen mit Straßenjungen hinter sich, die man nicht sieht.« – Der gehend Kommende ist Chaplin, der gleich einem langsamen Meteor die Welt streift, auch wo er zu ruhen scheint, und die imaginäre Landschaft, die er mit sich bringt, ist dessen Aura, die hier im stillen Lärm des Dorfes zum durchsichtigen Frieden sich sammelt, während er mit Stock und Hut, die ihm gut stehen, weiter wandelt. Der unsichtbare Schweif von Straßenjungen ist der des Kometen, den die Erde durchschneidet, fast ohne seiner inne zu werden. Gedenkt man aber der Szene im ›Goldrausch‹, da Chaplin wie eine geisternde Photographie im lebendigen Film zum Goldgräberdorf gehend kommt und kriechend in der Hütte verschwindet, dann ist es, als habe seine Figur, plötzlich von Kierkegaard wiedererkannt, als Staffage die Stadtlandschaft von 1840 bevölkert, aus deren Hintergrund der Stern
jetzt endlich sich löste.
II In Malibu Daß den Tiefsinn die tiefen Gegenstände verdrießen; daß er lieber, nach Benjamins Formel, ans Intentionslose sich heftet, wäre ihm zum Guten anzurechnen, würde er nicht daran so selbstzufrieden, und ungehemmt vom Objekt, sich austoben. Meist benutzt er die unabgegriffenen Gegenstände als Vorwand fürs Unverbindliche und Banale, unter Ausnutzung der scheinbaren Widerstandslosigkeit dessen, was von sich aus keine Bedeutungen beistellt und womöglich, so wie es unmittelbar ist, selber zum Banalen oder Albernen tendiert gleich den leeren Begriffen, auf die der fixe Geist es abzieht. Die Liaison zwischen Geist und Clown ist so verständlich wie unglücklich. Keine Dämonologie wurde dem Liebling der Kinder erspart; man ist es ihm schuldig, ihm überhaupt erst einmal wieder das Lachen zu attestieren, das er erregt, ehe man ihn mit dem Flitter großer Kategorien behängt, die mehr, und weniger amüsant, um ihn schlottern als seine traditionelle Tracht. Zumindest wäre ihm lange und gründliche Schonfrist zu gönnen. Die Psychoanalyse sucht die Figur des Clowns auf Reaktionsweisen der frühesten Kindheit, vor aller Kristallisation eines festen Ichs, zu beziehen. Wie immer es damit sich verhält: mehr Aufschluß über den Clown wäre zu suchen bei den Kindern, die mit seinem Bild so rätselhaft sich verständigen wie mit den Tieren, als bei der Bedeutung seines Tuns, das doch Bedeutung verneint. Erst wer der dem Clown und den Kindern gemeinsamen, sinnfernen Sprache mächtig wäre, verstünde ihn selber, in dem Natur schockhaften Abschied nimmt auf der Flucht wie der alte Mann der Illustration »Winter ade«; Natur, so unerbittlich verdrängt vom Prozeß des Erwachsenwerdens, wie jene Sprache den Erwachsenen unwiederbringlich ist. Ihr Verlust gebietet Schweigen im Angesicht Chaplins vor allen anderen. Denn sein Vorrang vor den anderen Clowns, denen er stolz sich zurechnet – soviel ich weiß, ist deren Club der einzige, dem er angehört –, verführt zu Interpretationen, die ihm um so mehr Unrecht antun, je höher sie ihn erheben: dadurch entfernen sie sich
von dem Unauflöslichen, das aufzulösen allein die Chaplins würdige Aufgabe seiner Interpretation wäre. Dagegen möchte ich mich nicht verfehlen. Nur weil ich ihn, vor langen Jahren, kannte, halte ich zwei, drei Beobachtungen, ohne allen philosophischen Anspruch, fest, die vielleicht einmal zur écriture seines Bildes beitragen könnten. Man weiß, wie anders die Privatperson Chaplin aussieht als der Vagabund auf der Leinwand. Das bezieht sich aber nicht bloß auf die soignierte Eleganz, die er als Clown wiederum parodiert, sondern auf den Ausdruck. Der hat nichts zu tun mit dem Sympathie heischenden, preisgegebenen und unzerreißbaren Opfer. Eher mahnt seine kraftvolle, jähe und geistesgegenwärtige Beweglichkeit ans zum Sprung bereite Raubtier. Durch dies Tierhafte allein mochte die früheste Kindheit ins wache Leben sich hinüberretten. Etwas an dem empirischen Chaplin ist, als wäre er nicht Opfer, sondern suche solche, spränge sie an, zerrisse sie: bedrohlich. Gut könnte man sich vorstellen, daß seine abgründige Dimension, eben das, was den vollkommensten Clown zu mehr macht als seine Gattung, damit zusammenhängt: daß er gleichsam auf die Umwelt sein Gewaltsames und Beherrschendes projiziert und erst durch diese Projektion der eigenen Schuldhaftigkeit jene Unschuld herstellt, die ihm dann mehr Gewalt verleiht, als alle Gewalt hat. Ein Königstiger als Vegetarianer; tröstlich, weil sein Gutes, dem die Kinder zujubeln, selber dem Bösen abgedungen ist, das ihn vergebens zu vernichten sucht, weil er es im eigenen Bilde vorher schon vernichtete. Geistesgegenwart, Allgegenwart der mimischen Fähigkeit eignet auch dem empirischen Chaplin. Bekannt ist wohl, daß er seine mimischen Künste nicht den Filmen aufspart, die er, seit seiner Jugend, nur in großen Intervallen und offenbar höchst selbstkritisch produziert. Er spielt unablässig, gleich dem Kafkaschen Trapezkünstler, der im Gepäcknetz schläft, um nur ja keinen Augenblick im Training nachzulassen. Jedes Zusammensein mit ihm ist ununterbrochene Vorstellung. Kaum getraut man sich, zu ihm zu reden, nicht aus Respekt vor dem Ruhm – keiner könnte weniger aus ihm ableiten, keiner unprätentiöser sein als er –, sondern aus Scheu, mit der Vorstellung den Bann zu stören. Es ist, als bildete er das erwachsene, zweckvolle Leben, das Rationalitätsprinzip selbst zurück in mimetische Verhaltensweisen, und versöhnte es dadurch. Das aber verleiht seiner leibhaften
Existenz ein Imaginäres jenseits der offiziellen Kunstformen. Fehlen dem Privatmann die Züge des berühmten Clowns, als läge ein Tabu über diesem, so hat er um so mehr vom Jongleur. Rastelli der Mimik, spielt er mit den ungezählten Bällen seiner reinen Möglichkeit und fügt ihr ruheloses Kreisen zu einem Gewebe, das mit der kausalen Welt so wenig mehr gemein hat wie das Wolkenkuckucksheim mit der Schwerkraft der Newtonschen Physik. Unablässige und unwillkürliche Verwandlung: das ist bei Chaplin die Utopie einer Existenz, die befreit wäre von der Last des Man-selbst-Seins. Sein lady killer war schizophren. Daß ich von ihm rede, darf ich vielleicht mit einem Privileg rechtfertigen, das mir, ganz ohne mein Verdienst, zuteil wurde. Er hat mich nachgemacht; sicherlich bin ich einer der wenigen Intellektuellen, denen das widerfuhr, und die von dem Augenblick Rechenschaft zu geben vermögen. Wir waren, mit vielen anderen zusammen, in einer Villa in Malibu, am Strande außerhalb von Los Angeles, eingeladen. Einer der Gäste verabschiedete sich früher, während Chaplin neben mir stand. Ich reichte jenem, anders als Chaplin, ein wenig geistesabwesend die Hand und zuckte fast zugleich heftig zurück. Der Abschiednehmende war einer der Hauptdarsteller aus dem kurz nach dem Krieg berühmt gewordenen Film ›The Best Years of Our Life‹; er hatte im Krieg die Hand verloren und trug an deren Statt aus Eisen gefertigte, aber praktikable Klauen. Als ich die Rechte schüttelte, und sie auch noch den Druck erwiderte, erschrak ich aufs äußerste, spürte aber sofort, daß ich das dem Verletzten um keinen Preis zeigen dürfte, und verwandelte mein Schreckgesicht im Bruchteil einer Sekunde in eine verbindliche Grimasse, die weit schrecklicher gewesen sein muß. Kaum hatte der Schauspieler sich entfernt, als Chaplin bereits die Szene nachspielte. So nah am Grauen ist alles Lachen, das er bereitet und das einzig in solcher Nähe seine Legitimation gewinnt und sein Rettendes. Meine Erinnerung daran, und der Dank, sollte mein Glückwunsch zum fünfundsiebzigsten Geburtstag sein.
Thesen zur Kunstsoziologie
Rolf Tiedemann gewidmet
1 Kunstsoziologie umfaßt, dem Wortsinn nach, alle Aspekte im Verhältnis von Kunst und Gesellschaft. Unmöglich, sie auf irgendeinen, etwa auf die gesellschaftliche Wirkung von Kunstwerken, einzuschränken. Denn diese Wirkung ist selbst nur ein Moment in der Totalität jenes Verhältnisses. Sie herauszulösen und für den einzig würdigen Gegenstand von Kunstsoziologie zu erklären, hieße deren sachliches Interesse, das jeder vorgreifenden Definition sich entzieht, durch methodologische Präferenz zu ersetzen, nämlich die für die Verfahrungsweisen der empirischen Sozialforschung, mit denen man die Rezeption von Werken feststellen und quantifizieren zu können beansprucht. Die dogmatische Beschränkung auf diesen Sektor würde aber deshalb die objektive Erkenntnis gefährden, in deren Zeichen man ihr Monopol anmeldet, weil die Wirkungen von Kunstwerken, überhaupt von geistigen Gebilden, kein Absolutes und Letztes sind, das durch den Rekurs auf die Rezipierenden hinlänglich bestimmt würde. Vielmehr hängen die Wirkungen von zahllosen Mechanismen der Verbreitung, der sozialen Kontrolle und Autorität, schließlich der gesellschaftlichen Struktur ab, innerhalb deren Wirkungszusammenhänge sich konstatieren lassen; auch vom gesellschaftlich bedingten Bewußtseins- und Unbewußtseinsstand derer, auf welche die Wirkung ausgeübt wird. In Amerika erkennt die empirische Sozialforschung das längst an. So hat Paul F. Lazarsfeld, einer ihrer renommiertesten und entschiedensten Vertreter, in das Buch ›Radio Research 1941‹ zwei Studien aufgenommen, die ausdrücklich Fragen der Determination jener Massenwirkungen behandeln, die, wenn ich die polemische Absicht von Alphons Silbermann recht verstehe, das einzige legitime Gebiet von Musiksoziologie bilden sollen, nämlich das »plugging«, also die Hochdruckreklame, durch die Schlager zu solchen gemacht werden, und gewisse Strukturprobleme der Musik selbst, die in einer
komplexen und dem historischen Wandel unterliegenden Beziehung zur Wirkung stehen. Die einschlägigen Erwägungen finden sich jetzt in dem Kapitel ›Über die musikalische Verwendung des Radios‹ aus dem ›Getreuen Korrepetitor‹. Musiksoziologie fiele hinter den bereits erreichten Standard gerade auch der amerikanischen Forschung zurück, wenn sie derlei Fragestellungen nicht als gleichberechtigt anerkennte.
2 Ich fühle mich durchaus mißverstanden, wenn meine musiksoziologischen Publikationen seit der Rückkehr aus der Emigration als der empirischen Sozialforschung entgegengesetzt betrachtet werden. Nachdrücklich möchte ich unterstreichen, daß ich innerhalb ihres Sektors diese Verfahrungsarten nicht nur für wichtig sondern auch für angemessen halte. Die gesamte Produktion der sogenannten Massenmedien ist a priori schon den empirischen Methoden auf den Leib geschrieben, deren Resultate dann wieder die Massenmedien benutzen. Die enge Verbindung zwischen diesen und der empirischen Sozialforschung ist bekannt: der gegenwärtige Präsident eines der größten amerikanischen kommerziellen Radio-Unternehmen, der CBS, war, ehe er seine jetzige Position erlangte, Researchdirektor seiner Firma. Ich meine jedoch, daß es die einfachste Menschenvernunft, keineswegs erst die philosophische Reflexion, gebietet, Erhebungen des Umfragetypus in den richtigen Zusammenhang zu rücken, wenn sie tatsächlich der gesellschaftlichen Erkenntnis dienen und nicht nur Informationen für Interessenten beistellen sollen. Auch Silbermann verlangt das und redet, im Anschluß an René König, von der analytischen Funktion der Kunstsoziologie. Lazarsfeld bezeichnete das seinerzeit, zustimmend, mit dem Begriff eines critical communication research, im Gegensatz zu einem lediglich administrativen. Der Begriff des »Kunsterlebnisses«, mit dem Silbermann zufolge die Kunstsoziologie ausschließlich sich beschäftigen soll, bietet Probleme, die einzig durch Untersuchungen über die je zu »erlebende« Sache und die Bedingungen ihrer Verbreitung gelöst werden können; allein in einem solchen Kontext gewinnen Erhebungen ihren Stellenwert. Das sogenannte Kunsterlebnis, das so wenig Schlüsselcharakter für den Kulturkonsumenten wie für den Kompetenten hat, ist äußerst schwer dingfest zu machen. Außer bei streng Sachverständigen dürfte es überaus diffus sein. Bei vielen Menschen widerstrebt es der Verbalisierung. Angesichts der Massenkommunikationen, die ein ganzes System von Reizen bilden, handelt es sich überdies weniger um einzelne Erlebnisse als um den kumulativen Effekt. »Kunsterlebnisse« gelten überhaupt nur relativ
auf ihr Objekt; nur in der Konfrontation mit diesem ist ihre Bedeutung festzustellen. Bloß scheinbar sind sie ein Erstes, in Wahrheit ein Resultat; unendlich viel steht hinter ihnen. Probleme wie das der Adäquanz oder Inadäquanz von »Kunsterlebnissen« an ihren Gegenstand, wie sie etwa durch die Massenrezeption als klassisch eingereihter Kunstwerke aufgeworfen werden: Probleme von offensichtlich höchster soziologischer Relevanz können durch bloß subjektiv gerichtete Methoden überhaupt nicht erfaßt werden. Das kunstsoziologische Ideal wäre, objektive Analysen – das heißt, solche der Werke –, Analysen der strukturellen und spezifischen Wirkungsmechanismen und solche der registrierbaren subjektiven Befunde aufeinander abzustimmen. Sie müßten sich wechselseitig erhellen.
3 Die Frage, ob Kunst und alles, was auf sie sich bezieht, soziales Phänomen sei, ist selbst ein soziologisches Problem. Es gibt Kunstwerke höchster Dignität, die zumindest nach den Kriterien ihrer quantitativen Wirkung sozial keine erhebliche Rolle spielen und die darum Silbermann zufolge aus der Betrachtung auszuscheiden hätten. Dadurch aber würde die Kunstsoziologie verarmen: Kunstwerke obersten Ranges fielen durch ihre Maschen. Wenn sie, trotz ihrer Qualität, nicht zu erheblicher sozialer Wirkung gelangen, ist das ebenso ein fait social wie das Gegenteil. Soll die Kunstsoziologie davor einfach verstummen? Der soziale Gehalt von Kunstwerken selbst liegt zuweilen, etwa konventionellen und verhärteten Bewußtseinsformen gegenüber, gerade im Protest gegen soziale Rezeption; von einer historischen Schwelle an, die in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts zu suchen wäre, ist das bei autonomen Gebilden geradezu die Regel. Kunstsoziologie, die das vernachlässigte, machte sich zu einer bloßen Technik zugunsten der Agenturen, die berechnen wollen, womit sie eine Chance haben, Kunden zu werben, und womit nicht.
4 Das latente Axiom der Auffassung, welche Kunstsoziologie auf die Erhebung von Wirkungen vereidigen möchte, ist, daß Kunstwerke in den subjektiven Reflexen auf sie sich erschöpfen. Sie sind dieser wissenschaftlichen Haltung nichts als Stimuli. Das Modell paßt in weitestem Maß auf die Massenmedien, die auf Wirkungen kalkuliert und nach präsumtiven Wirkungen, und zwar im Sinn der ideologischen Ziele der Planenden, gemodelt sind. Es gilt aber nicht generell. Autonome Kunstwerke richten sich nach ihrer immanenten Gesetzlichkeit, nach dem, was sie als sinnvoll und stimmig organisiert. Die Intention der Wirkung mag beiher spielen. Ihr Verhältnis zu jenen objektiven Momenten ist komplex und variiert vielfach. Es ist aber gewiß nicht das ein und alles der Kunstwerke. Diese sind selbst ein Geistiges, ihrer geistigen Zusammensetzung nach erkennbar und bestimmbar; nicht unqualifizierte, gleichsam unbekannte und der Analyse entzogene Ursachen von Reflexbündeln. Unvergleichlich viel mehr ist an ihnen auszumachen, als ein Verfahren sich beikommen läßt, das Objektivität und Gehalt der Werke, wie man neudeutsch sagt, ausklammern möchte. Eben dies Ausgeklammerte hat soziale Implikate. Daher ist die geistige Bestimmung der Werke, positiv oder negativ, in die Behandlung der Wirkungszusammenhänge hineinzunehmen. Da Kunstwerke einer anderen Logik als der von Begriff, Urteil und Schluß unterliegen, haftet der Erkenntnis objektiven künstlerischen Gehalts ein Schatten des Relativen an. Aber von dieser Relativität im Höchsten bis zu der prinzipiellen Leugnung eines objektiven Gehaltes überhaupt ist ein so weiter Weg, daß man den Unterschied als einen ums Ganze betrachten darf. Schließlich mag es sehr große Schwierigkeiten bereiten, den objektiven Gehalt eines späten Quartetts von Beethoven denkend zu entfalten; aber die Differenz zwischen diesem Gehalt und dem eines Schlagers ist, und zwar in sehr bündigen, weithin technischen Kategorien, anzugeben. Die Irrationalität der Kunstwerke wird im allgemeinen von Kunstfremden viel höher angeschlagen als von denen, die in die Disziplin der Werke selbst sich begeben und von ihnen etwas verstehen. Zu dem Bestimmbaren gehört auch der den
Kunstwerken immanente soziale Gehalt, etwa das Verhältnis Beethovens zu bürgerlicher Autonomie, Freiheit, Subjektivität, bis in seine kompositorische Verfahrungsweise hinein. Dieser soziale Gehalt ist, ob auch unbewußt, ein Ferment der Wirkung. Desinteressiert Kunstsoziologie sich daran, so verfehlt sie die tiefsten Beziehungen zwischen der Kunst und der Gesellschaft: die, welche in den Kunstwerken selbst sich kristallisieren.
5 Das berührt auch die Frage nach der künstlerischen Qualität. Diese ist zunächst einmal ganz schlicht als eine der Angemessenheit ästhetischer Mittel an ästhetische Zwecke, der Stimmigkeit, dann aber auch als die der Zwecke selbst – ob es sich etwa um die Manipulation von Kunden oder um ein geistig Objektives handelt – der soziologischen Untersuchung offen. Wofern diese nicht unmittelbar auf solche kritische Analyse sich einläßt, bedarf sie deren doch als ihrer eigenen Bedingung. Das Postulat der sogenannten Wertfreiheit kann davon nicht dispensieren. Die gesamte Diskussion über Wertfreiheit, die man neuerdings wieder zu beleben und sogar zum entscheidenden Kontroverspunkt der Soziologie zu machen sucht, ist überholt. Auf der einen Seite kann nicht nach freischwebenden, gleichsam jenseits der sozialen Verflechtungen, oder jenseits der Manifestationen des Geistes etablierten Werten geblickt werden. Das wäre dogmatisch und naiv. Der Wertbegriff selbst ist bereits Ausdruck einer Situation, in der das Bewußtsein geistiger Objektivität aufgeweicht ward. Als Gegenschlag gegen den kruden Relativismus hat man ihn willkürlich verdinglicht. Andererseits aber setzt jede künstlerische Erfahrung, in Wahrheit sogar jedes einfache Urteil der prädikativen Logik, so sehr Kritik voraus, daß davon zu abstrahieren ebenso willkürlich und abstrakt wäre wie die Hypostasis der Werte. Die Scheidung von Werten und Wertfreiheit ist von oben her ausgedacht. Beide Begriffe tragen die Male eines falschen Bewußtseins, die irrationale, dogmatische Hypostase ebenso wie das neutralisierende, in seiner Urteilslosigkeit gleichfalls irrationale Hinnehmen dessen, was der Fall sei. Kunstsoziologie, welche von dem Max Weberschen Postulat sich gängeln ließe, das jener, sobald er Soziologe und nicht Methodologe war, sehr qualifizierte, würde bei allem Pragmatismus unfruchtbar. Gerade durch ihre Neutralität geriete sie in überaus fragwürdige Wirkungszusammenhänge, den bewußtlosen Dienst für jeweils mächtige Interessen, denen dann die Entscheidung zufällt, was gut sei und was schlecht.
6 Silbermann bekennt sich zur Ansicht, daß es eine der Aufgaben der Kunstsoziologie sei, sozialkritisch zu wirken 1 . Es scheint mir aber nicht möglich, diesem Desiderat gerecht zu werden, wenn der Gehalt der Werke, und ihre Qualität, ausgeschaltet würden. Wertfreiheit und sozialkritische Funktion sind unvereinbar. Weder kann man dann vernünftige Sätze über zu erwartende, und zur Kritik stehende, soziale Folgen spezifischer Kommunikationen aussprechen, noch überhaupt entscheiden, was etwa zu verbreiten und nicht zu verbreiten wäre. Zum einzigen Kriterium wird die soziale Wirksamkeit der Werke, eine simple Tautologie. Zwingend schließt sie ein, daß Kunstsoziologie in ihren Empfehlungen nach dem status quo sich zu richten und eben jener Sozialkritik sich zu enthalten habe, deren Notwendigkeit Silbermann doch keineswegs bestreitet. Die Aufstellung sogenannter »Kulturtabellen« für die Programmgestaltung des Rundfunks etwa liefe, wenn ich recht sehe, lediglich auf eine Beschreibung geltender Kommunikationsrelationen hinaus, ohne irgend kritische Möglichkeiten zu eröffnen. Statt dessen käme sie eben jener vorwaltenden Anpassung von Medien und Menschen zugute, der autonome Erkenntnis zu widerstehen hätte. Ob im übrigen der Begriff der Kultur selbst dem von Silbermann propagierten Typus von Analyse zugänglich ist, muß bezweifelt werden. Kultur ist der Zustand, welcher Versuche, ihn zu messen, ausschließt. Die gemessene Kultur ist bereits etwas ganz anderes, ein Inbegriff von Reizen und Informationen, dem Kulturbegriff selbst inkompatibel. Daran wird deutlich, wie wenig die von Silbermann wie vielen anderen geforderte Eliminierung der philosophischen Dimension aus der Soziologie angängig ist. Soziologie entsprang in der Philosophie; sie bedarf auch heute noch, wenn sie nicht gänzlich begriffslos bleiben will, des Typus von Reflexion und Spekulation, der in der Philosophie entstanden war. Schließlich sind die quantitativen Resultate sogar statistischer Erhebungen, wie die statistische Wissenschaft mittlerweile unterstreicht, nicht Selbstzweck, sondern dazu da, daß einem an ihnen soziologisch etwas aufgeht. Dies »Aufgehen« fiele aber, im Sinn von
Silbermanns Distinktion, durchaus unter die Kategorie des Philosophischen. Die Arbeitsteilung zwischen Disziplinen wie Philosophie, Soziologie, Psychologie und Geschichte liegt nicht in ihrem Gegenstand, sondern ist diesem von außen aufgezwungen. Wissenschaft, die wirklich eine ist, nicht naiv geradehin gerichtet, vielmehr in sich selbst reflektiert, kann dem Objekt gegenüber zufällige Arbeitsteilung nicht respektieren: auch daraus zieht man in Amerika die Konsequenz. Die Forderung interdisziplinärer Methoden gilt für die Soziologie, die in gewissem Sinn auf alle überhaupt möglichen Gegenstände sich erstreckt, in besonderem Maß. Sie müßte, als gesellschaftliches Bewußtsein, trachten, etwas von dem gesellschaftlichen Unrecht wiedergutzumachen, das Arbeitsteilung dem Bewußtsein angetan hat. Kein Zufall, daß in Deutschland fast alle heute sichtbar tätigen Soziologen von der Philosophie herkommen, auch die der Philosophie am heftigsten Opponierenden. Just in der jüngsten soziologischen Positivismusdebatte wird die philosophische Dimension in die Soziologie hineingezogen.
7 Schließlich zur Terminologie: was ich in der ›Einleitung in die Musiksoziologie‹ Vermittlung genannt habe, ist nicht, wie Silbermann annimmt, dasselbe wie Kommunikation. Den Begriff der Vermittlung habe ich dort, ohne dies Philosophische im mindesten verleugnen zu wollen, streng im Hegelschen Sinn gebraucht. Vermittlung ist ihm zufolge die in der Sache selbst, nicht eine zwischen der Sache und denen, an welche sie herangebracht wird. Das letztere allein jedoch wird unter Kommunikation verstanden. Ich meine, mit anderen Worten, die sehr spezifische, auf die Produkte des Geistes zielende Frage, in welcher Weise gesellschaftliche Strukturmomente, Positionen, Ideologien und was immer in den Kunstwerken selbst sich durchsetzen. Die außerordentliche Schwierigkeit des Problems habe ich ungemildert hervorgehoben, und damit die einer Musiksoziologie, die nicht mit äußerlichen Zuordnungen sich begnügt; nicht damit, zu fragen, wie die Kunst in der Gesellschaft steht, wie sie in ihr wirkt, sondern die erkennen will, wie Gesellschaft in den Kunstwerken sich objektiviert. Die Frage nach der Kommunikation, die ich, und zwar als kritische, für ebenso relevant halte wie Silbermann, ist davon sehr verschieden. Bei der Kommunikation ist aber nicht nur zu bedenken, was jeweils offeriert und was nicht kommuniziert wird; auch nicht nur, wie die Rezeption erfolgt, übrigens ein Problem qualitativer Differenzierung, von dessen Schwierigkeiten einzig der sich eine Vorstellung macht, der einmal im Ernst versucht hat, Hörerreaktionen genau zu beschreiben. Es gehört dazu wesentlich, was kommuniziert wird. Vielleicht darf ich, um das zu erläutern, an meine Frage erinnern, ob eine durchs Radio verbreitete, und womöglich ad nauseam wiederholte Symphonie überhaupt noch die Symphonie ist, von der die herrschende Vorstellung annimmt, daß das Radio sie Millionen schenkte. Das hat dann weittragende bildungssoziologische Konsequenzen; etwa, ob die massenhafte Verbreitung irgendwelcher Kunstwerke tatsächlich jene Bildungsfunktion besitze, die ihr zugesprochen wird; ob es unter den gegenwärtigen Kommunikationsbedingungen irgend zu jenem Typus von Erfahrung kommt, den künstlerische Bildung
stillschweigend meint. Der Streit um die Kunstsoziologie ist für die Bildungssoziologie unmittelbar relevant.
Fußnoten 1 Vgl. Alphons Silbermann, Art. »Kunst« in: Soziologie, hrsg. von René König, Fischer Lexikon, Frankfurt a.M. 1958, S. 165.
Funktionalismus heute So dankbar ich bin für das Vertrauen, das Adolf Arndt durch seine Einladung mir bewies, so ernst sind meine Zweifel daran, ob ich wirklich das Recht habe, bei Ihnen zu sprechen. Metier, Sachverständnis für die handwerklichen und technischen Fragen, gilt in Ihrem Kreis mit gutem Grund sehr viel. Gibt es eine Idee, die in der Werkbundbewegung sich durchhielt, dann ist es eben die sachlicher Zuständigkeit, im Gegensatz zu losgelassener, materialfremder Ästhetik. Mir ist vom eigenen Metier, der Musik her diese Forderung selbstverständlich, dank einer Schule, die sowohl zu Adolf Loos wie zum Bauhaus in nahen personellen Beziehungen stand und sich den Bestrebungen der Sachlichkeit geistig in vielem verwandt wußte. Aber ich kann nicht die mindeste Kompetenz in Dingen der Architektur beanspruchen. Wenn ich trotzdem der Lockung nicht widerstand und der Gefahr mich aussetzte, von Ihnen als Dilettant geduldet und beiseite geschoben zu werden, so kann ich, außer darauf, daß es mir Freude macht, einige Überlegungen gerade Ihnen vorzutragen, mich allenfalls auf die Ansicht von Adolf Loos berufen, ein Kunstwerk habe niemandem zu gefallen, das Haus aber sei einem jeden verantwortlich 1 . Ich weiß nicht, ob der Satz zutrifft, brauche indessen kaum päpstlicher zu sein als der Papst. Das Unbehagen, das mich beim deutschen Wiederaufbaustil befällt und das gewiß viele von Ihnen teilen, bewegt mich, der dem Anblick derartiger Bauten nicht weniger ausgesetzt ist als ein Fachmann, nach dem Grund zu fragen. Das Gemeinsame von Architektur und Musik hat man längst in einer bis zum Überdruß wiederholten Pointe ausgesprochen. Indem ich, was ich sehe, zusammenbringe mit dem, was ich von den Schwierigkeiten der Musik weiß, verhalte ich mich vielleicht doch nicht ganz so unverbindlich, wie nach den Regeln der Arbeitsteilung zu erwarten wäre. Dabei muß ich eine größere Distanz einnehmen, als Sie mit Fug erwarten. Doch scheint es mir nicht außerhalb jeder Möglichkeit, daß es zuzeiten – in latenten Krisensituationen – einiges Gute hat, von den Phänomenen weiter sich zu entfernen, als es das Pathos technischer Zuständigkeit dulden möchte. Materialgerechtigkeit hat Arbeitsteilung zur Grundlage; damit aber empfiehlt sich auch für den Sachverständigen
gelegentliche Rechenschaft darüber, wie weit sein Sachverständnis unter der Arbeitsteilung leidet, wie weit die künstlerische Naivetät, deren es bedarf, zu ihrer eigenen Schranke werden kann. Lassen Sie mich davon ausgehen, daß die anti-ornamentale Bewegung auch die zweckfreien Künste betroffen hat. In Kunstwerken nach dem ihnen Notwendigen zu fragen und gegen das Überflüssige sich spröde zu machen, liegt in ihnen selbst. Nachdem die Tradition den Künsten keinen Kanon des Richtigen und Falschen mehr beistellt, wird jedem Werk solche Reflexion aufgebürdet; ein jedes muß sich auf seine immanente Logik überprüfen, gleichgültig, ob diese von einem äußeren Zweck in Bewegung gebracht wird oder nicht. Das ist keineswegs neu; Mozart, wahrhaft doch Träger und kritischer Vollstrecker einer großen Tradition, antwortete auf den leisen Tadel eines Potentaten, nach der Premiere der ›Entführung‹: »Aber sehr viele Noten, lieber Mozart«: »Nicht eine mehr, Majestät, als notwendig ist.« Mit der Formel von der Zweckmäßigkeit ohne Zweck als einem Moment des Geschmacksurteils hat Kant in der ›Kritik der Urteilskraft‹ jene Norm philosophisch niedergelegt. Nur birgt sie eine geschichtliche Dynamik; was, in der vorgegebenen Sprache eines Materialbereichs, noch als notwendig sich auswies, wird überflüssig, tatsächlich schlecht ornamental, sobald es in jener Sprache, dem, was man gemeinhin Stil nennt, nicht mehr sich legitimiert. Was gestern funktional war, kann zum Gegenteil werden; diese geschichtliche Dynamik im Begriff des Ornaments hat Loos durchaus gewahrt. Noch das Repräsentative, Luxurierende, Üppige, in gewissem Sinn Aufgeklatschte mag in manchen Kunsttypen aus ihrem eigenen Prinzip heraus notwendig, nicht aufgeklatscht sein; den Barock deswegen zu verdammen, wäre banausisch. Kritik des Ornaments ist soviel wie Kritik an dem, was seinen funktionalen und symbolischen Sinn verloren hat und als verwesend Organisches, Giftiges übrig ist. Dem opponiert alle neue Kunst: dem Fiktiven der heruntergekommenen Romantik, dem Ornament, das sich nur noch beschämend ohnmächtig beschwört. Derlei Ornamente sind in der rein nach Ausdruck und Konstruktion organisierten neuen Musik nicht minder rigoros ausgemerzt worden als in der Architektur; die kompositorischen Neuerungen Schönbergs, der literarische Kampf von Karl Kraus gegen die Zeitungsphrase und die Denunziation des Ornaments durch Loos stehen keineswegs in vager
geistesgeschichtlicher Analogie, sondern sind unmittelbar desselben Sinnes. Das veranlaßt zu einer Korrektur der Loos'schen These, der der Generöse nicht sich verweigert hätte: daß die Frage des Funktionalismus nicht zusammenfällt mit der nach der praktischen Funktion. Die zweckfreien und die zweckgebundenen Künste bilden nicht den radikalen Gegensatz, den er unterstellte. Der Unterschied zwischen Notwendigem und Überflüssigem wohnt den Gebilden inne, erschöpft sich nicht in ihrer Bezogenheit auf ein ihnen Auswendiges, oder deren Abwesenheit. Bei Loos und in der Frühzeit des Funktionalismus sind das Zweckgebundene und das ästhetisch Autonome durch Machtspruch voneinander getrennt. Diese Trennung, an der die Reflexion erneut einsetzen muß, hatte ihren polemischen Angriffspunkt im Kunstgewerbe. In dessen Ära entsprang Loos; ihm entrang er sich, historisch gleichsam zwischen Peter Altenberg und Le Corbusier lokalisiert. Die Bewegung, die seit Ruskin und Morris sich aufbäumte gegen die Ungestalt massenproduzierter und zugleich pseudo-individualisierter Formen, zeitigte Begriffe wie Stilwille, Stilisierung, Gestaltung; die Idee, man solle Kunst ins Leben bringen, um es zu heilen, Kunst anwenden, und wie sonst die einschlägigen Parolen lauteten. Loos spürte früh das Fragwürdige solcher Bestrebungen: den Gebrauchsdingen widerfährt Unrecht, sobald man sie mit dem versetzt, was nicht von ihrem Gebrauch gefordert ist; der Kunst, dem unbeirrten Protest gegen die Herrschaft der Zwecke über die Menschen, wenn sie auf eben jene Praxis heruntergebracht wird, gegen die sie Einspruch erhebt nach dem Wort Hölderlins: »Denn nimmer von nun an / taugt zum Gebrauche das Heil'ge.« Kunstfremde Verkunstung der praktischen Dinge war so abscheulich wie die Orientierung der zweckfreien Kunst an einer Praxis, die sie schließlich doch der Allherrschaft des Profits eingeordnet hätte, gegen welche die kunstgewerblichen Bestrebungen zumindest in ihrem Anfang sich aufgelehnt hatten. Loos predigte demgegenüber Rückkehr zu einem anständigen Handwerk, das sich der technischen Neuerungen bedient, ohne seine Formen von der Kunst sich auszuborgen. Seine Forderungen, deren restauratives Element unterdessen kaum weniger offenbar ward als zuvor das kunstgewerblicher Individualisierung, kranken an der allzu schlichten Antithese; die Diskussionen über die Sachlichkeit schleppen sie bis heute mit.
Zweckfreies und Zweckhaftes in den Gebilden sind darum nicht absolut voneinander zu trennen, weil sie geschichtlich ineinander waren. Sind doch, wie bekannt, die Ornamente, die Loos mit einer Berserkerwut ächtete, die sonderbar absticht von seiner Humanität, vielfach Narben überholter Produktionsweisen an den Dingen. Umgekehrt sind noch in die zweckfreie Kunst Zwecke wie die von Geselligkeit, Tanz, Unterhaltung eingewandert, um schließlich in ihrem Formgesetz zu verschwinden. Die Zweckmäßigkeit ohne Zweck ist die Sublimierung von Zwecken. Es gibt kein Ästhetisches an sich, sondern lediglich als Spannungsfeld solcher Sublimierung. Deshalb aber auch keine chemisch reine Zweckmäßigkeit als Gegenteil des Ästhetischen. Selbst die reinsten Zweckformen zehren von Vorstellungen wie der formaler Durchsichtigkeit und Faßlichkeit, die aus künstlerischer Erfahrung stammen; keine Form ist gänzlich aus ihrem Zweck geschöpft. Nicht entbehrt es der Ironie, daß in einem der revolutionären Werke Schönbergs, dem Loos die einsichtigsten Worte widmete, der Ersten Kammersymphonie, ein Thema ornamentalen Charakters auftritt, mit einem Doppelschlag, der an eines der Hauptmotive der ›Götterdämmerung‹ und ein Thema des ersten Satzes der Siebenten Symphonie von Bruckner erinnert. Das Ornament ist der tragende Einfall, wenn man will, sachlich seinerseits. Gerade dies Überleitungsthema wird Modell einer kanonischen Durchführung im vierfachen Kontrapunkt, des ersten extrem konstruktivistischen Komplexes in der neuen Musik. Der Glaube an ein Material als solches ward seinerseits aus der Kunstgewerbereligion der vorgeblich edlen Stoffe übernommen; stets noch geistert er in der autonomen Kunst. An ihn schloß sich die Idee materialgerechter Kontruktion an. Ihm korrespondiert ein undialektischer Schönheitsbegriff, der die autonome Kunst als Naturschutzpark einfriedet. Wäre der Haß von Loos aufs Ornament folgerecht, er müßte auf die gesamte Kunst sich übertragen. Ist diese einmal zur Autonomie gediehen, so kann sie ornamentaler Einschläge darum nicht vollends sich entäußern, weil ihr eigenes Dasein, nach den Kriterien der praktischen Welt, Ornament wäre. Vor dieser Konsequenz schrickt, zu seiner Ehre, Loos zurück, ähnlich übrigens wie die Positivisten, die zwar aus der Philosophie verdrängen möchten, was ihnen darin Dichtung dünkt, nicht jedoch Dichtung an sich als Beeinträchtigung ihrer Art Positivität empfinden, sondern
sie in ihrem Spezialbereich neutralisiert, doch unangefochten dulden, weil sie die Idee objektiver Wahrheit überhaupt aufgeweicht haben. Daß das Material seine adäquate Form in sich trage, setzt voraus, daß es als solches bereits mit Sinn investiert ward wie einst von der symbolistischen Ästhetik. Der Widerstand gegens kunstgewerbliche Unwesen gebührt längst nicht nur den erborgten Formen; eher dem Kultus der Materialien, der eine Aura des Wesenhaften um sie legt. Das hat Loos in seiner Kritik an den Batikstoffen ausgedrückt. Die unterdessen erfundenen Kunststoffe – Material industriellen Ursprungs – lassen das archaistische Vertrauen auf ihre eingeborene Schönheit, Rudiment der Magie edler Steine, nicht mehr zu. Nicht zuletzt zeigt die Krisis der jüngsten Entwicklungen der autonomen Kunst, wie wenig aus dem Material an sich sinnvolle Organisation sich herausholen läßt; wie leicht diese der leeren Bastelei sich annähert; die Vorstellungen vom Materialgerechten in der Zweckkunst bleiben gegen solche kritischen Erfahrungen nicht gleichgültig. Das illusionäre Moment an der Zweckmäßigkeit als Selbstzweck enthüllt sich der einfachsten gesellschaftlichen Reflexion. Zweckmäßig jetzt und hier wäre nur, was es in der gegenwärtigen Gesellschaft ist. Dieser aber sind Irrationalitäten wesentlich, das, was Marx ihre »faux frais« nannte; denn der gesellschaftliche Prozeß verläuft in seinem Innersten, trotz aller partikularen Planung, nach wie vor planlos, irrational. Solche Irrationalität prägt sämtlichen Zwecken sich auf und dadurch auch der Rationalität der Mittel, die jene Zwecke erreichen sollen. So spottet die allgegenwärtige Reklame, zweckmäßig für den Profit, doch aller Zweckmäßigkeit nach dem Maß des Materialgerechten. Wäre sie funktionell, ohne ornamentalen Überschuß, so erfüllte sie ihren Zweck als Reklame nicht länger. Gewiß ist der Horror vor der Technik muffig und reaktionär. Aber er ist es nicht nur. Er ist zugleich der Schauder vor der Gewalt, die eine irrationale Gesellschaft ihren Zwangsmitgliedern antut und allem, was ist. In ihm zittert eine Kindererfahrung nach, die Loos, sonst mit frühen Erfahrungen gesättigt, fremd gewesen zu sein scheint: Sehnsucht nach dem Schloß mit langen Zimmerfluchten und seidenen Tapeten, der Utopie des Entronnenseins. Etwas von dieser Utopie lebt im Ekel vor der Lauftreppe, vor der von Loos gefeierten Küche, vorm
Fabrikschornstein, vor der schäbigen Seite der antagonistischen Gesellschaft. Sie wird vom Schein verklärt. Seine Demontage aber, die der Zinnen falscher Ritterburgen, die Thorstein Veblen verhöhnte, und noch des gestanzten Ornaments auf den Schuhen, hat über das Erniedrigte der Sphäre, in der immer noch Praxis sich zuträgt, keine Gewalt, sondern verstärkt womöglich das Grauen. Das hat Konsequenz auch für die Welt der Bilder. Positivistische Kunst, eine Kultur des bloß Seienden wurde verwechselt mit der ästhetischen Wahrheit. Absehbar ist der Prospekt einer Neo-Ackerstraße. Die Grenze des Funktionalismus bis heute ist die von Bürgerlichkeit als praktischem Sinn. Man trifft bei Loos, dem geschworenen Feind der Wiener Backhendlkultur, auf erstaunlich Bürgerliches. In seiner Stadt durchsetzte noch so viel von feudal-absolutistischen Formen das bürgerliche Gefüge, daß er mit dessen rigorosem Prinzip sich verbünden mochte, um vom altertümlichen Formelwesen sich zu emanzipieren; seine Schriften enthalten Angriffe etwa auf die umständlich kuriale Wiener Höflichkeit. Darüber hinaus jedoch hat seine Polemik eigentümlich puritanische Färbung; sie ist dem Obsessiven gesellt. Wie in vieler bürgerlicher Kulturkritik überschneidet bei Loos sich die Erkenntnis, daß diese Kultur noch keine sei, die ihn vorab in seinem Verhältnis zum Einheimischen geleitete, mit einem Moment von Kulturfeindschaft, das mit dem Schein am liebsten auch das Sanfte, Glättende der Hand verbieten möchte, unbekümmert darum, daß in Kultur weder die ungehobelte Natur ihre Stätte hat noch deren unbarmherzige Beherrschung. Die Zukunft von Sachlichkeit ist nur dann eine der Freiheit, wenn sie des barbarischen Zugriffs sich entledigt: nicht länger den Menschen, deren Bedürfnis sie zu ihrem Maßstab erklärt, durch spitze Kanten, karg kalkulierte Zimmer, Treppen und Ähnliches sadistische Stöße versetzt. Fast jeder Verbraucher wird das Unpraktische des erbarmungslos Praktischen an seinem Leib schmerzhaft gespürt haben; daher der Argwohn, was dem Stil absagt, sei bewußtlos selber einer. Loos führt die Ornamente auf erotische Symbole zurück. Die Forderung, diese abzuschaffen, paart sich mit seinem Widerwillen gegen erotische Symbolik; unerfaßte Natur ist ihm rückständig und peinlich in eins. Der Ton, in dem er das Ornament verurteilt, hat etwas von der – vielfach projektiven – Empörung über Sittlichkeitsverbrecher:
»Aber der mensch unserer zeit, der aus innerem drange die wände mit erotischen symbolen beschmiert, ist ein verbrecher oder ein degenerierter.« 2 Durchs Schimpfwort Degeneration gerät Loos in Zusammenhänge, die ihm unlieb gewesen wären. »Man kann«, meint er, »die kultur eines landes an dem grade messen, in dem die abortwände beschmiert sind.« 3 Aber in südlichen, überhaupt in romanischen Ländern wird man viel dergleichen finden; die Surrealisten haben solchen unbewußten Handlungen manches abgewonnen, und Loos hätte doch wohl gezögert, jene Gegenden eines Mangels an Kultur zu bezichtigen. Sein Haß aufs Ornament wäre nicht verständlich, fühlte er nicht darin den der rationalen Vergegenständlichung konträren mimetischen Impuls; den Ausdruck, noch als Trauer und Klage verwandt dem Lustprinzip, das deren Ausdruck verneint. Nur schematisch kann das Ausdrucksmoment in die Kunst relegiert und von den Dingen des Gebrauchs abgespalten werden; selbst wo es diesen fehlt, zollen sie ihm Tribut durch die Anstrengung, es zu vermeiden. Veraltete Gebrauchsdinge vollends werden zum Ausdruck, zum kollektiven Bild der Epoche. Kaum eine praktische Form, die nicht, neben ihrer Angemessenheit an den Gebrauch, auch Symbol wäre; die Psychoanalyse hat das zumal an den archaischen Bildern des Unbewußten dargetan, unter denen das Haus obenan figuriert, und die symbolische Intention heftet sich nach Freuds Einsicht hurtig an technische Formen wie das Luftschiff; in der gegenwärtigen Massenpsychologie, nach amerikanischen Forschungen, insbesondere ans Auto. Zweckformen sind die Sprache ihres eigenen Zwecks. Kraft des mimetischen Impulses macht das Lebendige dem, was es umgibt, sich gleich, längst ehe Künstler nachzuahmen beginnen; was Symbol, dann Ornament, endlich überflüssig erscheint, hat seinen Ursprung in Naturgestalten, denen die Menschen durch ihre Artefakte sich anpassen. Das Innere, das sie in jenem Impuls ausdrücken, war einmal ein Äußeres, zwangvoll Objektives. Das dürfte die seit Loos bekannte Tatsache erklären, daß Ornamente, und darüber hinaus künstlerische Formen überhaupt, nicht erfunden werden können. Die Leistung jeden Künstlers, nicht nur des an Zwecke gebundenen, reduziert sich auf ein unvergleichlich viel Bescheideneres, als die Kunstreligion des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts Wort haben wollte. Nicht jedoch ist damit die Frage erledigt, wie Kunst irgend
noch möglich sei, der keine Ornamente mehr substantiell sind und die keine erfinden kann. Die Not, in die Sachlichkeit geriet, ist kein Verschulden, nichts, was beliebig zu korrigieren wäre. Sie folgt aus dem geschichtlichen Zug der Sache. Im Gebrauch, der doch weit unmittelbarer mit dem Lustprinzip verwandt ist als die bloß dem eigenen Formgesetz verantwortlichen Gebilde, wird versagt: es soll nicht sein. Lust erscheint, nach der bürgerlichen Arbeitsmoral, als vergeudete Energie. Jene Einschätzung hat Loos sich zu eigen gemacht. An seiner Formulierung ist abzulesen, wie sehr der frühe Kulturkritiker mit der Ordnung verschworen war, deren Manifestationen er schalt, wo sie mit ihrem eigenen Prinzip noch nicht recht mitgekommen waren: »Ornament ist vergeudete arbeitskraft und dadurch vergeudete gesundheit. So war es immer. Heute bedeutet es aber auch vergeudetes material, und beides bedeutet vergeudetes kapital.« 4 Miteinander unversöhnliche Motive durchkreuzen sich darin: Sparsamkeit – denn wo anders als in den Normen der Rentabilität steht geschrieben, daß nichts vergeudet werden soll – und der Traum einer technifizierten Welt, die von der Schmach der Arbeit befreit wäre. Das zweite Motiv weist über die Nutzwelt hinaus. Bei Loos erscheint es deutlich in der Erkenntnis, daß die vielbejammerte Ohnmacht zum Ornament, das sogenannte Erlöschen der stilbildenden Kraft, das er als Erfindung von Kunsthistorikern durchschaute, ein Besseres; daß das nach bürgerlichen Denkgewohnheiten Negative der industriellen Gesellschaft ihr Positives sei: »Mit stil meinte man das ornament. Da sagte ich: Weinet nicht! Seht, das macht ja die größe unserer zeit aus, daß sie nicht imstande ist, ein neues ornament hervorzubringen. Wir haben das ornament überwunden, wir haben uns zur ornamentlosigkeit durchgerungen. Seht, die zeit ist nahe, die erfüllung wartet unser. Bald werden die straßen der städte wie weiße mauern glänzen. Wie Zion, die heilige stadt, die hauptstadt des himmels. Dann ist die erfüllung da.« 5 Der ornamentlose Zustand wäre danach eins mit der Utopie, leibhaft erfüllte Gegenwart, keines Symbols mehr bedürftig. Alle Wahrheit des Sachlichen haftet an dieser Utopie. Verbürgt ist sie für Loos durch kritische Erfahrung am Jugendstil: »Der einzelne mensch ist unfähig, eine form zu schaffen, also auch der architekt. Der architekt versucht aber dieses unmögliche immer und immer wieder – und immer mit negativem
erfolg. Form oder ornament sind das resultat unbewußter gesamtarbeit der menschen eines ganzen kulturkreises. Alles andere ist kunst. Kunst ist der eigenwille des genius. Gott gab ihm den auftrag dazu.« 6 Seitdem trägt nicht länger das Axiom, daß der Künstler im Auftrag Gottes handle. Die Entzauberung, die in der Gebrauchssphäre begann, hat auf die Kunst übergegriffen. Nicht zuletzt hat der absolute Unterschied des unerbittlich Zweckhaften und des Autonomen und Freien sich gemindert. Das Unzureichende der reinen Zweckformen ist zutage gekommen, ein Eintöniges, Dürftiges, borniert Praktisches. Dem entragen einzelne große Leistungen, bei denen man sich einstweilen damit begnügt, sie der Genialität ihrer Urheber zuzuschreiben, ohne daß man des Objektiven sich versichert hätte, das ihre Leistung als genial autorisiert. Andererseits ist der Versuch, von außen her, als Korrektiv, Phantasie hinzutreten zu lassen, der Sache durch etwas aufzuhelfen, was nicht aus ihr stammt, vergeblich und dient der falschen Auferstehung des von der neuen Architektur Kritisierten, Schmückenden. Nichts Trostloseres als die gemäßigte Moderne des deutschen Wiederaufbaustils, dessen kritische Analyse durch einen wahrhaft Sachverständigen höchst aktuell wäre. Der Verdacht der ›Minima Moralia‹, daß sich eigentlich gar nicht mehr wohnen lasse, bestätigt sich. Über der Form allen Wohnens lastet der schwere Schatten des Unsteten, jener Völkerwanderungen, die in den Umsiedlungen der Jahre Hitlers und seines Krieges ihr grausiges Präludium hatten. Jener Widerspruch ist in seiner Notwendigkeit vom Bewußtsein zu ergreifen, ohne daß es sich dabei beruhigen dürfte. Sonst schlägt es sich auf die Seite der weiter drohenden Katastrophe. Die jüngstvergangene, die Bombenangriffe, brachten die Architektur in eine Lage, aus der sie sich nicht herauszuarbeiten vermochte. Die Pole des Widerspruchs sind zwei Begriffe, die sich gegenseitig auszuschließen scheinen: Handwerk und Phantasie. Diese wird bei Loos für die Gebrauchswelt ausdrücklich abgelehnt: »An die stelle der phantasieformen vergangener jahrhunderte, an die stelle der blühenden ornamentik vergangener zeiten, hatte daher die reine, pure konstruktion zu treten. Gerade linien, rechtwinkelige kanten: so arbeitet der handwerker, der nichts als den zweck vor augen und material und werkzeug vor sich hat.« 7 Le Corbusier dagegen hat Phantasie in den theoretischen Schriften, wenn auch
einigermaßen allgemein, sanktioniert: »Aufgaben des Architekten: Kenntnis des Menschen, schöpferische Phantasie, Schönheit, Freiheit der Wahl (geistiger Mensch).« 8 Man wird nicht fehlgehen mit der Annahme, daß die fortgeschrittenen Architekten meist geneigt sind, dem Handwerk den Vorzug zu geben, während die zurückgebliebenen und phantasielosen mit Vorliebe Phantasie im Munde führen. Weder jedoch sollte man den Begriff des Handwerks noch den der Phantasie einfach so akzeptieren, wie sie in der Diskussion zerschlissen sind; nur dann gelangt man über die Alternative hinaus. Das Wort Handwerk, durchweg zunächst der Zustimmung sicher, deckt qualitativ Verschiedenes. Allein dilettantischer Unverstand und banausischer Idealismus werden sich dagegen sträuben, daß jede authentische, im weitesten Sinn künstlerische Aktivität genaueste Kenntnis der zur Verfügung stehenden Materialien und Verfahrungsweisen erheischt, und zwar jeweils auf dem fortgeschrittensten Stand. Nur wer nie der Disziplin eines Gebildes sich unterwarf und statt dessen seinen Ursprung intuitionistisch sich ausmalt, wird fürchten, daß Materialnähe und Kenntnis der Verfahrungsweisen den Künstler um sein Ursprüngliches brächten. Wer nicht lernt, was verfügbar ist, und es weitertreibt, fördert aus dem vermeintlichen Abgrund seiner Innerlichkeit bloß den Rückstand überholter Formeln zutage. Das Wort Handwerk appelliert an solche einfache Wahrheit. Aber in ihm schwingen ganz andere Töne mit. Die Silbe Hand verklärt Produktionsweisen der einfachen Warenwirtschaft, die durch die Technik dahin sind, erniedrigt zum Mummenschanz seit den Vorschlägen der englischen Vorreiter des modern style. Mit dem Handwerk assoziiert sich die Schürze des Hans Sachs, womöglich die große Weltchronik; ich kann mich zuweilen des Verdachts nicht erwehren, daß auch unter den jüngeren Adepten einer Handwerkerei, die Kunst verachten, Hemdsärmelarchaik überlebt; manche fühlen nur darum sich über der Kunst, weil ihnen die Erfahrung von Kunst vorenthalten blieb, die Loos veranlaßte, Kunst und ihre Anwendung mit so viel Pathos gegeneinander auszuspielen. Im musikalischen Bereich habe ich einen Advokaten des Handwerks, der freilich mit romantischer Antiromantik offen von Bauhüttengesinnung sprach, dabei erwischt, daß er bei Handwerk an stereotype Formeln oder, wie er es nannte, Praktiken dachte, welche die Kräfte der Komponisten schonen sollen, ohne daß er darauf
verfallen wäre, daß heute die Spezifikation einer jeden konkret sich stellenden Aufgabe derlei Formelwesen ausschließt. Durch Menschen seiner Gesinnung wird Handwerklichkeit zu dem, wogegen sie sich pointiert, dieselbe tote, dinghafte Wiederholung, die mit Ornamenten betrieben ward. Ob in dem Begriff der Gestaltung als eines Losgelösten, unabhängig von der immanenten Forderung und Gesetzmäßigkeit dessen, was zu gestalten sei, etwas vom gleichen Ungeist am Werk ist, wage ich nicht zu entscheiden. Jedenfalls dürfte sich die retrospektive Liebe zum Handwerker, der gesellschaftlich zum Aussterben verurteilt ist, ganz gut vertragen mit dem schnöd auftrumpfenden Gestus seines Nachfolgers, des Fachmanns, der unpoliert wie seine Tische und Stühle und stolz auf sein Sachverständnis, von eben der Reflexion sich entbindet, deren die Sache bedarf in einer Zeit, die nichts mehr besitzt, woran sie sich halten kann. So wenig der Fachmann zu entbehren ist, so wenig ein vorarbeitsteiliger Zustand in den Verfahrungsweisen der Gebrauchssphäre sich wiederherstellen läßt, den die Gesellschaft unwiderruflich liquidierte, so wenig ist der Typus des Fachmannes Maß aller Dinge. Seine desillusionierte Moderne, die aller Ideologien sich entschlagen zu haben wähnt, eignet sich gut zur Maske kleinbürgerlicher Routine; Handwerk zur Handwerkerei. Gutes Handwerk heißt soviel wie die Angemessenheit von Mitteln an Zwecke. Von solcher Angemessenheit sind die Zwecke gewiß nicht unabhängig. Mittel haben eine eigene Logik, die über sie hinausweist. Wird aber die Angemessenheit der Mittel sich zum Selbstzweck, wird sie fetischisiert, so bewirkt handwerkliche Gesinnung das Gegenteil dessen, was gemeint war, als man sie gegen Samtjoppe und Barett mobilisierte. Sie hemmt die objektive Vernunft der Produktivkräfte, anstatt sie frei zu entfalten. Wann immer heute Handwerk als Norm aufgerichtet wird, ist das Gemeinte nah zu betrachten. Der Begriff des Handwerks als solcher steht im Funktionszusammenhang. Keineswegs sind seine Funktionen stets die erhellten und fortgeschrittenen. Ebensowenig wie beim Begriff des Handwerks jedoch ist bei dem der Phantasie stehen zu bleiben. Die psychologische Trivialität, sie sei nichts als die Vorstellung von einem noch nicht Vorhandenen, reicht nicht an das heran, als was sie in den künstlerischen Prozessen – und wiederum möchte ich vermuten, auch in denen der zweckgebundenen Kunst – sich bestimmt. Walter
Benjamin hat Phantasie einmal definiert als die Fähigkeit zur Interpolation im Kleinsten. Fraglos führt das weiter als die gängigen Ansichten, die geeignet sind, den Begriff sachfremd zu verhimmeln oder sachlich zu verdammen. Phantasie in der produktiven Arbeit am Gebilde ist nicht die Lust am unverbindlichen Dazuerfinden, an der creatio ex nihilo. Die gibt es in keiner Kunst, auch in der autonomen nicht, der Loos es zutraute. Jede eindringende Analyse autonomer Kunstwerke führt darauf, daß das vom Künstler Hinzuerfundene, den Stand der Materialien und Formen Überschreitende unendlich klein, ein Grenzwert ist. Andererseits widerstreitet es dem Begriff von Phantasie unmittelbar, wenn man ihn auf die vorwegnehmende Anpassung an Materialien oder Zwecke einengt; dann bliebe sie beim Immergleichen. Unmöglich, die mächtige Phantasieleistung Corbusiers zu umschreiben mit jenen Relationen der Architektur zum menschlichen Körper, auf die er literarisch sich bezog. Offenbar gibt es in den Materialien und Formen, die der Künstler empfängt und mit denen er arbeitet, so wenig sie noch sinnhaft sind, trotz allem etwas, was mehr ist als Material und Form. Phantasie heißt: dies Mehr innervieren. Das ist nicht so aberwitzig, wie es klingt. Denn die Formen, sogar die Materialien sind keineswegs die Naturgegebenheiten, als welche der unreflektierte Künstler sie leicht betrachtet. In ihnen hat Geschichte und, durch sie hindurch, auch Geist sich aufgespeichert. Was sie davon in sich enthalten, ist kein positives Gesetz, wird aber in ihnen zur scharf umrissenen Figur des Problems. Künstlerische Phantasie erweckt das Aufgespeicherte, indem sie des Problems gewahr wird. Ihre Schritte, stets minimal, antworten auf die wortlose Frage, welche die Materialien und Formen in ihrer stummen Dingsprache an sie richten. Dabei schießen die getrennten Momente, auch Zweck und immanentes Formgesetz, zusammen. Zwischen den Zwecken, dem Raum und dem Material besteht Wechselwirkung; nichts davon ist ein Urphänomen, auf das zu reduzieren wäre. Die Einsicht der Philosophie, daß kein Gedanke auf das absolut Erste führt, daß ein solches seinerseits Abstraktionsprodukt ist, reicht in die Ästhetik hinein. So hat die Musik, die um das vermeintlich primäre Element des einzelnen Tons sich bemühte, mittlerweile lernen müssen, daß er keines ist. Einzig in den Funktionszusammenhängen des Gebildes erfüllt er sich mit Sinn; ohne sie wäre er ein bloß Physikalisches. Nur Aberglaube kann erhoffen, aus ihm eine latente ästhetische
Struktur herauszupressen. Spricht man, wie es doch seinen Grund hat, in der Architektur von Raumgefühl, so ist dies Raumgefühl kein abstraktes An sich, kein Gefühl für den Raum schlechthin, der ja anders als an Räumlichem gar nicht sich vorstellen läßt. Raumgefühl ist ineinandergewachsen mit den Zwecken; wo es in der Architektur sich bewährt als ein die Zweckmäßigkeit Übersteigendes, ist es zugleich den Zwecken immanent. Ob solche Synthesis gelingt, ist wohl ein zentrales Kriterium großer Architektur. Diese fragt: wie kann ein bestimmter Zweck Raum werden, in welchen Formen und in welchem Material; alle Momente sind reziprok aufeinander bezogen. Architektonische Phantasie wäre demnach das Vermögen, durch die Zwecke den Raum zu artikulieren, sie Raum werden zu lassen; Formen nach Zwecken zu errichten. Umgekehrt kann der Raum und das Gefühl von ihm nur dann mehr sein als das arm Zweckmäßige, wo Phantasie in die Zweckmäßigkeit sich versenkt. Sie sprengt den immanenten Zweckzusammenhang, dem sie sich verdankt. Ich bin mir dessen bewußt, wie leicht Begriffe wie Raumgefühl ins Phrasenhafte, am Ende abermals Kunstgewerbliche ausarten, und empfinde die Schranke des Nicht-Fachmanns, der es nicht vermag, derlei Begriffe, die in bedeutenden modernen Architekturen so eindringlich die Augen aufschlagen, hinlänglich zu präzisieren. Immerhin sei die Spekulation erlaubt, daß das Raumgefühl, zum Unterschied von der abstrakten Raumvorstellung, im visuellen Bereich dem korrespondieren muß, was im akustischen das Musikalische heißt. Musikalität ist nicht auf abstrakte Zeitvorstellung, etwa die gewiß hilfreiche Fähigkeit zu bringen, sich die Zeiteinheiten des Metronoms, ohne daß es tickte, genau vorzustellen. Ähnlich beschränkt Raumgefühl sich keineswegs auf räumliche Imagination, wenngleich diese dem Architekten unentbehrlich sein dürfte, der seine Grund- und Aufrisse muß lesen können wie der Musiker seine Partituren. Raumgefühl indessen scheint mehr zu verlangen: daß man etwas aus dem Raum heraus sich einfallen lasse; nicht etwas Beliebiges im Raum, das gegen diesen indifferent wäre. Analog muß der Musiker seine Melodien, und mittlerweile ganze musikalische Strukturen, aus der Zeit, dem Bedürfnis, sie zu organisieren, erfinden. Dabei genügen weder bloße Zeitrelationen, die gleichgültig sind gegen das, was konkret musikalisch geschieht, noch die Invention musikalischer
Einzelereignisse oder Komplexe, deren Zeitstruktur und deren Zeitrelationen untereinander nicht mitgedacht wären. In produktivem Raumgefühl wird in weitem Maß der Zweck, gegenüber den Formkonstituentien, die der Architekt aus dem Raum schöpft, die Rolle des Inhalts übernehmen; durch den Zweck teilt die Spannung von Form und Inhalt, ohne die nichts Künstlerisches ist, gerade der zweckgebundenen Kunst sich mit. Soviel ist wahr an der neusachlichen Askese, daß unmittelbare subjektive Expression der Architektur inadäquat wäre; wird sie angestrebt, so resultiert nicht Architektur, sondern Filmkulisse, zuzeiten, wie in dem alten Golemfilm, sogar gute. Die Stelle des subjektiven Ausdrucks wird in der Architektur besetzt von der Funktion fürs Subjekt. Architektur dürfte desto höheren Ranges sein, je inniger sie die beiden Extreme, Formkonstruktion und Funktion, durcheinander vermittelt. Die Funktion fürs Subjekt jedoch ist keine für einen allgemeinen, durch seine Physis ein für allemal bestimmten Menschen. Sie hat es auf die gesellschaftlich konkreten abgesehen. Wider die zurückgestauten Instinkte der empirischen Subjekte, die in der gegenwärtigen Gesellschaft immer noch nach dem Glück im Winkel und allem erdenklichen Muff begehren, vertritt funktionelle Architektur den intelligiblen Charakter, ein menschliches Potential, das vom fortgeschrittensten Bewußtsein gefaßt, aber in den bis in ihr Inneres hinein ohnmächtig gehaltenen Menschen erstickt wird. Menschenwürdige Architektur denkt besser von den Menschen, als sie sind; so, wie sie dem Stand ihrer eigenen, in der Technik verkörperten Produktivkräfte nach sein könnten. Dem Bedürfnis jetzt und hier widerspricht Architektur, sobald sie, ohne Ideologie zu verewigen, dem Bedürfnis dient; sie ist immer noch, wie der Buchtitel von Loos vor bald siebzig Jahren es beklagte, ins Leere gesprochen. Daß die großen Architekten von Loos bis Corbusier und Scharoun von ihrem Werk nur einen Bruchteil in Stein und Beton realisieren konnten, ist nicht einfach mit dem gewiß nicht zu unterschätzenden Unverstand von Bauherren und Verwaltungsgremien zu erklären. Bedingt ist es von einem sozialen Antagonismus, über den die stärkste Architektur keine Macht hat: daß die gleiche Gesellschaft, welche die menschlichen Produktivkräfte ins Unvorstellbare entwickelte, sie fesselt an die ihnen auferlegten Produktionsverhältnisse, und die Menschen, die in
Wahrheit die Produktivkräfte sind, nach dem Maß der Verhältnisse deformiert. Dieser fundamentale Widerspruch erscheint in der Architektur. Sie kann ihn von sich aus so wenig wegnehmen wie die Konsumenten. Nicht alles Recht ist bei ihr und alles Unrecht bei den Menschen, denen ohnehin Unrecht dadurch widerfährt, daß ihr Bewußtsein und Unbewußtsein in einer Unmündigkeit gebannt bleiben, die sie an der Identifikation mit ihrer eigenen Sache hindert. Weil die Architektur tatsächlich nicht nur autonom, sondern zugleich zweckgebunden ist, kann sie die Menschen, wie sie sind, nicht einfach negieren, obwohl sie das, als autonome, ebenfalls muß. Überspränge sie die Menschen tel quel, so bequemte sie einer fragwürdigen Anthropologie und womöglich Ontologie sich an; nicht zufällig ersann Le Corbusier Menschenmodelle. Die lebendigen Menschen, noch die zurückgebliebensten und konventionell befangensten, haben ein Recht auf die Erfüllung ihrer sei's auch falschen Bedürfnisse. Setzt der Gedanke an das wahre, objektive Bedürfnis sich rücksichtslos über das subjektive hinweg, so schlägt er, wie von je die volonté générale gegen die volonté de tous, in brutale Unterdrückung um. Sogar im falschen Bedürfnis der Lebendigen regt sich etwas von Freiheit; das, was die ökonomische Theorie einmal Gebrauchswert gegenüber dem abstrakten Tauschwert nannte. Ihnen erscheint die legitime Architektur notwendig als ihr Feind, weil sie ihnen vorenthält, was sie, so und nicht anders beschaffen, wollen und sogar brauchen. Die Antinomie mag, über das Phänomen des cultural lag hinaus, in der Bewegung des Begriffs Kunst ihren Grund haben. Kunst muß, um es ganz zu werden, ihrem eigenen Formgesetz gemäß, autonom sich kristallisieren. Das macht ihren Wahrheitsgehalt aus; anders würde sie dem untertan, was sie, durch ihre schiere Existenz, verneint. Aber als von Menschen Verfertigtes ist sie diesen nicht gänzlich entrückt; enthält konstitutiv in sich das, wogegen sie sich wehrt. Wo Kunst das Gedächtnis ihres Füranderesseins vollends ausmerzt, wird sie zum Fetisch, zu jenem selbstgemachten und dadurch bereits relativierten Absoluten, als welches der Jugendstil seine Schönheit erträumte. Gleichwohl ist Kunst zur Anstrengung des reinen Ansichseins gezwungen, wenn sie nicht Opfer des einmal als fragwürdig Durchschauten werden will. Ein quid pro quo folgt daraus. Was, als sein virtuelles Subjekt, einen befreiten, emanzipierten Typus des Menschen, der erst in einer veränderten
Gesellschaft möglich wäre, visiert, erscheint in der gegenwärtigen wie Anpassung an die zum Selbstzweck ausgeartete Technik, wie die Apotheose von Verdinglichung, deren unversöhnlicher Gegensatz Kunst ist. Das jedoch ist nicht nur Schein: je folgerechter, unterm eigenen Formgesetz, Kunst, die autonome sowohl wie die sogenannte angewandte, den eigenen magischen und mythischen Ursprüngen absagt, desto bedrohlicher nähert sie sich einer solchen Anpassung, gegen die sie keine Weltformel besitzt. Die Aporie Thorstein Veblens wiederholt sich. Er forderte, vor 1900, von den Menschen, sie sollten, um der Lebenslüge ihrer Bilderwelt ledig zu werden, rein technologisch, kausal-mechanisch denken. Damit hat er die dinghaften Kategorien der gleichen Wirtschaftsweise sanktioniert, der seine ganze Kritik galt. Im Stande der Freiheit würden die Menschen sich nicht nach der Technik richten, die für sie da ist, sondern die Technik nach ihnen. In der gegenwärtigen Epoche jedoch sind die Menschen in die Technik eingegangen und, als hätten sie ihr besseres Teil an sie vererbt, gleich Hülsen hinter ihr zurückgeblieben. Ihr eigenes Bewußtsein ist angesichts der Technik verdinglicht und deshalb von dieser, der dinghaften her zu kritisieren. Jener plausible Satz, die Technik sei für die Menschen da, ist seinerseits in die platte Ideologie der Zurückgebliebenheit übergegangen; man mag das daran erkennen, daß man ihn nur nachzubeten braucht, um allenthalben mit begeistertem Einverständnis belohnt zu werden. In dem falschen Gesamtzustand schlichtet nichts den Widerspruch. Die frei jenseits der Zweckzusammenhänge des Bestehenden ersonnene Utopie wäre kraftlos, weil sie ihre Elemente und ihre Struktur doch dem Bestehenden entnehmen muß; unverbindliches Ornament. Was dagegen, wie unterm Bilderverbot, das utopische Moment mit dem Bann belegt, gerät in den Bann des Bestehenden unmittelbar. Die Frage des Funktionalismus ist die nach der Subordination unter die Nützlichkeit. Fraglos ist das Unnütze angefressen. Der Entwicklungsgang hat seine immanente ästhetische Unzulänglichkeit zutage gefördert. Das bloß Nützliche dagegen ist verflochten in den Schuldzusammenhang, Mittel der Verödung der Welt, des Trostlosen, ohne daß doch die Menschen von sich aus eines Trostes mächtig wären, der sie nicht täuschte. Läßt schon der Widerspruch nicht sich wegschaffen, so wäre ein winziger Schritt dazu, ihn zu begreifen. Nützlichkeit hat in der bürgerlichen
Gesellschaft ihre eigene Dialektik. Das Nützliche wäre ein Höchstes, das menschlich gewordene Ding, die Versöhnung mit den Objekten, die nicht länger gegen die Menschen sich vermauern und denen diese keine Schande mehr antun. Die Wahrnehmung technischer Dinge in der Kindheit, der sie als Bilder eines Nahen und Helfenden, rein vom Profitinteresse vor Augen stehen, verspricht einen solchen Zustand; seine Konzeption war den Sozialutopien nicht fremd. Als Fluchtpunkt der Entwicklung ließe sich denken, daß die ganz nützlich gewordenen Dinge ihre Kälte verlören. Nicht nur die Menschen müßten dann nicht länger leiden unter dem Dingcharakter der Welt: ebenso widerführe den Dingen das Ihre, sobald sie ganz ihren Zweck fänden, erlöst von der eigenen Dinglichkeit. Aber alles Nützliche ist in der Gesellschaft entstellt, verhext. Daß sie die Dinge erscheinen läßt, als wären sie um der Menschen willen da, ist die Lüge; sie werden produziert um des Profits willen, befriedigen die Bedürfnisse nur beiher, rufen diese nach Profitinteressen hervor und stutzen sie ihnen gemäß zurecht. Weil das Nützliche, den Menschen zugute Kommende, von ihrer Beherrschung und Ausbeutung Gereinigte das Richtige wäre, ist ästhetisch nichts unerträglicher als seine gegenwärtige Gestalt, unterjocht von ihrem Gegenteil und durch es deformiert bis ins Innerste. Die raison d'être aller autonomen Kunst seit der Frühzeit der bürgerlichen Ära ist, daß einzig das Unnütze einsteht für das, was einmal das Nützliche wäre, der glückliche Gebrauch, Kontakt mit den Dingen jenseits der Antithese von Nutzen und Nutzlosigkeit. Das läßt die Menschen, die es besser wollen, gegen das Praktische aufbegehren. Wenn sie es reaktiv, überwertig verkünden, so laufen sie zum Todfeind über. Man sagt, Arbeit schände nicht. Wie die meisten Sprichwörter überschreit das nur die umgekehrte Wahrheit; Tausch schändet die nützliche Arbeit selbst, und sein Fluch ereilt auch die autonome Kunst. In ihr ist das Unnütze, festgehalten in seiner beschränkten und partikularen Gestalt, der Kritik, die das Nützliche an ihr übt, hilflos preisgegeben, während im Nützlichen das, was nun einmal ist, gegen seine Möglichkeit sich absperrt. Das finstere Geheimnis der Kunst ist der Fetischcharakter der Ware. Aus ihrer Verstrickung möchte der Funktionalismus ausbrechen und zerrt vergebens an den Ketten, solange er der verstrickten Gesellschaft hörig bleibt.
Ich habe versucht, Ihnen Widersprüche bewußt zu machen, deren Lösung kein Nicht-Fachmann entwerfen kann; zu bezweifeln ist, ob sie heute irgend sich lösen lassen. Insofern habe ich selbst von Ihnen den Vorwurf des Unnützen zu gewärtigen. Dagegen hätte ich mich zu verteidigen eben durch die These, daß die Begriffe nützlich und unnütz nicht unbesehen hingenommen werden können. Die Zeit ist vorbei, da man sich verschließen, in die je eigene Aufgabe festmachen durfte. Die Sache verlangt die Reflexion, welche die Sachlichkeit sachfremd schalt. Wird dem Gedanken eilends die Legitimation abverlangt, wozu er nun gut sei, so stellt man ihn meist gerade an dem Punkt still, an dem er Einsichten zeitigt, die eines Tages, unvorhergesehen, auch einer besseren Praxis zugute kommen mögen. Der Gedanke hat nicht weniger seine eigene zwingende Bewegungskraft als die, welche Ihnen aus der Arbeit an Ihrem Material vertraut ist. Die Krise, die darin sich manifestiert, daß die konkrete Arbeit des Künstlers, er sei auf Zwecke geeicht oder nicht, kaum länger naiv, also in vorgezeichneter Bahn verlaufen kann, fordert vom Fachmann, er sei noch so handwerksstolz, daß er über sein Handwerk hinausblickt, um diesem zu genügen. Und zwar in doppelter Hinsicht. Einmal im Sinn der gesellschaftlichen Theorie. Er muß sich Rechenschaft ablegen vom Standort seiner Arbeit in der Gesellschaft und von den gesellschaftlichen Schranken, auf die er allerorten stößt. Drastisch wird das am Problem der Städteplanung, wo, keineswegs nur bei Aufgaben des Wiederaufbaus, architektonische Fragen und gesellschaftliche wie die nach der Existenz oder Nichtexistenz eines gesellschaftlichen Gesamtsubjekts kollidieren. Daß keine Städteplanung zureicht, die an partikularen Zwecken anstatt an einem gesamtgesellschaftlichen Zweck sich ausrichtet, bedarf kaum der Erläuterung. Die unmittelbaren praktischen Gesichtspunkte von Städteplanung fallen mit denen einer wahrhaft rationalen, von gesellschaftlichen Irrationalitäten freien keineswegs zusammen: es fehlt jenes gesellschaftliche Gesamtsubjekt, auf das Städteplanung es absehen müßte; nicht zuletzt darum droht sie entweder chaotisch auszuarten oder die produktive architektonische Einzelleistung zu hemmen. Zum anderen jedoch, und das möchte ich in Ihrem Kreis mit einem gewissen Nachdruck sagen, verlangt die Architektur, und jede Zweckkunst, aufs neue nach der verfemten ästhetischen Reflexion. Ich weiß, wie verdächtig Ihnen das Wort Ästhetik klingt.
Sie werden dabei an Professoren denken, die mit zum Himmel erhobenem Blick formalistische Gesetze ewiger und unvergänglicher Schönheit aushecken, die meist nichts sind als Rezepte für die Anfertigung von ephemerem klassizistischen Kitsch. Fällig wäre in der Ästhetik das Gegenteil; sie müßte eben die Einwände absorbieren, die sie allen Künstlern, die es sind, gründlich verekelte. Machte sie akademisch weiter ohne die rücksichtsloseste Selbstkritik, so wäre sie schon verurteilt. Aber wie Ästhetik, als integrales Moment der Philosophie, darauf wartet, von der denkenden Anstrengung weiter bewegt zu werden, so ist die jüngste künstlerische Praxis auf Ästhetik angewiesen. Trifft es zu, daß Begriffe wie die des Nützlichen und Unnützen in der Kunst, die Trennung der autonomen von der zweckgebundenen, die Phantasie, das Ornament abermals zur Diskussion stehen, ehe man, was man tut, zustimmend oder verneinend nach jenen Kategorien einrichtet, so wird Ästhetik zum praktischen Bedürfnis. Die über nächstliegende Aufgaben hinausgreifenden Erwägungen, zu denen Sie täglich sich gedrängt sehen, sind ästhetische, auch wenn Sie es nicht mögen; es geht Ihnen dabei wie Molières M. Jourdain, der im Rhetorikunterricht zu seinem Erstaunen lernt, daß er sein ganzes Leben lang Prosa gesprochen hat. Nötigt Sie indessen, was Sie tun, zu ästhetischen Überlegungen, so überantworten Sie sich ihrer Schwerkraft. Sie lassen sich nicht, aus purer fachlicher Gediegenheit, beliebig abbrechen und wieder herbeizitieren. Wer den ästhetischen Gedanken nicht energisch verfolgt, pflegt auf dilettantische Hilfshypothesen, tappende Rechtfertigungsversuche pro domo zu verfallen. Im musikalischen Bereich hat einer der technisch kompetentesten Komponisten der Gegenwart, der in einigen seiner Werke den Konstruktivismus zum Extrem trieb, Pierre Boulez, die Forderung nach Ästhetik emphatisch angemeldet. Eine solche Ästhetik würde nicht sich anmaßen, Grundsätze dessen auszuposaunen, was an sich schön, darum auch nicht, was an sich häßlich sei; allein durch solche Behutsamkeit schon würde das Problem des Ornaments in verändertes Licht gerückt. Schönheit heute hat kein anderes Maß als die Tiefe, in der die Gebilde die Widersprüche austragen, die sie durchfurchen und die sie bewältigen einzig, indem sie ihnen folgen, nicht, indem sie sie verdecken. Bloß formale Schönheit, was immer das sei, wäre leer und nichtig; die inhaltliche verlöre sich im vorkünstlerisch
sinnlichen Vergnügen des Betrachters. Schönheit ist entweder als Resultante eines Kräfteparallelogramms oder sie ist gar nicht. Veränderte Ästhetik, deren Programm sich desto deutlicher umreißt, je dringender das Bedürfnis nach ihr zu spüren ist, betrachtete auch nicht mehr, wie die traditionelle, den Begriff der Kunst als ihr selbstverständliches Korrelat. Ästhetisches Denken heute müßte, indem es die Kunst denkt, über sie hinausgehen und damit auch über den geronnenen Gegensatz des Zweckvollen und Zweckfreien, an dem der Produzierende nicht weniger leidet als der Betrachter.
Fußnoten 1 Vgl. Adolf Loos, Sämtliche Schriften in zwei Bänden, hrsg. von Franz Glück, Bd. 1, Wien, München 1962, S. 314f. 2 a.a.O., S. 277. 3 a.a.O. 4 a.a.O., S. 282f. 5 a.a.O., S. 278. 6 a.a.O., S. 393. 7 a.a.O., S. 345. 8 Le Corbusier, Mein Werk. Vorwort von Maurice Jardot, Übers. von Lilly von Sauter, Stuttgart 1960, S. 306.
Luccheser Memorial Für Z.
Daß das Leben im Süden auf der Straße sich abspiele, sagen alle, aber es ist nur die halbe Wahrheit. Ebenso wird die Straße zum Hausinnern. Nicht nur ihrer Enge wegen, die sie in einen Gang verwandelt, sondern vor allem auch, weil es keine Trottoirs gibt. Die Straße gleicht selbst dann noch keiner Fahrbahn, wenn Autos sich durchwinden. Diese werden nicht chauffiert, sondern kutschiert; als hielten die Fahrer sie kurz, am Zügel und wichen den Fußgängern um Zentimeter aus. Soweit das Leben noch das ist, was Hegel substantiell nannte, absorbiert es auch die Technik: es liegt also nicht an dieser. Die Enge ist die des Basars und dadurch phantasmagorisch: Wohnen unter freiem Himmel wie in Kabinen von Flußkähnen oder in Zigeunerwagen. Die Trennung zwischen dem Offenen und dem, was überdacht ist, wird vergessen, als erinnerte sich das Leben seiner nomadischen Vorzeit. Die Auslagen in den Läden, selbst die dürftigen, haben etwas von Schätzen. Über sie verfügt bereits, wer nur daran vorbeigeht. Ihre Lockung ist das Glück, das sie verheißt. Selbst von den häßlichsten Mädchen, an denen es nicht fehlt, kann man in Italien schwer sich vorstellen, daß sie, nach einem lieblos genauen Wort des neudeutschen Jargons, zickig seien, nichtexistente Angriffe auf eine Tugend abwehren, die ebensowenig existiert. Ist in nördlichen Gegenden einer der Rock zu hoch hinaufgerutscht, so mag sie ihn eifrig herunterziehen und ihren Unwillen bekunden, auch wenn keiner will. Dieselbe Geste bei einer Italienerin sagt: die Sitte gebietet es, decoro. Gerade aber indem sie ein Ritual übt, ohne den Anspruch, es wäre ihre eigene Regung, ist sie mit der Geste so identisch wie mit einer menschenwürdigen Konvention. Sie läßt die Möglichkeiten von Abweichung und Gewähren. Zu lernen ist daran, daß Koketterie ein Verhalten in gelungener Kultur sei. Geht aber ein Ladenmädchen am Feierabend allein und eilig von der Arbeit nach Hause, so hat sich darin etwas vom Abenteuer der unbegleiteten Dame erhalten. In Italien überleben Züge der patriarchalen Ordnung des Lebens, der
Unterordnung der Frauen unter den männlichen Willen, die Emanzipation der Frauen, die auch dort nicht aufzuhalten war. Für die Männer muß das ungemein angenehm sein; den Frauen bereitet es wahrscheinlich viel Leiden. Vielleicht sind darum manche Mädchengesichter so todernst. Gesichter, die aussehen, als wären sie zu großen, womöglich tragischen Schicksalen bestimmt, die aber wahrscheinlich bloß als Rudimente jener Zeiten übriggeblieben sind, da es so etwas gab, wenn anders es wirklich dergleichen gegeben haben sollte. Lucca, bei großer Vergangenheit, ist heute, nach der Rolle, die es im Lande spielt, provinziell, auch die meisten Läden sind es und die Kleidung. Illusionär wohl, sich einzubilden, das Bewußtsein der Einwohner wäre es weniger. Aber sie wirken nicht so. Die Tradition ihres Volkes und ihrer besonderen Gegend ist so tief in Erscheinung und Gebärde eingedrungen, daß sie geformt, der Barbarei der Provinz entrückt sind, vor der in nördlichen Breiten noch die schönsten mittelalterlichen Städte ihre Einwohner nicht feien. Provinz ist nicht Provinz. Nach endlosem Hinundherfragen im Palazzo Guinigi, in einem Quartier, das ich noch nicht kannte. Würdevoll toscanisch und halbverfallen, der Verputz abgesprungen wie von Palästen der Wiener Innenstadt. Auf dem sehr hohen Turm eine Steineiche, Wahrzeichen der Stadt, doch nicht vereinzelt in der Toscana. Das Parterre angefüllt mit Fahrrädern und allerlei Abhub. Ich fand mich durch zum Rand eines Gartens von verwahrlostem Glanz, der einbrachte, was das Grau des Vorplatzes versagte. Über den Büschen strahlend eine Palme, im Hintergrund die fensterlose, aber doch nicht kahle Seitenwand eines der mittelalterlichen Paläste, welche die ganze Straße bilden. In italienischen Situationen finden häufig auf schwer erklärliche Weise Leute sich zusammen, die sogleich an dem teilhaben, was man will, womöglich sich anschließen. Zuweilen wird man die Corona nicht los. Andererseits sind manche hilfsbereit und interesselos freundlich. Ohne einen bramarbasierenden Tausendsasa, der es mit der Wahrheit nicht genau nahm und mit Konfessionen
aufwartete, die niemand hören mochte, wäre es nicht zum Besuch des Botanischen Gartens, der Villa Bottoni und der Ruine des antiken Theaters am Rand ihres Grundstücks gekommen. Das Peinliche verschränkt unauflöslich sich mit dem, wofür zu danken ist. Im Omnibus nach Pistoia. Selbst der Anstrengung der Autobahn, allem auszuweichen, was anders wäre als nüchtern oder Reklame, gelingt es nicht gänzlich, die Schönheit der toscanischen Landschaft zu verbergen. So groß ist sie, daß sie noch gegen die verwüstende Praxis sich behauptet. In Pistoia eine Gasse tiefster Armut: Via dell' abbundanza. So las ich einmal in Whitechapel das Schild: High Life Bar. Zur Physiognomik von toscanischen Städten: manchmal erscheinen mächtige Domplätze mit bezwingender Architektur plötzlich, unvermittelt, im Gewebe der Straßen, auch sehr triste münden darauf. Der Glanz, der ins Elend herniederfährt, vergegenwärtigt unmittelbar, vor aller Symbolik, Wunder und Gnade, die jene lehrt. Die ganze Stadt Lucca ist von einem Wall eingehegt. Nicht anders als in deutschen Städten hat man später dort Anlagen gepflanzt, aber ihn geschont, nicht geschleift. Er ist dicht mit Platanen bestanden. Sie bilden Alleen, wie man sie sonst von Pappeln gewöhnt ist, dunkel, ein wenig wie gemalte Träume von Henri Rousseau. Die Flugzeuge, die regelmäßig gegen zehn Uhr am Morgen darüber ihre Kavalkaden aufführen, passen nicht schlecht dazu. Vielfach sind auf dem großen steinernen Wall kleine Erdwälle aufgeworfen. Dort sieht man an den sommerwarmen Herbsttagen Clochards friedlich schlafen. Das Tröstende darin: wäre einmal keine Armut mehr, so müßte die Menschheit so unbewacht schlafen können wie heute nur ihre Ärmsten. Sich vorstellen, daß wer weiß wie viele Millionen aus diesem Land nach Kanada, den Staaten, Argentinien auswandern, wo es doch umgekehrt sein müßte. Ohne Unterlaß, als wäre es ein Ritual, wiederholt sich die Austreibung aus dem Paradies, sie müssen im Schweiß ihres Angesichts ihr Brot essen. Davor wird alle
theoretische Gesellschaftskritik überflüssig. Bei der Pisanisch-Lucchesischen Architektur fällt mir, dem kunsthistorischen Laien, trotz vieler Gegenbeispiele ein Mißverhältnis zwischen den ausschweifend formenreichen, schon fünfhundert Jahre vorm Barock dekorativ losgelassenen Fassaden und dem Innern mit einfachen Basilikadecken auf. Historisch mag das durchs Alter erklärt werden. Die Kirchen erheben sich durchweg an den Plätzen vorromanischer und bewahren wohl einiges von deren Struktur. Aber dem Musiker fällt dabei doch der Vorrang der Oberstimmenmelodie über die anderen Dimensionen in so vielen italienischen Kompositionen ein. Homophone Architektur. Wo in Kunstwerken konstruiert wird, ist allemal das naturbeherrschende Moment stark, gekräftigt am Widerstand der Natur. Ist diese warm und üppig, so dürfte das Bedürfnis zum Konstruieren schwächer bleiben. Das vielberufene Formgefühl der lateinischen Völker scheint gerade a-konstruktiv, entspannt; daher der leichtere Übergang zur Konvention, auch daß diese unverfänglicher ist als im Norden. Entdeckung, mögen auch andere sie vorher schon gemacht haben: am Taufbecken der Basilika San Frediano ein Relief, das zugleich en face und als Profil sich präsentiert, beherrscht von einem großen, eckigen Auge, geometrisch dabei und, durch die jeder Ähnlichkeit mit Lebendigen entrückte Stilisierung, von bannend antikischem Ausdruck. Unabweisbar die Assoziation mit dem späten Picasso. Er wird die extravagante Plastik kaum kennen. Jenes Substantielle des lateinischen Lebens nährt eine unterirdische Tradition bis dorthin, wo Tradition verworfen ist. Im Freien vor der Bar San Michele, gegenüber der berühmten Kirche. Tiefe, kalte Dämmerung. Schutzlos, als könnte sie jeden Augenblick einstürzen, streckte sich die leere, vierstöckige Fassade in den graublauen Himmel. Ich verstand mit einem Mal, warum sie, ohne alle Funktion, wider die architektonische Weisheit so schön ist. Sie zeigt die eigene Funktionslosigkeit, beansprucht keinen Augenblick, ein anderes zu sein als das Ornament, das sie ist. Der nackte Schein ist es nicht länger: entsühnt.
Der mißbrauchte Barock
Für Nicolas Nabokov
Barock ist ein Prestigebegriff. Durch den Namen hielt wie durch ein Tor die Kulturindustrie, spätestens seit dem Rosenkavalier, Einzug in die Kultur. 1925 schon veröffentlichte Karl Kraus in der ›Fackel‹ einen Aufsatz, ›Aus der Barockzeit‹, in dem er an den Memoiren einer Diplomatengattin die Sphäre denunzierte, die das Wort ausschlachtet und die mittlerweile vollends auf den Film gekommen ist. »Was sich nun gar im Sommer in Salzburg tut mit Barock, scharlachroten Herolden, ›goldschimmernden Fanfaren‹, Kirchenglocken, Orgeln und rauschenden Schwingungen, spottet so jeder Beschreibung, daß keine Beschreibung mehr dessen spotten kann.« 1 Das Stichwort für eine ursprünglich von Wölfflin und Riegl in ihrer Verfahrungsart genau präzisierte kunsthistorische Epoche hat seit deren Veröffentlichungen weithin ideologische Funktion angenommen. Wer heutzutage von Barock schwärmt, stellt dadurch unter Beweis, daß er zur Kultur und überhaupt dazugehört. Seine Begeisterung ist vielfach die eines neutralisierten Bewußtseins, dem es gar nicht so sehr darauf ankommt, wofür es sich begeistert. Am deutlichsten wird das an der Musik. Auf sie wurde der Terminus Barock nachträglich transponiert, zuerst von Curt Sachs, dann, mit breitester Wirkung, von Friedrich Blume. Dieser empfiehlt, den Begriff eines musikalischen Barocks nicht zu sehr einzuengen. Reiche Materialkenntnis lehrt ihn, wieviel Heterogenes musikalisch unter der Bezeichnung läuft. Folgt man seiner eigenen Darstellung, so bleibt von der vermeintlichen Einheit wenig mehr übrig als das allgemeine Prinzip von Gegensätzlichkeit. Dennoch verteidigt er die Nomenklatur, zögert nicht zu behaupten, im Barock hätten Dichtung und Musik analog zur Technik der Behandlung des Nackten in der Malerei »eine glitzernde Sprache sensueller Reizbarkeit und schmerzvoll-süßer Schmiegsamkeit« 2 ausgebildet, obwohl das nicht nur der Rolle widerspricht, die die Vorstellung von Barockmusik bei ihren gegenwärtigen Liebhabern spielt, sondern dem Sachverhalt selbst. Jene Musik war nicht Tristan, Salome oder Debussy, ihrem Gesamthabitus nach keineswegs differenziert; ihre jüngste, beklemmende Popularität hat sie eher dem blockhaft Simplen zu
verdanken. Auf der Identität barocken Geistes im Akustischen und Visuellen zu bestehen, setzt sich allzu rasch über die Unvereinbarkeit der konkreten künstlerischen Gestalt hier und dort hinweg. Doch wäre die damalige Musik schwerlich auferstanden, hätte nicht der Barockbegriff auf Tunder und Buxtehude, auf Schein, Biber und ungezählte andere einen Abglanz der Architektur von Fischer von Erlach und Balthasar Neumann geworfen. Nur das Unspezifische und Vage, wozu der Barock dem gegenwärtigen Bewußtsein sich verdünnte, erlaubt den universalen Gebrauch des Namens. Dies Bewußtsein paßt gut zu der Kultur, auf die es schwört. Bequem vermag einer als Anhänger der Barockmusik sich zu bekennen, ohne in deren Vorrat viel zwischen den einzelnen Autoren und Werken zu unterscheiden. Tatsächlich sind sie in der Breite der Produktion durch das Unspezifische, akademisch gesagt: durchs Zurücktreten des Personalstils einander fatal ähnlich. Zum Entscheidenden, der Wahrnehmung der Qualitäten, wie sie die Kunstgeschichte in der Behandlung des Barocks immer noch bewährt, ist musikalisch wenig Anlaß. Womöglich werden die Mängel des Objekts diesem auch noch gutgeschrieben als Bürgschaft überpersonalen Seins, noch nicht zerrüttet vom subjektivistischen Sündenfall, während man gleichzeitig an der Idee des Barocken selbst den Durchbruch der Subjektivität aus dem Gehege der Renaissance unverdrossen feiert. Die modische Faszination durch Langeweile dürfte durch ein genormtes Aha-Erlebnis vermittelt sein, durch Kinderseligkeit beim Wiedererkennen von Immergleichem. Zirpt im Radio ein Cembalo oder Clavichord, exerzieren dazu die Instrumente ihr emsig wiederholsames Motivspiel, so flammt das Licht Barockmusik auf wie bei Orgelklängen das Religion oder bei quäkenden Synkopen das Jazz. Beim Barock paßt jene Reaktionsweise zu dem, was Jürgen Habermas die Ideologie des absinkenden Mittelstands nannte. Wer sich für Generalbaßmusik, womöglich gegen das neunzehnte Jahrhundert und die Romantik, mit hochgezogenen Brauen erklärt, der spielt sich als wählerisch, strengen Geschmacks auf, ohne diesen in sachlicher Unterscheidungsfähigkeit auf die Probe stellen zu müssen. Soweit reicht die Neutralisierung, daß eine Dame, die man als Barock-fan bezeichnen könnte, solche Musik erotisch besonders anregend fand, während die Sprecher ihrer
Wiederbelebung diese asketisch, gerade mit Scheu vor expressiverotischem Ausdruck begründen. Daß in Musik der Wortsinn von Barock, wie man weiß das »Schiefrunde«, die Invasion der Asymmetrie ins Symmetrischeste, keinerlei Basis hat, stört niemand. Geht man unvermeidlicherweise über jene einer optischen Grundform geltende und auch dort nicht besonders treffende Charakteristik hinaus, so gerät man an das, was Riegl gleich anderen »wunderlich, ungewöhnlich, außerordentlich« 3 nennt. Der bedeutende Kunsthistoriker wird sogleich der Unzulänglichkeit der Allerweltsdefinition inne: »Das Außerordentliche schlechtweg ist aber auch Ziel aller klassischen und romanischen Kunst, auch der Renaissance.« 4 Kunst hebt durch ihre bloße Existenz vom Grau bürgerlich normaler Selbsterhaltung sich ab; das Nichtnormale ist ihr Apriori, ihre eigene Norm. Riegl konkretisiert die Idee des Außerordentlichen im Barock durch die des in sich Widerspruchsvollen, man darf wohl sagen: Dialektischen. Musik aber, wie sie am Ruhm des Barocks parasitär teilhat, hält es vorweg mit dem Ordentlichen, nicht mit Außerordentlichem; sie strahlt Anti-sex-appeal aus. Relationen zwischen der bildenden Kunst und der Musik aus dem Zeitraum vom späten sechzehnten Jahrhundert bis etwa 1740 sind durchaus nicht generell zu leugnen. Analoga wie die Neigung zum Pomp oder die in sich übergangslos-antithetische Gestaltungsweise drängen sich auf. Auch wer der Ungleichzeitigkeit der Kunstgattungen, zumal des durchweg verspäteten Wesens der Musik sich versichert weiß, wird soviel an Einheit jedenfalls erwarten dürfen, wie die Epochen selbst ihren konstitutiven Zügen, ihren geschichtlichen Apriorien nach in sich einheitlich sind. Plausibel auf den ersten Blick ist die Ähnlichkeit der von Riegl schon bei Michelangelo herausgearbeiteten Technik mehrerer nach der Tiefendimension gegen einander abgesetzter Ebenen mit der sogenannten Terrassendynamik, überhaupt der Schichtung je in sich einheitlicher und unvermittelt kontrastierender Komplexe im barocken Konzert. Aber eben nur auf den ersten Blick. Die Analogien haben eine Tendenz, sich zu verflüchtigen, sobald man ihnen nachgeht; die barocke Malerei kennt mindestens ebensosehr wie das Mittel der Kontrastbildung bereits die Technik des Übergangs, des atmosphärischen Ineinander, der Auflösung des bestimmt Konturierten: das sfumato. Nichts davon in der
gleichzeitigen Musik. Die allgemeine Rede vom Barock ist Ideologie im genauen Sinn falschen Bewußtseins, gewalttätige Vereinfachung der Phänomene, deren Propaganda sie besorgt. Die Autorität des Barock ist zentral die der Idee von Stil. Barock war der letzte machtvolle und exemplarische, den die Kunstgeschichte verzeichnet; das Rokoko, dessen Äquivalent in der Musik der galante Stil wäre, wird als Appendix mitgeschleift; dem Empire und dem Biedermeier dann eignet gegenüber der kollektiven Kraft des Barocks entweder ein Fiktives oder ein resignierend ins privat Enge sich Zurückziehendes. Man tut den authentischen Gebilden des Barocks, und der in ihnen sich darstellenden Stilidee, keinen Abtrag, wenn man den Kultus des Barocks dem des Stils schlechthin gleichsetzt. Er kam auf mit der These vom Erlöschen der stilbildenden Kraft. Sie war ein Reflex auf den Wilhelminischen und Franz-Josephinischen Synkretismus. Stil allein aber garantiert nicht den ästhetischen Rang, obwohl seine Präponderanz es zuweilen erschwert, jenen zu erkennen. Unbefangene Augen brauchen nur gesehen zu haben, wieviel an minderwertigen Barockbauten es auch in Süddeutschland, Österreich, Italien gibt, wieviele mit Atelierroutine gefertigte allegorische Schinken, nicht selten mit großen Namen signiert, die Museen verstopfen, um darauf aufmerksam zu werden, wie wenig mit Stil allein getan ist. Er erlangte seinen Nimbus erst, als er mit Grund und eigener Schuld zergangen war. Die Gewalt des Stils war stets, vermutlich schon in der hochgotischen Architektur, zugleich Gewalttat, sprudelte nicht nur spontan aus dem Zeitgeist, sondern wurde auch diktiert und organisiert. Die Restauratoren mittelalterlicher Kirchen, die überall auf die Verwüstungen der Barockisierungswelle stoßen, dürften darüber einiges zu berichten haben. Soweit der Barock mit der Gegenreformation zusammengeht, ist ein Wille unverkennbar, der kein Kunstwollen war. Die der Kirche entlaufenden Massen sollten beeindruckt und wiedereingefangen werden. Das Surplus an Effekt, an Wirkung ohne Ursache, wie es Kritik am Barock hervorgehoben hat, solange sie noch zu urteilen sich getraute, leitet von jenem Willen sich her; wo er überwiegt, wird die immanente Qualität fragwürdig. Insofern ist die Barockisierungswelle, trotz des Niveau-Unterschieds, peinlich der vergleichbar, die man heute, unter dem Impressum der Kulturindustrie und schwerlich mit Stilansprüchen, als Neonisierung bezeichnen könnte; jenem offenbar
unwiderstehlichen Bedürfnis, einem vag gefühlten Vorbild des amerikanischen up-to-date-Seins ohne Rücksicht auf konstruktive und strukturelle Forderungen nachzueifern, etwa jedes Lokal zu modernisieren in einer Weise, die weder einer Logik der Sache gehorcht noch auch nur dem Komfort der anbetroffenen Gäste, sondern einzig der Furcht, es könne etwas von den Tönen der Juke box oder vom Coca Cola-Geschmack abstechen und gar die Gäste zu verweilen und zu Gesprächen ermutigen. Angesichts des heute erneut ausbrechenden Stils, eines Anti-Stils vielmehr, dessen Einheit das Monopol verordnet, nicht die zu Unrecht gepriesene Weltanschauung, wird das Urteil über Stil zu revidieren sein. Nicht länger ist Stillosigkeit ästhetisch das radikal Böse, sondern eher die ominöse Einheit. Das hat rückwirkende Kraft auch den Epochen gegenüber, in denen Stil noch nicht die Parodie seiner selbst war. Stil als Ideologie, dessen gängige Formel Barock heißt, steht in strengem Kontrapost zur gegenwärtigen Situation. Diese fordert von Kunst ein Äußerstes an Nominalismus, den Vorrang des einzelnen, in sich stimmig durchgebildeten Produkts vor jeglicher allgemeinen, abstrakten Anweisung, jeglichem vorgegebenen Formkanon. Nach der Kritik, die das ästhetische Subjekt an der Objektivität der nicht durch es hindurchgegangenen Form übte, ist diese nur noch repressiven Unwesens. Die Verherrlichung des Barocks als Stil antwortet auf einen Drang, der ebenso hinter der gesellschaftlichen und innerästhetischen Entwicklung zurückgeblieben ist, wie die gesellschaftliche Entwicklung selbst solchen Rückschritt befördert. Abgespalten vom Wahrheitsgehalt des Stils, leistet die heute gängige Barockideologie mühelos ein in sich Widerspruchsvolles. Die clichéhafte Überdehnung des Begriffs erlaubt es, ihm einerseits einen ersehnten sinnerfüllten und überwölbten Weltstand zu unterschieben, andererseits eine Kühnheit von subjektiver Emanzipation und von Unendlichkeitsdrang, darin man sich selbst samt unausweichlichen Zügen des Modernen wiederzuerkennen schmeichelt. Diese Doppelfunktion sagt mehr über das gegenwärtige Zeitalter als über den Barock. Sie spiegelt die anwachsende Heteronomie des Bewußtseins. Die Subjekte werden ihrer formalen Freiheit, der keine materiale entspricht und auch nicht ihre eigene Beschaffenheit, nicht froh. Desperat winseln sie nach jenen Bindungen, die von der bürgerlichen Gesellschaft unwiderruflich aufgelöst wurden. Gleichwohl können sie ihr eigenes
spätbürgerliches Bewußtsein nicht überspringen, dem keine solche Bindung mehr substantiell ist und das, soweit es Produktivkraft hat, über das geistig Vorgegebene, die Ontologie jeglicher Gestalt, hinausdrängt. Der molluskenhafte Barockbegriff, insbesondere seine Anwendung auf die Musik, ist nach Belieben aufs Kontradiktorische anzuwenden, von der angeblich ausschweifenden Phantasie und jenen quasi surrealistischen Schocks, wie sie die imaginären Gefängnisse des Piranesi bereiten, bis zum unbeirrten Stampfen von Generalbaßpiècen, deren sturem Ablauf man mit ebensoviel Lust parieren kann wie dem ground beat des Jazz; daß gerade sogenannte vorklassische Musik so gern verjazzt wird, ist kein Zufall. Fraglos gibt es in der Geschichte des Geistes authentische correspondances. Als man während des Expressionismus auf Greco ansprach, spürte man Wahlverwandtschaft mit einem antinaturalistischen Impuls, den bis dahin die Malerei kaum ganz rezipiert hatte. Das jüngste Interesse am Manierismus ist davon gründlich verschieden; eher mit der Ratlosigkeit der akademisch etablierten Geistesgeschichte vor den jüngsten Phänomenen zusammenzudenken. Trotz gewisser Ähnlichkeiten mit denen des Manierismus ist eine Denkweise untriftig, die das Befremdende, der erledigenden Zuordnung sich Widersetzende der neuen Kunst abwertet und zugleich akkommodiert durch historische Reminiszenzen. Die spezifische Erkenntnis dessen, was heute sich zuträgt, wird ihren Angriffspunkt gerade in der Verschiedenheit des Gehalts hier und dort zu suchen und aus ihr auch die der Phänomene selbst abzuleiten haben. In der Kunst auseinanderliegender Epochen kann, was sinnlich sich ähnelt, gänzlich Konträres bedeuten. Die Grundschicht der Moderne erreicht der Blick, der am tiefsten in ihr zeitlich Spezifisches sich versenkt, nicht die überschauende Nivellierung auf einen allgemeinen Begriff, der verschiedene Epochen deckt auf Kosten ihres Eigentümlichen. Wo aber, wie neuerdings von manchen ergreisten, ehemals modernen Malern, Barock sei's unmittelbar durch den malerischen Vortrag, sei's Kommentatoren zufolge ambitioniert ist, handelt es sich um Pseudomorphose, nicht um correspondance. Unter den Verdiensten von Alois Riegl ist nicht das kleinste, daß er, bereits an Michelangelo, die Prinzipien des Barocks als »struktiv«, also in der Konstruktion nachgewiesen hat. Daß der Barock, dessen Neigung zum Dekorativen in allen Bereichen man monoton immer wieder
beteuert, gleichwohl Stil ist und trotz allen verschwendeten Gipses kein bloßer Aufputz, hat in jenen struktiven Momenten seinen Grund. Kaum geht die Hypothese fehl, es seien die überlebenden Gebilde des visuellen Barocks in allen Sphären die, in denen die sinnlichen Wirkungen am zwingendsten aus der Konstruktion folgen, am tiefsten mit ihr versöhnt sind. Nichts davon in den barocken Gesten moderner Malerei. Sie werden sich, auf der Flucht vor den seit Cézanne unwiderstehlich vordringenden Konstruktionsfragen, zum Absoluten. Weil der Gestus allein, ohne subkutane Skelettierung, es nicht mehr leistet, macht man Bildungsanleihen beim Barock. Solche Malerei ist Dekorationsmalerei, selbst wenn sie nicht ausdrücklich für Festspiele bestellt ward, mit all den Insignien des Sekundären und Abgeleiteten, deren offenbar die Dekorationsmalerei nicht sich entäußern kann, solange sie an dem Wirkungszusammenhang sich mißt, von dem wiederum bei szenischen Werken nicht abzusehen ist. Neubarock taugt nicht mehr als die Neugotik des neunzehnten Jahrhunderts. Die Mixtur aus moderner Auflösung und historisch ehrwürdigem Schwung, die beim Repräsentationspublikum nach dem Zweiten Krieg wie dem der Reinhardt-Ära soviel Resonanz hat, ist brüchig bis ins Innerste, zerfressen von jenem Kunstgewerbe, das noch vor fünfzig Jahren mit offenbaren Stilkopien in harmloser Ohnmacht sich zufrieden gab. Die Kerzenbeleuchtung, zu der damals malerisch drapierte Cembalistinnen in Schloßkulissen Stimmung machten, ist unterdessen in die peinture großer alter Männer eingewandert, die eben damit aufhören, es zu sein. Ihre Praktiken konvergieren mit der Kulturindustrie, die ohnehin die Tendenz zur Totalität hat und, was ihr Kulturgut heißt, zu Verwertungszwecken antastet und verschluckt. Schauplatz dieses Absorptionsprozesses ist die Kulturlandschaft. Gegenden ohne Fabriken, zumal solche eines einigermaßen unerschütterten Katholizismus, gewinnen durch ihren Seltenheitswert Monopolcharakter und werden selber Luxuswaren, Komplement zum Industrialismus, in dessen Mitte sie gedeihen. Ihr Barock ist zur Affiche totaler Kultur für den Fremdenverkehr geworden, und das beschädigt noch seine eigene Schönheit. Sie könnte erst wiederhergestellt werden, wenn der Kommerzialisierung des Unkommerziellen ihre gesellschaftliche und ökonomische Basis entzogen wäre. Kaum ist es zu weit hergeholt, die Barockideologie
sei auch politisch zu beargwöhnen. Ein Musiker, der sich in Abenteuer mit der Avantgarde eingelassen hatte, aber dann Angst vor der eigenen Courage bekam und seine Versprechungen brach, rechtfertigte das damit, er sei zu tief im süddeutschen Barock verwurzelt. Seine Reaktion ist verwandt jener, die nicht lange Zeit davor an dem sich austobte, was sie wurzellos schalt. Dem Wurzelmann ging es freilich um Musik. In ihr ergänzt der Barockbegriff die bildende Kunst durchs Gegenteil. Das Ideal ist nicht das sinnlicher Kultur, nicht kulinarisch, sondern versagend. Barock hätte nicht zur Ideologie für so Divergentes werden können, lauerte nicht im Gebrauch des Begriffs objektive Unwahrheit. Das viel zu wenig bekannte Buch ›Fragen an die Kunst‹ des ehemaligen Leiters der Mannheimer Kunsthalle, G.F. Hartlaub, hat das erstmals mit allem Nachdruck herausgestellt. Seine Überzeugungskraft ist um so größer, als er die Wahrheitsmomente eines umfassenden Begriffs von Barock konzediert, um die bestimmenden Differenzen plastisch sichtbar zu machen. Der Text, dessen Titel hinter das Wort Barockmusik, dem übrigens schon Riemann mißtraute, ein Fragezeichen setzt, ist auf eine These zu bringen, die der Autor selber, mit äußerster Bescheidenheit, in Frageform ausspricht: »Ob nicht in der Tonkunst alles, was an das Barock der bildenden Künste ihres Zeitalters gemahnt, viel mehr auf einer ›archäobarocken‹ Stufe steht?« 5 Den Kern von Hartlaubs Argumentation bildet der Nachweis, daß Wölfflins von Sachs auf die Musik übertragene antithetische Begriffspaare auf diese nicht zutreffen, wie es denn auch die musikhistorische Forschung an Einzelkategorien nachgewiesen hat. Für Hartlaub ist es wahrscheinlich, »daß man die Musik von etwa 1570 bis 1745, wenn überhaupt eine zunächst an der Kunstgeschichte gewonnene Stilkategorie auf sie angewendet werden soll, nur richtig verstehen kann als letzte großartige Entfaltung einer im ganzen noch archaischen Ausdrucksweise« 6 . Worum es in der Kontroverse geht, macht Hartlaub an einem Modell klar: »Wer würde, der die Malereien des Salvator Rosa kennt, nicht zunächst, ohne historische Vorkenntnis, bei ihm als Madrigalkomponisten eine ganz anders geartete Musik erwarten! Die stilistische Diskrepanz zwischen dem Werk des Musikers und dem des Malers erscheint ungeheuer; man bezweifelt geradezu, daß derselbe schöpferische Mensch dahinterstehen soll.« 7 Zu steigern wäre das durch einen Vergleich zwischen der imago von Musik bei
Shakespeare – wie der im letzten Akt des ›Kaufmanns von Venedig‹ – und den dagegen höchst primitiven Stücken der elisabethanischen Virginalisten. Das ungeheure Werk Bachs als Gegenbeispiel zu zitieren, hülfe gar nichts; Bach ist, auch nach Ansicht solcher, die den Barockbegriff in der Musik so beredt advozieren wie Blume, doch unter diesem Begriff nicht zu fassen. Das genügt dazu, die Vormacht des Stilbegriffs selbst zu erschüttern: was wohl soll er leisten, wenn die größten Exponenten einer Kunstgattung als dem Stil ihrer Epoche inkommensurabel sich erweisen. Stil wäre dann der Mediokrität vorbehalten, und manchmal wird man bei denjenigen, die ihn als ästhetischen Passepartout handhaben, das Gefühl ihrer Sympathie mit dem Mediokren nicht los. Nur allzu leicht sind Kantoreien und lokale Malerschulen, mit kollektivistischen Vermittlungen, gegenüber großer Kunst als das Objektivere zu präsentieren; als ob es künstlerische Objektivität gäbe, die anders sich realisierte als vermöge des kraftvoll sich entringenden Subjekts. Hartlaub redet mit allem Recht von der Enttäuschung durch die alte Affektenmusik »trotz Chromatik, Vorhaltsdissonanzen und kühnen Modulationen, die ja alle, wenn man mit Nachklassisch-Romantischem vergleicht, doch nur Keim oder Knospe geblieben sind – sehr im Gegensatz zu den extremen Mitteln der Maler und Bildhauer! Mindestens an einem Pol des bildnerischen Barock wohnt die geheime, selbstzerstörerische Sehnsucht nach völliger Auflösung, Aufquellung, nach einem sich selbst Verlieren aller begrenzten Form in ein bewegtes, stoffliches Chaos.« 8 Dann sollte aber auch für die weniger abundierende denn disziplinierende Musik des Generalbaßzeitalters der Terminus Barock vermieden werden. Er führt mit sich, was zumindest dem norddeutschen Protestantismus anathema war, der das gegenwärtige Bild von Barockmusik prägte. Hartlaub greift dort an, wo der erweiterte Barockbegriff, bündiger technischer Kriterien ermangelnd, seine Domäne beansprucht, beim Geist des Barocks. Er weist nach, die Musik der Epoche impliziere fürs historisch unvoreingenommene, lebendige Bewußtsein das Gegenteil jenes Geistes. Die Divergenz, die auf nicht weniger hinausläuft als auf die Ablehnung des Barockbegriffs für die Musik insgesamt, wird begründet mit der Ungleichzeitigkeit der Künste, und diese wieder aus deren eigener Beschaffenheit: »Das tief innerliche Wesen, das im Menschenherzen der Musik
entspricht, war noch in einem Zustande der Bindung, während das mehr Peripherische, das in bildenden Künsten zum Ausdruck kommt, bereits nach Übersteigerung und Auflösung drängte. Ein Impuls, der hier schon echt barocke Erscheinungen hervorbringen mußte (und damit auch Ermüdungssymptome), konnte dort nur erst archaische Zusammenfassungen und Ordnungen vollenden.« 9 Zwar ist die These vom »tief innerlichen Wesen« der Musik, die doch ihrerseits ohne den Drang zu sinnlicher Entäußerung nicht wäre, anfechtbar wie der Kultus von Innerlichkeit insgesamt. Subjektivierung ist nach Hartlaubs eigener Argumentation historisches Produkt, sicherlich keine Invariante. Gleichwohl behält die Einsicht in den verspäteten Charakter der Musik, an der einst Busoni sein Vertrauen auf deren Jugend nährte, ihre Kraft. Die Dialektik zwischen den Künsten und der Kunst waltet die Geschichte hindurch. Sie verleiht den einzelnen Phänomenen Ambivalenz in sich. Fraglos reichen die Strukturbeziehungen zwischen Musik und bildender Kunst, gegen deren Mißbrauch Hartlaub revoltierte, weiter, als er sah. Anfechtbar ist ein Satz wie dieser: »Wer fühlte« – gegenüber den täuschenden Wirkungen im Visuellen – »nicht jenes Vertrauenerweckende, für Echtheit, handwerkliche Solidität Zeugende, wie es für das gesamte Generalbaß-Zeitalter kennzeichnend ist – selbst wo das Schema, das Schablonenhafte (zum Beispiel in den Sequenzen) unverkennbar wird!« 10 Dekorative Momente lassen bis in die Verfahrungsweise Bachs hinein sich aufdecken, Brüche zwischen der musikalischen Erscheinung und der real vollzogenen motivischen Arbeit, die Bachs eigener, wenn man will, archaistischer Absage an den galanten Stil widersprechen. Die cis-moll-Tripelfuge im ersten Band des ›Wohltemperierten Klaviers‹, ein fünfstimmiges Stück, kennt eine Engführung, die man pseudozehnstimmig genannt hat; durch immer erneut sich überschneidende Themeneinsätze wird eine Vielheit nichtexistenter Stimmen vorgespiegelt. Der Kunstgriff mahnt an die ältere Praxis kleiner Bühnen, die bei militärischen Aufzügen die abgehenden Soldaten hinter der Szene herumführen und wieder auftreten lassen. Mitten in dem nach herrschender Ansicht so strengen Fugenwesen hat sich ein den Tricks barocker Architektur vergleichbares Illusionsprinzip eingenistet, das dann tief in den Wiener Klassizismus hineinwirkt. Zu diesem Komplex wird man möglicherweise sogar ein Verfahren rechnen dürfen, das seit Bach
und durch ihn in den Lehrbüchern der Fuge ehrbar ward, aber mit deren konsequentem Begriff nicht recht vereinbar ist: daß manche Fugendurchführungen nur Bruchstücke des Themas, meist dessen Anfangsglied benutzen. Sie heimsen zwar die Wirkung motivischer Ökonomie, die sogenannter Logik ein, honorieren jedoch nicht ganz die in dieser gelegene Verpflichtung. Händel kann mit Rücksicht auf solche Sachverhalte außer Betracht bleiben, weil seine Fugen deren Prinzip zugunsten des pastosen Stils, der keine Durchartikulation des Gewebes duldet, gar nicht verpflichtet waren; die Fugen sind dadurch nicht besser geworden. Derlei Beobachtungen mögen wie technologische Spitzfindigkeiten sich anhören, sind aber von erheblicher Tragweite: Musik, von der man denken möchte, daß sie, weil sie nichts darstellt, auch nichts fingieren muß, hat trotzdem am Illusionscharakter teil, an dem, was dann die Spekulation des deutschen Idealismus den ästhetischen Schein nannte. Diese Teilhabe birgt ihre sprengende Dialektik. Ihr Medium war die Wendung der Musik nach innen, ihre subjektive Vermittlung. Musik konstituierte sich als Sprache des Subjekts, insofern sie Ausdruck subjektiver Regungen zu sein schien, die von ihr imaginiert, quasi abgebildet und entwirklicht wurden. Aus jenem Illusionsprinzip hat sich das Schmückende, Ornamentale entwickelt, das später mit der Forderung materialer Stimmigkeit zusammenstieß und schließlich die Kündigung des tonalen Idioms erzwang, das gänzlich vom Illusionsprinzip durchdrungen war. Um des Einheitsmoments der auseinanderstrebenden Kunstgattungen innezuwerden, muß man schon in solche Komplexionen sich versenken, darf nicht mit jener Fassade sich begnügen, an der der Begriff des Stils sein Genügen hat und die buchstäblich im Barock dominierte. Dem haben die großen Kunsthistoriker sich gestellt, die akademisch etablierte Musikwissenschaft aber hat bislang davor versagt; einzig Außenseiter wie Halm, Kurth, Schenker bemühten sich um volle technologische Einsicht, die zugleich, als Vollzug der Stimmigkeit oder Unstimmigkeit der Gebilde, Kritik wäre. Unter technologischer Analyse ist dabei nicht an die – der Stilidee durchweg konforme – Beschreibung durchgängiger Gattungseigenschaften zu denken, nicht also an die allgemeinen Schemata und Charakteristiken des Concerto grosso, der Dacapo-Arie, der Fuge oder selbst der Behandlung des Basso continuo, sondern an die mikrologische Einsicht ins jeweils
Komponierte und seine spezifische, unvertauschbare Gesetzmäßigkeit. Aus dem besonderen Werk, freilich auch seiner Beziehung zur Gattung durch Unterordnung, Abweichung und deren Verhältnis zueinander, geht der Geist einer Musik hervor und wohl der einer jeglichen Kunst; schwebt nicht frei darüber. In der Abstraktion auf Gattungsmerkmale verflüchtigt er sich. Zu solcher Erkenntnis indessen bedarf es einer Affinität zur Kunst – gleichsam einer Position auf der Seite des Produzierenden –, die der Wissenschaft abgeht und die sie wohl gar zu Ehren ihrer Wissenschaftlichkeit verpönt: allzu genaue Kenntnis der Werke ist ihr zuweilen suspekt. Stets noch fasziniert an Riegl, daß er es nicht bei der Versicherung des struktiven Wesens des Barocks sein Bewenden haben ließ, sondern die in Rede stehenden Strukturmomente bis ins einzelne nachwies. Selbst ein so außerordentlicher Kenner der gesamten Musik des Barockzeitalters wie Friedrich Blume dagegen weist das von sich, fürchtend vielleicht, der musikalische Barockbegriff halte minutiöser technischer Analyse nicht stand. Ausdrücklich verwirft er, gegen Riemann polemisierend, »Bezeichnungen bloß technischen Charakters« 11 . Ihm zufolge ist Barock in der Musik ein stilgeschichtlicher Begriff, der am Gehalt, nicht an den technisch kompositorischen Sachverhalten orientiert sei. Man müsse gegenüber den aus »empirischen Stilformen« abgeleiteten, nämlich technologischen Kategorien – gemeint sind gerade die Wölfflinschen Begriffspaare – zurückgehen auf ihren – so schreibt Blume wörtlich – »Aussagewert« 12 . Eskamotiert wird die zentrale und für die Kunsthistoriker selbstverständliche Frage, wie jener Gehalt zur ästhetischen Erscheinung vermittelt ist. Zugrunde liegt solcher in der Musikwissenschaft wohl vorwaltenden Ansicht die unreflektierte Vorstellung eines gleichsam ansichseienden, zumindest der bündigen Bestimmung sich entziehenden geistigen Gehalts, demgegenüber die Technik für äußerlich, sekundär, musikhistorischer Betrachtung unwürdig gilt. Das wird nicht offen deklariert, klingt aber deutlich durch. Mangel an Fühlung mit der Sache dünkt sich überlegener historischer Weitblick. Technologie tritt unter dem unfreundlichen Namen äußerer Stilmerkmale auf; der ihnen entgegengesetzte, auf den Gehalt abzielende wird der Philosophie entlehnt, als jener Zeitgeist, der seinerseits philosophisch erneut zu durchdenken wäre. Blume führt aus: »Mit
der Einsicht, daß der musikalische Barock nicht in der mehr oder minder fragwürdigen Übereinstimmung äußerer Stilmerkmale mit denen anderer Künste, sondern in der inneren Einheit eines Zeitgeistes besteht, schwindet der im Schrifttum häufig aufgetauchte, auf Nietzsche zurückgehende Zweifel an der Gleichzeitigkeit der Musik mit jenen. ›Zeitgeist‹ wird hierbei verstanden nicht nur im Sinne eines Wirkungsfaktors, der, an und für sich unerklärbar, die Menschen einer Zeit und eines Raumes in eine gemeinsame Form des Denkens, Fühlens und Sichäußerns hineinzwingt, sondern auch im Sinne einer bestimmten Art und Weise, wie die Menschen eines Zeitalters sich selbst sehen und sich in Beziehung zur physischen und metaphysischen Welt setzen. Echte Gleichzeitigkeit wird nicht dadurch nachgewiesen, daß irgendwelche äußeren Stilmerkmale der Malerei oder der Dichtung sich in Analogie zu denen der Musik bringen lassen.« 13 Wohl möchte man wissen, wie man über das auch von Blume skeptisch »vages Unterfangen« genannte Verfahren hinausgelangen soll, ohne mit den konkreten Techniken sich einzulassen. Die Weigerung, das zu tun, hat das Einverständnis der Bildungsideologie hinter sich, der zufolge unbesehen dem Geist der Vorrang vorm Buchstaben gebührt. Sätze aus dem Abschnitt, den Blume der Apologie des musikalischen Barockbegriffs widmet, lauten: »Da aber letztlich jede Kategorisierung geistiger Erscheinungen eine nachträgliche Abstraktion aus der schwankenden Fülle des wirklichen Lebens ist, kann eine solche Unschärfe wohl in Kauf genommen werden, wenn sie dazu verhilft, die Isolierung der Musik in der Geschichte ihrer Technik zu überwinden und sie als ein Produkt der treibenden geistigen Kräfte ihres Zeitalters verständlich zu machen. Hieraus ergibt sich, daß die Einführung des Begriffes ›Barock‹ in die Musikgeschichte zwar nicht notwendig, aber zweckmäßig ist, nachdem durch den Vorantritt der kunstgeschichtlichen und literaturgeschichtlichen Forschung das Wort mit dem Inhalt bestimmter Strömungen und Kräfte der Geistesgeschichte erfüllt worden ist.« 14 Gerade nur in ihrer Technik jedoch sind die treibenden Kräfte der Musik eines Zeitalters aufzufinden. Paradox ist die Ungeistigkeit so vieler Musikhistorie damit zu erklären, daß sie ungebrochen einen Begriff von Geistesgeschichte übernimmt, der so hinfällig ist wie seine philosophische Konstitution durch Wilhelm Dilthey. Die Rede von »seelisch-geistigen Grundlagen«
bleibt solange Versicherung und dekorativ, wie sie nicht im Komponierten ebenso sich bewährt wie einst, bei den großen Kunsthistorikern, im Gemalten oder Gebauten. Wer den geistigen Gehalt von Kunst schwer nimmt, als Wahrheitsgehalt, nicht als unverbindlichen Überbau, der der Betrachtung die höhere Weihe verleihen soll und womöglich aus Ehrfurcht in die Analyse nicht hineingezogen wird, muß fordern, daß jenes Zentrale der Kunstwerke zu ihrer immanenten Zusammensetzung und ihrem Formgesetz in durchsichtige Beziehung gerückt werde. Die Philosophie der Kunst, der die Konstruktion ihres Geistes obliegt, ist der Technologie näher als der Geistesgeschichte. Ort des Geistes in den Kunstwerken ist ihre technische Realisierung; der Stilbegriff, Komponisten wie Schönberg ebenso verdächtig wie der Philosophie, bietet dafür ein bloßes Surrogat. Wie sehr seine Vormacht, jedenfalls in der Musik, verschandelt, worauf allein es ankäme, zeigt sich darin, daß er die Frage nach der Qualität der Kunstwerke zurückdrängt. Sie ist von der nach dem Wahrheitsgehalt untrennbar: dieser entscheidet über den Rang bedeutender Werke, doch einzig in seinem wie immer auch gespannten und widerspruchsvollen Verhältnis zum Realisierten. An der geisteswissenschaftlichen Gleichgültigkeit gegen die ästhetische Qualität – Scheler hätte sie Wertblindheit genannt – mag bereits Riegls berühmte Kategorie des Kunstwollens einige Schuld tragen. Sie kann dazu mißbraucht werden, auch mindere Kunstwerke zu sanktionieren, wofern sie nur dessen Ausdruck – also eines Stilprinzips – seien, ohne Rücksicht auf ihre eigene Stimmigkeit. Dann fällt die ästhetische Qualität einem Relativismus anheim, der schon bei Dilthey mit der unkräftig hochtönenden Geistesgeschichte sich verband. Uneingestandene Komplizität waltet zwischen der Pedanterie eines akademischen Betriebs, der, unter dem Vorwand, nur ja nichts zu behaupten, was nicht hieb-und stichfest wäre, an die äußerlichsten, dem Inneren der Sache gleichgültigsten Tatbestände sich klammert, und einem Irrationalismus, der, vermummt als Schweigen vor schöpferischem Geheimnis, das Wesentliche aus sich ausschließt und es dem Gefühl und damit dem blinden Belieben überantwortet. Der Schein der Relativität des Ranges von Kunstwerken zergeht, sobald ihre Technologie, als Inbegriff ihrer Stimmigkeit, aufgedeckt ist. Die herrschende Barockideologie läßt davon wenig mehr erkennen. Ihre Exponenten stellen unbeirrt Bach
und Händel nebeneinander, wie es kein Literaturhistoriker mehr mit Goethe und Schiller riskierte. Den kompositorischen Abstand zwischen beiden nimmt jeder Musiker, der sein Metier versteht, wahr; bereits Mozart sah sich dazu veranlaßt, bei der Bearbeitung des ›Messias‹, nach Schönbergs Wort, meterweise Sequenzen wegzuschneiden. Die Musikhistorie, die sich doch am Gehalt zu interessieren vorgibt, nimmt aus wertfreier Wissenschaftsgesinnung jenen Abstand nicht zur Kenntnis. Sie zieht ungeprüft die angenehm zuschauerhafte, konventionelle Ansicht vor, die beide, als polare Exponenten der gleichen Stilperiode, friedlich dieser subsumiert. Ebenso arglos werden Bach und Schütz in einem Atem genannt. Taubheit gegen Qualitäten erlaubt Anpassung an den geringsten Widerstand gesinnungstreuer Hörer, an die Konsumenten barocker bestsellers vom Plattenmarkt. Musikalische Manufakturen wie die Telemanns verschwimmen mit Bach, der zu Lebzeiten weniger beliebt war als jener. Allein schon um dem Verfall musikalischer Urteilsfähigkeit entgegenzuarbeiten, der auf die Barbarisierung des Hörens hinauslaufen muß, ist es an der Zeit, den ideologischen Mißbrauch des Barocks beim Namen zu nennen. Die Einwände gegen den Historismus müssen weiter gehen als die alten gegen die Sterilität der Aufbereitung einst lebendigen Geistes zum toten Besitz. Je mehr der Historismus, zumal in der Musik, Vormundschaft über die künstlerische Praxis beansprucht, desto heftiger widerspricht er dem, was wiederherzustellen er sich anheischig macht. Daß das historisch Vergangene, das, so wenig es geradlinig Fortschritt gibt, auch seinen Untergang durch eigene Mängel sich verdiente, nicht aus dem Willen sich wiederherstellen läßt und am letzten aus jenem Bedürfnis nach einem Kosmos des Geistes, dessen Decke von der erstarkenden Produktivkraft gesprengt ward, ist keine weltanschaulich allgemeine, geschichtsphilosophische These. Die Unwiederherstellbarkeit des Vergangenen und Gestürzten konkretisiert sich an der Sinnwidrigkeit der restaurativen Versuche angesichts ihres Gegenstandes. Das legitime Verhältnis zu authentischen Kunstwerken der Vergangenheit ist Distanz, das Bewußtsein ihrer Unerreichbarkeit, nicht die Einfühlung, die nach ihnen tastet und überschwenglich an ihnen frevelt. Der angeblichen Barockmusik widerfährt das unmißverständlich durch die historistische Interpretationspraxis. Die Musikhistorie selbst ist darauf gestoßen,
und bestätigt es in einigen ihrer letzten Publikationen, daß Instrumentation im Sinn des seit dem neunzehnten Jahrhundert geltenden Begriffs damals noch nicht existierte. Was man barocken Klang nennt, ist nicht durchs kompositorische Subjekt hindurchgegangen, gehorcht keiner Imagination, welche die Farbe als Kompositionsmittel eigenen Rechtes behandelt hätte. Jener Klang war vielmehr das Resultat des Verfügbaren, insofern gewiß historisch necessitiert, aber vom einzelnen Werk aus gesehen zufällig. Die Vielfalt an Instrumenten, die manche an der Epoche lockt, entsprang nicht der Idee einer musikalischen Farbenskala, sondern dem außermusikalischen Stand einer gleichsam anarchischen Technik des Instrumentenbaus. Die Menge an Instrumenten und Instrumententypen nahm ab mit der kritischen Rationalisierung, welche in der gleichen Epoche, der der temperierten Stimmung, einsetzte. Die Klangfarben, die mit Gusto wiederbelebt werden, sind trüb, dürftig und durch reinere und leuchtkräftigere überholt. Sie waren der Musik ihrer Zeit keineswegs wesentlich derart wie die Ventilhörner oder die Klarinettenfamilie dem Orchester des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts. Daß Bach zwei seiner reifsten Werke, das ›Musikalische Opfer‹ und die ›Kunst der Fuge‹, der instrumentalen Realisierung nach überhaupt nicht oder nur teilweise fixierte, ist dafür der sinnfälligste Ausdruck. Erlaubt ist, darüber zu spekulieren, ob jene Notation als »Musik überhaupt«, die der modernen Praxis so viel Kopfzerbrechen bereitet, nicht am Ende dem kritischen Bewußtsein des Genius entsprang, das Vorgestellte sei mit den ihm verfügbaren Klangmitteln nicht zu verwirklichen – eine Schwierigkeit, der die jüngsten Komponisten, die nach »Ideogrammen« suchen, abermals sich gegenüberfinden. Angesichts dieses Sachverhalts wäre es unsinnig, Musik aus dem siebzehnten und der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts instrumental so aufzuführen, wie es damals Usus war. Allein schon die Freiheit, die das Continuoprinzip der harmonischen Improvisation ließ, zeugt gegen die Verbindlichkeit des in der Generalbaßmusik gängigen Klangs. Historische Authentizität frommt wenig, wo die Idee eindeutig-authentischer Komposition noch nicht voll etabliert ist. Im Namen werkgerechter Treue begibt man sich ungewollt, vom anderen Extrem her, in dieselbe Sphäre des Kostümierten, der angestrahlten Musikfest-Musik, gegen die man als romantisch eifert.
Solche vermeintliche Treue wird zur Untreue dadurch, daß sie, was sie rein wiederzugeben wähnt, verhüllt und unterschlägt: jene strukturellen Momente, welche die Kunsthistoriker als das Wesen des visuellen Barocks bestimmten und von denen die kompositorische Qualität abhängt. Die respektvolle Langeweile, die heute so viel masochistisches Entzücken bereitet, hat ihren objektiven Grund. Die barockisierende Wiedergabe hält das, was in der Musik selbst sich zuträgt, ihr Geäder, das Subkutane, geflissentlich unhörbar. Aktuell wären allein Interpretationen, welche bei Bach das spezifisch Komponierte, also die latenten, bis in ein unendlich Kleines sich erstreckenden Motivzusammenhänge ebenso zur Evidenz erhöben, wie Riegl zufolge die struktiven Momente in großer bildender Barockkunst die Erscheinung determinieren, in ihr gegenwärtig sind. Das keusche Argument, es müßten jene struktiven Momente für sich selbst wirken, die Interpretation dürfe sie nicht entblößen, sondern das musikalische Phänomen rein von aller interpretativen Differenzierung sprechen lassen, trügt. Die idiomatische, sprachähnliche Seite aller tonalen Musik – und kaum eine war so sehr von der Tonalität bestimmt wie die des Generalbaßzeitalters, deren Zeichensystem ja Abbreviatur der tonalen Ordnung ist – verlangt nach sprachähnlicher Artikulation oder, wie Kolisch es nennt, Interpunktion. Strukturelles Musizieren, kulminierend in Neuinstrumentationen wie der Webernschen der sechsstimmigen Ricercata, tilgt den Aberglauben an die vom Wesen säuberlich getrennte Erscheinung. Wer auch nur phrasiert, wie es unterdessen die besten Cembalisten als unerläßlich empfinden, unterschreibt einen Vertrag, dessen Konsequenz nicht weniger verlangt, als die Grenze jener Übungen zu verletzen, die das zu allem anderen auch noch fiktive Ideal der Nachahmung der alten Praxis aufrichtet. Würde von der Musik nur die Erscheinung, unter Verzicht auf ihre struktive Verdeutlichung, wiedergegeben, so resultierte Galimathias, Prototyp dessen, was einmal das Wort unmusikalisch ganz wohl umschrieb. Große Musik des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts adäquat, nämlich ihrem eigenen Sinn gemäß aufführen, heißt soviel, wie mit ihrer eigenen Kraft zerbrechen, was bloß Stil ist an ihr. Das erst wäre die verdiente Rache für den Mißbrauch des Stils. Als der Barock, gleichzeitig mit dem beginnenden Jugendstil, wiederentdeckt wurde, reklamierte man ihn, nach Riegls Wort, als
»Vorstufe der modernen Kunst«. Nach mehr denn einem halben Jahrhundert ist daraus das Gegenteil geworden, das unheilvolle Wunschbild einer heilen Welt. Darum stehen die Kategorien Subjektivität und Objektivität für jene Epoche abermals zur Kritik. Jene recht leere Formel von der Gegensätzlichkeit als dem Barockprinzip ist kein Freibrief dafür, vom Barock so simpel Kontradiktorisches zu behaupten wie einerseits, Subjektivität sei gegenüber dem Formkanon erstarkt, andererseits, nach der unsäglichen Formulierung eines wohlbestallten Literarhistorikers, in der Dichtung des deutschen Barocks sei die Subjektivität noch nicht »zum Zuge gekommen«. Der Kardinalfrage nach dem Barock kann sich nähern nur, wer der rohen Alternative von subjektiv und objektiv nicht sich beugt, auch nicht mit einem vorsichtigen Einerseits-andererseits sich abspeisen läßt, sondern die dialektische Vermittlung beider Momente erkennt. In der Musikwissenschaft fehlt es nicht an Hinweisen darauf. Blume hat in seinem grundsätzlichen Aufsatz über die Musik des Barocks diese als Gegenschlag gegen die Selbstgesetzlichkeit der während der Renaissance entstandenen gedeutet; dem rein immanenten musikalischen Gefüge opponierten »teils die Nachbildung äußerer Vorbilder (Bewegungen, Geschehnisse, Geräusche usw.), teils der Ausdruck innerer Erregungen (seelische Zustände, Affekte)« 15 . Er betrachtet Nachahmung und Affektenlehre als Schlüsselkategorien der Generalbaßmusik, wie es im übrigen durch die Ästhetik der Zeit und die musikalischen Manifeste seit Caccini reich belegt ist. »Ein Hauptmittel für die Entwicklung eines affektiven Stils«, fährt Blume fort, »wurde die konsequente Anwendung der Rhetorik auf die Musik.« 16 Damit fraglos ein primär subjektives Moment. Musik will sprechend werden wie Menschen. Indem jedoch die musikalische Rhetorik an die tradierten Figuren der Rede sich anschließt, empfängt sie sogleich, vermöge der Zuordnung der einzelnen musikalischen Figuren, die nach Blume etwa dem Motivbegriff entsprechen, zu den rhetorischen, formelhafte Züge 17 . Mit der Subjektivierung der Musik geht von Anbeginn ihr Gegenteil zusammen, musikalische Topoi. Sie durchwachsen dann den gesamten Wiener Klassizismus. In gewissem Sinn könnte man ihn die aufs kunstvollste gesteigerte und durch den Schein permanenten Werdens verborgene, gleichwohl kaleidoskopartige Kombination solcher Formeln nennen. Von ihren Archetypen in der älteren
Affektenmusik wichen sie gar nicht so radikal ab, bis die Romantik gegen die kompositorischen Topoi zunehmend empfindlich ward. Die Subjektivierung der Musik und die Ausbreitung eines mechanischen Elements in ihr wären demnach nicht von verschiedenen Seiten hergekommen und hätten sich dann verbunden, sondern sind im Ursprung zwei Seiten des Gleichen, wie die Einheit der Extreme Subjektivierung und Verdinglichung in der neueren Philosophie. Bei Descartes waren, um die Wende des sechzehnten Jahrhunderts zum siebzehnten, die befreite Selbstgewißheit des denkenden Ichs und der Zwang des Mechanismus einander gesellt. Die musikalischen Topoi schlugen Brücken zwischen dem affektiven und dem tektonischen Moment. Weil sie dem Affektiven als dessen Spielmarken ebenso Gewalt antun, wie die Affekte ihrer als Repräsentanten im objektivierten Kunstwerk bedurften, trug der letzte gelungene Stil Male des Mißlingens. Was Riegl am visuellen Barock konstatierte, der Konflikt von Willen, also Entäußerung zur Objektivität, und Empfindung, dem Fürsichsein des Subjekts, kurz das Auseinander von Innen und Außen, wird zum antagonistischen Wesen auch der Musik. Es bedingt den überwertigen Schein ihres geschlossenen An sich auf Kosten jenes Subjekts, das die Geschlossenheit stiftete; je gefügter die Oberfläche der Werke, desto zerrissener, was sie verbirgt. Das Subjekt, das Objektivität zu seiner Sache, womöglich das Wirkliche zu seinem Produkt macht, vergißt sich in diesem. Geronnen, verselbständigt, fetischisiert tritt das Produkt dem Subjekt gegenüber. Die Objektivität des Selbstgemachten übertäubt, daß es bloß selbstgemacht ist. Rationalität ihrerseits, wie sie im neueren Zeitalter Erkenntnis durchherrscht, legt sich aus im Sinn einer Gesetzlichkeit, die sich nach den Kriterien des Notwendigen und Allgemeinen richtet, mit ihnen dem lebendigen Subjekt sich entfremdet und es unterdrückt. Dieser Prozeß ist keiner der isolierten philosophischen Reflexion, sondern reicht bis in die Grundschicht der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse und damit der historischen Erfahrungen der Menschheit. Er durchdringt auch die Kunst; nur ist er in ihr, die der vom Subjekt vergegenständlichten Welt das Bild unmittelbaren Lebens entgegenhält, minder offenbar. Das Subjekt, das, tastend nach seiner bürgerlichen Autonomie, sich selbst aussprechen will und, um dazu fähig zu sein, das vorgegebene objektive Idiom zerschlägt, braucht
ein solches Idiom, um sich mitteilen zu können, und hat doch so wenig eine Sprache der Freiheit, wie es wirklich frei ist. Es muß sich erst das Idiom erschaffen oder es fingieren kraft jener Rationalität, welche die bürgerliche Emanzipation ermöglichte und wiederum das Vakuum ausfüllen sollte, das durch die bürgerliche Emanzipation mit dem Sturz des mittelalterlichen ordo entstanden war. Das verurteilt das neue Idiom zu jenem Charakter des äußerlich Gesetzten, Starren und Klappernden, an dem die musikalischen Topoi seit dem siebzehnten Jahrhundert kranken; ihn loszuwerden, war die Arbeit musikalischen Fortschritts seitdem. Die Objektivität, die an der Barockmusik so viele als Trost empfinden, war veranstaltet und stets schon trügend. Der kollektive Hang zu ihr mag damit sich erklären, daß im gegenwärtigen Stand des Bewußtseins, dem in drei Jahrhunderten bis zum Äußersten gesteigerten Nominalismus, solche im Innersten usurpatorische Objektivität den Menschen auch politisch zum geheimen und verhängnisvollen Wunschbild wurde. Im Barock sprechen sie an auf das Urphänomen jener mit dem Subjektivierungsprozeß verklammerten dinghaften Ordnung, die am Ende aus der verwalteten Welt sieghaft ihnen entgegengrinst. Der Barock rechtfertigt sie ihnen als intakte Gestalt aus der Vorzeit; von ihm erborgen sie die Aura von Sinn. Die klobigen oder schnurrenden Motive, an deren Ablauf die regressive Sehnsucht sich stillt, sind Formeln einer kollektiven Übereinkunft, deren eigenes Prinzip jenes Verpflichtende desavouiert, das sie bekunden. Insofern weist der von Blume eingeführte Begriff einer Heteronomie der Barockmusik über das an Ort und Stelle Gemeinte hinaus. Er wäre kritisch zu wenden. Mißbrauch mit dem Barock treibt, wer aus Autonomie jenes Heteronome wählt, Unfreiheit aus halbwahrer Freiheit heraus, der keiner recht traut. Dem kritischen ästhetischen Bewußtsein nicht weniger als der Entzauberung der Welt fiel das Ornament zum Opfer. Das ohnehin geschwächte Bewußtsein der Menschen möchte mit jener Welt sich abfinden: sie blieb als entzauberte die dinghafte, eine von Waren. Der Barock steht ihnen ein fürs verdrängte und ersehnte Ornament, und macht ihnen dabei als Stil, der das Ornament gestatte und erheische, das gute Gewissen. Aber das vermeintlich unbeschädigte Ornament, zu dem sie flüchten, ist Ausdruck des gleichen Prinzips, vor dem sie die Flucht ergreifen. Die Einheit des Bürgerlichen und Absolutistischen, die sie zum Barock zieht, steht ihnen als Gleichnis
jener tödlichen Ordnung vor Augen, in der die Verflechtung der bürgerlichen Gesellschaft umschlägt in totale Unterdrückung.
Fußnoten 1 Die Fackel, XXVII. Jahr, Nr. 697–705, Oktober 1925, S. 86. 2 Friedrich Blume, Syntagma musicologicum. Gesammelte Reden und Schriften, hrsg. von Martin Ruhnke, Kassel, Basel, London u.a. 1963, S. 73. 3 Alois Riegl, Die Entstehung der Barockkunst in Rom. Aus seinem Nachlaß hrsg. von Arthur Burda und Max Dvorák, 2. Aufl., Wien 1923, S. 3. 4 a.a.O. 5 G.F. Hartlaub, Fragen an die Kunst. Studien zu Grenzproblemen, Stuttgart o.J., S. 165. 6 a.a.O., S. 169. 7 a.a.O., S. 168f. 8 a.a.O., S. 171. 9 a.a.O., S. 182. 10 a.a.O., S. 170. 11 Blume, a.a.O., S. 78. 12 a.a.O., S. 77. 13 a.a.O., S. 76. 14 a.a.O., S. 79. 15 a.a.O., S. 80. 16 a.a.O., S. 81.
17 Vgl. a.a.O.
Wien, nach Ostern 1967 Für Lotte Tobisch von Labotýn
Wiener Melancholie 1967: daß es keine Wiener Melancholie mehr gibt. Das spürt man am deutlichsten im Prater. Er wahrhaft hat seinen Duft verloren, und es ist nicht leicht zu sagen, warum. Vielleicht, weil, was ihm im Krieg widerfuhr, so wenig verheilte wie im Berliner Tiergarten – ein Gefühl des Abgeholzten bleibt, obwohl die Bäume nachwachsen. Schuld mag auch haben, daß man die Wege asphaltierte wie im New Yorker Central Park, während doch nach wie vor selbst die Hauptallee für Autos gesperrt ist. Der Prater war eine Art Bois de Boulogne. Gibt darin der Boden nicht mehr den Füßen nach, so ist die Spur von Wald ausgetilgt, die zu seinem Glück beitrug. Daß die Zeit des Praters vorbei ist, kommt nicht länger seinem Ausdruck zugute, sondern straft ihn Lügen. Einleuchtend wurde mir erklärt, die Asphaltierung diene der Ersparnis; sonst sei das Personal nicht zu bezahlen, das die Wege in Ordnung halte. An Bäumen die kurial umständliche Warnung vor niederfallenden Ästen, die bei Stürmen Spazierende bedrohen könnten, als laure der Prater aufs Unheil. Erst die Rückfahrt im altmodischen Autobus stellte das Gefühl der vertrauten Stadt wieder her. Heftig war es gerade dort unterbrochen, wo sie einmal mit der Natur sanft sich verband. L. erzählt, als Kind von sieben oder acht Jahren, im Sacré Coeur, habe sie unordentlich geschrieben, Kleckse in die Hefte gemacht. Die unterrichtende Schwester mahnte sie: »Wenn du so weitermachst, dann kränkt sich das liebe Jesulein.« Sie antwortete: »Da kann man auch nichts machen«; man hat sie deswegen aus der frommen Schule entfernt. Aber sie verlieh einzig der Wiener Metaphysik als vollkommenes Echo Ausdruck. Weder am lieben Jesulein zweifelte sie noch daran, daß es sich um die Sauberkeit ihres Schreibhefts kümmerte. Nur stellte sie sich, über der katholischen Ordnung, eine höhere vor, undurchdringlich hierarchisch, eine Wienerische Moira der Lässigkeit, gegen die nichts ankann. Fatalität jenseits der Gottheit lenkt das Dasein. Nicht rüttelt Skepsis am Absoluten, Skepsis selber wird als Absolutes inthronisiert. Der Weltlauf sei unverbesserlich wie zugesperrte
Ämter; vor ihm muß jeglicher sich neigen. Jene Lässigkeit, die heute wie eh über die Angespanntheit und, nach Mörikes Wort, »Sehrhaftigkeit« der deutschen Arbeitswelt tröstet, hat auch ihr Finsteres, etwas von Identifikation mit dem Übel, den Unterton, es solle eben nicht sein. In Wien kann man, auch unter zarten, sensiblen und refraktären Intellektuellen, beobachten, wie sie mit dem Tod eines geliebten Menschen, an dem wiederum die Lässigkeit mehr Schuld trägt, als einem lieb ist, gar zu bereitwillig sich abfinden. Der Valentin, der seinen Hobel hinlegt, wenn der allegorische Sensenmann ihm vernünftig zuredet, ist ebenso vernünftig beim Tod des anderen. Ergebung ins Unvermeidliche wird zu dessen Empfehlung. Von ihr ist nicht weit zur Schadenfreude. Das mag jenes Makabre erklären, an dem nicht nur der Wiener Geist sich ergötzt, sondern das real in Wien mit Gusto sich manifestiert, Kontrapunkt der Heiterkeit. Wer's nicht so schwer nimmt, läßt gern dem Schweren seinen Lauf. Darin ist der objektive Geist der Stadt unerschöpflich produktiv. Der Bursch, der vor ein paar Jahren eine Ballettelevin im Labyrinth der Oper ungestört erdolchte, hieß Weinwurm. Auf das Kommando: Beissi holen, Beissi holen, springt Dagobert, der wohlgenährte und enthusiastische Boxer, wild davon, nimmt seinen Maulkorb ins Maul und apportiert ihn seiner schönen Herrin. Vorform der Freiwilligen Selbstkontrolle; allerdings, ohne daß Theologen dazu bemüht würden. Am 31. März in der Verkauften Braut. Irmgard Seefried, in ihrem Rollenfach die größte Sopranistin ihrer Generation, sang die Marie. In der Loge nebenan ihre Kinder, ich beneidete sie ein wenig, weil sie die unvergleichliche Kunst der Mutter auf der Bühne bewundern durften. Es dirigierte ein Kapellmeister mit tschechischem Namen; nicht so authentisch, wie ich es mir vorgestellt hätte, vor allem nicht mit jener Fähigkeit des Verweilens, deren es zuweilen, als Kontrast zum Brio, etwa in dem Allegro moderato überschriebenen Quartett des ersten Aktes, bedarf. Originell ist diese Musik durch die Proportion zwischen Melodik und Harmonik. In den Melodien müssen die Akkorde sich spiegeln, dafür die Zusammenklänge so sich ausleben, daß sie in der Zeit Perspektive gewinnen. So erst
spricht Innigkeit sich aus: rührend wacht in der Verkauften Braut kollektiv gefesselte Subjektivität auf, wird zögernd ihrer selbst mächtig. Die frühmorgendliche Innigkeit ist so groß, daß man den folkloristisch rohen Spott über den tölpelhaften Nebenbuhler Wenzel darüber vergißt. Die Dekorationen waren naturalistisch. Ich schäme mich nicht, daß sie mir gefielen. Die Dorfbilder kannten das Geheimnis der Bühnendekoration als einer Form: sehnsüchtig weit Entferntes so nahe zu bringen, als wäre man darin, ohne daß der Duft der Ferne gemindert würde. Merkwürdig, die schönste Nummer des Ganzen, das Lento-Ensemble »Noch ein Weilchen, Marie, bedenk es dir«, das sie vor der Torheit der Vernunftehe schützt und an dessen Ende ihre Stimme leidenschaftlich die der Verwandten überfliegt – dies Meisterstück bleibt bei allen Aufführungen, die ich je sah, hinter der musikalischen Imagination zurück. Es wäre ganz durchsichtig, kristallen, fast unbeseelt zu singen, damit die beseelte Stimme davon sich löse. L. erklärte das Unbefriedigende sicher richtig; man müsse, um jene Wirkung in dem instrumental eben nur gestützten Ensemble zu erreichen, auch die Nebenrollen mit den vorzüglichsten Solisten besetzen, und materielle Rücksichten verböten das. Man ist damit im Zentrum der Schwierigkeiten, denen das musikalische Repertoiretheater heute selbst dort begegnet, wo es am lautersten verteidigt wird. Wir wohnten wenige Minuten von der Oper, mitten in der Stadt sozusagen, aber in einem Park, der den Lärm der Straßen nur wie ein fernes Rauschen zu uns dringen ließ, die Autos als Naturlaut, der beim Schlafen half. Im Park konnte man spazierengehen, an Teichen und lädierten Rokokogöttern vorbei wie aus den Fêtes galantes, über Stufen auf die verschiedenen Niveaus der Anlage. Dürre Zweige wurden verbrannt. Die Mauer, die schließlich Einhalt gebietet, trennt vom Belvederegarten. In einem Nebengebäude, in dem früher Geräte untergebracht sein mochten und das jetzt irgendwelche Ämter beherbergt, eine kleine grüne Tür. Die Dame, bei der wir geladen waren, hatte uns verraten, es führe durch diese Tür ein Gang hinaus, unmittelbar auf die Straße, und verkürze sehr den Weg zu ihrer Wohnung. Genau so könnte es in einer Beschreibung Prousts aus dem Faubourg St. Germain vorkommen. Behielt er irgendwo
recht, dann in dem Anspruch, daß sein Buch die Autobiographie eines jeden einzelnen sein müsse. Aus der Soziologie kennt man das Phänomen der Personalisierung: die unter den Bevölkerungen verbreitete Tendenz, entfremdete und verhärtete Verhältnisse, undurchsichtige politische Vorgänge dem Bedürfnis nach lebendiger Erfahrung dadurch, scheinbar, zurückzugewinnen, daß man sie durchs Verhalten einzelner Menschen erklärt und an diese sich hält. Die bei amerikanischen Wahlen gängige Suggestion, es gelte, den besten Mann zum Präsidenten zu wählen, ist der Prototyp jener Tendenz; ihr folgt auch die Illustriertensitte, irgendwelchen Prominenten, die für das reale Schicksal der Menschen nichts bedeuten, eine Publizität zu verschaffen, die vortäuscht, es hinge von den Hochgespielten und ihren privaten Affären wunders was ab, ohne daß das übrigens von den Konsumenten ganz geglaubt würde. Das kulminiert im sogenannten Personenkult von Diktaturstaaten. Es ist aber nichts anderes als die Reprise einer vorbürgerlichen, zumal absolutistischen Denkweise aus Jahrhunderten, da der unmittelbare Wille von Dynasten mit dem Schicksal der Völker weit mehr sich decken mochte als in einer vergesellschafteten Gesellschaft, deren Funktionscharakter, die universale Vermittlung, noch die Befehlsgewaltigen zu Marionetten herabsetzt. Bei Shakespeare mag ein englischer König von sich als England reden. Wie sehr der gegenwärtige Usus von Personalisierung Wiederkunft eines Vorbürgerlichen ist, lernt man im Umgang mit Feudalen, für welche längst verstorbene Heroen der Weltgeschichte Verwandte sind, über die man sich intim, mit etwas Kritik und viel Nachsicht unterhält, als sei die Weltgeschichte tatsächlich Familiengeschichte. Zuweilen fällt freundliches Licht auf solche, die in der Historie einen schlechten Namen haben; ihnen wird gute Absicht, Harmlosigkeit, Naivetät bescheinigt. Und wahrscheinlich nicht einmal zu Unrecht. Manche, die der Überlieferung als schwarze Männer gelten, mochten wirklich privat anständigen Willens gewesen sein. Daß man sie verdammte, anstatt die historische Tendenz, ist selber ein Stück Personalisierung, dem dann die genauere Kenntnis der Person und ihrer Lebensumstände legitim widersteht. Dagegen ist das bürgerliche Bewußtsein besonders empfindlich; gerade weil seitdem von den einzelnen, und seien es die Herrschenden, so wenig
abhängt, müssen diese die schuldigen Subjekte der Geschichte sein, um über die Schuld der Geschichte zu täuschen, daß sie bis heute noch kein Subjekt hat. Im Wozzeck, am 9. April. Sehr schöne Aufführung, mit Berry als Wozzeck und Christa Ludwig als Marie. Alles sehr warm und lebendig musiziert, im Ton Böhms, den der Dirigent Hollreiser mit großer Liebe und Kenntnis wahrt. Vielleicht ist nicht alles so transparent, wie heute Bergs Musik dargestellt werden kann, damit selbst das höchst Komplexe als sinnvoll organisiert verstanden wird. Dafür jedoch spricht die Aufführung das Bergische Idiom, ein Österreichisch, Träger der spezifischen Humanität jener Musik. Man muß den musikalischen Dialekt des Wozzeck im Ohr haben, wenn man Ausdruckscharaktere wie die unsägliche Trauer der langsamen Ländlereinleitung zur großen Wirtshausszene des zweiten Aktes herausbringen will. – Außerordentliche Bühnenbilder von Caspar Neher. Sie realisieren vollkommene pragmatische Deutlichkeit, klarste Beziehung des Visuellen auf die musikalischen Vorgänge in einer Atmosphäre, die den Realismus weit übersteigt und zur eigentlich musikalischen Dimension geleitet. Unendlicher Beifall, wie nach einer Repertoireoper. Der Wozzeck widerlegt, ohne die leiseste Konzession, durch seine pure künstlerische Evidenz die Behauptung von der Publikumsfremdheit der neuen Musik. Sie wird doch wohl vorab von Interessenten nachgebetet, welche die Musik selber nicht verstehen. Einladung bei einem überaus liebenswürdigen italienischen Diplomaten, in ganz kleinem Kreis. Wir wurden in einem Traumzimmer empfangen. Aber es war keines im Sinne der Phrase: traumhaft schön, sondern buchstäblich so, wie ich es immer wieder in Träumen, als Kinderbild der Sehnsucht, sehe, ohne es mir wach je zu wünschen: groß, ganz mit roter Seide bespannt, etwas dämmrig, alles in sich vereinend, was die Sachlichkeit einem austrieb und was ins Unbewußte sich flüchtete, Noblesse, die man als Kind sich zusammenphantasiert und die dann die Welt, auch die große, nie einlöst. Dem fügte das Gespräch ohne Bruch sich ein. Man muß altern, damit die Kindheit, und die Träume, die sie hinterließ, sich verwirklichen, zu spät.
In der Tradition des Theaters, zumal der Komödie, war es, bis zu Hofmannsthal, beliebt, Szenen oder ganze Akte in Wirtshäusern, später Hotels spielen zu lassen, weil dort ohne gar zu auffällige dramaturgische Gewalttat alle möglichen Personen, auch solche sozial sehr verschiedener Kreise, sich treffen und miteinander konversieren können. Der Trick ist zu durchsichtig, als daß so leicht ein Schriftsteller mit Organ fürs Zeitgemäße ihn weiter verwenden dürfte. In der Stadt Wien aber, dem ästhetischen Nachbild ihrer selbst, überlebt eine Realität dieser Art die Lustspieltechnik, die von ihr abgeleitet war, und lehrt einen, daß in künstlerischen Konventionen gesellschaftliche Formen von einst sich verstecken. Im Hotel Sacher – beim Sacher, wie man sagt – mit seinen Warteräumen, Bars, Restaurants stellt unter den Habitués und denen, die sie kennen, leicht jene Kommunikation sich her, die sonst nur auf der Bühne selbstverständlich scheint. Das Hotel ist eine Art großes Hauptquartier, ohne daß es stets der Verabredung bedürfte: Zufall und Vorsatz gehen unmerklich ineinander über. Selten wird man dort nachtmahlen, ohne daß man mit Bekannten sich begrüßte oder daß die es tun, mit denen man, nach der Oper etwa, zusammen ist. Im Grazer Hotel Wiesler verhält es sich ähnlich. Das »Man« steht dabei freilich unter einer Generalklausel, der Zugehörigkeit zur Aristokratie oder des Kontakts mit ihr. Sie spiegelt sich auch im Verhalten des Personals, das es einer Dame von großem Namen nachsieht, wenn sie in einer Wolljacke und ohne Strümpfe das Ritual durchbricht, das ihr zuliebe geübt wird. Humanität, Unmittelbarkeit und Leichtigkeit des Umgangs erweisen sich in Wien als gebunden an feudal- Verhältnisse, an unsichtbar gezogene Grenzen, während in der bürgerlichen Gesellschaft, die von keinen solchen Grenzen mehr wissen will, eben dadurch Kälte und Gleichgültigkeit zwischen den Anonymen triumphieren. Weniges in Wien ist verführerischer, nichts gefährlicher: der Anreiz zur Ideologie, es bildeten der Kutscher und der Graf eine Gemeinschaft, weil sie beide gleich Tamino und Papageno ihre verbürgte Stelle im kleinen Welttheater hätten, die sie vor der Entfremdung behüte und die doch auf deren Fraglosigkeit beruht. Unter den Argumenten, welche die Rancune gegen unbequeme Intellektuelle ausbrütet, ist das blödsinnigste doch jenes, das ihnen einen Widerspruch zwischen Gesinnung und aristokratischem
Umgang vorrechnet. Es hat schon an Proust, Hofmannsthal, an dessen Gegner Kraus sich ausgetobt, und jeder Provinzkritiker kam während des Expressionismus sich geistreich vor, wenn er Sternheim, der den ›Snob‹ schrieb, darauf stoßen konnte, er sei selber einer. Was zu den Aristokraten zieht und manche von ihnen zu den Intellektuellen, ist fast tautologisch einfach: daß sie keine Bürger sind. Die Führung ihres Lebens steht nicht durchaus unterm Bann des Tauschprinzips, und den Differenzierten unter ihnen erhält sich eine Freiheit vom Zwang der Zwecke und des praktischen Vorteils, wie kaum anderen; ihre praktischen Versuche sind selten erfolgreich. An der Attraktion aber, die von der Sphäre ausstrahlt, hat wahrscheinlich teil, daß sie keine politische, selten mehr wirtschaftliche Macht ausüben; die Attraktion ist denn auch ganz unabhängig von Reichtum oder Armut. Was einmal Macht war, wird entsühnt im Bild des Namens und einem Verhalten, das von der Macht die désinvolture bewahrt ohne das Schroffe des Befehls, vollends ohne die abscheuliche Klugheit, die fragt, was man von Menschen an Vorteil und Gewinn zu erwarten habe, Reflex einer Norm, der der Erwerb für unehrlich oder beschämend gilt. Man kann im Umgang mit solchen, die einmal sich erschlossen haben, eine Qualität des Umhegenden, beinahe Mütterlichen entdecken wie nirgends sonst, mit keinem ist der Umgang leichter, freier von psychologischem Gift; das tröstet in Depressionsphasen wie die Erinnerung an ein einst Vertrautes und längst Verlorenes. Der innerste Grund dafür jedoch ist ein Moment des Schutz- und Hilflosen, des nicht mehr ganz sich Zurechtfindens. Es schafft unausgesprochene Solidarität. Einer von ihnen sagte ich, man müsse für sie einen Naturschutzpark erfinden oder wenigstens eine Glasglocke über sie halten; sie hat es mit lächelndem Einverständnis entgegengenommen. Ausflug in die Vorderbrühl. Ein entzückendes Liechtensteinsches Schlößchen. Man beschreibt einen Bogen, so weit, daß ich ihn gar nicht bemerkte, und ist, wenn man denkt, man sei ganz entfernt, unversehens wieder am Ausgangsort. Dort ein großer Landgasthof, gut durchheizt an dem kühlen Frühlingstag. Das Innere knarrt hölzern und etwas verfallen, nach dem landesüblichen Ausdruck wie eine Pawlatschen. Aber das Essen war köstlich. Unter den Reizen Österreichs, die mich unwiderstehlich immer wieder dorthin treiben,
ist nicht der kleinste, daß man auf dem Land, und schon in der näheren Umgebung der Hauptstadt, sich fühlt wie im Süddeutschland meiner Kindheit. Essen und Trinken sind für den Alternden nicht mehr so sehr gegenwärtiger Genuß wie die Jagd nach der Erinnerungsspur, die schimärische Hoffnung, vergangenes Leben lasse sich wiederherstellen. In den Donau-Auen, an einem Werktag. Rätselhaft die große Einsamkeit am Strom, nur wenige Kilometer von Wien. Von Landschaft und Flora, hier schon östlich, hält ein pußtahafter Bann die Menschen fern, als wollte der ins Unendliche offene Raum nicht gestört werden. Das Wort eines österreichischen Staatsmanns aus dem neunzehnten Jahrhundert lautet: östlich vom Rennweg fängt Asien an. Auch die Industrie scheint zu zögern. Die Unberührtheit der Gegend wäre archaisch, hätten nicht die Römer Spuren hinterlassen, und hätten nicht die letzten deutschen Dörfer bis an die slowakische und ungarische Grenze sich vorgewagt. Schöne Schlösser wie Niederweiden und Schloßhof, beide in Renovation begriffen, trotzen der geschichtlichen Verlassenheit des Orts. Der Garten des einen ist gegen die Straßenseite abgesperrt, verstreut liegen darin Bruchstücke von Statuen und steinernem Zierat, achtzehntes Jahrhundert als Antike. Von vielen Punkten sieht man die Feste Preßburg, an der die große Straße scharf vorbeibiegt gleich der vor Kafkas Schloß. Einer der Orte ist Aspern; blickt er vom Braunsberg über die Auen, fühlt sich der militärisch durchaus Unbegabte wie ein Feldherr, so durchaus scheint das weitgestreckte Terrain den Schlachten zubestimmt, die da immer wieder geschlagen wurden. Zum Dorfnamen Petronell assoziiert man den Petronius, aber auch ein Gewürz, das es gar nicht gibt. Dort, wo die Fischa in die Donau mündet, liegt Fischamend, mit einem berühmten Fischgasthaus, in dem man sich zu Hause fühlt wie nur am Ende der Welt.
Die Kunst und die Künste In der jüngsten Entwicklung fließen die Grenzen zwischen den Kunstgattungen in einander oder, genauer: ihre Demarkationslinien verfransen sich. Musikalische Techniken wurden offensichtlich von malerischen wie der sogenannten informellen, aber auch der Konstruktion des Mondrianschen Typus angeregt. Zur Graphik neigt viele Musik in ihrer Notation. Diese wird dabei nicht nur autonomen graphischen Gestalten ähnlich, sondern ihr graphisches Wesen nimmt gegenüber dem Komponierten einige Selbständigkeit an; am merklichsten vielleicht in den Werken des Italieners Sylvano Bussotti, der Graphiker war, ehe er zur Musik überging. Spezifisch musikalische Techniken wie die serielle haben als Konstruktionsprinzipien die moderne Prosa beeinflußt, so die von Hans G. Helms, Kompensation für das Zurücktreten des erzählten Inhalts. Malerei dafür möchte nicht länger auf der Fläche sich bescheiden. Während sie der Illusion von Raumperspektive sich entschlagen hat, treibt es sie selber in den Raum; genannt sei Nesch, oder die wuchernden Gebilde von Bernhard Schultze. In den Calderschen Mobiles hört Plastik, nicht länger wie in ihrer impressionistischen Phase Bewegung imitierend, auf, in all ihren Teilen ruhig zu verharren und möchte, nach dem Zufallsprinzip der Äolsharfe, wenigstens partikular sich selber verzeitlichen. Durch Vertauschbarkeit oder wechselnde Anordnung wiederum verlieren musikalische Abschnitte etwas von der Verbindlichkeit ihrer Zeitfolge: sie verzichten auf Ähnlichkeit mit Kausalverhältnissen. Auch die Grenze der Plastik zur Architektur respektieren die Bildhauer nicht mehr, wie es vom Unterschied des Zweckhaften und Zweckfreien her selbstverständlich dünkt; jüngst hat Fritz Wotruba mich darauf aufmerksam gemacht, daß manche seiner Skulpturen in einem Prozeß, der mit Rudimenten der menschlichen Gestalt anhebt, vermöge fortschreitender Entgegenständlichung zu quasi architektonischen Gebilden – er bezog sich ausdrücklich auf Scharoun – werden. Solche Phänomene notiert einer, der gewohnt ist, ästhetische Erfahrungen auf das ihm vertrauteste Bereich, die Musik, zu beziehen, mit der Willkür des gerade Beobachteten; es zu klassifizieren ist nicht an mir. Es zeigt sich aber so vielfach und so
hartnäckig, daß man sich blind machen müßte, um nicht Symptome einer kräftigen Tendenz zu vermuten. Sie ist zu begreifen, womöglich der Verfransungsprozeß zu interpretieren. Er hat dort am meisten Gewalt, wo er tatsächlich immanent, aus der Gattung selbst entspringt. Nicht braucht geleugnet zu werden, daß manche nach der einen oder anderen Seite hinschielen. Wenn Kompositionen sich ihre Titel von Klee erborgen, wird man argwöhnen, sie seien dekorativen Wesens, Gegenteil jener Modernität, an die sie durch solche Bezeichnung sich ankleben. Derlei Neigungen sind freilich nicht so anrüchig, wie es der eingeschliffenen Entrüstung über angeblichen Snobismus beliebt. Von Mitläufern reden am liebsten die, welche stehen blieben. In Wahrheit meinen sie die Voranläufer. Immunität gegen den Zeitgeist ist als solche kein Verdienst. Selten bekundet sie Widerstand, meist Provinzialismus; sogar in der schwächlichen Gestalt der Imitation ist der Drang, modern zu sein, auch ein Stück Produktivkraft. Aber in der Verfransungstendenz handelt es sich um mehr als um Anbiederung oder jene verdächtige Synthese, deren Spuren im Namen des Gesamtkunstwerks schrecken; happenings möchten wohl Gesamtkunstwerke einzig als totale Antikunstwerke sein. So ist das Nebeneinandertupfen musikalischer Klangvaleurs, auffallend an malerische Verfahren mahnend, aus dem Prinzip der Klangfarbenmelodie abzuleiten, der Einbeziehung der Timbres als eines konstitutiven Elements, nicht aus Imitation malerischer Wirkungen. Webern schrieb Stücke aus Notenpunkten schon vor bald sechzig Jahren, in Kritik jenes unnützen Ausspinnens, das so leicht nur vortäuscht, in musikalischer Extension ereigne sich etwas. Und die graphischen Notationen, an deren Erfindung Verspieltheit ihren keineswegs illegitimen Anteil hat, entsprechen dem Bedürfnis, musikalische Ereignisse flexibler, dadurch genauer festzuhalten als mit den üblichen, auf die Tonalität geeichten Zeichen; umgekehrt wollen sie manchmal auch improvisatorischer Wiedergabe einigen Raum verschaffen. Überall hier wird also rein musikalischen Desideraten gehorcht. Kaum dürfte es allzu schwer fallen, an den meisten Verfransungsphänomenen ähnliche immanente Motivationen zu erkennen. Täusche ich mich nicht, so suchen die, welche die Malerei verräumlichen, nach einem Äquivalent für das formorganisierende Prinzip, das mit der malerischen Raumperspektive verloren ging. Musikalische Neuerungen, die das
im traditionellen Vorrat selektiv als Musik Vorgesehene mißachteten, wurden analog verursacht vom Verlust der harmonischen Tiefendimension und der ihr zugehörigen Formtypen. Was die Grenzpfähle der Gattungen einreißt, wird bewegt von geschichtlichen Kräften, die innerhalb der Grenzen aufwachten und schließlich sie überfluten. Im Antagonismus zwischen der fortgeschrittenen zeitgenössischen Kunst und dem sogenannten breiten Publikum spielt jener Prozeß wahrscheinlich seine beträchtliche Rolle. Wo Grenzen verletzt werden, regt leicht sich die abwehrende Angst vorm Vermischen. Der Komplex äußerte sich pathogen im nationalsozialistischen Kult der reinen Rasse und der Beschimpfung der Hybriden. Was an die Disziplin einmal etablierter Zonen nicht sich hält, gilt für zuchtlos und dekadent, obwohl jene Zonen selbst nicht natürlichen sondern geschichtlichen Ursprungs sind, manche von ihnen so spät wie die endgültige Emanzipation der Plastik von der Architektur, die im Barock nochmals sich zusammengefunden hatten. Die Normalform des Widerstands gegen Entwicklungen, die mit der Gattung unvereinbar sein sollen, in der sie stattfanden, ist dem Musiker vertraut als die Frage: Ist das noch Musik? Sie war längst ein Sprechchor, während die Musik noch nach unbezweifelt immanenten, ob auch modifizierten Gesetzmäßigkeiten verlief. Heute wird von der Avantgarde die Spießerfrage Ist das noch? beim Wort genommen. Beantwortet wird sie zuweilen mit einer Musik, die tatsächlich keine mehr sein will. Ein Streichquartett des italienischen Komponisten Franco Donatoni etwa ist allein aus Geräuschen montiert, welche die vier Saiteninstrumente hervorbringen. Die sehr bedeutenden, hoch gestalteten ›Atmosphères‹ von György Ligeti kennen keine einzelnen, im herkömmlichen Sinne unterscheidbaren Töne mehr. Die ›Jonization‹ von Edgar Varèse, vor Dezennien entstanden, war eine Vorform von derlei Bestrebungen; Vorform deshalb, weil trotz fast vollständigen Verzichts auf bestimmte Tonhöhen doch durch die rhythmische Verfahrungsart ein verhältnismäßig traditioneller musikalischer Eindruck resultierte. Die Kunstgattungen scheinen einer Art Promiskuität sich zu erfreuen, die gegen zivilisatorische Tabus sich vergeht. Während indessen die Verwischung der säuberlich geordneten Klassen der Kunst zivilisatorische Ängste bereitet, fügt gleichwohl
der Trend, den Ängstlichen unkenntlich, der rationalen und zivilisatorischen Tendenz sich ein, an der Kunst von je teilhatte. 1938 publizierte ein außerordentlicher Professor an der Universität Graz, des Namens Othmar Sterzinger, ein Buch ›Grundlinien der Kunstpsychologie‹ und widmete es »den Freunden der Künste«. Das rührend Philiströse des Plurals wirft Licht auf die Sache, eine Vielheit für den kontemplativen Betrachter ausgestellter Güter, von der Küche bis zum Salon, die denn auch tatsächlich in dem Buch durchgemustert und abgeschmeckt werden. Angesichts der Beerdigungsphrase, ein wohlhabender Verblichener sei ein Freund der Künste gewesen und habe diese gefördert, wird die Ungeduld der Kunst an solcher Mannigfaltigkeit verständlich. Sie gesellt sich regelmäßig der nicht minder abscheulichen Vorstellung vom Kunstgenuß, der im Bereich von Sterzinger seine armseligen Orgien feiert, die der sturen Wiederholung. Kunst möchte mit ihren feinsinnigen Freunden nicht mehr zu schaffen haben, als aus materieller Rücksicht unvermeidlich ist; my music is not lovely, brummte Schönberg in Hollywood, als ein Filmmogul, der sie nicht kannte, ihm ein Kompliment machen wollte. Von ihrem kulinarischen Moment sagt Kunst sich los; es wurde dem geistigen unvereinbar, als es seine Unschuld verlor, die seiner Einheit mit dem Komponierten, zu dessen Funktion der Wohllaut im Fortschritt von Materialbeherrschung geworden war. Seitdem indessen das Kulinarische, der sinnliche Reiz, als Selbstzweck sich abspaltete, seinerseits rational geplant wird, revoltiert Kunst gegen jegliche Abhängigkeit von vorgegebenen, der autonomen Gestaltung sich sperrenden Materialien, die in der Klassifikation der Kunst nach Künsten sich widerspiegelt. Denn die zerstreuten Materialien entsprechen den diffusen sinnlichen Reizmomenten. Die große Philosophie, Hegel und Schopenhauer je auf ihre Weise, haben an der heterogenen Vielheit laboriert und gesucht, das Nebeneinander theoretisch zu synthesieren; Schopenhauer in einem hierarchischen, von der Musik gekrönten System; Hegel in einem historisch-dialektischen, das in der Dichtung sich vollenden sollte. Beides war unzulänglich. Offensichtlich gehorcht der Rang von Kunstwerken nicht der Wertskala von Systemen ihrer verschiedenen Gattungen. Weder hängt er von der Stellung der Gattung in der Hierarchie ab, noch – wie übrigens der Klassizist Hegel zu behaupten wohl sich hütete – von ihrer Stellung im
Entwicklungsprozeß derart, daß das Spätere eo ipso das Bessere wäre. Die generelle Annahme wäre so falsch wie ihr Gegenteil. Die philosophische Synthesis in der Idee von Kunst, welche über das unmündige Nebeneinander ihrer Gattungen hinaus wollte, richtet sich durch ihr entfließende Urteile wie das Hegelsche über die Musik oder jenes, mit dem Schopenhauer der Historienmalerei eine Nische reserviert. Dafür nähert sich solcher Synthesis das Bewegungsgesetz der Kunst selbst. Kandinskys Buch über das ›Geistige in der Kunst‹, dessen Titel tant bien que mal Formel des latenten Programms der Expressionisten war, hat das erstmals verbucht. Kein Zufall, daß darin anstelle einer Symbiose der Künste oder ihrer Agglomeration zu vorgeblich verstärkter Wirkung technische Reziprozität tritt. Der Triumph von Vergeistigung in der Kunst, den Hegel in der Konstruktion des von ihm so genannten romantischen Kunstwerks antezipierte, war jedoch ein Pyrrhussieg gleich allem Triumphalen. Das groß gedachte Kandinskysche Manifest schreckt nicht zurück vor apokryphen Belegen, bis hinab zu Rudolf Steiner und der Hochstaplerin Blawatzky. Um seine Idee vom Geistigen in der Kunst zu rechtfertigen, ist ihm alles willkommen, was damals irgend auf Geist wider den Positivismus sich berief, sogar die Geister. Das ist nicht allein der theoretischen Desorientiertheit des Künstlers zuzuschreiben. Nicht wenige, die in ihrem Metier arbeiteten, spürten und spüren die Notwendigkeit theoretischer Apologetik. Der Verlust der Selbstverständlichkeit ihrer Gegenstände und Verfahrungsarten veranlaßt sie zu Reflexionen, deren sie nicht stets mächtig sind. Wahllos, halbgebildet nehmen sie es dann, woher sie es bekommen. Aber es geht nicht um subjektive Unzulänglichkeiten des Gedankens. So treu die Schrift Kandinskys die Erfahrung ihres Augenblicks festhält, der Gehalt dieser Erfahrung selbst hat neben seiner Wahrheit sein Fragwürdiges. Das nötigte dazu, mit Fragwürdigem ihn zu untermauern. Geist, der in der Kunst an der sinnlichen Erscheinung nicht mehr sein Genügen findet, verselbständigt sich. Den Zwang darin kann heute wie vor fünfzig Jahren jeder an dem »Das geht nicht mehr« nachvollziehen, sobald er auf sinnlich wohlgefällige Kunstwerke, und wären es authentische, trifft. Solche legitime und unausweichliche Verselbständigung aber setzt unvermeidlich fast den Geist als ein Getrenntes, Hegel hätte gesagt: abstrakt, den Materialien und
Prozeduren der Werke entgegen. Er wird ihnen wie einst in Allegorien eingelegt. Darüber, welches Sinnliche dann ein Geistiges bedeute – über den Symbolwert der Farben etwa –, und was es bedeute, entscheidet, paradox genug, Konvention, eben die Kategorie, gegen welche die gesamte Bewegung der neuen Kunst am heftigsten revoltierte. Das bestätigt sich durch Querverbindungen zwischen der radikalen Kunst in ihrer Frühzeit und dem Kunstgewerbe. Vorgeblich an sich bedeutsame Farben, Klänge, und was immer es sei, spielen da ihre trübe Rolle. Die Kunstwerke, die den sinnlichen Reiz mit Grund entwerten, bedürfen doch sinnlicher Träger, um sich, nach Cézannes Wort, zu realisieren. Je konsequenter und rücksichtsloser sie auf ihrer Vergeistigung bestehen, desto weiter entfernen sie sich von dem, was zu vergeistigen wäre. Ihr Geist schwebt gleichsam darüber, zwischen ihm und seinen Trägern klaffen Hohlräume. Der Primat des Zusammenhangs, den das Konstruktionsprinzip im Material bewerkstelligt, schlägt mit dessen Beherrschung durch den Geist in den Verlust von Geist um, den des immanenten Sinns. An dieser Aporie laboriert seitdem alle Kunst, die ernsteste am schmerzlichsten. Vergeistigung, rationale Verfügung über die Verfahrungsweisen, scheint den Geist als Gehalt der Sache selbst auszutreiben. Was das Material vergeistigen wollte, terminiert im nackten Material als einem bloß Seienden, so wie in den späteren Entwicklungen manche Schulen, musikalisch etwa die von John Cage, ausdrücklich es forderten. Der Geist, den Kandinsky und sicherlich recht ähnlich der Schönberg der expressionistischen Phase als unverschandelt, unmetaphorisch wahren verfochten hatten – auch bei Schönberg ging es nicht ohne Theosophie ab, die den Geist gleichsam ins Dasein zitiert –, wird unverbindlich und eben deshalb um seiner selbst willen verherrlicht: »Du mußt an den Geist glauben!« Dafür streben die einzelnen Kunstgattungen ihrer konkreten Verallgemeinerung zu, einer Idee von Kunst schlechtweg. Das sei abermals an der Musik erläutert. Schönberg hat durch sein integrales, alle kompositorischen Dimensionen in sich einbegreifendes Verfahren deren Vereinheitlichung aufs stärkste gefördert. Theoretisch hat er diese in der Konzeption einer Lehre vom musikalischen Zusammenhang ausgedrückt. Ihm seien alle partikularen Momente der musikalischen Arbeit zu unterstellen;
Kompositionslehre wurde ihm zu jener Lehre. Unter den Primat des Zusammenhangs läßt die Entwicklung der Musik während der letzten zwanzig Jahre einleuchtend sich subsumieren. Indem sie, mit Wissen oder nicht, Schönbergs Programm folgte, tastete sie an, was bis dahin, auch noch bei ihm, für musikalisch galt. Er vereinheitlichte virtuell alle in der objektiven, noch nicht reflektierten Geschichte der Musik entstandenen Mittel, Zusammenhänge zu bilden, zugunsten des in sich durchorganisierten Werkes. Konfrontiert mit der Norm künstlerischer Zweckmäßigkeit, enthüllten sich aber jene Mittel rasch genug als ihrerseits zufällig, beschränkt – als Spezialfälle von musikalischem Zusammenhang überhaupt, so wie noch innerhalb seines oeuvres die Tonalität sich als Spezialfall melodisch-harmonischer Zusammenhangsformen erwiesen hatte, auf den er zuzeiten rekurrieren konnte. Von unabsehbarer Tragweite war nun, nach Schönberg, der Schritt, den von ihm erreichten Begriff des musikalischen Zusammenhangs von seinen überlieferten Voraussetzungen zu lösen und damit von allem unter dem Begriff des Musikalischen Sedimentierten. Die Musik, allergisch geworden sogar gegen zusammenhangbildende Mittel wie freie Atonalität und Zwölftontechnik, denen sie mit geschärften Ohren die Spuren der darin negierten Tonalität anhörte, trat dem Begriff des Zusammenhangs frei, unabhängig von seinen bislang im Gehör verkörperten und begrenzten Gestalten gegenüber. Die gesamte Arbeit von Stockhausen kann als Versuch aufgefaßt werden, Möglichkeiten musikalischen Zusammenhangs in einem vieldimensionalen Kontinuum zu erproben. Solche Souveränität, die in einer unabsehbaren Mannigfaltigkeit von Dimensionen es gestattet, Zusammenhang zu stiften, schafft von innen her die Verbindung der Musik mit Visuellem, mit Architektur, Plastik und Malerei. Je mehr die zusammenhangbildenden Mittel der einzelnen Kunstgattungen über den angestammten Vorrat hinaus sich ausbreiten, gleichsam sich formalisieren, desto mehr werden die Gattungen einem Identischen unterworfen. Die Forderung freilich, die Kunstgattungen zur Kunst zu vereinheitlichen, deren Vorform die integralen Verfahren innerhalb der einzelnen Gattungen sind, ist älter als die Moderne. Robert Schumann prägte die Sentenz: die Ästhetik der einen Kunst ist auch die der anderen. Das war romantisch gemeint, mit der Spitze, Musik
solle ihre als floskelhaft anstößig gewordenen architektonischen Momente beseelen, poetisch werden, so wie Beethoven der auf ihn folgenden Generation als Tondichter galt. Im Gegensatz zur modernen Verfransung fiel der Akzent auf Subjektivität. Die Kunstwerke wurden Abdruck einer – keineswegs mit dem einzelnen Komponierenden zusammenfallenden – Seele: Sprache des frei sich äußernden Ichs; das rückte die Künste zusammen. Wohl ließe sich dartun, wie ähnlich Beseeltheit die verschiedenen Gattungen durchatmet. Aber ihre Grenzen wurden davon kaum beeinträchtigt. Sie blieben, was sie waren, und diese Unstimmigkeit ist nicht das unbeträchtlichste kritische Motiv für die jüngste Entwicklung. Das Problematische des Vorrangs des Ästhetischen als des Beseelten vor seinen Medien läßt am ehesten sich ablesen an der charakteristischen Kategorie der Stimmung. Von einem bestimmten Punkt an, der Abwehr von Neuromantik und Impressionismus, wendete die Moderne sich dagegen. Was aber an Stimmung als weichlich und zerfließend irritierte, war nicht so sehr jener Narzißmus, den die reaktionären Freunde künstlerischer Kraftkost dem Differenzierten vorwerfen, das sie nicht mitzuvollziehen vermögen, sondern eher ein Moment in der Objektivität der Sache: Mangel an Widerstand inmitten ihrer inneren Zusammensetzung. Wo sie konturlos-selbstherrlich Stimmung sucht, fehlt ihr das Moment der Andersheit. Kunst bedarf eines ihr Heterogenen, um es zu werden. Sonst hätte der Prozeß, der dem Gehalt nach jedes Kunstwerk in sich selbst ist, keinen Angriffspunkt, lief in sich leer. Der Gegensatz des Kunstwerks zur Objektsphäre wird produktiv, das Werk authentisch allein dort, wo es diesen Gegensatz immanent austrägt, sich objektiviert an dem, was es in sich verzehrt. Kein Kunstwerk, auch das subjektivste nicht, geht auf in dem Subjekt, das es und seinen Gehalt konstituiert. Ein jedes hat Materialien, die dem Subjekt heterogen gegenüberstehen, Verfahrungsweisen, die ebenso von den Materialien sich herleiten wie von Subjektivität; sein Wahrheitsgehalt erschöpft sich nicht in dieser, sondern verdankt sich einer Objektivierung, die zwar des Subjekts als ihres Exekutors bedarf, aber, kraft der immanenten Beziehung auf jenes Andere, über das Subjekt hinausweist. Das bringt ein Moment des Irreduziblen, qualitativ Vielfältigen ins Spiel. Es opponiert jeglichem Prinzip von Einheit, auch dem der Kunstgattungen, kraft dessen, was sie ausdrücken. Mißachten das die Kunstwerke, so
verkommen sie leicht zu jenem ästhetischen Überhaupt, das man an den Produkten von Menschen beobachten kann, die, wie man so sagt, künstlerisch begabt sind, aber nicht recht für etwas. Gerade Künstler sehr hohen Ranges, deren Begabung nicht unmißverständlich an ein Material gebunden war, wie Richard Wagner, Alban Berg, vielleicht auch Paul Klee, haben mit allem Grund ihre Energie daran gewandt, das allgemein Ästhetische untergehen zu lassen im spezifischen Material. Dennoch bleibt jenes, als ein Äther, als Reaktionsform, die bei der allzu realistischen Härte der materialen Disziplin nicht sich bescheidet, zugleich erhalten. Gravitiert Kunst, solange sie an einem allgemein Ästhetischen sich befriedigt, zum Dilettantischen, so trocknet die, welcher die letzte Spur jenes Äthers – ganz einfach, daß einer ein Künstler ist – ausgetrieben ward, zum handwerklich Banausischen ein. Nicht umsonst haben die Anhänger der sogenannten Volks- und Jugendmusikbewegung an dem Schumannschen Satz heftig sich geärgert. Eilt die Einheitsästhetik allzu rasch über das dem Kunstwerk Heterogene in ihm hinweg – in der Musik Schumanns wächst dieser unheilvolle Prozeß ihr als ästhetische Qualität, als Ausdruck von Unheil zu –, dann ist die konträre Forderung einer Materialgerechtigkeit, die sich die Ärmel hochkrempelt, Selbstgerechtigkeit. Sie fingiert einen Wahrheitsgehalt der heterogenen Momente des Kunstwerks, zumal seiner nicht durch die Subjektivität filtrierten Praktiken, den sie an sich nicht haben. Der Konflikt zwischen der Kunst und den Künsten ist durch keinen Machtspruch fürs eine oder andere zu entscheiden. Sogar in der spätromantischen Phase entzogen die Künste sich der bündigen Vereinheitlichung, die damals im Namen des Stilwillens – nichts anderes war der Jugendstil – gelehrt wurde. Man weiß, daß das Verhältnis großer neuromantischer Dichter wie George und Hofmannsthal zur bildenden Kunst nicht glücklich war. Sie haben Symbolmaler wie Burne-Jones, Puvis de Chavannes, Böcklin für ihre Wahlverwandten gehalten, und George hat für die Impressionisten die Wilhelminische Phrase vom kecken Farbenkleckser nicht verschmäht. Sie verkannten, daß ihr Dichterisches in Techniken des Impressionismus besser aufgehoben war als in Stoffen wie der nachmals berüchtigten Einweihung am mystischen Quell. Schuld daran hatte nicht literarische Versponnenheit oder provinzielle Unkenntnis dessen, was in Paris
sich zutrug. Von George gibt es nicht wenige Gedichte, deren imagerie der fatalen Symbolmalerei unleugbar nahesteht. Dadurch jedoch, daß die besten ihre spezifische Anschaulichkeit in der Sprache, nicht in der optischen Vorstellung finden, werden sie zu einem gänzlich Verschiedenen. Übersetzte man die Herbstlandschaften des Zyklus ›Nach der Lese‹ in Malerei, so wären sie Kitsch. In ihrer Sprachgestalt, wo die Worte für Farben durchaus andere Valeurs haben als die leibhaftigen Farben auf einem Bild, trotzen einige von ihnen dem Veralten. Solche Valeurs sind das an der Dichtung, was sie der Musik verbindet. Worin Kunstgattungen, bei sehr ähnlichen Stoffen – und Assoziationsschichten –, wesentlich, dem Gehalt nach differieren, ist am deutlichsten an der Musik zu bemerken. Altdeutsch balladeske, ritterlich gepanzerte oder minnig versponnene Aspekte des Brahmsischen Ausdrucks können nur solche bestreiten, deren musikalische Fähigkeit jenes Zusatzes von Außermusikalischem enträt, ohne den kein Musikalisches ist. Dadurch indessen, daß jene Ausdrucksmomente Brahmsens weder im Bild dingfest gemacht noch plump ausgesprochen werden, sondern aufblitzen, um sogleich wieder zu verschwinden, entrinnen sie der Scheffelsphäre. Keine Kritik könnte die Werke auf solche flüchtigen Ausdrucksfermente vereidigen, nie stechen sie ungefüg, stofflich grob aus dem Komponierten heraus. Vielmehr lösen sie sich in dessen reiner Entfaltung, einer in sich großartig durchgeformten musikalischen Sprache. Sie entzündet sich an jenen heterogenen Momenten, reduziert sich aber keinen Augenblick auf sie und ihr Niveau. Müssen große Kunstwerke, um es zu werden, Glück haben, dann war es das Brahmsens, daß seine Balladen Musik wurden, nicht Gedichte. Das Gleiche, das die Künste als ihr Was meinen, wird dadurch, wie sie es meinen, zu einem Anderen. Ihr Gehalt ist das Verhältnis des Was und des Wie. Kunst werden sie kraft ihres Gehalts. Er bedarf ihres Wie, ihrer besonderen Sprache; einem Umfassenderen jenseits der Gattung zerginge er. Versuche, die Frage nach dem Vorrang der Kunst oder der Künste bündig, für jene oder für diese, zu beantworten, stammen meist von Kulturkonservativen. Denn deren Interesse ist es, Kunst auf Invarianten zu bringen, die, offen oder latent nach Vergangenem gemodelt, zur Diffamierung von Gegenwärtigem und Zukünftigem
taugen. Allenthalben neigt konservatives, vollends reaktionäres Denken zu Alternativen von Schafen und Böcken und zuckt zurück vorm Gedanken objektiver Widersprüchlichkeit in den Phänomenen. Dialektik verketzern sie als sophistische Hexerei, ohne der Möglichkeit ihres fundamentum in re gern Raum zu gewähren. Der entschlossenste deutsche Fürsprech einer qualitativen Differenz zwischen den Künsten, die kaum einen Begriff von Kunst mehr zuläßt, der zu extremem Archaismus neigende Rudolf Borchardt, hat allerdings in einer Abhandlung über Benedetto Croce Hegel Tribut gezollt, dabei jedoch gründliches Unverständnis gezeigt. Im irrigen Glauben, erst in Croce habe Hegel über den Schulstreit hinaus Epoche gemacht, bemerkte er nicht, daß jener das wahrhaft dialektische Moment aus Hegels Philosophie als tot entfernte und sie auf den Begriff der Entwicklung, wie er um 1900 gang und gäbe war, und aufs friedliche Nebeneinander des Verschiedenen nivellierte. Borchardts eigene Intention, niedergelegt in dem Essay ›Über den Dichter und das Dichterische‹, ist von keiner Dialektik angekränkelt. Er möchte, unter Berufung auf Herder, das Dichterische als den Künsten gegenüber transzendente Ursprache, als »seherisches Vermögen« aller Kunst entrücken. Kategorien wie Unanrührbarkeit, Götterschutz, Ausgenommensein, Heiligung seien der Dichtung eigen und nur ihr. In geschichtlichem Bogen skizziert Borchardt seinen Entwurf des immer mehr sich schärfenden Konflikts zwischen dem Dichterischen und der profanen Welt. Die Parole ist irrationalistisch: »Vergessen Sie Ihre Ästhese, vergessen Sie Ihre Intelligenz: das Dichterische ist ihr nicht zugänglich. Das Künstlerische mag ihr zugänglich sein. Die Literatur mag es sein. Aber wo das Dichterische heute unter Ihnen auftritt, ist es wie zu Solons und Amos' Tagen eine Integrale, in der sich das Gesetz, die Religion, die Musik, in der sich schließlich fast der Zauberspruch ebenso findet wie das lebendige Leben, ein Alles-in-Allem, eine Enzyklopädie der Welt, die von der wissenschaftlichen Enzyklopädie der Welt grundverschieden ist.« 1 Nicht zu unterdrücken der Einwurf, wie eine solche enzyklopädische Totalität mit dem Borchardtschen Arcanum sich vertrage. Sie werde, fährt er fort, »mit jedem dichterischen Ingenium neu geboren und hat aus ihm heraus den Wunsch, wieder Gestalt zu gewinnen und sich auf Sie zu übertragen, wie in den Zeiten der Vergangenheit; in der Zeitform von Vergangenheit und von
Zukunft, ohne Präsens. Sie ist Zukunftsvoraussagung wie früher, in ihr ist wie der ewige Schöpfungstag auch die Zukunft, nicht, wie von den Literaten vorgegeben wird, als politische Revolution, sondern als Heimkehr zu Gott für Gotteskinder, wie in den alten Tagen des Dichters, der den Kranz und den Stab trug.« 2 Auf weniger nicht als auf die unmetaphorische Apotheose der Dichtung hat Borchardt es abgesehen, darauf, »gewähren zu lassen, mit Scham und Ehrfurcht, was zwischen Ihnen und unter Ihnen von so Wunderlichem noch wohnen und hausen mag: das Göttliche in seinen eigenen Formen. Warten Sie die Offenbarung ab und helfen Sie ihr nicht nach.« 3 Eben das geschehe, Borchardt zufolge, in den anderen, zumal den bildenden Künsten. Er sucht sich, mit forcierter Naivetät, »noch einmal in die Lage des Urmenschen zurückzuversetzen, dem auf der einen Seite der Dichter gegenübersteht, wie ich ihn zu schildern versucht habe, während auf der anderen Seite der Künstler steht, der Bildhauer oder der Maler. Dem können Sie auf sein Gewerbe sehen, Sie stehen neben ihm und sehen zu, wie er schafft, wie er gießt und Guß nachfeilt, wie er zeichnet, und Sie stellen fest, was dies sein soll, das er darstellt: er knetet etwa und Sie stellen fest, was er nachknetet oder als Modell vorknetet. Es bilden sich die Assoziationen zuerst des Identitätsschlusses und dann des ästhetischen Sehens, die Kategorien des Richtigen, Ähnlichen, Schönen. Doch, worauf es mir ankommt, ist dieses: daß der Maler und der Bildhauer für den naiven und ursprünglichen Menschen jemand ist, der ein Handwerk kann, ... und jemand, dessen Arbeit, wenn Sie daneben stehen und sie ansehen, für den naiven Zuschauer zwar den Gegenstand der staunenden Bewunderung, des glücklichen Beifalls, aber keine Rätsel bildet. Sie sehen ja, wie er es hervorbringt. Bei dem Dichter sehen Sie es aber nicht. Es hat es keiner gesehen. Es fehlt bei den sinnlichen Künsten für den Griechen und für den Menschen der Urzeit an all demjenigen, was ich Ihnen hier angeführt habe: am Geheimnis, am Problem. Und handelte es sich auch um Geschicklichkeiten eines sehr hohen Ranges, eines immer, immer höheren Ranges, – was Ihnen fehlte, war der Rausch, jenes Bewußtsein von etwas Transzendentem. Die Muse der bildenden Künstler heißt nicht Muse, sie heißt Techne. Was fehlt, ist die Dämonie, das Inkalkulable.« 4 Das Pathos ist ein wenig abgestanden, das gegen die entzauberte und verdinglichte Welt. Die
Rhetorik hält der Insistenz vor den Phänomenen nicht stand. Daß die historisch aus dem Handwerk entsprungenen Kunstgattungen der obersten Gewalt, der Fähigkeit, das Äußerste auszudrücken, entbehrten, kann nur behaupten, wer, was als Handwerk entsprang, ein für allemal auf Handwerk vereidigen möchte, und wer blind ist gegens Unsichtbare am Sichtbaren. Das sichtbare Machen koinzidiert nicht mit dem ästhetischen Wahrheitsgehalt, während auch dem Dichter sich über die Schulter sehen läßt, wenn er schreibt. Der Rätselcharakter, den Borchardt allein der Dichtung vorbehält, ist der aller Kunst, die es sagt, und doch nicht sagt, was sie sagt. Wahrscheinlich war bereits im Ursprung der bildenden Kunst, im mimetischen Vermögen, eben jenes der zurüstenden Rationalität entgegengesetzte Moment gegenwärtig, das aus archaischer Plastik spricht; ganz gewiß hat die bildende Kunst es später, gerade mit fortschreitender techne, sich erworben. Die Borchardtsche Antithese zwischen ihr als techne und der Dichtung ist untriftig, weil auch das Medium der bildenden Kunst ist, wovon Borchardt sie distanzieren möchte, Sprache; zu schweigen davon, daß die Musik in sein dichotomisches Schema schlechterdings nicht paßt. – Andererseits sind die in seinem engeren Sinn kunsthaften, technischen Züge ebenso solche der Dichtung und haben entscheidenden Anteil an ihrem Gelingen. Unvorstellbar, daß ein Sprachvirtuose wie Borchardt, dessen Plädoyer für die Dichtung eines pro domo gewesen sein muß, das soll übersehen und wie ein Operettenkomponist, der kühn für Mozart sich begeistert, alles auf die Eingebung soll geschoben haben. Er übertrug Pindar, Dante und mit Meisterschaft Swinburne ins Deutsche. Möchte er dem dorischen Chorlyriker die Kunstfertigkeit, die er mit antikisierender Koketterie banausisch nennt, absprechen? Ist ihm das von Realien und Allegorien pralle Werk des Florentiners nichts als rauschhaft? Überhört er die technische, von ihrem Material getrennte und dadurch erst es meisternde Komponente in Swinburnes musikhaften Versen? Der Koloß der Dichtung, den Borchardts Suggestionskraft hinzaubert, steht auf den sprichwörtlich tönernen Füßen. Er ist eine blague. Reichtum an Assoziationen und Antithesen betrügt sophistisch darüber, daß der Gegenstand, den Borchardt den ernstesten nennt, über den er etwas mitzuteilen habe, sobald er irgend ernst genommen wird, des Versuchs Hohn spricht, abschlußhaft, ontologisch gleichsam die Kunstgattungen
gegeneinander zu fixieren. Die der Borchardtschen Position in jenem Streit konträre, die Martin Heideggers, ist gewiß nicht weniger ontologisch, wenngleich eben darin reflektierter. Tatsächlich enthalten Heideggers Erläuterungen zu Hölderlin Passagen, die, an Hölderlins eigene Verse anknüpfend, dem Dichter als dem Stifter eine ähnliche Prärogative zuerkennen wie Borchardt; beide waren wohl darin von der Georgeschule angeregt. Aber Heidegger begehrt, gemäß dem bei ihm dominierenden Seinsbegriff, unvergleichlich viel stärker nach Einheit als der Künstler. Seine Theorie, daß Sein immer schon in der Welt sei, ins Seiende transzendiere, erlaubt ihm so wenig Geringschätzung der Technik wie sein alter metaphysischer parti pris fürs Handwerk, das Urbild der Zuhandenheit aus ›Sein und Zeit‹. Vermengt Borchardt Kunst und Religion; unterschlägt er das konstitutive Moment von Säkularisierung am Kunstwerk, so hat Heideggers Text über den Ursprung des Kunstwerks aus den ›Holzwegen‹ das Verdienst, das Dinghafte des Objekts nüchtern zu bezeichnen, an dem, wie Heidegger mit Grund ironisch sagt, auch das vielberufene ästhetische Erlebnis nicht vorbeikommt. Dinghaftigkeit und Einheit – die der ratio, die freilich im Heideggerschen Seinsbegriff verschwindet – gehören zusammen. Aber Heidegger tut darüber hinaus den Schritt zu dem für Borchardt unannehmbaren Satz, daß alle Kunst im Wesen Dichtung sei, und daß dann Baukunst, Bildkunst, Tonkunst auf die Poesie zurückgeführt werden müßten 5 . Ihm entgeht nicht die Willkür dieses Satzes, soweit er auf die tatsächlichen Künste, als ein nach seiner Sprache Ontisches sich bezieht. Aus der Verlegenheit hilft er sich durch Ontologisierung des Kunsthaften als des »lichtenden Entwerfens der Wahrheit«. Das sei Dichten im weiteren Sinn, Poesie nur eine Weise davon. Den Sprachcharakter aller Kunst hat Heidegger, im Gegensatz zum Sprachkünstler Borchardt, nachdrücklich hervorgehoben. Durch jene Ontologisierung jedoch wird das Unterscheidende der Künste, die Bezogenheit auf ihre Materialien, als untergeordnet eskamotiert. Übrig bleibt, nach deren Subtraktion, nur ein trotz Heideggers Protest höchst Unbestimmtes. Seine Unbestimmtheit teilt der Heideggerschen Kunstmetaphysik als Tautologie sich mit. Der Ursprung des Kunstwerks, heißt es emphatisch, ist die Kunst. Ursprung soll dabei, wie stets bei Heidegger, nicht zeitliche Genese sein, sondern die Herkunft des
Wesens der Kunstwerke. Seine Doktrin von solchem Ursprung fügt dem Entsprungenen nichts hinzu und kann es nicht, weil es sonst mit eben jenem Dasein sich befleckte, das der sublime Ursprungsbegriff unter sich lassen möchte. Das Einheitsmoment der Kunst, das Kunsthafte an ihr, rettet Heidegger um den Preis, daß Theorie vor dem, was es sei, ehrfürchtig verstummt. Wird es durch Borchardts Volte in der theologischen Sphäre als der eigentlich dichterischen unsichtbar, so verflüchtigt es sich bei Heidegger zur reinen inhaltslosen Wesenhaftigkeit. Gleichwie unter dem Druck der dagegen aufbegehrenden Vielheit schrumpft damit das ästhetische Einheitsmoment zu dem, was Heidegger einmal vom Sein sagt: es ist schließlich nichts anderes mehr als bloß es selbst. Auf ihre reine Einheit so wenig wie auf die reine Vielfalt der Künste läßt Kunst sich abdestillieren. Zu kündigen jedenfalls ist die naiv logische Ansicht, Kunst sei einfach der Oberbegriff der Künste, eine Gattung, welche jene als Arten unter sich enthält. Dies Schema wird zunichte an der Inhomogenität des darunter Befaßten. Der Oberbegriff sieht nicht bloß von Akzidentellem ab sondern von Wesentlichem. Die Erinnerung daran genüge, daß ein essentieller Unterschied, zumindest historisch retrospektiv, zwischen den Kunstarten besteht, die Bildcharakter haben oder hatten, und von dessen Erbschaft sie latent weiter zehren, also den nachahmenden oder darstellenden auf der einen Seite, und auf der anderen denen, die jenes Bildcharakters vorweg entraten und denen er erst allmählich, intermittierend und stets prekär, eingepflanzt wurde, wie der Musik. Weiter herrscht qualitative Differenz zwischen der Dichtung, die der Begriffe bedarf und noch in ihrer radikalsten Gestalt des begrifflichen Elements nicht ganz ledig wird, und den nichtbegrifflichen Kunstarten. Allerdings enthielt gerade die Musik, solange sie des vorgegebenen Mediums der Tonalität sich bediente, Begriffsähnliches, harmonische und melodische Spielmarken, die wenigen tonalen Akkordtypen und deren Derivate. Nie jedoch waren sie Merkmaleinheiten eines unter ihnen Subsumierten; sie »bedeuteten« auch nicht derart, wie der Begriff seine Phänomene; sie konnten nur gleich den Begriffen als Identisches mit identischer Funktion eingesetzt werden. Differenzen wie diese, die ihre abgründigen Perspektiven haben, bezeugen jedenfalls, daß die sogenannten Künste nicht untereinander ein Kontinuum bilden, das gestattete,
das Ganze mit einem ungebrochen einheitlichen Begriff zu bedenken. Ohne daß sie es wüßten, verfransen die Künste vielleicht sich auch, um jene Ungleichnamigkeit des unterm selben Namen Gehenden abzuschaffen. Der Vergleich mit einem musikalischen Phänomen und seiner Entwicklung mag das erläutern. Das Orchester ist kein in sich vollständiges Ganzes, kein Kontinuum aller möglichen Klangfarben, sondern zwischen diesen klaffen empfindliche Lücken. Die Elektronik wollte gewiß ursprünglich die bis heute mangelnde Homogenität des Orchesters herstellen, obgleich sie rasch das Bewußtsein ihres Unterschieds von allen traditionellen Klangerzeugern erlangte und das Vorbild des integralen Orchesters opferte. Ohne Gewalt ist das Verhältnis der Kunst zu den Künsten dem des geschichtlich formierten Orchesters zu seinen Instrumenten zu vergleichen; so wenig ist Kunst der Begriff der Künste wie das Orchester das Spektrum der Klangfarben. Trotzdem hat der Begriff der Kunst sein Wahres – auch im Orchester steckt die Idee der Farbtotale als Telos seiner Entwicklung. Gegenüber den Künsten ist Kunst ein sich Bildendes, in jeder einzelnen insoweit potentiell enthalten, wie eine jede streben muß, von der Zufälligkeit ihrer quasi naturalen Momente durch diese hindurch sich zu befreien. Eine solche Idee der Kunst in den Künsten ist aber nicht positiv, nichts in ihnen einfach Vorhandenes, sondern einzig als Negation zu fassen. Allein negativ hat man, was inhaltlich, über den leeren klassifikatorischen Begriff hinaus, die Kunstarten vereint: alle stoßen sich ab von der empirischen Realität, alle tendieren zur Bildung einer dieser qualitativ sich entgegensetzenden Sphäre: geschichtlich säkularisieren sie die magische und sakrale. Alle brauchen Elemente aus der empirischen Realität, von der sie sich entfernen; und ihre Realisierungen fallen doch auch in die Empirie. Das bedingt die Doppelstellung der Kunst zu ihren Gattungen. Ihrem unauslöschlichen Anteil an der Empirie gemäß existiert Kunst nur in den Künsten, deren diskontinuierliches Verhältnis zueinander von der außerkünstlerischen Empirie vorgezeichnet wird. Als Antithesis zur Empirie dagegen ist die Kunst Eines. Ihr dialektisches Wesen hat sie daran, daß sie ihre Bewegung zur Einheit einzig durch die Vielheit hindurch vollzieht. Sonst wäre die Bewegung abstrakt und ohnmächtig. Ihr Verhältnis zur empirischen Schicht ist der Kunst selbst wesentlich. Überspringt sie jene, so bleibt, was sie für ihren
Geist hält, ihr äußerlich wie irgendein Stoff; nur inmitten der empirischen Schicht wird Geist zum Gehalt. Die Konstellation von Kunst und Künsten wohnt der Kunst selbst inne. Er spannt sich zwischen den Polen eines einheitsstiftenden, rationalen und eines diffusen, mimetischen Moments. Keiner der Pole ist herauszusondern; Kunst nicht auf einen von beiden abzuziehen, nicht einmal auf ihren Dualismus. Zu harmlos allerdings wäre eine Ansicht vom Übergang der Künste in die Kunst, welche nicht ein Moment des Gehalts in sich einbegriffe, das selber nicht ästhetisch ist. Die Geschichte der neuen Kunst ist in weitem Maß die nach unwiderruflicher Logik verlaufende von metaphysischem Sinnverlust. So gewiß die Kunstgattungen ihren eigenen Bewegungsgesetzen nach nicht in ihren Zonen verbleiben möchten – die Impulse der Künstler, die sie widerstandslos fast in jene Tendenz einstimmen lassen, sind mit dem Verlust an Sinn eng verwachsen. Sie machen ihn zu ihrer Sache, möchten ihrer eigenen Innervation nach auf ihn hinaus. Ob ästhetische Theorie dafür das Wort findet oder, wie meist sonst, mit über dem Kopf zusammengeschlagenen Händen hinter der Entwicklung herhinkt, hängt nicht zuletzt ab von ihrer Einsicht in das am künstlerischen Geist, was den Sinn von Kunst sabotiert. Wohl vertrauen viele einem Zug sich an, der ebenso von der eigenen Anstrengung sie entlastet, wie ihnen Ersatz verspricht für die Sekurität, die durch die Emanzipation der Kunst von ihren Typen und Schemata die Moderne hindurch zerrüttet wurde. Unausweichlich die Analogie zu dem in der angelsächsischen Welt die Philosophie verdrängenden logischen Positivismus: vollkommene Absage an jeden Sinn, sogar an die Idee von Wahrheit selbst, verschafft offenbar ein Gefühl absoluter, zweifelsfreier Gewißheit, auch wenn diese gar keinen Inhalt mehr hat. Aber das sagt nicht alles über den Rausch unersättlicher Ernüchterung, für den unterdessen das Wort Absurd als Zauberformel sich eingebürgert hat, Selbstbewußtsein seines eigenen Widerspruchs, des Geistes als Organs des Sinnlosen. Dessen Erfahrung reicht in manche Phänomene der zeitgenössischen Massenkultur hinein, nach deren Sinn zu fragen deshalb unfruchtbar ist, weil sie gegen den Begriff des Sinns und die Behauptung rebellieren, das Dasein sei sinnvoll; nicht selten gibt es im ästhetischen Bereich Berührungen zwischen den Extremen ganz oben und ganz unten. Den angeblichen
Sinn des Lebens hat Kunst Jahrtausende lang fingiert und den Menschen eingehämmert; noch die Ursprünge der Moderne haben ihn nicht bezweifelt, auf der Schwelle zu dem, was gegenwärtig sich zuträgt. Das in sich sinnvolle Kunstwerk, geistbestimmt in all seinen Momenten, war Komplize des, nach Herbert Marcuses Prägung, affirmativen Wesens der Kultur. Soweit Kunst irgend auch Abbild war, hat ihr Zusammenhang durch den Schein seiner Notwendigkeit das Abzubildende als Sinnvolles bestätigt, wie immer auch tragisch es ihm ergehen, wie sehr es als häßlich denunziert werden mochte. Die Kündigung des ästhetischen Sinns heute geht darum mit der Kündigung der äußeren und inneren Abbildlichkeit der Kunstwerke zusammen. Die Verfransung der Künste, feind einem Ideal von Harmonie, das sozusagen geordnete Verhältnisse innerhalb der Gattungen als Bürgschaft von Sinn voraussetzt, möchte heraus aus der ideologischen Befangenheit von Kunst, die bis in ihre Konstitution als Kunst, als einer autarkischen Sphäre des Geistes, hinabreicht. Es ist, als knabberten die Kunstgattungen, indem sie ihre festumrissene Gestalt negieren, am Begriff der Kunst selbst. Urphänomen der Verfransung der Kunst war das Montageprinzip, das vor dem Ersten Krieg in der kubistischen Explosion und, wohl unabhängig davon, bei Experimentatoren wie Schwitters und dann im Dadaismus und im Surrealismus hochkam. Montage heißt aber soviel wie den Sinn der Kunstwerke durch eine seiner Gesetzlichkeit entzogene Invasion von Bruchstücken der empirischen Realität stören und dadurch Lügen strafen. Die Verfransung der Kunstgattungen begleitet fast stets einen Griff der Gebilde nach der außerästhetischen Realität. Er gerade ist dem Prinzip von deren Abbildung strikt entgegengesetzt. Je mehr eine Gattung von dem in sich hineinläßt, was ihr immanentes Kontinuum nicht in sich enthält, desto mehr partizipiert sie am ihr Fremden, Dinghaften, anstatt es nachzuahmen. Sie wird virtuell zum Ding unter Dingen, zu jenem, von dem wir nicht wissen, was es ist. Solches Nicht-Wissen verleiht einem der Kunst Unausweichlichen Ausdruck. Noch ihr Sinnverlust, den sie adoptiert, als wolle sie sich zerstören, oder wie durch ein Gegengift am Leben sich erhalten, kann, auch gegen ihre Intention, nicht ihr letztes Wort bleiben. Das Nicht-Wissen des emphatisch absurden Kunstwerks, des Beckettschen, markiert einen Indifferenzpunkt zwischen dem Sinn und seiner Negation; allerdings frevelte gegen
diese Indifferenz, wer aufatmend positiven Sinn herausläse. Gleichwohl ist kein Kunstwerk denkbar, das, indem es das Heterogene sich integriert und gegen den eigenen Sinnzusammenhang sich wendet, nicht doch einen bildete. Metaphysischer und ästhetischer Sinn sind nicht unmittelbar Eines, auch heute nicht. Die sinnfremden Realien, die bei dem Verfransungsprozeß in die Felder der Kunstwerke hineingeraten, werden von ihnen potentiell ebenso als sinnvoll gerettet, wie sie dem traditionellen Sinn der Kunstwerke ins Gesicht schlagen. Konsequente Negation des ästhetischen Sinns wäre möglich nur durch Abschaffung der Kunst. Die jüngsten bedeutenden Kunstwerke sind der Alptraum solcher Abschaffung, während sie zugleich durch ihre Existenz dagegen sich sträuben, abgeschafft zu werden; so als drohe das Ende der Kunst das einer Menschheit an, deren Leiden nach der Kunst verlangt, nach einer, die es nicht glättet und mildert. Sie träumt der Menschheit ihren Untergang vor, daß sie aufwache, ihrer mächtig bleibe, überlebe. Die Negativität des Begriffs von Kunst betrifft sie inhaltlich. Ihre eigene Beschaffenheit, nicht die Ohnmacht von Gedanken über sie verbietet, sie zu definieren; ihr innerstes Prinzip, das utopische, revoltiert gegen das naturbeherrschende der Definition. Sie mag nicht bleiben, was sie einmal war. Wie sehr damit auch ihr Verhältnis zu ihren Gattungen dynamisiert wird, läßt an deren spätester, dem Film, sich entnehmen. Hilflos die Frage, ob der Film Kunst sei oder nicht. Auf der einen Seite kommt er, wie Benjamin in der Arbeit über das ›Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit‹ zuerst erkannte, sich selbst am nächsten, wo er das Attribut der Aura, das aller vorfilmischen Kunst zukam, den Schein einer durch den Zusammenhang verbürgten Transzendenz, rücksichtslos ausscheidet; anders gesagt, wo er, in einer von der realistischen Malerei und Literatur kaum geahnten Weise, auf symbolische und sinnverleihende Elemente verzichtet. Siegfried Kracauer hat daraus die Folgerung gezogen, der Film sei, als eine Art Rettung der äußer-ästhetischen Dingwelt, ästhetisch möglich allein durch Absage ans Stilisationsprinzip, durch die intentionslose Versenkung der Kamera in den aller Subjektivität vorgeordneten Rohzustand des Seienden. Aber ein solcher Refus ist seinerseits, als Apriori der Gestaltung von Filmen, abermals ästhetisches Stilisationsprinzip. Bei äußerster Askese gegen Aura und subjektive
Intention flößt doch das filmische Verfahren, rein seiner Technik nach, durch das Skript, die Gestalt des Photographierten, die Kamera-Einstellung, den Bildschnitt, der Sache unvermeidlich sinnverleihende Momente ein, ähnlich übrigens wie die Verfahren in Musik oder Malerei, die das Material nackt hervortreten lassen wollen und eben in diesem Bestreben es präformieren. Während der Film aus immanenter Gesetzlichkeit sein Kunsthaftes abwerfen möchte – fast als widerspräche es seinem Kunstprinzip –, ist er noch in dieser Rebellion Kunst und erweitert sie. Solcher Widerspruch, den allerdings der Film unter seiner Abhängigkeit vom Profit nicht rein austragen kann, ist das Lebenselement aller eigentlich modernen Kunst. Die Verfransungsphänomene der Gattungen dürften insgeheim davon inspiriert sein. Insofern jedenfalls sind die happenings – ostentative Sinnlosigkeit freilich drückt nicht ohne weiteres die der Existenz aus und gestaltet sie – exemplarisch. Ungezügelt überantworten sie sich der Sehnsucht, daß Kunst, wider ihr Stilisationsprinzip und dessen Verwandtschaft mit dem Bildcharakter, eine Wirklichkeit sui generis werde. Eben damit polemisieren sie am schroffesten, schockhaft gegen die empirische Wirklichkeit, derengleichen sie werden wollen. In ihrer clownischen Fremdheit zu den Zwecken des realen Lebens, in dessen Mitte sie veranstaltet werden, sind sie vorweg dessen Parodie, die sie denn auch, etwa als die der Massenmedien, unmißverständlich betreiben. Die Verfransung der Künste ist ein falscher Untergang der Kunst. Ihr unentrinnbarer Scheincharakter wird zum Skandal angesichts einer Übermacht der ökonomischen und politischen Realität, die den ästhetischen Schein noch als Idee in Hohn verwandelt, weil sie keinen Durchblick auf die Verwirklichung des ästhetischen Gehalts mehr freigibt. Weniger stets verträgt jener Schein sich mit dem Prinzip rationaler Materialbeherrschung, dem er die gesamte Geschichte von Kunst hindurch sich verband. Während die Situation Kunst nicht mehr zuläßt – darauf zielte der Satz über die Unmöglichkeit von Gedichten nach Auschwitz –, bedarf sie doch ihrer. Denn die bilderlose Realität ist das vollendete Widerspiel des bilderlosen Zustands geworden, in dem Kunst verschwände, weil die Utopie sich erfüllt hätte, die in jedem Kunstwerk sich chiffriert. Solchen Unterganges ist die Kunst von sich aus nicht fähig. Darum verzehren sich aneinander die Künste.
Fußnoten 1 Rudolf Borchardt, Prosa I, hrsg. von Maria Luise Borchardt, Stuttgart 1957, S. 69. 2 a.a.O., S. 69f. 3 a.a.O., S. 69. 4 a.a.O., S. 46f. 5 Vgl. Martin Heidegger, Holzwege, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1950, S. 60.
Eingriffe Neun kritische Modelle
Der Sprache widerfährt ihr Unheil nicht bloß in ihren einzelnen Worten und ihrem syntaktischen Gefüge. Viele Wörter backen im Sog der Kommunikation, vor allem Sinn und wider ihn, in Klumpen sich zusammen. Karl Kraus hat das erkannt und an Wendungen wie »ausgebaut und vertieft« zärtlich fast verfolgt. Solch ein Klumpen ist auch der verbotene Eingriff, der sich anzuschließen pflegt an das Verhältnis, das nicht ohne Folgen blieb. Vermutlich ist der sprachliche Mißbrauch zu eingefleischt, als daß der objektive Geist ihn sich abgewöhnen ließe. Wohl aber ist beim Wort zu nehmen, was den Worten geschah. Wird zu den Eingriffen schon einmal das Verbot assoziiert, so sollen Erwägungen, die eingreifen wollen, metaphorisch wenigstens daran sich erinnern, Tabu und Einverständnis verletzen. Thematisch reichen die Aufsätze von sogenannten großen philosophischen Gegenständen über politische bis zu einigermaßen ephemeren Anlässen; von beruflich-akademischen Erfahrungen zu sehr unakademischen Komplexen. Danach richtet sich auch die Darstellung; je nach dem Dargestellten variiert ihre Verbindlichkeit und Dichte. Sprache, die sich verselbständigt gegenüber dem, was die wechselnden Sachen verlangen, ist kein Stil. Überall jedoch, wo Aktuelles behandelt wird, geht es gegen das gleiche Unwesen, von dem alles Einzelne abhängt und das doch nur im Einzelnen erscheint. Dafür drängte ein Stichwort sich auf, das ohne Absicht in vielen der Aufsätze wiederkehrt: das verdinglichte Bewußtsein, in das die Aufsätze eingreifen möchten, ob sie nun dem geisteswissenschaftlichen Betrieb gelten oder der Stellung der Lehrer zur Philosophie, dem Cliché von den zwanziger Jahren oder dem bösen Nachleben der Sexualtabus, der präparierten Welt des Fernsehens oder der losgelassenen Meinung. Diese Einheit schreibt zugleich die Grenze vor: daß Bewußtsein kritisiert wird, wo es nur Reflex der Realität ist, die es trägt. Die praktischen Aussichten sind darum beschränkt. Wer überhaupt Vorschläge anmeldet, macht leicht sich zum Mitschuldigen. Die Rede von einem Wir, mit dem man sich identifiziert, schließt bereits Komplizität mit dem Schlechten ein und den Trug, guter Wille und Bereitschaft zu gemeinsamem Handeln vermöchten etwas zu erreichen, wo jener Wille ohnmächtig ist und die Identifikation mit hommes de bonne volonté eine
verkappte Gestalt des Übels. Reine Gesinnung jedoch, die sich Eingriffe versagt, verstärkt ebenfalls, wovor sie zurückschreckt. Den Widerspruch zu schlichten steht nicht bei der Reflexion; ihn diktiert die Verfassung des Wirklichen. In einem geschichtlichen Augenblick aber, da allerorten Praxis abgeschnitten dünkt, die aufs Ganze sich bezöge, mögen selbst armselige Reformen mehr Recht annehmen, als ihnen an sich gebührt. Dezember 1962
Wozu noch Philosophie Bei einer Frage wie »Wozu noch Philosophie«, für deren Formulierung ich selbst verantwortlich bin, obwohl ich den amateurhaften Klang nicht überhöre, wird man im allgemeinen die Antwort erraten, einen Gedankengang erwarten, der alle möglichen Schwierigkeiten und Bedenken anhäuft, um schließlich, mehr oder minder vorsichtig, in ein Jedennoch zu münden und das rhetorisch Bezweifelte zu bejahen. Dieser allvertraute Ablauf entspricht konformistischer und apologetischer Haltung; sie trägt sich als positiv vor und rechnet vorweg mit Einverständnis. Vollends traut man einem nichts Besseres zu, der von Amts wegen Philosophie lehrt, dessen bürgerliche Existenz davon abhängt, daß sie weiter betrieben wird, und der die eigenen handgreiflichen Interessen verletzt, sobald er sich dagegen äußert. Einiges Recht, trotzdem die Frage aufzuwerfen, habe ich bloß deshalb, weil ich der Antwort keineswegs gewiß bin. Wer eine Sache verteidigt, die der Geist des Zeitalters als veraltet und überflüssig abtut, begibt sich in die ungünstigste Position. Seine Argumente klingen schwächlich beflissen. Ja aber, bedenken Sie doch, sagt er, als trachte er, solchen etwas aufzuschwatzen, die es nicht wollen. Diese Fatalität muß einbeziehen, wer von der Philosophie nicht sich abbringen läßt. Er muß wissen, daß sie nicht mehr für die Techniken der Bemeisterung des Lebens – Techniken im wörtlichen und übertragenen Sinn – verwendbar ist, mit denen sie so vielfach sich verschränkte. Philosophie bietet auch kein Medium der Bildung jenseits dieser Techniken mehr, wie während der Epoche Hegels, als ein paar kurze Jahrzehnte lang die damals schmale Schicht der deutschen Intellektuellen in ihrer kollektiven Sprache sich verständigte. Der Krisis des humanistischen Bildungsbegriffs, über die ich nicht viel Worte zu machen brauche, ist Philosophie als erste Disziplin im öffentlichen Bewußtsein erlegen, nachdem sie ungefähr seit Kants Tod durch ihr Mißverhältnis zu den positiven Wissenschaften, zumal denen von der Natur, sich verdächtig gemacht hatte. Die Kant- und Hegelrenaissancen, in deren Namen schon das Unkräftige sich anzeigt, haben daran nicht viel geändert. Schließlich hat
Philosophie in der allgemeinen Situation von Verfachlichung selbst ebenfalls als Spezialfach sich etabliert, dem des von allen Sachgehalten Gereinigten. Sie hat dadurch verleugnet, woran sie ihren eigenen Begriff besaß: Freiheit des Geistes, der dem Diktat des Fachwissens nicht pariert. Sie hat zugleich durch Abstinenz von bestimmtem Inhalt, sei's als formale Logik und Wissenschaftslehre, sei's als Sage von einem allem Seienden entrückten Sein, ihren Bankrott den realen gesellschaftlichen Zwecken gegenüber erklärt. Freilich setzte sie nur das Siegel unter einen Prozeß, der weithin ihrer eigenen Geschichte gleichkam. Immer mehr Bezirke wurden ihr entrissen und verwissenschaftlicht; ihr blieb kaum eine Wahl, als entweder selber auch eine Wissenschaft zu werden oder eine winzige und tolerierte Enklave, die als solche bereits dem widerstreitet, was sie sein möchte: ein nicht Partikulares. Noch die Newtonsche Physik hieß Philosophie. Das moderne wissenschaftliche Bewußtsein sähe darin einen archaischen Rest, Rudiment jener Epoche früher griechischer Spekulation, in der handfeste Naturerklärung und sublime Metaphysik im Namen des Wesens der Dinge ungeschieden noch ineinander waren. Entschlossene haben darum solche Archaik als das allein Philosophische proklamiert und wiederherzustellen gesucht. Aber das am zerspaltenen Zustand leidende Bewußtsein, das aus Not vergangene Einheit beschwört, widerspricht dem Inhalt, den es sich zu geben trachtet. Daher muß es willkürlich seine Ursprache veranstalten. Restauration ist in der Philosophie so vergeblich wie sonstwo. Diese müßte vorm Bildungsgeklapper sich hüten und vorm weltanschaulichen Abrakadabra. Sie darf sich auch nicht einbilden, wissenschaftstheoretische Facharbeit, oder was sonst als Forschung einherstolziert, sei Philosophie. Eine schließlich jedoch, die all das sich verbietet, tritt in unversöhnlichen Gegensatz zum herrschenden Bewußtsein. Nichts sonst enthebt sie dem Verdacht der Apologetik. Philosophie, die dem genügt, was sie sein will, und nicht kindlich hinter ihrer Geschichte und der realen hertrottet, hat ihren Lebensnerv am Widerstand gegen die heute gängige Übung und das, dem sie dient, gegen die Rechtfertigung dessen, was nun einmal ist. Auch die höchste Erhebung philosophischer Spekulation bis heute, die Hegelsche, ist nicht mehr verpflichtend. Gerade wer, nach den Klassifikationen der öffentlichen Meinung, denen keiner entgeht, der öffentlich etwas tut, unter die Dialektiker eingereiht
wird, muß die Differenz von Hegel aussprechen. Es ist keine der individuellen Überzeugung. Sondern sie wird gefordert von der Bewegung der Sache selbst, der rein sich zu überlassen kein anderer als Hegel vom Gedanken verlangt. Der Totalitätsanspruch der traditionellen Philosophie, kulminierend in der These von der Vernünftigkeit des Wirklichen, ist nicht zu trennen von Apologetik. Die aber ist absurd geworden. Philosophie, die sich noch als total, als System aufwürfe, würde zum Wahnsystem. Gibt sie jedoch den Anspruch der Totalität auf; beansprucht sie nicht länger mehr, aus sich heraus das Ganze zu entfalten, das die Wahrheit sein soll, so gerät sie in Konflikt mit ihrer gesamten Überlieferung. Das ist der Preis, den sie dafür zu zahlen hat, daß sie, vom eigenen Wahnsystem geheilt, das der Realität nennt. Nicht länger ist sie dann ein sich selbst genügender, stringenter Begründungszusammenhang. Ihrem Zustand in der Gesellschaft, den sie selber noch durchdringen sollte und nicht verleugnen, entspricht ihr eigener verzweifelter: die Notwendigkeit zu formulieren, was heute unter dem Titel des Absurden selbst schon wieder von der Maschinerie erfaßt ist. Philosophie, wie sie nach allem allein zu verantworten wäre, dürfte nicht länger des Absoluten sich mächtig dünken, ja müßte den Gedanken daran sich verbieten, um ihn nicht zu verraten, und doch vom emphatischen Begriff der Wahrheit nichts sich abmarkten lassen. Dieser Widerspruch ist ihr Element. Es bestimmt sie als negative. Kants berühmtes Diktum, der kritische Weg sei allein noch offen, gehört zu jenen Sätzen, in denen die Philosophie, aus der sie stammen, die Probe besteht, indem sie, als Bruchstücke, das System überdauern. Freilich rechnet die Idee der Kritik selbst zu der heute zerrütteten Tradition von Philosophie. Während mittlerweile der Schauplatz jeder Erkenntnis so sehr von den Spezialwissenschaften beschlagnahmt ist, daß der philosophische Gedanke sich terrorisiert fühlt und fürchtet, als dilettantisch sich widerlegen lassen zu müssen, wo immer er inhaltlich wird, ist reaktiv der Begriff der Ursprünglichkeit zu unverdienten Ehren gelangt. Je verdinglichter die Welt, je dichter das Netz, das der Natur übergeworfen wurde, desto mehr beansprucht ideologisch das Denken, das jenes Netz spinnt, seinerseits Natur, Urerfahrung zu sein. Die überlieferten Philosophen dagegen waren seit den gepriesenen Vorsokratikern Kritiker. Xenophanes, auf dessen Schule der heute gegen den
Begriff gewendete Begriff des Seins zurückdatiert, wollte die Naturkräfte entmythologisieren. Die Platonische Hypostasis des Begriffs zur Idee wiederum wurde von Aristoteles durchschaut. In der Moderne hat Descartes die Scholastik der Dogmatisierung bloßen Meinens überführt. Leibniz war der Kritiker des Empirismus; Kant der Leibnizens und Humes in eins; Hegel der Kants, Marx der Hegels. Bei ihnen allen war Kritik nicht die bloße Zutat zu dem, was man im Jargon der Ontologie vor dreißig Jahren ihren Entwurf genannt hätte. Sie dokumentierte keinen nach Geschmack einzunehmenden Standpunkt. Sondern sie lebte im triftigen Argument. Jene Denker hatten in Kritik die eigene Wahrheit. Sie allein, als Einheit des Problems und der Argumente, nicht die Übernahme von Thesen, hat gestiftet, was als produktive Einheit der Geschichte der Philosophie gelten mag. Im Fortgang solcher Kritik haben auch diejenigen Philosophien ihren Zeitkern, ihren geschichtlichen Stellenwert gewonnen, deren Lehrgehalt auf dem Ewigen und Zeitlosen beharrte. Philosophische Kritik heute nun ist mit zwei Schulen konfrontiert, die als Geist der Zeit, gewollt oder ungewollt, übers akademische Gehege hinaus wirken. Sie divergieren und sind gleichwohl komplementär. Zumal in den angelsächsischen Ländern hat der ursprünglich von dem Wiener Kreis inaugurierte logische Positivismus an Boden gewonnen bis zum Monopol. Vielen dünkt er als modern im Sinn konsequentester Aufklärung, als dem, wie man so sagt, technisch-wissenschaftlichen Zeitalter adäquat. Was ihm nicht sich einfügt, sei Restbestand von Metaphysik, ihrer selbst unbewußte Mythologie oder, nach der Sprache der Kunstfremden, Kunst. Dagegen stehen, vorab im deutschen Sprachbereich, die ontologischen Richtungen. Unter ihnen treibt die Heideggersche, übrigens in den Veröffentlichungen seit der sogenannten Kehre dem Wort Ontologie eher abhold, Archaik am weitesten, während ihre französische Spielart, der Existentialismus, den ontologischen Ansatz aufklärerisch und mit politischem Engagement umbildete. Positivismus und Ontologie sind einander anathema; jener hat durch einen seiner Hauptexponenten, Rudolf Carnap, die Theorie Heideggers, und zwar zu Unrecht, als sinnleer attackiert. Umgekehrt heißt das positivistische Denken den Ontologen Heideggerscher Provenienz seinsvergessen; es profaniere die eigentliche Frage. Man fürchtet mit dem bloß Daseienden, das die Positivisten allein in
Händen behalten, die Hände sich zu beschmutzen. Um so schlagender die Koinzidenz der beiden Richtungen in einem Entscheidenden. Sie haben Metaphysik als gemeinsamen Feind erkoren. Daß diese, weil sie wesentlich hinausgeht über das, was der Fall ist, vom Positivismus nicht geduldet wird, dessen eigener Name ja besagt, daß er sich ans Positive, Daseiende, Gegebene halten wolle, bedarf keiner Erläuterung. Aber auch Heidegger, geschult in der metaphysischen Tradition, hat von ihr nachdrücklich sich abzugrenzen gesucht. Metaphysik tauft er das Denken zumindest seit Aristoteles, wenn nicht schon das Platonische, insofern es Sein und Seiendes, Begriff und Begriffenes – man könnte, in einer freilich von Heidegger mißbilligten Sprache, auch sagen: Subjekt und Objekt trennt. Das scheidende, zerteilende Denken, das durch Reflexion zerstöre, was die Worte selber sagen, also all das, was Hegel die Arbeit und Anstrengung des Begriffs nannte und der Philosophie gleichsetzte, sei bereits Abfall von dieser und nicht einmal reparabel, sondern im Sein selbst, »seinsgeschichtlich« vorgezeichnet. Beide Male, bei den Positivisten und bei Heidegger, zumindest in dessen späterer Phase, geht es gegen Spekulation. Dort wird der Gedanke, der selbständig, deutend über die Fakten sich erhebt und von diesen nicht ohne Rest eingeholt werden kann, als leere und eitle Begriffsspinnerei verfemt; Heidegger zufolge aber verfehlt das Denken in dem von der abendländischen Geschichte geprägten Sinn zutiefst die Wahrheit. Diese sei ein an sich Erscheinendes, sich Entbergendes; legitimes Denken nichts als die Fähigkeit, es zu vernehmen. Hintersinnig wird Philologie zur philosophischen Instanz. Unter dem Aspekt dieser gemeinsamen Aversion gegen Metaphysik ist es weniger paradox als auf den ersten Blick, wenn jüngst ein Schüler Heideggers, der in Kiel wirkende Walter Bröcker, Positivismus und Seinsphilosophie kombinieren wollte, indem er dem Positivismus den gesamten Bereich des Daseienden einräumte und wie eine höhere Schicht die Seinslehre, ausdrücklich als Mythologie, darüber legte. Das Sein, in dessen Namen Heideggers Philosophie mehr und mehr sich zusammenzieht, ist ihm als ein dem passiven Bewußtsein rein sich Darstellendes ähnlich unmittelbar, von den Vermittlungen des Subjekts unabhängig wie den Positivisten die Gegebenheiten, die sinnlichen Daten. Denken wird beiden Richtungen zum notwendigen Übel, tendenziell diskreditiert. Es verliert das Moment
von Selbständigkeit. Die Autonomie der Vernunft entschwindet; das an ihr, was sich nicht erschöpft im Nachdenken eines Vorgegebenen, dem sie sich anmißt. Damit aber auch die Konzeption der Freiheit und virtuell die der Selbstbestimmung der menschlichen Gesellschaft. Verböte nicht den meisten Positivisten ihre humane Gesinnung, so weit zu gehen, so müßten sie auch für die Praxis die Anpassung an die Tatsachen fordern, denen gegenüber Denken ohnmächtig sei, bloße Antizipation oder Klassifikation, hinfällig gegenüber dem Einzigen, was zählt, dem, was nun einmal ist. Bei Heidegger jedoch wäre Denken, als ehrfürchtig begriffsloses, passives Lauschen auf ein Sein, das immer nur Sein sagt, ohne kritisches Recht und genötigt, unterschiedslos vor allem zu kapitulieren, was auf die schillernde Seinsmächtigkeit sich berufen kann. Heideggers Einordnung in den Hitlerschen Führerstaat war kein Akt des Opportunismus, sondern folgte aus einer Philosophie, die Sein und Führer identifizierte. Ist Philosophie noch nötig, dann wie von je als Kritik, als Widerstand gegen die sich ausbreitende Heteronomie, als sei's auch machtloser Versuch des Gedankens, seiner selbst mächtig zu bleiben und angedrehte Mythologie wie blinzelnd resignierte Anpassung nach ihrem eigenen Maß des Unwahren zu überführen. An ihr wäre es, solange man sie nicht wie im christianisierten Athen der Spätantike verbietet, der Freiheit Zuflucht zu verschaffen. Nicht daß sich hoffen ließe, sie könne die politischen Tendenzen brechen, die in der gesamten Welt von innen und außen Freiheit abdrosseln, und deren Gewalt sich fortsetzt bis tief in die philosophischen Argumentationszusammenhänge hinein. Was im Innern des Begriffs sich vollzieht, darin erscheint stets auch etwas von der realen Bewegung. Sind aber die beiden Heteronomien die Unwahrheit und läßt diese zwingend sich demonstrieren, dann fügt das nicht nur der trostlosen Kette der Philosophien ein neues Glied hinzu, sondern meldet auch eine Spur von Hoffnung an, Unfreiheit und Unterdrückung, das Übel, das so wenig eines philosophischen Beweises bedarf, daß es das Übel sei, wie daß es existiert, möchte doch nicht das letzte Wort behalten. Solche Kritik hätte die beiden vorherrschenden Richtungen als abgespaltene Momente einer Wahrheit zu bestimmen, die geschichtlich zwangshaft sich entzweite. So wenig sie zu einer sogenannten Synthese zusammenzuleimen sind, sie wären doch in sich selbst zu
reflektieren. Falsch, am Positivismus ist, daß er die nun einmal gegebene Arbeitsteilung, die der Wissenschaften von der gesellschaftlichen Praxis und die innerhalb der Wissenschaft, als Maß des Wahren supponiert und keine Theorie erlaubt, welche die Arbeitsteilung selbst als abgeleitet, vermittelt durchsichtig machen, ihrer falschen Autorität entkleiden könnte. Wollte Philosophie im Zeitalter der Emanzipation Wissenschaft begründen und hat sie sich in Fichte und Hegel als die alleinige Wissenschaft interpretiert, so wird dem Positivismus das von den Wissenschaften abgezogene allgemeinste Gefüge, ihre schon eingeschliffene und gesellschaftlich verhärtete Verfahrensweise, zur Philosophie, der Betrieb zur Rechtfertigung seiner selbst, ein Zirkel, an dem die Fanatiker logischer Sauberkeit erstaunlich wenig sich stören. Philosophie demissioniert, indem sie dem sich gleichsetzt, was von ihr erst sein Licht empfangen sollte. Die Existenz der Wissenschaft telle quelle, wie sie im gesellschaftlichen Geflecht und mit all seinen Unzulänglichkeiten und Irrationalitäten vorkommt, wird zum Kriterium ihrer eigenen Wahrheit. In solchem Respekt vorm Verdinglichten ist der Positivismus verdinglichtes Bewußtsein. Bei aller Feindschaft gegen die Mythologie verrät er den antimythologischen Impuls der Philosophie, das bloß von Menschen Gemachte zu durchschlagen und auf sein menschliches Maß zurückzuführen. Die Fundamentalontologie jedoch verblendet sich gegen die Vermittlung nicht des Tatsächlichen sondern des Begriffs. Sie unterdrückt die Erkenntnis, daß jene Wesenheiten oder wie immer sie es bei fortschreitender Sublimierung nennen mag, die sie gegen die Tatsachen des Positivismus ausspielt, immer auch Denken, Subjekt, Geist sind. Gerade das Subjekt- und Bedingtsein weist zurück auf ein nicht aus dem Sein bruchlos entspringendes Seiendes: auf die vergesellschafteten Menschen. Im Sanktuarium des Gehäuses, in dem die Philosophie der Repristination ebenso vor der Profanität des bloßen Faktums sich verschanzt wie vor den Begriffen, die als von den Fakten getrennte und sie unter sich befassende Einheiten den Fakten zugeordnet sind, begegnet das Gespaltene wieder, vor dem die Künder des Ungeteilten sich gefeit wähnen. Ihre Worte sind unweigerlich Begriffe, wofern sie überhaupt gedacht werden sollen; Denken aber möchte die Seinslehre noch im entschlossenen Archaismus sein. Wie jedoch die
Begriffe ihrem eigenen Sinn nach ein sie Erfüllendes fordern; wie nach Hegels unüberholter Einsicht der bloße Gedanke von Identität ein Nichtidentisches erheischt, von dem allein Identität kann ausgesagt werden: so sind noch die reinsten Begriffe immanent, und gar nicht erst polar, auf ihr Anderes angewiesen. Denken selbst, dessen Funktion alle Begriffe sind, kann nicht vorgestellt werden ohne die Tätigkeit irgend Denkender, die das Wort Denken benennt. In dieser Rückbeziehung ist als Moment bereits enthalten, was nach idealistischem Brauch vom Begriff erst konstituiert werden, und was nach seinsmythologischem, samt dem Begriff, Epiphänomen eines Dritten sein soll. Ohne die Bestimmung durch jene beiden Momente wäre dies Dritte ein ganz Unbestimmtes; es überhaupt nur zu nennen, läuft auf die Bestimmung durch die emsig verleugneten Momente hinaus. Noch das Kantische transzendentale Subjekt, dessen Erbschaft das transzendental-subjektlose Sein gern anträte, bedarf als Einheit des Mannigfaltigen ebenso wie umgekehrt das Mannigfaltige der vernünftigen Einheit. Unabhängig von den Inhalten, welche die der Einheit sind, ist deren eigener Begriff nicht zu fassen, und aus den Inhalten ist die Spur eines Faktischen so wenig wegzuzaubern, wie dessen Differenz vom Begriff, der ihrer bedarf. Keine Einheit, wie formal auch immer, und wäre es die reinlogische, ist auch nur als Möglichkeit bar dessen zu konzipieren, worauf sie geht; noch das formallogische Etwas ist der Bodensatz des Materials, das ausgeschieden zu haben der Stolz der reinen Logik war. Der Grund der von Günther Anders so genannten Pseudokonkretion des Seinsdenkens aber, und damit allen Truges, den es um sich verbreitet, ist, daß es seine Reinheit sieht in der Unberührtheit von dem, was es doch selbst ist und was es als konkret wiederum sich zuschlägt. Seinen Triumph feiert es im strategischen Rückzug. Durch mythische Vieldeutigkeit verdeckt es bloß die bestimmte Verschränkung der Momente, aus der es so wenig sich lösen kann wie nur je das bedingte Bewußtsein. Weil in der Seinsmythologie das Seiende und der Begriff kunstvoll ungeschieden verbleiben, stellt sie das Sein vor, als wäre es über dem Seienden wie über dem Begriff und erschleicht, mit Kant zu reden, seine Absolutheit. Verdinglichtes Bewußtsein ist auch sie, indem sie den menschlichen Anteil an den obersten Begriffen unterschlägt und sie vergötzt. Nichts anderes aber heißt Dialektik, als auf der Vermittlung des scheinbar Unmittelbaren, und der auf
allen Stufen sich entfaltenden Wechselseitigkeit von Unmittelbarkeit und Vermittlung zu insistieren. Dialektik ist kein dritter Standpunkt sondern der Versuch, durch immanente Kritik philosophische Standpunkte über sich und über die Willkür des Standpunktdenkens hinauszubringen. Gegenüber der Naivetät des willkürlichen Bewußtseins, das sein Beschränktes, ihm Gegebenes für unbeschränkt hält, wäre Philosophie die bindende Verpflichtung zur Unnaivetät. In einer Welt, die, als durch und durch vergesellschaftete, so übermächtig gegenüber allen Einzelnen ist, daß ihnen kaum etwas anderes übrigbleibt, als sie hinzunehmen, wie sie sich gibt, reproduziert solche Naivetät sich unablässig und verhängnisvoll. Was eine unmäßige Apparatur ihnen aufdrängt, die sie selber bilden und in die sie eingespannt sind, und was naturhafte Momente virtuell eliminiert, wird ihnen zur Natur. Verdinglichtes Bewußtsein ist vollkommen naiv und, als Verdinglichung, auch vollkommen unnaiv. Philosophie hätte den Schein des Selbstverständlichen wie den des Unverständlichen aufzulösen. Die Integration von Philosophie und Wissenschaft, die virtuell schon in den frühesten Dokumenten der abendländischen Metaphysik sich abzeichnet, wollte einmal den Gedanken schützen vor der dogmatischen Bevormundung, zu der er Affinität hat durch Willkür, das Negative aller Freiheit. Auf diese aber zielte das Postulat des unmittelbaren »Dabeiseins« lebendig vollziehenden Geistes bei aller Erkenntnis, die seit Spinoza unverlierbare Norm der Evidenz. Sie war, in bloßer Logik, das antezipierende Bild eines realen Zustandes, in dem die Menschen es endlich wären, ledig jeglicher blinden Autorität. Das hat sich umgedreht. Die Berufung auf Wissenschaft, auf ihre Spielregeln, auf die Alleingültigkeit der Methoden, zu denen sie sich entwickelte, ist zur Kontrollinstanz geworden, die den freien, ungegängelten, nicht schon dressierten Gedanken ahndet und vom Geist nichts duldet als das methodologisch Approbierte. Wissenschaft, das Medium von Autonomie, ist in einen Apparat der Heteronomie ausgeartet. Das, worum es ginge, ist abgeschnitten, der Zufälligkeit des geschmähten Aperçus überantwortet, als Isoliertes tatsächlich zum Weltanschauungsgeschwätz herabgewürdigt. Die philosophische Kritik des Szientivismus, die jenes Denksystem bündig widerlegt, ist darum nicht, was ihre wohlgesinnten Gegner ihr vorwerfen, sondern eher die Destruktion der Destruktion. Kritik der
bestehenden Philosophien plädiert nicht für das Verschwinden von Philosophie oder gar ihren Ersatz durch Einzeldisziplinen wie die Sozialwissenschaft. Sie möchte formal und material eben jener Gestalt geistiger Freiheit helfen, die in den herrschenden philosophischen Richtungen keine Stelle hat. Denken, das offen, konsequent und auf dem Stand vorwärtsgetriebener Erkenntnis den Objekten sich zuwendet, ist diesen gegenüber frei auch derart, daß es sich nicht vom organisierten Wissen Regeln vorschreiben läßt. Es kehrt den Inbegriff der in ihm akkumulierten Erfahrung den Gegenständen zu, zerreißt das gesellschaftliche Gespinst, das sie verbirgt, und gewahrt sie neu. Entschlüge Philosophie sich der Angst, die der Terror der herrschenden Richtungen verbreitet – der ontologischen, nichts zu denken, was nicht rein; der szientifischen, nichts zu denken, was nicht »verbunden« mit dem Corpus der als gültig anerkannten wissenschaftlichen Befunde sei –, so vermöchte sie gar zu erkennen, was jene Angst ihr verbot, das, worauf unverschandeltes Bewußtsein eigentlich es abgesehen hätte. Wovon die philosophische Phänomenologie träumte, wie einer, der zu erwachen träumt, das »Zu den Sachen«, könnte einer Philosophie zufallen, die jene Sachen nicht mit dem Zauberschlag der Wesensschau zu gewinnen hofft, sondern die subjektiven und objektiven Vermittlungen mitdenkt, dafür aber nicht nach dem latenten Primat der veranstalteten Methode sich richtet, welche den phänomenologischen Richtungen, anstelle der ersehnten Sachen, immer wieder bloß Fetische präsentiert, selbstgemachte Begriffe. Wären nicht alle positiven Redeweisen tief verdächtig geworden, so könnte man sich ausmalen, daß erst einem solchen zugleich freien und in sich reflektierten Bewußtsein das sich entfaltete, was die traditionelle Philosophie sich verbaute, indem sie sich selbst mit dem verwechselte, was sie deuten will. Die Müdigkeit der traditionellen Philosophie am Wechsel ihrer Spielarten hat das Potential einer Philosophie in sich, die dem Bann entronnen wäre. Ungewiß gleichwohl, ob Philosophie, als Tätigkeit des begreifenden Geistes, überhaupt noch an der Zeit sei; ob sie nicht zurückbleibe hinter dem, was sie zu begreifen hätte, dem auf die Katastrophe zutreibenden Zustand der Welt. Für Kontemplation scheint es zu spät. Was in seiner Absurdität zutage liegt, sträubt sich gegens Begreifen. Vor mehr als hundert Jahren ward die Abschaffung der Philosophie visiert. Daß man im Osten als Diamat
marxistische Philosophie verkündet, wie wenn das mit der Marxischen Theorie ohne weiteres vereinbar wäre, bezeugt die Verkehrung des Marxismus in ein gegen den eigenen Gehalt abgestumpftes, statisches Dogma oder, wie sie selber es nennen, in eine Ideologie. Wer noch philosophiert, kann es nur, wenn er die Marxische These vom Überholtsein der Besinnung verneint. Sie dachte die Möglichkeit der Veränderung der Welt von Grund auf als jetzt und hier gegenwärtig. Bloß Sturheit aber könnte diese Möglichkeit noch so unterstellen wie Marx. Das Proletariat, an das er sich wandte, war noch nicht integriert: es verelendete zusehends, während andererseits die gesellschaftliche Macht noch nicht über die Mittel verfügte, im Ernstfall mit überwältigender Chance sich zu behaupten. Philosophie, als der zugleich konsequente und freie Gedanke, findet sich in einer gänzlich anderen Situation. Marx wäre der letzte gewesen, den Gedanken vom realen Gang der Geschichte loszureißen. Hegel, der der Vergänglichkeit von Kunst inneward und ihr Ende prophezeite, hat ihren Fortbestand abhängig gemacht von dem »Bewußtsein von Nöten«. Was aber der Kunst recht ist, ist der Philosophie billig, deren Wahrheitsgehalt mit dem der Kunst konvergiert, indem ihre Verfahrensart von jener sich sondert. Die ungeminderte Dauer von Leiden, Angst und Drohung nötigt den Gedanken, der sich nicht verwirklichen durfte, dazu, nicht sich wegzuwerfen. Nach dem versäumten Augenblick hätte er ohne Beschwichtigung zu erkennen, warum die Welt, die jetzt, hier das Paradies sein könnte, morgen zur Hölle werden kann. Solche Erkenntnis wäre ja wohl Philosophie. Sie abzuschaffen um einer Praxis willen, die zu dieser historischen Stunde unweigerlich eben den Zustand verewigte, dessen Kritik Sache der Philosophie ist, wäre anachronistisch. Praxis, welche die Herstellung einer vernünftigen und mündigen Menschheit bezweckt, verharrt im Bann des Unheils ohne eine das Ganze in seiner Unwahrheit denkende Theorie. Daß diese nicht den Idealismus aufwärmen darf, sondern die gesellschaftliche und politische Realität und ihre Dynamik in sich hineinnehmen muß, bedarf keines Wortes. Während der letzten vierzig oder fünfzig Jahre behauptete Philosophie, meist fälschlich, dem Idealismus zu opponieren. Genuin daran war die Opposition gegen die dekorative Phrase; gegen die Hybris des Geistes, der sich zum Absoluten erhöht; gegen die Verklärung der Welt, als wäre sie schon die Freiheit. Der
Anthropozentrismus, der allen idealistischen Konzeptionen innewohnt, ist nicht zu retten; man braucht sich nur im gröbsten Umriß an die Veränderungen der Kosmologie seit hundertundfünfzig Jahren zu erinnern. Unter den fälligen Aufgaben der Philosophie ist sicherlich nicht die letzte, ohne amateurhafte Analogien und Synthesen dem Geist die naturwissenschaftlichen Erfahrungen zuzueignen. Sie und der sogenannte geistige Bereich klaffen unfruchtbar auseinander; so sehr, daß zuweilen die Beschäftigung des Geistes mit sich selbst und der gesellschaftlichen Welt wie eitles Spiel erscheint. Hätte die Philosophie nichts anderes zu tun, als das Bewußtsein der Menschen von sich selbst auf den Stand dessen zu bringen, was sie von der Natur wissen, anstatt daß sie wie Höhlenbewohner hinter der eigenen Erkenntnis des Kosmos herleben, in dem die wenig weise Gattung homo ihr hilfloses Wesen treibt, so wäre das schon einiges. Im Angesicht dieser Aufgabe und der ungeschmälerten Einsicht in die Bewegungsgesetze der Gesellschaft maßte sie schwerlich affirmativ sich an, aus sich heraus etwas wie positiven Sinn zu setzen. Soweit ist sie einig mit dem Positivismus, mehr noch mit der modernen Kunst, vor deren Phänomenen das meiste, was heute philosophisch gedacht wird, beziehungslos versagt. Aber die bis zum Überdruß verkündete Wendung der Philosophie gegen den Idealismus wollte nicht militante Aufklärung sondern Resignation. Der eingeschüchterte Gedanke getraut sich nicht länger, sich zu erheben, auch nicht in der ergeben seinshörigen Fundamentalontologie. Gegen solche Resignation tritt ein Wahrheitsmoment am Idealismus hervor. Der verwirklichte Materialismus wäre heute das Ende des Materialismus, der blinden und menschenunwürdigen Abhängigkeit der Menschen von den materiellen Verhältnissen. So wenig der Geist das Absolute ist, so wenig geht er auf in Seiendem. Nur dann wird er erkennen was ist, wenn er nicht sich durchstreicht. Die Kraft solchen Widerstandes ist das einzige Maß von Philosophie heute. So unversöhnlich ist sie mit dem verdinglichten Bewußtsein wie einst der Platonische Enthusiasmus; sein Überschuß allein erlaubt, das universal Bedingte beim eigenen Namen zu nennen. Sie wünscht den Frieden mit jenem Anderen, Seienden, das die affirmativen Philosophien erniedrigen, indem sie es preisen und ihm sich anpassen. Ihnen wird alles funktional; noch die Anpassung ans Seiende ist ihnen Vorwand, es im Geist sich zu unterwerfen. Was
aber da ist, möchte nicht zugerichtet werden. Was eine Funktion hat, ist in der funktionalen Welt verhext. Nur Denken, das ohne Mentalreservat, ohne Illusion des inneren Königtums seine Funktionslosigkeit und Ohnmacht sich eingesteht, erhascht vielleicht einen Blick in eine Ordnung des Möglichen, Nichtseienden, wo die Menschen und Dinge an ihrem rechten Ort wären. Weil Philosophie zu nichts gut ist, ist sie noch nicht verjährt; selbst darauf dürfte sie nicht sich berufen, wenn sie nicht ihre Schuld, die Selbstsetzung, verblendet wiederholen will. Jene Schuld wird überliefert von der Idee der philosophia perennis, ihr sei die ewige Wahrheit verbrieft. Gesprengt ist sie von Hegels erstaunlichem Satz, Philosophie sei ihre Zeit, in Gedanken erfaßt. Ihn dünkte die Forderung danach so selbstverständlich, daß er nicht zögerte, als Definition sie vorzutragen. Als erster erreichte er die Einsicht in den Zeitkern der Wahrheit. Sie verband bei ihm sich noch mit dem Vertrauen, jede bedeutende Philosophie drücke dadurch, daß sie die eigene Stufe des Bewußtseins ausdrückt, als notwendiges Moment des Ganzen zugleich auch das Ganze aus. Daß dies Vertrauen samt der Identitätsphilosophie sich enttäuscht fand, mindert aber nicht bloß das Pathos der nachgeborenen Philosophien sondern deren Rang. Von den gegenwärtig herrschenden läßt unmöglich das für ihn Selbstverständliche sich behaupten. Sie sind nicht länger ihre Zeit im Gedanken begriffen. Auf ihren Provinzialismus tun die Ontologen gar sich etwas zugute. Der getreue Kontrapunkt dazu ist die hilflose Begriffsarmut der Positivisten. Ihre Spielregeln sind darauf zugeschnitten, daß das verdinglichte Bewußtsein geistferner bright boys sich als Spitze des Zeitgeistes betrachten kann. Sie sind aber bloß dessen Symptom; fälschen, was ihnen fehlt, in die unbestechliche Tugend solcher um, die keinen blauen Dunst sich vormachen lassen. Zeitgeist sind beide Richtungen höchstens als der von Regression; Nietzsches Hinterweltler sind buchstäblich wieder zu Hinterwäldlern geworden. Ihnen gegenüber müßte Philosophie als fortgeschrittenstes Bewußtsein sich bewähren, durchdrungen vom Potential dessen, was anders wäre, aber auch der Gewalt des Regressiven gewachsen, über das erst sich erhöbe, was es als Ballast in sich hineingenommen und begriffen hat. Redet sich angesichts dieses Anspruchs, den er wohl merkt, der philosophische Archaismus von heutzutage auf das alte Wahre heraus; traktiert er den Fortschritt, den er nur verhindert,
derart, als hätte er ihn überwunden, so sind das Flausen. Keine Dialektik des Fortschritts genügt, einen geistigen Stand zu legitimieren, der nur darum sich für heil hält, weil noch nicht in seine Winkel drang, wozu die Objektivität sich entfaltete, in die auch er selber verflochten ist, und die dafür sorgt, daß Berufung aufs Heile unmittelbar das Unheil verstärkt. Der selbstgerechte Tiefsinn, der das fortgeschrittene Bewußtsein en canaille behandelt, ist platt. Reflexionen, welche über seine Zaubersprüche ebenso hinausdrängen wie über die vérités de faits der Positivisten, sind nicht, wie es der Ideologie vergilbter Witzblätter in den Kram paßte, Modetorheiten, sondern motiviert von jenen Sachverhalten selbst, die Ontologen wie Positivisten als einziges zu achten vorgeben. Solange der Philosophie die leiseste Spur des Titels eines vor mehr als dreißig Jahren publizierten Buchs eines Altkantianers, ›Aus der Philosophenecke‹ anhaftet, solange ist Philosophie der Spaß, den ihre Verächter mit ihr treiben. Nicht durch onkelhafte Ratschläge erhebt sie sich über den Wissenschaftsbetrieb. Alle Weisheit ist zur Wohlweisheit verkommen. Der Philosophie frommt auch nicht das Benehmen jenes Professors, der, als er im Vorfaschismus sich angeregt fühlte, seine Zeit zu richten, Marlene Dietrichs ›Blauen Engel‹ inspizierte, um aus erster Anschauung zu lernen, wie schlimm es sei. Derlei Ausflüge ins Konkrete überführen Philosophie als Abhub eben der Geschichte, mit deren Subjekt sie aus Bildungsreminiszenz sich verwechselt. Nicht der schlechteste Maßstab einer Philosophie heute wäre, daß sie all dem in nichts gleicht. An ihr ist es nicht, mit dümmlicher Arroganz sich Informationen zu verschaffen und dann Stellung zu beziehen, sondern ungeschmälert, ohne Mentalreservat zu erfahren, wovor die ausweichen, die sich die Maxime nicht rauben lassen wollen, es müsse nun einmal bei aller Philosophie etwas Positives herausschauen. Das Rimbaudsche »Il faut être absolument moderne« ist kein ästhetisches Programm und keines für Ästheten, sondern ein kategorischer Imperativ der Philosophie. Der geschichtlichen Tendenz verfällt erst recht, was mit ihr nichts zu schaffen haben möchte. Sie verspricht kein Rettendes und die Möglichkeit von Hoffnung nur der Bewegung des Begriffs, die bis zum äußersten sie verfolgt.
Philosophie und Lehrer Es ist meine Absicht, einiges über die sogenannte allgemeine Prüfung in Philosophie zu sagen, die zu dem Referendarexamen für das wissenschaftliche Lehramt an Höheren Schulen im Lande Hessen hinzugehört. Was ich bei diesem Examen seit nun elf Jahren beobachtete, hat mich zunehmend besorgt gemacht, daß der Sinn jener Prüfung falsch verstanden wird, daß sie ihren Zweck verfehlt. Darüber hinaus mußte ich über die Mentalität der zu Prüfenden nachdenken. Ich glaube, deren eigenes Unbehagen an der Prüfung zu spüren. Viele fühlen sich ihr von Anbeginn fremd und nicht recht gewachsen; manche hegen Zweifel an ihrem Sinn. Ich glaube, deshalb über die Sache reden zu müssen, weil das Ergebnis der Prüfung selbst vielfach von den Momenten abhängt, auf die ich stieß und die den Kandidaten nicht durchweg bewußt sind. Falsch wäre die Haltung eines Examinators, der nicht grundsätzlich jenen zu helfen sucht, über die zu urteilen seine Funktion ihn nötigt, auch wenn solche Hilfe einen Stachel hat. Für meine Worte habe ich allein einzustehen; doch dürften mir in vielem meine Kollegen zustimmen; insbesondere weiß ich, daß Horkheimer zu denselben Ergebnissen gelangte. Selbstverständlich finden sich unter den Kandidaten nicht wenige, für welche meine Befürchtungen nicht zutreffen. Das sind meist solche, die von sich aus ein spezifisches Interesse an der Philosophie nehmen; häufig haben sie als Teilnehmer an unseren Seminaren ein genuines Verhältnis zur Philosophie gewonnen. Auch über ihren Umkreis hinaus fehlt es nicht an Studierenden mit Horizont und geistiger Sensibilität. Als eigentlich gebildete Menschen bringen sie vorweg schon mit, was durch jene Prüfung, fragmentarisch und unzulänglich genug, als existent oder nichtexistent ermittelt werden soll. Aber mit meiner Kritik ziele ich keineswegs nur auf diejenigen, die das Examen nicht bestanden haben. Diese sind oftmals nur ungeschickter, aber keineswegs weniger qualifiziert als jene Mehrheit, die man formeller Kriterien wegen passieren läßt. Vielmehr ist es geradezu die Signatur des fatalen Zustands – wahrhaft eines Zustands, ohne individuelle Schuld einzelner Versagender –, daß auch solche seine Spuren tragen, die das Examen glatt oder, wie ein im Grunde bereits
kränkender Ausdruck lautet, als guter Durchschnitt bestehen. Oft hat man das Gefühl, diesen oder jenen müsse man durchlassen, weil er die meisten dingfesten und kontrollierbaren Fragen mehr oder minder korrekt beantwortete; man wird aber dieser Entscheidung, so angenehm sie für den Einzelnen ist, nicht recht froh. Wenn man streng nach dem Sinn und nicht nach dem Buchstaben der Examensordnung prüfte, müßten solche Kandidaten negativ bewertet werden, vollends im Gedanken an die Jugend, die ihnen als Lehrern einmal überantwortet wird, und mit der mich zu identifizieren ich mich freilich noch nicht zu alt fühle. Der bloße Bedarf an Lehrkräften sollte nicht denen zugute kommen, die ihrer Beschaffenheit nach vermutlich das Gegenteil dessen bewirken, was jener Bedarf verlangt. Die gesamte Situation ist fragwürdig gerade in den Aspekten, um derentwillen die allgemeine Prüfung eingeführt wurde. Ich halte es für besser, das offen auszusprechen und zur Reflexion anzuregen, als schweigend weiter einer Praxis mich zu verschreiben, die bei den Prüfern unweigerlich zur Routine und Resignation führen muß und bei den Kandidaten selbst zur Geringschätzung dessen, was man von ihnen fordert; einer Geringschätzung, die oft nur dünne Hülle ist für die Geringschätzung ihrer selbst. Freundlicher ist es, unfreundlich zu sein, als mit einem umgänglichen Gestus, der bequem genug wäre, über das hinwegzugleiten, was im Bewußtseinsstand der zu Prüfenden ihrer eigenen besseren Möglichkeit, wie ich sie einem jeden zutraue, feind ist. Wohlwollen und Rücksicht sind der Humanität selbstverständlich; unter denen, die an unserer Universität in Philosophie zu prüfen haben, wird es keiner daran fehlen lassen. Aber wir wollen human sein nicht nur gegen die Kandidaten, deren Ängste wir uns gut vorstellen können, sondern auch zu jenen, die ihnen einmal gegenübersitzen, die wir nicht sehen, und denen vom ungeformten und ungebildeten Geist größere Unbill droht als irgendeinem von unseren geistigen Ansprüchen. Man braucht dazu gar nicht erst, was Nietzsche Fernstenliebe nennt; ein wenig Vorstellungskraft genügt. Wenn ich sagte, daß diejenigen, die der Prüfung wirklich gewachsen sich zeigen, oft solche sind, die an philosophischen Seminaren aktiv sich beteiligt haben, so wollte ich damit keinen institutionellen Druck ausüben. Ich nehme den Gedanken der akademischen Freiheit überaus ernst und halte es für völlig
gleichgültig, auf welche Weise ein Student sich bildet, ob als Teilnehmer von Seminaren und Vorlesungen oder bloß durch die eigene Lektüre. Ich wollte überhaupt nicht den Sinn dieses Examens der fachlich philosophischen Ausbildung gleichsetzen. Gemeint habe ich nur, daß solche, die es über den einzelwissenschaftlichen Betrieb hinaus zu jenem Bewußtsein des Geistes von sich selbst drängt, der nun einmal Philosophie ist, im allgemeinen der Konzeption des Examens entsprechen. Kindisch wäre es zu erwarten, ein jeder wollte oder könnte ein professioneller Philosoph werden; gegen eben diesen Begriff hege ich gründliches Mißtrauen. Wir wollen unseren Schülern nicht die déformation professionelle derer zumuten, die automatisch ihr eigenes Gebiet für das Zentrum der Welt halten. Philosophie genügt nur dort sich selbst, wo sie mehr ist als ein Fach. Die allgemeine Prüfung, heißt es im Paragraphen 19 der Prüfungsordnung, an die so viele peinlich sich halten, »soll feststellen, ob der Bewerber den Bildungssinn und die Bildungskräfte seiner Fachgebiete erfaßt hat und sie von den lebendigen philosophischen, pädagogischen und politischen Fragen der Gegenwart her zu betrachten versteht« (S. 46). Ausdrücklich wird dem hinzugefügt: »doch darf die philosophisch betonte Prüfung sich nicht in fachphilosophische Fragen verlieren, sondern muß sich auf solche richten, die für die lebendige Bildung heute wesentlich sind, wobei die Fachgebiete des Bewerbers die Richtung geben«. Mit anderen Worten, die allgemeine Prüfung will, soweit so etwas überhaupt einer Prüfung möglich ist, eine Vorstellung davon gewinnen, ob die Kandidaten in der Reflexion auf ihr Fach, also indem sie bedenken, was sie vollbringen, und auch in der Reflexion auf sich selbst, sich über den Umkreis des tatsächlich Angeeigneten erheben. Ganz einfach dürfte man sagen: ob sie geistige Menschen sind, schwänge nicht in dem Wort »geistige Menschen« eine bestimmte Art Hochmut mit, die Erinnerung an elitäre Herrschaftswünsche, die gerade den Akademiker an der Selbstbesinnung verhindern. Das Wort »geistiger Mensch« mag abscheulich sein, aber daß es so etwas gibt, merkt man erst an dem Abscheulicheren, daß einer kein geistiger Mensch ist. Wir möchten also in dieser Prüfung sehen, ob diejenigen, die als Lehrer an Höheren Schulen mit einem schweren Maß an Verantwortung für die geistige und reale Entwicklung Deutschlands belastet sind, Intellektuelle sind oder, wie Ibsen vor nun schon achtzig Jahren es
nannte, bloße Fachmenschen. Daß der Ausdruck »Intellektuelle« durch die Nationalsozialisten in Verruf geriet, dünkt mir nur ein Grund mehr, ihn positiv aufzunehmen: ein erster Schritt der Selbstbesinnung ist es, Dumpfheit sich nicht als höheres Ethos zuzuschreiben, Aufklärung nicht zu verlästern, sondern der Hetze gegen die Intellektuellen, wie immer sie auch sich tarnt, zu widerstehen. Ob jedoch einer ein Intellektueller ist, manifestiert sich vor allem im Verhältnis zu seiner eigenen Arbeit und zu dem gesellschaftlichen Ganzen, dessen Teil sie bildet. Dies Verhältnis, nicht die Beschäftigung mit Spezialgebieten wie Erkenntnistheorie, Ethik oder gar Philosophiegeschichte, macht überhaupt das Wesen von Philosophie aus. So hat es ein Philosoph, dem schwerlich jemand die Qualifikation in den besonderen philosophischen Disziplinen wird abstreiten wollen, formuliert. Im ›Deduzierten Plan einer zu Berlin zu errichtenden höheren Lehranstalt‹ – gemeint ist die Universität – sagt Fichte: »Nun ist dasjenige, was die gesamte geistige Tätigkeit, mithin auch alle besonderen und weiter bestimmten Äußerungen derselben wissenschaftlich erfaßt, die Philosophie: von philosophischer Kunstbildung aus müßte sonach den besonderen Wissenschaften ihre Kunst gegeben und das, was in ihnen bisher bloße, vom guten Glück abhängende Naturgabe war, zu besonnenem Können und Treiben erhoben werden; der Geist der Philosophie wäre derjenige, welcher zuerst sich selbst und sodann in sich selber alle anderen Geister verstände; der Künstler in einer besonderen Wissenschaft müßte vor allen Dingen ein philosophischer Künstler werden, und seine besondere Kunst wäre lediglich eine weitere Bestimmung und einzelne Anwendung seiner allgemeinen philosophischen Kunst.« Oder, vielleicht noch schlagender: »Mit diesem also entwickelten philosophischen Geiste, als der reinen Form des Wissens, müßte nun der gesamte wissenschaftliche Stoff in seiner organischen Einheit auf der höheren Lehranstalt aufgefaßt und durchdrungen werden.« Diese Sätze gelten heute nicht weniger als vor hundertundfünfzig Jahren. Der emphatische Begriff von Philosophie, den die Bewegung des deutschen Idealismus intendierte, als der Geist der Zeit mit ihr war, fügte nicht Philosophie als Sparte den Wissenschaften hinzu, sondern suchte sie in der lebendigen Selbstbesinnung des wissenschaftlichen Geistes. Betrachtet man aber den Prozeß der Spezialisierung, der diese Idee von Philosophie zur Phrase von
Festrednern erniedrigte, tatsächlich als ein Schlechtes, als Ausdruck der Verdinglichung des Geistes, die dieser mit der zunehmend verdinglichten Tauschgesellschaft erfuhr, so wird man Philosophie geradezu an der Kraft des Widerstands durchs eigene Denken ablesen können, den der Einzelne der bornierten Aneignung von Kenntnissen, wären es auch die sogenannten Fachphilosophien, entgegensetzt. Das ist nicht falsch zu verstehen. Ich verkenne nicht das Notwendige in der Verselbständigung der Philosophie gegenüber den Einzelwissenschaften. Ohne jene Trennung hätten zumindest die Naturwissenschaften kaum ihren Aufschwung nehmen können. Selbst die Philosophie vermochte vielleicht ihre tiefsten Einsichten erst zu gewinnen, als sie, wie Hegel, willentlich oder unwillentlich vom einzelwissenschaftlichen Betrieb sich losgesagt hatte. Die Wiedervereinigung des Getrennten ist demnach nicht von einem Zauberschlag zu erhoffen; auch das Philosophicum müßte vor dieser Illusion sich hüten. Manche hochentwickelten Geisteswissenschaften, etwa die älteren Philologien, haben solches Eigengewicht angenommen, verfügen über eine derart durchgebildete Methodik und Thematik, daß ihnen die philosophische Selbstreflexion fast unvermeidlich dilettantisch erscheint. Von ihren eigenen Überlegungen führt kaum ein direkter Weg zu philosophischen. Umgekehrt ist auch die Ausbildung der Philosophie zur Spezialdisziplin nicht einfach zu überspringen. Philosophische Selbstbesinnung der einzelnen Wissenschaftszweige unter Verzicht auf die Kenntnis dessen, was nun einmal Fachphilosophie produzierte, hätte leicht etwas Schimärisches. Bewußtsein, das sich verhielte, als wäre es in seinem Material zugleich unmittelbar zur Philosophie, wiche nicht nur vor der Schwere des Materials gar zu leicht ins Unverbindliche aus, sondern wäre überdies verurteilt, amateurhaft auf längst überwundene philosophische Stufen zurückzufallen. Weder übersehe ich diese objektive Schwierigkeit des Examens, noch verschweige ich sie. Aber ich meine, man sollte dabei sich nicht bescheiden, und vor allem: man sollte die Kirche im Dorf lassen. Trifft es schon zu, daß kein so direkter Weg zwischen der einzelwissenschaftlichen Arbeit und der Philosophie offen ist, so bedeutet das doch nicht, daß beide nichts miteinander zu tun hätten. Ein Altgermanist sträubte mit großem Recht sich dagegen, wenn er Lautverschiebungsgesetze
frischfröhlich geschichtsphilosophisch deuten sollte. Aber das Problem etwa, wie das mythische Erbe der Volksreligionen im Nibelungenlied, gegenüber dem Christentum archaisch, zugleich auch in Hagen nachmittelalterlich-protestantische Züge annimmt – gesetzt den Fall, die Episode auf der Donau bedeutete etwas dergleichen –, würde von den Altphilologen als legitim anerkannt und wäre zugleich fruchtbar für die Philosophie. Oder: wenn der großen mittelalterlichen Lyrik in weitem Maß das abgeht, was seit dem ausgehenden achtzehnten Jahrhundert als Naturlyrik mit dem Begriff des Lyrischen so sehr verwachsen ist, dann wäre die Absenz dieses für das spätere lyrische Bewußtsein über eine lange Periode fast selbstverständlichen Moments ebenso ein philosophisches Thema wie eines, das die Altgermanisten interessiert. Solcher Querverbindungen gibt es unzählige, und die Kandidaten könnten wohl aus deren Sphäre Themen auswählen. Schließlich ist für das Verständnis Schillers dessen Verhältnis zu Kant – und dabei meine ich nicht das biographische und geistesgeschichtliche, sondern seinen Niederschlag in der Gestalt der Dramen und Gedichte selbst – essentiell; für das Verständnis Hebbels die geschichtsphilosophische Konzeption, die seine Dramatik trägt. Fast niemals sind mir Themen von der Art vorgeschlagen worden wie die, für welche ich Beispiele improvisierte. Selbstverständlich möchte ich mit all dem nicht sagen, daß eigentlich fachphilosophische Themen auszuschließen seien, oder auch nur, daß sie zu Ausnahmen werden sollten. Aber der Unterschied zwischen Vorschlägen wie den gängigen und solchen, die etwas mit Selbstreflexion, wenn schon nicht auf einzelwissenschaftliche Teilprobleme, so doch auf weitere Komplexe und Arbeitsgebiete zu tun haben, reicht fürs erste aus. Ich für meinen Teil wäre schon zufrieden, wenn die Themenvorschläge auch nur die Tendenz dessen erkennen ließen, was mir vorschwebt. Man hört oft die Klage, Philosophie belaste die zukünftigen Lehrer mit einem weiteren Fach, und gar mit einem, zu dem vielen die Beziehung fehle. Den Vorwurf muß ich zurückgeben: vielfach sind es die Kandidaten, die aus der Prüfung eine Fachprüfung machen, und keineswegs wir. Wenn mir, wie das so heißt, ein Kandidat zugewiesen wird, so pflege ich mich mit ihm über sein eigenes Gebiet zu unterhalten und suche aus diesem eine Themenstellung auszukristallisieren, an der etwas wie das geistige
Selbstverständnis seiner Arbeit zu entnehmen ist. Keineswegs jedoch herrscht darüber eitel Freude und Begeisterung. Im Gegenteil. Ginge es nach den Wünschen der Kandidaten, so müßte man für die schriftliche Arbeit immer wieder Themen rein fachlichen, philosophie-historischen oder philosophisch referierenden Charakters stellen. Rasch genug stößt man darauf, daß einzelne Philosophen und einzelne Schriften – als vermeintlich besonders leicht – beliebt sind; so die ›Meditationen‹ von Descartes, die englischen Empiristen, Shaftesbury, von Kant die ›Grundlegung zur Metaphysik der Sitten‹, ein thematisch so beschränkter Umkreis, daß er mittlerweile bei uns alle möglichen Zweifel erweckt. Kaum lasse ich mich davon überzeugen, daß für einen Germanisten oder Historiker der ›Essay Concerning Human Understanding‹ des von Kant trefflich genannten Locke, der auch für mich gerade keine kurzweilige Lektüre bildet, eine besondere Bedeutung besitze oder ihn nur irgend interessieren könnte; ich lasse mich auch nicht bekehren, wenn der Kandidat, wie es seit neuestem sich einbürgerte, prompte Erklärungen dafür parat hat, warum er den weitschweifigen Urtext des common sense studierte. Nebenbei gesagt, ist die Unterscheidung in leichte und schwierige Philosophen – ich habe den Verdacht, daß ähnlich auch zwischen leichten und schwierigen Examinatoren unterschieden wird – ganz untriftig. Die Abgründe, über die Locke hinweggleitet, gähnen in seinen Texten und mögen zuweilen eine auch nur in sich einstimmige Darstellung prohibitiv erschweren, während ein so verrufener Denker wie Hegel gerade dadurch, daß die Probleme nicht durch gesunde Ansichten zugedeckt, sondern rückhaltlos ausgetragen werden, einen viel höheren Grad an Stringenz erreicht. Der Intellektuelle oder der geistige Mensch dürfte getrost solche Erwägungen anstellen. Will man aber nach dem Wahlspruch safety first das Examen bestehen, indem man möglichst wenig Risiken eingeht, so verstärkt das nicht gerade die geistige Kraft und gefährdet schließlich die ohnehin problematische Sicherheit. Ich hoffe aber, daß darum nun keine Hegelwelle über die Examinatoren sich ergießt. Insistiert man tatsächlich darauf, daß ein Gegenstand gewählt wird, der mit dem besonderen Interessengebiet eines Kandidaten tiefer zusammenhängt als durch die äußerliche Berührung, so gerät man auf die sonderbarsten Schwierigkeiten. Einmal hatte ich die größte Mühe, einen auch nur dazu zu veranlassen, ein solches
Gebiet zu nennen; ihn interessiere alles, sagte er und forderte damit meinen Argwohn heraus, daß nichts ihn interessiere. Schließlich gab er eine bestimmte Periode an, und mir fiel ein Werk ein, das ihrer geschichtsphilosophischen Deutung gilt. Ich schlug ihm vor, über jenes Werk seine Arbeit zu schreiben, und versetzte ihn damit nur in Schrecken. Er fragte mich, ob denn der betreffende Autor auch wirklich, wie es in den Prüfungsforderungen heißt, ein hervorragender und für seine Fächer wichtiger Philosoph sei; der Wortlaut der Paragraphen wird oft zum Mittel, dem sich zu entziehen, was mit ihnen beabsichtigt ist. Wo die Prüfungsordnung Anhaltspunkte gibt, um Examinierten und Examinatoren die Orientierung zu erleichtern, beißen manche Kandidaten sich fest und klammern sich daran, als wären es unverletzliche Normen. Einer hatte als Interessengebiet Leibniz und dessen Kritik an Locke bezeichnet. Als er bei der Wiederholung dasselbe vorschlug und der Prüfende ihm erklärte, er hielte es für unangemessen, abermals mit ihm über die gleichen Dinge sich zu unterhalten, war seine erste Reaktion: ob er denn wiederum mit zwei Philosophen sich zu beschäftigen hätte. Gehandelt wird nach einem Satz von Hofmannsthal, den dieser freilich der von Angst zerfressenen Klytämnestra in den Mund legt: »Es muß für alles richtige Bräuche geben.« Das Bewußtsein der in Rede stehenden Kandidaten sucht überall nach Deckung, Vorschriften, nach bereits Kanalisiertem; ebenso um in eingeschliffenen Bahnen sich zurechtzufinden, wie doch wohl auch, um den Gang des Examens selbst so zu normieren, daß eben jene Fragen unterbleiben, um derentwillen das ganze Examen da ist. Man begegnet, mit einem Wort, dem verdinglichten Bewußtsein. Das aber, die Unfähigkeit, Erfahrungen zu machen und zu irgendeiner Sache frei und autonom sich zu verhalten, ist der offenbare Widerspruch zu all dem, was man vernünftigerweise und ohne Pathos unter dem denken kann, was in der Prüfungsordnung, als Zweck der höheren Schulen, »echte Geistesbildung« heißt. Man gewinnt bei den Verhandlungen über die Themenwahl den Eindruck, als hätten die zu Prüfenden Brechts Satz »Ich will ja gar kein Mensch sein« sich zur Maxime erkoren, auch und gerade wenn sie den Kategorischen Imperativ in seinen verschiedenen Fassungen auswendig gelernt haben. Die über die Zumutung des Faches Philosophie sich entrüsten, sind die gleichen, für die Philosophie nicht mehr bedeutet als ein Fach.
Wir haben aus mehr als einem Grunde gelernt, die schriftlichen Arbeiten in der Beurteilung der Kandidaten nicht zu überschätzen und mehr Gewicht auf die mündliche Prüfung zu legen. Was man aber da hört und sieht, ist kaum viel ermutigender. Drückt ein Kandidat seinen Widerwillen gegen den Anspruch, er solle ein Intellektueller sein, dadurch aus, daß er während des ganzen Examens ostentativ stöhnt, so ist das ja wohl eher eine Sache der Erziehung als des Geistes selbst, obwohl beides mehr miteinander zu tun hat, als einem solchen Kandidaten beikommen mag. Aber das Fachmenschentum feiert, wenn mir diese contradictio in adjecto gestattet ist, seine Orgien im Mündlichen. »Der Bewerber«, heißt es in den Prüfungsforderungen, »soll zeigen, daß er die Grundbegriffe des Philosophen, mit dem er sich abgab, erfaßt hat und deren geschichtlichen Wandel versteht.« Ein über Descartes Befragter konnte, wie üblich, den Gedankengang der ›Meditationen‹ ganz gut referieren. Die Rede kam auf den Begriff der res extensa, der ausgedehnten Substanz, deren bloß mathematisch-räumliche Bestimmung, den Mangel an dynamischen Kategorien in der Cartesianischen Konzeption der Natur. Auf die Frage nach der philosophie-historischen Konsequenz dieses Mangels erklärte der Kandidat, zu seiner Ehre ganz aufrichtig, das wisse er nicht; er hatte also noch nie über den Descartes, den er ganz brav verstand, auch nur so weit hinausgeblickt, um zu sehen, an welcher Insuffizienz des Cartesianischen Systems Leibniz und damit die Entwicklung zu Kant kritisch einsetzte. Die fachliche Konzentration auf einen approbiert großen Philosophen hatte ihn abgebracht von dem, was die Prüfungsordnung verlangt, von der Kenntnis des geschichtlichen Wandels des Problems. Er bestand trotzdem. Ein anderer trug mir mit unangenehmer Flüssigkeit den Gedankengang der beiden ersten Meditationen vor. Ich unterbrach ihn, um herauszufinden, wie es um sein Verständnis bestellt sei, mit der Frage, ob ihn der Zweifelsversuch und der Schluß auf das unbezweifelbare ego cogitans ganz befriedige. Mir schwebte die nicht gerade abgründige Erwägung vor, daß jenes individuelle empirische Bewußtsein, auf das bei Descartes rekurriert wird, selber in die raumzeitliche Welt verflochten ist, aus der es im Sinne der Cartesianischen Betrachtung als ein unverlierbarer Rest herausragen soll. Der Kandidat sah mich für einen Augenblick an, in dem er eher mich einschätzte, als über die Cartesianische Deduktion nachdachte. Das Ergebnis war
offenbar, daß er mich für einen Mann mit Sinn fürs Höhere hielt. Um mir gefällig zu sein, antwortete er: nein – es gibt ja auch die echte Begegnung. Unterstellt sei, er hätte dabei sich wirklich etwas gedacht, also etwa im Hintergrunde seines Bewußtseins sich an die Lehren erinnert, die dem Geist unmittelbares anschauliches Wissen von der Wirklichkeit zutrauen. Jedenfalls verstand er, wenn er so etwas meinte, es nicht zu artikulieren, und Philosophie ist nun einmal, wie unser alter Lehrer Cornelius es definierte, die Kunst, sich auszudrücken. Das Charakteristische an der Antwort ist aber, daß er eine Allerweltsphrase aus der heruntergekommenen und schon an Ort und Stelle fragwürdigen Existentialphilosophie mir an den Kopf warf, im Glauben, dadurch sein Niveau zu demonstrieren und mir womöglich einen namhaften Genuß zu bereiten. Komplementär zu der Tatsachengläubigkeit des Fachmenschen, der jede Besinnung auf das, was nicht der Fall ist, als Belästigung und womöglich als Frevel am wissenschaftlichen Geist empfindet, ist der Glaube an Prestigewörter und magische Wendungen aus dem im heutigen Deutschland durch alle Abzugskanäle gedrungenen Jargon der Eigentlichkeit. Wo die Reflexion der Sache selbst, die geistige Besinnung der Wissenschaft aussetzt, findet an ihrer Stelle die weltanschauliche Phrase sich ein, im Bann jener unseligen deutschen Tradition, derzufolge die edlen Idealisten in den Himmel kommen und die gemeinen Materialisten in die Hölle. Mehr als einmal habe ich es erlebt, daß Studenten, die mich fragten, ob sie in ihren Arbeiten auch ihre eigenen Ansichten sagen dürften, und die ich allzu arglos dazu ermutigte, dann ihre Selbständigkeit unter Beweis stellten durch Sätze wie etwa den, es habe Voltaire, der die Abschaffung der Folter erzwang, an echtem religiösem Empfinden gefehlt. Es zeichnet in dieser Allianz zwischen dem Ungeist des terre à terre und dem Stereotyp amtlich gebilligter Weltanschauung sich eine geistige Verfassung ab, die der totalitären verwandt ist. Der Nationalsozialismus lebt heute ja wohl überhaupt weniger darin nach, daß man noch an seine Doktrinen glaubte – wieweit das überhaupt je der Fall war, ist fraglich –, als in bestimmten formalen Beschaffenheiten des Denkens. Zu ihnen rechnet beflissene Anpassung ans je Geltende, zweiwertige Aufteilung nach Schafen und Böcken, Mangel an unmittelbaren, spontanen Beziehungen zu Menschen, Dingen, Ideen, zwangshafter Konventionalismus, Glaube an Bestehendes um jeden Preis. Derlei Denkstrukturen und
Syndrome sind als solche, dem Inhalt nach, apolitisch, aber ihr Überleben hat politische Implikationen. Das ist vielleicht an dem, was ich mitzuteilen suche, das Ernsteste. Das Flickwerk aus angeeigneten, und das will hier meist sagen, auswendig gelernten Tatsachen und weltanschaulicher Deklamation besagt, daß der Zusammenhang von Sache und Reflexion zerrissen ist. Man konstatiert das in den Examina immer wieder, und muß unmittelbar auf die Absenz dessen schließen, was haben sollte, wer bilden will, nämlich Bildung. Eine Studentin wollte, trotz der Warnung ihres Examinators, mündlich über Henri Bergson sich prüfen lassen. Er fragte sie, um zu sehen, ob sie eine Ahnung hatte von dem, was man geistesgeschichtlichen Zusammenhang nennt, nach Malern etwa aus der Zeit jenes Philosophen, deren Werk mit dem Geist seiner Philosophie etwas zu tun habe. Sie meinte darauf zunächst, das sei der Naturalismus gewesen. Nach Namen gefragt, brachte sie erst Manet hervor, dann Gauguin und schließlich, auf gutes Zureden, Monet. Der Examinator insistierte: wie denn nun jene große malerische Gesamtbewegung aus dem späteren neunzehnten Jahrhundert heiße, und sie antwortete siegesbewußt: Expressionismus. Ach, sie hatte nicht den Impressionismus angegeben sondern nur Bergson, aber lebendige Bildung bestünde genau darin, daß solche Beziehungen wie die zwischen der Lebensphilosophie und der impressionistischen Malerei erfahren sind. Wer davon nichts versteht, kann auch Bergson selber nicht verstehen; die Kandidatin war denn auch tatsächlich zum Referat der beiden Schriften, die sie gelesen haben wollte, ›Introduction à la métaphysique‹ und ›Matière et mémoire‹, ganz unfähig. Würde uns etwa entgegengehalten, wie man denn nun jene Art von Bildung sich erwerben könne, die einem erlaube, Bergson und den Impressionismus zu assoziieren, so bereitete das uns Philosophie-Examinatoren Verlegenheit. Denn Bildung ist eben das, wofür es keine richtigen Bräuche gibt; sie ist zu erwerben nur durch spontane Anstrengung und Interesse, nicht garantiert allein durch Kurse, und wären es auch solche vom Typus des Studium generale. Ja, in Wahrheit fällt sie nicht einmal Anstrengungen zu sondern der Aufgeschlossenheit, der Fähigkeit, überhaupt etwas Geistiges an sich herankommen zu lassen und es produktiv ins eigene Bewußtsein aufzunehmen, anstatt, wie ein unerträgliches Cliché lautet, damit, bloß lernend, sich auseinanderzusetzen. Fürchtete ich
nicht das Mißverständnis der Sentimentalität, so würde ich sagen, zur Bildung bedürfe es der Liebe; der Defekt ist wohl einer der Liebesfähigkeit. Anweisungen, wie das zu ändern sei, sind prekär; es wird darüber meist in einer frühen Phase der Kindheitsentwicklung entschieden. Aber wem es daran gebricht, der sollte kaum andere Menschen unterrichten. Er wird nicht nur jenes Leiden in der Schule perpetuieren, das die Dichter vor sechzig Jahren anklagten, und das man, wahrscheinlich zu Unrecht, für längst beseitigt hält, sondern der Defekt wird sich in den Schülern fortsetzen und ad infinitum jenen geistigen Zustand zeitigen, den ich nicht für unschuldige Naivetät halte, sondern der mitverantwortlich war am Unheil des Nationalsozialismus. Am drastischesten verrät sich der Mangel im Verhältnis zur Sprache. Nach dem Paragraphen 9 der Prüfungsordnung ist auf die sprachliche Form besonders zu achten; bei ernsten sprachlichen Mängeln müsse die Arbeit als ungenügend bezeichnet werden. Wohin es käme, wenn die Examinatoren daran sich hielten, wage ich nicht auszumalen; ich fürchte, es könnte dann nicht einmal mehr der dringlichste Bedarf an Lehrernachwuchs befriedigt werden, und es erstaunte mich nicht, wenn manche Kandidaten eben darauf sich verließen. Vom Unterschied zwischen der Sprache als einem Mittel der Kommunikation und der als einem des präzisen Ausdrucks der Sache ahnen nur die wenigsten etwas; sie meinen, es genüge, daß man sprechen kann, damit man schreiben könne, während freilich, wer nicht schreiben kann, meist auch nicht zu sprechen vermag. Ich hoffe, nicht zu den laudatores temporis acti zu zählen, aber die Erinnerung an meine Gymnasialzeit ruft mir Lehrer herauf, deren sprachliche Sensibilität – nein, deren einfache Korrektheit im Ausdruck doch von der heute vorherrschenden Schlamperei sich sehr unterschied, einer Schlamperei übrigens, die sich wahrscheinlich vor sich selber rechtfertigt mit der Berufung auf den allgemein herrschenden Sprachgebrauch, und die tatsächlich den objektiven Geist widerspiegelt. Mit schulmeisterlicher Pedanterie pflegt Schlamperei trefflich sich zu vertragen. Sobald ich bei der Besprechung des Themas der Staatsexamensarbeit den Eindruck gewinne, daß der Kandidat des sprachlichen Verantwortungsgefühls enträt – und die Reflexion auf die Sprache ist das Urbild einer jeglichen philosophischen –, pflege ich ihn auf jene Bestimmung der Prüfungsordnung aufmerksam zu machen und ihm vorweg zu
schildern, wessen ich in diesen Arbeiten gewärtig bin. Daß solche Paränesen so wenig fruchten, scheint anzuzeigen, daß es sich um mehr als bloße Laxheit handelt: um den Verlust der Beziehung zwischen den Kandidaten und der Sprache, die sie sprechen. Arbeiten minderen Ranges wimmeln von grammatischen und syntaktischen Fehlern. Die niedrigsten Clichés, wie »in etwa«, wie das »echte Anliegen« und jene »Begegnung« werden ungeniert gebraucht, ja mit Gusto, als wäre die Verfügung über Phrasen Zeichen dafür, daß man auf der Höhe der Epoche sich befindet. Am schlimmsten ist es mit der Verknüpfung der Sätze bestellt. Im Hintergrund des Bewußtseins steht wohl die Erinnerung daran, ein philosophischer Text müßte einen logischen Zusammenhang oder einen der Begründung bilden. Dem entsprechen jedoch keineswegs die Beziehungen zwischen den Gedanken selbst oder vielmehr zwischen den Behauptungen, die so vielfach Gedanken bloß vortäuschen. Pseudologische und pseudokausale Beziehungen werden durch Partikeln hergestellt, die auf der sprachlichen Oberfläche die Sätze zusammenkleistern, beim Durchdenken der Sache selbst jedoch gegenstandslos sind; so etwa wird von zwei Sätzen der eine sprachlich als Folgerung aus dem andern vorgeführt, während beide logisch auf der gleichen Stufe stehen. Was Stil sei, ist den meisten Kandidaten, mögen sie auch Sprachwissenschaft studiert haben, überhaupt noch nicht aufgegangen; statt dessen suchen sie mühsam und gekünstelt aus der Art des Redens, die ihnen geläufig ist, das aus, was sie zu Unrecht für den Ton der Wissenschaft halten. Die Sprache der Arbeiten wird noch unterboten von der beim mündlichen Examen. Vielfach ist es ein Gestammel, durchwachsen von einschränkenden und unbestimmten Phrasen wie »gewissermaßen«, die im gleichen Augenblick, wo man etwas sagt, schon wieder die Verantwortung fürs Gesagte abschieben möchten. Fremdwörter, selbst Namen aus fremden Sprachen, bilden Hürden, die selten überstiegen werden, ohne daß die Hürde oder der Kandidat Schaden nähme; die meisten etwa, die als Examens-Philosophen den offenbar als leicht eingestuften Hobbes sich erkoren haben, werden von diesem als Hob bes reden, wie wenn das bes jenem Dialekt entlehnt wäre, in dem »etwas« ebbes lautet. Überhaupt der Dialekt. Von Bildung ist wohl zu erwarten, daß sie das Ungeschliffene der regionalen Sprache zu milderen Sitten gewöhnt. Davon kann keine Rede sein.
Der Konflikt zwischen dem Hochdeutschen und dem Dialekt endet mit einem Remis, an dem niemand seine Freude hat, nicht einmal der zukünftige Lehrer selbst, dessen Mißvergnügen in jedem Wort scheppert. Die Nähe des Dialekts zum Redenden, das Moment, daß er, wo dieser Dialekt noch bäuerlich ist, wenigstens in seiner Sprache selber rede, so, wie es populär heißt, »wie ihm der Schnabel gewachsen ist«, ging verloren; die objektive Hochsprache aber ist nicht erreicht, sondern bleibt entstellt von den Narben des Dialekts; es klingt so, wie jene Jünglinge in Kleinstädten aussehen, die man, damit sie beim Sonntagsandrang aushelfen, in Kellnerfräcke steckt, die ihnen nicht sitzen 1 . Ich will gewiß nichts gegen die freundliche Institution der akademischen Ausländerkurse im Deutschen sagen, aber Kurse für Inländer wären doch vielleicht noch wichtiger, wenn sie auch nicht mehr erreichten, als dem zukünftigen Lehrer jenen Tonfall abzugewöhnen, in dem die Brutalität des Rustikalen mit der zukünftigen pädagogischen Würde trüb sich vermischt. Komplementär zu dem Vulgären verhält sich das Hochtrabende, die Neigung zu Wörtern, die außerhalb des Erfahrungshorizonts der Sprecher liegen, und die deshalb aus ihrem Munde so herauskommen, als wären sie jene Fremdwörter, derentwegen sie vermutlich einmal ihre Schüler schikanieren werden. Solche Ausdrücke sind fast stets herabgesunkenes Kulturgut der Oberschicht oder, weniger wissenschaftlich gesprochen, abgetragene Kavaliersgarderobe, die in den sogenannten pädagogischen Sektor erst gelangt, nachdem sie im Bereich freien Geistes niemand mehr anrührte. Zur Bildung gehört Urbanität, und ihr geometrischer Ort ist die Sprache. Keinem Menschen ist es vorzuhalten, daß er vom Lande stammt, aber auch keiner dürfte daraus sich ein Verdienst machen und dabei beharren; wem die Emanzipation von der Provinz mißglückte, der steht zur Bildung exterritorial. Die Pflicht zur Entprovinzialisierung anstelle der hilflosen Nachahmung dessen, was man für gebildet hält, wäre von denen, die andere etwas lehren wollen, mit Nachdruck dem eigenen Bewußtsein zuzueignen. Die fortdauernde Divergenz von Stadt und Land, die kulturelle Ungeformtheit des Agrarischen, dessen Überlieferungen unterdessen hinab und nicht mehr zu erwecken sind, ist eine der Gestalten, in denen die Barbarei sich perpetuiert. Es geht dabei nicht um Finessen geistiger und sprachlicher Eleganz. Das Individuum wird mündig überhaupt nur dann, wenn es aus der
Unmittelbarkeit von Verhältnissen sich löst, die keineswegs naturwüchsig sind, sondern bloß noch Rückstand überholter historischer Entwicklung, eines Toten, das nicht einmal von sich selbst weiß, daß es tot ist. Ist man mit dem Fluch der exakten Phantasie geschlagen, so kann man sich ganz gut vorstellen, wie es zur Berufswahl kam: die Familienberatung, was der Junge anfangen solle, damit er es im Leben zu etwas bringe, vielleicht, nachdem man bezweifelt, daß er aus Eigenem, ohne den Schutz einer von Befähigungsnachweisen eingehegten Karriere es schaffen könnte; örtliche Honoratioren mögen dabei ermunternd mittun, auf ihre Beziehungen sich verlassen, man wird die praktischsten Fächerkombinationen gemeinsam auskochen. Hereinspielt jene schmähliche, nicht nur in Deutschland verbreitete Mißachtung des Lehrerberufs, die dann wieder die Kandidaten dazu bewegt, allzu bescheidene Ansprüche an sich zu stellen. Viele haben in Wirklichkeit resigniert, ehe sie auch nur anfangen, und sind dann sich selbst so wenig gut wie dem Geist. Ich spüre die erniedrigende Notwendigkeit in all dem, die den Widerstand dagegen vorweg paralysiert. Die Situation, in der jener Typus Abiturient sich befindet, läßt ihm wahrscheinlich wirklich kaum eine andere Wahl. Er wäre überfordert, wenn man ihm zumuten wollte, daß er das Fragwürdige seines Beginnens im Augenblick jener Entscheidung über seine Zukunft durchschaute. Sonst wäre bereits der Bann gelöst, der dann als Habitus geistiger Unfreiheit im Examen offenbar wird. Die Menschen, an die ich denke, sind in einen verhängnisvollen Zirkel eingespannt; ihr Interesse nötigt sie zu der falschen Entscheidung, deren Opfer sie schließlich selbst werden. Nichts wäre ungerechter, als daraus ihnen einen Vorwurf zu machen. Aber wenn der Gedanke an Freiheit überhaupt noch einen Sinn haben soll, dann wäre es der, daß die Ungeeigneten an dem Punkt ihrer Entwicklung, an dem ihnen die Schwierigkeit, der Bruch zwischen ihrer Existenz und ihrem Beruf und allem, was damit zusammenhängt, bewußt wird – und auf der Universität muß unweigerlich irgendwann einmal dieses Bewußtsein sich herstellen –, die Konsequenzen ziehen. Entweder müßten sie dann rechtzeitig den Beruf aufgeben, mit dessen Begriff sie nicht übereinstimmen – während der Hochkonjunktur gilt kaum die Ausflucht, daß andere Möglichkeiten versperrt wären –, oder sie müßten mit aller Energie der Selbstkritik dem Zustand sich stellen,
von dem ich einige Symptome genannt habe, und müßten ihn zu ändern versuchen. Eben dieser Versuch, gar kein fixiertes Resultat, wäre die Bildung, welche die Kandidaten erwerben sollen und, so möchte ich hinzufügen, auch das, was an Philosophie im Examen verlangt wird; daß den zukünftigen Lehrern ein Licht aufgeht in dem, was sie selbst tun, anstatt daß sie darin begriffslos befangen bleiben. Die Handicaps, unter denen, wie ich wohl weiß, viele stehen, sind keine Invarianten. Selbstreflexion und kritische Anstrengung haben darum ihre reale Möglichkeit. Sie wäre das Gegenteil jenes blinden und verbissenen Fleißes, zu dem die Majorität sich einmal entschlossen hat. Er widerspricht der Bildung und der Philosophie, weil er von vornherein definiert wird von der Aneignung eines bereits Vorgegebenen und Gültigen, in der das Subjekt, der Lernende selbst, sein Urteil, seine Erfahrung, das Substrat von Freiheit abwesend sind. Denn was mich an den Prüfungen eigentlich bestürzt, ist der Bruch zwischen dem, was philosophisch gearbeitet und vorgebracht wird, und den lebendigen Subjekten. Während deren Beschäftigung mit Philosophie die Identität ihres wahrhaften Interesses mit dem Fachstudium, zu dem sie sich entäußern, befördern sollte, setzt sie die Selbstentfremdung nur weiter fort. Diese steigert sich womöglich noch, indem die Philosophie als ein Ballast empfunden wird, der am Erwerb nützlicher Kenntnisse, entweder an der Vorbereitung in den Hauptfächern und damit am Fortkommen oder an der Aneignung von Wissensstoff für den Beruf hindert. Die abgeprüfte Philosophie ist in ihr Gegenteil umgeschlagen; anstatt die Adepten zu sich selbst zu bringen, taugt sie nur noch dazu, ihnen und uns vor Augen zu führen, wie sehr Bildung mißlang, nicht nur an den Kandidaten sondern überhaupt. Das Surrogat, an das sie sich dafür halten, ist der Begriff der Wissenschaft. Einmal meinte er, als Forderung, nichts unbesehen und ungeprüft zu akzeptieren, Freiheit, die Emanzipation von der Bevormundung durch heteronome Dogmen. Heute ist Wissenschaftlichkeit in einem Maß, vor dem einen schaudert, ihren Jüngern zu einer neuen Gestalt der Heteronomie geworden. Man wähnt, wenn man nach wissenschaftlichen Regeln sich richtet, dem wissenschaftlichen Ritual gehorcht, mit Wissenschaft sich umgibt, gerettet zu sein. Wissenschaftliche Approbation wird zum Ersatz der geistigen Reflexion des Tatsächlichen, in der Wissenschaft erst bestünde. Der
Panzer verdeckt die Wunde. Das verdinglichte Bewußtsein schaltet Wissenschaft als Apparatur zwischen sich selbst und die lebendige Erfahrung. Je tiefer man ahnt, daß man das Beste vergessen hat, desto mehr tröstet man sich damit, daß man über die Apparatur verfügt. Immer wieder werde ich von Kandidaten gefragt, ob sie Sekundärliteratur benutzen dürfen, sollen, müssen, und was ich empfehle. Nun ist stets die Kenntnis von Sekundärliteratur gut, damit man nicht hinter den Stand der bereits erreichten Kenntnisse zurückfällt und womöglich den Nordpol noch einmal entdeckt. Wer sich wissenschaftlich qualifizieren will, soll schließlich auch zeigen, daß er die Spielregeln wissenschaftlicher Arbeit beherrscht. Aber die Sorge um die Sekundärliteratur meint oft etwas ganz anderes. Einmal die Erwartung, daß man dort die Gedanken findet, die man, in masochistischer Selbsteinschätzung, vorweg sich nicht zutraut; dann aber hofft man, vielleicht gar nicht bewußt, durch wissenschaftliches Brimborium, durch Zitieren, reichhaltige Literaturverzeichnisse und Verweise der mystischen Gnadenwahl der Wissenschaft teilhaftig zu werden. Man will wenigstens einer der Ihren sein, weil man sonst nichts ist. Ich neige nicht zur existentialistischen Philosophie, aber an solchen Momenten hat sie ein Wahrheitsmoment. Wissenschaft als Ritual dispensiert vom Denken und von der Freiheit. Sie hören, die Freiheit müsse gerettet werden, sie sei vom Osten her bedroht, und ich mache mir keine Illusionen über die Reglementierung des Bewußtseins jenseits der Zonengrenze. Aber manchmal scheint es mir, als wäre die Freiheit schon unterhöhlt auch bei denen, die sie formell noch haben; als gliche ihr geistiger Habitus bereits dem regressiven sich an, auch wo er nicht eigens verordnet ist; als wartete irgend etwas in den Menschen selbst auf jene Entlastung von der Autonomie, die alles meinte, was in Europa einmal zu achten und zu erhalten war. In der Unfähigkeit des Gedankens, sich zu erheben, lauert bereits das Potential, sich einzugliedern und irgendeiner Autorität so sich zu unterwerfen, wie man jetzt schon konkretistisch, willfährig an Bestehendem haftet. Manche werden den Bann womöglich noch vor sich selbst glorifizieren als das, was der Jargon der Eigentlichkeit echte Bindung nennt. Aber sie täuschen sich. Sie sind nicht über die Isolierung autonomen Geistes hinaus, sondern hinter der Individuation zurück und können darum auch diese nicht, wie sie sich einbilden mögen, überwinden.
Der Gedanke ans praktische Vorwärtskommen wird bei vielen eine so eiserne Vormacht innehaben, daß nichts im Ernst ihm gegenüber erwogen wird. Ihre Haltung ist automatische Abwehr; darum weiß ich nicht, ob ich sie überhaupt erreiche. Dem verdinglichten Bewußtsein ist eigentümlich, sich in sich selbst einzurichten, bei sich selbst, bei der eigenen Schwäche zu beharren und sich um jeden Preis ins Recht zu setzen. Immer wieder staune ich über den Scharfsinn, den noch die Stumpfesten aufbringen, wenn es gilt, Schlechtes zu verteidigen. Man könnte mir entgegnen, ohne daß dem viel zu widersprechen wäre, jener Zustand sei bekannt, aber man vermöchte nichts dagegen. Stütze dessen wären generelle Besinnungen wie die, woher irgend jemand denn heute den Strahl jenes Sinns nehmen sollte, der ihm die eigene Arbeit erhellt. Man könnte weiter – und hier wäre ich der erste zuzustimmen – daran erinnern, daß soziale Bedingungen wie die Herkunft, über die niemand Macht habe, die Schuld dafür trügen, daß man dem emphatischen Begriff von Bildung nicht genügen könnte: die meisten seien um die allem ausdrücklichen Unterricht vorhergehenden Erfahrungen betrogen worden, von denen Bildung sich nährt. Man könnte weiter auf die Unzulänglichkeit der Universität, auf deren eigenes Versagen verweisen: vielfach gewährt sie selbst das nicht, was wir an den Kandidaten vermissen. Schließlich könnte man wieder einmal auf die Überbürdung mit Wissensstoff aufmerksam machen und auf die peinliche Examenssituation. Ich will nicht darüber rechten, wieviel von all dem zutrifft und was daran Vorwand ist; es gibt Einsichten, die an sich wahr sind, aber unwahr werden, sobald man sie für enge Interessen einspannt. So viel würde ich konzedieren, daß in einem Zustand, in dem die virtuelle Abhängigkeit aller vom übermächtigen Gesamtgefüge die Möglichkeit von Freiheit auf ein Minimum reduziert, der Appell an die Freiheit des Einzelnen etwas Hohles hat; Freiheit ist kein Ideal, das unveräußerlich und unveränderlich über den Häuptern der Menschen hängt – das Bild erinnert nicht umsonst an das Damoklesschwert –, sondern ihre Möglichkeit selbst variiert mit dem geschichtlichen Augenblick. Im gegenwärtigen ist immerhin der wirtschaftliche Druck auf den meisten kaum so unerträglich, daß er die Selbstbesinnung und die Selbstreflexion der Sache in sich verschlüge: es ist mehr das Gefühl der gesamtgesellschaftlichen Ohnmacht, einer universalen
Abhängigkeit, die es zur Kristallisation der eigenen Bestimmung gar nicht mehr kommen läßt, als die materielle Not alten Stils. Aber kann man denn von einem Menschen verlangen, daß er fliege? Ist der Enthusiasmus, wie ihn Platon, der schließlich wußte, was Philosophie sei, für deren wichtigste subjektive Bedingung hielt, etwas, was sich verordnen läßt? Die Antwort darauf ist nicht so einfach, wie sie dem abwehrenden Gestus dünkt. Denn dieser Enthusiasmus ist ja keine zufällige und etwa bloß vom biologischen Stadium der Jugend abhängige Phase. Sie hat einen objektiven Gehalt, das Ungenügen an der bloßen Unmittelbarkeit der Sache, die Erfahrung ihres Scheins. Über diesen sich zu erheben, wird aber von ihr selbst gefordert, sobald man sich guten Willens in sie versenkt. Die Erhebung, die ich meine, ist eins mit der Versenkung. Was fehlt, spürt ein jeder im Grunde selbst; ich weiß, daß ich nichts Neues sagte, sondern allenfalls einiges, was manche sich nicht eingestehen mögen. Aufs dringendste wären anzuraten Schellings ›Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums‹. Inmitten seines identitätsphilosophischen Ansatzes sind viele Motive dessen zu entdecken, wozu ich von ganz anderen Voraussetzungen aus gelangte; erstaunlich, daß die Situation im Jahre 1803, auf dem Höhepunkt der deutschen philosophischen Bewegung, mit Rücksicht auf das in Rede Stehende gar nicht so verschieden ist von der Gegenwart, in der Philosophie nicht mehr die gleiche Autorität ausübt. An den zukünftigen Lehrern wäre es nicht so sehr, sich zu etwas zu bekehren, was ihnen fremd und gleichgültig ist, als dem Bedürfnis zu folgen, das in ihrer Arbeit sich aufdrängt, und es nicht durch den vorgeblichen Zwang des Studiums sich ausreden zu lassen. Mit dem Geist mag es heute fragwürdiger bestellt sein als damals, und Idealismus predigen wäre komisch, selbst wenn er noch seine verlorene philosophische Aktualität hätte. Aber der Geist selbst trägt als nicht sich Bescheiden bei dem, was der Fall ist, jenen Schwung in sich, dessen es subjektiv bedürfte. Die Verpflichtung, seiner Bewegung sich anzuvertrauen, hat jeder unterschrieben, der einen geistigen Beruf wählte. Diese Verpflichtung sollte nicht weniger honoriert werden, als man etwa erwartet, daß der Prüfungsordnung gemäß verfahren wird. Niemand sollte mit einer Abgebrühtheit, die sich als Überlegenheit maskiert, von sich abschieben, was ich ausdrücken wollte und vielleicht gar nicht ganz deutlich ausdrücken konnte. Besser wäre es, dem
nachzugehen, was ein jeder einmal sich versprochen und erwartet haben muß. Man darf sich nicht dabei beruhigen, es sei nun einmal so schlimm, und man könne nichts dagegen tun, sondern es ist über jene Fatalität und über ihre Konsequenzen für die eigene Arbeit, auch fürs Examen, nachzudenken. Das wäre der Anfang jener Philosophie, die nur denen sich verschließt, die sich gegen die Gründe verblenden, warum sie sich ihnen verschließt.
Fußnoten 1 Zuschriften veranlassen mich zu einer Verdeutlichung. Ich meine nicht, Bildung bestehe darin, daß jeder Anklang des Dialekts in einer erbarmungslosen Hochsprache ausgemerzt würde. Die einfachste Erfahrung etwa der Wiener Tönung belehrt darüber, wie sehr sprachliche Humanität gerade in solchen Anklängen sich verwirklicht. Aber der Unterschied zwischen einem Deutsch, das den Dialekt seiner Roheit entäußert, indem er seine Spur versöhnlich in sich aufnimmt, von einem Idiom, in dem beide Sprachschichten hoffnungslos unverträglich bleiben, und in dem pedantische Korrektheit Lügen gestraft wird von Resten formlosen Dialekts – dieser Unterschied ist einer ums Ganze. Es ist kein anderer als der zwischen Kultur, wie sie, was für Natur einsteht, in sich aufhebt, und einem Mechanismus realer Unterdrückung, der im Geist sich fortsetzt. In seinem Bann kehrt das verdrängte Naturhafte entstellt nur und zerstörend wieder. Ob ein Mensch sprachliches Organ hat: seine Bildung zeigt sich gerade daran, daß er solche Nuancen wahrzunehmen vermag.
Notiz über Geisteswissenschaft und Bildung Unter den Aspekten der gegenwärtigen Universität, denen gegenüber der Ausdruck Krise mehr ist als bloße Phrase, möchte ich einen hervorheben, den ich gewiß nicht entdeckt habe, der jedoch in der öffentlichen Diskussion kaum die genügende Aufmerksamkeit fand. Er hängt zusammen mit jenem Komplex, der als Divergenz von Bildung und fachlicher Schulung bekannt ist, deckt sich aber keineswegs damit. Auszudrücken ist er nicht leicht; das Vage und Thesenhafte des improvisierten Versuchs bedarf der Entschuldigung. Er gilt der Frage, ob der Universität heute Bildung dort noch gelinge, wo sie nach Thematik und Tradition an deren Begriff festhält, also in den sogenannten Geisteswissenschaften; ob im allgemeinen der Akademiker durch deren Studium überhaupt noch jene Art geistiger Erfahrung gewinnen kann, die vom Begriff Bildung gemeint war, und die im Sinn der Gegenstände selber liegt, mit denen er sich befaßt. Vieles spricht dafür, daß von eben dem Begriff der Wissenschaft, wie er nach dem Verfall der großen Philosophie aufkam und seitdem eine Art Monopol erlangte, jene Bildung unterhöhlt wird, welche er kraft des Monopols beansprucht. Wissenschaftliche Disziplin ist eine geistige Gestalt dessen, was Goethe wie Hegel als Entäußerung forderten: Hingabe des Geistes an ein ihm Entgegenstehendes und Fremdes, in der er erst seine Freiheit gewinnt. Wer solcher Disziplin sich entzogen hat, wird durch amateurhaftes Drauflosdenken und versiertes Geschwätz leicht nur unter das Niveau dessen herabsinken, wogegen er legitimen Widerwillen empfand; unter die heteronom ihm aufgedrungene Methode. Aber jene Disziplin und die Vorstellung von Wissenschaft, die ihr entspricht, und die mittlerweile zum Widerspiel dessen wurde, was Fichte, Schelling, Hegel unter dem Wort sich vorstellten, hat auf Kosten des ihr konträren Moments verhängnisvolles Übergewicht erlangt, ohne daß es dekretorisch sich zurücknehmen ließe. Spontaneität, Imagination, Freiheit zur Sache sind allen anders lautenden Erklärungen zum Trotz durch die allgegenwärtige Frage »Ist das auch Wissenschaft?« so eingeengt, daß der Geist noch in seinem einheimischen Bereich droht, entgeistet zu werden. Die Funktion des Wissenschaftsbegriffs ist umgeschlagen. Die vielberufene methodische Sauberkeit,
allgemeine Kontrollierbarkeit, der Consensus der zuständigen Gelehrten, die Belegbarkeit aller Behauptungen, selbst die logische Stringenz der Gedankengänge ist nicht Geist: das Kriterium des Hieb- und Stichfesten wirkt jenem immer zugleich auch entgegen. Wo der Konflikt gegen die unreglementierte Einsicht entschieden ist, kann es zur Dialektik der Bildung, zum inwendigen Prozeß von Subjekt und Objekt gar nicht kommen, den man im Humboldtschen Zeitalter konzipierte. Organisierte Geisteswissenschaft ist Bestandsaufnahme und Reflexionsform des Geistes eher als dessen eigenes Leben; als Unähnliches will sie ihn erkennen und erhebt die Unähnlichkeit zur Maxime. Setzt sie sich aber an seine Stelle, so verschwindet er, auch in der Wissenschaft selbst. Das geschieht, sobald Wissenschaft als einziges Organon von Bildung sich betrachtet, und die Einrichtung der Gesellschaft sanktioniert kein anderes. Zur Intoleranz gegen den Geist, der ihr nicht gleicht, neigt Wissenschaft offenbar um so mehr, pocht um so mehr auf ihr Privileg, je tiefer sie ahnt, daß sie das nicht gewährt, was sie verspricht. An der Enttäuschung vieler geisteswissenschaftlicher Studenten in den ersten Semestern ist nicht nur deren Naivetät schuld, sondern ebenso, daß die Geisteswissenschaften jenes Moment von Naivetät, von Unmittelbarkeit zum Objekt eingebüßt haben, ohne das Geist nicht lebt; ihr Mangel an Selbstbesinnung dabei ist nicht weniger naiv. Noch wo sie weltanschaulich dem Positivismus opponieren, sind sie insgeheim unter den Bann der positivistischen Denkmanier geraten, den eines verdinglichten Bewußtseins. Disziplin wird, im Einklang mit einer gesellschaftlichen Gesamttendenz, zum Tabu über alles, was nicht das je Gegebene stur reproduziert; eben das aber wäre die Bestimmung des Geistes. An einer ausländischen Universität wurde einem Studenten der Kunstgeschichte gesagt: Sie sind hier nicht, um zu denken, sondern um zu forschen. Das wird zwar in Deutschland, aus Respekt vor einer Tradition, von der wenig mehr übrig ist als solcher Respekt, nicht mit so dürren Worten ausgesprochen, läßt aber auch hierzulande die Gestalt der Arbeit nicht unberührt. Die Verdinglichung des Bewußtseins, die Verfügung über seine eingeschliffenen Apparaturen schiebt sich vielfach vor die Gegenstände und verhindert die Bildung, die eins wäre mit dem Widerstand gegen Verdinglichung. Das Geflecht, mit welchem die organisierte Geisteswissenschaft ihre Gegenstände überzogen hat,
wird tendenziell zum Fetisch; was anders ist zum Exzeß, für den in der Wissenschaft kein Raum sei. Der philosophisch dubiose Kultus der Ursprünglichkeit, der von der Heideggerschen Schule betrieben wird, hätte schwerlich die geisteswissenschaftliche Jugend so sehr fasziniert, käme er nicht auch einem wahrhaften Bedürfnis entgegen. Sie merken täglich, daß wissenschaftliches Denken, anstatt die Phänomene aufzuschließen, sich bei deren je schon zugerichteter Gestalt bescheidet. Indem jedoch der gesellschaftliche Prozeß verkannt wird, der das Denken verdinglicht, machen sie Ursprünglichkeit selbst wiederum zu einer Branche, zur angeblich radikalen und eben darum spezialistischen Frage. Was das verdinglichte wissenschaftliche Bewußtsein anstelle der Sache begehrt, ist aber ein Gesellschaftliches: Deckung durch den institutionellen Wissenschaftszweig, auf welchen jenes Bewußtsein als einzige Instanz sich beruft, sobald man es wagt, an das sie zu mahnen, was sie vergessen. Das ist der implizite Konformismus der Geisteswissenschaft. Prätendiert sie, geistige Menschen zu bilden, so werden diese eher von ihr gebrochen. Sie errichten in sich eine mehr oder minder freiwillige Selbstkontrolle. Diese veranlaßt sie zunächst dazu, nichts zu sagen, was den etablierten Spielregeln ihrer Wissenschaft nicht gehorcht; allmählich verlernen sie, es auch nur wahrzunehmen. Selbst geistigen Gebilden gegenüber fällt es nachgerade den akademisch mit ihnen Befaßten schwer, etwas anderes zu denken als das, was dem unausdrücklichen und deshalb um so mächtigeren Wissenschaftsideal entspricht. Seine repressive Gewalt beschränkt sich keineswegs auf bloße Lern- oder technische Fächer. Das Diktat, das in diesen die praktische Verwendbarkeit ausübt, hat auch die ergriffen, die solche Verwendbarkeit nicht beanspruchen können. Denn dem Begriff der Wissenschaft, der sich unaufhaltsam ausbreitete, seitdem sie und die Philosophie, aus beider Schuld und zu beider Schaden, auseinanderbrachen, ist die Entgeistung immanent. Bewußtlos schaltet akademische Bildung auch dort, wo sie es thematisch mit Geistigem zu tun hat, einer Wissenschaft sich gleich, deren Maß das Vorfindliche, Tatsächliche und seine Aufbereitung ist – jene Faktizität, bei der nicht sich zu bescheiden das Lebenselement des Geistes wäre. Wie tief Entgeistung und Verwissenschaftlichung miteinander verwachsen sind, zeigt sich daran, daß dann als Gegengift fertige Philosopheme von außen herangeholt werden.
Man infiltriert sie den geisteswissenschaftlichen Interpretationen, um ihnen den mangelnden Glanz zu verleihen, ohne daß sie aus der Erkenntnis der geistigen Gebilde selbst heraussprängen. Mit komischer Bedeutsamkeit wird dann aus diesen immer wieder, differenzlos, das Gleiche herausgelesen. Zwischen Geist und Wissenschaft lagert sich ein Vakuum. Nicht nur die Fachausbildung, sondern auch Bildung selber bildet nicht mehr. Sie polarisiert sich nach den Momenten des Methodischen und des Informatorischen. Der gebildete Geist wäre demgegenüber ebenso eine unwillkürliche Reaktionsform wie seiner selbst mächtig. Nichts steht dem mehr im Bildungswesen bei, auch die hohen Schulen nicht. Verfemt die unreflektierte Verwissenschaftlichung zunehmend den Geist als eine Art von Allotria, dann verstrickt sie sich tiefer stets in den Widerspruch zum Gehalt dessen, womit sie sich befaßt, und zu dem, was sie für ihre Aufgabe hält. Sollen die Universitäten anderen Sinnes werden, so wäre in die Geisteswissenschaften nicht weniger einzugreifen als in die Fächer, vor denen jene zu Unrecht den Geist vorauszuhaben sich einbilden.
Jene zwanziger Jahre
Für Daniel-Henry Kahnweiler
Schlagworte machen sich verdächtig nicht bloß durch ihre Funktion, den Gedanken zur Spielmarke zu degradieren; sie sind auch Index ihrer eigenen Unwahrheit. Was das öffentliche Bewußtsein heute, zumal die Mode der Revivals den zwanziger Jahren zuschreibt, war damals, spätestens 1924, schon im Verblassen; die heroischen Zeiten der neuen Kunst lagen vielmehr um 1910, die des synthetischen Kubismus, des deutschen Frühexpressionismus, der freien Atonalität Schönbergs und seiner Schule. Darauf hat jüngst Adolf Frisé in einem Radiogespräch mit Lotte Lenya hingewiesen. Deutlich kann ich mich daran erinnern, daß ich nach einem Fest der IGNM, das in Frankfurt 1927 stattfand, einen Aufsatz ›Die stabilisierte Musik‹ veröffentlichte. Jene Phänomene der Rückbildung, der Neutralisierung, des Kirchhoffriedens, die man gemeinhin erst dem Druck des nationalsozialistischen Terrors zuschreibt, bildeten sich schon in der Weimarer Republik, überhaupt in der liberalen kontinental-europäischen Gesellschaft heraus. Die Diktaturen widerfuhren jener Gesellschaft nicht derart von außen, wie Cortez in Mexiko einbrach, sondern wurden von der sozialen Dynamik nach dem ersten Weltkrieg gezeitigt und warfen ihren Schatten voraus. Unmittelbar evident ist das an den Produkten der von hochkonzentrierter wirtschaftlicher Macht gesteuerten Massenkultur. Hört man die Schallplatten, die neuerdings Schlager, Songs, Chansons aus den zwanziger Jahren wieder beleben, so überrascht, wie wenig in der ganzen Sphäre sich geändert hat. Wie in der Mode wechselt die Aufmachung; die Sache selbst, eine konventionelle, auf die bedingten Reflexe der Konsumenten zugeschnittene Sprache aus Signalen war wesentlich dieselbe, der Jazz etwa eine zeitlose Mode. Daß solche vergangenen Moden den gerade gängigen gegenüber einen Aspekt des Naiven und Unbeholfenen haben, dessen, was der slang der amerikanischen leichten Musik corny nennt, ist eher dem Zeitfaktor in abstracto, allenfalls der fortschreitenden Perfektionierung der Maschinerie, auch der der sozialpsychologischen Kontrolle zuzuschreiben als der
Substanz des Verbreiteten. Das Moment des noch nicht ganz so Smarten, welches das Lächeln desselben Typus von Leuten provoziert, die damals Mistinguett und Marlene bejubelten, und die Sehnsucht, die verklärend heute an jene Produkte sich heftet, sind gleichen Wesens; der minder entwickelte Stand der Techniken der Konsumentenkultur wird mißdeutet, als wäre jene Periode näher an den Ursprüngen gewesen, während sie in Wahrheit genauso auf den Kundenfang zugeschnitten war wie 1960. Daß in der Sphäre einer nach industriellen Idealen rationalisierten Kultur überhaupt etwas sich ändert, ist paradox; das Prinzip der ratio selbst, soweit sie kulturelle Wirkungen geschäftlich kalkuliert, bleibt das Immergleiche. Darum hat es etwas Schockhaftes, wenn etwas aus der kulturindustriellen Zone veraltet. Der Schock dieser Paradoxie ist vom Surrealismus in den zwanziger Jahren selber schon, gegenüber der Welt von 1880, ausgebeutet worden; in England hat damals ein Buch wie ›Our Fathers‹ von Allan Bott einen verwandten Effekt ausgelöst. Heute wiederholt er sich an den zwanziger Jahren, analog der Bilderwelt der achtziger um 1920. Durch die Wiederholung aber stumpft auch dieser Schock ab. Die Verfremdung der zwanziger Jahre ist das Gespenst eines Gespenstes. Jene imago der zwanziger Jahre im deutschen Sprachbereich ist wahrscheinlich gar nicht so sehr geprägt durch die geistigen Bewegungen. Expressionismus und neue Musik dürften damals weit weniger Resonanz gefunden haben als gegenwärtig die radikalen ästhetischen Tendenzen. Vielmehr war es eine Bilderwelt der erotischen Phantasie. Sie wurde gespeist von Bühnenwerken, die damals für den Geist der Zeit standen und vollends heute dafür gelten, ohne daß sie der eigenen Zusammensetzung nach besonders avanciert gewesen wären. Die Songspiele, an denen Brecht und Weill zusammenarbeiteten, die ›Dreigroschenoper‹ und ›Mahagonny‹, und Ernst Kreneks ›Jonny‹ stehen für die Sphäre ein. Das Unbehagen an der seitdem in paradoxer Proportion zur gleichzeitigen Auflösung von Tabus fortschreitenden zivilisatorischen Entsexualisierung der Welt überträgt romantische Wünsche nach sexueller Anarchie, nach red light district und wide open city auf die zwanziger Jahre. Es steckt in alldem etwas maßlos Verlogenes. Die Begeisterung für die Spelunken-Jennys reimt sich auf die Verfolgung der Prostituierten, an denen die glasklare
Ordnung, wenn ihr gerade keine passenderen Objekte zur Verfügung stehen, ihr Mütchen kühlt. Wäre es in den zwanziger Jahren so schön gewesen, so brauchte man nur die leichten Mädchen in Ruhe zu lassen und die Säuberungsaktionen abzublasen. Statt dessen macht man aufreizend-stubenreine Filme über die naughty twenties, lieber noch über den Toulouse-Lautrec der Großeltern. Dabei haben es jene Mädchen auch damals nicht umsonst getan. Der glücklos-kommerzialisierte Sexualbetrieb des Kurfürstendamms, wie George Grosz ihn zeichnete und Karl Kraus im Wort festnagelte, war der Utopie nicht näher als das keimfreie Klima von heutzutage. Trotzdem hat die Vorstellung von den zwanziger Jahren als der Welt, in der man, wie es in Brechts ›Mahagonny‹ heißt, alles dürfen darf, als einer Utopie, auch ihr Wahres. Damals, wie dann einmal noch kurz nach 1945, sah es wie die offene Möglichkeit einer politisch befreiten Gesellschaft aus. Allerdings sah es bloß so aus: bereits in den zwanziger Jahren war, durch die Ereignisse von 1919, gegen jenes politische Potential entschieden, das, wäre es anders gegangen, mit großer Wahrscheinlichkeit auch die russische Entwicklung tangiert, den Stalinismus verhindert hätte. Man kann sich schwer des Gefühls erwehren, daß jener doppelte Aspekt: der einer Welt, die zum Besseren sich wenden könnte, und der der Zerstörung jener Möglichkeit durch die Etablierung der Mächte, die dann vollends im Faschismus sich enthüllten, auch in der Ambivalenz der Kunst sich ausdrückte, welche tatsächlich den zwanziger Jahren spezifisch ist und nicht einer vagen und in sich selbst widerspruchsvollen Vorstellung von Klassikern der Moderne zugehört. Gerade jene Operngebilde, an die Ruhm und Skandal sich hefteten, nehmen in ihrem zwielichtigen Verhalten zur Anarchie heute so sich aus, als wäre es ihre Hauptfunktion gewesen, dem Nationalsozialismus die Parolen zuzuspielen, die ihm dann zum Kulturterror dienten; als hätte die geflissentlich hervorgekehrte Unordnung schon nach jener Ordnung gegiert, die dann der Hitler über Europa brachte. Das ist kein Ruhmestitel der zwanziger Jahre. Die Katastrophe, die auf sie folgte, wurde von ihren eigenen gesellschaftlichen Konflikten ausgebrütet, auch in der Sphäre dessen, was man Kultur zu nennen pflegt. Soweit das Heimweh nach den zwanziger Jahren tatsächlich an ein Geistiges sich heftet und nicht bloß an die Luftspiegelung einer
Phase, die zugleich avanciert und noch nicht von Zellophan-Moderne überzogen sein soll, entscheiden weniger Rang und Qualität des damals Hervorgebrachten als die wahre oder vermeintliche Stellung des Geistes selber. Vorbewußt wird gespürt, wie sehr die restaurierte Kultur von der Ideologie verschlungen wird, die sie immer auch schon war. Da man es denn schon nicht sich einzugestehen wagt, entwirft man das Wunschbild eines vergangenen Zustands, in dem der Geist noch nicht genötigt gewesen sei, sein Mißverhältnis zur Gewalt der Realität einzubekennen. Gegenüber dem, was seitdem geschah, nimmt er überhaupt einen Aspekt des Nichtigen an. Er ist schuldhaft, weil er das Entsetzen nicht verhindern konnte; seine eigene Zartheit und Fragilität aber setzt wiederum eine Realität voraus, die der Barbarei entronnen wäre. Mit allem, was man gegenwärtig als dem Geist versagt empfindet, belehnt man die imago der Zeit unmittelbar vor der Katastrophe. Die Abwesenheit eingreifender geistiger Bewegungen heute – schon der Existentialismus der ersten Nachkriegsjahre war nicht mehr als wiederholende Renaissance – – erweckt auch in Harmlosen die Ahnung von Sterilität. Sie trägt bei zur Legende von den zwanziger Jahren, in denen selber der Bereich des Geistes wankte, der noch die alte Relevanz im Leben der Menschen beanspruchte. Daß nach 1918 der Kubismus nicht mehr aufgenommen werden konnte, ist wohl ein Symptom, das erst post mortem zu diagnostizieren ist. Kahnweiler berichtet: »Picasso me dit encore bien souvent à l'heure actuelle que tout ce qui a été fait dans les années de 1907 à 1914 n'a pu être fait que par un travail d'équipe. D'être isolé, seul, cela a dû l'inquiéter énormément et c'est alors qu'il y a eu ce changement.« 1 Die Isolierung, die dem Maler die Kontinuität seiner Arbeit zerstörte und die nicht ihn allein zu Revisionen veranlaßte, war kaum biographisch-zufälliges Schicksal. An ihr wurde der Schwund der kollektiven Energien offenbar, welche die großen Neuerungen der europäischen Kunst hervorgetrieben hatten. Die Verschiebung im Verhältnis zwischen dem einzelnen Geist und der Gesellschaft reichte hinab bis in die geheimsten Regungen auch derer, die jede Anpassung an die gesellschaftliche Nachfrage verschmähten. Nicht an dem hat es gefehlt, was der naive Kulturglaube schöpferische Begabung nennt. In die Idee geistiger Produktion selbst ist ein Giftstoff geraten. Ihr Selbstbewußtsein, das Vertrauen, Geschichte zu machen, ist
ausgehöhlt. Dazu stimmt, daß sie, gerade auch insofern sie rezipiert wird, nicht mehr eingreift. Selbst ihre exponiertesten Äußerungen sind nicht sicher vor dem integralen Kulturbetrieb. Weil der Weltgeist nicht mehr mit dem Geist ist, erglänzen dessen letzte Tage, als wären sie das goldene Zeitalter gewesen, das auch sie nicht waren. Was übrigblieb, ist Nachhall der faschistischen Autorität eher als lebendig; der gebildete Respekt vorm Anerkannten, mag es auch bloß als wichtig sich aufspreizen. Besser wäre erst ein Bewußtsein, das noch die eigene Depotenzierung realisiert; Beckett hat es. Es wäre nicht länger Kultur des erneuerten Truges, sondern drückte durch seine Gestalt aus, was den Geist zu solchem Trug erniedrigt. Vom Fluch ihrer Vergeblichkeit kurierte die Kultur einzig, daß sie den Fluch zu Protokoll gibt. Das unsichere Verhältnis der Gegenwart zu den zwanziger Jahren wird bedingt von geschichtlicher Diskontinuität. Während das faschistische Jahrzehnt mit all seinen Elementen angelegt war in der Epoche unmittelbar vorher, bis tief in den Expressionismus hinein – einer von dessen Wortführern, Hanns Johst, brachte es zur Naziprominenz, war übrigens schon während der zwanziger Jahre von Brecht mit gutem Instinkt parodiert worden –, hat doch der bei den Nazis beliebte Terminus Umbruch traurig recht behalten. Die Tradition, auch die antitraditionelle, ist abgebrochen, halbvergessene Aufgaben sind zurückgeblieben. Was künstlerisch nunmehr mit jener Epoche sich einläßt, greift nicht nur eklektisch auf eine unterdessen erloschene Produktivität zurück, sondern gehorcht zugleich auch der Verpflichtung, das Unerledigte nicht zu vergessen. Zur eigenen Konsequenz ist weiterzutreiben, was 1933 von einer Explosion begraben ward, die in ganz anderem Sinn Konsequenz der Epoche war. Wie die gegenwärtige Kunst, ihrer eigenen Problematik nach, zum Avantgardismus der Vergangenheit sich zu verhalten hätte, läßt ganz deutlich sich ablesen, und die Künstler, die zählen, wissen es wohl. Unabdingbar bleibt der Antikonventionalismus; Formen kehren wieder nur im Innern der Werke, nicht als ein heteronom ihnen Auferlegtes. Mit allem Bewußtsein haben die Werke am geschichtlichen Stand ihrer Materialien sich zu messen; weder blind und fetischistisch dem Material sich zu überlassen, noch dem Material von außen her subjektive Intentionen aufzuprägen. Aussicht, irgend etwas nicht Überflüssiges zustande zu bringen, hat
nur, was frei ist von Feigheit und Ichschwäche, was ungedeckt sich vorwagt und all dem absagt, was im Deutsch der nach-Hitlerischen Epoche mit einem widerlichen Ausdruck Leitbild heißt. Jede Rücksicht auf Wirkungen, wäre es auch unter dem Vorwand der gesellschaftlichen Funktion oder des Gedankens an den sogenannten Menschen, ist hinfällig; aber auch die Selbstherrlichkeit des Subjekts und seines Ausdrucks aus den heroischen Tagen der neuen Kunst. Dem Aspekt der Paradoxie in jeglicher Kunst selber kann keiner mehr ausweichen; ihn, und kein existentialistisches Philosophem, meint das Stichwort absurd. In jedem ihrer Momente muß die aktuelle Produktion der Krise des Sinnes eingedenk bleiben, der des subjektiv dem Gebilde verliehenen Sinns ebenso wie der einer sinnvollen Verfassung der Welt. Sonst verschachert sie sich an die Rechtfertigung. Die Kunstwerke heute, die allein als sinnvoll sich legitimieren, sind jene, die gegen den Begriff des Sinnes am sprödesten sich zeigen. Impulse wären aufzunehmen, die schon in den gelobten zwanziger Jahren zu erstarren drohten oder verpufften. Aus der Distanz ist zu beobachten, daß viele Künstler, deren Nimbus dem der zwanziger Jahre gleichgesetzt wird, in jener Dekade den Zenit bereits überschritten hatten, jedenfalls gegen deren Ende; Kandinsky, wohl auch Picasso, Schönberg, selbst Klee. So fraglos Schönbergs Zwölftontechnik mit voller Logik aus seiner eigenen Leistung, aus der Emanzipation von der tonalen Sprache ebenso wie aus der Radikalisierung der motivisch-thematischen Arbeit entsprang, so fraglos ist bei dem Übergang zu systematischen Prinzipien etwas vom Besten verlorengegangen. Die Musiksprache hat, trotz des revolutionierten Materials, der herkömmlichen mehr sich angeglichen als in den besten Werken Schönbergs vor dem ersten Weltkrieg; die freigesetzte Spontaneität und Ungebundenheit des kompositorischen Subjekts ist von einem Ordnungsbedürfnis gezügelt worden, das als problematisch sich herausstellte, weil die Ordnung, die es hervorbrachte, eine aus dem Bedürfnis ist, keine rein aus der Sache selber. Was an Erstarrungsphänomenen in der Musik des letzten Jahrzehnts zutage trat, die oft und auch hämisch konstatierte Gefahr der Avantgarde, als zweiter Konformismus sich zu etablieren, ist weithin die Erbschaft jenes Ordnungsbedürfnisses. Was musikalisch von den zwanziger Jahren als Aufgabe tradiert ist, scheint gerade die Revision jenes Ordnungsbedürfnisses zu sein,
eine musique informelle. Nur aufgewärmt, nicht jedoch aufgenommen werden können eben die Vorstellungen von Ordnung aus den zwanziger Jahren. Nichts anderes waren sie als die abstrakte Negation eines angeblichen Chaos, das man viel zu sehr fürchtete, als daß es im Ernst existiert hätte. Zu reflektieren ist ebenso auf die Notwendigkeit, kompromißlos fortzuführen, was von innen und außen sistiert wurde, wie auf die Grenzen des Rekurses. Daß man nach dreißig oder vierzig Jahren, nach dem totalen Bruch, nicht einfach weitermachen kann, wo aufgehört ward, ist selbstverständlich. Die bedeutenden Werke jener Epoche dankten nicht wenig von ihrer Gewalt der fruchtbaren Spannung zu einem ihnen Heterogenen, zu der Tradition, gegen die sie aufbegehrten. Diese stand ihnen noch als Macht gegenüber, und gerade die produktivsten Künstler hatten viel von ihr in sich selbst. Mit der Reibung an dieser Tradition ist vieles von der Nötigung vergangen, die jene Werke inspirierte. Die Freiheit ist vollkommen, droht aber ohne ihr dialektisches Gegenüber leer zu laufen, während doch jenes Gegenüber aus dem Willen nicht sich konservieren ließe. Damit die gegenwärtige Kunst kein Aufguß der zwanziger Jahre werde, nicht zum Bildungsgut degradiere, was den Bildungsgütern absagte, müßte sie nicht nur der technischen Probleme, sondern auch der Bedingungen der eigenen Existenz sich bewußt werden. Sie hat zum gesellschaftlichen Schauplatz nicht mehr den sei's auch zerfallenen Spätliberalismus sondern eine gesteuerte, überdachte, integrierte Gesellschaft, die »verwaltete Welt«. Was in dieser als Protest der künstlerischen Form sich regt – und keine künstlerische Form wäre länger denkbar, die nicht Protest ist –, fällt selber in das Geplante, dem sie widersteht, und trägt die Male dieses Widerspruchs. Die Kunstwerke werden dadurch, daß sie, nach der Emanzipation und allseitigen Aufbereitung ihres Materials, rein aus dem eigenen Formgesetz sich entwickeln, ohne alles Heterogene, potentiell zu einem Allzublanken, Ausgefegten, Gefahrlosen. Ihr Menetekel sind die Tapetenmuster. Das Leiden eben daran lenkt den Blick auf die zwanziger Jahre, ohne daß er doch die Sehnsucht befriedigte. Wer für solche Dinge ein Gefühl hat, braucht nur die Titel ungezählter Bücher, Bilder, Kompositionen der jüngsten Phase sich anzuschauen, um etwas ernüchternd Sekundäres zu spüren. So unerträglich ist es deshalb, weil jedes Werk, das heute entsteht, ob es will oder nicht, auftritt, als ob es einzig sich selbst zu verdanken
wäre. Das im fatalen Sinn Gewollte, der Mangel am Zwang der Gebilde, da zu sein, wird ersetzt durchs abstrakte Bewußtsein dessen, was an der Zeit sei. Das spiegelt schließlich den Mangel an politischem Bezug. Der Begriff des Radikalen, gänzlich ins Ästhetische transponiert, hat etwas von ablenkender Ideologie, vom Trost über die reale Ohnmacht der Subjekte. Keinen zwingenderen Beweis für die gegenwärtige kulturelle Aporie jedoch gibt es, als daß die Kritik an jenem ideologischen Wesen des chemisch reinen ästhetischen Fortschritts selbst sogleich wieder zur Ideologie wird. Im gesamten Ostbereich hält sie lediglich dazu her, noch die letzten ungebärdigen Regungen, wie sie in die Kunst sich geflüchtet haben, zu ersticken und dem Konformismus zur Totalität zu verhelfen. Das besagt aber wohl schließlich nicht weniger, als daß der Boden von Kunst selber erschüttert, daß ein ungebrochenes Verhältnis zum ästhetischen Bereich nicht mehr möglich ist. Der Begriff einer nach Auschwitz auferstandenen Kultur ist scheinhaft und widersinnig, und dafür hat jedes Gebilde, das überhaupt noch entsteht, den bitteren Preis zu bezahlen. Weil jedoch die Welt den eigenen Untergang überlebt hat, bedarf sie gleichwohl der Kunst als ihrer bewußtlosen Geschichtsschreibung. Die authentischen Künstler der Gegenwart sind die, in deren Werken das äußerste Grauen nachzittert.
Fußnoten 1 Daniel-Henry Kahnweiler, Mes galeries et mes peintres. Entretiens avec Francis Crémieux, Paris 1961, S. 73.
Prolog zum Fernsehen 1 Die gesellschaftlichen, technischen, künstlerischen Aspekte des Fernsehens können nicht isoliert behandelt werden. Sie hängen in weitem Maß voneinander ab: die künstlerische Beschaffenheit etwa von der hemmenden Rücksicht auf die Publikumsmassen, über die sich hinwegzusetzen nur ohnmächtige Unschuld sich zutraut; die gesellschaftliche Wirkung von der technischen Struktur, auch von der Neuheit der Erfindung als solcher, die in Amerika sicherlich während der Anfangsphase den Ausschlag gab; aber auch von den offenen und versteckten Botschaften, welche die Fernsehproduktionen dem Betrachter übermitteln. Das Medium selbst jedoch fällt ins umfassende Schema der Kulturindustrie und treibt deren Tendenz, das Bewußtsein des Publikums von allen Seiten zu umstellen und einzufangen, als Verbindung von Film und Radio weiter. Dem Ziel, die gesamte sinnliche Welt in einem alle Organe erreichenden Abbild noch einmal zu haben, dem traumlosen Traum, nähert man sich durchs Fernsehen und vermag zugleich ins Duplikat der Welt unauffällig einzuschmuggeln, was immer man für der realen zuträglich hält. Die Lücke, welche der Privatexistenz vor der Kulturindustrie noch geblieben war, solange diese die Dimension des Sichtbaren nicht allgegenwärtig beherrschte, wird verstopft. Wie man außerhalb der Arbeitszeit kaum mehr einen Schritt tun kann, ohne über eine Kundgebung der Kulturindustrie zu stolpern, so sind deren Medien derart ineinander gepaßt, daß keine Besinnung mehr zwischen ihnen Atem schöpfen und dessen innewerden kann, daß ihre Welt nicht die Welt ist. »Im Theater wird durch die Belustigung des Gesichts und Gehörs die Reflexion sehr eingeschränkt« – Goethes Ahnung fände ihren Gegenstand erst an einem Gesamtsystem, in dem das Theater längst zu einem Museum von Vergeistigung ward, das aber dafür seine Konsumenten mit Kino, Rundfunk, illustrierten Zeitschriften, in Amerika vor allem auch mit den funnies und comic books ohne Unterlaß bearbeitet. Erst das Zusammenspiel all der aufeinander abgestimmten und dennoch nach Technik und Effekt voneinander abweichenden Verfahren macht das Klima der Kulturindustrie aus. Daher fällt es den Soziologen so schwer zu sagen, what television does to people. Denn mögen immer die fortgeschrittenen Techniken der
empirischen Sozialforschung die »Faktoren« isolieren, welche dem Fernsehen eigentümlich sind, so empfangen doch diese Faktoren selber ihre Kraft einzig im Ganzen des Systems. Eher werden die Menschen ans Unvermeidliche fixiert als verändert. Vermutlich macht das Fernsehen sie nochmals zu dem, was sie ohnehin sind, nur noch mehr so, als sie es ohnehin sind. Das entspräche der wirtschaftlich begründeten Gesamttendenz der gegenwärtigen Gesellschaft, in ihren Bewußtseinsformen nicht länger über sich selber, den status quo hinauszugehen, sondern diesen unablässig zu bekräftigen und, wo er etwa bedroht dünkt, wiederherzustellen. Der Druck, unter dem die Menschen leben, ist derart angewachsen, daß sie ihn nicht ertrügen, wenn ihnen nicht die prekären Leistungen der Anpassung, die sie einmal vollbracht haben, immer aufs neue vorgemacht und in ihnen selber wiederholt würden. Freud hat gelehrt, daß die Verdrängung der Triebregungen nie ganz und nie für die Dauer gelingt, und daß daher die unbewußte psychische Energie des Individuums unermüdlich dafür vergeudet wird, das, was nicht ins Bewußtsein gelangen darf, weiter im Unbewußten zu halten. Diese Sisyphusarbeit der individuellen Triebökonomie scheint heute »sozialisiert«, von den Institutionen der Kulturindustrie in eigene Regie genommen, zum Vorteil der Institutionen und der mächtigen Interessen, die hinter ihnen stehen. Dazu trägt das Fernsehen, so wie es ist, das Seine bei. Je vollständiger die Welt als Erscheinung, desto undurchdringlicher die Erscheinung als Ideologie. Die neue Technik weicht darin vom Film ab, daß sie, gleich dem Radio, den Konsumenten das Produkt ins Haus bringt. Die visuellen Bilder sind sehr viel kleiner als die im Kino. Diese Kleinheit wird vom amerikanischen Publikum bemängelt: man sucht die Bildfläche zu vergrößern, aber es scheint fraglich, ob in mit Möbeln ausstaffierten Privatwohnungen wie im Kino die Illusion der Lebensgröße erreicht werden kann. Vielleicht lassen sich die Bilder auf Wände projizieren. Aufschlußreich ist jedenfalls das Bedürfnis. Einstweilen dürfte das Miniaturformat der Menschen auf der Fernsehfläche die gewohnte Identifikation und Heroisierung behindern. Die da mit Menschenstimmen reden, sind Zwerge. Sie werden kaum in demselben Sinn ernst genommen wie die Filmfiguren. Von der realen Größe des Phänomens abstrahieren, es nicht mehr natürlich sondern ästhetisch wahrnehmen, erfordert eben
jene Fähigkeit zur Sublimierung, die beim Publikum der Kulturindustrie nicht vorausgesetzt werden kann und die von dieser selbst geschwächt wird. Die Männchen und Weibchen, die man ins Haus geliefert bekommt, werden der unbewußten Perzeption zum Spielzeug. Manches davon mag dem Zuschauer Vergnügen bereiten: er empfindet sie als Eigentum, über das er verfügt, und fühlt sich ihnen überlegen. Darin berührt sich das Fernsehen mit den funnies, jenen halbkarikaturistischen Serien von Abenteuerbildchen, die oft über Jahre hindurch dieselben Figuren von Episode zu Episode geleiten. Auch dem Inhalt nach sind viele in Fortsetzungen gesendete Fernsehspiele, zumal Possen, den funnies verwandt. Im Gegensatz zu diesen jedoch, die auf keinen Realismus aus sind, bleibt im Fernsehen das Mißverhältnis zwischen den einigermaßen natürlich wiedergegebenen Stimmen und den verkleinerten Gestalten unverkennbar. Aber solche Mißverhältnisse durchsetzen alle Produkte der Kulturindustrie und gemahnen an den Trug des verdoppelten Lebens. Man hat gelegentlich bemerkt, daß auch der Tonfilm stumm sei, daß Widerspruch herrsche zwischen den zweidimensionalen Bildern und der leibhaftigen Rede. Solche Widersprüche nehmen offenbar zu, je mehr Elemente der sinnlichen Wirklichkeit von der Kulturindustrie aufgesogen werden. Die Analogie zu den totalitären Staaten beider Versionen drängt sich auf: je mehr, unter diktatorialem Willen, das Auseinanderweisende integriert wird, um so mehr schreitet die Desintegration fort, um so mehr fällt auseinander, was nicht von sich aus zusammengehört, sondern bloß äußerlich addiert wird. Die lückenlose Bilderwelt gerät brüchig. An der Oberfläche läßt sich das Publikum wenig davon stören. Unbewußt wird es davon wissen. Der Verdacht, daß die Realität, die man serviert, nicht die sei, für die sie sich ausgibt, wird wachsen. Nur führt das zunächst nicht zum Widerstand, sondern man liebt, mit verbissenen Zähnen, das Unausweichliche und zuinnerst Verhaßte um so fanatischer. Beobachtungen wie die von der Rolle der absoluten Dimensionen der Fernsehobjekte lassen sich nicht trennen von der spezifischen Fernsehsituation, der des Heimkinos. Auch sie wird eine Tendenz der gesamten Kulturindustrie verstärken: die zur Herabsetzung der Distanz von Produkt und Betrachter, im wörtlichen und übertragenen Sinn. Sie ist wiederum ökonomisch vorgezeichnet. Was die Kulturindustrie liefert, empfiehlt sich allein
schon durch die in Amerika eingestandene Reklamefunktion als Ware, als Kunst für den Konsumenten; wahrscheinlich in geradem Verhältnis zu dem Maß, in dem sie durch Zentralisierung und Standardisierung dem Konsumenten aufgezwungen ist. Dieser wird zu dem angehalten, wohin er von selbst neigt, nämlich nicht das Gebilde als ein An sich zu erfahren, dem er Aufmerksamkeit, Konzentration, Anstrengung und Verständnis schuldet, sondern als eine Gefälligkeit, die ihm erwiesen wird und die er danach einschätzen darf, daß sie ihm auch gefällig genug ist. Was längst der Symphonie geschah, die der müde Angestellte, in Hemdsärmeln seine Suppe schlürfend, mit halbem Ohr toleriert, geschieht nun auch den Bildern. Sie sollen seinem grauen Alltag Glanz spenden und doch ihm selber wesentlich gleichen: so sind sie vorweg vergeblich. Was anders wäre, ist unerträglich, weil es an das erinnert, was ihm versagt ist. Alles erscheint, als gehöre es ihm, weil er selber sich nicht gehört. Er muß sich nicht einmal mehr fortbewegen, um ins Kino zu kommen, und was ihn in Amerika kein Geld und nirgends Anstrengung kostet, dürfte er nur desto geringer schätzen. Die bedrohlich erkaltete Welt kommt zutraulich zu ihm, als wäre sie ihm auf den Leib geschrieben: er verachtet sich in ihr. Distanzlosigkeit, die Parodie auf Brüderlichkeit und Solidarität, hat dem neuen Medium sicherlich zu seiner unbeschreiblichen Popularität mitverholfen. Alles wird vom kommerziellen Fernsehen vermieden, was, wie sehr auch entfernt, an die kultischen Ursprünge des Kunstwerks, dessen Zelebrierung bei besonderm Anlaß anklingen könnte. Mit der Begründung, Fernsehen im dunklen Raum sei schmerzhaft, läßt man abends das elektrische Licht brennen, und weigert sich, unter Tags die Rolläden zu schließen: die Situation darf sich von der normalen möglichst wenig abheben. Undenkbar, daß die Erfahrung der Sache selbst davon unabhängig bliebe. Die Grenze zwischen Realität und Gebilde wird fürs Bewußtsein herabgemindert. Das Gebilde wird für ein Stück Realität, eine Art Wohnungszubehör genommen, das man mit dem Apparat sich gekauft hat, dessen Besitz ohnehin unter Kindern das Prestige erhöht. Schwerlich ist es zu weit hergeholt, daß umgekehrt die Realität durch die Fernsehbrille angeschaut, daß der unterschobene Sinn des Alltags auf diesen zurückgespiegelt wird. Das kommerzielle Fernsehen bildet das Bewußtsein zurück, aber nicht durch Verschlechterung des Inhalts der Sendungen gegenüber
dem von Film und Radio. Zwar begegnet man in Hollywood gerade unter Filmleuten häufig der Behauptung, durch die Fernsehprogramme werde das Niveau noch weiter gesenkt. Aber dabei benutzen die älteren Sektoren der Kulturindustrie, deren manche durch die Konkurrenz empfindlich bedroht sind, das Fernsehen doch wohl als Sündenbock. Die Lektüre einiger freilich die Gesamtproduktion kaum spiegelnder Fernsehspiele im Manuskript läßt darauf schließen, daß das Material nicht weniger taugt als das der mittlerweile völlig genormten und eingefrorenen Filmscripts, und eher mehr als das der im Radio so beliebten soap opera, der serienweise hergestellten akustischen Familienromane, in denen allezeit eine gütige Mutterfigur oder ein abgeklärter älterer Herr der gärenden Jugend aus ihren Verlegenheiten hilft. Trotzdem leuchtet die Behauptung ein, es werde durchs Fernsehen schlimmer und nicht besser, ähnlich wie seinerzeit die Erfindung der Tonaufnahme die ästhetische und gesellschaftliche Qualität des Films herabdrückte, ohne daß doch heute der stumme Film wieder zu erwecken, das Fernsehen abzuschaffen wäre. Verantwortlich dafür aber ist das Wie, nicht das Was. Jene fatale »Nähe« des Fernsehens, Ursache auch der angeblich gemeinschaftsbildenden Wirkung der Apparate, um die Familienangehörige und Freunde, die sich sonst nichts zu sagen wüßten, stumpfsinnig sich versammeln, befriedigt nicht nur eine Begierde, vor der nichts Geistiges bestehen darf, wenn es sich nicht in Besitz verwandelt, sondern vernebelt obendrein die reale Entfremdung zwischen den Menschen und zwischen Menschen und Dingen. Sie wird zum Ersatz einer gesellschaftlichen Unmittelbarkeit, die den Menschen versagt ist. Sie verwechseln das ganz und gar Vermittelte, illusionär Geplante mit der Verbundenheit, nach der sie darben. Das verstärkt die Rückbildung: die Situation verdummt, auch wenn der Inhalt des Angeschauten nicht dümmer ist, als womit die Zwangskonsumenten sonst gefüttert werden. Daß wahrscheinlich diese dem bequemen und billigeren Fernsehen mehr frönen als dem Kino, und mehr als dem Radio, weil sie zum Akustischen das Optische noch draufbekommen, trägt weiter zur Rückbildung bei. Süchtigkeit ist unmittelbar Regression. An ihr hat gerade die gesteigerte Verbreitung visueller Produkte entscheidenden Anteil. Während fraglos das Gehör in vieler Hinsicht »archaischer« ist als der alert auf die Dingwelt eingeschworene Gesichtssinn, ist doch die
Bildersprache, die der Vermittlung des Begriffs enträt, primitiver als die der Worte. Der Sprache aber werden die Menschen durchs Fernsehen noch mehr entwöhnt, als sie es auf der ganzen Erde heute schon sind. Wohl reden die Schatten auf dem Fernsehschirm, aber ihre Rede ist womöglich noch mehr Rückübersetzung als die im Film, bloßes Anhängsel an die Bilder, nicht Ausdruck einer Intention, eines Geistigen, sondern Verdeutlichung der Gesten, Kommentar der Weisungen, die vom Bild ausgehen. So werden in Bildwitzen Worte zuweilen noch an den Mund der Figuren geschrieben, weil man sich sonst nicht ganz sicher darauf verlassen kann, daß rasch genug verstanden wird, was vorgeht. Worin die Reaktionen der Betrachter aufs gegenwärtige Fernsehen bestehen, ließe bündig sich ausmachen nur durch weitschichtige Forschungen. Da das Material aufs Unbewußte spekuliert, hülfe direkte Befragung nicht. Vorbewußte oder unbewußte Wirkungen entziehen sich der unmittelbaren sprachlichen Kundgabe durch die Befragten. Diese werden entweder Rationalisierungen oder abstrakte Aussagen wie die, daß der Fernsehapparat sie »unterhalte«, vorbringen. Was eigentlich in ihnen sich ereignet, könnte nur umständlich ermittelt werden, etwa indem man Fernsehbilder ohne Worte als projektive Tests verwendet und die Assoziationen der Versuchspersonen studiert. Volle Einsicht wäre wohl erst durch zahlreiche psychoanalytisch orientierte Individualstudien an Gewohnheitsfernsehern zu gewinnen. Vorweg wäre zu untersuchen, wie weit die Reaktionen überhaupt spezifisch sind, und wie weit die Gewohnheit des Fernsehens lediglich dem Bedürfnis dient, sinnleere Freizeit totzuschlagen. Immerhin darf ein Medium, das ungezählte Millionen erreicht und das zumal bei Jugendlichen und Kindern oft jedes andere Interesse übertäubt, als eine Art Stimme des objektiven Geistes gelten, auch wenn dieser nicht mehr unwillkürlich aus dem gesellschaftlichen Kräftespiel resultiert, sondern industriell geplant wird. Hat doch die Industrie stets noch in gewissem Umfang die miteinzukalkulieren, die sie versorgt, wäre es auch nur, um die Waren der Gönner, sponsors, eines jeden Programms auch tatsächlich an den Mann zu bringen. Vorstellungen indessen wie die, daß die im Fernsehen kulminierende Massenkultur der authentische Niederschlag des kollektiven Unbewußten sei, verfälschen das Visierte durch die Wahl der Akzente. Wohl knüpft die Massenkultur
an Schemata des Bewußten und Unbewußten an, die sie in den Konsumenten mit Recht als verbreitet voraussetzt. Dieser Fundus besteht zunächst in den sei es verdrängten, sei es einfach unbefriedigten Triebregungen der Massen, denen die Kulturwaren mittelbar oder unmittelbar entgegenkommen; meist mittelbar, etwa indem, wie der amerikanische Psychologe G. Legman nachdrücklich gezeigt hat, Sexuelles durch die Darstellung entsexualisierter Roheit und Gewalttat ersetzt wird. Beim Fernsehen läßt sich das noch in den anscheinend harmlosesten Possen nachweisen. Vermöge solcher und anderer Abwandlungen jedoch geht der Wille der Verfügenden in jene Bildersprache 2 ein, die sich so gern als die der mit ihr Belieferten ausgeben möchte. Indem erweckt wird und bildlich repräsentiert, was in ihnen vorbegrifflich schlummert, wird ihnen zugleich vorgemacht, wie sie sich benehmen sollen. Während die Bilder jene heraufrufen wollen, die im Zuschauer begraben liegen und die jenen ähnlich sind, nähern zugleich die aufblitzenden und entgleitenden Bilder von Film und Television der Schrift sich an. Sie werden aufgefaßt, nicht betrachtet. Das Auge wird vom Streifen mitgezogen wie von der Zeile, und im sanften Ruck des Szenenwechsels blättert die Seite sich um. Als Bild ist die Bilderschrift Mittel einer Regression, in der Produzent und Konsument sich zusammenfinden; als Schrift stellt sie die archaischen Bilder der Moderne zur Verfügung. Entzauberter Zauber, übermitteln sie kein Geheimnis, sondern sind Modelle eines Verhaltens, das der Gravitation des Gesamtsystems ebenso wie dem Willen der Kontrolleure entspricht. Das Vertrackte des Zusammenhangs, das den Irrglauben befördert, der Herren eigener Geist sei der der Zeit, liegt nun aber darin, daß auch jene Manipulationen, welche das Publikum nach den Forderungen eines dem Bestehenden angepaßten Verhaltens zurechtstutzen, sich immer auf Momente im Bewußtseins- und Unbewußtseinsleben der Konsumenten berufen können und mit einem Schein von Recht diesen die Schuld aufbürden. Denn Zensur und Einübung eines konformierenden Verhaltens, wie sie noch in der zufälligsten Geste des Fernsehspiels sich mitteilen, haben nicht nur mit Menschen zu rechnen, denen dergleichen durch das mittlerweile schon ehrwürdige, bis auf die Anfänge des englischen Romans gegen Ende des siebzehnten Jahrhunderts zurückdatierende Schema der Massenkultur eingehämmert ist, sondern die in Betrieb gesetzten
Reaktionsformen hatten sich, längst ehe sie mit ideologischen Manövern exerziert wurden, in der ganzen neueren Geschichte durchgesetzt und sind als zweite Natur verinnerlicht. Die Kulturindustrie grinst: werde was du bist, und ihre Lüge besteht gerade in der wiederholenden Bestätigung und Verfestigung des bloßen Soseins, dessen, wozu der Weltlauf die Menschen gemacht hat. Um so überzeugender kann sie darauf pochen, daß nicht der Mörder, sondern der Ermordete schuldig sei: daß sie nur dem ans Licht verhelfe, was ohnehin in den Menschen steckt. Anstatt dem Unbewußten die Ehre anzutun, es zum Bewußtsein zu erheben und damit zugleich seinen Drang zu erfüllen und seine zerstörende Kraft zu befrieden, reduziert die Kulturindustrie, an ihrer Spitze das Fernsehen, die Menschen mehr noch auf unbewußte Verhaltensweisen, als die Bedingungen einer Existenz zuwege bringen, die den mit Leiden bedroht, der sie durchschaut, und dem Belohnungen verspricht, der sie vergötzt. Das Starre wird nicht aufgelöst, sondern verhärtet. Die Vokabeln der Bilderschrift sind Stereotypen. Sie werden verteidigt mit technologischen Notwendigkeiten wie der, erschreckliche Mengen von Material in kürzester Zeit herzustellen, oder in den meist nur viertel- oder halbstündigen Sketches Nam' und Art der dramatischen Personen den Zuschauern ohne Säumen drastisch kundzutun. Der Kritik daran wird entgegnet, mit Stereotypen habe die Kunst von je operiert. Aber der Unterschied zwischen abgefeimt-psychologisch kalkulierten Schnittmustern und unbeholfen ungeschickten; zwischen solchen, die die Menschen nach der Massenproduktion modeln wollen und solchen, die aus dem Geist der Allegorie objektive Wesenheiten noch einmal beschworen, ist radikal. Vor allem waren hochstilisierte Typen wie die der Commedia dell'arte dem alltäglichen Dasein des Publikums so entrückt, daß niemand darauf verfallen konnte, seine eigene Erfahrung nach den maskenhaften Clowns einzurichten. Die Stereotypen des Fernsehens dagegen gleichen äußerlich, bis auf Tonfall und Dialekt, Hinz und Kunz, während sie doch Parolen wie die, daß alle Ausländer verdächtig sind oder daß der Erfolg das Höchste sei, was man vom Leben zu erwarten habe, nicht nur propagieren, sondern durchs bloße Gehabe ihrer Helden als gottgewollt und ein für allemal etabliert ausgeben, ehe nur die Moral gezogen wird, die zuweilen sogar das Umgekehrte besagt. Daß Kunst es mit dem Protest des
von der Zivilisation verschandelten Unbewußten zu tun habe, darf nicht als Ausrede für den Mißbrauch des Unbewußten zugunsten noch gründlicherer zivilisatorischer Verschandelung dienen. Will Kunst dem Unbewußten und Vorindividuellen sein Recht widerfahren lassen, so bedarf es dazu der äußersten Anstrengung des Bewußtseins und der Individuierung; wird diese Anstrengung nicht geleistet und statt dessen dem Unbewußten willfahrt, indem man es mechanisch reproduziert, so entartet das Unbewußte zur bloßen Ideologie für bewußte Ziele, wie dumm auch diese am Ende sich erweisen mögen. Daß in einer Phase, in der die ästhetische Differenzierung und Individuierung mit so befreiender Kraft gesteigert ward wie im Romanwerk von Proust, solche Individuierung zugunsten eines fetischisierten, zum Selbstzweck erhobenen Kollektivismus und zum Frommen von ein paar Nutznießern widerrufen wird, sanktioniert die Barbarei. Seit vierzig Jahren finden sich Intellektuelle genug, die aus Masochismus oder materiellem Interesse oder beidem zu deren Herolden sich hergeben. Ihnen ist zu bedeuten, daß das gesellschaftlich Wirksame und das gesellschaftlich Richtige nicht zusammenfallen, und daß heute das eine nichts ist als das Gegenteil des anderen. »Unser Anteil an öffentlichen Angelegenheiten ist meist nur Philisterei« – der Satz Goethes aus Makariens Archiv gilt auch für jene öffentlichen Dienste, welche die Institutionen der Kulturindustrie zu leisten behaupten. Was aus dem Fernsehen werden mag, läßt sich nicht prophezeien; was es heute ist, hängt nicht an der Erfindung, nicht einmal an den besonderen Formen ihrer kommerziellen Verwertung sondern am Ganzen, in welches das Mirakel eingespannt ist. Die Phrase von der Erfüllung von Märchenphantasien durch die moderne Technik hört erst auf, eine zu sein, wenn man ihr die Märchenweisheit hinzufügt, daß die Erfüllung der Wünsche selten den Wünschenden zum Guten anschlägt. Richtig wünschen ist die schwerste Kunst von allen, und sie wird uns seit der Kindheit abgewöhnt. Wie der Ehemann, dem die Fee drei Wünsche gestattet, seinem Weib eine Bratwurst an die Nase und wieder fortzaubert, so erblickt der, dem der Genius der Naturbeherrschung gewährt, das Ferne zu sehen, einzig das Gewohnte, bereichert um die Lüge, es wäre verschieden, die es aufspreizt zum falschen Sinn seines Daseins. Sein Traum von der Allmacht wird wahr als vollendete
Ohnmacht. Bis heute realisieren die Utopien sich bloß, um den Menschen die Utopie auszutreiben und um sie aufs Bestehende und aufs Verhängnis desto gründlicher zu vereidigen. Damit Fernsehen das Versprechen hält, das in dem Wort immer noch mitschwingt, muß es von all dem sich emanzipieren, womit es, verwegenste Wunscherfüllung, deren eigenes Prinzip widerruft und die Idee des Großen Glücks verrät ans Warenhaus fürs kleine.
Fußnoten 1 Der ›Prolog zum Fernsehen‹ ebenso wie ›Fernsehen als Ideologie‹ beruht auf Studien, die der Autor 1952/53 als wissenschaftlicher Leiter der Hacker Foundation in Amerika durchführte. Die Resultate sind keineswegs blank auf das deutsche Fernsehen zu übertragen. Aber sie bezeichnen allgemeine Tendenzen der Kulturindustrie. 2 Die Interpretation der Massenkultur als »Hieroglyphenschrift« findet sich in dem unveröffentlichten, 1943 entworfenen Teil des Kapitels »Kulturindustrie« aus der ›Dialektik der Aufklärung‹ von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno. Ganz unabhängig davon wird derselbe Begriff verwandt in dem Aufsatz ›First Contribution to the Psycho-Analysis and Aesthetics of Motion Picture‹ von Angelo Montani und Guilio Pietranera (Psychoanalytic Review, April 1946). Auf die Differenzen der beiden Abhandlungen kann hier nicht eingegangen werden. Auch die italienischen Autoren kontrastieren die Stellung der Massenkultur zum Unbewußten der autonomen Kunst, erheben jedoch den Gegensatz nicht zur Theorie.
Fernsehen als Ideologie Zur Ergänzung der formalen Charakteristik des Fernsehens im System der Kulturindustrie sei auf den spezifischen Inhalt von Darbietungen eingegangen. Ohnehin sind Inhalt und Präsentationsweise derart miteinander verschworen, daß jener für diese ebenso einstehen kann wie umgekehrt. Von der Form zu abstrahieren, wie es jedem Kunstwerk gegenüber banausisch wäre, mißt eine Sphäre mit ihrem eigenen Maß, die ästhetische Autonomie nicht kennt und die Form durch Funktionieren und Aufmachung ersetzt. Die inhaltliche Analyse von Fernseh-Manuskripten ist geraten, weil sie wiederholt sich lesen und studieren lassen, während die Vorführung vorbeifliegt. Würde dem entgegengehalten, das behende Phänomen bringe schwerlich alle jene Wirkungen hervor, welche die Analyse als Potential des Manuskripts bestimmt, so ist darauf zu erwidern, daß, da ja jene Implikationen in weitem Maß aufs Unbewußte zugeschnitten sind, ihre Macht über den Zuschauer vermutlich anwächst in einer Perzeptionsweise, die der Kontrolle seines bewußten Ichs so rasch sich entzieht. Überdies sind die Züge, um die es sich handelt, niemals solche des je erörterten Einzelfalls, sondern gehören einem Schema an. Sie kehren unzählige Male wieder. Die geplanten Wirkungen haben sich mittlerweile sedimentiert. Das Material stammt aus vierunddreißig Fernsehspielen verschiedener Typen und Niveaus. Um für dergleichen Studien repräsentative Gültigkeit im statistischen Sinn zu gewinnen, wäre es notwendig, das Material streng nach einem Stichprobenverfahren auszusuchen, während die Pilotenstudie sich mit den Manuskripten begnügen mußte, die zur Verfügung gestellt wurden. Doch läßt die Standardisierung der gesamten Produktion, ebenso wie die Uniformität der bereits gelesenen Manuskripte untereinander, erwarten, daß eine nach den Kriterien der amerikanischen content analysis organisierte Untersuchung die bislang ausgesiebten Kategorien zwar durch andere ergänzen, nicht aber grundsätzlich neue Ergebnisse zeitigen würde, und New Yorker Erhebungen von Dallas W. Smythe haben diese Annahme noch wahrscheinlicher gemacht. Was in Beverly Hills zugänglich war, dürfte eher über dem
Durchschnitt liegen. Die Studie beschränkte sich auf Fernsehspiele. Diese sind in vielem Betracht den Filmen ähnlich; übrigens wird ein nicht unerheblicher Teil der Programme von Filmen bestritten. Der Hauptunterschied ist eben jene viel kürzere Dauer der Fernsehspiele: meist eine Viertelstunde, höchstens eine halbe. Die Qualität wird davon mitbetroffen. Selbst die bescheidene Entfaltung der Handlung und der Charaktere, die der Film duldet, ist unterbunden; alles muß sogleich feststehen; die angebliche technologische Notwendigkeit, die selber vom kommerziellen System herrührt, kommt der Stereotypie und ideologischen Starrheit zugute, welche die Industrie überdies mit der Rücksicht auf ein jugendliches oder infantiles Publikum verteidigt. Zu den Filmen verhalten sich jene Fernsehspiele vergleichsweise wie Detektivnovellen zu Detektivromanen; die Kurzatmigkeit der Form steht beide Male im Dienst einer geistigen. Sonst aber sollte man das Sonderwesen der Fernsehproduktion nicht übertreiben, wenn man nicht selber zur Ideologie beitragen will. Die Ähnlichkeit mit den Filmen bezeugt die Einheit der Kulturindustrie; wo man sie anpackt, ist fast gleichgültig. Die Fernsehspiele nehmen sehr viel Sendezeit in Anspruch. Die Dezemberausgabe 1951 der ›Los Angeles Television‹ von Dallas W. Smythe und Angus Campbell, veröffentlicht von der ›National Association of Educational Broadcasters‹, wies nach, daß dramatische Programme die häufigsten waren. Mehr als ein Viertel der gesamten Darbietungen während einer beliebig herausgegriffenen Woche war solchen dramatischen Programmen »für Erwachsene« vorbehalten. Während der Abendstunden, also der günstigsten Sendezeit, wuchs die Zahl auf 34,5 Prozent an. Fernsehspiele für Kinder kamen noch hinzu. Unterdessen stieg die Menge der Fernsehspiele in New York auf 47 Prozent der Gesamtproduktion. Da der Aspekt sozialpsychologischer Manipulation, der übrigens auch anderen Typen nicht fehlt, an diesen numerisch so schwerwiegenden Programmen am deutlichsten zutage kommt, scheint es vollends gerechtfertigt, daß die Pilotenstudie mit ihnen vorliebnahm. Um einleuchten zu lassen, wie diese Programme ihre Betrachter affizieren, ist an den allzu vertrauten Begriff der ästhetischen Vielschichtigkeit zu erinnern; die Tatsache, daß kein Kunstwerk seinen eigentlichen Gehalt von sich aus eindeutig kommuniziert. Er
ist vielmehr komplex, läßt sich nicht festnageln und entfaltet sich erst in einem geschichtlichen Prozeß. Unabhängig von den Analysen aus Beverly Hills hat Hans Weigel in Wien dargetan, daß der Film, Produkt geschäftlicher Planung, solche Vielschichtigkeit nicht kennt; mit dem Fernsehen verhält es sich ebenso. Aber es wäre noch zu optimistisch zu glauben, die ästhetische Vielschichtigkeit sei durch informatorische Eindeutigkeit ersetzt. Vielmehr wird die Vielschichtigkeit, oder: ihre Verfallsform, von den Produzenten zu ihrem eigenen Besten umfunktioniert. Sie treten ihr Erbe an, indem sie mehrere, psychologisch übereinander gelagerte Schichten im Zuschauer voraussetzen, die sie gleichzeitig zu durchdringen suchen im Sinn eines einheitlichen und nach den Begriffen der Lenker rationalen Ziels, der Verstärkung des Konformismus im Zuschauer und der Befestigung des status quo. Unermüdlich lassen sie den Betrachtern mit einem Schlag offene und verborgene »Botschaften«, messages, zukommen. Vielleicht haben die letzteren, als die psychotechnisch wirksameren, im Planen den Vorrang. Die Heldin einer Fernsehposse aus einer Serie, die von einer Lehrerorganisation preisgekrönt ward, ist eine junge Lehrerin. Nicht bloß wird sie erbärmlich bezahlt, sondern hat auch noch nach den Vorschriften eines lächerlich aufgeblähten und autoritären Schuldirektors dauernd Konventionalstrafen zu zahlen. So fehlt es ihr an Geld, und sie leidet Hunger. Die angebliche Komik besteht darin, daß sie mit kleinen Listen versucht, von allerhand Bekannten sich zum Essen einladen zu lassen, doch stets ohne Erfolg; es scheint übrigens, daß die bloße Erwähnung von Essen der Kulturindustrie bereits für humoristisch gilt. Auf mehr als solchen Humor und den leichten Sadismus der peinlichen Situationen, in welche das Mädchen gerät, zielt der Ehrgeiz der Posse nicht; sie verkauft keine Idee. Die verborgene Botschaft besteht einzig in dem Blick des Manuskripts auf Menschen, der das Publikum dazu verführt, sie ebenso zu sehen, ohne daß jenes es nur merkte. Die Heldin bewährt so fröhlichen Mut und so viel geistige Überlegenheit, daß ihre glücklichen Eigenschaften als Entschädigung für ihr armseliges Los erscheinen: es wird zur Identifikation mit ihr ermuntert. Jedes Wort, das sie spricht, ist ein Witz. Die Posse gibt dem Zuschauer zu verstehen: wenn du Humor hast, gutmütig bist, rasch-geistig und charmant, brauchst du dich nicht allzusehr über deinen Hungerlohn aufzuregen; du bleibst doch
immer noch, was du bist. In einer anderen Posse derselben Serie setzt eine exzentrische alte Frau das Testament ihrer Katze auf und macht ein paar Schullehrer, Personen aus vorhergehenden Stücken, zu ihren Erben. Jeder Erbe läßt sich von dem Testament dazu verführen, sich so zu benehmen, als hätte er den Testator gekannt. Dessen Name ist Mr. Casey, so daß die präsumtiven Erben nicht wissen, daß es sich um eine Katze handelt. Keiner gibt zu, daß er seinen Wohltäter überhaupt nie gesehen hat. Später stellt sich heraus, daß die Erbschaft wertlos ist, nichts als Katzenspielzeug. Aber am Schluß wird entdeckt, daß die Alte einen Hundertdollarschein in jedem Spielzeug versteckte, und die Erben müssen im Müllhaufen wühlen, um zu ihrem Geld zu kommen. Die Moral der Geschichte, die den Zuhörer zum Lachen veranlassen soll, ist zunächst die billigskeptische Weisheit, daß jeder bereit sei, ein wenig zu schwindeln, wenn er glaubt, daß es nicht herauskommen kann, und zugleich die Warnung, solchen Impulsen nicht nachzugeben, wie denn durchweg die moralistische Ideologie mit der Bereitschaft ihrer Anhänger rechnet, über die Stränge zu schlagen, sobald man nur den Rücken wendet. Verborgen darunter jedoch ist der Hohn auf den universalen Tagtraum von der unerwarteten großen Erbschaft. Man soll, so will es die Ideologie, realistisch sein; wer sich aufs Träumen verlegt, macht sich als Faulpelz, Taugenichts und Schwindler verdächtig. Daß diese Botschaft nicht, wie das apologetische Argument lautet, in die Posse »hineinkonstruiert« ist, zeigt sich daran, daß Analoges immer wieder sich findet; in einem Wildwestspiel etwa sagt einmal einer: wo es um eine große Erbschaft geht, sind Schurkenstreiche nie weit. Solche synthetische Vielschichtigkeit funktioniert nur im festen Bezugssystem. Wenn ein Fernsehsketsch ›Dantes Inferno‹ heißt; wenn das erste Bild in einem Nachtlokal dieses Namens spielt, wo ein Mann im Hut an der Bar sitzt und etwas entfernt von ihm eine hohläugige, übertrieben geschminkte Frau mit hoch übereinander geschlagenen Beinen, die sich noch einen doppelten Cocktail bestellt, so weiß der Gewohnheitsfernseher, daß er bald auf einen Mord hoffen darf. Kennte er nichts als ›Dantes Inferno‹, so wäre er vielleicht zu überraschen; so aber sieht er das Spiel in dem Schema »Kriminaldrama«, in dem für besonders abscheuliche Gewalttaten gesorgt ist. Die Frau auf dem Barstuhl wird zwar vermutlich nicht
die Hauptverbrecherin sein, aber ihres degagierten Lebenswandels wegen doch dran glauben müssen; der Held, der noch gar nicht auftrat, wird aus einer Situation gerettet werden, aus der es nach menschlicher Vernunft keinerlei Ausweg gibt. Von den gewitzigten Zuschauern werden solche Vorstellungen gewiß nicht direkt auf den Alltag übertragen, aber sie werden doch dazu angehalten, ihre Erfahrungen ähnlich starr und mechanisch einzurichten. Sie lernen, Verbrechen sei normal. Dazu trägt bei, daß die Zehnpfennigromantik geheimnisvoller Untaten sich verbindet mit der pedantischen Nachahmung aller Requisiten des äußeren Lebens; wiche nur der Vorgang des Wählens einer Telefonnummer von dem tatsächlich geübten ab, so empfinge die Station entrüstete Briefe aus dem Publikum, das doch bereit ist, die Fiktion, an jeder Ecke laure ein Mörder, mit Behagen sich gefallen zu lassen. Der Pseudorealismus, den das Schema vorsieht, erfüllt das empirische Leben mit einem falschen Sinn, dessen Trug der Zuschauer schwer durchschauen kann, weil das Nachtlokal genauso aussieht wie das dem Zuschauer bekannte. Solcher Pseudorealismus reicht bis ins geringfügigste Detail und verdirbt es. Noch das Zufällige, scheinbar vom Schema nicht Ergriffene trägt dessen Spur, indem es unter der abstrakten Kategorie »Zufälligkeit des Alltags« erfunden ist; nichts klingt verlogener, als wenn das Fernsehen posiert, Menschen so reden zu lassen, wie sie reden. Von den Stereotypen, die innerhalb des Schemas operieren, ihre Macht der seinen verdanken und es zugleich bilden, seien einige willkürlich ausgewählt; sie bezeugen die Gesamtstruktur. Ein Spiel behandelt einen faschistischen Diktator, halb Mussolini, halb Perón, im Augenblick seines Zusammenbruchs. Ob dieser einem Volksaufstand oder einer Militärrevolte zuzuschreiben ist, wird so wenig von der Handlung berührt wie irgendein anderer gesellschaftlicher oder politischer Sachverhalt. Alles ist privat, der Diktator nichts als ein tölpelhafter Schuft, der seinen Sekretär und seine plump idealisierte Frau mißhandelt; sein Gegner, ein General, der frühere Liebhaber der Frau, die jedoch trotz allem loyal zu ihrem Gatten hält. Schließlich zwingt dessen Brutalität sie zur Flucht, und der General rettet sie. Der fruchtbare Moment des Schauerdramas ist der, daß die Garde, die den Diktator in seinem Palast bewacht, ihn im Stich läßt, sobald die prächtige Frau nicht mehr bei ihm weilt. Nichts von der objektiven Dynamik der
Diktaturen tritt ins Blickfeld. Erweckt wird der Eindruck, totalitäre Staaten seien die Folge der Charakterdefekte ehrgeiziger Politiker, und ihr Sturz sei der Noblesse derer zuzuschreiben, mit denen das Publikum sich identifiziert. Eine infantile Personalisierung der Politik wird betrieben. Wohl kann Politik auf dem Theater nur an Menschen behandelt werden. Dann müßte man aber darstellen, was totalitäre Systeme denen antun, die unter ihnen leben, anstatt daß man die Kitschpsychologie prominenter Helden und Bösewichter vor Augen stellt, vor deren Macht und Größe der Zuschauer Respekt haben soll, selbst wenn sie zum Lohn für ihre Taten untergehen. Eine Lieblingsmaxime des Fernsehhumors ist, daß das hübsche Mädchen immer recht hat. Die Heldin einer überaus beliebten Schwankserie ist das, was Georg Legman eine bitch heroine genannt hat und was man wohl auf deutsch mit Biest zu übersetzen hätte. Sie benimmt sich zu ihrem Vater unbeschreiblich grausam und unmenschlich; ihr Verhalten wird gerade eben rationalisiert als »lustige Streiche«. Aber es passiert ihr nie etwas; und was den Hauptpersonen in den Spielen widerfährt, soll ja dem Kalkül zufolge von den Zuschauern als objektiver Richtspruch eingesogen werden. In einem anderen Spiel aus einer Serie, die angeblich das Publikum vor Betrügern warnen will, ist das hübsche Mädchen eine Verbrecherin. Nachdem sie aber dem Zuschauer in den Anfangsszenen einmal so gut gefallen hat, darf dieser nicht enttäuscht werden; zu einer schweren Zuchthausstrafe verurteilt, wird sie sogleich begnadigt und hat alle Aussicht, von ihrem Opfer geheiratet zu werden, zumal sie immerhin Gelegenheit fand, ihre sexuelle Reinheit strahlend zu bewähren. Stücke solchen Schlages dienen fraglos dazu, eine parasitäre Haltung als sozial anerkannt zu verstärken; es wird eine Prämie auf das gesetzt, was die Psychoanalyse oralen Charakter nennt, die Mischung aus Abhängigkeit und Aggressivität. Keineswegs ist die psychoanalytische Interpretation kultureller Stereotypen zu weit hergeholt: die Kurzdramen selber kokettieren, der Konjunktur gehorchend, mit der Psychoanalyse. Manchmal kommen die von dieser unterstellten latenten Motive an die Oberfläche. Besonders weit verbreitet ist das Stereotyp des Künstlers als eines abnormen, lebensunfähigen und etwas lächerlichen Schwächlings oder seelischen Krüppels. Die ausgespitzte Volkskunst von heutzutage macht sich das zu eigen; sie
verherrlicht den starken Mann, ihr Bild vom Tatmenschen, und läßt durchblicken, Künstler seien eigentlich homosexuell. In einer Posse kommt ein Jüngling vor, der nicht nur die allbeliebte Maske des Trottels zu tragen hat, sondern überdies ein Dichter sein soll, scheu und, wie es in jenem Jargon heißt, »introvertiert«. Er ist verliebt in ein mannstolles Mädchen, aber zu schüchtern, um auf ihre Avancen einzugehen. Nach einem Lieblingsprinzip der Kulturindustrie sind die Rollen der Geschlechter vertauscht, das Mädchen aktiv, der Mann in Abwehr. Die Heldin des Stücks, natürlich eine andere als die Mannstolle, erzählt ihrem Freund von der Verliebtheit des trottelhaften Dichters. Auf die Frage »In wen?« antwortet sie: »Natürlich in ein Mädchen«, und ihr Freund sagt darauf: »Wieso natürlich? Das letzte Mal war er in eine Schildkröte verliebt, und die hieß Sam.« Die Kulturindustrie vergißt ihren Moralismus, sobald sie Gelegenheit hat, zweideutige Witze über das von ihr selbst geschaffene Bild des Intellektuellen zu reißen. Bei unzähligen Gelegenheiten biedert sich das Schema des Fernsehens dem internationalen Klima des Anti-Intellektualismus an. Aber die Perversion der Wahrheit, die ideologische Steuerung, beschränkt sich keineswegs bloß aufs Bereich des unverantwortlich Harmlosen oder des zynisch Abgefeimten. Die Krankheit steckt nicht in bösartigen Individuen sondern im System. Darum frißt sie auch an, was sich, soweit es erlaubt wird, höhere Ambitionen setzt und anständig sein will. Ein ernsthaft gemeintes Manuskript porträtiert eine Schauspielerin. Die Handlung versucht vorzuführen, wie die berühmte und erfolgreiche junge Frau von ihrem Narzißmus geheilt, zu einem realen Menschen gemacht wird und lernt, was sie nicht konnte: zu lieben. Dazu wird sie durch einen jungen – ausnahmsweise sympathisch gedachten – Intellektuellen, einen Dramatiker gebracht, der sie selbst liebt. Er schreibt ein Stück, in dem sie die Hauptrolle spielt, und ihre innere Auseinandersetzung mit dieser Rolle soll eine Art von Psychotherapie an ihr zuwege bringen, ihren Charakter ändern und die psychologischen Hindernisse zwischen den beiden beseitigen. In der Rolle lebt sie sowohl ihre an der Oberfläche liegende Gehässigkeit aus wie schließlich auch die edlen Impulse, die der Absicht des Stücks zufolge latent in ihr gegenwärtig sind. Während sie nach dem Modell der success story einen triumphalen Erfolg erringt, hat sie Konflikte mit dem Dramatiker, der als Amateur-Psychoanalytiker
fungiert, etwa so wie sonst Amateur-Detektive eingreifen. Die Konflikte werden verursacht von ihrem psychologischen »Widerstand«. Zum heftigen Zusammenstoß kommt es nach der Premiere, wenn die von sich selbst betrunkene Schauspielerin ihren Freunden eine hysterisch-exhibitionistische Szene aufführt. – Sie läßt ihre kleine Tochter in einem Internat erziehen, weil es für ihre Karriere schädlich sein könnte, wenn man erführe, daß sie ein größeres Kind hat. Das Mädchen möchte zu seiner Mutter und fühlt heraus, daß diese es nicht wünschte. Es läuft von der Schule weg und rudert auf den stürmischen Ozean hinaus. Heldin und Dramatiker eilen zu ihrer Rettung herbei. Wieder benimmt sich die Schauspielerin rücksichtslos und egozentrisch. Der Dramatiker bändigt sie. Das Mädchen wird von wackeren Seeleuten gerettet, die Heldin bricht zusammen, gibt ihren Widerstand auf und beschließt zu lieben. Am Ende bekommt sie ihren Dramatiker und legt eine Art von allgemeinem religiösem Bekenntnis ab. Der Pseudorealismus des Spiels ist nicht so einfacher Art, daß Konterbande wie die Selbstverständlichkeit des Verbrechens ins Bewußtsein des Publikums geschmuggelt würde. Pseudorealistisch ist vielmehr die inwendige Konstruktion der Handlung. Der psychologische Prozeß, der vor Augen gestellt wird, ist erschwindelt – phony, mit einem Wort, für das es schlechterdings kein deutsches Äquivalent gibt. Psychoanalyse, oder um welchen Typus von Psychotherapie es sich auch handeln mag, wird in einer Weise verkürzt und dingfest gemacht, die nicht nur der Praxis jeden derartigen Verfahrens Hohn spricht, sondern dessen Sinn ins Gegenteil verkehrt. Die dramaturgische Notwendigkeit, langausgesponnene psychodynamische Vorgänge in eine halbe Stunde zusammenzudrängen, auf welche die Produzenten sich herausreden könnten, harmoniert nur allzu gründlich mit der ideologischen Verzerrung, deren das Stück sich befleißigt. Vorgeblich tief reichende Veränderungen im Individuum und eine nach dem Modell des Verhältnisses von Arzt und Patienten gebildete Beziehung werden auf rationalistische Formeln gebracht und von simplen, eindeutigen Aktionen illustriert. Mit allerhand Charakterzügen wird herumgewürfelt, ohne daß das Entscheidende, der unbewußte Ursprung jener Charakterzüge, überhaupt aufkäme. Die Heldin, der »Patient«, ist sich von Anbeginn über sich selbst klar. Solche Verlagerung an die Oberfläche macht alles
Psychologische, das da vorgehen soll, zum Kinderspott. Zentrale Veränderungen in Menschen sehen aus, als brauchte nur jemand seinen »Problemen« gegenüberzutreten und der besseren Einsicht seiner Helfer zu vertrauen, und alles werde gut. Dicht unter der psychologischen Routine und dem »Psychodrama« lauert unverändert die schlechte alte Idee von der Zähmung der Widerspenstigen: daß ein liebesfähiger und starker Mann die launische Unberechenbarkeit einer unreifen Frau überwindet. Der tiefenpsychologische Gestus taugt nur dazu, abgestandene patriarchalische Anschauungen Betrachtern schmackhaft zu machen, die unterdessen von Komplexen etwas haben läuten hören. Anstatt daß die Psychologie der Heldin konkret sich manifestierte, schwatzen die beiden Hauptfiguren selber über Psychologie. Diese wird, in schreiendem Widerspruch zu aller neueren Einsicht, ins bewußte Ich verlegt. Nichts von den Schwierigkeiten, mit denen ein »phallischer Charakter« von der Art jener Schauspielerin im Ernst zu tun hat, wird berührt. So verbiegt das Spiel das Bild der Psychologie im Betrachter. Er wird das genaue Gegenteil ihrer Intention erwarten, und die ohnehin weit verbreitete Feindschaft gegen eingreifende Selbstbesinnung wird sich verstärken. Insbesondere der Freudsche Gedanke von der »Übertragung« ist pervertiert. Der Amateur-Analytiker muß der Liebhaber der Heldin sein. Seine pseudorealistisch der analytischen Technik nachgeahmte Distanziertheit wird verschmolzen mit jenem vulgären Stereotyp der Kulturindustrie, dem zufolge der Mann sich gegen die Verführungskünste der Frau stets zu wehren hat und sie erobert nur, indem er sie verwirft. Der Psychotherapeut ähnelt dem Hypnotiseur, die Heldin dem Cliché vom »gespaltenen Ich«. Einmal ist sie ein edler, liebevoller Mensch, der nur wegen irgendwelcher trauriger Erfahrungen die eigenen Gefühle unterdrückt, ein anderes Mal ein in sich selbst verliebtes, prätentiöses Weibchen, das seine Capricen doch viel zu sehr übertreibt, als daß man nicht von Anbeginn wüßte, welch prächtiger Kern da zum Vorschein kommen wird. Kein Wunder, daß unter solchen Bedingungen die Heilung schnell vonstatten geht. Kaum beginnt die Heldin die Rolle jener selbstlosen Frau zu spielen, mit der sie sich identifizieren soll, um ihr sogenanntes besseres Ich zu finden, und schon stellen ihre Freunde fest, daß etwas mit ihr vorgeht, daß sie in der Beziehung zur Rolle sich selbst wandelt. Umständliche Erinnerungen an die Kindheit
sind da überflüssig. Während das Stück durchblicken läßt, auf wie vertrautem Fuß es mit den jüngsten Errungenschaften der Seelenkunde steht, schaltet es mit völlig starren, statischen Begriffen. Die Menschen sind, was sie sind, und die Veränderungen, die sie durchmachen, bringen lediglich heraus, was, als ihre »Natur«, ohnehin in ihnen steckt. Damit tritt die verborgene Botschaft des Spiels in Gegensatz zur offenbaren. Nach außen bemüht es psychodynamische Vorstellungen; in Wahrheit lehrt es eine konventionelle Schwarz-Weiß-Psychologie, nach deren Ansicht Charaktere ein für allemal gegeben sind, wie physische Merkmale sich nicht verändern, sondern einzig allenfalls enthüllt werden. Das ist aber keine bloße wissenschaftliche Fehlinformation, sondern betrifft die Substanz des Stücks. Denn die Natur der Heldin, die herauskommen soll, indem sie durch die Rolle sich ihrer selbst bewußt wird, ist nichts anderes als ihr Gewissen. Wenn die Psychologie das Über-Ich als Reaktionsbildung auf verdrängte Impulse des Es, des Sexus, darstellt, so wird hier das Es, also die in einer Szene grell illustrierte Triebhaftigkeit der Heldin, zum Außenphänomen und das Über-Ich zum Verdrängten. Man mag zugestehen, daß es psychologisch dergleichen wirklich gibt: Ambivalenz zwischen triebhaftem und Zwangscharakter. Aber von Ambivalenz ist im Stück nicht die Rede. Es hält sich an die sentimentale Vorstellung eines Menschen, der von Herzen gut ist, aber sein zartes Inneres unter einem egoistischen Panzer versteckt. In der scène à faire, in der die beiden Egos der Heldin, die in den Spiegel schaut, miteinander streiten, wird ihr Unbewußtes grob gleichgesetzt der konventionellen Ethik und der Unterdrückung ihrer Instinkte, anstatt daß die Instinkte selbst durchbrächen. Nur ihr Bewußtes will exzedieren. So wird »umgekehrte Psychoanalyse« im wörtlichen Sinn betrieben: das Spiel verherrlicht eben die Abwehrmechanismen, auf deren Durchleuchtung es jene Prozesse abgesehen haben, die es vorzuführen beansprucht. Dadurch verändert sich die Botschaft. Anscheinend werden dem Zuhörer Lehren erteilt, wie daß er lieben solle, unbekümmert um die Frage, ob sich das lehren läßt – und daß er nicht materialistisch denken solle, während seit Fontanes Frau Jenny Treibel die Menschen, welche hemmungslos Ideale im Munde führen, die gleichen sind, denen Geld wichtiger ist als alles andere. In Wahrheit aber wird in den Zuschauer etwas ganz anderes hineingehämmert als jene zwar
banalen und fragwürdigen, aber einigermaßen harmlosen Ansichten. Das Stück läuft auf die Verleumdung von Individualität und Autonomie hinaus. Man soll sich »ergeben«, und zwar weniger der Liebe als dem Respekt für das, was die Gesellschaft nach ihren Spielregeln erwartet. Als Hauptsünde wird der Heldin angekreidet, daß sie sie selbst sein möchte: so spricht sie es selber aus. Eben das soll nicht sein: sie wird mores gelehrt, »gebrochen«, wie man ein Pferd zureitet. Was ihr Erzieher, in seiner großen Tirade gegen den Materialismus, als Stärkstes ihr entgegenschleudert, ist bezeichnend genug der Begriff der Macht. Er preist ihr die »Notwendigkeit geistiger Werte in einer materialistischen Welt«, aber er findet für diese »Werte« keinen passenderen Ausdruck als daß es eine Macht gäbe, »größer als wir und unser kleinlicher, selbstsicherer Ehrgeiz«. Von allen im Stück verhandelten Ideen ist die der Macht die einzige, die sich konkretisiert: als brutale physische Gewalt. Wenn die Heldin, um ihr Kind zu retten, in ein Boot springen will, wird sie von ihrem lieben Seelenarzt geohrfeigt, im Sinn jener Eisenbart-Tradition, die Hysterikerinnen zu kurieren beansprucht, indem man ihnen die Mucken austreibt, weil ja doch alles nur Einbildung sei. Die Heldin beteuert denn auch am Ende unterwürfig, von jetzt an sich bessern und glauben zu wollen. Das ist der Beweis ihrer Wandlung. Nichts widerwärtiger, als daß im Namen kruder Autorität Religion in das Spiel hineingezogen und propagiert wird. Die Kur der Heldin soll sie zugleich von der Scheinwelt des Theaters zur Wirklichkeit bekehren; wahrscheinlich hat die Autorin etwas von religiösem Existentialismus, von Kierkegaards Unterscheidung der ästhetischen und ethischen Sphäre aufgeschnappt. Aber in ihren Händen sinkt all das Kulturgut der Oberschicht herab. Sie nivelliert die Kontroverse zwischen dem Ethiker und der Künstlerin darauf, daß diese, ganz vernünftig, sich auf ihr Metier beruft und darauf, daß sie eben spiele und nicht die dargestellte Person wirklich sei; und dafür erhält sie eine schlechte Note. Der Theologe Kierkegaard aber hat in dem bedeutenden Essay über die Schauspielerin gerade das Gegenteil entfaltet: daß nur eine reife Frau ein junges Mädchen spielen könne, eben weil sie nicht der Personifizierten gliche. Während das Stück mit frommem Augenaufschlag schließt, zieht es Religion selber in den Kreis des Konformismus und der Konvention hinein. Die Schauspielerin lernt ihre religiösen Gefühle an der
Rettung ihres Töchterchens, etwa nach dem Sprichwort, daß es im Trommelfeuer keine Atheisten gäbe. Schließlich zersetzt das Spiel die eigene Botschaft. Nicht nur vermischt es trüb psychologische Halbbildung mit dem Lob der Demut. Sondern die Aufforderung zum Glauben am Ende verwandelt diesen in ein Mittel zu psychologischen Zwecken. Der Zuschauer wird zur Religion ermuntert, weil sie gesund für ihn sei; hat man einmal einen Glauben an »etwas«, so braucht man sich nicht mehr mit Narzißmus und Hysterie herumzuquälen. In der Tat wird in dem Stück von einer als Repräsentantin der Religion positiv gezeichneten Figur in einer Art Predigt gesagt, daß man »glücklich« werde, wenn man aufhöre, nach dem Glück in einem selbst und für einen selbst zu suchen. Weltliches Glücksgefühl wird zur Rechtfertigung des transzendenten Glaubens. Man hätte Kierkegaards Stimme zu solcher Theologie hören mögen. Hygienische Reklame für Religion ist blasphemisch. So kraß in derlei Produkten das Schlechte und Gefälschte obenauf liegt, so wenig läßt sich doch vermeiden, auf sie einzugehen und sie gegen ihren eigenen Willen ernst zu nehmen. Denn daß nichts von ihren Erzeugnissen ernst, alles bloß Ware und Unterhaltung sei, schreckt die Kulturindustrie nicht. Sie hat daraus längst ein Stück der eigenen Ideologie gemacht. Unter den analysierten Manuskripten finden sich nicht wenige, die mit dem Bewußtsein spielen, Kitsch zu sein, und dem unnaiveren Betrachter zublinzeln, sie glaubten sich selber nicht, sie seien nicht so dumm; ihn gewissermaßen ins Vertrauen ziehen, indem sie seiner intellektuellen Eitelkeit schmeicheln. Aber eine Schandtat wird dadurch nicht besser, daß sie sich als solche deklariert, und so muß man schon dem Unfug die Ehre antun, die er sich selbst verweigert, und ihn bei dem Wort nehmen, das in die Zuhörer einsickert. Dabei ist keine Gefahr, daß man die herausgegriffenen Exempel allzusehr belastet, denn ein jedes ist pars pro toto und erlaubt nicht nur, sondern erzwingt den Rückschluß aufs System. Angesichts von dessen Allmacht haben detaillierte Besserungsvorschläge zunächst etwas Argloses. Die Ideologie ist so glücklich mit dem Eigengewicht der Apparatur verschmolzen, daß jede Anregung als weltfremd, technisch unerfahren und unpraktisch mit den vernünftigsten Worten niedergeschlagen werden kann: der Schwachsinn des Ganzen setzt sich aus lauter gesundem
Menschenverstand zusammen. Man soll überhaupt die Möglichkeiten der Remedur durch guten Willen nicht überschätzen. Die Kulturindustrie ist zu gründlich mit mächtigeren Interessen verfilzt, als daß selbst die redlichsten Anstrengungen in ihrem Sektor allein allzuweit führen könnten. Mit einem unerschöpflichen Arsenal von Gründen vermag sie das Offenbare zu rechtfertigen oder wegzudisputieren. Das Gefälschte und Schlechte zieht magnetisch seine Verteidiger an, und noch die Subalternsten werden scharfsinnig weit über ihre geistigen Verhältnisse hinaus, wenn sie Argumente suchen für das, wovon sie im Innersten selber wissen, wie unwahr es ist. Die Ideologie erzeugt ihre eigenen Ideologen, die Diskussion, die Gesichtspunkte: so hat sie eine gute Chance, sich am Leben zu erhalten. Aber man soll sich auch nicht in den Defaitismus treiben und von jener versierten Forderung nach dem Positiven terrorisieren lassen, die doch meist nur die Veränderung des Zustands hintertreiben will. Zunächst ist es viel wichtiger, Phänomene wie den ideologischen Charakter des Fernsehens bewußt zu machen, und zwar keineswegs bloß denen, die auf der Produktionsseite sich befinden, sondern auch dem Publikum. Gerade in Deutschland, wo nicht wirtschaftliche Interessen unmittelbar die Sendungen kontrollieren, ist von Versuchen zur Aufklärung einiges zu erhoffen. Wenn die Ideologie, die sich ja einer recht bescheidenen Anzahl immer wiederholter Ideen und Tricks bedient, niedriger gehängt würde, könnte ein öffentlicher Widerwille dagegen sich bilden, an der Nase herumgeführt zu werden, wie sehr auch die gesamtgesellschaftlich erzeugten Dispositionen ungezählter Hörer der Ideologie entgegenkommen mögen. Es ließe sich eine Art von Impfung des Publikums gegen die vom Fernsehen verbreitete Ideologie und die ihr verwandten denken. Das setzte freilich viel weiter gespannte Untersuchungen voraus. Sie müßten sozialpsychologische Normen der Produktion auskristallisieren. Anstatt wie meist die Organe der Selbstkontrolle nach Kraftworten und Anstößigkeit zu fahnden, müßten die Produzierenden darüber wachen, daß jene Anschläge und Stereotypen ausgeschaltet werden, die, nach dem Urteil eines Gremiums verantwortungsvoller und unabhängiger Soziologen, Psychologen und Erzieher, in der Verdummung, psychologischen Verkrüppelung und ideologischen Umnebelung des Publikums terminieren. Das Bemühen um solche Normen ist darum nicht so
utopisch, wie es auf den ersten Blick erscheint, weil Fernsehen als Ideologie nicht Sache des bösen Willens, vielleicht nicht einmal der Inkompetenz der Beteiligten ist, sondern vom objektiven Ungeist erzwungen wird. Mit ungezählten Mechanismen erreicht er die Produzierenden. Eine sehr große Zahl von ihnen erkennt, wenn nicht stets in theoretischen Begriffen, so jedenfalls doch mit den ästhetischen Nerven, wie verrottet das ist, was sie herstellen müssen, und fügt sich einzig unter ökonomischem Druck; im allgemeinen ist der Widerwille um so größer, je näher man den Schriftstellern, Regisseuren, Schauspielern kommt, und nur das Geschäft und seine Lakaien proklamieren die menschliche Rücksicht auf die Kundschaft. Wird von einer Wissenschaft, die sich nicht dumm machen und mit administrativen Erhebungen abspeisen läßt, sondern in die Erforschung der Ideologie selbst eintritt, den gegängelten Künstlern der Rücken gestärkt, so hätten diese auch ihren Chefs und Kontrolleuren gegenüber einen besseren Stand. Daß die sozialpsychologischen Normen nicht etwa vorschreiben dürften, was nun das Fernsehen zu tun habe, versteht sich von selbst. Wie allerorten aber wäre der Kanon des Negativen nicht weit vom Positiven.
Sexualtabus und Recht heute
Fritz Bauer zum Gedächtnis
Der Theoretiker, der heute in praktische Kontroversen eingreift, erfährt regelmäßig und beschämend, daß, was er an Gedanken etwa beizubringen hat, längst gesagt ward und meist besser beim ersten Mal. Nicht nur ist die Menge des Geschriebenen und Publizierten ins Ungemessene angewachsen: die Gesellschaft selbst scheint, trotz allem expansiven Wesen, auch im Überbau, in Recht und Politik, vielfach auf ältere Stufen sich zurückzubilden. Das nötigt peinlich dazu, altvertraute Argumente aufzuwärmen. Noch dem kritischen Gedanken droht Ansteckung an dem, was er kritisiert. Er muß sich von den konkreten Gestalten des Bewußtseins leiten lassen, gegen die er angeht, und wiederkäuen, was sie vergaßen. Der Gedanke ist nicht rein bei sich selber; zumal der praktische so sehr gekettet an den geschichtlichen Augenblick, daß er im Zeitalter der Regression abstrakt und falsch würde, wenn er dieser gegenüber unentwegt aus dem eigenen Elan heraus sich fortbewegen wollte. Das allein ist die bittere Wahrheit am Wort vom Denker in dürftiger Zeit; was er zustandebringt, hängt daran, daß er sogar das Moment der ihm aufgedrungenen Rückbildung aktiviert, indem er es bewußt macht. Zumal den sexuellen Tabus gegenüber ist es schwer, irgend etwas mit der Intention von Aufklärung zu formulieren, was nicht längst, zuletzt noch in der Ära der angeblichen Frauenemanzipation, erkannt und dann wieder verdrängt worden wäre. Die Einsichten Freuds über die infantile Sexualität und die Partialtriebe, welche der überlieferten Sexualmoral die letzte Legitimation entzogen, gelten unvermindert auch in einem Zeitalter, welches die Tiefenpsychologie entschärfen möchte; und was Karl Kraus in seinem unvergleichlichen Frühwerk ›Sittlichkeit und Kriminalität‹ schrieb – erst jüngst ward der Band bei Längen-Müller, als elfter der Werke, wieder aufgelegt –, ist weder an Stringenz noch an Autorität zu überbieten. Die Situation trägt selber zur Konservierung des Veralteten und damit erst ganz Bösen bei: man wiederhole nur Allbekanntes, als ob es dadurch bereits widerlegt wäre. Die zweite Aufklärung aber, die man heute gegen die erste ausspielt, läuft, nach Enzensbergers Einsicht, bloß auf die Abschaffung der ersten hinaus.
Die Sabotage an der Aufklärung im Namen ihres Veraltens holt sich ihre Vorwände aber auch am Gegenstand. Die Rede über Sexualtabus klingt anachronistisch in Jahren, da jedes materiell von den Eltern einigermaßen unabhängige Mädchen seinen Freund hat; in denen die mit Reklame fusionierten Massenmedien, zur Wut ihrer restaurativen Gegner, unablässig sexuell aufreizen, und in denen, was amerikanisch a healthy sex life heißt, sozusagen zur physischen und psychischen Hygiene gehört. Ihr ist, nach der hübschen Formulierung der Soziologen Wolfenstein und Leites, bereits eine Art Moral des Vergnügens, fun morality, zugeordnet. All dem gegenüber nehmen Vorschläge zur Reform der Sexualgesetzgebung prima vista etwas ehrwürdig Suffragettenhaftes an. Darauf können dann die Hüter von Ordnung schlechthin mit einer billigen Ironie hinweisen, die selten versagt. Die Menschen haben doch ihre Freiheit, sie tun ohnehin, was sie wollen, nur Verbrechen sollen vom Gesetz verhindert werden – wozu eigentlich Reformen? Nichts anderes ist darauf zu antworten, als daß die Befreiung des Sexus in der gegenwärtigen Gesellschaft bloßer Schein sei. Ereignet hat sich mit ihm, wofür anderweitig die Soziologie ihren Lieblingsausdruck Integration verwendet; so wie die bürgerliche Gesellschaft der Drohung durchs Proletariat Herr wurde, indem sie es eingliederte. Die rationale Gesellschaft, die auf Beherrschung der inneren und äußeren Natur beruht und das diffuse, der Arbeitsmoral und dem herrschaftlichen Prinzip selber abträgliche Lustprinzip bändigt, bedarf nicht länger des patriarchalischen Gebots von Enthaltsamkeit, Jungfräulichkeit, Keuschheit. Sondern der an- und abgestellte, gesteuerte und in ungezählten Formen von der materiellen und kulturellen Industrie ausgebeutete Sexus wird, im Einklang mit seiner Manipulation, von der Gesellschaft geschluckt, institutionalisiert, verwaltet. Als gezügelter ist er geduldet. Ehedem hat die Gesellschaft kraft der sakramentalen Ehe mit ihm sich abgefunden; heute nimmt sie ihn, ohne Zwischeninstanzen wie die Kirche, vielfach auch ohne staatliche Legitimation, unmittelbar in Regie. Dadurch aber hat der Sexus sich verändert. Hob Freud bei seinem Versuch, das spezifisch Sexuelle zu beschreiben, das Moment des Unanständigen – und das will sagen, des gesellschaftlich Anstößigen – hervor, so ist dies Moment einerseits geschwunden, andererseits erst recht perhorresziert. Das verrät nicht viel weniger als eine Desexualisierung des Sexus selbst. Die
eingefangene oder mit schmunzelnder Nachsicht zugelassene Lust ist keine mehr; Psychoanalytiker hätten es nicht schwer nachzuweisen, daß in dem gesamten monopolistisch kontrollierten und standardisierten Sexualbetrieb, mit den Schnittmustern der Filmstars, Vor- und Ersatzlust die Lust überflügelt haben. Die Neutralisierung des Sexus, die man am Verschwinden der großen Passion beschrieben hat, verfärbt ihn noch dort, wo er sich ungescheut zu befriedigen wähnt. Daraus ist jedoch – und die zeitgemäßen Neurosen dürften das bestätigen – zu schließen, daß die Sexualtabus in Wahrheit nicht fielen. Einzig eine neue, tiefere Form von Verdrängung ist erreicht, mit all ihrem zerstörerischen Potential. Während der Sexus eingegliedert ward, bleibt, was an ihm nicht sich eingliedern läßt, das eigentlich sexuelle Aroma, der Gesellschaft verhaßt. Hat es seine Richtigkeit damit, daß das im spezifischen Sinn Sexuelle eo ipso das Verbotene sei, so weiß dies Verbot sich zu behaupten auch in den gebilligten Manifestationen des Sexus. Kaum anderswo als in der Zone des stets noch Verfemten dürfte sich soviel vom verborgenen Unwesen offenbaren. Sexuelle Freiheit ist in einer unfreien Gesellschaft so wenig wie irgendeine andere zu denken. Der Sexus wird als sex, gleichsam eine Variante des Sports, entgiftet; was daran anders ist, bleibt ein allergischer Punkt. Das nötigt dazu, trotz allem, abermals mit Sexualtabus und Sexualrecht sich zu befassen, nicht bloß aus vermutlich ohnmächtiger Solidarität mit den Opfern, sondern auch im Gedanken daran, was die mit der Integration steigende Verdrängung anrichten mag. Sie dürfte permanent das Reservoir autoritätsgebundener Charaktere speisen, die bereit sind, totalitären Regierungen welcher Spielart auch immer nachzulaufen. Eines der handgreiflichsten Ergebnisse der ›Authoritarian Personality‹ war, daß Personen von jener Charakterstruktur, die sie als totalitäre Gefolgsleute prädisponiert, in besonderem Maß von Verfolgungsphantasien gegen das nach ihrer Ansicht sexuell Abwegige, überhaupt von wilden sexuellen Vorstellungen geplagt werden, die sie von sich selbst abweisen und auf Außengruppen projizieren. Die deutschen Sexualtabus fallen in jenes ideologische und psychologische Syndrom des Vorurteils, das dem Nationalsozialismus die Massenbasis zu verschaffen half und das in einer dem manifesten Inhalt nach entpolitisierten Form fortlebt. Zu
ihrer Stunde könnte sie auch politisch sich konkretisieren. Systemimmanent und unauffällig zugleich, ist sie heute der Demokratie verderblicher als die neofaschistischen Bünde, die einstweilen weit weniger Resonanz finden, über weit geringere reale und psychische Ressourcen verfügen 1 . Die Psychoanalyse hat die Sexualtabus ebenso wie deren Niederschlag im Recht, zumal im kriminologischen Bereich – erinnert sei bloß an die Arbeiten Aichhorns – untersucht, und was sie dabei zutage förderte, gilt nach wie vor. Aber einiges wäre dem hinzuzufügen, um die Sachverhalte in der jüngsten geschichtlichen Phase zu treffen. In Freuds Epoche standen sie im Zeichen vorkapitalistischer oder hochbürgerlicher Formen der Autorität, des Patriarchalismus der Kleinfamilie, der Repression durch den Vater, ihrer Folge, des Zwangscharakters, und des ihm zugeordneten analen Syndroms. Gewiß bestätigt sich die gesellschaftliche These, daß der Überbau langsamer sich umwälzt als der Unterbau, auch psychologisch, an der von Freud hervorgehobenen, relativen Konstanz des Unbewußten. Tatsächlich ist die individuelle Psyche gegenüber der Vormacht der realen Gesellschaftsprozesse sekundär, wenn man will: Überbau. Unter den kollektiven Mächten, die anstelle der individuellen Vaterautorität getreten sind, west, wie Freud bereits in ›Massenpsychologie und Ich-Analyse‹ konstatierte, die Vaterimago fort. Aber seitdem haben doch im gesellschaftlichen Autoritätsgefüge Veränderungen sich zugetragen, die zumindest die konkrete Gestalt der Sexualtabus affizieren. Die genitale Sexualität, gegen welche die traditionelle Kastrationsdrohung sich kehrt, ist nicht länger der Angriffspunkt. Die Lebensborn-Gestüte der SS, die Ermunterung der Mädchen zu temporären Beziehungen mit jenen, die sich selber zur Elite erklärt und als solche eingerichtet hatten, sind, wie viele Pionieruntaten des Dritten Reiches, bloß die extreme Vorwegnahme gesamtgesellschaftlicher Tendenzen. So wenig jedoch der SS-Staat das Reich der erotischen Freiheit war, so wenig ist es die Badestrand- und Campinglibertinage von heute, die übrigens in jedem Augenblick zurückgepfiffen werden kann auf den Stand dessen, was in der Sprache der Tabus gesunde Ansichten heißt. Anthropologische Züge wie der Konkretismus unter den Jungen, das Verkümmern der Phantasie, das widerstandslose sich Einrichten auf übermächtig gegebene Bedingungen haben einen Aspekt, der zur neuen Gestalt der Sexualtabus recht genau stimmt.
Der Freudschen Theorie zufolge ist die zivilisatorisch approbierte und herrschende Form der Sexualität, die genitale, nicht, als was sie so gern sich verkennt, ursprünglich, sondern Resultat einer Integration. In ihr schließen unterm Zwang gesellschaftlicher Anpassung die Partialtriebe des Kindes, über die Agentur der Familie, zu einem Einheitlichen und dem gesellschaftlichen Zweck der Fortpflanzung Günstigen sich zusammen. Daß es mit dieser Integration in der genitalen Sexualität seine prekäre Bewandtnis hat, ist Freud nicht entgangen, und er hat es, darin durchaus patriarchalischer Bürger, beklagt. Wahres erotisches Triebleben, die Beziehungen, in denen Lust sich realisiert, ist keineswegs jenes healthy sex life, das in den fortgeschrittensten industriellen Ländern heute alle Branchen der Wirtschaft, von der kosmetischen Industrie bis zur Psychotherapie, ermuntern. Vielmehr überlebt in der Genitalität die partiale Libido, die in jener sich zusammenfaßt. Jedes Glück entflammt an der Spannung beider. So wie die Partialtriebe, sofern sie nicht genital sich erfüllten, etwas Vergebliches behalten, als gehörten sie einem Stadium an, das Lust noch nicht kennt, so ist die von den als pervers geächteten Partialtrieben ganz gereinigte Genitalität arm, stumpf, gleichsam zum Punkt zusammengeschrumpft. Desexualisierung der Sexualität wäre wohl psychodynamisch zu verstehen als die Form des genitalen Sexus, in der dieser selber zur tabuierenden Macht wird und die Partialtriebe verscheucht oder ausrottet. Ein Stück sexueller Utopie ist es, nicht man selber zu sein, auch in der Geliebten nicht bloß sie selber zu lieben: Negation des Ichprinzips. Sie rüttelt an jener Invariante der im weitesten Sinn bürgerlichen Gesellschaft, die von je auf Integration aus war, der Forderung nach Identität. Zunächst war sie herzustellen, schließlich wäre sie wieder aufzuheben. Was bloß identisch ist mit sich, ist ohne Glück. In der genitalen Zentrierung aufs Ich und auf die in sich ebenso feste Andere, für die nicht umsonst der Titel Partnerin Mode wurde, steckt Narzißmus. Libidinöse Energie wird auf die Macht verschoben, die jene beherrscht und dadurch betrügt. Das von Freud betonte Unanständige jedoch haftet am Überschuß der Partialtriebe über die Genitalität, von dem diese Gewalt und Glanz empfängt. Die traditionellen gesellschaftlichen Tabus trafen beides in einem, Genitalität und Partialtriebe, obwohl wahrscheinlich doch die Spitze eigentlich mehr wider diese sich kehrte; das Werk Sades revoltierte
dagegen. Mit der zunehmenden sozialen Bestätigung der Genitalität steigt der Druck gegen die Partialtriebe und gegen ihre Repräsentanten in genitalen Beziehungen. Als ihr Rest wird nur der sozialisierte Voyeurismus kultiviert, die Vorlust. Sie setzt die Betrachtung durch alle anstelle der Vereinigung mit Einer und drückt damit die Sozialisierungstendenz des Sexus aus, die selbst einen Aspekt seiner tödlichen Integration ausmacht. Die Prämie, welche die patriarchalische Gesellschaft auf den weiblichen Charakter, die passive, der eigenen Regung, womöglich dem eigenen Lustanspruch entwöhnte Fügsamkeit setzt, tut ein übriges zur Desexualisierung des Sexus. Ihn beschlagnahmt ein Ideal des Natürlichen, das unter einer Art von Freiluftkultur möglichst auf die pure Genitalität hinausläuft und gegen jedes Raffinement sich sträubt. Die Gestalt der Tabus inmitten formaler Freiheit wäre zu studieren; Modellen wie jener Natürlichkeit, ebenso aber auch den gleichwie in Gummi gehüllten Serienmustern des Sexus, dürfte dabei einige Wichtigkeit zufallen. In dem Klima, das die unterirdische Gewalt der Verbote mit der Lüge vermischt, sie wären außer Kraft gesetzt, gedeihen die Verfolgungen jüngsten Stils. Wie – komplementär zur allenthalben offenbaren Ich-Schwäche, als psychologisch zugeeignete Unfähigkeit zur Abweichung von dem, was alle tun – die Partialtriebe seelisch und real, wenn nicht alles trügt, mehr denn je verdrängt werden, so werden sie auch gesellschaftlich behandelt; je weniger, anscheinend, unanständig sei, um so schlimmer die Rache an dem, was es trotz allem noch sein soll. Das hygienische Ideal ist rigoroser als das der Askese, die nie das bleiben wollte, was sie war. Die Tabus inmitten des Scheins von Freiheit lassen aber vor allem darum nicht mit sich spaßen, weil niemand mehr ganz an sie glaubt, während sie doch zugleich vom Unbewußten der Individuen und von den institutionellen Mächten befestigt werden. Allgemein werden repressive Vorstellungen um so grausamer, je mehr sie ausgehöhlt sind: sie müssen ihre Anwendung übertreiben, damit der Schrecken den Menschen einrede, was so stark ist, sei auch legitim. Die Hexenprozesse blühten, als der thomistische Universalismus zerfallen war. Ähnlich sind die exhibitionistischen Sündenbekenntnisse derer, die ihren Moralismus austoben, indem sie ihn mit dem Wort Aufrüstung assoziieren, so attraktiv für die Massen, weil der Begriff Sünde losgelöst vom theologischen Dogma keine Substanz mehr hat. Der spezifische
Tabucharakter verstärkt sich dadurch. Waren die primitiven Tabus, motiviert vom Inzestverbot, unwiderstehlich, weil dessen verdrängende Gewalt jede Begründung ausschloß, so werden die Sexualtabus im Stand der zugleich totalen und verhinderten Aufklärung überstark, seitdem sie auch für die, welche ihnen gehorchen, keine raison d'être mehr haben. Das Verbot als solches saugt die Energien auf, die ihm einmal aus mittlerweile versiegten Quellen zuströmten. Die Lüge, die dem Tabu eingebrannt ist, wird selber zum Moment des Sadismus, der das auserwählte Opfer ereilt und ihm blinzelnd bedeutet, sein Schicksal verdanke es nicht dem Delikt sondern seiner wie immer auch zufälligen Andersheit, seiner Abweichung vom Kollektiv, seiner Zugehörigkeit zur gerade designierten Minorität. – Gleichwohl sind die Tabus heute, ihrem Inhalt nach, nicht neu sondern das Nachbild älterer. Diese, tief in den Schatz der Vorstellungen hinabgesunken, lassen von manipulierenden Mächten sich ausmünzen. Von oben her werden sie wieder erweckt. Noch ihre nachbildhafte Blässe dient der Repression: sie erlaubt es, die aufgespeicherte alte Entrüstung zeitgemäß auf alles Mögliche umzudirigieren, einigermaßen unbekümmert um seine Qualität: Andersheit als solche ist der erkorene Feind. Empirische Untersuchung hätte dem nachzugehen, wie halbvergessene und gesellschaftlich in gewissem Maß tatsächlich überholte Tabus sich mobilisieren lassen. Offen bleibt einstweilen, ob die Wut, deren die Demagogie der Sittlichkeit sich bedient, primär und unmittelbar die über erotische Versagungen ist. Denkbar, daß sie auf eine Gesamtverfassung des gegenwärtigen Lebens sich bezieht. Bei formaler Freiheit wird jedem Einzelnen die Verantwortung einer Autonomie aufgebürdet, die er schon anthropologisch kaum aufbringt, während durch das Mißverhältnis zwischen den übermächtigen Institutionen und dem winzigen Aktionsbereich des Einzelnen dieser auch objektiv unablässig sich überfordert und bedroht fühlt; eine Drohung, in der freilich die alte der Kastration, unkenntlich geworden, sich verbirgt. Die Erweckung der Tabus ist möglich dadurch, daß soziales Leiden – nach psychologischem Maß: das des Ichs – verdrängt und verschoben wird auf den Sexus, den alten Schmerz. Dadurch wird dieser, in äußerstem Widerspruch zur Oberfläche, gesellschaftlicher Nervenpunkt; die Sexualtabus sind gegenwärtig stärker als alle anderen, selbst die politischen, wären sie auch noch so emphatisch
eingehämmert. Die Öffentlichkeit hallt wider von sei's zustimmenden, sei's beklagenden Erklärungen über die gewandelte Sexualmoral. Sie sind sehr verwandt den kurrenten Thesen, daß es keine Ideologie mehr gebe, die gleichzeitig dem dumpfen Zynismus das gute Gewissen von Aufklärung verschaffen und jede über die existenten Bedingungen hinausweisende Vorstellung als anachronistisch verdächtigen. Daß jedoch all diesen Ansichten zum Trotz die Tabus nicht beseitigt sind, läßt sich ablesen an Formen des objektiven Geistes, an unausdrücklichen Spielregeln und Sitten, mehr noch in der Sphäre des Rechts. Allerorten werden die Prostituierten verfolgt, während sie einigermaßen ungeschoren waren in der Ära vorgeblich härterer sexueller Unterdrückung. Daß man nach gelungener Emanzipation der Huren nun nicht mehr bedürfe, ist ein verlogener und fadenscheiniger Vorwand. Den Zeloten stünde es am letzten an, ihre Maßnahmen mit eben jener Freiheit der Sitten zu begründen, die sie wieder abschaffen möchten. Die Technik der Razzien; die Schließung der Bordelle, welche die Prostitution erst zu dem Ärgernis erniedrigt, das man ihr vorwirft; der Eifer, der irgendwelche Viertel für besonders bedroht erklärt, um dann über das Überhandnehmen der Huren dort sich zu entrüsten, wohin sie flüchten müssen – wie die Juden sollen sie keine Bleibe haben –, all das bezeugt eine Gesinnung, die zwar über die Entwürdigung des Eros zetert, aber alles tut, um ihn noch einmal zu entwürdigen: zur Glücklosigkeit zu verurteilen. Die Prostituierte, Bild dessen, was Unerfahrenheit und Neid als Laster sich ausmalt, wird fraglos weithin mit dem Partialtrieb identifiziert. Sie liefere Perversität, im wunderlichsten Widerspruch zu der armseligen und versagenden Form des Erwerbs, zu welcher die Prostitution wurde in einer Glashausgesellschaft, die alle Schlupfwinkel ausräuchert. Man braucht keinerlei Illusionen zu hegen über den off limits-Bereich und wird doch die Huren, die mittlerweile so abscheulich geworden sind, wie der Neid der Gesellschaft sie sich wünscht und sie behandelt, als ahnungslose Repräsentanten einer anderen Möglichkeit des Sexus gegen die Schmach der Sittlichkeit verteidigen. Was diese an Argumenten vorbringt: der Schaden, den sie stifteten, der Anstoß, den sie erregten, ist nichtig; keiner brauchte sich bei ihnen aufzuhalten, der sie nicht sehen will, vollends nicht, wenn die Bordelle toleriert würden. Wem von den Jugendlichen,
denen die Zeitungskioske gewidmet sind, der Anblick eines Straßenmädchens viel Neues bietet, ist ungewiß; das Unheil, das er anrichten könnte, fiktiv. Lächerlich und widerwärtig ein Quid pro quo wie jenes, das sich ereignete, als ein protestantischer Pfarrer in einem Großstadtquartier die Prostitution mit Predigten und Versammlungen auszurotten verhieß, anstatt sein Nachtleben auf die Abendmusiken zu beschränken, die ihm und seinesgleichen vorbestimmt sind und in denen er nach Herzenslust verdrängen kann; unerträglicher noch, daß dann die Zuhälter, anstatt ihrer Tradition gemäß zu pfeifen, ihm in die Wohnung schossen; eine ernsthafte Gefährdung der öffentlichen Sitten jedoch, daß am Ende die Polizei Erklärungen von sich gab, jene Schüsse hätten mit dem moralischen Kreuzzug nichts zu tun gehabt. In einer Gesellschaft, die auch nur entfernt so mündig wäre, wie ihre Verfassung es unterstellt, müßte die Publizität solche Vorkommnisse unmöglich machen; es sagt etwas über den Gesamtzustand, daß dergleichen geschieht und in der Presse breitgetreten wird, ohne daß einer der Komik gewahr wird. Freilich, tröstete man sich damit, daß eine zurückgebliebene und fanatisierte Minderheit ihren Willen lärmend der Mehrheit aufzwinge, so wäre das illusionär; die losgelassene Sittlichkeit könnte nicht auf den Strich gehen und jenes Ärgernis bereiten, das sie zu nehmen vorgibt, harmonierte nicht die Triebstruktur der Bevölkerung mit ihr. Daß in Deutschland, wo man tausendfachen Grund hätte, die Verfolgung wehrloser Gruppen zu scheuen, die der Prostituierten unentwegt weitergedeiht, ist unmißverständlich. Bleiben Morde an Prostituierten ungesühnt, so mag das in jedem Einzelfall plausibel zu entschuldigen sein; die Häufigkeit solcher ungeklärten Fälle jedoch sagt, verglichen etwa mit der Promptheit der Justiz bei Eigentumsdelikten, daß die gesellschaftliche Macht, wie immer auch unbewußt, denen den Tod wünscht, die für sie, fälschlich, die Lust verkörpern, die nicht sein soll 2 . Zur Prostituiertenjagd wird wahrscheinlich nicht trotz einem Zustand geblasen, in dem außereheliche Beziehungen zur Regel geworden sind, sondern gerade um dieses Zustands willen: die Frauen, die inmitten aller beruflichen Emanzipation immer noch ihr Surplus an gesellschaftlicher Last zu tragen haben, fühlen auch unter der stillschweigenden Duldung das Tabu, das sie in jedem Augenblick ereilen kann; etwa mit Hilfe des zu allem anderen auch noch absurd ausgeweiteten Kuppeleiparagraphen, oder wenn sie
schwanger werden. Das brütet Rachsucht aus. Zu der trostlosen Dynamik dessen, was die Soziologie mit Vorliebe zwischenmenschliche Beziehungen nennt, zählt auch, daß die, auf welche Druck ausgeübt wird, suchen, den Druck auf andere, schwächere Gruppen zu transferieren, rational oder irrational das Odium weiterzugeben. Eine der dafür bevorzugten, durch Ohnmacht ausgezeichneten Gruppen ist die Prostitution. Sie hat nicht nur die Rancune der Männer über die offizielle Monogamie zu büßen, von der sie wiederum lebt, sondern obendrein auch die der Frauen, die, während sie oft widerwillig genug auf Verhältnisse sich einlassen, weil es nun einmal dazu gehört, immer noch dem nachtrauern, wozu die bürgerliche Gesellschaft seit Jahrhunderten sie dressierte, und insgeheim den nicht einmal unverständlichen Willen hegen, durch Heirat Sicherheit und Reputation zu erlangen. Am Nachleben der sexuellen Tabus bestätigt sich, daß Verfolgung nicht besser macht; weder die im Beruf bürgerlich eingegliederten Frauen, wofern ihnen im Privatleben bürgerliche Vorteile vorenthalten werden, noch die ausgestoßenen. Von allen bösen Wirkungen der zwielichtig-uneingestandenen sexuellen Unterdrückung ist das vielleicht die ärgste. Besonders auffällig ist sie bei jenem Typus von Homosexuellen, bei dem die Begeisterung fürs Virile mit der für Zucht und Ordnung sich paart, und der, mit der Ideologie des edlen Leibes, zur Hetze gegen andere Minoritäten, etwa die Intellektuellen, bereit ist. Der abscheuliche Homosexuellenparagraph hat sich ins befreite Deutschland hinübergerettet. Die Milderung, welche es erlaubt, wenigstens minderjährige Inkulpaten straffrei zu lassen, wird leicht zum Geschenk an Erpresser. Gegen den Homosexuellenparagraphen ist eigentlich nicht zu argumentieren, sondern nur an die Schmach zu erinnern. Bloß auf einen weniger beachteten Aspekt der Verfemung der Homosexuellen sei hingewiesen, die ja als Menetekel zweckentfremdeter Sexualität wirken. Manche mögen sagen, die Homosexuellen blieben, solange sie nicht Minderjährige oder Abhängige mißbrauchten, in praxi doch weit unbehelligter als früher. Nun ist es widersinnig, daß ein Gesetz darum sich rechtfertige, weil es nicht, oder nur in geringem Maß, angewendet werde; was solche Denkschemata für die Rechtssicherheit und das Verhältnis der lebendigen Menschen zur legalen Ordnung involvieren, braucht nicht ausgemalt zu werden. Aber würde selbst
wirklich den Homosexuellen weniger angetan, die Atmosphäre fortdauernder legaler Diskriminierung müßte sie unablässigem Angstdruck unterwerfen. Akzeptiert man aber die psychoanalytische Lehre, daß Homosexualität vielfach neurotisch, Produkt einer Entscheidung von Kindheitskonflikten sei, welche die sogenannte normale Auflösung des Ödipuskomplexes verhinderte, so wird, nach dem psychologischen Gesetz der Anlehnung, der gesellschaftlich-legale Druck, wäre es auch mittelbar, die Neurosen perpetuieren und verstärken. Unter den Homosexuellen dürften recht viel geistig Begabte sich finden; psychogenetisch wohl darum, weil sie kraft der extremen Identifikation mit der Mutter auch jene Züge verinnerlichten, welche die Mutter dem Vater, dem Vertreter praktischen Realitätssinns, entgegensetzte. Trügt meine Beobachtung nicht, so ist gerade unter den geistig begabten Homosexuellen besonders auffällig die psychologische Fesselung ihrer Produktivität, die Unfähigkeit, zustande zu bringen, was sie wohl vermöchten. Daran ist der permanente Angstdruck, und die gesellschaftliche Ächtung, die ebenso die Gesetzgebung inspiriert, wie durch sie verstärkt wird, doch wohl beteiligt. Durch den Homosexuellenparagraphen tendiert die Gesellschaft auch in der legalen Sphäre zum Gleichen wie in ungezählten anderen, zur Zerstörung geistiger Kräfte. Wo zumindest das soziale Tabu über der Homosexualität geringer ist, etwa in manchen aristokratisch geschlossenen Gesellschaften, scheinen die Homosexuellen weniger neurotisch, charakterologisch weniger deformiert zu sein als in Deutschland. Das stärkste Tabu von allen jedoch ist im Augenblick jenes, dessen Stichwort »minderjährig« lautet und das schon sich austobte, als Freud die infantile Sexualität entdeckte. Das universale und begründete Schuldgefühl der Erwachsenenwelt kann, als seines Gegenbilds und Refugiums, dessen nicht entraten, was sie die Unschuld der Kinder nennen, und diese zu verteidigen, ist ihnen jedes Mittel recht. Allbekannt, daß Tabus um so stärker werden, je mehr der ihnen Hörige unbewußt selber begehrt, worauf die Strafe gesetzt ist. Der Grund für den Minderjährigenkomplex dürfte in ungemein mächtigen Triebregungen liegen, die er abwehrt. Man muß ihn zusammendenken damit, daß im zwanzigsten Jahrhundert, möglicherweise aus einer unbewußten Homosexualisierung der Gesellschaft heraus, das erotische Ideal infantil wurde, zu dem, was
man vor dreißig oder vierzig Jahren mit lüsternem Schauer Weibkind nannte. Der Erfolg der ›Lolita‹, die nicht lasziv ist und immerhin zuviel literarische Qualität für einen Bestseller hat, wäre einzig durch die Gewalt jener imago zu erklären. Wahrscheinlich hat das verpönte Wunschbild auch seinen gesellschaftlichen Aspekt, den akkumulierten Widerwillen gegen einen Zustand, der Pubertät und Selbständigkeit der Menschen temporal auseinanderreißt. Zu Lolita, Tatjana und Baby Doll sind Komplemente die Vereine, die am liebsten auf jeden Spielplatz hinter jedes Kind eine sittlich gereifte Polizistin stellen möchten, welche es vor dem Bösen behütet, auf das die Erwachsenen lauern. Beschenkte ein Nachkomme des Fontaneschen Herrn von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland die kleinen Mädchen mit Birnen, so machte seine Humanität sogleich sich verdächtig. Die berührte Zone ist heikel nicht bloß der heftigen Affekte wegen, die entbunden werden, sobald man der herrschenden Meinung nicht anhängt, sondern auch wegen der unbestreitbaren Schutzfunktion des Gesetzes. Selbstverständlich muß verhindert werden, daß Kindern Gewalt geschieht, oder daß Vorgesetzte irgendwelcher Art ihre Position dazu mißbrauchen, von ihnen Abhängige zu zwingen, ihnen zu Willen zu sein. Darf ein Mann, der auf Kinder Sexualattentate begeht, weiter frei herumlaufen, weil ihn seine Eltern aufgenommen und ihm Arbeit verschafft haben – als ob das eine mit dem anderen das mindeste zu tun hätte –, so werden dadurch noch die reinheitswütigen Organisationen ins Recht gesetzt, welche die Behörde verklagen: sie mag durch ihre Leichtfertigkeit wirklich dafür verantwortlich sein, daß der Betreffende kurz danach ein kleines Mädchen ermordete. Aber um diesen Wahrheitskern hat sich eine Vorstellungsmasse angesammelt, die erst einmal überprüft werden müßte, anstatt daß heiliger Eifer jede nähere Besinnung unterbindet. Hypothetisch etwa sind die angeblich gefährlichen Folgen der Lektüre und Betrachtung von Pornographie. Töricht und ein Eingriff in die persönliche Freiheit, sie Erwachsenen vorzuenthalten, die daran Vergnügen finden. Bei Minderjährigen wäre die schädliche Wirkung und deren Beschaffenheit erst einmal festzustellen: neurotische Defekte, Phobien, Konversionshysterien oder was immer sonst. Die Weckung des ohnehin meist schon vorhandenen Interesses an Sexuellem kann als schädlich nicht diffamiert werden, es sei denn, man wäre radikal genug, den Sexus
schlechthin zu verdammen – eine Haltung, die heute schwerlich viel Liebe fände, und vor der die Sittlichkeitsapostel sich zu hüten pflegen. Gerade als unverstümmelter, unverdrängter bereitet der Sexus an sich keinem Menschen etwas Übles. Das müßte nicht bloß unqualifiziert ausgesprochen werden, sondern die Logik der Gesetzgebung und ihre Anwendung durchdringen. Angesichts der aktuellen und potentiellen Schäden, die gegenwärtig der Menschheit von ihren Verwaltern angetan werden, hat das sexuelle Schutzbedürfnis etwas Irres, aber die Zahl derer ist geringer, die es wagen, das offen zu sagen, als selbst die derjenigen, welche gegen so hochansehnliche gesellschaftliche Einrichtungen wie den bakteriologischen und den Atomkrieg protestieren. Bei den Schutzgesetzen für Minderjährige wäre zumindest zu prüfen, ob sie wirklich die Opfer sei's von Gewalt, sei's von abgefeimten Täuschungsmanövern sind, oder ob sie nicht selbst längst in jenem Zustand sich befinden, den das Gesetz zu verzögern sich anmaßt, und ob sie nicht ihren Mißbrauch aus Freude an der Sache, vielleicht auch nur um zu erpressen, selbst provozierten. Einstweilen hat ein Strichjunge, der seinen Kunden hinterher umbringt und beraubt und dann vor Gericht aussagt, er habe aus Ekel vor den Zumutungen gehandelt, die an ihn ergangen seien, die Aussicht, gütige Richter zu finden. Auch der Schutz abhängiger Personen ist allzu summarisch. Schöpfte die Praxis den Wortlaut des Gesetzes aus, so wäre für die Fülle der Delinquenten nicht Raum genug in den Gefängnissen; das allein ist gewiß kein Argument, aber immerhin ein Hinweis. Überdies dürften die geltenden Bestimmungen dem Regisseur ein Verhältnis mit seiner Schauspielerin gestatten, dem Intendanten das mit einer Verwaltungsangestellten verbieten. Vernünftigerweise müßte man die einschlägigen Paragraphen so modifizieren, daß sie bloß auf solche Fälle angewandt werden, wo die Vorgesetzten gegenüber den ihnen Unterstellten ihre Machtposition ausnutzen, sie wirklich und erweislich mit Entlassung und anderen Nachteilen bedrohen, nicht aber, wenn das Paar von der Situation vereint wird, wie weiland Paolo und Francesca bei der Lektüre. Eine behutsame und jeglichen Mißbrauch ausschließende Fassung des Paragraphen 174 des geltenden Strafgesetzbuches ist um so dringlicher, als gerade er, wenn auch keineswegs er allein unter den Sittlichkeitsparagraphen, dazu herausfordert, politisch und sonstwie Mißliebige, wie es im
neudeutschen Jargon so traditionsbewußt heißt, abzuschießen. Insgesamt wäre die Gesetzgebung keineswegs nur zu mildern. Manches wäre zu verstärken, zumal Paragraphen, welche gegen Roheitsdelikte gerichtet sind. Stets noch werden, wie Karl Kraus erkannte, unerlaubte Zärtlichkeiten gegen Minderjährige härter bestraft, als wenn Eltern oder Lehrherren sie halbtot prügeln. Begeht einer im Suff brutale Gewaltakte, so wird sein Zustand ihm strafmildernd angerechnet, als hauste im Innern des esprit des lois der Komment, der den Suff als Exzeß nicht nur toleriert, sondern ihn als Beweis männlicher Tugend verlangt. Daß immer wieder versichert wird, angeheiterte, übrigens auch ihrer Sinne mächtige Autofahrer, die jemand totfahren, hätten kein Kavaliersdelikt verübt, bezeugt bloß, wie eingewurzelt die Neigung ist, ihre Untat als solches zu sehen, und das dürfte auch in der Rechtsprechung sich reflektieren. Die deutschen Autositten gehören wohl überhaupt, im Gegensatz zu den angelsächsischen wie zu den romanischen Ländern, zu jenen nationellen Eigentümlichkeiten, in denen etwas vom Geist des Hitlerischen Reiches sichtbar fortdauert: die Geringschätzung des Menschenlebens, von dem eine alte deutsche Ideologie bereits den Gymnasiasten einbläute, es sei der Güter höchstes nicht. Was damals, als bloß empirisch, verachtet ward gegenüber der Majestät des Sittengesetzes, wird, im Lauf des Entwicklungszugs einer Gesellschaft, die stolz darauf ist, der Ideologien sich entledigt zu haben, nun verachtet aus primitivsten Regungen von Selbsterhaltung, dem Drang zum Vorwärtskommen im unmetaphorischen Sinn, der Verleiblichung gesunden Erfolgswillens. Ganz unideologisch geht es freilich auch dabei nicht zu: wo einst das Sittengesetz waltete, wird nun darüber gewacht, daß man die Verkehrsordnung respektiert; die Voraussetzung dafür, jemand guten Gewissens umzubringen, ist das grüne Licht der Ampel. Analog hat die Sozialpsychologie beim Studium der nationalsozialistischen Mores den Begriff des Legalitären geprägt. Geplante Morde wurden durch irgendwelche Veranstaltungen, sei es auch post festum, gedeckt, indem die Volksvertreter sie als rechtens erklärten. Legalitäres Bedürfnis hegt offenbar die Brutalität des Straßenverkehrs ebenso wie die bei der Verfolgung unschuldiger Opfer und unschuldiger Vergehen. Das Einverständnis mit der Roheit, mit verdrückten Instinkten dort, wo sie mit institutionellen sozialen Formen harmonieren, begleitet treulich den Haßgesang
gegen die Partialtriebe. Prinzipiell und mit unvermeidlicher Übertreibung wäre wohl zu sagen, daß in Recht und Sitte all das Sympathie findet, worin Verhaltensweisen der gesellschaftlichen Unterdrückung – letztlich der sadistischen Gewalt – sich fortsetzen, während unerbittlich reagiert wird auf Verhaltensweisen, die dem Gewalttätigen gesellschaftlicher Ordnung selbst entgegen sind. Eine Strafrechtsreform, die den Namen verdiente, und die freilich heute und hier kaum absehbar ist, würde sich emanzipieren vom Volksgeist, von jenen faits sociaux, die schon Durkheim daran erkennen wollte, daß es weh tut. Die Frage nach strenger oder milder Judikatur dort, wo Handlungen Resultanten von Konflikten des Ichs und des Es sind, orientiert sich an der Kontroverse über die Willensfreiheit. Meist entscheiden sich deren Anhänger für die Vergeltungstheorie, der schon Nietzsche auf den Grund sah, und für strenge Strafen; die Deterministen für die Erziehungs-(Spezialpräventions-) und Abschreckungs-(Generalpräventions-)theorie. Diese Alternative ist fatal. Die Frage nach der Freiheit des Willens ist wahrscheinlich überhaupt nicht abstrakt, nämlich von Idealkonstruktionen des Individuums und seines rein für sich seienden Charakters her zu lösen, sondern nur im Bewußtsein der Dialektik von Individuum und Gesellschaft. Freiheit, auch die des Willens, wäre erst zu verwirklichen, darf nicht als positiv gegeben supponiert werden. Andererseits ist die Generalthesis des Determinismus genau so abstrakt wie die des liberum arbitrium: die Gesamtheit der Bedingungen, von denen, dem Determinismus zufolge, die Willensakte abhängen sollen, ist nicht bekannt, macht selber eine Idee aus und darf nicht wie eine verfügbare Größe behandelt werden. Philosophie hat denn auch auf ihrer höchsten Erhebung nicht das eine oder andere gelehrt, sondern die Antinomie des Sachverhalts ausgedrückt. Kants Theorie, daß alle empirischen Handlungen durch den empirischen Charakter determiniert seien, dieser jedoch ursprünglich vom intelligiblen gesetzt, zurückdatierend auf einen Akt der Freiheit, ist dafür vielleicht das großartigste Modell, wie schwer es auch fällt, irgend sich vorzustellen, das Subjekt vermöchte seinen Charakter sich selbst zu geben, während unterdessen die Psychologie frühkindliche Determinanten der Charakterformation bloßlegte, von welchen zumindest die deutsche Philosophie im Ausgang des achtzehnten
Jahrhunderts nichts sich träumen ließ. Je mehr Momente des Charakters aber der empirischen Sphäre zugerechnet werden müssen, desto vager und ungreifbarer wird der intelligible, auf den all das zurückgehen soll. Er wäre wahrscheinlich überhaupt nicht als individuelle Psyche sondern erst als die subjektive Verfassung eines Vereins objektiv freier Menschen zu bestimmen. All das stürzt die traditionelle Philosophie ins Elend, bei der die Jurisprudenz in der Strafrechtsdebatte nach ihren Fundamenten sucht. Dadurch schleicht die Willkür bloßer Weltanschauung leicht als oberste Instanz sich ein; ob einer dem Determinismus oder der Lehre von der Willensfreiheit zuneigt, hängt einstweilen davon ab, wofür er, aus Gott weiß welchen Gründen, optiert. Während sonst die Verwissenschaftlichung der Welt so unerbittlich fortschritt, daß das Expertentum jede mögliche Erkenntnis beschlagnahmt, wird von einer Disziplin, die auf ihre wissenschaftliche Strenge soviel sich zugute tut wie die Jurisprudenz, an zentraler Stelle der common sense mit allem Trüben, das ihm innewohnt, bis hinab zum gesunden Volksempfinden und zur Durchschnittsmeinung, zum Kriterium erhoben. Das verschafft gerade dort, wo der Anspruch von Vernunft in der Jurisprudenz emphatisch wird, wo sie über ihren bereits verfestigten institutionellen Bereich hinausgeht, jenen destruktiven Instinkten Einlaß, welche die Psychologie hinter dem autoritären Bedürfnis zu strafen entdeckt hat. Der Widerspruch aber, in den die Philosophie sich verwickelt: daß ohne die Idee von Freiheit Humanität nicht gedacht werden kann, daß aber die realen Menschen unfrei sind von innen und außen her, ist real motiviert, kein Versagen spekulativer Metaphysik sondern Schuld der Gesellschaft, die auch zur inneren Unfreiheit sie verhält. Gesellschaft ist die wahre Determinante und ihre Einrichtung das Potential von Freiheit zugleich. Nach dem Verfall der großen Philosophie, die des objektiv-gesellschaftlichen Moments subjektiver Freiheit durchaus sich bewußt war, ist die Antinomie, der sie ins Auge sah, hinabgesunken zu isolierten, schlecht antithetischen Parolen: hier dem hohlen Freiheitspathos offizieller Deklamation, das meist nur der Unfreiheit, nämlich den autoritären Ordnungen, Zutreiberdienste leistet; dort dem sturen und abstrakten Determinismus, der über die bloße Versicherung der Determination nicht hinausgelangt und die wahren Determinanten meist gar nicht erreicht. Im Zentrum der moral- und rechtsphilosophischen
Kontroverse wiederholt sich der Schattenkampf von Absolutismus und Relativismus. Falsch ist die unvermittelte Trennung von Freiheit und Unfreiheit, obwohl selbst sie noch ihr Wahrheitsmoment hat, verzerrter Ausdruck der realen Trennung der Subjekte voneinander und von der Gesellschaft. Der konsequente Determinismus hätte, so treu er die Unfreiheit der Menschen im Bestehenden ausspricht, der Praxis von Auschwitz nichts Triftiges entgegenzusetzen. Damit stieße er auf die Grenze, die weder durch die Ersatzphilosophie sogenannter Werte überschritten wird, noch in die bloße Subjektivität des Sittlichen aufgelöst werden kann. Sie markiert das unaufhebbar differierende Moment im Verhältnis von Theorie und Praxis. Praxis geht nicht auf im autarken, stillgestellten Gedanken: die Hypostasis der Theorie so gut wie die der Praxis ist selbst ein Stück theoretischer Unwahrheit. Wer einem Verfolgten hilft, hat das theoretisch höhere Recht, als wer in der Kontemplation darüber beharrt, ob es ein ewiges Naturrecht gebe oder nicht, obwohl die moralische Praxis allen theoretischen Bewußtseins bedarf. Insofern behält der Fichtesche Satz vom Moralischen, das sich von selbst verstehe, trotz seiner Fragwürdigkeit, auch sein Recht. Philosophie, die sich der Praxis gegenüber derart überfordert, daß sie diese ganz zur Identität mit sich zwingen möchte, ist ebenso falsch wie eine dezisionistische Praxis, welche die theoretische Besinnung abschneidet. Der gesunde Menschenverstand, der das vereinfacht, um etwas Brauchbares in die Hand zu bekommen, geht der Wahrheit selber ans Leben. Philosophie ist heute nicht in Gesetzgebung und juristische Prozeduren bündig zu transformieren. Ihnen ziemt einige Bescheidenheit, nicht nur, weil sie der philosophischen Komplexion nicht gewachsen sind, sondern auch dem theoretischen Stand der Einsicht zuliebe. Anstatt, in frisch-fröhlichem Drauflosdenken, die Frage an falsche Tiefe oder radikale Flachheit zu verraten, müßte die Jurisprudenz erst einmal das fortgeschrittenste Niveau des psychologischen und des gesellschaftlichen Wissens erreichen. Bis zur Lähmung des unreglementierten Gedankens okkupiert die Wissenschaft allerorten das Feld des naiven Bewußtseins; auf dem jedoch, das der Jurisprudenz für ihre Domäne gilt, verfügt Wissenschaft, die von der Gesellschaft und die Psychologie, tatsächlich über mehr Daten, als den juridischen Sachverständigen bekannt ist. Sie kombinieren pedantisch-logische Systematik mit
einer geistigen Verhaltensweise, die tut, als hätte die Wissenschaft über Determinanten nichts ausfindig gemacht, und als könne jeder auf eigene Faust die ihm passende Philosophie sich aussuchen, um dann durch einen klappernden Betrieb selbstgemachter Begriffe das gegenwärtig disponible Wissen zu ersetzen. Im allgemeinen wird man die Hypothese wagen dürfen, daß die zu Hilfszwecken mobilisierte Philosophie – heute wäre das vor allem an der Existentialontologie zu zeigen – einzig reaktionär fungiert. Demgegenüber wären die unverwässerten psychoanalytischen Funde auf Sexualtabus und Sexualgesetzgebung anzuwenden: produktiv zu machen für kriminologische Fragestellungen. Ohne allen systematischen Anspruch seien einige mögliche Untersuchungen aufgezählt. 1. Eine Repräsentativumfrage wäre durchzuführen, die zentriert ist im Verhältnis zwischen sexuellen Vorurteilen und Strafphantasien einerseits und andererseits ideologischen Prädispositionen und Neigungen autoritärer Art. Es könnte dabei von der sogenannten F-Skala der ›Authoritarian Personality‹ ausgegangen werden; nur wäre das zu verwendende Forschungsinstrument gänzlich nach den verschiedenen Dimensionen der Anschauungen über Sexuelles zu organisieren. Hervorgehoben zu werden verdient, daß seinerzeit in Amerika Sätze, die sich auf diese Region bezogen, als die trennschärfsten sich bewährten, und daß sich das bis jetzt auch wiederholte in den Versuchen, jene amerikanische Skala den Bedingungen der deutschen Situation gemäß umzuformen. 2. Urteilsbegründungen in Sittlichkeitsprozessen wären, vielleicht nach dem Zufallsprinzip, für eine eng befristete Periode auszusuchen, die maßgebenden Gesichtspunkte ebenso wie die Struktur der Argumentation herauszuarbeiten. Sowohl die obwaltenden Kategorien wie die Logik der Beweisführung wären mit Befunden der analytischen Psychologie zu konfrontieren. Damit zu rechnen ist, daß die Begründungen, auf die man dabei stößt, vielfach vom Schlag jener regelmäßig wiederkehrenden Zeitungsnotizen sind, daß die Leiche der Sozialrentnerin X. aus dem Fluß geländet worden sei. Es handele sich um Selbstmord. Als Motiv der Tat werde seelische Depression angenommen. 3. Eine repräsentative Stichprobe von Strafgefangenen, die wegen Sexualvergehen oder -verbrechen eingekerkert sind, wäre für
die Zeit ihrer Haft psychoanalytisch zu untersuchen. Die Analysen wären mit den Urteilsbegründungen zu vergleichen, um deren Stichhaltigkeit zu überprüfen. 4. Die kategoriale Struktur der einschlägigen Strafgesetze wäre kritisch zu analysieren. Dabei sollte nicht von außen her ein fertiger Standpunkt herangebracht werden: man müßte sie lediglich auf ihre immanente Konsequenz hin befragen. Die Richtung dessen, was man dabei zu erwarten hat, wird bezeichnet etwa vom Begriff teilweiser Zurechnungsfähigkeit. Er erlaubt den Aberwitz, dieselbe Person nacheinander als verantwortlich dem Gefängnis oder Zuchthaus und als unverantwortlich dem Irrenhaus zuzuweisen. 5. Eigenes Studium verdienten weiter fürs Sexualrecht relevante Aspekte der Strafprozeßordnung. So dürfte in all den Fällen, wo ein Angeklagter öffentliches Ärgernis soll gegeben haben, den Polizeiberichten besonderes Gewicht zukommen, die sich auf die oft verworrene Situation beziehen, in der das Delikt verübt worden sein soll. Manches spricht dafür, daß jene Berichte häufig unter Druck gegen die verängstigten Angeschuldigten zustande kommen, die ins Netz einer Razzia geraten sein mögen. Sicherlich sind viele von ihnen sich im unklaren über die Bedeutung der Aussage, die sie den Polizisten gegenüber machen. – Auch daß die Angeschuldigten während der Voruntersuchung keinen Anwalt sich nehmen dürfen, wird vielfach ihre Verteidigung erschweren; dem wäre nachzugehen. 6. Einzelne Prozesse, die gar nicht unmittelbar Sittlichkeitsprozesse sein müssen, aber in denen sexuelle Momente berührt werden, wären bis ins einzelne daraufhin zu prüfen, in welcher Weise jene Momente den Gang des Prozesses, und möglicherweise die Urteilsbildung, mitbestimmt haben. Aus jüngster Vergangenheit bietet der Fall Vera Brühne sich an. Denkbar, daß sich Zusammenhänge zeigen zwischen dem auf Grund eines kaum ganz stringenten Indizienbeweises gefällten harten Urteil und den erotischen Dingen, die im Prozeß zur Sprache kamen, obwohl vieles davon mit dem Mord in keinem plausiblen Zusammenhang stand. Latent spielt gewiß die unqualifizierbare Vorstellung herein, daß einer Frau, die ein libertines Sexualleben führe, auch ein Mord zuzutrauen sei. 7. Von philosophisch Gebildeten wären dogmatische Begriffe, die in der Gesetzgebung auch heute noch umgeistern, wie die des
gesunden Volksempfindens, der allgemein geltenden Anschauung, der natürlichen Moral und ähnliches, herauszuarbeiten und zu analysieren. Besonders zu achten wäre auf die more iuridico rationalistischen Begründungen von Handlungen, die in Wahrheit nach Gesetzen psychologischer Irrationalität verliefen. 8. Im Bewußtsein der im Wege stehenden, fraglos eminenten Schwierigkeiten eines solchen Beginnens wären empirische Untersuchungen darüber ins Auge zu fassen, ob gewisse Handlungen und Verhaltensweisen, denen man schädliche Wirkungen auf Jugendliche stillschweigend zuschreibt, nachweisbar Schäden stiften. Die nicht selten als Unholde bezeichneten Exhibitionisten sind, wenn anders man der Psychoanalyse trauen darf, real meist harmlos und ungefährlich. Sie tun nicht mehr, als zwangshaft ihre traurige Befriedigung zu suchen, und gehörten gewiß eher in Behandlung als ins Gefängnis. Der psychische Schaden jedoch, den sie Minderjährigen zufügen sollen, die sie beobachten, wird einstweilen bloß behauptet. Unausgemacht, obzwar möglich, daß Rencontres mit Exhibitionisten bei Kindern psychische Störungen hinterlassen; nicht zu weit hergeholt jedenfalls scheint die Annahme, daß manche Frauen und Mädchen, aus psychogenen Motiven, Schreckerlebnisse mit Exhibitionisten erfinden oder, wie die Psychoanalyse es nennt, rückphantasieren; der Kriminologie ist der Sachverhalt von Zeugenaussagen her allgemein vertraut. Ähnliches dürfte für die Wirkung sogenannter unzüchtiger Darstellungen auf Jugendliche gelten. Angeregt sei, daß eine Gruppe von Jugendlichen, die irgendein gerade als unzüchtig verpöntes Buch gelesen hat, nach verschiedenen Dimensionen ihres geistigen und psychischen Zustandes, ihren Vorstellungen über Moral, Erotisches, auch über ihre Triebsituation befragt wird und analog eine Kontrollgruppe von solchen, die das Buch nicht kennen. Besonders wäre darauf zu merken, ob es sich dabei nicht um selbstselektive Gruppen handelt; also ob nicht die, welche jenes Buch lesen, vorweg schon sexuell erfahrener oder interessierter sind als die, welche es nicht lesen. Durchaus ist damit zu rechnen, daß solche Untersuchungen sich als praktisch undurchführbar erweisen, oder daß es nicht gelingt, eine Methode zu entwickeln, welche die Ergebnisse sicherstellt und eindeutig macht. Selbst das jedoch hätte Erkenntniswert: allein schon, daß der unterstellte Schaden weder sich beweisen noch negieren läßt, müßte die Gesetzgebung dazu
veranlassen, mit dem Begriff jenes Schadens überaus vorsichtig zu verfahren. 9. Zur Frage des Fortlebens der Sexualtabus in den Volkssitten: eine Studie wäre durchzuführen über das, was nach den herrschenden Vorschriften oder Spielregeln der freiwilligen Selbstkontrolle der Filmindustrie etwa an Liebkosungen, Exhibitionen und angeblich Obszönem eliminiert, und was demgegenüber an ernsthaft Schädlichem, wie Modellen zu sadistischen Akten, Gewaltverbrechen, technisch vollkommenen Einbrüchen, durchgelassen wird; freilich paart die Entrüstung über Grausamkeit nicht selten sich mit der sexuellen. In Amerika hat man auf dies eklatante Mißverhältnis von Verbotenem und Erlaubtem bereits vor zehn Jahren hingewiesen, ohne daß die Praxis seitdem sich geändert hätte: so nachhaltig wirken die Sexualtabus gleichermaßen wie das gesellschaftliche Einverständnis mit dem Gewaltprinzip.
Fußnoten 1 Vgl. Text S. 555f. 2 Zur Illustration dessen, wie die Lustfeindschaft in der Rechtsprechung sich niederschlug: die Formulierung des Begriffs Unzucht, die vom Reichsgericht stammt und vom Bundesgerichtshof übernommen ward. Nach dieser Rechtsprechung sind unter Unzucht alle Handlungen zu verstehen, die objektiv nach gesunder Anschauung das Scham- und Sittlichkeitsgefühl in geschlechtlicher Beziehung verletzen und subjektiv in wollüstiger Absicht vorgenommen werden.
Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit Die Frage »Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit« muß erläutert werden. Sie geht von einer Formulierung aus, die sich während der letzten Jahre als Schlagwort höchst verdächtig gemacht hat. Mit Aufarbeitung der Vergangenheit ist in jenem Sprachgebrauch nicht gemeint, daß man das Vergangene im Ernst verarbeite, seinen Bann breche durch helles Bewußtsein. Sondern man will einen Schlußstrich darunter ziehen und womöglich es selbst aus der Erinnerung wegwischen. Der Gestus, es solle alles vergessen und vergeben sein, der demjenigen anstünde, dem Unrecht widerfuhr, wird von den Parteigängern derer praktiziert, die es begingen. In einer wissenschaftlichen Kontroverse schrieb ich einmal: im Hause des Henkers soll man nicht vom Strick reden; sonst hat man Ressentiment. Aber daß die Tendenz der unbewußten und gar nicht so unbewußten Abwehr von Schuld mit dem Gedanken der Aufarbeitung des Vergangenen so widersinnig sich verbindet, ist Anlaß genug für Überlegungen, die sich auf einen Bereich beziehen, von dem heute noch ein solches Grauen ausgeht, daß man zögert, ihn beim Namen zu nennen. Man will von der Vergangenheit loskommen: mit Recht, weil unter ihrem Schatten gar nicht sich leben läßt, und weil des Schreckens kein Ende ist, wenn immer nur wieder Schuld und Gewalt mit Schuld und Gewalt bezahlt werden soll; mit Unrecht, weil die Vergangenheit, der man entrinnen möchte, noch höchst lebendig ist. Der Nationalsozialismus lebt nach, und bis heute wissen wir nicht, ob bloß als Gespenst dessen, was so monströs war, daß es am eigenen Tode noch nicht starb, oder ob es gar nicht erst zum Tode kam; ob die Bereitschaft zum Unsäglichen fortwest in den Menschen wie in den Verhältnissen, die sie umklammern. Ich möchte nicht auf die Frage neonazistischer Organisationen eingehen. Ich betrachte das Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie als potentiell bedrohlicher denn das Nachleben faschistischer Tendenzen gegen die Demokratie. Unterwanderung bezeichnet ein Objektives; nur darum machen zwielichtige Figuren ihr come back in Machtpositionen, weil die Verhältnisse sie begünstigen. Daß die Vergangenheit in Deutschland keineswegs bloß im
Kreis der sogenannten Unverbesserlichen, wenn es denn so sein soll, noch nicht bewältigt ward, ist unbestritten. Es wird da immer wieder auf den sogenannten Schuldkomplex verwiesen, oft mit der Assoziation, dieser sei durch die Konstruktion einer deutschen Kollektivschuld eigentlich erst geschaffen worden. Unbestreitbar gibt es im Verhältnis zur Vergangenheit viel Neurotisches: Gesten der Verteidigung dort, wo man nicht angegriffen ist; heftige Affekte an Stellen, die sie real kaum rechtfertigen; Mangel an Affekt gegenüber dem Ernstesten; nicht selten auch einfach Verdrängung des Gewußten oder halb Gewußten. So sind wir im Gruppenexperiment des Instituts für Sozialforschung häufig darauf gestoßen, daß bei Erinnerungen an Deportation und Massenmord mildernde Ausdrücke, euphemistische Umschreibungen gewählt werden oder ein Hohlraum der Rede sich darum bildet; die allgemein eingebürgerte, fast gutmütige Wendung »Kristallnacht« für das Pogrom vom November 1938 belegt diese Neigung. Sehr groß ist die Zahl derer, die von den Geschehnissen damals nichts gewußt haben wollen, obwohl überall Juden verschwanden, und obwohl kaum anzunehmen ist, daß die, welche erlebten, was im Osten geschah, stets über das geschwiegen haben sollen, was ihnen unerträgliche Last gewesen sein muß; man darf wohl unterstellen, daß zwischen dem Gestus des Von-allem-nichts-gewußt-Habens und zumindest stumpfer und ängstlicher Gleichgültigkeit eine Proportion besteht. Jedenfalls haben die dezidierten Feinde des Nationalsozialismus frühzeitig sehr genau Bescheid gewußt. Wir alle kennen auch die Bereitschaft, heute das Geschehene zu leugnen oder zu verkleinern – so schwer es fällt zu begreifen, daß Menschen sich nicht des Arguments schämen, es seien doch höchstens nur fünf Millionen Juden und nicht sechs vergast worden. Irrational ist weiter die verbreitete Aufrechnung der Schuld, als ob Dresden Auschwitz abgegolten hätte. In der Aufstellung solcher Kalküle, der Eile, durch Gegenvorwürfe von der Selbstbesinnung sich zu dispensieren, liegt vorweg etwas Unmenschliches, und Kampfhandlungen im Krieg, deren Modell überdies Coventry und Rotterdam hieß, sind kaum vergleichbar mit der administrativen Ermordung von Millionen unschuldiger Menschen. Auch diese Unschuld, das Allereinfachste und Plausibelste, wird abgestritten. Das Unmaß des Verübten schlägt diesem noch zur Rechtfertigung an: so etwas, tröstet sich das schlaffe Bewußtsein, könne doch nicht
geschehen sein, wenn die Opfer nicht irgendwelche Veranlassung gegeben hätten, und dies vage »irgendwelche« mag dann nach Belieben fortwuchern. Verblendung setzt sich hinweg über das schreiende Mißverhältnis zwischen höchst fiktiver Schuld und höchst realer Strafe. Zuweilen werden die Sieger zu Urhebern dessen gemacht, was die Besiegten taten, als sie selber noch obenauf waren, und für die Untaten des Hitler sollen diejenigen verantwortlich sein, die duldeten, daß er die Macht ergriff, und nicht jene, die ihm zujubelten. Die Idiotie alles dessen ist wirklich Zeichen eines psychisch Nichtbewältigten, einer Wunde, obwohl der Gedanke an Wunden eher den Opfern gelten sollte. Bei alldem jedoch hat die Rede vom Schuldkomplex etwas Unwahrhaftiges. In der Psychiatrie, der sie entlehnt ist und deren Assoziationen sie mitschleift, besagt sie, daß das Gefühl der Schuld krankhaft sei, der Realität unangemessen, psychogen, wie die Analytiker es nennen. Mit Hilfe des Wortes Komplex wird der Anschein erweckt, daß die Schuld, deren Gefühl so viele abwehren, abreagieren und durch Rationalisierungen der törichtesten Art verbiegen, gar keine Schuld wäre, sondern bloß in ihnen, ihrer seelischen Beschaffenheit bestünde: die furchtbar reale Vergangenheit wird verharmlost zur bloßen Einbildung jener, die sich davon betroffen fühlen. Oder sollte gar Schuld selber überhaupt nur ein Komplex, sollte es krankhaft sein, mit Vergangenem sich zu belasten, während der gesunde und realistische Mensch in der Gegenwart und ihren praktischen Zwecken aufgeht? Das zöge die Moral aus jenem »Und ist so gut, als wär' es nicht gewesen«, das von Goethe stammt, aber, an entscheidender Stelle des Faust, vom Teufel gesprochen wird, um dessen innerstes Prinzip zu enthüllen, die Zerstörung von Erinnerung. Die Ermordeten sollen noch um das einzige betrogen werden, was unsere Ohnmacht ihnen schenken kann, das Gedächtnis. Die verstockte Gesinnung derer, die nichts davon hören wollen, fände sich freilich in Übereinstimmung mit einer mächtigen historischen Tendenz. Hermann Heimpel hat mehrfach vom Schrumpfen des Bewußtseins historischer Kontinuität in Deutschland gesprochen, einem Symptom jener gesellschaftlichen Schwächung des Ichs, die Horkheimer und ich schon in der ›Dialektik der Aufklärung‹ abzuleiten versucht haben. Empirische Befunde von der Art, daß die junge Generation vielfach nicht mehr weiß, wer Bismarck und wer Kaiser Wilhelm I. waren,
haben den Verdacht des Geschichtsverlusts bestätigt. Aus der allgemeinen gesellschaftlichen Situation weit eher als aus der Psychopathologie ist denn wohl das Vergessen des Nationalsozialismus zu begreifen. Noch die psychologischen Mechanismen in der Abwehr peinlicher und unangenehmer Erinnerungen dienen höchst realitätsgerechten Zwecken. Die Abwehrenden selbst plaudern sie aus, wenn sie etwa praktischen Sinnes darauf hinweisen, daß die allzu konkrete und hartnäckige Erinnerung ans Geschehene dem deutschen Ansehen im Ausland schaden könne. Solcher Eifer reimt sich schlecht zusammen mit dem Ausspruch Richard Wagners, der doch nationalistisch genug war, deutsch sein heiße, eine Sache um ihrer selbst willen tun – wenn nicht a priori die Sache selbst als Geschäft bestimmt ist. Die Tilgung der Erinnerung ist eher eine Leistung des allzu wachen Bewußtseins als dessen Schwäche gegenüber der Übermacht unbewußter Prozesse. Im Vergessen des kaum Vergangenen klingt die Wut mit, daß man, was alle wissen, sich selbst ausreden muß, ehe man es den anderen ausreden kann. Sicherlich sind die angezogenen Regungen und Verhaltensweisen insofern nicht unmittelbar rational, als sie die Tatsachen verzerren, auf die sie sich beziehen. Rational aber sind sie in dem Sinn, daß sie sich an gesellschaftliche Tendenzen anlehnen, und daß, wer so reagiert, sich einig weiß mit dem Zeitgeist. Ein solches Reagieren kommt unmittelbar dem Fortkommen entgegen. Wer sich keine unnützen Gedanken macht, streut keinen Sand ins Getriebe. Es empfiehlt sich, nach dem Mund dessen zu reden, was Franz Böhm so prägnant nicht-öffentliche Meinung nannte. Die sich einer Stimmung anpassen, die zwar durch offizielle Tabus in Schach gehalten wird, darum aber nur um so mehr Virulenz besitzt, qualifizieren sich gleichzeitig als dazugehörig und als unabhängige Männer. Schließlich blieb die deutsche Widerstandsbewegung ohne Massenbasis, und eine solche ist schwerlich von der Niederlage herbeigezaubert worden. Wohl darf man mutmaßen, daß die Demokratie tiefer eingedrungen ist als nach dem ersten Weltkrieg: der antifeudale, durchaus bürgerliche Nationalsozialismus hat durch Politisierung der Massen, gegen seinen Willen, der Demokratisierung in gewissem Sinn sogar vorgearbeitet. Junkerkaste wie radikale Arbeiterbewegung sind verschwunden; zum ersten Mal ist etwas wie ein homogen bürgerlicher Zustand
hergestellt. Aber daß in Deutschland Demokratie zu spät kam, nämlich nicht zeitlich zusammenfiel mit dem wirtschaftlichen Hochliberalismus, und daß sie von den Siegern eingeführt ward, läßt das Verhältnis des Volkes zu ihr schwerlich unberührt. Unmittelbar wird das selten geäußert, weil es einstweilen unter der Demokratie zu gut geht, auch weil es der in politischen Bündnissen institutionalisierten Interessengemeinschaft mit dem Westen, zumal Amerika, entgegen wäre. Aber die Rancune gegen die re-education spricht doch deutlich genug. Soviel wird man sagen können, daß das System politischer Demokratie zwar in Deutschland als das akzeptiert wird, was in Amerika a working proposition heißt, als ein Funktionierendes, das bis jetzt Prosperität gestattete oder gar förderte. Aber Demokratie hat nicht derart sich eingebürgert, daß sie die Menschen wirklich als ihre eigene Sache erfahren, sich selbst als Subjekte der politischen Prozesse wissen. Sie wird als ein System unter anderen empfunden, so wie wenn man auf einer Musterkarte die Wahl hätte zwischen Kommunismus, Demokratie, Faschismus, Monarchie; nicht aber als identisch mit dem Volk selber, als Ausdruck seiner Mündigkeit. Sie wird eingeschätzt nach dem Erfolg oder Mißerfolg, an dem dann auch die einzelnen Interessen partizipieren, aber nicht als Einheit des eigenen Interesses mit dem Gesamtinteresse; die parlamentarische Delegation des Volkswillens in den modernen Massenstaaten macht das auch schwer genug. Oftmals wird man in Deutschland, unter Deutschen, der sonderbaren Äußerung begegnen, die Deutschen seien noch nicht reif für die Demokratie. Man macht aus der eigenen Unreife eine Ideologie, nicht unähnlich den Halbwüchsigen, die, wenn sie bei irgendwelchen Gewalttätigkeiten ertappt werden, sich auf ihre Zugehörigkeit zur Gruppe der Teenagers herausreden. Das Groteske dieser Argumentationsweise zeigt einen flagranten Widerspruch im Bewußtsein an. Die Menschen, die derart unnaiv die eigene Naivetät und politische Unreife ausspielen, fühlen sich auf der einen Seite schon als politische Subjekte, an denen es wäre, ihr Schicksal zu bestimmen und in Freiheit die Gesellschaft einzurichten. Andererseits stoßen sie aber darauf, daß dem durch die Verhältnisse harte Grenzen gesetzt sind. Weil sie diese Grenzen mit dem eigenen Gedanken nicht zu durchdringen vermögen, schreiben sie die Unmöglichkeit, die in Wahrheit ihnen angetan wird, sich selber zu oder den Großen oder den anderen. Sie spalten sich gleichsam noch
einmal, von sich aus, in Subjekt und Objekt auf. Ohnehin definiert es die heute herrschende Ideologie, daß die Menschen, je mehr sie objektiven Konstellationen ausgeliefert sind, über die sie nichts vermögen oder über die sie nichts zu vermögen glauben, desto mehr dies Unvermögen subjektivieren. Nach der Phrase, es käme allein auf den Menschen an, schieben sie alles den Menschen zu, was an den Verhältnissen liegt, wodurch dann wieder die Verhältnisse unbehelligt bleiben. In der Sprache der Philosophie könnte man wohl sagen, daß in der Fremdheit des Volkes zur Demokratie die Selbstentfremdung der Gesellschaft sich widerspiegelt. Unter jenen objektiven Konstellationen ist die vordringlichste vielleicht die Entwicklung der internationalen Politik. Sie scheint den Überfall, welchen der Hitler auf die Sowjetunion verübte, nachträglich zu rechtfertigen. Indem die westliche Welt als Einheit sich wesentlich durch die Abwehr der russischen Drohung bestimmt, sieht es so aus, als hätten die Sieger von 1945 das bewährte Bollwerk gegen den Bolschewismus nur aus Torheit zerstört, um es wenige Jahre danach wieder aufzubauen. Von dem zur Hand liegenden »Hitler hat es ja immer gesagt« führt ein rascher Weg zur Extrapolation, daß er auch mit anderem recht gehabt habe. Nur erbauliche Sonntagsredner könnten über die historische Fatalität hinweggleiten, daß in gewissem Sinne jene Konzeption, welche einst die Chamberlains und ihren Anhang dazu bewog, den Hitler als Büttel gegen den Osten zu tolerieren, den Untergang des Hitler überlebt hat. Wahrhaft eine Fatalität. Denn die Drohung des Ostens, das Vorgebirge Westeuropa in sich hineinzuschlingen, ist offenbar. Wer ihr nicht widersteht, macht buchstäblich der Wiederholung des Chamberlainschen appeasement sich schuldig. Vergessen wird bloß – bloß! –, daß eben diese Drohung durch die Aktion des Hitler erst ausgelöst worden ist, der genau das über Europa brachte, was er nach dem Willen der appeasers mit seinem Expansionskrieg verhindern sollte. Mehr noch als das einzelmenschliche Schicksal ist das der politischen Verflechtung ein Schuldzusammenhang. Der Widerstand gegen den Osten hat in sich selbst eine Dynamik, welche das in Deutschland Vergangene erweckt. Nicht bloß ideologisch, weil die Parole vom Kampf gegen den Bolschewismus von jeher denen zur Tarnung verhalf, die es mit der Freiheit nicht besser meinen als jener. Sondern auch real. Nach einer schon während der Hitlerzeit gemachten Beobachtung zwingt die
organisatorische Schlagkraft der totalitären Systeme ihren Gegnern etwas von ihrem eigenen Wesen auf. Solange das ökonomische Gefälle zwischen dem Osten und dem Westen noch andauert, hat die faschistische Spielart größere Chancen bei den Massen als die östliche Propaganda, während man andererseits freilich auch noch nicht zur faschistischen ultima ratio sich gedrängt sieht. Für beide totalitären Formen aber sind die gleichen Typen anfällig. Man beurteilte die autoritätsgebundenen Charaktere überhaupt falsch, wenn man sie von einer bestimmten politisch-ökonomischen Ideologie her konstruierte; die wohlbekannten Schwankungen der Millionen von Wählern vor 1933 zwischen der nationalsozialistischen und kommunistischen Partei sind auch sozialpsychologisch kein Zufall. Amerikanische Untersuchungen haben dargetan, daß jene Charakterstruktur gar nicht so sehr mit politisch-ökonomischen Kriterien zusammengeht. Vielmehr definieren sie Züge wie ein Denken nach den Dimensionen Macht-Ohnmacht, Starrheit und Reaktionsunfähigkeit, Konventionalismus, Konformismus, mangelnde Selbstbesinnung, schließlich überhaupt mangelnde Fähigkeit zur Erfahrung. Autoritätsgebundene Charaktere identifizieren sich mit realer Macht schlechthin, vor jedem besonderen Inhalt. Im Grunde verfügen sie nur über ein schwaches Ich und bedürfen darum als Ersatz der Identifikation mit großen Kollektiven und der Deckung durch diese. Daß man auf Schritt und Tritt Figuren wiederbegegnet, wie sie in dem Wunderkinderfilm dargestellt werden, hängt weder an der Schlechtigkeit der Welt als solcher noch an angeblichen Sondereigenschaften des deutschen Nationalcharakters sondern an der Identität jener Konformisten, die vorweg eine Beziehung zu den Schalthebeln aller Machtapparatur haben, mit den potentiellen totalitären Gefolgsleuten. Überdies ist es eine Illusion, daß das nationalsozialistische Regime nichts bedeutet hätte als Angst und Leiden, obwohl es das auch für viele der eigenen Anhänger bedeutete. Ungezählten ist es unterm Faschismus gar nicht schlecht gegangen. Die Terrorspitze hat sich nur gegen wenige und relativ genau definierte Gruppen gerichtet. Nach den Krisenerfahrungen der Ära vor Hitler überwog das Gefühl des »Es wird gesorgt«, und gar nicht nur als Ideologie von KdF-Reisen und Blumenkästen in Fabrikräumen. Gegenüber dem laissez faire beschützte die Hitlerwelt tatsächlich bis zu einem gewissen Grade die Ihren vor
den Naturkatastrophen der Gesellschaft, denen die Menschen überlassen waren. Gewalttätig nahm sie die gegenwärtige Krisenbeherrschung vorweg, ein barbarisches Experiment staatlicher Lenkung der Industriegesellschaft. Die viel berufene Integration, die organisatorische Verdichtung des gesellschaftlichen Netzes, das alles einfing, gewährte auch Schutz gegen die universale Angst, durch die Maschen durchzufallen und abzusinken. Ungezählten schien die Kälte des entfremdeten Zustands abgeschafft durch die wie immer auch manipulierte und angedrehte Wärme des Miteinander; die Volksgemeinschaft der Unfreien und Ungleichen war als Lüge zugleich auch Erfüllung eines alten, freilich von alters her bösen Bürgertraums. Wohl barg das System, das derlei Gratifikationen bot, das Potential des eigenen Untergangs in sich. Die wirtschaftliche Blüte des Dritten Reiches beruhte in weitem Maß auf der Rüstung zu dem Krieg, der die Katastrophe brachte. Aber jenes geschwächte Gedächtnis, von dem ich sprach, sträubt sich dagegen, diese Argumentationen in sich aufzunehmen. Es verklärt zäh die nationalsozialistische Phase, in der die kollektiven Machtphantasien derer sich erfüllten, die als Einzelne ohnmächtig waren und nur als eine solche Kollektivmacht überhaupt sich als etwas dünkten. Keine noch so einleuchtende Analyse kann die Realität dieser Erfüllung hinterher aus der Welt schaffen und die Triebenergien, die in sie investiert sind. Selbst das Hitlersche va banque-Spiel war nicht so irrational, wie es damals der mittleren liberalen Vernunft dünkte oder heute dem historischen Rückblick aufs Mißlingen. Hitlers Rechnung, den temporären Vorteil maßlos vorangetriebener Aufrüstung über die anderen Staaten auszunutzen, war im Sinn dessen, was er wollte, keineswegs töricht. Wer die Geschichte des Dritten Reiches, zumal die des Krieges sich vergegenwärtigt, dem werden immer wieder die einzelnen Momente, in denen Hitler unterlag, als zufällig erscheinen und als notwendig nur der Verlauf des Ganzen, in dem eben doch das größere technisch-ökonomische Potential des Restes der Erde sich durchsetzte, die sich nicht fressen lassen wollte – gewissermaßen eine statistische Notwendigkeit, keineswegs eine erkennbare Logik Zug um Zug. Die nachlebende Sympathie mit dem Nationalsozialismus braucht nicht gar zu viel Sophistik aufzuwenden, um sich und anderen einzureden, es hätte auch immer ebensogut anders gehen können, eigentlich seien nur Fehler gemacht
worden, und der Sturz Hitlers sei ein welthistorischer Zufall, den möglicherweise der Weltgeist doch noch korrigiere. Nach der subjektiven Seite, in der Psyche der Menschen, steigerte der Nationalsozialismus den kollektiven Narzißmus, schlicht gesagt: die nationale Eitelkeit ins Ungemessene. Die narzißtischen Triebregungen der Einzelnen, denen die verhärtete Welt immer weniger Befriedigung verspricht und die doch ungemindert fortbestehen, solange die Zivilisation ihnen sonst so viel versagt, finden Ersatzbefriedigung in der Identifikation mit dem Ganzen 1 . Dieser kollektive Narzißmus ist durch den Zusammenbruch des Hitlerregimes aufs schwerste geschädigt worden. Seine Schädigung ereignete sich im Bereich der bloßen Tatsächlichkeit, ohne daß die Einzelnen sie sich bewußt gemacht hätten und dadurch mit ihr fertig geworden wären. Das ist der sozialpsychologisch zutreffende Sinn der Rede von der unbewältigten Vergangenheit. Auch jene Panik blieb aus, die nach Freuds Theorie aus ›Massenpsychologie und Ich-Analyse‹ dort sich einstellt, wo kollektive Identifikationen zerbrechen. Schlägt man nicht die Weisung des großen Psychologen in den Wind, so läßt das nur eine Folgerung offen: daß insgeheim, unbewußt schwelend und darum besonders mächtig, jene Identifikationen und der kollektive Narzißmus gar nicht zerstört wurden, sondern fortbestehen. Die Niederlage hat man innerlich so wenig ganz ratifiziert wie nach 1918. Noch angesichts der offenbaren Katastrophe hat das durch Hitler integrierte Kollektiv zusammengehalten und an schimärische Hoffnungen wie jene Geheimwaffen sich geklammert, die doch in Wahrheit die anderen besaßen. Sozialpsychologisch wäre daran die Erwartung anzuschließen, daß der beschädigte kollektive Narzißmus darauf lauert, repariert zu werden, und nach allem greift, was zunächst im Bewußtsein die Vergangenheit in Übereinstimmung mit den narzißtischen Wünschen bringt, dann aber womöglich auch noch die Realität so modelt, daß jene Schädigung ungeschehen gemacht wird. Bis zu einem gewissen Grad hat der wirtschaftliche Aufschwung, das Bewußtsein des Wie tüchtig wir sind, das geleistet. Aber ich bezweifle, ob das sogenannte Wirtschaftswunder, an dem alle zwar partizipieren, über das aber zugleich alle auch etwas hämisch reden, sozialpsychologisch wirklich so tief reicht, wie man in Zeiten relativer Stabilität denken könnte. Gerade weil der Hunger auf ganzen Kontinenten fortwährt, obwohl er technisch
abgeschafft werden könnte, vermag keiner so recht am Wohlstand sich zu freuen. Wie individuell, etwa in Filmen, wenn einer es sich gut schmecken läßt und die Serviette in den Kragen steckt, mißgünstig gelacht wird, so gönnt die Menschheit ein Behagen sich selber nicht, dem sie zutiefst anmerkt, daß es stets noch mit Mangel bezahlt wird; Ressentiment trifft jedes Glück, auch das eigene. Sattheit ist zu einem Schimpfwort a priori geworden, während an ihr schlecht doch nur wäre, daß es solche gibt, die nichts zu essen haben; der angebliche Idealismus, der gerade im heutigen Deutschland so pharisäisch über den angeblichen Materialismus sich hermacht, verdankt vielfach, was er für seine Tiefe hält, nur verdrückten Instinkten. Haß aufs Behagen zeitigt in Deutschland Unbehagen am Wohlstand, und ihm verklärt sich die Vergangenheit zur Tragik. Jenes malaise kommt aber keineswegs bloß aus trüben Quellen sondern auch selber wiederum aus viel rationaleren. Der Wohlstand ist einer von Konjunktur, niemand traut seiner unbegrenzten Dauer. Tröstet man sich damit, daß Ereignisse wie die des Schwarzen Freitags von 1929 und die daran anschließende Wirtschaftskrise sich kaum wiederholen könnten, so steckt darin bereits implizit das Vertrauen auf eine starke Staatsmacht, von der man sich Schutz auch dann verspricht, wenn die ökonomische und politische Freiheit nicht funktioniert. Noch inmitten der Prosperität, selbst während des temporären Mangels an Arbeitskräften fühlt insgeheim wahrscheinlich die Mehrheit der Menschen sich als potentielle Arbeitslose, Empfänger von Wohltaten und eben damit erst recht als Objekte, nicht als Subjekte der Gesellschaft: das ist der überaus legitime und vernünftige Grund ihres Mißbehagens. Daß es im gegebenen Augenblick nach rückwärts gestaut und für die Erneuerung des Unheils mißbraucht werden kann, ist offenbar. Das faschistische Wunschbild heute verschmilzt ohne Frage mit dem Nationalismus der sogenannten unterentwickelten Länder, die man bereits nicht mehr solche, sondern Entwicklungsländer nennt. Einverständnis mit denen, die in der imperialistischen Konkurrenz sich zu kurz gekommen fühlten und selber an den Tisch wollten, drückte schon während des Krieges in den slogans von den westlichen Plutokratien und den proletarischen Nationen sich aus. Ob und in welchem Maß diese Tendenz bereits eingemündet ist in den antizivilisatorischen, antiwestlichen Unterstrom der deutschen Überlieferung; ob auch in Deutschland eine Konvergenz von
faschistischem und kommunistischem Nationalismus sich abzeichnet, ist schwer auszumachen. Nationalismus heute ist überholt und aktuell zugleich. Überholt, weil angesichts der zwangsläufigen Verbindung von Nationen zu Großblöcken unter der Suprematie der mächtigsten, wie sie allein schon die Entwicklung der Waffentechnik diktiert, die souveräne Einzelnation, zumindest im fortgeschrittenen kontinentalen Europa, ihre geschichtliche Substantialität eingebüßt hat. Die Idee der Nation, in der einmal sich die wirtschaftliche Einheit der Interessen freier und selbständiger Bürger gegenüber den territorialen Schranken des Feudalismus zusammenfaßte, ist selbst, gegenüber dem offensichtlichen Potential der Gesamtgesellschaft, zur Schranke geworden. Aktuell aber ist der Nationalismus insofern, als allein die überlieferte und psychologisch eminent besetzte Idee der Nation, stets noch Ausdruck der Interessengemeinschaft in der internationalen Wirtschaft, Kraft genug hat, Hunderte von Millionen für Zwecke einzuspannen, die sie nicht unmittelbar als die ihren betrachten können. Der Nationalismus glaubt sich selbst nicht ganz mehr und wird doch politisch benötigt als wirksamstes Mittel, die Menschen zur Insistenz auf objektiv veralteten Verhältnissen zu bringen. Daher, als ein sich selbst nicht ganz Gutes, absichtsvoll Verblendetes, hat er heute die fratzenhaften Züge angenommen. Sie haben ihm, der Erbschaft barbarisch primitiver Stammesverfassungen, freilich nie ganz gefehlt, waren aber doch so lange gebändigt, wie der Liberalismus das Recht der Einzelnen auch real als Bedingung kollektiver Wohlfahrt bestätigte. Erst in einem Zeitalter, in dem er sich bereits überschlug, ist der Nationalismus ganz sadistisch und destruktiv geworden. Schon die Wut der Hitlerschen Welt gegen alles, was anders ist, Nationalismus als paranoides Wahnsystem, war von solchem Schlag; die Attraktionskraft gerade dieser Züge ist heute schwerlich geringer. Paranoia, der Verfolgungswahn, der die anderen verfolgt, auf die er projiziert, was er selber möchte, steckt an. Von kollektiven Wahnvorstellungen wie dem Antisemitismus wird die Pathologie des Einzelnen, der psychisch der Welt nicht mehr gewachsen sich zeigt und auf ein scheinhaftes inneres Königreich zurückgeworfen ist, bestätigt. Sie mögen wohl gar, nach der These des Psychoanalytikers Ernst Simmel, den einzelnen Halbirren davon dispensieren, ein ganzer zu werden. So offen das Wahnhafte des Nationalismus heute in der vernünftigen Angst vor
erneuten Katastrophen zutage liegt, so sehr befördert es seine Ausbreitung. Wahn ist der Ersatz für den Traum, daß die Menschheit die Welt menschlich einrichte, den die Welt der Menschheit hartnäckig austreibt. Mit dem pathischen Nationalismus geht aber alles zusammen, was sich von 1933 bis 1945 zutrug. Daß der Faschismus nachlebt; daß die vielzitierte Aufarbeitung der Vergangenheit bis heute nicht gelang und zu ihrem Zerrbild, dem leeren und kalten Vergessen, ausartete, rührt daher, daß die objektiven gesellschaftlichen Voraussetzungen fortbestehen, die den Faschismus zeitigten. Er kann nicht wesentlich aus subjektiven Dispositionen abgeleitet werden. Die ökonomische Ordnung und, nach ihrem Modell, weithin auch die ökonomische Organisation verhält nach wie vor die Majorität zur Abhängigkeit von Gegebenheiten, über die sie nichts vermag, und zur Unmündigkeit. Wenn sie leben wollen, bleibt ihnen nichts übrig, als dem Gegebenen sich anzupassen, sich zu fügen; sie müssen eben jene autonome Subjektivität durchstreichen, an welche die Idee von Demokratie appelliert, können sich selbst erhalten nur, wenn sie auf ihr Selbst verzichten. Den Verblendungszusammenhang zu durchschauen, mutet ihnen eben die schmerzliche Anstrengung der Erkenntnis zu, an welcher die Einrichtung des Lebens, nicht zuletzt die zur Totalität aufgeblähte Kulturindustrie, sie hindert. Die Notwendigkeit solcher Anpassung, die zur Identifikation mit Bestehendem, Gegebenem, mit Macht als solcher, schafft das totalitäre Potential. Es wird verstärkt von der Unzufriedenheit und der Wut, die der Zwang zur Anpassung selber produziert und reproduziert. Weil die Realität jene Autonomie, schließlich jenes mögliche Glück nicht einlöst, das der Begriff von Demokratie eigentlich verspricht, sind sie indifferent gegen diese, wofern sie sie nicht insgeheim hassen. Die politische Organisationsform wird als der gesellschaftlichen und ökonomischen Realität unangemessen erfahren; wie man selber sich anpassen muß, so möchte man, daß auch die Formen des kollektiven Lebens sich anpassen, um so mehr, als man von solcher Anpassung das streamlining des Staatswesens als eines Riesenunternehmens im keineswegs so friedlichen Wettbewerb aller sich erwartet. Die, deren reale Ohnmacht andauert, ertragen das Bessere nicht einmal als Schein; lieber möchten sie die Verpflichtung zu einer Autonomie loswerden, von der sie argwöhnen, daß sie ihr doch nicht nachleben können, und sich in
den Schmelztiegel des Kollektiv-Ichs werfen. Ich habe das Düstere übertrieben, der Maxime folgend, daß heute überhaupt nur Übertreibung das Medium von Wahrheit sei. Mißverstehen Sie meine fragmentarischen und vielfach rhapsodischen Anmerkungen nicht als Spenglerei: die macht selber mit dem Unheil gemeinsame Sache. Meine Absicht war, eine von der glatten Fassade des Alltags verdeckte Tendenz zu bezeichnen, ehe sie die institutionellen Dämme überspült, die ihr einstweilen gesetzt sind. Die Gefahr ist objektiv; nicht primär in den Menschen gelegen. Wie gesagt, vieles spricht dafür, daß Demokratie samt allem, was mit ihr gesetzt ist, die Menschen tiefer ergreift als in der Weimarer Zeit. Indem ich das nicht so Offenbare hervorhob, habe ich vernachlässigt, was doch Besonnenheit mitdenken muß: daß innerhalb der deutschen Demokratie nach 1945 bis heute das materielle Leben der Gesellschaft reicher sich reproduzierte als seit Menschengedenken, und das ist denn auch sozialpsychologisch relevant. Die Behauptung, es stünde nicht schlecht um die deutsche Demokratie und damit um die wirkliche Aufarbeitung der Vergangenheit, wenn ihr nur Zeit genug und viel anderes bleibt, wäre sicherlich nicht allzu optimistisch. Nur steckt im Begriff des Zeithabens etwas Naives und zugleich schlecht Kontemplatives. Weder sind wir bloße Zuschauer der Weltgeschichte, die sich innerhalb ihrer Großräume mehr oder minder unangefochten tummeln können, noch scheint die Weltgeschichte selbst, deren Rhythmus zunehmend dem der Katastrophe sich anähnelt, ihren Subjekten jene Zeit zuzubilligen, in der alles von selber besser werde. Das verweist unmittelbar auf demokratische Pädagogik. Vor allem muß Aufklärung über das Geschehene einem Vergessen entgegenarbeiten, das nur allzu leicht mit der Rechtfertigung des Vergessenen sich zusammenfindet; etwa durch Eltern, die von ihren Kindern die peinliche Frage nach dem Hitler hören müssen, und die daraufhin, schon um sich selbst weißzuwaschen, von den guten Seiten reden und davon, daß es eigentlich gar nicht so schlimm gewesen sei. In Deutschland ist es Mode, auf den politischen Unterricht zu schimpfen, und sicherlich könnte er besser sein, aber der Bildungssoziologie liegen jetzt schon Daten vor, die darauf hinweisen, daß der politische Unterricht, wo er überhaupt mit Ernst und nicht als lästige Pflicht betrieben wird, mehr Gutes stiftet, als man ihm gemeinhin zutraut. Nimmt man jedoch das objektive
Potential eines Nachlebens des Nationalsozialismus so schwer, wie ich es glaube nehmen zu müssen, dann setzt das auch der aufklärenden Pädagogik ihre Grenzen. Mag sie nun soziologisch oder psychologisch sein, praktisch erreicht sie ohnehin wohl meist nur die, welche dafür offen und eben darum für den Faschismus kaum anfällig sind. Andererseits jedoch ist es keineswegs überflüssig, auch diese Gruppe gegen die nicht-öffentliche Meinung durch Aufklärung zu stärken. Im Gegenteil, man könnte sich wohl vorstellen, daß sich aus ihr so etwas wie Kaders bilden, deren Wirken in den verschiedensten Bereichen dann doch das Ganze erreicht, und die Chancen dafür sind um so günstiger, je bewußter sie selbst werden. Selbstverständlich wird Aufklärung bei diesen Gruppen sich nicht bescheiden. Ich will dabei von der sehr schwierigen und mit größter Verantwortung belastenden Frage absehen, wie weit es geraten sei, bei Versuchen zu öffentlicher Aufklärung aufs Vergangene einzugehen, und ob nicht gerade die Insistenz darauf trotzigen Widerstand und das Gegenteil dessen bewirke, was sie bewirken soll. Mir selbst will es eher scheinen, das Bewußte könne niemals so viel Verhängnis mit sich führen wie das Unbewußte, das Halb- und Vorbewußte. Es kommt wohl wesentlich darauf an, in welcher Weise das Vergangene vergegenwärtigt wird; ob man beim bloßen Vorwurf stehenbleibt oder dem Entsetzen standhält durch die Kraft, selbst das Unbegreifliche noch zu begreifen. Dazu bedürfte es freilich einer Erziehung der Erzieher. Sie wird aufs schwerste dadurch beeinträchtigt, daß das, was in Amerika behavioural sciences genannt wird, in Deutschland einstweilen gar nicht oder nur äußerst dürftig vertreten ist. Dringend wäre zu fordern, daß man an den Universitäten eine Soziologie verstärkt, die zusammenfiele mit der geschichtlichen Erforschung unserer eigenen Periode. Pädagogik müßte, anstatt mit Tiefsinn aus zweiter Hand übers Sein des Menschen zu schwafeln, eben der Aufgabe sich annehmen, deren unzulängliche Behandlung man der re-education so eifrig vorwirft. Kriminologie hat in Deutschland den modernen Standard überhaupt noch nicht erreicht. Vor allem aber ist an die Psychoanalyse zu denken, die nach wie vor verdrängt wird. Entweder fehlt sie ganz, oder man hat sie durch Richtungen ersetzt, die, während sie sich rühmen, das vielgescholtene neunzehnte Jahrhundert zu überwinden, in Wahrheit hinter die Freudsche Theorie zurückfallen, womöglich sie in ihr eigenes Gegenteil
verkehren. Ihre genaue und unverwässerte Kenntnis ist aktueller als je. Der Haß gegen sie ist unmittelbar eins mit dem Antisemitismus, keineswegs bloß weil Freud Jude war, sondern weil Psychoanalyse genau in jener kritischen Selbstbesinnung besteht, welche die Antisemiten in Weißglut versetzt. So wenig, allein schon des Zeitfaktors wegen, etwas wie eine Massenanalyse sich durchführen läßt, so heilsam wäre doch, fände strenge Psychoanalyse ihre institutionelle Stelle, ihren Einfluß auf das geistige Klima in Deutschland, auch wenn er bloß darin bestünde, daß es zur Selbstverständlichkeit wird, nicht nach außen zu schlagen, sondern über sich selbst und die eigene Beziehung zu denen zu reflektieren, gegen die das verstockte Bewußtsein zu wüten pflegt. Jedenfalls aber sollten Versuche, dem objektiven Potential des Verhängnisses subjektiv entgegenzuarbeiten, nicht mit Berichtigungen sich begnügen, welche die Schwere dessen, wogegen anzugehen ist, kaum in Bewegung setzen würden. Hinweise etwa auf die großen Leistungen von Juden in der Vergangenheit, so wahr sie auch sein mögen, nützen kaum viel, sondern schmecken nach Propaganda. Propaganda aber, die rationale Manipulation des Irrationalen, ist das Vorrecht der Totalitären. Die diesen widerstehen, sollten nicht sie nachahmen auf eine Weise, die sie doch nur notwendig ins Hintertreffen brächte. Lobreden auf die Juden, welche diese als Gruppe absondern, geben selber dem Antisemitismus allzuviel vor. Dieser läßt darum nur so schwer sich widerlegen, weil die psychische Ökonomie zahlloser Menschen seiner bedurfte und, abgeschwächt, vermutlich seiner heute noch bedarf. Was immer propagandistisch geschieht, bleibt zweideutig. Man hat mir die Geschichte einer Frau erzählt, die einer Aufführung des dramatisierten Tagebuchs der Anne Frank beiwohnte und danach erschüttert sagte: ja, aber das Mädchen hätte man doch wenigstens leben lassen sollen. Sicherlich war selbst das gut, als erster Schritt zur Einsicht. Aber der individuelle Fall, der aufklärend für das furchtbare Ganze einstehen soll, wurde gleichzeitig durch seine eigene Individuation zum Alibi des Ganzen, das jene Frau darüber vergaß. Das Vertrackte solcher Beobachtungen bleibt, daß man nicht einmal um ihretwillen Aufführungen des Anne Frank-Stücks, und ähnlichem, widerraten kann, weil ihre Wirkung ja doch, so viel einem daran auch widerstrebt, so sehr es auch an der Würde der Toten zu freveln scheint, dem Potential des Besseren zufließt. Ich
glaube auch nicht, daß durch Gemeinschaftstreffen, Begegnungen zwischen jungen Deutschen und jungen Israelis und andere Freundschaftsveranstaltungen allzuviel geschafft wird, so wünschbar solcher Kontakt auch bleibt. Man geht dabei allzusehr von der Voraussetzung aus, der Antisemitismus habe etwas Wesentliches mit den Juden zu tun und könne durch konkrete Erfahrungen mit Juden bekämpft werden, während der genuine Antisemit vielmehr dadurch definiert ist, daß er überhaupt keine Erfahrung machen kann, daß er sich nicht ansprechen läßt. Ist der Antisemitismus primär objektiv-gesellschaftlich begründet, und dann in den Antisemiten, dann hätten diese wohl, im Sinn des nationalsozialistischen Witzes, die Juden erfinden müssen, wenn es sie gar nicht gäbe. Soweit man ihn in den Subjekten bekämpfen will, sollte man nicht zuviel vom Verweis auf Fakten erwarten, die sie vielfach nicht an sich heranlassen, oder als Ausnahmen neutralisieren. Vielmehr sollte man die Argumentation auf die Subjekte wenden, zu denen man redet. Ihnen wären die Mechanismen bewußt zu machen, die in ihnen selbst das Rassevorurteil verursachen. Aufarbeitung der Vergangenheit als Aufklärung ist wesentlich solche Wendung aufs Subjekt, Verstärkung von dessen Selbstbewußtsein und damit auch von dessen Selbst. Sie sollte sich verbinden mit der Kenntnis der paar unverwüstlichen Propagandatricks, die genau auf jene psychologischen Dispositionen abgestimmt sind, deren Vorhandensein in den Menschen wir unterstellen müssen. Da diese Tricks starr sind und von begrenzter Zahl, so bereitet es keine gar zu großen Schwierigkeiten, sie auszukristallisieren, bekanntzumachen und für eine Art von Schutzimpfung zu verwenden. Das Problem des praktischen Vollzugs solcher subjektiven Aufklärung könnte wohl nur eine gemeinsame Anstrengung von Pädagogen und Psychologen lösen, die nicht unterm Vorwand wissenschaftlicher Objektivität der dringendsten Aufgabe sich entziehen, die ihren Disziplinen heute gestellt ist. Angesichts der objektiven Gewalt hinter dem fortlebenden Potential jedoch wird die subjektive Aufklärung, auch wenn sie mit ganz anderer Energie und in ganz anderen Tiefendimensionen angegriffen wird als bisher, nicht ausreichen. Will man objektiv der objektiven Gefahr etwas entgegenstellen, so genügt dafür keine bloße Idee, auch nicht die von Freiheit und Humanität, die ja, wie man mittlerweile gelernt hat,
in ihrer abstrakten Gestalt den Menschen nicht eben gar zu viel bedeutet. Knüpft das faschistische Potential an ihre, sei's auch noch so begrenzten, Interessen an, dann bleibt das wirksamste Gegenmittel der durch seine Wahrheit einleuchtende Verweis auf ihre Interessen, und zwar auf die unmittelbaren. Man machte sich schon wirklich des spintisierenden Psychologismus schuldig, wenn man bei derlei Bemühungen sich darüber hinwegsetzte, daß der Krieg und das Leiden, das er über die deutsche Bevölkerung brachte, zwar nicht hinreichte, jenes Potential zu tilgen, aber ihm gegenüber doch ins Gewicht fällt. Erinnert man die Menschen ans Allereinfachste: daß offene oder verkappte faschistische Erneuerungen Krieg, Leiden und Mangel unter einem Zwangssystem, am Ende vermutlich die russische Vorherrschaft über Europa zeitigen; kurz, daß sie auf Katastrophenpolitik hinauslaufen, so wird sie das tiefer beeindrucken als der Verweis auf Ideale oder selbst der auf das Leid der anderen, mit dem man ja, wie schon La Rochefoucauld wußte, immer verhältnismäßig leicht fertig wird. Gegenüber dieser Perspektive bedeutet das gegenwärtige malaise kaum mehr als den Luxus einer Stimmung. So vergessen aber sind Stalingrad und die Bombennächte trotz aller Verdrängung nicht, daß man den Zusammenhang zwischen einer Wiederbelebung der Politik, die es dahin brachte, und der Aussicht auf einen dritten Punischen Krieg nicht allen verständlich machen könnte. Auch wenn das gelingt, besteht die Gefahr fort. Aufgearbeitet wäre die Vergangenheit erst dann, wenn die Ursachen des Vergangenen beseitigt wären. Nur weil die Ursachen fortbestehen, ward sein Bann bis heute nicht gebrochen.
Fußnoten 1 Vgl. Text. S. 588f.
Meinung Wahn Gesellschaft Der Begriff der öffentlichen Meinung wird, trotz seiner Mehrdeutigkeit, weithin positiv akzeptiert. Der von der Philosophie seit Platon tradierte von Meinung überhaupt ist insofern neutral, wertfrei, als ihm zufolge Meinungen richtig oder falsch sein können. Beidem steht die Vorstellung von pathogenen, abartigen, wahnhaften Meinungen gegenüber, oft verbunden mit dem Begriff des Vorurteils. Nach dieser schlichten Zweiteilung soll es auf der einen Seite etwas wie gesunde, normale Meinung geben, auf der anderen solche extremer, exzentrischer, bizarrer Natur. In Amerika heißen etwa die Ansichten faschistischer Splittergruppen die eines lunatic fringe, eines verrückten Randes der Gesellschaft. Seine Pamphlete, zu deren Gedankengut trotz aller Widerlegung die Ritualmorde und die Protokolle der Weisen von Zion zählen, gelten als »skurril«. Tatsächlich läßt ein Moment des Irren an solchen Produkten kaum sich übersehen, das allerdings wohl gerade das Ferment ihrer Wirkung ist. Eben das jedoch sollte gegen eine eingeschliffene Konsequenz der verbreiteten Vorstellung mißtrauisch machen: daß die normale Meinung bei der Majorität über die wahnhafte notwendig siege. Nicht anders dachte sich der naiv liberale Leser des Berliner Tageblatts zwischen den beiden Kriegen die Welt, als eine des common sense, die zwar von rabiaten Leuten rechts und links gestört werde, aber doch Recht behalten müsse. So groß war das Vertrauen in die normale Meinung gegenüber der fixen Idee, daß manche älteren Herren ihrem Leibblatt weiterhin trauten, als es längst von den Nationalsozialisten gleichgeschaltet war, die nur noch, schlau genug, die alte Titeltype beibehielten. Die Erfahrung, die jene Abonnenten zu machen hatten, als ihre Besonnenheit, sobald es nicht mehr nach den approbierten Spielregeln zuging, von einem Tag zum anderen in hilflose Torheit sich verkehrte, sollte aber zur kritischen Besinnung auf ein argloses Bild von Meinung als solcher nötigen, das eine normale und eine abnorme friedlich und unverbunden nebeneinander ausmalt. Nicht bloß ist die Annahme, vorweg sei das Normale wahr und das Abweichende falsch, überaus dubios, selber die Glorifizierung bloßer Meinung, nämlich der herrschenden, die das Wahre nicht anders zu denken vermag denn als das, was alle denken. Sondern die
sogenannte pathische Meinung, die Deformationen des Vorurteils, des Aberglaubens, des Gerüchts, des kollektiven Wahns, wie sie die Geschichte, und zumal die aller Massenbewegungen, durchwachsen, sind vom Begriff der Meinung: gar nicht zu trennen. Schwer fiele es, a priori zu entscheiden, was zum einen oder anderen rechnet; die Geschichte enthält auch das Potential, daß hoffnungslos isolierte und ohnmächtige Ansichten durch den Verlauf sei es als vernünftig verifiziert werden, sei es trotz ihrer Absurdität zur Herrschaft gelangen. Darüber hinaus jedoch entspringt die pathische Meinung, das Deformierte und Aberwitzige von Kollektivideen, in der Dynamik des Begriffs der Meinung selbst, in der wiederum die reale Dynamik der Gesellschaft steckt, die solche Meinungen, die falsches Bewußtsein notwendig produziert. Soll der Widerstand dagegen nicht von Anbeginn zur Harmlosigkeit und Hilflosigkeit verurteilt sein, so ist die Tendenz zur pathischen Meinung aus der normalen herauszulesen. Meinung ist die wie immer auch eingeschränkte Setzung eines subjektiven, in seinem Wahrheitsgehalt beschränkten Bewußtseins als gültig. Die Gestalt solcher Meinung mag wirklich harmlos sein. Sagt jemand, er meine, das neue Fakultätsgebäude sei sieben Stockwerke hoch, so kann das bedeuten, er habe das von Dritten gehört, wisse es aber nicht genau. Ganz anderen Sinnes ist, wenn jemand sagt, er jedenfalls meine, daß die Juden eine mindere Rasse von Schädlingen seien, wie in Sartres instruktivem Beispiel vom Onkel Armand, der darum sich als etwas fühlt, weil er die Engländer verabscheut. Hier schränkt das »Ich meine« nicht das hypothetische Urteil ein, sondern unterstreicht es. Indem so einer seine untriftige, durch keine Erfahrung erhärtete, durch keine Überlegungen bündige Meinung als die seine proklamiert, verleiht er ihr, mag er sie auch scheinbar einschränken, gerade durch die Beziehung auf ihn selbst als Subjekt Autorität, die des Bekenntnisses. Durchschimmert, daß er mit Leib und Seele dahintersteht; er habe die Zivilcourage, Unbeliebtes, in Wahrheit freilich nur allzu Beliebtes zu sagen. Umgekehrt ist ebenso verbreitet die Neigung, wenn man auf ein triftiges und begründetes Urteil stößt, das einem unbequem ist, ohne daß man es doch widerlegen könnte, es dadurch zu disqualifizieren, daß man es als bloße Meinung hinstellt. In einem Vortrag zum hundertsten Todestag Schopenhauers 1 war mit Evidenz ausgeführt worden, daß die Differenz zwischen Schopenhauer und Hegel nicht
so absolut sei, wie sie nach Schopenhauers Invektiven erscheint, und daß in dem emphatischen Begriff der Negativität des Daseins die beiden, ohne es von sich selbst zu wissen, sich berühren. Ein Zeitungsschreiber, der von Hegel nichts anderes mag gewußt haben, als daß Schopenhauer auf ihn schimpfte, versah in seinem Bericht jene These des Vortragenden mit einem »nach seiner Ansicht«, durch das der Reporter sich das Air der Überlegenheit über Gedanken zulegte, die er schwerlich mitdenken oder gar überprüfen konnte. Meinung war die des Reporters, nicht die des Vortragenden: dieser hatte etwas erkannt; während aber der Reporter ihn der bloßen Meinung verdächtigte, hatte er selber bereits zu seinem Vorteil einem Mechanismus gehorcht, der die Meinung, nämlich seine unmaßgeblich eigene, als Kriterium der Wahrheit unterschiebt, die sie virtuell abschafft. Bei harmlosen Meinungen wie der dessen, der nicht genau weiß, wie viele Stockwerke das neue Gebäude hat, bleibt es selten. Zwar kann das Individuum an seiner Meinung Reflexion üben und sich hüten, sie zu hypostasieren. Die Kategorie der Meinung selbst aber, als eine objektive Stufe des Geistes, ist gepanzert gegen solche Reflexion. Das läßt zunächst auf einfache Tatbestände der individuellen Psychologie sich zurückführen. Wer eine Meinung hat über eine Frage, die einigermaßen offen ist, nicht vorentschieden; deren Beantwortung nicht ebenso leicht sich überprüfen läßt wie die Anzahl der Stockwerke eines Gebäudes, neigt dazu, sich in diese Meinung festzumachen oder, nach der Sprache der Psychoanalyse, sie affektiv zu besetzen. Töricht wäre, wer immer von dieser Neigung sich freispräche. Sie beruht auf Narzißmus, also darauf, daß die Menschen bis heute dazu gehalten sind, ein Maß ihrer Liebesfähigkeit nicht etwa geliebten Anderen zuzuwenden, sondern sich selber, auf eine verdrückte, uneingestandene und darum giftige Weise zu lieben. Was einer für eine Meinung hat, wird als sein Besitz zu einem Bestandstück seiner Person, und was die Meinung entkräftet, wird vom Unbewußten und Vorbewußten registriert, als werde ihm selber geschadet. Rechthaberei, der Hang der Menschen, törichte Meinungen selbst dann hartnäckig zu verteidigen, wenn ihre Falschheit rational einsichtig geworden ist, bezeugt die Verbreitung des Sachverhalts. Der Rechthaber entwickelt, um nur ja die narzißtische Schädigung von sich fern zu halten, die ihm durch die Preisgabe der Meinung widerfährt, einen Scharfsinn, der oft weit
seine intellektuellen Verhältnisse übersteigt. Die Klugheit, die in der Welt aufgewandt wird, um narzißtisch Unsinn zu verteidigen, reichte wahrscheinlich aus, das Verteidigte zu verändern. Vernunft im Dienst der Unvernunft – nach Freuds Sprache: die Rationalisierung – springt der Meinung bei und verhärtet sie so, daß sich weder mehr daran rühren läßt, noch ihre Absurdität offenbar wird. Über den aberwitzigsten Meinungen wurden erhabene Lehrgebäude errichtet. Man mag bei der Genese solcher verhärteten Meinung – und sie ist eins mit deren Pathogenese – über die Psychologie hinausgehen. Die Setzung einer Meinung, die bloße Aussage, irgend etwas sei so, enthält potentiell bereits Fixierung, Verdinglichung, noch ehe die psychologischen Mechanismen ins Spiel kommen, welche die Meinung zum Fetisch verhexen. Die logische Form des Urteils, gleichgültig ob richtig oder falsch, hat in sich etwas Herrschaftliches, Verfügendes, das dann in der Insistenz auf Meinungen als auf einem Besitz sich widerspiegelt. Überhaupt eine Meinung haben, urteilen, dichtet sich schon in gewissem Maß gegen die Erfahrung ab und tendiert zum Wahn, während andererseits doch nur der zum Urteil Fähige Vernunft hat: das ist vielleicht der tiefste und untilgbare Widerspruch im Meinen. Ohne festgehaltene Meinung, ohne Hypostasis eines nicht ganz Erkannten, ohne Hinnahme von etwas als Wahrheit, von dem man gar nicht durchaus weiß, ob es die Wahrheit sei, ist Erfahrung, ja die Erhaltung des Lebens kaum möglich. Der verängstigte Fußgänger, der eine Straße überschreitet und, bei gelbem Licht, urteilt, wenn er jetzt noch hinübergehe, werde er überfahren werden, ist nicht ganz sicher, ob das wirklich geschehen wird. Das nächste Auto könnte einmal einen humanen Fahrer haben, der noch nicht auf den Gashebel tritt. Aber im Augenblick, in dem der Fußgänger darauf sich verließe und gegen das Licht die Straße überschritte, nur weil er kein Prophet sei, würde er mit größter Wahrscheinlichkeit getötet. Um so sich zu verhalten, wie es der gesunde Menschenverstand der Selbsterhaltung von ihm verlangt, muß er gleichsam übertreiben. Alles Denken ist Übertreibung, insofern als jeder Gedanke, der überhaupt einer ist, über seine Einlösung durch gegebene Tatsachen hinausschießt. In dieser Differenz zwischen Gedanken und Einlösung nistet aber wie das Potential der Wahrheit so auch das des Wahns. Darauf dann, daß überhaupt keinem Gedanken jemals die Garantie beigegeben sei, ob nicht die Erwartung enttäuscht werde,
die er enthält, kann der Wahn erst recht sich berufen. Isoliert bündige, absolut zuverlässige Einzelkriterien gibt es nicht, die Entscheidung ist nur durch ein Gefüge komplexer Vermittlungen hindurch zu fällen. Husserl hat einmal darauf hingewiesen, daß der Einzelne zahllose Sätze als gültig unterstellen muß, die er weder auf ihre Bedingungen zurückführen noch ganz verifizieren kann. Der tägliche Umgang mit der Technik, der ja längst kein Privileg von Fachausbildung mehr ist, zeitigt unablässig solche Situationen. Der Unterschied von Meinung und Einsicht, nämlich daß die Einsicht die verifizierte Meinung sei, so wie es die übliche Erkenntnistheorie lehrt, war meist eine leere Versprechung, der die tatsächlichen Erkenntnisakte selten sich anmaßen; die Menschen sind individuell und kollektiv genötigt, auch mit Meinungen zu operieren, die ihrer Prüfung prinzipiell entzogen sind. Indem aber der Unterschied von Meinung und Einsicht dadurch selbst der lebendigen Erfahrung entgleitet und als abstrakte Behauptung fern am Horizont hängt, büßt er zumindest subjektiv, im Bewußtsein der Menschen, seine Substanz ein. Sie verfügen über kein Mittel, sich prompt dagegen zu schützen, daß sie ihre Meinungen für Einsichten und Einsichten für bloße Meinung halten. Haben die Philosophen seit Heraklit auf den Vielen herumgehackt, die in der bloßen Meinung befangen blieben, anstatt das wahre Wesen der Dinge zu erkennen, so hat ihr Elite-Denken der underlying population nur eine Schuld aufgebürdet, die bei der Einrichtung der Gesellschaft liegt. Denn die Instanz, welche den Menschen die ad Kalendas Graecas verschobene Entscheidung über Meinung und Wahrheit abnimmt, ist die Gesellschaft. Die communis opinio substituiert die Wahrheit, faktisch, schließlich indirekt auch in manchen positivistischen Erkenntnistheorien. Über das, was wahr und was bloße Meinung, nämlich Zufall und Willkür sein soll, entscheidet nicht, wie die Ideologie es will, die Evidenz sondern die gesellschaftliche Macht, die das als bloße Willkür denunziert, was mit ihrer eigenen Willkür nicht zusammenstimmt. Die Grenze zwischen der gesunden und der pathogenen Meinung wird in praxi von der geltenden Autorität gezogen, nicht von sachlicher Einsicht. Je mehr diese Grenze verfließt, desto ungehemmter wuchert die Meinung fort. Ihr Korrektiv, das, wodurch sie zur Erkenntnis werden kann, ist die Beziehung des Gedankens zu seinem Gegenstand. Indem er mit diesem sich sättigt, verändert er sich und
entäußert sich des Moments der Beliebigkeit; Denken ist keine bloß subjektive Tätigkeit, sondern wesentlich, als was die Philosophie auf ihrer Höhe es wußte, der dialektische Prozeß zwischen Subjekt und Objekt, in dem beide Pole sich selbst überhaupt erst bestimmen. Auch das Organ des Denkens, Klugheit, besteht nicht allein in der formalen Kraft des subjektiven Vermögens, Begriffe, Urteile, Schlüsse korrekt zu bilden, sondern zugleich in der Fähigkeit, dies Vermögen an das zu wenden, was ihm selbst nicht gleicht. Das von der Psychologie »Kathexis« genannte Moment, die Besetzung des Objekts im Denken, ist diesem nicht äußerlich, nicht nur psychologisch, sondern die Bedingung seiner Wahrheit. Wo es verkümmert, verdummt die Intelligenz. Blindheit gegen den Unterschied von Wesentlichem und Unwesentlichem ist dafür ein erster Index. Etwas von dieser Dummheit triumphiert, wann immer die Denkmechanismen sich selbst entrollen, leerlaufen, ihre Formalismen und Ordnungsbestimmungen anstelle der Sache setzen. Spuren dessen trägt die Meinung, die sich in sich festmacht und widerstandslos weitergeht. Meinung ist zunächst Bewußtsein, das seinen Gegenstand noch nicht hat. Schreitet aber solches Bewußtsein lediglich vermöge des eigenen Motors fort, ohne Fühlung mit dem, was es meint und was es eigentlich erst fassen soll, so wird es ihm zu leicht. Meinung, als die von ihrem Gegenstand noch getrennte ratio, gehorcht einer Art von Kräfteökonomie, folgt der Linie des geringsten Widerstands, wenn sie undurchbrochen der bloßen Konsequenz sich überläßt. Diese erscheint ihr ein Verdienst, während sie vielfach nur Mangel dessen ist, was Hegel die »Freiheit zum Objekt« nannte, nämlich die des Gedankens dazu, in der Sache sich selbst zu vergessen und sich zu verändern. Brecht hat dem sehr drastisch den Grundsatz kontrastiert, wer A sagt, müsse nicht B sagen. Bloße Meinung neigt zu jenem Nichtaufhören-Können, das pathische Projektionen heißen darf 2 . Zugleich aber ist die permanente Wucherung des Meinens vom Objekt her motiviert. Die Undurchsichtigkeit der Welt nimmt offenbar für das naive Bewußtsein zu, während sie in so vielem durchsichtiger wird. Ihre Übermacht, welche es verwehrt, die dünne Fassade zu durchstoßen, verstärkt solche Naivetät, anstatt daß sie, wie der arglose Bildungsglaube es möchte, geringer würde. An was aber Erkenntnis nicht heranreicht, dessen bemächtigt sich die Meinung als deren Ersatz. Trügend räumt sie die Fremdheit
zwischen dem erkennenden Subjekt und der ihm entgleitenden Realität weg. Dabei verrät sich in der Inadäquanz der bloßen Meinung jene Entfremdung selber. Weil dies nicht unsere Welt, weil sie heteronom ist, deshalb kann sie in der verbissenen und hartnäckigen Meinung nur verzerrt sich ausdrücken, und solcher Wahn in der Meinung tendiert dann wiederum dazu, schließlich in totalitären Systemen die Übermacht des Entfremdeten zu vermehren. Darum genügt es weder für die Erkenntnis noch für eine verändernde Praxis, auf den Nonsens der unsäglich populären Anschauungen hinzuweisen, nach denen Menschen sich den Charakterologien und Prognosen unterwerfen, die eine kommerziell wiedererweckte und standardisierte Astrologie an die Tierkreiszeichen knüpft 3 . Nicht einfach deshalb werden die Menschen sich selbst zum Stier und zur Jungfrau, weil sie so dumm sind, der Suggestion der Zeitungsspalten zu gehorchen, die als selbstverständlich unterstellen, etwas sei daran, sondern weil ihnen jene Clichés, und die stupiden Anweisungen zu einem Leben, die bloß verdoppeln, was sie ohnehin müssen, ihnen wie sehr auch scheinhaft die Orientierung erleichtern und momentan das Gefühl ihrer Fremdheit dem Leben, auch dem eigenen gegenüber beschwichtigen. Die Resistenzkraft der bloßen Meinung erklärt sich aus deren psychischer Leistung. Sie bietet Erklärungen an, durch die man die widerspruchsvolle Wirklichkeit widerspruchslos ordnen kann, ohne sich groß dabei anzustrengen. Hinzu kommt die narzißtische Befriedigung, welche die Patentmeinung gewährt, indem sie ihre Anhänger darin bestärkt, sie hätten es immer gewußt und gehörten zu den Wissenden. Das Selbstvertrauen der unentwegt Meinenden fühlt sich gefeit gegen jedes abweichende konträre Urteil. Diese psychische Leistung wird aber von pathischen Meinungen weit besser erfüllt als von den angeblich gesunden. Karl Mannheim hat einmal darauf aufmerksam gemacht, wie genial der Rassewahn dadurch ein massenpsychologisches Bedürfnis befriedige, daß er es der Majorität erlaubt, sich als Elite zu fühlen und für die Ahnung ihrer Ohnmacht und Inferiorität an einer potentiell wehrlosen Minorität sich zu rächen. Die Ich-Schwäche heute, die gar nicht nur psychologisch ist, sondern in der der seelische Mechanismus die reale Ohnmacht des Einzelnen gegenüber der vergesellschafteten Apparatur registriert, wäre einem unerträglichen Maß an narzißtischer Kränkung ausgesetzt, wenn sie
nicht, durch Identifikation mit der Macht und Herrlichkeit des Kollektivs, sich einen Ersatz suchen würde. Eben dazu taugen die pathischen Meinungen, die unaufhaltsam aus dem infantil narzißtischen Vorurteil hervorgehen, man selber sei gut und was anders ist, minderwertig und schlecht. Die Entwicklung der Meinung zur pathischen erinnert an jene Dinosaurier, deren Geschichte, mit zunehmender Spezialisierung der Organe, die sie immer besser für den Kampf ums Dasein ausstattete, in der Endphase Mißbildung und Auswüchse hervorbrachte. Man nähme solche Entwicklung zu leicht, wenn man sie lediglich von den Menschen, ihrer Psychologie, allenfalls einer Tendenz des Denkens selbst herleiten wollte. Die Zersetzung von Wahrheit durch Meinung samt all dem Verhängnis, das sie involviert, weist zurück auf das, was, zwangvoll und keineswegs als widerrufliche Aberration, mit der Idee von Wahrheit selber sich zutrug. Diese Idee, als die eines Objektiven, unveränderlich sich selbst Gleichbleibenden, Einheitlichen und an sich Seienden, war das Maß, an dem Platon den Gegenbegriff der bloßen Meinung abgelesen und diese als fragwürdig Subjektives kritisiert hatte. Die Geschichte des Geistes aber hat diesen starren Gegensatz von den Ideen als dem Wahren, und dem bloß Seienden, in dessen Bann die hinfälligen Meinungen gefangen sind, nicht unproblematisch stehen lassen. Aristoteles schon wandte ein, daß Idee und Dasein durch keinen Abgrund getrennt, sondern wechselseitig aufeinander verwiesen sind. Kritik hat in zunehmendem Maße die Idee der an sich seienden Wahrheit, die bei Platon der Meinung, der doxa, entgegensteht, selber als bloße Meinung angegriffen und die Frage nach der objektiven Wahrheit zurückgewandt auf das Subjekt, das da erkennen, vielleicht gar solche Wahrheit aus sich heraus erzeugen soll. Auf ihrer Höhe in Kant und Hegel hat die spätere abendländische Metaphysik versucht, die Objektivität von Wahrheit durch ihre Subjektivierung hindurch zu erretten, ja sie dem Inbegriff von Subjektivität, dem Geist gleichzusetzen. Diese Konzeption hat aber weder in den Menschen noch gar in der Wissenschaft sich durchgesetzt. Die Naturwissenschaften verdanken ihre bestechendsten Erfolge gerade einer Preisgabe der Lehre von der Selbständigkeit der Wahrheit, der reinen Formen, und der rückhaltlosen Einschränkung des Wahren auf primär subjektiv beobachtete, dann verarbeitete Tatsachen. Damit ist der Lehre von
der an sich seienden Wahrheit etwas von ihrer eigenen Unwahrheit heimgezahlt worden, von jenem Übermut des Subjekts, das sich selbst schließlich zur Objektivität und zur Wahrheit aufwirft und eine Gleichheit oder Versöhntheit von Subjekt und Objekt behauptet, die vom widerspruchsvollen Charakter der Welt Lügen gestraft wird. Neuerdings wird die Aporie des objektiven Vernunftbegriffs obskurantistisch ausgeschlachtet. Weil man nicht wie mit einem Verwaltungsakt unmittelbar, absolut ausmachen kann, was Wahrheit und was Meinung sei, wird der Unterschied zum höheren Ruhm der Meinung schlechthin geleugnet. Die Fusion von Skepsis und Dogmatismus, deren bereits Kant gewahr wurde, und deren Überlieferung bis in die Anfänge des bürgerlichen Denkens, bis zu Montaignes Verteidigung von Sebond zurückzuverfolgen wäre, feiert fröhliche Urständ in einer Gesellschaft, die vor der eigenen Vernunft zittern muß, weil es noch nicht Vernunft ist. Eingespielt hat sich dafür die Formel: Vernunftglaube. Weil ein jedes Urteil verlange, daß das Subjekt das Geurteilte annehme, also daran glaube, sei der Unterschied zwischen bloßer Meinung oder Glauben und gegründetem Urteil überhaupt hinfällig. Wer rational sich verhalte, der glaube an die ratio ebenso wie der Irrationale an sein Dogma. Deshalb sei das dogmatische Bekenntnis zu einem vermeintlich Geoffenbarten vom selben Wahrheitsgehalt wie die vom Dogma emanzipierte Einsicht. In der Abstraktheit der These versteckt sich ihr Trug. Glaube hier und dort ist ein ganz Verschiedenes: beim Dogma ein sich Festmachen in Sätze, die wider die Vernunft gehen oder ihr inkompatibel sind, bei der Vernunft nichts anderes als die Verpflichtung auf eine Verhaltensweise des Geistes, die nicht gewalttätig sich sistiert oder durchstreicht, sondern in der Negation der falschen Meinung bestimmt sich fortbewegt. Vernunft ist unter keinen allgemeineren Begriff von Glauben oder Meinung zu subsumieren. Sie hat ihren spezifischen Gehalt an der Kritik dessen, was unter diese Kategorien fällt und an sie sich bindet. Das individuelle Moment des Für-wahr-Haltens, das im übrigen gerade auch die geschärfte Theologie als insuffizient von sich weist, ist der Vernunft unwesentlich. Ihr Interesse ist die Erkenntnis; nicht, wofür diese sich hält. Ihre Richtung führt das Subjekt von sich weg, anstatt es in seinen ephemeren Überzeugungen zu bestärken. Bloß in schlecht
souveräner Äußerlichkeit lassen Meinung und Einsicht aufs Gemeinsame subjektiver Zueignung eines Bewußtseinsinhalts sich nivellieren; eher ist dies je Gemeinsame, die subjektive Beschlagnahme, bereits der Übergang zum Falschen. In der Motivationsweise eines jeglichen Einzelsatzes, wie fehlbar auch immer er sei, tritt der Unterschied konkret hervor. Mit schöner Unbefangenheit, die auch durch den allzu psychologischen Ton nicht getrübt wird, hat Arthur Schnitzler vor einem Menschenalter aufgezeichnet: »Es ist meist bewußte Unaufrichtigkeit, die Dogmen der Kirche mit den Dogmen der Wissenschaft, selbst wo diese zweifelhaft sein sollten, auf eine Stufe zu stellen. Was – selbst zu Unrecht – als wissenschaftliches Dogma gilt, verdankt seinen Rang in jedem Falle der Ehrlichkeit und der Mühe von Denkern und Forschern und der Nachprüfung von Hunderttausenden Beobachtungen. Das kirchliche Dogma ist im allerbesten Falle die gutgläubige Behauptung eines Visionärs, an die zu glauben Hunderttausende oft nur durch Terrorismus gezwungen werden.« 4 Hinzuzufügen wäre dem freilich, daß Vernunft, will sie nicht tatsächlich zweitem Dogmatismus sich verschreiben, auch auf den Begriff von Wissenschaft kritisch zu reflektieren hätte, den Schnitzler noch einigermaßen naiv unterstellte. In solcher Reflexion hat Philosophie ihre Stätte; als sie noch auf sich vertraute, war ihr Wissenschaft nichts anderes, als was solche Selbstreflexion vollbringt, und daß auf diese verzichtet wird, ist selbst Symptom der Rückbildung aufs bloße Meinen. Denn das geschwächte und der Realität immer hörigere Bewußtsein verliert mittlerweile die Fähigkeit, jene Anspannung der Reflexion zu leisten, die ein Begriff von Wahrheit fordert, der nicht dinghaft und abstrakt der bloßen Subjektivität gegenübersteht, sondern sich entfaltet durch Kritik, kraft der wechselseitigen Vermittlung von Subjekt und Objekt. Im Namen der Wahrheit also, die den Wahrheitsbegriff als eine Schimäre, ein Stück übriggebliebener Mythologie liquidiert, wird die Unterscheidung von Wahrheit und Meinung selbst immer prekärer. Gewiß stellt das gesellschaftliche Bewußtsein, das längst vom philosophischen wie von einer Spezialbranche sich abgeschieden hat, solche Erwägungen nicht an. Aber sie spiegeln sich wider in den Verfahrungsweisen der Forschung, die zum Modell von Erkenntnis überhaupt, im Gegensatz zu bloßer Meinung wurde. Daher ihre Gewalt. Vorgänge,
die, wenn man so reden darf, im Inneren des philosophischen Begriffs sich zutragen, haben ihre Konsequenzen für das alltägliche, zumal das gesellschaftliche Bewußtsein. Stillschweigend verzichtet es auf eine Unterscheidung von Wahrheit und Meinung, welche die Bewegung des Geistes nicht unberührt ließ. Dem gewitzigten Bewußtsein wird Wahrheit vielfach so zur Meinung wie jenem Journalisten. Meinung aber substituiert sich als Wahrheit. Anstelle der zugleich problematischen und verpflichtenden Idee von Wahrheit an sich tritt die bequemere der Wahrheit für uns, sei es für alle, sei es wenigstens für viele. »Thirteen million Americans can't be wrong«, heißt ein beliebter Reklameslogan, getreueres Echo des Geistes der Epoche, als dem abgekapselten Stolz derer recht ist, die als Kulturelite sich fühlen. Der Durchschnitt der Meinung wird – mit der gesellschaftlichen Macht, die in ihm sich zusammenballt – zum Fetisch, auf den die Attribute der Wahrheit sich übertragen. Unvergleichlich viel leichter, das Armselige darin zu spüren, darüber sich zu entrüsten oder es zu belächeln, als ihm stringent zu begegnen. Auch die wunderlichen Zumutungen der jüngsten Gestalt der Auflösung des Wahrheitsbegriffs, in manchen – nicht allen – Richtungen des logischen Positivismus, springen in die Augen, während sie gleichzeitig auf ihrem eigenen Boden sehr schwer nur sich widerlegen lassen. Denn das setzte eben jene Beziehungen des Gedankens auf die Sache, jene Erfahrung voraus, die im Namen der Verwandlung des Denkens in eine von der Sache möglichst unabhängige Methode zum alten Eisen geworfen wird. Zeitgemäß ist jener alte common sense, der, während er auf die eigene Vernünftigkeit so viel sich zugute tut, gleichzeitig hämisch der Vernunft abschwört, wissend, daß es in der Welt nicht auf den Gedanken ankommt, sondern auf Besitz und Macht, und der es auch gar nicht anders will. Was sich als die unbestechliche Skepsis dessen geriert, der sich keinen blauen Dunst vormachen lassen will, ist das Achselzucken des Bürgers, »was wird schon sein«, wie es an einer Stelle von Becketts ›Endspiel‹ heißt, die befriedigte Verkündung der subjektiven Relativität aller Erkenntnis. Sie läuft darauf hinaus, daß das sture und verblendete subjektive Eigeninteresse das Maß aller Dinge sein und bleiben solle. Man kann das an der Geschichte eines der wichtigsten gesellschaftstheoretischen Begriffe wie im Reagenzglas studieren, dessen der Ideologie. In seiner vollen theoretischen Ausbildung war
der Ideologiebegriff an eine Lehre von der Gesellschaft geknüpft, die sich als objektiv verstand, den objektiven Bewegungsgesetzen der Gesellschaft nachfragte und eine richtige Gesellschaft dachte, eine, in der objektive Vernunft realisiert, die Illogizität der Geschichte, ihre blinden Widersprüche beseitigt wären. Ideologie hieß dieser Theorie gesellschaftlich notwendiges falsches Bewußtsein, also der Gegensatz zu einem wahren, und war nur in diesem Gegensatz zu bestimmen, zugleich aber selbst ableitbar aus objektiven gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten, zumal aus der Struktur der Warenform. Noch in ihrer Unwahrheit, als Ausdruck solcher Notwendigkeit, war Ideologie auch ein Stück Wahrheit. Die spätere Wissenssoziologie, insbesondere die von Pareto und Mannheim, hat sich etwas auf ihre wissenschaftlich geläuterte Begrifflichkeit und dogmenfreie Aufgeklärtheit zugute getan, als sie diesen Ideologiebegriff durch einen ersetzte, den sie nicht zufällig den totalen nannte und der mit blinder, totaler Herrschaft nur allzu gut sich zusammenreimte 5 . Jegliches Bewußtsein soll demnach vorweg interessenbedingt, bloße Meinung sein; die Idee der Wahrheit selbst verdünnt sich zu einer aus diesen Meinungen zu komponierenden Perspektive, ungeschützt gegen den Einwand, auch sie sei nichts als Meinung, die der freischwebenden Intelligenz. Durch solche universale Erweiterung verliert der kritische Ideologiebegriff seinen Sinn. Weil, der lieben Wahrheit zu Ehren, alle Wahrheiten doch bloß Meinungen seien, weicht die Idee von Wahrheit der Meinung. Die Gesellschaft wird von der Theorie nicht länger kritisch analysiert, sondern bestätigt als das, wozu sie real zunehmend wird, ein Chaos ungelenkter, zufälliger Ideen und Kräfte, deren Blindheit das Ganze dem Untergang zutreibt. – Wie schwer die von Nietzsche großartig antezipierte Selbstvernichtung der Wahrheit durch einen unreflektiert losgelassenen Prozeß von Aufklärung zu nehmen ist, läßt an eben solchen Exzentrizitäten sich beobachten wie der Stellung zur pathischen Meinung par excellence, zum Aberglauben. Kant, subjektiver Aufklärer im Namen objektiver Wahrheit, hatte den Aberglauben in seiner gegen Swedenborg gerichteten Schrift ›Träume eines Geistersehers‹ bloßgestellt. Manche Empiristen, die zwar im Gegensatz zu Kant von konstitutiver Subjektivität nichts wissen wollen, dafür aber in ihrer Reduktion des Wahrheitsbegriffs einem seiner selbst unbewußten und darum nur um so ungehemmteren Subjektivismus huldigen,
stehen gegen den Aberglauben längst nicht mehr so entschieden. Sie wären geneigt, sich auch ihm gegenüber auf die Neutralität eines begriffslos beobachtenden Wissenschaftsbetriebs zurückzuziehen. Auch okkulten Tatsachen könne man abwartend, beobachtend, vorurteilslos sich nähern. Man begibt sich des Rechts, den Schwindel von der Schwelle fortzuweisen, der darin besteht, daß, was dem eigenen Sinn nach die Grenzen der Möglichkeit sinnlicher Erfahrung überschreitet, zum Gegenstand solcher Erfahrung soll gemacht werden können. Man ist noch dem Wahn gegenüber aufgeschlossen. Es gibt auch falsche Vorurteilslosigkeit, das Abschneiden des Gedankens, das sich besinnungslos den isolierten Materialien der Erkenntnis anvertraut; was Vorurteil und was Vorurteilslosigkeit sei, läßt sich überhaupt nicht abstrakt angeben, sondern entscheidet sich allein in dem Zusammenhang der Erkenntnis wie der Realität, in dem die Frage danach sich stellt. Schon fehlt es, in einer zur Apologetik gestimmten Wissenschaft, nicht an solchen, die sogar die pathischen Vorurteile gelassen verzeichnen und ihre theoretische Durchdringung, ihre Reduktion auf soziale und psychologische Defekte, selber als Vorurteil abtun, während ihrer Meinung zufolge vorurteilslose Wissenschaft genauso gut ein Koordinatensystem zu bilden vermöchte, in dem, wie bei dem verstorbenen Marburger Psychologen Jaensch, die ›Authoritarian Personality‹ zum Positiven würde und die potentiell freien Menschen, die ihr widerstehen, zu dekadenten Schwächlingen. Dahin ist es nicht weit für eine wissenschaftliche Gesinnung, die am Begriff der Wahrheit sich desinteressiert und sich begnügt mit der Herstellung mehr oder minder in sich einstimmiger klassifikatorischer Systeme, in denen man das Beobachtete elegant einfangen kann. Daß die pathische Meinung der sogenannten normalen immanent ist, zeigt drastisch sich daran, daß, in krassem Widerspruch zu der offiziellen Unterstellung einer vernünftigen Gesellschaft von Vernünftigen, grundlose und unsinnige Vorstellungen jeglichen Schlages keineswegs die Ausnahme, keineswegs im Abnehmen sind. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung der Bundesrepublik ist der Ansicht, es sei an der gleichen Astrologie etwas dran, die schon in der Frühzeit der bürgerlichen Epoche, als die Methoden wissenschaftlicher Kritik noch nicht so entwickelt waren wie heute, Leibniz als die einzige
Wissenschaft bezeichnete, für die er nichts hege als Verachtung. Wie viele Menschen immer noch ungezählte Male widerlegten Anschauungen der Rassentheorie anhängen, etwa der Überzeugung, irgendwelche Schädelmerkmale gingen mit Charaktereigenschaften zusammen, ist wohl nur deshalb nicht nachweisbar, weil eine solche Angst vor den Ergebnissen von Umfragen in der Bundesrepublik herrscht, die dem nachgingen, daß sie gar nicht erst angestellt werden. Die Überzeugung, Rationalität sei das Normale, ist falsch. Unterm Bann der zähen Irrationalität des Ganzen ist normal auch die Irrationalität der Menschen. Sie und die Zweckrationalität ihres praktischen Handelns klaffen weit auseinander, aber Irrationalität ist stets auf dem Sprung, auch diese Zweckrationalität, im politischen Verhalten, zu überfluten. Daher rührt eine der ernstesten all der Schwierigkeiten, denen der Begriff der öffentlichen Meinung, in ihrem Verhältnis zur privaten, begegnet. Soll öffentliche Meinung legitim jene Kontrollfunktion ausüben, welche ihr seit Locke die Theorie einer demokratischen Gesellschaft zuschreibt, dann muß sie selbst in ihrer Wahrheit kontrollierbar sein. Gegenwärtig gilt sie für kontrollierbar bloß als der statistische Durchschnittswert der Meinungen aller Einzelnen. In diesem Durchschnittswert müssen notwendig die Irrationalitäten jener Meinung, das Moment ihrer Beliebigkeit und sachlichen Unverbindlichkeit, wiederkehren; sie wäre also gerade nicht jene objektive Instanz, die sie dem eigenen Begriff nach, als Korrektiv fehlbarer politischer Einzelhandlungen, zu sein beansprucht. Wollte man jedoch statt dessen die öffentliche Meinung deren sogenannten Organen gleichsetzen, die mehr wüßten und verständen, so würde zu ihrem Kriterium dieselbe Verfügung über die Mittel der Massenkommunikation, deren Kritik nicht die unwesentlichste Aufgabe der öffentlichen Meinung darstellt. Die öffentliche Meinung gar der einer Schicht gleichzusetzen, die sich selbst als Elite versteht, wäre darum unverantwortlich, weil in einer solchen Gruppe das wirkliche Sachverständnis, und damit die Möglichkeit eines Urteils, das mehr taugt als bloße Meinung, unauflöslich verstrickt ist in Partikularinteressen, die jene Elite wahrnimmt, als ob es die allgemeinen wären. Im Augenblick, in dem eine Elite als solche sich weiß und erklärt, macht sie sich schon zum Gegenteil dessen, was sie zu sein beansprucht, und leitet aus Umständen, die ihr vielleicht manches an rationaler Einsicht gestatten, irrationale Herrschaft ab. Elite mag man in Gottes Namen
sein; niemals darf man als solche sich fühlen. Wollte man indessen, angesichts von derlei Aporien, den Begriff der öffentlichen Meinung einfach ausstreichen, auf sie ganz verzichten, so fiele damit doch wiederum ein Moment weg, das noch in einer antagonistischen Gesellschaft, solange sie nicht zur totalitären übergegangen ist, das Schlimmste verhindern kann. Die Revision des Dreyfus-Prozesses, auch der Sturz eines niedersächsischen Kultusministers durch den Widerstand der Göttinger Studenten wären ohne öffentliche Meinung nicht möglich gewesen. Zumal in westlichen Ländern bewahrt sie sich bis in die Zeiten der verwalteten Welt hinein etwas von der Funktion, die sie einmal im Kampf mit dem Absolutismus innehatte. In Deutschland freilich, wo die öffentliche Meinung als wie sehr auch problematische Stimme eines selbständigen Bürgertums nie recht sich formierte, ist ihr auch heute, da sie erstmals kräftiger sich zu regen scheint, etwas von der alten Ohnmacht gesellt. Die charakteristische Gestalt absurder Meinung heute ist der Nationalismus 6 . Mit neuer Virulenz steckt er die gesamte Welt an, in einer Phase, in der er zugleich durch den Stand der technischen Produktivkräfte, die potentielle Bestimmung der Erde als eines Planeten, zumindest in den nicht unterentwickelten Ländern, seine reale Basis verloren hat und gänzlich zu der Ideologie geworden ist, die er freilich immer auch schon war. Im Privatleben ist Selbstlob und was ihm ähnelt anrüchig, weil Äußerungen solchen Sinnes allzuviel von der Übergewalt des Narzißmus ausplaudern. Je befangener die Individuen in sich selbst sind und je verhängnisvoller sie die Einzelinteressen verfolgen, die in jener Gesinnung sich abbilden und deren sture Gewalt auch wiederum von ihr verstärkt wird, desto sorgfältiger muß eben dies Prinzip verschwiegen, muß unterstellt werden, es gehe, wie der nationalsozialistische Slogan lautete, Gemeinnutz vor Eigennutz. Gerade die Kraft des Tabus über dem individuellen Narzißmus jedoch, dessen Verdrängung, verleiht dem Nationalismus die perniziöse Macht. Im Leben des Kollektivs geht es anders zu als nach den Spielregeln in den Beziehungen zwischen den Individuen. Schon bei jedem Fußballmatch jubelt die jeweils einheimische Bevölkerung unter Mißachtung des Gastrechts schamlos dem eigenen Team zu; der heute nicht umsonst so gern en canaille behandelte Anatole France konstatierte in der ›Insel der Pinguine‹, daß jedes Vaterland über allen in der Welt ist. Man
müßte nur die Normen des bürgerlichen Privatlebens ernst nehmen und zu gesellschaftlichen erheben. Aber eine derart gutmütige Empfehlung verkennt die Unmöglichkeit, daß es dazu komme unter Bedingungen, die den Einzelnen solche Versagungen auferlegen, ihren individuellen Narzißmus so konstant enttäuschen, sie real so sehr zur Ohnmacht verdammen, daß sie zu kollektivem Narzißmus verurteilt sind. Ersatzweise zahlt er ihnen dann gleichsam als Individuen etwas von jener Selbstachtung zurück, die ihnen dasselbe Kollektiv entzieht, von dem sie die Rückerstattung erhoffen, indem sie wahnhaft mit ihm sich identifizieren. Der Glaube an die Nation ist mehr als jedes andere pathische Vorurteil die Meinung als Verhängnis; die Hypostasis dessen, wozu man nun einmal gehört, wo man nun einmal steht, als des Guten und Überlegenen schlechthin. Er bläht die abscheuliche Notstandsweisheit, daß wir alle im gleichen Boot sitzen, zur moralischen Maxime auf. Gesundes Nationalgefühl vom pathischen Nationalismus zu scheiden, ist so ideologisch wie der Glaube an die normale Meinung gegenüber der pathogenen; unaufhaltsam ist die Dynamik des angeblich gesunden Nationalgefühls zum überwertigen, weil die Unwahrheit in der Identifikation der Person mit dem irrationalen Zusammenhang von Natur und Gesellschaft wurzelt, in dem die Person zufällig sich findet. Angesichts alles dessen bleibt es bei dem Diktum Hegels, der bereits den Widerspruch im Inneren des Begriffs der öffentlichen Meinung selbst gewahrte, ehe er sich real voll entfalten konnte: die öffentliche Meinung sei zugleich zu achten und zu verachten. Das Paradoxon rührt nicht von schwankender Unentschiedenheit derer her, die über Meinung nachzudenken haben, sondern ist unmittelbar eins mit dem Widerspruch der Realität, der die Meinung gilt und von der die Meinung produziert wird. Keine Freiheit ohne die Meinung, die von der Realität abweicht; aber solche Abweichung gefährdet die Freiheit. Die Idee der freien Meinungsäußerung, die von der Idee einer freien Gesellschaft gar nicht getrennt werden kann, wird notwendig zu dem Recht, die eigene Meinung vorzubringen, zu verfechten und womöglich durchzusetzen, auch wenn sie falsch, irr, verhängnisvoll ist. Wollte man aber darum das Recht der freien Meinungsäußerung beschneiden, so steuerte man unmittelbar auf jene Tyrannei los, die freilich mittelbar in der Konsequenz von Meinung selbst liegt. Der Antagonismus im
Begriff der freien Meinungsäußerung läuft darauf hinaus, daß dieser die Gesellschaft als die von Freien, Gleichen und Mündigen setzt, während ihre eigene reale Einrichtung all das hintanhält und einen Zustand permanenter Regression der Subjekte produziert und reproduziert. Das Recht auf freie Meinungsäußerung unterstellt eine Identität des Einzelwesens und seines Bewußtseins mit dem rationalen Gesamtinteresse, welche in eben der Welt verhindert wird, in der man sie der Form nach als gegeben ansieht. Heute ist es vollends problematisch, der bloßen Meinung im Namen von Wahrheit zu opponieren, weil zwischen jener und der Realität eine fatale Wahlverwandtschaft sich herstellt, die dann wiederum der Verstocktheit der Meinung zugute kommt. Sicherlich ist die Meinung der Närrin, die ihr Bett im Schlafzimmer anders aufstellen läßt, um sich vor der Gefahr bösartiger Strahlungen zu schützen, pathogen. Aber die Gefahr von Strahlen in der atomverseuchten Welt ist so angewachsen, daß ihre Sorge nachträglich von derselben Vernunft honoriert wird, der ihr psychotischer Charakter sich entzieht. Die objektive Welt nähert sich dem Bild, das der Verfolgungswahn von ihr entwirft. Davor bleibt der Begriff des Verfolgungswahns, und die pathische Meinung insgesamt, nicht geschützt. Wer heute noch das Pathogene der Realität mit den traditionellen Kategorien des Menschenverstandes zu begreifen hofft, verfällt der gleichen Irrationalität, vor der er sich durch seine Treue zum gesunden Menschenverstand zu sichern einbildet. Man mag die allgemeine Bestimmung riskieren, die pathische Meinung sei die verhärtete, das verdinglichte Bewußtsein, die lädierte Fähigkeit zur Erfahrung. Die seit der Platonischen Kritik an der Sophistik nachgeredete Identifikation der doxa mit bloß subjektiver Vernunft nennt denn auch nur ein Moment. Meinung, und gewiß die pathische, ist immer zugleich auch Mangel an Subjektivität und gesellt sich deren Schwäche. Den Platonischen Karikaturen der fuchtelnden Widersacher des Sokrates ist das deutlich eingezeichnet. Wo das Subjekt die Kraft zur vernünftigen Synthesis nicht mehr hat oder sie, verzweifelnd vor Übermacht, verleugnet, dort nistet Meinung sich ein. Meist ist es mit dem Subjektivismus dabei gar nicht weit her; vielmehr redet auf ihn automatisch fast Bewußtsein sich heraus, das gerade nicht jenes Selbstbewußtsein ist, dessen die Erkenntnis bedarf, um objektiv zu
geraten. Was das Subjekt im Namen von Meinung sich als private Prärogative zuschreibt, ist durchweg nur der Abdruck der objektiven Verhältnisse, in die es eingelassen ist. Seine vermeintliche Meinung wiederholt die geronnene aller. Dem Subjekt, das keine genuine Beziehung zur Sache hat; das abprallt von ihrer Fremdheit und Kälte, wird alles, was es darüber sagt, für es selbst und auch an sich, zu bloßer Meinung, einem Reproduzierten und Registrierten, das ebenso auch anders sein könnte. Die subjektivistische Reduktion auf die Zufälligkeit individuellen Bewußtseins fügt sich genau in den unterwürfigen Respekt vor einer Objektivität, die solches Bewußtsein unangefochten stehen läßt und der es die Reverenz zeigt noch in der Versicherung, was immer es denke, sei angesichts ihrer Gewalt unverbindlich; nach deren Maß sei Vernunft überhaupt nichts. In der Zufälligkeit des Meinens spiegelt sich der Riß zwischen Objekt und Vernunft. Das Subjekt ehrt die Mächte, indem es zur eigenen Zufälligkeit sich erniedrigt. Darum ist der Stand pathischer Meinung durch das bloße Bewußtsein kaum zu ändern. Die Verdinglichung des Bewußtseins, das zur Dingwelt überläuft, vor ihr kapituliert, ihr sich gleichmacht; die verzweifelte Anpassung dessen, der die Kälte und Übergewalt der Welt anders nicht zu bestehen vermag, als indem er sie womöglich überbietet, gründet in der verdinglichten, der Unmittelbarkeit menschlicher Beziehungen entäußerten, vom abstrakten Prinzip des Tausches beherrschten Welt. Gibt es wirklich kein richtiges Leben im falschen, so kann es eigentlich auch kein richtiges Bewußtsein darin geben. Nur real, nicht durch ihre intellektuelle Berichtigung allein wäre über die falsche Meinung hinauszukommen. Ein Bewußtsein, das heute und hier jener Verhärtung der Meinung ganz entsagte, die das pathische Prinzip ist, wäre ebenso problematisch wie jene Verhärtung selbst. Es verfiele dem flüchtigen strukturlosen Wechsel von Anschauung zu Anschauung, jenem molluskenhaften Unwesen, das an manchen sogenannten feinsinnigen Menschen sich beobachten läßt, und das zur Synthesis der Einsicht gar nicht erst gelangt, die dann im verdinglichten Bewußtsein einfriert. Ein solches, gewissermaßen paradiesisches Bewußtsein wäre a priori der Realität unangemessen, die es zu erkennen hat und die das Verhärtete selbst ist. Jegliche Anweisung zum richtigen Bewußtsein wäre vergeblich. Eigentlich besteht es nur in der Anstrengung, unermüdlich auf seine Aporien und auf sich selber zu reflektieren.
Die angelsächsische Gestalt des Problems von Meinung ist die Aufweichung von Wahrheit durch Skepsis. Die objektive Erkenntnis der Realität, und damit die Frage ihrer Gestaltung, wird auf die erkennenden Subjekte reduziert, so wie deren in keinem objektiven Oberbegriff versöhnte Interessen nach der Doktrin des Liberalismus das Ganze blindlings reproduzieren sollen, das sie doch zugleich immerfort zu zerreißen drohen. Der latente, sich selbst verborgene Subjektivismus der objektivszientifischen Gesinnung des angelsächsischen Kulturkreises geht zusammen mit Mißtrauen gegen ungezügelte Subjektivität, mit der steten, bereits automatisierten Neigung, Erkenntnisse durch den Hinweis auf ihre Bedingtheit im Erkennenden zu relativieren. Mit starken Affekten wird das Bewußtsein vom eigenen Subjektivismus, das Gedächtnis daran abgewehrt, daß die Position, die man selbst einnimmt, keine andere Rechtsquelle hat als das in letzter Instanz bloßen Individuen unmittelbar Gegebene und damit schließlich die Meinung. – Die deutsche Versuchung, wenn nicht die all der Völker, die östlich des mittelländischen Kulturkreises leben und niemals ganz latinisiert wurden, ist demgegenüber die unansprechbare Verhärtung der Idee objektiver Wahrheit, welche diese nicht minder zu einem nur Subjektiven macht, als die Meinung es ist. Der Kapitulation vor undurchdrungenen Fakten und der Anpassung des Gedankens an die je bestehende Realität im Westen entspricht in Deutschland der Mangel an Selbstbesinnung, die Unerbittlichkeit des Größenwahns. Beide Gestalten des Bewußtseins, die, welche vor den Tatsachen sich beugt, und die, welche sich als Souverän oder Schöpfer der Tatsachen verkennt, sind wie die auseinandergesprungenen Hälften der Wahrheit, die in der Welt nicht sich realisierte und deren Scheitern auch den Gedanken schlägt. Aus ihren Stücken läßt die Wahrheit nicht sich zusammenflicken. Im Effekt verstehen sie sich gar nicht schlecht: wer die Welt, in der man sein Plätzchen sucht, so läßt, wie sie ist, bestätigt sie als das wahre Sein, als eben das Gesetz, das sie ist und von dem der herrschaftliche Geist sich einbildet, er sei es selber. Die traditionelle deutsche Metaphysik, und der Geist, der sie hervorbrachte und in dem sie nachlebt, verbeißt sich in die Wahrheit und fälscht sie tendenziell in ein beliebig Gemeintes, eine ewige pars pro toto. Der Positivismus sabotiert Wahrheit durch den Verweis auf angeblich bloße Meinung und nimmt dadurch deren Partei, daß ihm nichts übrigbleibt als sie. Gegen beides hilft nichts
als die unbeirrte Anstrengung von Kritik. Wahrheit hat keinen Ort als den Willen, der Lüge von Meinung zu widerstehen. Der Gedanke, wahrscheinlich nicht erst der von heute, erprobt sich in der Liquidation der Meinung: buchstäblich der herrschenden. Diese ist nicht bloße Unzulänglichkeit der Erkennenden, sondern ihnen aufgedrungen von der gesellschaftlichen Gesamtverfassung und damit von den Herrschaftsverhältnissen. Ihre Verbreitung gewährt einen ersten Index des Falschen: wie weit die Gedankenkontrolle durch Herrschaft reicht. Deren Signatur ist die Banalität. Daß das Banale, als Selbstverständliches, unproblematisch sei; daß darüber dann schichtenweise das Differenziertere sich erhebe, ist selbst ein Stück jener Meinung, die zu liquidieren wäre. Das Banale kann nicht wahr sein. Was, in einem falschen Zustand, von allen akzeptiert wird, hat, indem es diesen Zustand als den ihren bestätigt, vor jedem besonderen Inhalt schon sein ideologisches Unwesen. Kruste verdinglichter Meinungen, beschirmt es das Bestehende und sein Gesetz. Dagegen sich zu wehren, ist allein noch nicht die Wahrheit und mag leicht genug in der abstrakten Negation verkommen. Aber es ist das Agens jenes Prozesses, ohne den Wahrheit nicht ist. Die Kraft des Gedankens jedoch mißt sich daran, daß er im Bestreben, Meinung zu liquidieren, nicht allzu leicht dadurch sich befriedigt, daß er bloß nach außen sich zuspitzt. Er soll der Meinung auch in sich selbst widerstehen. Nämlich der jeweiligen Position oder Richtung, der im Stand totaler Vergesellschaftung zugehört noch, wer leidenschaftlich sich dagegen sträubt. Sie bildet in ihm selber das Moment von Meinung, das er reflektieren, dessen Beschränktheit er sprengen muß. Schlecht am Gedanken ist all das, was ungebrochen solche Position wiederholt; was so redet wie jene, die vorweg mit dem Autor gleicher Meinung sind. In diesem Habitus wird der Gedanke stillgestellt, zum bloßen Vortrag eines Akzeptierten erniedrigt und unwahr. Denn er drückt, was er nicht durchdrungen hat, aus, als wäre es sein Resultat. Kein Gedanke, dem nicht Reste solcher Meinung innewohnen. Sie sind ihm notwendig und äußerlich zugleich. Element des Denkens ist, sich treu zu bleiben, indem es an diesen Momenten sich negiert. Das ist die kritische Gestalt des Gedankens. Sie erst, nicht sein befriedigtes Einverständnis mit sich selbst mag zur Veränderung helfen.
Fußnoten 1 Vgl. Max Horkheimer, Die Aktualität Schopenhauers, in: Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Sociologica II. Reden und Vorträge, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1967, S. 124ff. 2 Vgl. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Amsterdam 1947, S. 220ff. [GS 3, s. S. 211ff.] 3 Vgl. Theodor W. Adorno, Aberglaube aus zweiter Hand, in: Sociologica II, a.a.O., S. 142ff. [jetzt auch: GS 8, s. S. 147ff.]. 4 Arthur Schnitzler, Bemerkungen. Aus dem Nachlaß, in: Die neue Rundschau 73 (1962), S. 350. 5 Vgl. Ideologie, in: Institut für Sozialforschung, Soziologische Exkurse. Nach Vorträgen und Diskussionen, Frankfurt a.M. 1956, S. 162ff. 6 Vgl. Text S. 562f.
Stichworte Kritische Modelle 2
Die ›Stichworte‹ können als zweiter Teil der ›Eingriffe‹ betrachtet werden. Womöglich ist die Spannung zwischen sogenannten philosophischen Gegenständen und aktuellen noch größer, falls jene herkömmliche Unterscheidung überhaupt noch Sinn hat. Die ›Anmerkungen zum philosophischen Denken‹ bieten eine Reflexion der Verfahrungsweise, die ins Gedachte einleiten mag. – ›Vernunft und Offenbarung‹ lag einer Diskussion mit Eugen Kogon in Münster zugrunde; die Thesen helfen, die Kritik des Autors am Positivismus vorm restaurativen Mißverständnis zu beschützen. – ›Fortschritt‹ gehört, mit allen Mängeln der Vorstufe, in den Komplex der ›Negativen Dialektik‹. – Die ›Glosse über Persönlichkeit‹ möchte ein knappes Modell des Verhältnisses traditioneller Kategorien zu ihrem Untergang entwerfen; sie ist mit dem Text über Fortschritt verbunden. – ›Freizeit‹ ist ein Résumé, vergleichbar dem über Kulturindustrie aus ›Ohne Leitbild‹. Die beiden pädagogischen Versuche waren frei improvisiert und wollen es nicht vertuschen. Was in dem über den Lehrberuf 1965 gesagt ward, hat heute erst seine Aktualität erlangt. Den über Auschwitz vermochte der Autor nicht zu redigieren; er mußte sich mit der Beseitigung gröbster Mängel des Ausdrucks begnügen. Wo vom Äußersten, dem qualvollen Tod die Rede ist, schämt man sich der Form, so, als ob sie an dem Leiden frevelte, indem sie es unausweichlich zu einem Material macht, über das sie verfügt. Unter diesem Aspekt wären manche Phänomene der Neo-Barbarei zu begreifen: der Einbruch der Unmenschlichkeit in die umfriedete Kultur macht diese, die ihre Sublimierungen verteidigen muß, selbst zu einem Rohen, sobald sie es tut: durch Zartheit verleugnet sie die reale Brutalität. Das Entsetzen, das einstweilen in Auschwitz kulminierte, bewirkt mit einer Logik, die dem Geist immanent ist, dessen Regression. Über Auschwitz läßt sich nicht sprachlich gut schreiben; auf Differenziertheit ist zu verzichten, wenn man deren Regungen treu bleiben will, und doch fügt man mit dem Verzicht wiederum der allgemeinen Rückbildung sich ein. Nachdrücklich ist hervorzuheben, daß Erziehung nach Auschwitz gelingen könnte nur in einer Gesamtverfassung, welche nicht länger die Verhältnisse und die Menschen hervorbringt, die an Auschwitz die Schuld tragen. Jene Gesamtverfassung hat noch nicht sich geändert; fatal, daß jene, welche die Veränderung wollen, dagegen sich verstocken.
In ›Was ist deutsch‹ hat der Autor versucht, eine an ihn herangebrachte Frage, nach dem Brechtschen, heut allzu beliebten Ausdruck, umzufunktionieren. Die Arbeit ist mit der über ›Wissenschaftliche Erfahrungen in Amerika‹ zusammenzunehmen. Die letztere betrifft zugleich die subjektive Seite der Kontroverse des Autors mit dem Positivismus. Die ›Dialektischen Epilegomena‹, unmittelbar solche zur ›Negativen Dialektik‹, waren für eine Vorlesung im Sommersemester 1969 bestimmt, die gestört wurde und abgebrochen werden mußte. Was über Theorie und Praxis gesagt wird, bringt philosophische Spekulation und drastische Erfahrung, der Absicht nach, zusammen. Der Titel ›Stichworte‹ mahnt an die enzyklopädische Form als jene, die systemlos, diskontinuierlich darstellt, was durch Einheit der Erfahrung zur Konstellation zusammenschießt. So wie in dem kleinen Band mit einigermaßen willkürlich ausgewählten Stichworten verfahren wird, wäre allenfalls ein neues Dictionnaire philosophique denkbar. Die Assoziation mit Polemik, die der Titel mit sich führt, ist dem Autor willkommen. Juni 1969
Anmerkungen zum philosophischen Denken
Herbert Marcuse zum 70. Geburtstag gewidmet
Soll man, gleichsam auf einem Beine stehend, etwas über philosophisches Denken sagen, und will man nicht ins Unverbindliche abgleiten, so muß man auf einen Teilaspekt sich beschränken. Ich will also nur einiges mitteilen, was ich am eigenen Denken glaube beobachtet zu haben, ohne in die Frage, was Denken überhaupt sei, oder in die Denkpsychologie mich hineinzubegeben. Philosophisches Denken ist dabei vom Gedachten, vom Inhalt zu trennen. Das bringt mich in Konflikt mit Hegels unüberholter Einsicht in philosophisches Denken. Die Spaltung dessen, was, und dessen, wie gedacht wird, ist ihm zufolge gerade das Falsche, jene schlechte Abstraktion, die mit ihren eigenen Mitteln zu korrigieren Aufgabe von Philosophie wäre. Ironischerweise erregt Philosophie so leicht Wut beim common sense, weil sie mit eben der Abstraktheit verwechselt wird, gegen die sie aufbegehrt. Wohl ist es, wie in der vorphilosophischen Erkenntnis so in der Philosophie, ohne ein Maß an Verselbständigung des Denkens gegen die Sache nicht getan. Ihr verdankt die logische Apparatur ihre unermeßliche Steigerung gegenüber dem primitiven Bewußtsein. In ihr vervielfachte sich, inhaltlich, die Kraft von Aufklärung, welche die historische Entwicklungstendenz der Philosophie markiert. Aber Denken ist gleichzeitig mit seiner Verselbständigung zur Apparatur Beute von Verdinglichung geworden, zur selbstherrlichen Methode geronnen. Grob offenbart sich das an den kybernetischen Maschinen. Sie stellen den Menschen die Nichtigkeit des formalisierten, seiner Sachgehalte entäußerten Denkens vor Augen, insofern sie manches von dem, woran die Methode subjektiver Vernunft ihren Stolz hatte, besser vermögen als die denkenden Subjekte. Machen sich diese leidenschaftlich zu Vollzugsorganen solcher Formalisierung, so hören sie virtuell auf, Subjekt zu sein. Sie nähern sich den Maschinen als ihr unvollkommeneres Abbild. Philosophisches Denken beginnt erst, sobald es sich nicht begnügt mit Erkenntnissen, die sich absehen lassen und bei denen nicht mehr herausschaut, als man schon hineinsteckte. Der menschenwürdige Sinn der Computers wäre es, das Denken der Lebendigen so sehr zu
entlasten, daß es Freiheit gewinnt zu dem nicht schon impliziten Wissen. Bei Kant erscheint Denken seinem engeren, subjektiven Begriff nach – also abgesehen von den objektiven Denkgesetzen der Logik – unter dem Namen der Spontaneität. Denken sei, zunächst, eine Tätigkeit, so wie das naive Bewußtsein sie registriert, wenn es die Anschauungen, die Eindrücke, welche dem Einzelnen zuteil zu werden scheinen, ohne daß er sich anstrengen müßte, von der Erfahrung des anstrengenden Tuns unterscheidet, die mit Denken verbunden ist. Kants Größe jedoch, eine der kritischen Beharrlichkeit auch gegenüber den eigenen sogenannten Grundpositionen, hat sich nicht zuletzt daran bewährt, daß er, dem Tatbestand Denken höchst angemessen, die Spontaneität, die ihm Denken ist, nicht einfach mit bewußter Tätigkeit gleichsetzte. Die maßgeblichen, konstitutiven Leistungen des Denkens waren ihm nicht dasselbe wie Denkakte innerhalb der bereits konstituierten Welt. Ihr Vollzug ist dem Selbstbewußtsein kaum gegenwärtig. Der Schein des naiven Realismus, die Ansicht, man habe es in der Erfahrung mit Dingen an sich zu tun, gründet, so wäre aus Kant herauszulesen, auch darin: die Akte, durch welche das Bewußtsein die Sinnesmaterialien vorweg formt, seien ihm als solche nicht bewußt: das ist ihre »Tiefe«, passivisch durchaus. Sie charakterisiert sich systemimmanent dadurch, daß das »Ich denke, das all meine Vorstellungen muß begleiten können«, die Formel für die Spontaneität, nicht mehr sagen will, als daß ein Tatbestand in der Einheit des subjektiven Bewußtseins, und zwar des persönlichen, sich finde; daß es also, mit allen Schwierigkeiten, die das involviert, »meine« Vorstellung sei, durch die keines anderen zu ersetzen. Niemand kann den Schmerz eines anderen in der eigenen Einbildungskraft reproduzieren. Darauf läuft die transzendentale Apperzeption hinaus. Mit dieser Bestimmung durch bloße Zugehörigkeit wird das Ich denke selber bereits zu einem Passivischen, völlig unterschieden von der aktiven Reflexion auf ein »Mein«. Kant hat das Passivische an der Aktivität des Denkens so treu getroffen, wie seine imponierende Redlichkeit noch in den exponiertesten Sätzen stets achtet, was in den Phänomenen sich darbietet; schon die Kritik der reinen Vernunft ist, als was dann die Hegelsche Bewußtseinsanalyse sich betitelte, eine Phänomenologie des Geistes. Denken im konventionellen Sinn der Tätigkeit ist nur
ein Aspekt von Spontaneität, und kaum der zentrale, lokalisiert eigentlich nur im Bereich des bereits Konstituierten, korrelativ zur Dingwelt. In der Schicht, die Kant als die transzendentale galt, werden Aktivität und Passivität keineswegs derart administrativ voneinander getrennt, wie es nach der Außenarchitektur des Werkes zu erwarten wäre. Hinter jenem passivischen Moment verbirgt sich, ohne daß das von Kant erörtert würde, eine Abhängigkeit noch des scheinbar Unabhängigen, der ursprünglichen Apperzeption, von jenem wie immer auch unbestimmten Objektiven, das im Kantischen System in die Lehre vom erfahrungsjenseitigen Ding an sich flüchtete. Keine Objektivität des Denkens als eines Aktes wäre überhaupt möglich, wäre Denken nicht in sich selber, der eigenen Gestalt nach, immer auch gebunden an das, was nicht selbst Denken ist: darin ist zu suchen, was an Denken zu enträtseln wäre. Wo es wahrhaft produktiv ist, wo es erzeugt, dort ist es immer auch ein Reagieren. Passivität steckt im Kern des Aktiven, ein sich Anbilden des Ichs ans Nicht-Ich. Davon strahlt noch etwas auf die empirische Gestalt philosophischen Denkens aus. Um produktiv zu sein, muß es immer von seiner Sache her determiniert werden. Das ist seine Passivität. Seine Anstrengung fällt zusammen mit seiner Fähigkeit zu jener. Die Psychologie nennt sie Objektbeziehung oder Objektbesetzung. Sie reicht aber weit hinaus über die psychologische Seite des Denkvorgangs. Objektivität, die Wahrheit der Gedanken hängt an ihrer Relation zur Sache. Subjektiv betrachtet ist philosophisches Denken ohne Pause mit der Forderung konfrontiert, konsequenzlogisch sich in sich zu verhalten und dennoch das in sich zu empfangen, was es nicht selber ist und was sich a priori seiner eigenen Gesetzmäßigkeit nicht unterwirft. Denken als subjektiver Akt muß erst recht der Sache sich überantworten, wo es, wie Kant und die Idealisten es lehrten, die Sache konstituiert oder gar produziert. Von ihr hängt Denken dort noch ab, wo ihm der Begriff einer Sache problematisch ist und es sich anheischig macht, sie erst zu stiften. Kaum ein stärkeres Argument für den zerbrechlichen und einzig in der wechselseitigen Vermittlung von Subjekt und Objekt zu fassenden Vorrang des Objekts bietet sich an, als daß Denken einem Objekt sich anschmiegen muß, auch wenn es ein solches noch gar nicht hat, gar es zu erzeugen meint. Solche Sachlichkeit der Methode hat bei Kant ihren Niederschlag im Gehalt. Zwar ist sein Denken gerichtet auf
die Formen des Subjekts, sucht aber sein Ziel in der Bestimmung von Objektivität. Trotz der Kopernikanischen Wendung und durch diese hindurch bestätigt Kant ungewollt den Vorrang des Objekts. Denken erschöpft sich so wenig im psychologischen Vorgang wie in der zeitlos reinen, formalen Logik. Es ist eine Verhaltensweise, und ihr ist unabdingbar die Beziehung zu dem, wozu es sich verhält. Das aktive Moment des denkenden Verhaltens ist Konzentration. Sie sträubt sich gegen die Ablenkung von der Sache. Durch Konzentration wird die Anspannung des Ichs vermittelt durch ein ihm Entgegengesetztes. Denkfeindlich ist die Gier, der abgelenkte Blick zum Fenster hinaus, der möchte, daß nichts ihm entgehe; theologische Überlieferungen wie die des Talmuds haben davor gewarnt. Konzentration des Denkens verleiht produktivem Denken eine Eigenschaft, welche das Cliché ihm aberkennt. Es läßt sich, darin dem sogenannten künstlerischen Einfall nicht unähnlich, kommandieren, insofern nichts von der Sache es abzieht. Sie öffnet sich der Geduld als der Tugend des Denkens. Der Satz, Genie sei Fleiß, hat seine Wahrheit nicht an der Kärrnerarbeit, sondern an der Geduld zur Sache. Der passivische Oberton des Wortes Geduld drückt nicht schlecht aus, wie jene Verhaltensweise beschaffen sei, weder emsiges sich Tummeln noch stures sich Verbohren, sondern der lange und gewaltlose Blick auf den Gegenstand. Die gängige wissenschaftliche Disziplin verlangt vom Subjekt, dem naiv unterstellten Vorrang der Sache zuliebe, seine Selbstausschaltung. Ihr widerspricht Philosophie. Denken darf sich nicht auf Methode reduzieren, die Wahrheit ist nicht der Rest, der nach Ausmerzung des Subjekts zurückbleibt. Vielmehr muß es alle Innervation und Erfahrung in die Betrachtung der Sache hineinnehmen, um, dem Ideal nach, in ihr zu verschwinden. Mißtrauen dagegen ist die gegenwärtige Gestalt von Denkfeindschaft. Sie heftet sich ans Nachdenken im engeren Sinn, das vermöge seines passivischen und konzentrierten Moments, nicht durch Eifer als nützlich sich qualifiziert. Seine Ruhe bewahrt etwas von dem Glück auf, welches der konventionellen Vorstellung vom Denken unerträglich ist. Das Amerikanische verfügt dafür über einen eigenen, pejorativen Ausdruck: arm chair thinking, die Verhaltensweise dessen, der bequem im Lehnstuhl sitzt wie ein freundlich-überflüssiger Großvater auf dem Altenteil. Die hämische Rancune gegen den, der da sitzt und denkt, hat
auch noch ihr abscheuliches Recht. Vielfach gebärdet sich solches Denken, als hätte es kein Material. Es versenkt sich in sich selbst als in eine Sphäre des vermeintlich Reinen. Hegel denunziert sie als leere Tiefe. Die Schimäre eines von keinem Gegenständlichen beschlagnahmten und verschandelten Seins ist schließlich nichts anderes als die Spiegelung des ganz bestimmungslosen und formalen Denkens an sich. Sie verurteilt Denken zur Parodie des seinen Nabel beschauenden Weisen; es verfällt einem Archaismus, der, indem er dem philosophischen Denken seinen spezifischen Gegenstand, der um keinen Preis Gegenstand sein soll, zu retten unternimmt, das Moment der Sache, des Nichtidentischen einbüßt. Weisheit heute fingiert eine geschichtlich unwiederbringliche, agrarische Gestalt des Geistes, vom gleichen Schlag wie jene Plastiken, die Ursprünglichkeit mimen, indem sie frühgeschichtliche Unbeholfenheit praktizieren und von der Veranstaltung das alte Wahre sich erhoffen, das nie gewesen ist und heutzutage die spätindustrielle Welt nur allzu treu ergänzt. Dem synthetischen Archaismus des Philosophierens wird es nicht besser ergehen als dem Gipsklassizismus der Canova und Thorwaldsen gegenüber der attischen Klassizität. Ebensowenig aber wäre Nachdenken in eine Art indirekter praktischer Tätigkeit zu transformieren; sie diente nur, gesellschaftlich, der Verdrängung von Denken. Charakteristisch, daß man, reaktiv, eigene akademische Stätten eingerichtet hat, die den dorthin Berufenen die Gelegenheit zum Meditieren bieten sollen. Ohne kontemplatives Moment artet die Praxis in begriffslosen Betrieb aus; Meditation als gehegte Sondersphäre jedoch, von möglicher Praxis abgeschnitten, führe schwerlich besser. Nicht genau genug hat man wohl das Nachdenken beschrieben. Am ehesten wäre es erweiternde Konzentration zu nennen. Indem sie ihre Sache, und sie allein, visiert, gewahrt sie in ihr, was übers Vorgedachte hinausgeht und damit den fixierten Umkreis der Sache sprengt. Diese kann ihrerseits auch höchst abstrakt und vermittelt sein; ihre Beschaffenheit ist nicht durch einen erschlichenen Begriff von Konkretion zu präjudizieren. Aller Vorbehalt gebührt vollends dem Cliché vom Denken als purer konsequenzlogischer Entwicklung aus einer Einzelsetzung. Den sogenannten Gedankengang, den man ungebrochen vom Denken erwartet, hätte philosophische Reflexion zu brechen. Gedanken, die wahr sind,
müssen unablässig sich aus der Erfahrung der Sache erneuern, die gleichwohl in ihnen sich erst bestimmt. Die Kraft dazu, nicht das Abschnurren der Schlüsse ist das Wesen philosophischer Konsequenz. Wahrheit ist werdende Konstellation, kein automatisch Durchlaufendes, in dem das Subjekt zwar erleichtert, aber entbehrlich wäre. Daß kein philosophisches Denken von Rang sich resümieren läßt; daß es den üblichen wissenschaftlichen Unterschied von Prozeß und Resultat nicht akzeptiert – Hegel hat, wie man weiß, die Wahrheit als Prozeß und Resultat in eins sich vorgestellt –, das übersetzt jene Erfahrung ins Handgreifliche. Philosophische Gedanken, die auf ihr Skelett oder ihren Nettoprofit zu bringen sind, taugen nichts. Das Banausische ungezählter philosophischer Abhandlungen, die darum nicht sich scheren, ist mehr als ästhetische Unzulänglichkeit: Index ihrer eigenen Falschheit. Wo der philosophische Gedanke sogar in bedeutenden Texten hinter das Ideal unablässiger Erneuerung aus der Sache zurückfällt, unterliegt er. Philosophisch denken ist soviel wie Intermittenzen denken, gestört werden durch das, was der Gedanke nicht selber ist. Im nachdrücklichen Denken werden die analytischen Urteile, deren es doch unvermeidlich sich bedienen muß, zum Falschen. Die Kraft des Denkens, nicht mit dem eigenen Strom zu schwimmen, ist die des Widerstands gegen das Vorgedachte. Emphatisches Denken fordert Zivilcourage. Der einzelne Denkende muß es riskieren, darf nichts unbesehen eintauschen oder abkaufen; das ist der Erfahrungskern der Lehre von der Autonomie. Ohne Risiko, ohne die präsente Möglichkeit von Irrtum, ist objektiv keine Wahrheit. Die meiste Dummheit des Denkens formiert sich dort, wo jene Courage, die dem Denken immanent ist und die stets wieder in ihm sich regt, unterdrückt ward. Dummheit ist nichts Privatives, nicht die einfache Abwesenheit von Denkkraft, sondern die Narbe von deren Verstümmelung. Nietzsches Pathos wußte das. Seine imperialistisch abenteuernde Parole vom gefährlichen Leben wollte im Grunde wohl lieber: gefährlich denken; den Gedanken anspornen, aus der Erfahrung der Sache heraus vor nichts zurückzuschrecken, von keinem Convenu des Vorgedachten sich hemmen zu lassen. Die autarkische Konsequenzlogik jedoch hat, nach ihrer gesellschaftlichen Seite, nicht zum letzten die Funktion, den Gedanken daran zu verhindern. Wo er nachdrückliche, nicht agitatorische Wirkung heute ausübt, ist das wahrscheinlich gar nicht
so sehr individuellen Eigenschaften wie Begabung und Intelligenz zuzuschreiben. Die Gründe sind objektiv; einer etwa, daß der Denkende, von biographischen Umständen begünstigt, ungedecktes Denken von den Kontrollmechanismen nicht durchaus sich hat austreiben lassen. Die Wissenschaft braucht den, der ihr nicht gehorcht hat; was für seinen Geist gilt, ist, was sie diffamiert, das Memento des Stumpfsinns, zu dem sie konsequent sich selbst verurteilt und dessen sie vorbewußt sich schämt. Daß im philosophischen Denken das Verhältnis von Prozeß und Sache qualitativ abweicht von dem in den positiven wissenschaftlichen Disziplinen, tangiert seinen Modus. In gewisser Weise versucht es stets, Erfahrungen auszudrücken; sie werden freilich keineswegs vom empiristischen Erfahrungsbegriff gedeckt. Philosophie verstehen heißt, jener Erfahrung sich zu versichern, indem man autonom und doch im engsten Kontakt mit dem jeweils vorgezeichneten Problem über es reflektiert. Mit aller Erwartung billigen Spottes wird man sagen dürfen, der philosophische Gedanke sei so beschaffen, daß er tendenziell seine Resultate früher hat, als er gedacht wird. Man mag der Heideggerschen Bindestrich-Philologie gründlich mißtrauen und wird sich doch nicht die Erinnerung daran verbieten, daß Nachdenken, gegenüber Denken, sprachlich auf die Idee philosophischen Vollzugs als eines Nachvollzugs verweist. Darin liegt zugleich die ärgste Versuchung, die des Apologetischen, der Rationalisierung, der Rechtfertigung blind vorgegebener Überzeugung und Meinung. Das thema probandum ist Wahrheit wie Unwahrheit des Denkens gleichermaßen. Seiner Unwahrheit entschlägt es sich, wofern es den Versuch, seiner Erfahrung zu folgen, durch Negation durchführt. Zulängliches philosophisches Denken ist kritisch nicht allein gegenüber dem Bestehenden und seinem dinghaften Abguß im Bewußtsein, sondern gleichermaßen gegen sich. Der Erfahrung, die es beseelt, wird es gerecht nicht durch willfährige Kodifikation, sondern durch Objektivation. Philosophisch denkt, wer geistige Erfahrung erhärtet an der gleichen Konsequenzlogik, deren Gegenpol er inne hat. Sonst bliebe geistige Erfahrung rhapsodisch. So allein wird Nachdenken zu mehr als wiederholender Darstellung des Erfahrenen. Als kritische übersteigt seine Rationalität die Rationalisierung. Gleichwohl scheint philosophisches Denken dem, der es an sich beobachtet, Erkenntnis zu ermöglichen dessen, was er erkennen will, wofern er nur recht
weiß, was er erkennen will. Diese Selbsterfahrung des Denkens widerspricht der Kantischen Begrenzung, dessen Absicht, Denken durch Denken zu entmächtigen. Sie beantwortet auch die sinistre Frage, wie man denken könne, was man denkt, und doch leben: dadurch, daß man es denkt. Cogito, ergo sum. Weil die Disziplin des philosophischen Denkens vorab in der Formulierung des Problems sich realisiert, ist in der Philosophie Darstellung ein unabdingbares Moment der Sache. Wahrscheinlich denn auch, daß stringente Lösungen, die dem Denkenden einfallen, nicht herausspringen wie Summen einer angestrengten Addition, nachdem unter die Posten der Schlußstrich gezogen wurde. Soviel ist am Idealismus legitim. Nur verzerrt er das Eigentümliche des philosophischen Gedankens zur Hybris, er sei, weil die Wahrheit nicht äußerlich zu ihm hinzutritt, mit dieser Wahrheit identisch. Was an Philosophie bindet, ihr Glück, ist, daß sogar der verzweifelte Gedanke etwas von dieser Gewißheit des Gedachten in sich trägt, letzte Spur des ontologischen Gottesbeweises, womöglich das Unauslöschliche an ihm. Die Vorstellung von dem, der sich hinsetzt und »über etwas nachdenkt«, um zu eruieren, was er noch nicht wußte, ist so schief wie die umgekehrte von den angeflogenen Intuitionen. Denken gerät in der Arbeit an einer Sache und an Formulierungen; sie sorgen für sein passivisches Element. Extrem gesagt: Ich denke nicht, und das ist wohl Denken. Kein schlechtes sinnliches Zeichen dafür wäre der Bleistift oder Füllfederhalter, den einer beim Denken in der Hand hält, so wie es von Simmel überliefert wird oder von Husserl, der offenbar anders als schreibend überhaupt kaum denken konnte, ähnlich wie manchem Schriftsteller die besten Gedanken unterm Schreiben kommen. Derlei Instrumente, die man gar nicht praktisch zu benutzen braucht, mahnen daran, daß man nicht drauflosdenken soll, sondern an etwas. Zu interpretierende und zu kritisierende Texte stützen darum unschätzbar die Objektivität des Gedankens. Benjamin hat einmal darauf angespielt mit dem Diktum, zu einem ordentlichen Gedanken gehöre eine ordentliche Portion Dummheit dazu. Weicht der Gedanke, der Schimäre seiner Ursprünglichkeit zuliebe, dem aus; wittert er in jeglichem Gegenstand sogleich die Gefahr von Vergegenständlichung, so geht er nicht nur der Zukunft verloren – das wäre kein Einwand, beinahe das Gegenteil –, sondern wird in sich untriftig. Um so entscheidender aber, daß die Aufgaben, von
deren Fruchtbarkeit die des Gedankens abhängt, autonom sind; daß sie nicht gestellt werden, sondern sich stellen: Schwelle von Denken gegenüber geistiger Technik. Desperat muß es hindurchsteuern zwischen dieser und dem amateurhaften Drauflos. Amateurhaft ist Denken, das die geistige Arbeitsteilung einzig ignoriert, anstatt sie zu achten und zu übersteigen. Argloser Neubeginn verdummt den Gedanken nicht weniger als die eifrige Anpassung an die Arbeitsteilung. Philosophie, die, mit Kant zu reden, ihrem Weltbegriff gerecht würde, erhöbe sich über ihre Konzeption als Spezialwissenschaft – nach Kant ihren Schulbegriff, der vorweg unvereinbar ist mit ihrem eigenen – nicht weniger als über das weltanschauliche Gewäsch, das den Schein seiner Superiorität aus der kläglichen Kargheit dessen zieht, was spezialisiertes Wissen als Spezialität ihm übrigließ. Widerstand gegen den Niedergang der Vernunft wäre fürs philosophische Denken, ohne Achtung vor der etablierten Autorität zumal der Geisteswissenschaften, sich in die Sachgehalte zu versenken, um in ihnen, nicht über ihnen, des Wahrheitsgehalts innezuwerden. Das wäre, heute, Freiheit des Denkens. Wahr würde es, wo es befreit ist vom Fluch der Arbeit und in seinem Objekt zur Ruhe kommt.
Vernunft und Offenbarung
1 Der Streit über die Offenbarung wurde im achtzehnten Jahrhundert durchgekämpft. Im neunzehnten ist er, als bereits negativ entschiedener, eigentlich schon in Vergessenheit geraten. Nicht zuletzt dem dankt er es, daß er heute wieder auflebt. Das aber bringt den Kritiker der Offenbarung vorweg in eine schiefe Lage. Diese muß benennen, wer nicht ihr Opfer werden will. Wiederholt man den recht vollständigen Katalog der Argumente der Aufklärung, so setzt man sich dem Vorwurf des Eklektischen aus: man stütze sich auf längst Bekanntes, das niemanden mehr interessiere. Beruhigt man sich damit, daß damals die Offenbarungsreligion der Kritik nicht habe widerstehen können, so macht man sich als altmodischer Rationalist verdächtig. Allverbreitet ist heute die Denkgewohnheit, anstelle sachlicher Besinnungen über Wahrheit oder Falschheit die Entscheidung der Zeit als solcher zuzuschieben und womöglich das Vorgestrige gegen das Gestrige auszuspielen. Will man nicht entweder in den Bannkreis der Vorstellung geraten, das wisse man längst und darum sei es falsch, oder statt dessen sich der gegenwärtigen religiösen Stimmung anbequemen, die so sonderbar wie erklärlich mit dem herrschenden Positivismus zusammengeht, so mag man wohl am besten an Benjamins abgründig lächelnde Charakteristik der Theologie erinnern, »die heute bekanntlich klein und häßlich ist und sich ohnehin nicht darf blicken lassen« 1 . Nichts an theologischem Gehalt wird unverwandelt fortbestehen; ein jeglicher wird der Probe sich stellen müssen, ins Säkulare, Profane einzuwandern. Die gegenwärtig – im Gegensatz zu der reich und konkret ausgebildeten religiösen Vorstellungswelt von früher – vorherrschende Meinung, Leben und Erfahrung der Menschen, die Immanenz, sei eine Art von Glaskasten, durch dessen Wände man auf ewig unveränderliche Seinsbestände einer philosophia oder religio perennis blicken könne, ist selber Abdruck eines Zustands, in dem der Offenbarungsglaube nicht mehr in den Menschen und der Ordnung ihrer Verhältnisse substantiell gegenwärtig ist und nur durch verzweifelte Abstraktion gehalten werden kann. Was für die
ontologischen Bestrebungen heute gilt: daß sie versuchen, aus der fortdauernd nominalistischen Situation unvermittelt in den Realismus, die an sich seiende Ideenwelt zu springen, die damit ihrerseits zum Produkt bloßer Subjektivität, sogenannter Entscheidung, nämlich Willkür, gemacht wird, das gilt in weitem Maße für die engverwandte Wendung zur positiven Religion.
2 Die Position derer, welche im achtzehnten Jahrhundert für den Offenbarungsglauben einstanden, war grundverschieden von der jener, die heute das gleiche tun; wie denn überhaupt identische Ideen, je nach dem geschichtlichen Augenblick, höchst divergierende Bedeutung annehmen können. Damals ging es um die Verteidigung eines traditionell vorgegebenen und mehr oder minder durch die gesellschaftliche Autorität gestützten Lehrbegriffs gegen den Angriff der autonomen ratio, die nichts zu akzeptieren willens ist, als was ihrer eigenen Prüfung standhält. Solche Verteidigung gegen die ratio mußte mit rationalen Mitteln durchgeführt werden und war insofern, wie Hegel in der Phänomenologie aussprach, von Anbeginn hoffnungslos: durch die Mittel des Argumentierens, deren sie sich bediente, übernahm sie vorweg selber das ihr feindliche Prinzip. Heute geschieht die Wendung zum Offenbarungsglauben aus Verzweiflung an eben jenen Mitteln, an der ratio. Ihre Unwiderstehlichkeit wird bloß als negativ empfunden und Offenbarung zitiert, um dem, was bei Hegel »Furie des Verschwindens« heißt, Einhalt zu gebieten: weil es angeblich gut wäre, Offenbarung zu haben. Zweifel an der Möglichkeit solcher Restauration werden übertäubt mit der Berufung auf das Einverständnis der vielen, die es ebenso möchten. »Heute ist es ja längst nicht mehr unmodern, wenn man gottgläubig ist«, sagte mir einmal eine Dame, deren Familie nach stürmisch aufklärerischem Intermezzo zur Religion ihrer Kindheit zurückgekehrt war. Im besten Fall – also wo es sich nicht bloß um Nachahmung und Konformismus handelt – ist der Wunsch der Vater solcher Haltung: nicht die Wahrheit und Authentizität der Offenbarung entscheidet, sondern das Bedürfnis nach Orientierung, der Rückhalt am festen Vorgegebenen; auch die Hoffnung, man könne durch den Entschluß der entzauberten Welt jenen Sinn einhauchen, unter dessen Abwesenheit man so lange leidet, wie man als bloßer Zuschauer aufs Sinnlose hinstarrt. Die religiösen Renaissancen von heutzutage dünken mir Religionsphilosophie, nicht Religion. Darin jedenfalls stimmen sie mit der Apologetik des achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhunderts überein, daß sie trachten, durch rationale
Reflexion deren Gegenteil zu beschwören; nun jedoch durch rationale Reflexion auf die ratio selber, mit einer schwelenden Bereitschaft, auf diese loszuschlagen, einem Hang zum Obskurantismus, der viel bösartiger ist als alle beschränkte Orthodoxie von dazumal, weil er sich selbst nicht ganz glaubt. Der neureligiöse Gestus ist der des Konvertiten, auch bei solchen, bei denen es nicht zur förmlichen Konversion kommt oder die einfach emphatisch zu dem sich stellen, was ihnen als »Religion der Väter« sanktioniert dünkt und was mit väterlicher Autorität von jeher, selbst bei Kierkegaard dem Einzelnen, dazu beitrug, den aufsteigenden Zweifel drohend druntenzuhalten.
3 Das Opfer des Intellekts, das einmal, bei Pascal oder Kierkegaard, vom fortgeschrittensten Bewußtsein und um nicht weniger als den Preis des ganzen Lebens gebracht war, ist mittlerweile sozialisiert, und wer es bringt, ist dabei unbeschwert von Furcht und Zittern: keiner hätte mit mehr Empörung darauf reagieren können als Kierkegaard selbst. Weil zuviel Denken, unbeirrbare Autonomie die Anpassung in der verwalteten Welt erschwert und Leiden bereitet, projizieren Ungezählte dies ihr gesellschaftlich diktiertes Leiden auf die Vernunft als solche. Sie soll es sein, die Leiden und Unheil über die Welt gebracht hat. Die Dialektik der Aufklärung, die in der Tat den Preis des Fortschritts, all das Verderben mitbenennen muß, das Rationalität als fortschreitende Naturbeherrschung bereitet, wird gewissermaßen zu früh abgebrochen, nach dem Modell eines Zustands, dessen blinde Geschlossenheit den Ausweg zu versperren scheint. Krampfhaft, willentlich wird verkannt, daß das Zuviel an Rationalität, über das zumal die Bildungsschicht klagt und das sie in Begriffen wie Mechanisierung, Atomisierung, gern auch Vermassung registriert, ein Zuwenig an Rationalität ist, die Steigerung nämlich aller kalkulierbaren Herrschaftsapparaturen und – mittel auf Kosten des Zwecks, der vernünftigen Einrichtung der Menschheit, die der Unvernunft bloßer Machtkonstellationen überlassen bleibt, und zu der das Bewußtsein, getrübt von unablässiger Rücksicht auf bestehende positive Verhältnisse und Gegebenheiten, sich überhaupt nicht mehr zu erheben getraut. Wohl ist einer ratio, die sich nicht, als stures Herrschaftsmittel, frevelhaft verabsolutiert, Selbstbesinnung geboten, und davon drückt das religiöse Bedürfnis heute einiges aus. Aber diese Selbstbesinnung kann nicht bei der bloßen Negation des Gedankens durch sich selbst, bei einer Art von mythischem Opfer stehenbleiben, nicht durch einen »Sprung« sich vollziehen: der ähnelte nur allzusehr der Katastrophenpolitik. Sondern Vernunft muß versuchen, die Rationalität selber, anstatt als Absolutes sie sei es zu setzen, sei es zu verneinen, als ein Moment innerhalb des Ganzen zu bestimmen, das freilich diesem gegenüber auch sich verselbständigt hat. Sie muß ihres eigenen naturhaften Wesens innewerden. Dies Motiv ist
den großen Religionen nicht fremd: gerade es aber bedarf heute der »Säkularisierung«, soll es nicht, isoliert und überhöht, zur Verfinsterung der Welt helfen, die es bannen möchte.
4 Die Renaissance der Offenbarungsreligion beruft sich mit Vorliebe auf den Begriff der Bindungen, die notwendig seien: man wählt gleichsam aus prekärer Autonomie das Heteronome. Aber in der Gegenwart gibt es, aller Profanität zum Trotz, eher zuviel Bindungen als zuwenig. Die Zusammenballung der ökonomischen und damit der politischen und administrativen Mächte setzt jeden Einzelnen in weitem Maß zum bloßen Funktionär des Getriebes herab. Die Individuen sind vermutlich weit mehr gebunden als in der Ära des Hochliberalismus, in der sie nach Bindungen noch nicht verlangten. Ihr Bedürfnis nach Bindungen ist daher zunehmend eines nach geistiger Verdoppelung und Rechtfertigung ohnehin schon vorhandener Autorität. Die Rede von der transzendentalen Obdachlosigkeit, die einmal die Not des Individuums in der individualistischen Gesellschaft aussprach, ist zur Ideologie geworden, zur Ausrede für den schlechten Kollektivismus, der sich, solange gerade kein autoritärer Staat zur Verfügung steht, auf andere Institutionen mit überpersonalem Anspruch stützt. Das ins Ungemessene anwachsende Mißverhältnis zwischen gesellschaftlicher Macht und gesellschaftlicher Ohnmacht setzt sich fort in der Schwächung der inneren Zusammensetzung des Ichs, daß es schon nicht mehr aushält, ohne sich mit eben dem zu identifizieren, was es zur Ohnmacht verdammt. Nach Bindungen sucht nur die Schwäche; der Drang danach, der sich selbst verklärt, als ob er der Beschränktheit des Egoismus, des bloßen Einzelinteresses sich entäußerte, ist in Wahrheit nicht aufs Menschenwürdige gerichtet, sondern kapituliert vorm Menschenunwürdigen. Dahinter steht der freilich gesellschaftlich notwendige und mit allen erdenklichen Mitteln verstärkte Schein, daß das Subjekt, daß die Menschen unfähig seien zur Menschheit: die verzweifelte Fetischisierung bestehender Verhältnisse. Das religiöse Motiv von der Verderbtheit des Menschengeschlechts seit dem adamitischen Fall tritt aufs neue, wie schon einst bei Hobbes radikal säkularisiert, entstellt in den Dienst des Schlechten selber. Weil den Menschen die Einrichtung einer gerechten Ordnung unmöglich sei, wird die bestehende ungerechte ihnen empfohlen.
Was einmal Thomas Mann gegen Spengler »Defaitismus der Humanität« nannte, hat sich universal ausgebreitet. Die Wendung zur Transzendenz fungiert als Deckbild immanenter, gesellschaftlicher Hoffnungslosigkeit. Nicht äußerlich ist ihr die Bereitschaft, die Welt so zu lassen, wie sie ist, weil sie als Welt nicht anders sein könne. Das real bestimmende Modell dieser Verhaltensweise ist die Aufteilung der Welt in zwei unmäßige, starr einander entgegengesetzte und sich gegenseitig, und jeden Einzelnen, mit dem Untergang bedrohende Blöcke. Die höchst innerweltliche Angst davor wird, weil nichts sichtbar ist, was darüber hinausführte, als existentielle oder womöglich transzendente hypostasiert. Die Siege, welche die Offenbarungsreligion im Namen solcher Angst erficht, sind Pyrrhussiege. Wird Religion um eines ändern als ihres eigenen Wahrheitsgehalts willen angenommen, so unterminiert sie sich. Daß darauf neuerdings die positiven Religionen so willig sich einlassen und womöglich mit anderen öffentlichen Institutionen wetteifern, bezeugt bloß die Verzweiflung, die latent ihrer eigenen Positivität innewohnt.
5 Der Irrationalismus von Offenbarungsreligion heute kommt zum Ausdruck in der zentralen Stellung des Begriffs der religiösen Paradoxie. Ich erinnere nur an die dialektische Theologie. Auch sie ist keine theologische Invariante, sondern hat ihren geschichtlichen Stellenwert. Was der Apostel im Zeitalter der hellenistischen Aufklärung eine Torheit für die Griechen nannte und was jetzt die Abdankung der Vernunft erheischt, war nicht allezeit so. Auf ihrer mittelalterlichen Höhe erwehrte sich die christliche Offenbarungsreligion kräftig der Lehre von den zweierlei Wahrheiten als einer selbstzerstörerischen. Die große Scholastik, vorab die Summen des Thomas, hatten ihre Kraft und Würde daran, daß sie, ohne den Begriff der Vernunft zu verabsolutieren, nirgends ihn verfemten: dazu ging die Theologie erst im Zeitalter des Nominalismus, zumal bei Luther, über. Die Thomistische Lehre reflektierte nicht bloß die freilich bereits sich selbst problematisch gewordene feudale Ordnung ihrer Epoche, sondern entsprach auch deren fortgeschrittenstem wissenschaftlichen Stand. Hat aber einmal der Glaube die Übereinstimmung mit der Erkenntnis, oder wenigstens die fruchtbare Spannung zu ihr verloren, so büßt er die Verbindlichkeit, jenen Charakter der »Nötigung« ein, den Kant dann noch im Sittengesetz, als einer Säkularisierung der Glaubensautorität, zu retten sich anschickte. Warum einer den Glauben annehmen soll und nicht einen anderen, dafür ist dem Bewußtsein heute kein anderer Rechtsgrund gegeben als einzig sein eigenes Bedürfnis, das Wahrheit nicht verbürgt. Damit ich den Offenbarungsglauben annehmen könnte, müßte ihm meiner Vernunft gegenüber eine Autorität zukommen, die bereits voraussetzte, daß ich ihn angenommen habe – ein unausweichlicher Zirkel. Wird, nach der hochscholastischen Lehre, mein Wille als ausdrückliche Bedingung des Glaubens hinzugefügt, so entgeht man dem Zirkel nicht. Der Wille selbst wäre möglich nur, wo die Überzeugung vom Inhalt des Glaubens bereits besteht, also eben das, was erst vermöge des Willensaktes erlangt werden kann. Ist einmal die Religion nicht länger Volksreligion, nicht länger im Hegelschen Sinne substanziell, wofern sie das überhaupt je gewesen
ist, so wird sie zu einem unverbindlich Ergriffenen, einer autoritären Weltanschauung, in der Zwang und Willkür sich verschränken. Die Einsicht darein wohl hat die Theologie des Judentums dazu vermocht, kaum Glaubenssätze zu stipulieren und nichts anderes zu verlangen, als daß man dem Gesetz nachlebe; was Tolstojs Urchristentum heißt, ist vermutlich ein sehr Ähnliches. Mag immer damit die Antinomie von Erkenntnis und Glauben umgangen, mag selbst die Entfremdung zwischen dem religiösen Gebot und dem Subjekt überbrückt sein, unausgesprochen ist der Widerspruch weiter am Wert. Denn die Frage, woher die Autorität der Lehre stammt, ist nicht gelöst, sondern abgeschnitten, sobald einmal das haggadische vom halachischen Element ganz sich lossagte. Die Ausscheidung des objektiven Elements aus der Religion ist ihr nicht weniger verhängnisvoll als die Verdinglichung, die das Dogma, die Objektivität des Glaubens, starr und vernunftfeindlich dem Subjekt aufzwingen will. Das objektive Moment aber ist nicht länger zu behaupten, weil es selbst dem Maß von Objektivität, der Erkenntnis, sich zu stellen hätte, deren Anspruch es arrogant abfertigt.
6 Während, im Gefolge der allgemeinen Neutralisierung allen Geistes zu bloßer Kultur Seil den letzten hundertfünfzig Jahren, der Widerspruch der traditionellen Offenbarungsreligion zur Erkenntnis kaum mehr gefühlt wird, sondern beide als Sparten des Kulturbetriebes nebeneinander existieren, etwa wie in Magazinen die Rubrikentitel Medizin, Radio, Fernsehen, Religion aufeinanderfolgen, ist die Zumutung der Offenbarungsreligion ans Bewußtsein seit der Aufklärung nicht zurückgegangen; sondern ins Ungemessene gestiegen. Daß keiner mehr davon redet, rührt daher, daß man beides überhaupt nicht mehr zusammenbringen kann. Versuche, kritische Ergebnisse der modernen Wissenschaft in Religion überzuführen, wie sie besonders am Rande der Quantenphysik gedeihen, sind kurzschlüssig. Dabei ist nicht bloß an den geozentrischen und anthropozentrischen Charakter der tradierten großen Religionen zu denken, der zu dem gegenwärtigen Stand der Kosmologie im krassesten Gegensatz steht – wobei man gern diese Kraßheit, nämlich das Lächerliche einer Konfrontation der religiösen Lehre mit den naturwissenschaftlichen Befunden überhaupt, dazu benutzt, die Konfrontation selbst, um ihrer Primitivität und Grobheit willen, lächerlich zu machen. Einmal hielt es die Religion, mit gutem Grund, nicht so fein. Sie bestand auf ihrer Wahrheit auch im kosmologischen Sinn, weil sie wußte, daß ihr Anspruch auf jene vom stofflich-konkreten Inhalt nicht abgespalten werden kann, ohne Schaden zu nehmen. Sobald sie ihren Sachgehalt preisgibt, droht sie zur bloßen Symbolik sich zu verflüchtigen, und das geht dem Wahrheitsanspruch ans Leben. Entscheidender aber ist vielleicht der Bruch zwischen dem sozialen Modell der großen Religionen und der Gesellschaft heute. Sie waren an durchsichtigen Verhältnissen der »primary community«, allenfalls an der einfachen Warenwirtschaft gebildet. Ein jüdischer Dichter hat einmal mit Recht geschrieben, im Judentum und im Christentum herrsche Dorfluft. Davon läßt nicht sich absehen, ohne daß dem religiösen Lehrgehalt durch Umdeutung Gewalt widerführe: das Christentum ist nicht gleich nahe zu allen Zeiten, die Menschen werden nicht zeitlos von dem betroffen, was sie
einmal als gute Botschaft vernahmen. Der Begriff des täglichen Brotes, erzeugt aus der Erfahrung des Mangels in einem Zustand ungewisser und unzureichender materieller Produktion, läßt sich nicht einfach übertragen auf die Welt der Brotfabriken und der Überproduktion, in der die Hungersnöte Naturkatastrophen der Gesellschaft sind und eben keine der Natur. Oder: der Begriff des Nächsten bezieht sich auf Gruppen, in denen man sich von Angesicht zu Angesicht kennt. Die Hilfe für den Nächsten, so dringlich sie immer wieder in der von jenen Naturkatastrophen der Gesellschaft verheerten Welt bleibt, ist unbeträchtlich gegenüber dem Hinausgehen der Praxis über jede bloße Unmittelbarkeit menschlicher Beziehungen, gegenüber einer Veränderung der Welt, die einmal endlich den gesellschaftlichen Naturkatastrophen Einhalt geböte. Zöge man aber Worte wie jene vom Evangelium als irrelevant ab und traute sich zu, man bewahrte die geoffenbarten Lehren und spräche sie gleichwohl so aus, wie sie hic et nunc zu verstehen seien, so geriete man in eine schlechte Alternative. Entweder müßte man sie den veränderten Zeitläuften anpassen; das wäre mit der Autorität von Offenbarung unvereinbar. Oder man präsentierte die gegenwärtige Realität mit Forderungen, die unerfüllbar sind oder an ihr Wesentliches, das reale Leiden der Menschen, nicht mehr heranreichen. Würde man aber schlechterdings von all jenen konkreten, gesellschaftlich-historisch vermittelten Bestimmungen absehen und buchstäblich dem Kierkegaardschen Diktum gehorchen, das Christentum sei nichts anderes als ein NB, das Nota bene, daß einmal Gott Mensch geworden wäre, ohne daß jener Augenblick als solcher, nämlich als auch seinerseits konkret geschichtlicher, ins Bewußtsein träte, so zerginge im Namen paradoxer Reinheit die Offenbarungsreligion ins ganz Unbestimmte, in ein Nichts, das von ihrer Liquidation kaum sich unterscheiden ließe. Was mehr wäre als dies Nichts, führte sogleich zum Unlösbaren, und es wäre ein bloßer Trick des eingesperrten Bewußtseins, Unlösbarkeit selber, das Scheitern des endlichen Menschen, als religiöse Kategorie zu verklären, während sie die gegenwärtige Ohnmacht der religiösen Kategorien bezeugt. Darum sehe ich keine andere Möglichkeit als äußerste Askese jeglichem Offenbarungsglauben gegenüber, äußerste Treue zum Bilderverbot, weit über das hinaus, was es einmal an Ort und Stelle meinte.
Fußnoten 1 Walter Benjamin, Schriften, hrsg. von Theodor W. Adorno und Gretel Adorno unter Mitwirkung von Friedrich Podszus, Frankfurt a.M. 1955, Bd. 1, S. 494.
Fortschritt Für Josef König
Theoretische Rechenschaft über die Kategorie des Fortschritts verlangt, diese so nahe zu betrachten, daß sie den Schein des Selbstverständlichen ihres positiven wie negativen Gebrauchs verliert. Aber solche Nähe erschwert zugleich die Rechenschaft. Mehr noch als andere zergeht der Begriff Fortschritt mit der Spezifikation dessen, was nun eigentlich damit gemeint sei, etwa was fortschreite und was nicht. Wer den Begriff präzisieren will, zerstört leicht, worauf er zielt. Die subalterne Klugheit, die sich weigert, von Fortschritt zu reden, ehe sie unterscheiden kann: Fortschritt worin, woran, in bezug worauf, verschiebt die Einheit der Momente, die im Begriff aneinander sich abarbeiten, in bloßes Nebeneinander. Rechthaberische Erkenntnistheorie, die dort auf Exaktheit dringt, wo die Unmöglichkeit des Eindeutigen zur Sache selbst gehört, verfehlt diese, sabotiert die Einsicht und dient der Erhaltung des Schlechten durchs beflissene Verbot, über das nachzudenken, was im Zeitalter utopischer wie absolut zerstörender Möglichkeiten das Bewußtsein der Verstrickten erfahren möchte: ob Fortschritt sei. Wie jeder philosophische hat der Terminus Fortschritt seine Äquivokationen; wie in jeglichem melden diese auch ein Gemeinsames an. Was man zu dieser Stunde unter Fortschritt sich zu denken hat, weiß man vag, aber genau: deshalb kann man den Begriff gar nicht grob genug verwenden. Pedanterie in seinem Gebrauch betrügt bloß um das, was er verheißt, Antwort auf den Zweifel und die Hoffnung, daß es endlich besser werde, daß die Menschen einmal aufatmen dürfen. Schon darum läßt nicht genau sich sagen, was sie unter Fortschritt sich vorstellen sollen, weil es die Not des Zustandes ist, daß jeder diese fühlt, während das lösende Wort fehlt. Wahrheit haben nur solche Reflexionen über den Fortschritt, die in ihn sich versenken und doch Distanz halten, zurücktreten von lähmenden Fakten und Spezialbedeutungen. Heute spitzen derlei Reflexionen sich zu in der Besinnung darüber, ob die Menschheit die Katastrophe zu verhindern vermag. Ans Leben gehen ihr die Formen ihrer eigenen gesellschaftlichen Gesamtverfassung, wofern nicht ein seiner selbst bewußtes Gesamtsubjekt sich bildet und eingreift. An es allein ist die
Möglichkeit von Fortschritt übergegangen, die der Abwendung des äußersten, totalen Unheils. Alles andere am Fortschritt müßte daran sich ankristallisieren. Der physische Mangel, der lange seiner zu spotten schien, ist potentiell beseitigt: nach dem Stand der technischen Produktivkräfte brauchte keiner auf der Erde mehr zu darben. Ob weiter Mangel und Unterdrückung sei – beides ist eines –, darüber entscheidet einzig die Vermeidung der Katastrophe durch eine vernünftige Einrichtung der Gesamtgesellschaft als Menschheit. Kants Entwurf einer Fortschrittslehre war denn auch an der »Idee des Menschen« 1 festgemacht: »Da nur in der Gesellschaft, und zwar derjenigen, die die größte Freiheit, mithin einen durchgängigen Antagonismus ihrer Glieder, und doch die genaueste Bestimmung und Sicherung der Grenzen dieser Freiheit hat, damit sie mit der Freiheit Anderer bestehen könne, – da nur in ihr die höchste Absicht der Natur, nämlich die Entwickelung aller ihrer Anlagen, in der Menschheit erreicht werden kann, die Natur auch will, daß sie diesen, so wie alle Zwecke ihrer Bestimmung, sich selbst verschaffen solle; so muß eine Gesellschaft, in welcher Freiheit unter äußeren Gesetzen im größtmöglichen Grade mit unwiderstehlicher Gewalt verbunden angetroffen wird, d.i. eine vollkommen gerechte bürgerliche Verfassung die höchste Aufgabe der Natur für die Menschengattung sein; weil die Natur nur vermittelst der Auflösung und Vollziehung derselben ihre übrigen Absichten mit unserer Gattung erreichen kann.« 2 Der Begriff von Geschichte, in dem Fortschritt seinen Ort hätte, ist emphatisch, der Kantische allgemeine oder weltbürgerliche, keiner von partikularen Lebenssphären. Die Angewiesenheit des Fortschritts auf Totalität aber kehrt einen Stachel wider ihn. Das Bewußtsein davon beseelt Benjamins Polemik gegen die Verkoppelung von Fortschritt und Menschheit in den Thesen ›Über den Begriff der Geschichte‹, dem Gewichtigsten wohl, was zur Kritik der Fortschrittsidee von seiten solcher gedacht wurde, die man krud politisch zu den Progressiven zählt: »Der Fortschritt, wie er sich in den Köpfen der Sozialdemokraten malte, war, einmal, ein Fortschritt der Menschheit selbst (nicht nur ihrer Fertigkeiten und Kenntnisse).« 3 So wenig aber die Menschheit tel quel fortschreitet nach dem Reklamerezept des Immer-besser-und-besser, so wenig ist doch eine Idee von Fortschritt ohne die der Menschheit; der Sinn des Benjaminschen Passus dürfte denn auch eher der Vorwurf sein, daß die
Sozialdemokraten den Fortschritt von Fertigkeiten und Kenntnissen mit dem der Menschheit verwechselten, als daß er diesen selbst aus der philosophischen Reflexion hätte ausmerzen wollen. Er verschafft bei Benjamin sich sein Recht in der Lehre, die Vorstellung des Glücks ungeborener Generationen – ohne die von Fortschritt nicht gesprochen werden kann – führe unveräußerlich die der Erlösung mit sich 4 . Bestätigt wird damit die Konzentration des Fortschritts aufs Überleben der Gattung: kein Fortschritt ist derart zu unterstellen, als wäre die Menschheit überhaupt schon und könne deshalb fortschreiten. Vielmehr wäre er erst ihre Herstellung, deren Perspektive angesichts der Auslöschung sich öffnet. Daß, wie Benjamin weiter lehrt, der Begriff der Universalgeschichte nicht zu retten sei, folgt daraus; er leuchtet nur so lange ein, wie der Illusion einer bereits existenten, in sich selbst stimmigen und einheitlich sich aufwärts bewegenden Menschheit sich vertrauen ließ. Bleibt die Menschheit eingefangen von der Totalität, die sie selbst bildet, so hat, nach Kafkas Wort, ein Fortschritt noch gar nicht stattgefunden, während doch bloß Totalität erlaubt, ihn zu denken. Am einfachsten ist das zu verdeutlichen durch die Bestimmung von Menschheit als des schlechterdings nichts Ausschließenden. Würde sie eine Totalität, die in sich selbst kein begrenzendes Prinzip mehr enthält, so wäre sie zugleich ledig des Zwangs, der alle ihre Glieder einem solchen Prinzip unterwirft, und wäre damit Totalität nicht länger: keine erzwungene Einheit. Der Passus aus Schillers Lied ›An die Freude‹: »Und wer's nie gekonnt, der stehle/ Weinend sich aus diesem Bund!«, der im Namen allumfassender Liebe den verbannt, dem sie nicht zuteil wurde, gesteht ungewollt die Wahrheit über den bürgerlichen, zugleich totalitären und partikularen Begriff der Menschheit. Was in dem Vers dem Ungeliebten oder zur Liebe Unfähigen namens der Idee widerfährt, entlarvt diese, nicht anders als die affirmative Gewalt, mit welcher Beethovens Musik die Idee einhämmert; kaum zufällig, daß das Gedicht mit dem Wort »stehlen« in der Demütigung des Freudlosen, dem darum die Freude nochmals versagt wird, Assoziationen aus der Besitzsphäre und der kriminologischen hervorruft. Zum Begriff der Totalität gehört, wie in den politisch totalitären Systemen, der fortwesende Antagonismus; so werden die bösen mythischen Feste aus Märchen definiert durch solche, die nicht geladen sind. Erst wo das Grenzen setzende Prinzip der Totalität, wäre es auch bloß das Gebot, ihr
gleich zu sein, zerginge, wäre Menschheit und nicht ihr Trugbild. Historisch war die Konzeption von Menschheit bereits impliziert im Theorem der mittleren Stoa vom Universalstaat, das zumindest objektiv auf Fortschritt hinauslief, wie fremd auch dessen Idee der vorchristlichen Antike sonst mag gewesen sein. Daß jenes stoische Theorem sogleich zur Begründung der imperialen Ansprüche Roms sich schickte, verrät etwas davon, was dem Fortschrittsbegriff durch seine Identifikation mit den anwachsenden »Fertigkeiten und Kenntnissen« widerfuhr. Die existente Menschheit wird anstelle der noch ungeborenen unterschoben, Geschichte zur Heilsgeschichte unmittelbar. Das war der Prototyp der Vorstellung von Fortschritt bis zu Hegel und Marx. In der Augustinischen civitas dei ist sie gebunden an die Erlösung durch Christus, als an die geschichtlich gelungene; nur eine bereits erlöste Menschheit kann betrachtet werden, als bewege sie sich, nachdem die Entscheidung fiel, vermöge der Gnade, die ihr zuteil wurde, im Kontinuum der Zeit auf das himmlische Reich zu. Vielleicht war es das Verhängnis des späteren Denkens über den Fortschritt, daß es die immanente Teleologie und die Konzeption der Menschheit als des Subjekts allen Fortschritts von Augustin übernahm, während die christliche Soteriologie in den geschichtsphilosophischen Spekulationen verblaßte. Dadurch ist die Idee des Fortschritts aufgegangen in der civitas terrena, ihrem Augustinischen Widerpart. Sie soll, auch beim dualistischen Kant, nach ihrem eigenen Prinzip, ihrer »Natur« fortschreiten. In solcher Aufklärung aber, die überhaupt erst den Fortschritt zur Menschheit in deren Hände legt und damit seine Idee als zu verwirklichende konkretisiert, lauert die konformistische Bestätigung dessen, was bloß ist. Es empfängt die Aura der Erlösung, nachdem diese ausblieb, das Übel unvermindert fortdauerte. Jene unabsehbar weittragende Modifikation des Fortschrittsbegriffs war nicht zu vermeiden. Wie der emphatische Anspruch gelungener Erlösung angesichts der nachchristlichen Geschichte zu Protest ging, so lag umgekehrt schon im Augustinischen Theologumenon einer immanenten Bewegung der Gattung auf den seligen Stand hin das Motiv unwiderstehlicher Säkularisation. Die Temporalität des Fortschritts selber, sein einfacher Begriff, verklammert ihn mit der empirischen Welt; ohne solche Temporalität aber würde das Verruchte des Weltlaufs erst recht im Gedanken verewigt, die Schöpfung selber zum Werk eines
gnostischen Dämons. An Augustin läßt die innige Konstellation der Ideen Fortschritt, Erlösung und immanenter Geschichtsgang sich ablesen, die doch nicht ineinander aufgehen dürfen, wenn sie nicht wechselseitig sich vernichten sollen. Wird Fortschritt gleichgesetzt der Erlösung als dem transzendenten Eingriff schlechthin, so büßt er, mit der Zeitdimension, jede faßliche Bedeutung ein und verflüchtigt sich in geschichtslose Theologie. Wird er aber in die Geschichte mediatisiert, so droht deren Vergötzung und, in der Reflexion des Begriffs wie in der Realität, der Widersinn, das sei bereits der Fortschritt, was ihn inhibiert. Hilfskonstruktionen eines immanent-transzendenten Fortschrittsbegriffs richten sich selbst bereits durch die Nomenklatur. Die Größe der Augustinischen Lehre war die des Zum ersten Mal. Sie hat alle Abgründe der Fortschrittsidee in sich und trachtete, sie theoretisch zu bewältigen. Die Struktur seiner Doktrin bringt den antinomischen Charakter von Fortschritt zum ungemilderten Ausdruck. Bei ihm schon ist, wie dann nochmals auf der Höhe der säkularen Geschichtsphilosophie seit Kant, der Antagonismus im Zentrum jener geschichtlichen Bewegung, die, als gerichtet auf das himmlische Reich, Fortschritt wäre; sie ist ihm der Kampf zwischen dem Irdischen und dem Himmlischen. Aller Gedanke an den Fortschritt seither empfing seinen Tiefgang von der Last des geschichtlich ansteigenden Unheils. Während Erlösung bei Augustin das Telos der Geschichte bildet, mündet diese weder unmittelbar in jene, noch ist jene zu dieser gänzlich unvermittelt. Sie ist der Geschichte eingesenkt durch den göttlichen Weltplan, ihr entgegengesetzt nach dem Sündenfall. Augustin hat erkannt, daß Erlösung und Geschichte nicht ohne einander sind und nicht ineinander, sondern in einer Spannung, deren gestaute Energie schließlich nicht weniger will als die Aufhebung der geschichtlichen Welt selber. Um kein Geringeres jedoch ist im Zeitalter der Katastrophe der Gedanke an Fortschritt überhaupt noch zu denken. Fortschritt ist so wenig zu ontologisieren, dem Sein unreflektiert zuzusprechen, wie, was freilich den neueren Philosophen besser behagt, der Verfall. Zuwenig Gutes hat Macht in der Welt, als daß von ihr in einem prädikativen Urteil Fortschritt auszusprechen wäre, aber kein Gutes und nicht seine Spur ist ohne den Fortschritt. Wenn, einer mystischen Lehre zufolge, die innerweltlichen Ereignisse bis zum geringfügigsten Tun und Lassen folgenreich sein sollen für das
Leben des Absoluten selber, dann ist ein Ähnliches jedenfalls für den Fortschritt wahr. Jeder einzelne Zug im Verblendungszusammenhang ist doch relevant für sein mögliches Ende. Gut ist das sich Entringende, das, was Sprache findet, das Auge aufschlägt. Als sich Entringendes ist es verflochten in die Geschichte, die, ohne daß sie auf Versöhnung hin eindeutig sich ordnete, im Fortgang ihrer Bewegung deren Möglichkeit aufblitzen läßt. Die Momente, an denen der Begriff Fortschritt sein Leben hat, sind nach herkömmlicher Gepflogenheit teils philosophisch, teils gesellschaftlich. Ohne Gesellschaft würde seine Vorstellung ganz leer; all seine Elemente sind von ihr abgezogen. Wäre die Gesellschaft nicht von der sammelnden oder jagenden Horde zum Ackerbau übergegangen, von der Sklaverei zur formalen Freiheit der Subjekte, von der Dämonenangst zur Vernunft, vom Mangel zur Abwehr von Seuchen und Hungersnot und zur Verbesserung der Lebensbedingungen insgesamt; suchte man also die Idee des Fortschritts more philosophico rein zu erhalten, etwa aus dem Wesen der Zeit herauszuspinnen, so hätte sie gar keinen Inhalt. Nötigt aber einmal der Sinn eines Begriffs zum Übergang in die Faktizität, so ist diesem nicht willkürlich Halt zu gebieten. Die Idee von Versöhnung selbst, das nach dem Maß des Endlichen transzendente Telos allen Fortschritts, ist nicht herauszubrechen aus dem immanenten Prozeß von Aufklärung, welche die Furcht wegnimmt und, indem sie den Menschen als Antwort auf die Fragen der Menschen aufrichtet, den Begriff von Humanität gewinnt, der allein über die Immanenz der Welt sich erhebt. Gleichwohl geht Fortschritt in Gesellschaft nicht auf, ist nicht mit ihr identisch; so wie diese ist, ist sie zuzeiten sein Gegenteil. Philosophie überhaupt war, solange sie etwas taugte, zugleich auch Lehre von der Gesellschaft; nur, seitdem sie deren Macht einspruchslos sich auslieferte, muß sie von der Gesellschaft beteuernd sich sondern; die Reinheit, in welche sie zurückfiel, ist das schlechte Gewissen ihrer Unreinheit, der Komplizität mit der Welt. Philosophisch ist der Begriff des Fortschritts darin, daß er, während er die gesellschaftliche Bewegung artikuliert, dieser zugleich widerspricht. Gesellschaftlich entsprungen, erheischt er kritische Konfrontation mit der realen Gesellschaft. Das Moment der Erlösung, wie immer auch säkularisiert, ist untilgbar an ihm. Daß er aber weder auf die
Faktizität noch auf die Idee sich reduzieren läßt, deutet auf seinen eigenen Widerspruch. Denn das aufklärerische Moment darin, das in Versöhnung mit der Natur terminiert, indem es den Schnecken der Natur beschwichtigt, ist verschwistert dem der Naturbeherrschung. Modell des Fortschritts, und würde er in die Gottheit verlegt, ist die Kontrolle außer- und innermenschlicher Natur. Die Unterdrückung, die durch solche Kontrolle geübt wird und die ihre oberste geistige Reflexionsform im Identitätsprinzip der Vernunft hat, reproduziert den Antagonismus. Je mehr Identität durch den herrschaftlichen Geist gesetzt wird, desto mehr Unrecht widerfährt dem Nichtidentischen. Das Unrecht erbt sich fort an dessen Widerstand. Er wiederum verstärkt das unterdrückende Prinzip, während zugleich das Unterdrückte vergiftet sich weiterschleppt. Alles schreitet fort in dem Ganzen, nur bis heute das Ganze nicht. Das Goethesche »Und alles Drängen, alles Ringen/Ist ewige Ruh in Gott dem Herrn« kodifiziert die Erfahrung davon, und die Hegelsche Doktrin vom Prozeß des Weltgeistes, der absoluten Dynamik, als einem in sich selbst Zurückkehrenden oder gar seinem Spiel mit sich selbst, kommt der Goetheschen Sentenz überaus nahe. Nur ein Nota bene wäre der Summe ihrer Anschauung hinzuzufügen: daß jenes Ganze in seiner Bewegung stillsteht, weil es nichts außer sich kennt, nicht das göttliche Absolute ist, sondern dessen vom Gedanken unkenntlich gemachtes Gegenteil. Kant hat weder diesem Trug sich gebeugt noch den Bruch verabsolutiert. Lehrt er, an der erhabensten Stelle seiner Geschichtsphilosophie, daß der Antagonismus, die Verstricktheit des Fortschritts im Mythos, in der Naturbefangenheit von Naturbeherrschung, kurz, im Reich der Unfreiheit, vermöge seines eigenen Gesetzes zum Reich der Freiheit tendiere – später ist daraus Hegels List der Vernunft geworden –, so sagt das nicht weniger, als daß die Bedingungen der Möglichkeit von Versöhnung deren Widerspruch, die von Freiheit die Unfreiheit sei. Kants Lehre steht auf einer Paßhöhe. Sie konzipiert die Idee jener Versöhnung als der antagonistischen »Entwicklung« immanent, indem sie sie aus einer Absicht herleitet, welche die Natur für den Menschen hege. Andererseits ist die dogmatisch-rationalistische Starrheit, mit der eine solche Absicht der Natur unterstellt wird, als wäre diese nicht selbst in die Entwicklung einbegriffen und veränderte damit ihren eigenen Begriff, Abdruck jener Gewalt, welche der identitätssetzende Geist
der Natur antut. Die Statik des Naturbegriffs ist Funktion des dynamischen Vernunftbegriffs; je mehr dieser vom Nichtidentischen an sich reißt, um so mehr wird Natur zum residualen caput mortuum, und das gerade erleichtert es, sie mit den Qualitäten von Ewigkeit auszustaffieren, die ihre Zwecke heiligen. Die »Absicht« kann anders gar nicht gedacht werden, als sofern der Natur selbst Vernunft zugesprochen wird. Noch in dem metaphysischen Gebrauch, den Kant an jener Stelle vom Naturbegriff macht und der ihn dem transzendenten Ding an sich annähert, bleibt Natur ebenso Produkt des Geistes wie in der Kritik der reinen Vernunft. Bezwang Geist die Natur, indem er nach Bacons Programm auf all seinen Stufen ihr sich gleichmachte, so hat er auf der Kantischen sich selbst wiederum auf die Natur, soweit sie Absolutes und nicht bloß Konstituiertes sein soll, zurückprojiziert einer Möglichkeit von Versöhnung zuliebe, in der doch vom Primat des Subjekts nichts nachgelassen wird. An der Stelle, wo Kant dem Begriff der Versöhnung am nächsten kommt, im Gedanken, der Antagonismus terminiere in seiner Abschaffung, fällt das Stichwort von einer Gesellschaft, in der Freiheit »mit unwiderstehlicher Gewalt verbunden« sei. Aber sogar die Rede von Gewalt mahnt an die Dialektik des Fortschritts selbst. Hat die fortwährende Unterdrückung den Fortschritt, den sie entband, immer zugleich auch sistiert, so hat sie, als Emanzipation des Bewußtseins, überhaupt erst den Antagonismus und das Ganze der Verblendung erkennen lassen, die Voraussetzung dafür, ihn zu schlichten. Der Fortschritt, den das Immergleiche erzeugte, ist, daß endlich einer beginnen kann, in jedem Augenblick. Mahnt das Bild der fortschreitenden Menschheit an einen Riesen, der nach unvordenklichem Schlaf langsam sich in Bewegung setzt, dann losstürmt und alles niedertrampelt, was ihm in den Weg kommt, so ist doch sein ungeschlachtes Erwachen das einzige Potential von Mündigkeit; daß die Naturbefangenheit, in welche der Fortschritt selber sich eingliedert, nicht das letzte Wort behalte. Äonenlang hatte die Frage nach Fortschritt keinen Sinn. Sie stellt sich erst, nachdem die Dynamik frei ward, aus der die Idee von Freiheit extrapoliert werden konnte. Ist Fortschritt, seit Augustin die Übertragung des zwischen Geburt und Tod eingespannten, naturhaften Lebenslaufs der Einzelwesen auf die Gattung, so mythisch wie die Vorstellung von der Bahn, welche das Gebot des
Schicksals den Gestirnen vorzeichne, so ist seine Idee ebenso die antimythologische schlechthin, den Kreislauf sprengend, dem sie angehört. Fortschritt heißt: aus dem Bann heraustreten, auch aus dem des Fortschritts, der selber Natur ist, indem die Menschheit ihrer eigenen Naturwüchsigkeit innewird und der Herrschaft Einhalt gebietet, die sie über Natur ausübt und durch welche die der Natur sich fortsetzt. Insofern ließe sich sagen, der Fortschritt ereigne sich dort, wo er endet. Diese imago von Fortschritt ist verschlüsselt in einem Begriff, den heute alle Lager einstimmig diffamieren, dem der Dekadenz. Die Künstler des Jugendstils bekannten sich zu ihr. Das hat gewiß nicht bloß den Grund, daß sie ihren eigenen historischen Stand, der ihnen vielfach biologische Morbidität dünkte, ausdrücken wollten. Im Drang, ihn im Bilde zu verewigen, war lebendig – und mit den Lebensphilosophen stimmten sie tief überein – die Regung, es sei in dem an ihnen, was ihren eigenen Untergang und den der Welt zu prophezeien schien, das Wahre gerettet. Schwerlich hat einer das bündiger ausgesprochen als Peter Altenberg: »Pferde-Mißhandlung. Sie wird aufhören, bis die Passanten so irritabel-dekadent sein werden, daß sie, ihrer selbst nicht mächtig, in solchen Fällen tobsüchtig und verzweifelt Verbrechen begehen werden und den hündisch-feigen Kutscher niederschießen werden – – –. Pferde-Mißhandlung nicht mehr mit ansehen können, ist die Tat des dekadenten nervenschwachen Zukunfts-Menschen! Bisher haben sie eben noch die armselige Kraft gehabt, sich um solche fremde Angelegenheiten nicht zu kümmern – – –.« 5 So brach Nietzsche, der das Mitleid verdammte, in Turin zusammen, als er sah, wie ein Kutscher sein Pferd schlug. Die Dekadenz war die Fata Morgana jenes Fortschritts, der noch nicht begonnen hat. Das sei's auch bornierte und willentlich verstockte Ideal vollendeter, dem Leben absagender Zweckferne war das Reversbild der falschen Zweckmäßigkeit des Betriebs, in dem alles für ein anderes ist. Der Irrationalismus der décadence denunzierte die Unvernunft der herrschenden Vernunft. Das abgespaltene, willkürliche, privilegierte Glück ist ihm heilig, weil es allein fürs Entronnensein einsteht, während jede unmittelbare Vorstellung vom Glück des Ganzen, nach der gängigen liberalistischen Formel dem größtmöglichen der größten Zahl, es verschachert an die selbsterhaltende Apparatur, den geschworenen Feind des Glücks, selbst wo dieses als Ziel
proklamiert ist. Aus solchem Geist dämmert bei Altenberg die Ahnung, daß extreme Individuation Platzhalter von Menschheit sei: »Denn insofern eine Individualität nach irgend einer Richtung hin eine Berechtigung ... hat, darf sie nichts anderes sein als ein Erster, ein Vorläufer in irgend einer organischen Entwicklung des Menschlichen überhaupt, die aber auf dem naturgemäßen Wege der möglichen Entwicklung für alle Menschen liegt! Der ›Einzige‹ sein ist wertlos, eine armselige Spielerei des Schicksals mit einem Individuum. Der ›Erste‹ sein ist alles! ... Er weiß, die ganze Menschheit kommt hinter ihm! Er ist nur von Gott vorausgeschickt! ... Alle Menschen werden einst ganz fein, ganz zart, ganz liebevoll sein ... Wahre Individualität ist, das im voraus allein zu sein, was später alle, alle werden müssen!« 6 Nur durch dies Extrem von Differenzierung, Individuation hindurch, nicht als umfangender Oberbegriff ist Menschheit zu denken. Das Verbot, das die dialektische Theorie von Hegel wie von Marx gegen die ausgepinselte Utopie erließ, wittert den Verrat an ihr. Dekadenz ist der Nervenpunkt, wo die Dialektik des Fortschritts vom Bewußtsein leibhaft gleichsam zugeeignet wird. Wer gegen die Dekadenz wettert, bezieht unweigerlich den Standpunkt der Sexualtabus, deren Verletzung das antinomistische Ritual der Dekadenz ausmacht. In der Insistenz auf jenen Tabus, zugunsten der Einheit des naturbeherrschenden Ichs, dröhnt die Stimme des verblendeten, unreflektierten Fortschritts. Er kann aber darum der eigenen Irrationalität überführt werden, weil er allemal die Mittel, deren er sich bedient, in die Zwecke verhext, die er abschneidet. Freilich bleibt die Gegenposition der Dekadenz abstrakt, und das nicht zuletzt trug ihr den Fluch der Lächerlichkeit ein. Sie verwechselt die Partikularität des Glücks, auf die sie sich versteifen muß, mit der Utopie unmittelbar, mit der verwirklichten Menschheit, während sie selbst von Unfreiheit, Vorrecht, Klassenherrschaft entstellt wird, die sie zwar einbekennt, aber glorifiziert. Die nach ihrem Wunschbild entfesselte erotische Verfügung wäre zugleich perpetuierte Sklaverei wie in Wildes ›Salome‹. Die sprengende Tendenz des Fortschritts ist nicht einfach bloß das Andere der Bewegung fortschreitender Naturbeherrschung, ihre abstrakte Negation, sondern erheischt die Entfaltung der Vernunft durch Naturbeherrschung selbst. Nur die Vernunft, das ins Subjekt
gewandte Prinzip gesellschaftlicher Herrschaft, wäre fähig, diese abzuschaffen. Die Möglichkeit des sich Entringenden wird vom Druck der Negativität gezeitigt. Andererseits prägt Vernunft, die aus Natur heraus möchte, diese erst zu dem, was sie zu fürchten hat. Dialektisch, im strengen unmetaphorischen Sinn, ist der Begriff des Fortschritts darin, daß sein Organon, die Vernunft, Eine ist; daß nicht in ihr eine naturbeherrschende und eine versöhnende Schicht nebeneinander sind, sondern beide all ihre Bestimmungen teilen. Das eine Moment schlägt nur dadurch in sein anderes um, daß es buchstäblich sich reflektiert, daß Vernunft auf sich Vernunft anwendet und in ihrer Selbsteinschränkung vom Dämon der Identität sich emanzipiert. Kants unvergleichliche Größe bewährte nicht zuletzt sich darin, daß er die Einheit der Vernunft noch in ihrem widerspruchsvollen Gebrauch, dem naturbeherrschenden der nach seiner Sprache theoretischen, kausalmechanischen, und dem versöhnlich der Natur sich anschmiegenden der Urteilskraft, unbestechlich festhielt und ihre Differenz strikt in die Selbsteingrenzung der naturbeherrschenden Vernunft verlegte. Eine metaphysische Interpretation Kants hätte diesem keine latente Ontologie zu imputieren, sondern die Struktur seines gesamten Denkens als eine Dialektik von Aufklärung zu lesen, die der Dialektiker par excellence, Hegel, nicht gewahrt, weil er im Bewußtsein der Einen Vernunft deren Grenze tilgt und damit in die mythische Totalität gerät, die er für »versöhnt« hält in der absoluten Idee. Fortschritt umschreibt nicht bloß, wie in der Hegelschen Geschichtsphilosophie, den Umfang dessen, was Dialektik hat, sondern ist dialektisch im eigenen Begriff gleich den Kategorien der Wissenschaft der Logik. Absolute Naturbeherrschung ist absolute Naturverfallenheit und entragt noch dieser in der Selbstbesinnung, Mythos, der diesen entmythologisiert. Der Einspruch des Subjekts aber wäre theoretisch nicht mehr und nicht kontemplativ. Die Vorstellung der Herrschaft reiner Vernunft als eines Ansichseienden, von der Praxis Getrennten unterwirft auch das Subjekt, richtet es als Instrument von Zwecken zu. Die helfende Selbstreflexion der Vernunft jedoch wäre ihr Übergang zur Praxis: sie durchschaute sich als deren Moment; wüßte, anstatt sich als das Absolute zu verkennen, daß sie eine Verhaltensweise ist. Der antimythologische Zug am Fortschritt ist nicht zu denken ohne den praktischen Akt, der dem Wahn der Autarkie des Geistes in die
Zügel fällt. Darum ist Fortschritt so wenig ein in interesseloser Betrachtung Feststellbares. Die von alters her und mit immer neuen Worten dasselbe wollen: daß es nicht sei, haben daran den gefährlichsten Vorwand. Er lebt von dem Fehlschluß, weil bisher kein Fortschritt stattgefunden habe, solle auch keiner sein. Die trostlose Wiederkunft des Gleichen trägt er als Botschaft des Seins vor, die vernommen und geachtet werden müsse, während doch das Sein selber, dem jene Botschaft in den Mund gelegt wird, ein Kryptogramm des Mythos ist, von dem sich zu befreien ein Stück Freiheit wäre. In der Übersetzung geschichtlicher Verzweiflung in die Norm, die befolgt werden müsse, hallt wider jene abscheuliche Zurüstung der theologischen Lehre von der Erbsünde, die Verderbtheit der Menschennatur legitimiere Herrschaft, das radikal Böse das Böse. Diese Gesinnung hat ein Stichwort, mit dem sie obskurantistisch die Idee des Fortschritts in neuerer Zeit verfemt: Fortschrittsglauben. Der Habitus derer, die den Begriff des Fortschritts platt und positivistisch schelten, ist meist selbst positivistisch. Sie erklären den Weltlauf, der den Fortschritt immer wieder kassierte, der er immer auch war, zur Instanz dafür, daß der Weltplan den Fortschritt nicht dulde und, wer nicht von ihm abläßt, frevle. In selbstgerechter Tiefe wird Partei ergriffen für das Furchtbare, die Idee des Fortschritts gelästert nach dem Schema, was den Menschen mißlang, sei ihnen ontologisch verweigert; im Namen ihrer Endlichkeit und Sterblichkeit hätten sie die Pflicht, beides zu ihrer eigenen Sache zu machen. Nüchtern wäre der falschen Ehrfurcht zu entgegnen, wohl sei der Fortschritt von der Steinschleuder zur Megatonnenbombe satanisches Gelächter, aber erst im Zeitalter der Bombe ein Zustand zu visieren, in dem Gewalt überhaupt verschwände. Gleichwohl muß eine Theorie des Fortschritts absorbieren, was an den Invektiven gegen den Fortschrittsglauben triftig ist, als Gegengift gegen die Mythologie, an der sie krankt. Am letzten stünde es einer zu sich selbst gebrachten Lehre vom Fortschritt an abzustreiten, daß es eine flache gibt, nur darum, weil der Hohn über diese in die Schatzkammer der Ideologie gehört. Flach ist freilich, trotz Condorcet, weniger die vielgescholtene Fortschrittsidee des achtzehnten Jahrhunderts – bei Rousseau wird die Lehre von der radikalen Perfektibilität mit der von der radikalen Verderbtheit der Menschennatur
zusammengebracht – als die des neunzehnten. Solange die bürgerliche Klasse, zumindest den politischen Formen nach, unterdrückt war, opponierte sie mit der Parole Fortschritt dem herrschenden stationären Zustand; ihr Pathos war dessen Echo. Erst als die Klasse die entscheidenden Machtpositionen bezogen hatte, verkam der Fortschrittsbegriff zu der Ideologie, deren dann der ideologische Tiefsinn das achtzehnte Jahrhundert zieh. Das neunzehnte stieß auf die Grenze der bürgerlichen Gesellschaft; sie konnte ihre eigene Vernunft, ihre eigenen Ideale von Freiheit, Gerechtigkeit und humaner Unmittelbarkeit nicht verwirklichen, ohne daß ihre Ordnung aufgehoben worden wäre. Das nötigte sie dazu, mit Unwahrheit, das Versäumte als geleistet sich gutzuschreiben. Die Lüge, welche dann die gebildeten Bürger dem Fortschrittsglauben der ungebildeten oder der reformistischen Arbeiterführer vorwarfen, war Ausdruck bürgerlicher Apologetik. Freilich verzichtete das Bürgertum, als mit dem Imperialismus die Schatten sich niedersenkten, rasch auf jene Ideologie und griff zu der verzweifelten, die Negativität, welche der Fortschrittsglaube wegdisputierte, in ein metaphysisch Substantielles umzufälschen. Wer sich in Erinnerung an den Untergang der Titanic demütigzufrieden die Hände reibt, weil der Eisberg dem Fortschrittsgedanken den ersten Stoß versetzt habe, vergißt oder unterschlägt, daß der im übrigen keineswegs schicksalhafte Unglücksfall Maßnahmen veranlaßte, welche ungeplante Naturkatastrophen der Schiffahrt im folgenden halben Jahrhundert verhüteten. Ein Stück Dialektik des Fortschritts ist, daß die geschichtlichen Rückschläge, die selbst vom Fortschrittsprinzip angezettelt werden – was wäre fortschrittlicher als der Wettstreit ums Blaue Band? –, auch die Bedingung dafür beistellen, daß die Menschheit Mittel findet, sie in Zukunft zu vermeiden. Der Verblendungszusammenhang des Fortschritts treibt über sich selbst hinaus. Vermittelt zu jener Ordnung, an der die Kategorie des Fortschritts erst ihr Recht gewönne, ist er darin, daß die Verwüstungen, die der Fortschritt anrichtet, allenfalls mit dessen eigenen Kräften wieder gutzumachen sind, niemals durch die Wiederherstellung des älteren Zustands, der sein Opfer ward. Der Fortschritt der Naturbeherrschung, der, nach Benjamins Gleichnis, im Gegensinn jenes wahren verläuft, der sein Telos an der Erlösung hätte, ist doch nicht ohne alle Hoffnung. Nicht erst in der
Abwendung des letzten Unheils, vielmehr in jeglicher aktuellen Gestalt der Milderung des überdauernden Leidens kommunizieren die beiden Begriffe von Fortschritt miteinander. Als Korrektiv des Fortschrittsglaubens fühlt sich der an Innerlichkeit. Aber nicht diese verbürgt den Fortschritt, nicht die Verbesserlichkeit der Menschen. Bereits bei Augustin ist die Vorstellung vom Fortschritt – das Wort dürfte er noch nicht verwenden – so ambivalent, wie das Dogma von der gelungenen Erlösung angesichts der unerlösten Welt gebietet. Einerseits ist er historisch, nach den sechs Weltaltern, die der Periodisierung des Menschenlebens entsprechen; andererseits nicht von dieser Welt, innerlich, nach Augustins eigener Sprache mystisch. Civitas terrena und civitas dei seien unsichtbare Reiche, und niemand könne sagen, wer von den Lebenden dieser oder jener zugehöre; darüber entscheide die geheime Gnadenwahl, derselbe göttliche Wille, der die Geschichte planvoll bewegt. Schon bei Augustin jedoch gestattet, nach der Einsicht von Karl Heinz Haag, die Verinnerlichung des Fortschritts, die Welt den Mächten zuzuweisen und darum, ähnlich wie dann Luther, das Christentum als staatserhaltend zu empfehlen. Die Platonische Transzendenz, die bei Augustin mit der christlichen Idee von Heilsgeschichte verschmolzen wird, ermöglicht es, das Diesseits an das Prinzip zu zedieren, gegen welches der Fortschritt gedacht ist, und erst am Jüngsten Tag, aller Geschichtsphilosophie zum Trotz, die unverstörte Schöpfung jäh wiederherstellen zu lassen. Dies ideologische Mal blieb der Verinnerlichung von Fortschritt bis heute eingegraben. Ihm gegenüber ist Innerlichkeit selbst, als geschichtlich Produziertes, Funktion des Fortschritts oder seines Gegenteils. Die Beschaffenheit der Menschen bildet bloß ein Moment im innerweltlichen Fortschritt; heute gewiß nicht das primäre. Das Argument, es sei kein Fortschritt, weil keiner im Inwendigen sich ereigne, ist falsch, weil es die Gesellschaft, in ihrem geschichtlichen Prozeß, als unmittelbar menschliche fingiert, die ihr Gesetz habe an dem, was die Menschen selber sind. Aber es ist das Wesen historischer Objektivität, daß das von Menschen Gemachte, die Institutionen im weitesten Sinn, ihnen gegenüber sich verselbständigen und zu zweiter Natur werden. Jener Fehlschluß erlaubt dann die These von der sei's verklärten, sei's bejammerten Konstanz der Menschennatur. Innerweltlicher Fortschritt hat sein
mythisches Moment daran, daß er, wie Hegel und Marx erkannten, über die Köpfe der Subjekte hinweg sich zuträgt und diese nach seinem Ebenbild formt; töricht, den Fortschritt nur darum zu bestreiten, weil er mit seinen Objekten, den Subjekten, nicht ganz fertig wird. Um aufzuhalten, was Schopenhauer das sich selbst entrollende Rad nennt, bedürfte es freilich jenes menschlichen Potentials, das von der Notwendigkeit der geschichtlichen Bewegung nicht ganz absorbiert wird. Daß die Idee hinausführenden Fortschritts heute blockiert ist, rührt daher, daß die subjektiven Momente der Spontaneität im geschichtlichen Prozeß zu verkümmern beginnen. Der gesellschaftlichen Allmacht desperat einen isolierten, vorgeblich ontologischen Begriff des subjektiv Spontanen entgegenzustellen, wie die französischen Existentialisten, ist, noch als Ausdruck von Verzweiflung, zu optimistisch; die wendende Spontaneität kann nicht außerhalb der gesellschaftlichen Verflechtung vorgestellt werden. Illusionär-idealistisch wäre die Hoffnung, daß sie jetzt, hier ausreichte. Diese nährt man einzig in einer geschichtlichen Stunde, in der keine Stütze von Hoffnung sichtbar ist. Existentialistischer Dezisionismus ist bloß die Reflexbewegung auf die lückenlose Totalität des Weltgeists. Gleichwohl ist diese aber auch Schein. Die verhärteten Institutionen, die Produktionsverhältnisse, sind kein Sein schlechthin, sondern noch als allmächtige ein von Menschen Gemachtes, Widerrufliches. In ihrem Verhältnis zu den Subjekten, von denen sie stammen, und die sie umklammern, bleiben sie durch und durch antagonistisch. Nicht bloß verlangt das Ganze, um nicht unterzugehen, seine Änderung, sondern es ist ihm auch, kraft seines antagonistischen Wesens, unmöglich, jene volle Identität mit den Menschen zu erzwingen, die in den negativen Utopien goutiert wird. Darum ist der innerweltliche Fortschritt, Widersacher des anderen, zugleich auch offen auf dessen Möglichkeit, wie wenig immer er diese in sein eigenes Gesetz hineinzuschlingen vermag. Plausibel wird dagegen angeführt, daß es mit den geistigen Sphären, mit der Kunst, vollends mit Recht, Politik, Anthropologie nicht ebenso rüstig vorangehe wie mit den materiellen Produktivkräften. Von der Kunst hat Hegel selbst, und extrem Jochmann, das ausgesprochen; die Ungleichzeitigkeit in der Bewegung von Überbau und Unterbau hat dann Marx prinzipiell formuliert in dem Satz, der Überbau wälze langsamer sich um als
der Unterbau. Offenbar hat niemand darüber gestaunt, daß der Geist, ein Flüchtiges und Mobiles, im Gegensatz zur rudis indigestaque moles dessen, was nicht umsonst auch im gesellschaftlichen Kontext materiell genannt wird, stationär sein soll. Die Psychoanalyse lehrte analog, das Unbewußte, aus dem auch das Bewußtsein und die objektiven Gestalten des Geistes gespeist werden, sei geschichtslos. Wohl erhebt, was selber in brutaler Klassifikation unter dem Begriff der Kultur subsumiert ist und was auch das subjektive Bewußtsein in sich enthält, perennierenden Einspruch gegen die Immergleichheit des bloß Seienden. Aber es findet seinen Einspruch perennierend vergeblich. Die Immergleichheit des Ganzen, die Abhängigkeit der Menschen von der Lebensnot, den materiellen Bedingungen ihrer Selbsterhaltung, versteckt sich gleichsam hinter der eigenen Dynamik, dem Anwachsen des vorgeblichen gesellschaftlichen Reichtums; das kommt der Ideologie zugute. Dem Geist jedoch, der darüber hinaus möchte, dem eigentlich dynamischen Prinzip, ist leicht vorzurechnen, daß es ihm nicht gelang, und das behagt der Ideologie nicht minder. Die Realität produziert den Schein, sie entwickle sich nach oben, und bleibt au fond, was sie war. Der Geist, der ein Neues meint, soweit er nicht selber nur ein Stück Apparatur ist, stößt sich im hoffnungslos wiederholten Versuch den Kopf ein wie ein Insekt, das gegen die Scheibe nach dem Licht fliegt. Geist ist nicht, als was er sich inthronisiert, das Andere, Transzendente in seiner Reinheit, sondern auch ein Stück Naturgeschichte. Weil diese in der Gesellschaft als Dynamik auftritt, wähnt der Geist seit den Eleaten und Platon, das Andere, der civitas terrena Entrückte im unveränderlichen sich selbst Gleichen zu haben, und seine Formen – allen voran die Logik, die latent allem Geistigen überhaupt innewohnt – sind danach zugeschnitten. In ihnen bemächtigt sich des Geistes jenes Stationäre, gegen das er sich sträubt und dessen Teil er doch bleibt. Der Bann der Realität über den Geist verwehrt ihm, was sein eigener Begriff gegenüber dem bloß Seienden will, fliegen. Als das Zartere und Flüchtigere ist er gegen Unterdrückung und Verstümmelung erst recht anfällig. Der Platzhalter dessen, was Fortschritt wäre über allen Fortschritt hinweg, steht schief zu jenem Fortschritt, der stattfindet, und das ehrt ihn auch wiederum: durch mangelnde Komplizität mit dem Fortschritt bekundet er, was es mit diesem auf sich hat. Wo immer jedoch von dem fürsichseienden Geist mit
Grund geurteilt werden kann, er schreite fort, partizipiert er selbst an der Naturbeherrschung, eben weil er nicht, wie er sich einbildet, xoris, sondern in jenen Lebensprozeß verflochten ist, von dem er nach dessen eigenem Gesetz sich schied. Alle Fortschritte in den kulturellen Bereichen sind solche von Materialbeherrschung, von Technik. Der Wahrheitsgehalt des Geistes ist dagegen nicht gleichgültig. Ein Quartett von Mozart ist nicht bloß besser gemacht als eine Symphonie der Mannheimer Schule, sondern rangiert als besser Gemachtes, Stimmigeres auch im emphatischen Sinn höher. Andererseits ist problematisch, ob durch die Entfaltung der perspektivischen Technik die Malerei der Hochrenaissance die sogenannte primitive wirklich überflügelte; ob nicht das Beste der Kunstwerke in unvollkommener Materialbeherrschung gerät, als das Zum ersten Mal, ein jäh Erscheinendes, das zergeht, sobald es technisch disponibel wird. Fortschritte der Materialbeherrschung in der Kunst sind keineswegs unmittelbar eins mit dem Fortschritt der Kunst selber. Hätte man jedoch in der Frührenaissance den Goldgrund gegen die Perspektive verteidigt, so wäre das nicht nur reaktionär, sondern objektiv unwahr, nämlich dem von der eigenen Logik Geforderten entgegen gewesen; erst geschichtlich entfaltet sich auch die Komplexität des Fortschritts. A la longue dürfte im Nachleben geistiger Gebilde ihre Qualität, schließlich ihr Wahrheitsgehalt über ihre jeweilige Avanciertheit hinaus sich durchsetzen, aber selber nur vermöge eines Prozesses von fortschreitendem Bewußtsein. Die Vorstellung vom kanonischen Wesen des Griechentums, die noch bei den Dialektikern Hegel und Marx sich erhielt, ist nicht bloß ein unaufgelöstes Rudiment der Bildungstradition, sondern in aller Fragwürdigkeit ebenso Niederschlag einer dialektischen Einsicht. Kunst, und im geistigen Bereich kaum sie allein, muß, um ihren Gehalt auszusprechen, unausweichlich die ansteigende Naturbeherrschung absorbieren. Dadurch jedoch arbeitet sie insgeheim dem, was sie sagen will, auch entgegen; entfernt sich von dem, was sie wort- und begriffslos der ansteigenden Naturbeherrschung entgegenhält. Das mag erklären helfen, warum die scheinbare Kontinuität sogenannter geistiger Entwicklungen häufig abreißt, und zwar unter der sei's noch so sehr vom Mißverständnis geleiteten Parole einer Rückkehr zur Natur. Schuld hat, neben anderen, zumal sozialen Momenten, daß den Geist der Widerspruch in seiner eigenen Entwicklung schreckt und
daß er ihn, vergebens freilich, zu berichtigen sucht durch Rückgriff auf das, dem er sich entfremdet hat und das er darum als invariant verkennt. Nirgends vielleicht ist die Paradoxie, daß ein Fortschritt sei, und doch nicht sei, so drastisch wie in der Philosophie, wo die Idee von Fortschritt selbst beheimatet ist. So zwingend die Übergänge von einer authentischen Philosophie zur anderen, vermittelt durch Kritik, sein mögen, so dubios bliebe gleichwohl die Behauptung, zwischen ihnen, Platon und Aristoteles, Kant und Hegel, oder gar in einer philosophischen Universalgeschichte insgesamt, wäre ein Fortschritt gewesen. Daran aber ist weder die Invarianz des vorgeblichen philosophischen Gegenstands, des wahren Seins, schuld, dessen Begriff in der Geschichte der Philosophie unwiderruflich zerging, noch wäre eine bloß ästhetische Ansicht von der Philosophie zu verteidigen, welche imponierende Gedankenarchitektur oder gar die ominösen großen Denker höher stellte als die Wahrheit, die keineswegs eins ist mit der immanenten Geschlossenheit und Stringenz der Philosophien. Vollends pharisäisch und falsch wäre das Verdikt, die Fortschritte der Philosophie führten sie ab von dem, was der Jargon der schlechten ihr Anliegen tauft: damit würde das Bedürfnis zum Garanten des Wahrheitsgehalts. Vielmehr sind die unvermeidlichen und fragwürdigen Fortschritte dessen, was seine Grenze hat an seinem Thema, der Grenze, gesetzt vom Vernunftprinzip, ohne das Philosophie nicht gedacht werden kann, weil nicht gedacht werden kann ohne es. Ein Begriff nach dem anderen stürzt in den Orkus des Mythischen. Philosophie lebt in Symbiose mit der Wissenschaft; von ihr kann sie nicht sich lossagen ohne Dogmatismus, schließlich Rückfall in Mythologie. Ihr Gehalt aber wäre auszudrücken, was von Wissenschaft, Arbeitsteilung, den Reflexionsformen des Betriebs der Selbsterhaltung versäumt oder weggeschnitten wird. Darum entfernt sich ihr Fortschritt zugleich von dem, wozu sie fortzuschreiten hätte; die Kraft der Erfahrungen, die sie registriert, wird abgeschwächt, je mehr sie die szientifische Apparatur schleift. Die Bewegung, die sie als ganze vollführt, ist die pure Sichselbstgleichheit ihres Prinzips. Sie geht allemal auch auf Kosten dessen, was sie zu begreifen hätte und begreifen kann nur vermöge der Selbstreflexion, durch welche sie den Standpunkt sturer Unmittelbarkeit – hegelisch: der Reflexionsphilosophie – verläßt. Der philosophische Fortschritt äfft, weil er, je dichter er die
Begründungszusammenhänge fügt, je hieb- und stichfester die Aussagen werden, immer mehr Identitätsdenken wird. Er überspinnt die Gegenstände mit einem Netz, das, indem es die Lücken dessen verstopft, was es nicht selbst ist, vermessen anstelle der Sache selbst sich schiebt. Am Ende freilich schneit, im Einklang mit den realen Rückbildungstendenzen der Gesellschaft, am Fortschritt der Philosophie sich zu rächen, wie wenig er einer war. Einen Fortschritt von Hegel zu den logischen Positivisten anzunehmen, die jenen als unklar oder sinnleer abtun, ist nur noch komisch. Auch Philosophie ist nicht dagegen gefeit, sei's in bornierter Verwissenschaftlichung, sei's in Verleugnung der Vernunft jenem Rückschritt anheimzufallen, der gewiß nicht besser ist als der hämisch verspottete Fortschrittsglaube. Die Konvergenz totalen Fortschritts in der bürgerlichen Gesellschaft, die den Begriff schuf, mit der Negation von Fortschritt entspringt in ihrem Prinzip, dem Tausch. Er ist die rationale Gestalt der mythischen Immergleichheit. Im Gleich um Gleich jeden Tauschvorgangs nimmt der eine Akt den anderen zurück; der Saldo geht auf. War der Tausch gerecht, so soll nichts geschehen sein, es bleibt beim alten. Zugleich aber ist die Behauptung von Fortschritt, die dem Prinzip widerstreitet, soweit wahr, wie die Doktrin des Gleich um Gleich Lüge ist. Von je, gar nicht erst bei der kapitalistischen Aneignung des Mehrwerts im Tausch der Ware Arbeitskraft gegen deren Reproduktionskosten, empfängt der eine, gesellschaftlich mächtigere Kontrahent mehr als der andere. Durch dies Unrecht geschieht im Tausch ein Neues, wird der Prozeß, der die eigene Statik proklamiert, dynamisch. Die Wahrheit der Erweiterung zehrt von der Lüge der Gleichheit. Die gesellschaftlichen Akte müssen im Gesamtsystem gegenseitig sich aufheben und tun es doch nicht. Wo die bürgerliche Gesellschaft dem Begriff genügt, den sie von sich selbst hegt, kennt sie keinen Fortschritt; wo sie ihn kennt, frevelt sie gegen ihr Gesetz, in dem dies Vergeben schon liegt, und verewigt mit der Ungleichheit das Unrecht, über das der Fortschritt sich erheben soll. Es ist aber zugleich die Bedingung möglicher Gerechtigkeit. Die Erfüllung des immer wieder gebrochenen Tauschvertrags konvergierte mit dessen Abschaffung; der Tausch verschwände, wenn wahrhaft Gleiches getauscht würde; der wahre Fortschritt dem Tausch gegenüber nicht bloß ein Anderes sondern auch dieser, zu sich selbst gebracht. So
dachten die Antipoden Marx und Nietzsche; Zarathustra postuliert, daß der Mensch erlöst werde von der Rache. Denn die Rache ist das mythische Urbild des Tausches; solange durch den Tausch geherrscht wird, solange herrscht auch der Mythos. – Die Verschränkung von Immergleichheit und Neuem im Tauschverhältnis manifestiert sich in den imagines von Fortschritt unterm bürgerlichen Industrialismus. An ihnen wirkt darum paradox, daß überhaupt noch etwas Anderes wird, daß sie veralten, weil vermöge der Technik die Immergleichheit des Tauschprinzips zur Herrschaft von Wiederholung im Produktionsbereich sich steigert. Der Lebensprozeß selbst erstarrt im Ausdruck des Immergleichen: daher der Schock der Photographien aus dem neunzehnten und nun bereits frühen zwanzigsten Jahrhundert. Der Widersinn explodiert, daß dort etwas geschieht, wo das Phänomen sagt, nichts mehr könne geschehen; sein Habitus wird schauerlich. Im Schauer drängt der des Systems zur Erscheinung sich zusammen, das, je mehr es sich expandiert, desto mehr sich verhärtet zu dem, was es von je war. Was Benjamin Dialektik im Stillstand nannte, ist wohl weniger ein platonisierender Rückstand als der Versuch, solche Paradoxie philosophisch bewußt zu machen. Dialektische Bilder: das sind die geschichtlich-objektiven Archetypen jener antagonistischen Einheit von Stillstand und Bewegung, die den allgemeinsten bürgerlichen Begriff von Fortschritt definiert. Davon, daß noch die dialektische Ansicht vom Fortschritt der Korrektur bedarf, haben Hegel wie Marx gezeugt. Die Dynamik, die sie lehrten, wird nicht als Dynamik schlechthin gedacht, sondern in Einheit mit ihrem Gegensatz, einem Festen, an dem allein Dynamik überhaupt abzulesen ist. Marx, der alle Vorstellungen von gesellschaftlicher Naturwüchsigkeit als fetischistisch kritisierte, hat, wider das Lassalleanische Gothaer Programm, ebenso euch die Verabsolutierung der Dynamik in der Lehre von der Arbeit als der einzigen Quelle des gesellschaftlichen Reichtums verworfen; und er hat die Möglichkeit des Rückfalls in die Barbarei konzediert. Mehr mag es sein denn bloßer Zufall, daß Hegel trotz der berühmten Definition der Geschichte keine ausgeführte Theorie des Fortschritts enthält, und daß Marx selbst das Wort gemieden zu haben scheint, auch in der immer wieder zitierten programmatischen Stellte aus der Vorrede zur Kritik der politischen Ökonomie. Das dialektische Tabu über Begriffsfetischen, Erbschaft der alten antimythologischen
Aufklärung in der Phase ihrer Selbstreflexion, erstreckt sich auch auf die Kategorie, die ehedem Verdinglichung aufweichte, den Fortschritt, der trügt, sobald er als Einzelmoment das Ganze usurpiert. Die Fetischisierung des Fortschritts bekräftigt dessen Partikularität, seine Begrenztheit auf Techniken. Würde wahrhaft der Fortschritt des Ganzen mächtig, dessen Begriff die Male seiner Gewalttätigkeit trägt, so wäre er nicht länger totalitär. Er ist keine abschlußhafte Kategorie. Er will dem Triumph des radikal Bösen in die Parade fahren, nicht an sich selber triumphieren. Denkbar ein Zustand, in dem die Kategorie ihren Sinn verliert, und der doch nicht jener der universalen Regression ist, die heute mit dem Fortschritt sich verbündet. Dann verwandelte sich der Fortschritt in den Widerstand gegen die immerwährende Gefahr des Rückfalls. Fortschritt ist dieser Widerstand auf allen Stufen, nicht das sich Überlassen an den Stufengang.
Fußnoten 1 Kant, Sämtliche Werke, Bd. 1: Vermischte Schriften, hrsg. von Felix Gross, Leipzig 1921, S. 225 (»Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht«). 2 a.a.O., S. 229. 3 Walter Benjamin, Schriften, hrsg. von Theodor W. Adorno und Gretel Adorno unter Mitwirkung von Friedrich Podszus, Frankfurt a.M. 1955, Bd. 1, S. 502. 4 Vgl. a.a.O., S. 494. 5 Peter Altenberg. Auswahl aus seinen Büchern von Karl Kraus, Wien 1392, S.122f. 6 a.a.O., S. 135f.
Glosse über Persönlichkeit Beim Nachdenken über Persönlichkeit ist am besten vielleicht auszugehen von einer Idiosynkrasie, die ich seit meiner Jugend spüre und von der ich vermuten möchte, daß sie in meiner Generation von Intellektuellen recht allgemein war. Die Feder, schon die Zunge sträubte sich gegen ein Wort, das man schwerlich anders hätte gebrauchen mögen, als indem man es parodistisch nachäffte. Der Widerwille galt einer Sphäre des Offiziellen, die im Begriff der Persönlichkeit sich konzentrierte. Persönlichkeiten waren Leute mit Orden und Bändern, Deputierte jenes Schlages, den ein Münchner Chanson vor dem Ersten Krieg verhöhnte. Das Wort hatte den Ausdruck des sich Aufspielenden, Prätentiösen, sich selbst als wichtig Setzenden. Persönlichkeiten waren Leute, die auf die Reden an ihrem Grabe hin lebten, den Anschein verbreiteten, Großes zu wirken. Ihnen gelang es, ihre äußere, soziale Geltung auf sich überschreiben zu lassen, wie wenn, wozu es einer in dieser Welt gebracht hat, ihn rechtfertigte; wie wenn sein Erfolg und sein eigenes Wesen notwendig in Einklang stünden, während doch jener gegen dieses zunächst Mißtrauen weckt. Karl Kraus hat derlei Abscheulichkeiten am Brauch von Journalisten aufgedeckt, die da schrieben, ein Publikum sei kein solches, sondern eine Versammlung von Persönlichkeiten gewesen. Nach all dem möchte man vor Scham unter den Tisch kriechen, wenn man von Persönlichkeit, etwa einer des öffentlichen Lebens, hört. Gäbe es eine philosophische Wortgeschichte, so hätte sie am Ausdruck Persönlichkeit und seinem Bedeutungswechsel keinen unwürdigen Gegenstand. Kaum geht fehl, wer den Aufschwung des Wortes, der zugleich sein Niedergang war, auf Kant zurückdatiert. In der Kritik der praktischen Vernunft ist, im dritten Hauptstück, das deren Triebfedern behandelt, von Persönlichkeit mit einem Nachdruck die Rede, den das Wort nicht mehr losward. Kant zufolge ist die Persönlichkeit nichts anderes als »die Freiheit und Unabhängigkeit von dem Mechanism der ganzen Natur, doch zugleich als ein Vermögen eines Wesens betrachtet, welches eigentümlichen, nämlich von seiner eigenen Vernunft gegebenen, reinen praktischen Gesetzen, die Person also, als zur Sinnenwelt gehörig, ihrer eigenen Persönlichkeit unterworfen ist, sofern sie
zugleich zur intelligiblen Welt gehört; da es denn nicht zu verwundern ist, wenn der Mensch, als zu beiden Welten gehörig, sein eigenes Wesen in Beziehung auf seine zweite und höchste Bestimmung nicht anders als mit Verehrung und die Gesetze derselben mit der höchsten Achtung betrachten muß«. Person und Persönlichkeit sind nicht das gleiche. Was aber mit jener Verehrung und Achtung zu behandeln sei, die später die Persönlichkeiten an sich rissen, meint keineswegs diese im depravierten Sinn wirklich oder vermeintlich hervorragenden Leute, sondern das allgemeine Prinzip, das in den tatsächlich lebenden Personen sich verkörpere. Kant respektiert getreulich die grammatische Gestalt des Wortes Persönlichkeit. Die Endsilbe »keit« bezeichnet ein Abstraktes, eine Idee, nicht individuelle Einzelne. Weil jedoch dies Allgemeine, die sittliche Freiheit, zwar der intelligiblen, geistigen und nicht der Sinnenwelt der empirischen Individuen angehöre, aber nur in diesen sich darstellt, sank mit dem anwachsenden bürgerlichen Individualismus jener Kantische Begriff der Persönlichkeit ab und wurde Einzelpersonen angeheftet, die, nach seiner eigenen Unterscheidung, mehr durch den Preis als durch die Würde sich bestimmen. Allmählich soll der Einzelne, um irgendwelcher äußerer und innerer Qualitäten willen, unmittelbar das sein, was er bei Kant nur vermittelt, durchs Prinzip der Menschheit in ihm, war. Die Ehre, die Kant dem Prinzip der Menschheit zollt, wird selbstgefällig vom Einzelnen eingeheimst. Anstatt, wie es im Sinne Kants läge, Persönlichkeit zu hoben, ist man eine; anstelle des intelligiblen Charakters, der besseren Möglichkeit in jedem Menschen, wird der empirische, der Mensch, wie er nun einmal geprägt ist, gesetzt, und wird zum Fetisch. Eine Paßhöhe der Entwicklung markieren die berühmten Strophen aus dem Buch Suleika des West-östlichen Diwans. »Höchstes Glück der Erdenkinder / Sei nur die Persönlichkeit«, sagt die Geliebte. Sie setzt die Selbstheit, die man nicht »vermissen« dürfe, die Forderung, »zu bleiben, was man ist«, dem Männlichen gleich und dem Geliebten. Aber dabei läßt Goethe es nicht. Er, Hatem, entgegnet ihr, das höchste Glück fände er nicht in der Persönlichkeit, sondern in der Geliebten Suleika. Ihr Name beseligt ihn mehr als das abstrakte Identitätsprinzip von Persönlichkeit. Goethe bekräftigt das nicht zuletzt nach ihm modellierte Persönlichkeitsideal der Epoche, um es, im Eingedenken der unterdrückten Natur, zurückzunehmen.
Das Kriterium von Persönlichkeit ist im allgemeinen Gewalt und Macht; Herrschaft über Menschen; sei es, daß sie sie vermöge ihrer Position besitzt, sei es, daß sie sie, etwa dank besonderer Machtgier, ihrem Verhalten und ihrer sogenannten Ausstrahlung nach erlangt. Im Stichwort Persönlichkeit ist stillschweigend starke Person mitgedacht. Aber Stärke als Fähigkeit, andere sich gefügig zu machen, ist gar nicht eins mit der Qualität eines Menschen. Indem sie als ein Ethisches unterschoben wird, beugen sich Sprachgebrauch und kollektives Bewußtsein der bürgerlichen Erfolgsreligion; zugleich wird am Schein festgehalten, jene Qualität sei, als solche des reinen Wesens einer Person, noch die sittliche, auf die Kants Lehre abzielte. Im Begriff des Charakters, der festgefügten Einheit eines Menschen in sich selbst, der in Kants Ethik seine große und nicht durchaus eindeutige Funktion hat, ist dieser Übergang bereits vorbereitet. Die als Persönlichkeiten verherrlicht werden, müssen gar nicht bedeutend, reich in sich, differenziert, produktiv, besonders klug oder wahrhaft gütig sein. Solchen, die wirklich etwas sind, fehlt häufig die Beziehung zur Herrschaft über Menschen, die im Begriff der Persönlichkeit anklingt. Oft sind die starken Persönlichkeiten lediglich suggestionsfähig, Leute mit Ellenbogen, die sich aneignen, was sie nur können, brutal und manipulativ. Im Ideal der Persönlichkeit verhimmelte die Gesellschaft des neunzehnten Jahrhunderts ihr eigenes falsches Prinzip: richtiger Mensch sei, wer es ihr gleichtut, in sich organisiert nach dem Gesetz, das die Gesellschaft im Innersten zusammenhält. Dies Ideal der Persönlichkeit, in seiner herkömmlichen, hochliberalen Gestalt, ist verfallen, die Idiosynkrasie gegen den Gebrauch des Wortes einigermaßen sozialisiert; man wird ihm gewiß viel seltener begegnen als in Festreden um 1910. An so rechte Persönlichkeiten erinnern nur noch Herren vom approbierten Typus des gut Aussehenden, mit schnittigen Gesichtern, die man in den Hallen großer Hotels beobachtet; schwer zu sagen, ob es Generaldirektoren oder Grußdirektoren sind. Diejenigen unter ihnen, die tatsächlich Verfügungsgewalt haben, sind jedenfalls mit ihrer eigenen publicity glücklich verschmolzen. Sie wandeln als Reklame ihrer selbst oder ihrer Konzerne, im Einklang mit der wirtschaftlichen Entwicklung, welche die ehedem getrennten Sphären der Produktion, der Zirkulation und, wie das heutzutage
heißt, der Propaganda, integriert, auf einen Nenner bringt. Von anderen als jenen, die eher Schnittmuster von Persönlichkeiten sind, als was man unter diesen früher sich vorstellte, und von Film- und Photo-Idolen, wird Persönlichkeit schon gar nicht mehr verlangt, beinahe stört sie. Sagt man in angelsächsischen Ländern von einem, er sei quite a character, so heißt das nichts Freundliches. Er ist nicht abgeschliffen genug, ein Kauz, ein komisches Überbleibsel. Wer den allgegenwärtigen Anpassungsmechanismen widersteht, gilt nicht länger als der Fähigere. Weil er es nicht vollbrachte, seine Selbsterhaltung durch die Anpassung hindurch zu vollziehen, wird er über die Achsel angesehen: zum Deformierten, Verkrüppelten, zum Schwächling. Unter den gegenwärtigen Bedingungen ist es fast so unmöglich geworden, irgendeinem, wie die ältere Bildungsideologie es wollte, zuzumuten, eine Persönlichkeit zu werden; ein derartiges Verlangen war einer Putzfrau gegenüber stets schon unverschämt. Der soziale Baum, der die Entfaltung einer Persönlichkeit selbst im fragwürdigen Sinn ihrer selbstherrlichen Souveränität gestattete, existiert nicht mehr, wahrscheinlich nicht einmal auf den Kommandohöhen von Geschäft und Verwaltung. Dem Begriff der Persönlichkeit wird heimgezahlt, was er frevelte, als er die Idee der Menschheit in einem Menschen auf dessen So- und nicht Anderssein einebnete. Sie ist nur noch Maske ihrer selbst. Beckett hat das an der Figur des Hamm aus dem Endspiel exemplifiziert: Persönlichkeit als Clown. Demgemäß breitete nachgerade die Kritik am Persönlichkeitsideal ähnlich sich aus wie vordem jenes Ideal selbst. So gehört es zur eisernen Ration pädagogischer Theorien, die auf der Höhe der Zeit sein möchten, das Humboldtsche Bildungsziel des allseitig entwickelten und ausgebildeten Menschen, eben der Persönlichkeit, abzufertigen. Unvermerkt wird aus der Unmöglichkeit, es zu verwirklichen – wenn anders es je verwirklicht gewesen sein sollte –, eine Norm. Was nicht sein kann, soll auch nicht sein. Die Aversion gegen das hohle Pathos der Persönlichkeit tritt, im Zeichen eines angeblich ideologiefreien Realitätsbewußtseins, in den Dienst der Rechtfertigung universaler Anpassung, als ob diese nicht ohne Rechtfertigung bereits allerorten triumphierte. Dabei war Humboldts Persönlichkeitsbegriff keineswegs einfach der Kultus des Individuums, das wie eine
Pflanze begossen werden soll, um zu blühen. So wie er noch die Kantische Idee »der Menschheit in unserer Person« festhält, hat er zumindest nicht verleugnet, was bei seinen Zeitgenossen Goethe und Hegel im Zentrum der Lehre vom Individuum steht. Ihnen allen kommt das Subjekt zu sich selbst nicht durch die narzißtisch auf es zurückbezogene Pflege seines Fürsichseins, sondern durch Entäußerung, durch Hingabe an das, was es nicht selbst ist. In Humboldts Bruchstück ›Theorie der Bildung des Menschen‹ heißt es: »Bloss weil beides, sein Denken und sein Handeln nicht anders, als nur vermöge eines Dritten, nur vermöge des Vorstellens und des Bearbeitens von etwas möglich ist, dessen eigentlich unterscheidendes Merkmal es ist, Nichtmensch, d.i. Welt zu seyn, sucht er, soviel Welt als möglich zu ergreifen, und so eng, als er nur kann, mit sich zu verbinden.« Den großen und humanen Schriftsteller konnte man einzig dadurch in die Rolle des pädagogischen Prügelknaben hineinzwängen, daß man seine differenzierte Lehre vergaß. Angesichts der hämischen Gebärde des: Was fällt, das sollst du stoßen, der heute der Begriff der Persönlichkeit begegnet und potentiell jeder, der sich nicht mit Haut und Haaren der gesellschaftlichen Forderung nach Fachmenschentum überantwortet, empfängt die untergehende und ihre imago versöhnenden Abglanz. Grund ist zum Verdacht, daß in dem, was nicht mehr sein soll, weil es nicht wurde und nicht sein könne, das Potential eines Besseren sich verbirgt. Psychologische Regression wird durch die Abwertung von Persönlichkeit als einem Veralteten gefördert. Die verhinderte Ichbildung, deutlicher stets die Tendenz der sich formierenden Gesellschaft, sei ein Höheres, Förderungswertes. Geopfert wird das Moment an Autonomie, Freizeit, Widerstand, das einmal, wie sehr auch ideologisch verdorben, im Persönlichkeitsideal mitschwang. Der Begriff Persönlichkeit ist nicht zu retten. Im Zeitalter seiner Liquidation jedoch wäre etwas an ihm zu bewahren: die Kraft des Einzelnen, nicht dem blind über ihn Ergehenden sich anzuvertrauen, ebenso blind ihm sich gleichzumachen. Dies zu Bewahrende ist kein Reservat ungeformter Natur inmitten der vergesellschafteten Gesellschaft. Gerade deren unmäßiger Druck bringt ungeformte Natur stets aufs neue hervor. Die Kraft des Ichs, die verlorenzugehen droht und die vordem, zur Selbstherrlichkeit karikiert, im Persönlichkeitsideal enthalten war, ist die des
Bewußtseins, der Rationalität. Dieser obliegt wesentlich Realitätsprüfung. Sie vertritt im Einzelnen die Realität, das Nicht-Ich, ebensogut wie den Einzelnen selbst. Nur dadurch, daß der Einzelne die Objektivität in sich hineinnimmt und in gewissem Sinn, nämlich bewußt, ihr sich anpaßt, vermag er den Widerstand gegen sie auszubilden. Organ dessen, was einmal ohne Schande Persönlichkeit hieß, wurde das kritische Bewußtsein. Es durchdringt auch jene Selbstheit, die im Begriff der Persönlichkeit sich verstockt und verhärtet hatte. Zumindest Negatives läßt über den Begriff eines richtigen Menschen sich sagen. Er wäre weder bloße Funktion eines Ganzen, das ihm so gründlich angetan wird, daß er davon nicht mehr sich zu unterscheiden vermag, noch befestigte er sich in seiner puren Selbstheit; eben das ist die Gestalt schlechter Naturwüchsigkeit, die stets noch überdauert. Wäre er ein richtiger Mensch, so wäre er nicht länger Persönlichkeit, aber auch nicht unter ihr, kein bloßes Reflexbündel sondern ein Drittes. Es blitzt auf in der Hölderlinschen Vision des Dichters: »Drum, so wandle nur wehrlos / Fort durchs Leben, und fürchte nichts!«
Freizeit Die Frage nach der Freizeit: was die Menschen mit ihr anfangen, welche Chancen etwa ihre Entwicklung bietet, ist nicht in abstrakter Allgemeinheit zu stellen. Das Wort, übrigens erst jüngeren Ursprungs – früher sagte man Muße, und das war ein Privileg unbeengten Lebens, daher auch dem Inhalt nach wohl etwas qualitativ anderes, Glückvolleres –, weist auf eine spezifische Differenz hin, die von der nicht freien Zeit, von der, welche die Arbeit ausfüllt, und zwar, darf man hinzufügen, die fremdbestimmte. Freizeit ist an ihren Gegensatz gekettet. Dieser Gegensatz, das Verhältnis, in dem sie auftritt, prägt ihr selbst wesentliche Züge ein. Darüber hinaus, weit prinzipieller, wird Freizeit abhängen vom gesellschaftlichen Gesamtzustand. Der aber hält nach wie vor die Menschen unter einem Bann. Weder in ihrer Arbeit noch in ihrem Bewußtsein verfügen sie wirklich frei über sich selbst. Sogar jene konzilianten Soziologien, die den Rollenbegriff als Schlüssel verwenden, erkennen das insofern an, als der dem Theater entlehnte Rollenbegriff darauf hindeutet, daß die den Menschen von der Gesellschaft aufgenötigte Existenz nicht identisch ist mit dem, was sie an sich sind oder was sie sein könnten. Freilich wird man keine einfache Teilung zwischen den Menschen an sich und ihren sogenannten sozialen Rollen vornehmen dürfen. Diese reichen in die Eigenschaften der Menschen selber, ihre innere Zusammensetzung tief hinein. Im Zeitalter wahrhaft beispielloser sozialer Integration fällt es schwer, überhaupt auszumachen, was an den Menschen anders wäre als funktionsbestimmt. Das wiegt schwer für die Frage nach der Freizeit. Es besagt nicht weniger, als daß, selbst wo der Bann sich lockert und die Menschen wenigstens subjektiv überzeugt sind, nach eigenem Willen zu handeln, dieser Wille gemodelt ist von eben dem, was sie in den Stunden ohne Arbeit loswerden wollen. Die Frage, welche dem Phänomen der Freizeit heute gerecht würde, wäre wohl die, was aus ihr bei steigender Produktivität der Arbeit, aber unter fortdauernden Bedingungen von Unfreiheit wird, also unter Produktionsverhältnissen, in welche die Menschen hineingeboren werden und die ihnen heute wie ehemals die Regeln ihres Daseins
vorschreiben. Schon jetzt ist die Freizeit überaus angewachsen; dank der wirtschaftlich noch keineswegs voll verwerteten Erfindungen in den Bereichen der Atomenergie und der Automation dürfte sie sich immens erhöhen. Suchte man die Frage ohne ideologische Beteuerungen zu beantworten, so ist unabweislich der Verdacht, Freizeit tendiere zum Gegenteil ihres eigenen Begriffs, werde zu dessen Parodie. In ihr verlängert sich Unfreiheit, den meisten der unfreien Menschen so unbewußt wie ihre Unfreiheit selbst. Ich möchte, um das Problem zu erläutern, eine geringfügige eigene Erfahrung benutzen. Immer wieder wird man, in Interviews und Erhebungen, danach gefragt, was für ein hobby man habe. Wenn die illustrierten Zeitungen über einen jener Matadore der Kulturindustrie berichten, von denen zu reden wiederum eine Hauptbeschäftigung der Kulturindustrie ausmacht, so lassen sie es sich selten entgehen, über die hobbies der Betreffenden mehr oder minder Anheimelndes zu erzählen. Ich erschrecke über die Frage, wenn sie auch mit widerfährt. Ich habe kein hobby. Nicht daß ich ein Arbeitstier wäre, was nichts anderes mit sich anzufangen wüßte, als sich anzustrengen und zu tun, was es tun muß. Aber mit dem, womit ich mich außerhalb meines offiziellen Berufs abgebe, ist es mir, ohne alle Ausnahme, so ernst, daß mich die Vorstellung, es handele sich um hobbies, also um Beschäftigungen, in die ich mich sinnlos vernarrt habe, nur um Zeit totzuschlagen, schockierte, hätte nicht meine Erfahrung gegen Manifestationen von Barbarei, die zur Selbstverständlichkeit geworden sind, mich abgehärtet. Musik machen, Musik hören, konzentriert lesen ist ein integrales Moment meines Daseins, das Wort hobby wäre Hohn darauf. Umgekehrt ist meine Arbeit, die philosophische und soziologische Produktion und das Lehren an der Universität, mir bislang so glückvoll gewesen, daß ich sie nicht in jenen Gegensatz zur Freizeit zu bringen vermöchte, den die gängige messerscharfe Einteilung von den Menschen verlangt. Allerdings bin ich dessen mir bewußt, daß ich als Bevorzugter spreche, mit dem Maß an Zufälligkeit und Schuld, das darin liegt; als einer, der die seltene Chance hatte, seine Arbeit wesentlich nach den eigenen Intentionen auszusuchen und einzurichten. Nicht zuletzt drum steht vorweg das, was ich außerhalb der umzirkelten Arbeitszeit tue, nicht in striktem Gegensatz zu jener. Würde Freizeit wirklich einmal der Zustand, in dem, was einmal Vorrecht war, allen zugute kommt – und etwas
davon ist der bürgerlichen Gesellschaft im Vergleich zur feudalen gelungen –, so stellte ich sie mir nach dem Modell dessen vor, was ich an mir selbst beobachte, obwohl dies Modell in veränderten Verhältnissen seinerseits sich änderte. Unterstellt man einmal den Gedanken von Marx, in der bürgerlichen Gesellschaft sei die Arbeitskraft zur Ware geworden und deshalb Arbeit verdinglicht, so läuft der Ausdruck hobby auf das Paradoxon hinaus, daß jener Zustand, der sich als das Gegenteil von Verdinglichung, als Reservat unmittelbaren Lebens in einem gänzlich vermittelten Gesamtsystem versteht, seinerseits verdinglicht ward gleich der starren Grenze zwischen Arbeit und Freizeit. In dieser setzen sich die Formen des nach dem Profitsystem eingerichteten gesellschaftlichen Lebens fort. Schon ist die Ironie im Ausdruck Freizeitgeschäft so gründlich vergessen, wie man das show business seriös nimmt. Allbekannt, aber darum nicht weniger wahr, daß spezifische Freizeitphänomene wie der Tourismus und das Camping um des Profits willen angedreht und organisiert werden. Zugleich ist dem Bewußtsein und Unbewußtsein der Menschen der Unterschied von Arbeit und Freizeit als Norm eingebrannt worden. Weil, nach der herrschenden Arbeitsmoral, die von Arbeit freie Zeit die Arbeitskraft wiederherstellen soll, wird die der Arbeit ledige Zeit, gerade weil sie bloßes Anhängsel der Arbeit ist, mit puritanischem Eifer von dieser getrennt. Man stößt hier auf ein Verhaltensschema des bürgerlichen Charakters. Auf der einen Seite soll man bei der Arbeit konzentriert sein, nicht sich zerstreuen, keine Allotria treiben; darauf beruhte einst die Lohnarbeit, und ihre Gebote haben sich verinnerlicht. Andererseits soll die Freizeit, vermutlich damit man danach um so besser arbeiten kann, in nichts an die Arbeit erinnern. Das ist der Grund des Schwachsinns vieler Freizeitbeschäftigungen. Unter der Hand wird freilich die Kontrebande von Verhaltensweisen aus der Arbeit, welche die Menschen nicht losläßt, doch eingeschmuggelt. Auf dem Schulzeugnis des Kindes gab es früher Noten für Aufmerksamkeit. Dem entsprach die subjektiv vielleicht sogar wohlmeinende Sorge der Älteren, die Kinder möchten in der Freizeit nicht zu sehr sich anstrengen: nicht zuviel lesen, abends nicht zu lange das Licht brennen lassen. Insgeheim wittern Eltern dahinter eine Ungebärdigkeit des Geistes, oder auch eine Insistenz auf dem Vergnügen, die mit der rationellen Einteilung der Existenz
sich nicht verträgt. Ohnehin ist alles Gemischte, nicht eindeutig, säuberlich Unterschiedene dem herrschenden Geist verdächtig. Straffe Zweiteilung des Lebens preist jene Verdinglichung an, die unterdessen die Freizeit vollständig fast sich unterworfen hat. Man kann das an der Hobby-Ideologie einfach sich klarmachen. In der Selbstverständlichkeit der Frage, welches hobby man habe, klingt mit, daß man eines haben müsse; womöglich auch schon eine Auswahl zwischen hobbies, die übereinstimmt mit dem Angebot des Freizeitgeschäfts. Organisierte Freiheit ist zwangshaft: wehe, wenn du kein Hobby, keine Freizeitbeschäftigung hast; dann bist du ein Streber oder ein altmodischer Mensch, ein Unikum, und verfällst der Lächerlichkeit in der Gesellschaft, welche dir aufdrängt, was deine Freizeit sein soll. Solcher Zwang ist keineswegs nur einer von außen. Er knüpft an die Bedürfnisse der Menschen unter dem funktionalen System an. Camping – in der älteren Jugendbewegung liebte man zu kampieren – war Protest gegen bürgerliche Langeweile und Konvention. Man wollte heraus, im doppelten Sinn. Das Unter-freiem-Himmel-Nächtigen stand ein dafür, daß man dem Haus: der Familie entronnen sei. Dies Bedürfnis ist nach dem Tod der Jugendbewegung von der Campingindustrie aufgegriffen und institutionalisiert worden. Sie könnte die Menschen nicht dazu nötigen, Zelte und Wohnwagen samt ungezählten Hilfsutensilien ihr abzukaufen, verlangte nicht etwas in den Menschen danach; aber deren eigenes Bedürfnis nach Freiheit wird funktionalisiert, vom Geschäft erweitert reproduziert; was sie wollen, nochmals ihnen aufgenötigt. Deshalb gelingt die Integration der Freizeit so reibungslos; die Menschen merken nicht, wie sehr sie dort, wo sie am freiesten sich fühlen, Unfreie sind, weil die Regel solcher Unfreiheit von ihnen abstrahiert ward. Wird der Begriff der Freizeit, im Unterschied von der Arbeit, so strikt genommen, wie es zumindest einer älteren, heute vielleicht schon überholten Ideologie entspricht, so nimmt sie etwas Nichtiges – Hegel hätte gesagt: Abstraktes – an. Prototyp ist das Verhalten jener, die in der Sonne sich braun braten lassen, nur um der braunen Hautfarbe willen, und obwohl der Zustand des Dösens in der prallen Sonne keineswegs lustvoll ist, möglicherweise physisch unangenehm, gewiß die Menschen geistig inaktiv macht. Der Fetischcharakter der Ware ergreift in der Bräune der Haut, die ja im übrigen ganz hübsch sein kann, die Menschen selber; sie werden
sich zu Fetischen. Der Gedanke, daß ein Mädchen, dank seiner braunen Haut, erotisch besonders attraktiv sei, ist wahrscheinlich nur noch eine Rationalisierung. Bräune ist zum Selbstzweck geworden, wichtiger als der Flirt, zu dem sie vielleicht einmal verlocken sollte. Kommen Angestellte aus dem Urlaub zurück, ohne die obligate Farbe sich erworben zu haben, so dürfen sie dessen versichert sein, daß Kollegen spitz fragen: »Sind Sie denn gar nicht in Urlaub gewesen?« Der Fetischismus, der in der Freizeit gedeiht, unterliegt zusätzlicher sozialer Kontrolle. Daß die Kosmetikindustrie mit ihrer überwältigenden und unausweichlichen Reklame das Ihre dazu beiträgt, ist ebenso selbstverständlich, wie die willfährigen Menschen es verdrängen. Im Zustand des Dösens kulminiert ein entscheidendes Moment der Freizeit unter den gegenwärtigen Bedingungen: die Langeweile. Unersättlich ist denn auch der hämische Spott über die Wunder, welche Menschen von Ferienreisen und anderen freizeitlichen Ausnahmesituationen sich versprechen, während sie doch, auch hier, aus dem Immergleichen nicht herausgelangen; nicht länger ist es, wie noch für Baudelaires ennui, in weiter Ferne anders. Spott über die Opfer ist den Mechanismen, welche sie dazu machen, regelmäßig gesellt. Schopenhauer formulierte früh eine Theorie über die Langeweile. Seinem metaphysischen Pessimismus gemäß lehrt er, daß entweder die Menschen an der unerfüllten Begierde ihres blinden Willens leiden oder sich langweilen, sobald sie gestillt ist. Die Theorie beschreibt recht gut, was aus der Freizeit der Menschen unter jenen Bedingungen wird, die Kant solche von Heteronomie würde genannt haben und die man im Neudeutschen Fremdbestimmtheit zu nennen pflegt; auch das hochmütige Wort Schopenhauers von den Menschen als Fabrikware der Natur trifft in seinem Zynismus etwas von dem, wozu die Totalität des Warencharakters die Menschen tatsächlich macht. Der zornige Zynismus läßt ihnen immer noch mehr an Ehre widerfahren als weihevolle Beteuerungen, die Menschen hätten einen unverlierbaren Kern. Trotzdem ist die Schopenhauersche Lehre nicht zu hypostasieren, nicht als schlechthin gültig, womöglich als Urbeschaffenheit der Gattung Mensch zu betrachten. Langeweile ist Funktion des Lebens unterm Zwang zur Arbeit und unter der rigorosen Arbeitsteilung. Sie müßte nicht sein. Wann immer das Verhalten in der freien Zeit wahrhaft autonom, von freien Menschen
für sich selbst bestimmt ist, stellt Langeweile schwerlich sich ein; dort ebensowenig, wo sie ihrem Glücksverlangen ohne Versagung folgen, wie dort, wo ihre Tätigkeit in der freien Zeit selbst vernünftig als ein an sich Sinnvolles ist. Noch Blödeln braucht nicht stumpf zu sein, kann selig als Dispens von den Selbstkontrollen genossen werden. Vermöchten die Menschen über sich und ihr Leben zu entscheiden; wären sie nicht ins Immergleiche eingespannt, so müßten sie sich nicht langweilen. Langeweile ist der Reflex auf das objektive Grau. Ähnlich verhält es sich mit ihr wie mit der politischen Apathie. Deren triftigster Grund ist das keineswegs unberechtigte Gefühl der Massen, daß sie durch jene Teilnahme an der Politik, für welche die Gesellschaft ihnen Spielraum gewährt, an ihrem Dasein, und zwar in allen Systemen auf der Erde heute, wenig ändern können. Der Zusammenhang zwischen der Politik und ihren eigenen Interessen ist ihnen undurchsichtig, deshalb weichen sie vor der politischen Aktivität zurück. Eng gehört zur Langeweile das berechtigte oder neurotische Gefühl der Ohnmacht: Langeweile ist objektive Verzweiflung. Zugleich aber auch der Ausdruck von Deformationen, welche die gesellschaftliche Gesamtverfassung den Menschen widerfahren läßt. Die wichtigste ist wohl die Diffamierung der Phantasie und deren Schrumpfung. Phantasie wird ebenso als sexuelle Neugier und Verlangen nach Verbotenem beargwöhnt wie vom Geist einer Wissenschaft, die kein Geist mehr ist. Wer sich anpassen will, muß in steigendem Maß auf Phantasie verzichten. Meist kann er sie, verstümmelt von frühkindlicher Erfahrung, gar nicht erst ausbilden. Die gesellschaftlich eingepflanzte und anbefohlene Phantasielosigkeit macht die Menschen in ihrer Freizeit hilflos. Die unverschämte Frage, was denn das Volk mit der vielen Freizeit anfangen solle, die es nun habe – als ob sie ein Almosen wäre und kein Menschenrecht –, beruht darauf. Daß tatsächlich die Menschen mit ihrer freien Zeit so wenig anfangen können, liegt daran, daß ihnen vorweg schon abgeschnitten ist, was ihnen den Zustand der Freiheit lustvoll machte. So lange wurde er ihnen verweigert und verunglimpft, daß sie ihn schon gar nicht mehr mögen. Der Zerstreuung, wegen deren Flachheit sie vom Kulturkonservativismus begönnert oder geschmäht werden, bedürfen sie, um in der Arbeitszeit die Anspannung aufzubringen, welche die vom Kulturkonservativismus verteidigte Einrichtung der
Gesellschaft ihnen abverlangt. Nicht zuletzt dadurch sind sie an ihre Arbeit und an das System gekettet, das sie zur Arbeit dressiert, nachdem es dieser weitgehend bereits nicht mehr bedürfte. Unter den herrschenden Bedingungen wäre es abwegig und töricht, von den Menschen zu erwarten oder zu verlangen, daß sie in ihrer Freizeit etwas Produktives vollbrächten; denn eben Produktivität, die Fähigkeit zum nicht schon Dagewesenen, wird ihnen ausgetrieben. Was sie dann in der Freizeit allenfalls produzieren, ist kaum besser als das ominöse hobby, die Nachahmung von Gedichten oder Bildern, die, unter der schwer widerruflichen Arbeitsteilung, andere besser herstellen können als die Freizeitler. Was sie schauen, hat etwas Überflüssiges. Diese Überflüssigkeit teilt sich der minderen Qualität des Hervorgebrachten mit, die wieder die Freude daran vergällt. Auch die überflüssige und sinnlose Tätigkeit in der Freizeit ist gesellschaftlich integriert. Abermals spielt ein gesellschaftliches Bedürfnis mit. Gewisse Formen der Dienstleistungen, insbesondere die von Hausangestellten, streben aus, die Nachfrage ist außer Verhältnis zum Angebot. In Amerika können nur noch wirklich Wohlhabende Dienstmädchen sich halten, Europa folgt rasch nach. Das veranlaßt viele Menschen, subalterne Tätigkeiten auszuüben, die früher delegiert waren. Daran knüpft die Parole »Do it yourself«, tue es selbst, als praktischer Rat an; allerdings auch an den Überdruß, den die Menschen vor einer Mechanisierung empfinden, die sie entlastet, ohne daß sie – und nicht diese Tatsache ist zu bestreiten, nur ihre gängige Interpretation – Verwendung hätten für die gewonnene Zeit. Deshalb werden sie, wiederum im Interesse von Spezialindustrien, dazu animiert, das selbst zu tun, was andere besser und einfacher für sie tun könnten und was sie zutiefst ihrerseits eben darum verachten müssen. Im übrigen gehört es zu einer sehr alten Schicht des bürgerlichen Bewußtseins, daß man das Geld, das man in der arbeitsteiligen Gesellschaft für Dienstleistungen ausgibt, sparen könne, aus sturem Eigeninteresse blind dagegen, daß das ganze Getriebe sich nur durch den Tausch spezialisierter Fertigkeiten am Leben erhält. Wilhelm Tell, das abscheuliche Urbild einer knorrigen Persönlichkeit, verkündet, daß die Axt im Haus den Zimmermann erspart, wie denn aus Schillers Maximen eine ganze Ontologie des bürgerlichen Bewußtseins sich kompilieren ließe.
Das Do it yourself, ein zeitgemäßer Typus des Verhaltens in der Freizeit, fällt jedoch in einen weit umfassenderen Zusammenhang. Ich habe ihn schon vor mehr als dreißig Jahren als Pseudo-Aktivität bezeichnet. Seitdem hat Pseudo-Aktivität erschreckend sich ausgebreitet, auch und gerade unter solchen, die sich als Protestierende gegen die Gesellschaft fühlen. Man wird allgemein in der Pseudo-Aktivität ein zurückgestautes Bedürfnis nach Änderung der versteinerten Verhältnisse vermuten dürfen. Pseudo-Aktivität ist fehlgeleitete Spontaneität. Fehlgeleitet aber nicht zufällig, sondern weil die Menschen dumpf ahnen, wie schwer sie ändern könnten, was auf ihnen lastet. Lieber lassen sie in scheinhafte, illusionäre Betätigungen, in institutionalisierte Ersatzbefriedigungen sich abdrängen, als dem Bewußtsein sich zu stellen, wie versperrt die Möglichkeit heute ist. Die Pseudo-Aktivitäten sind Fiktionen und Parodien jener Produktivität, welche die Gesellschaft auf der einen Seite unablässig fordert, auf der anderen fesselt und in den Einzelnen gar nicht so sehr wünscht. Produktive Freizeit wäre möglich erst mündigen Menschen, nicht solchen, die unter der Heteronomie auch für sich selber heteronom geworden sind. Freizeit steht indessen nicht nur im Gegensatz zur Arbeit. In einem System, wo Vollbeschäftigung an sich zum Ideal geworden ist, setzt Freizeit schattenhaft die Arbeit unmittelbar fort. Noch fehlt es an einer eindringenden Soziologie des Sports, zumal der Sportzuschauer. Immerhin leuchtet die Hypothese, neben anderen, ein, daß durch die Anstrengungen, welche der Sport zumutet, durch die Funktionalisierung des Körpers im team, die gerade in den beliebtesten Sportarten sich vollzieht, die Menschen sich, ohne es zu wissen, einschulen auf die Verhaltensweisen, die, mehr oder minder sublimiert, im Arbeitsprozeß von ihnen erwartet werden. Die alte Begründung, man betreibe Sport, um fit zu bleiben, ist unwahr nur, weil sie die fitness als eigenständiges Ziel ausgibt; fitness für die Arbeit indessen ist wohl einer der geheimen Zwecke des Sports. Vielfach wird man im Sport erst sich selber einmal antun, und dann als Triumph der eigenen Freiheit genießen, was man sich unter gesellschaftlichem Druck antun und sich schmackhaft machen muß. Lassen Sie mich noch ein Wort sagen über das Verhältnis von Freizeit und Kulturindustrie. Über diese als Mittel von Beherrschung und Integration ist, seitdem Horkheimer und ich vor mehr als zwanzig Jahren den Begriff einführten, so viel geschrieben
worden, daß ich ein spezifisches Problem herausgreifen möchte, das wir damals nicht übersehen konnten. Der Ideologiekritiker, der mit der Kulturindustrie sich abgibt, wird, ausgehend davon, daß die Standards der Kulturindustrie die eingefrorenen der alten Unterhaltung und niederen Kunst sind, zur Ansicht neigen, die Kulturindustrie beherrsche und kontrolliere tatsächlich und durchaus das Bewußtsein und Unbewußtsein derer, an die sie sich richtet und von deren Geschmack aus der liberalen Ära sie herstammt. Ohnehin ist Grund zur Annahme, daß die Produktion den Konsum wie im materiellen Lebensprozeß so auch im geistigen reguliert, zumal dort, wo sie so sehr der materiellen sich angenähert hat wie in der Kulturindustrie. Man sollte also meinen, die Kulturindustrie und ihre Konsumenten seien einander adäquat. Da aber unterdessen die Kulturindustrie total wurde, Phänomen des Immergleichen, von dem die Menschen temporär abzulenken sie verspricht, ist daran zu zweifeln, ob die Gleichung von Kulturindustrie und Konsumentenbewußtsein aufgehe. Vor ein paar Jahren haben wir im Frankfurter Institut für Sozialforschung eine Studie durchgeführt, welche diesem Problem gewidmet war. Leider mußte die Auswertung des Materials hinter dringlicheren Aufgaben zurückstehen. Immerhin läßt dessen unverbindliche Durchsicht einiges erkennen, was für das sogenannte Freizeitproblem relevant sein mag. Die Studie schloß sich an die Hochzeit der niederländischen Prinzessin Beatrix mit dem deutschen Jungdiplomaten Claus von Amsberg an. Ausgemacht sollte werden, wie die deutsche Bevölkerung auf jene Hochzeit reagierte, die, von allen Massenmedien ausgestrahlt und in den illustrierten Zeitungen endlos breitgetreten, in der Freizeit konsumiert wurde. Da die Art der Präsentation ebenso wie die Artikel, die man über das Ereignis schrieb, ihm ungewöhnliche Wichtigkeit beimaßen, erwarteten wir, daß es auch Zuschauer und Leser ebenso wichtig nähmen. Wir glaubten insbesondere, daß die heute bezeichnende Ideologie der Personalisierung wirksam werde, die darin besteht, daß man, offenbar als Kompensation der Funktionalisierung der Wirklichkeit, Einzelpersonen und private Beziehungen gegenüber dem gesellschaftlich tatsächlich Maßgebenden maßlos überschätzt. Mit aller Vorsicht möchte ich sagen, daß derlei Erwartungen zu simpel waren. Die Studie bietet geradezu einen Schulfall dafür, was kritisch-theoretisches Denken von der empirischen Sozialforschung
lernen, wie es an ihr sich berichtigen kann. Symptome eines gedoppelten Bewußtseins zeichnen sich ab. Einerseits wurde das Ereignis genossen als ein Jetzt und Hier, wie es das Leben den Menschen sonst vorenthält; es sollte, mit einem beliebten Cliché der neudeutschen Sprache, »einmalig« sein. Soweit fügte die Reaktion der Betrachter dem bekannten Schema sich ein, das auch die aktuelle und womöglich politische Neuigkeit auf dem Weg über die Information in ein Konsumgut verwandelt. Wir hatten aber in unserem Interviewschema die auf unmittelbare Reaktionen zielenden Fragen zur Kontrolle durch solche ergänzt, die darauf gingen, welche politische Bedeutung nun die Befragten dem hochgespielten Ereignis beimaßen. Dabei zeigte sich, daß viele – die Repräsentanz mag auf sich beruhen – plötzlich sich ganz realistisch verhielten und die politische und gesellschaftliche Wichtigkeit desselben Ereignisses, das sie in seiner wohlpublizierten Einmaligkeit atemlos am Fernsehschirm bestaunt hatten, kritisch einschätzten. Was also die Kulturindustrie den Menschen in ihrer Freizeit vorsetzt, das wird, wenn meine Folgerung nicht zu voreilig ist, zwar konsumiert und akzeptiert, aber mit einer Art von Vorbehalt, ähnlich wie auch Naive Theaterereignisse oder Filme nicht einfach als wirklich hinnehmen. Mehr noch vielleicht: es wird nicht ganz daran geglaubt. Die Integration von Bewußtsein und Freizeit ist offenbar doch noch nicht ganz gelungen. Die realen Interessen der Einzelnen sind immer noch stark genug, um, in Grenzen, der totalen Erfassung zu widerstehen. Das würde zusammenstimmen mit der gesellschaftlichen Prognose, daß eine Gesellschaft, deren tragende Widersprüche ungemindert fortbestehen, auch im Bewußtsein nicht total integriert werden kann. Es geht nicht glatt, gerade in der Freizeit nicht, die die Menschen zwar erfaßt, aber ihrem eigenen Begriff nach sie doch nicht gänzlich erfassen kann, ohne daß es den Menschen zuviel würde. Ich verzichte darauf, die Konsequenzen auszumalen; ich meine aber, daß darin eine Chance von Mündigkeit sichtbar wird, die schließlich einmal zu ihrem Teil helfen könnte, daß Freizeit in Freiheit umspringt.
Tabus über dem Lehrberuf Was ich Ihnen vortrage, ist lediglich eine Problemstellung; weder eine durchgebildete Theorie, zu der ich als Nicht-Fachpädagoge in keiner Weise legitimiert wäre, noch die Wiedergabe von verbindlichen empirischen Forschungsresultaten. Es wären an das, was ich sage, Erhebungen, insbesondere individuelle Fallstudien, auch und vor allem in psychoanalytischer Dimension, anzuschließen. Meine Bemerkungen taugen allenfalls dazu, einige Dimensionen der Abneigung gegen den Lehrberuf sichtbar zu machen, die für die allbekannte Nachwuchskrise eine nicht so manifeste, aber möglicherweise gerade deshalb erhebliche Rolle spielen. Dabei werde ich zugleich eine Reihe von Problemen wenigstens berühren, die mit dem Lehrberuf selbst und seiner Problematik etwas zu tun haben; beides läßt sich schwer voneinander trennen. Zunächst lassen Sie mich die Ausgangserfahrung nennen: daß ich gerade an den Begabtesten unter den akademischen Absolventen, die das Staatsexamen gemacht haben, starken Widerwillen beobachte gegen das, wozu dies Examen sie qualifiziert, und was man nach diesem Examen eigentlich von ihnen erwartet. Sie empfinden es als eine Art Zwang, Lehrer zu werden, dem sie sich nur als einer ultima ratio fügen. Ich habe immerhin Gelegenheit, einen nicht unerheblichen Querschnitt von solchen Absolventen zu sehen, und Veranlassung, anzunehmen, daß er keine negative Selektion darstellt. Viele der Motive jener Abneigung sind rational und Ihnen so gegenwärtig, daß ich nicht darauf einzugehen brauche. So vor allem Antipathie gegen das Reglementierte, das gesetzt ist durch die Entwicklung, die mein Freund Hellmut Becker als die zur verwalteten Schule bezeichnete. Auch materielle Motive spielen herein: die Vorstellung vom Lehrer als einem Hungerberuf erhält offenbar sich zäher, als die Realität ihr entspricht. Die Disproportion, die ich damit nenne, scheint mir, wenn ich das vorwegnehmen darf, bezeichnend für den gesamten Komplex, mit dem ich mich beschäftigen möchte: die subjektiven Motivationen der Abneigung gegen den Lehrberuf, und zwar wesentlich die
unbewußten. Das meine ich mit Tabus: unbewußte oder vorbewußte Vorstellungen der für diesen Beruf in Betracht Kommenden, aber auch der anderen, vor allem der Kinder selber, die etwas wie ein psychisches Verbot über diesen Beruf verhängen, das ihn Schwierigkeiten aussetzt, über die man sich selten recht klar wird. Ich gebrauche also den Tabubegriff einigermaßen streng, im Sinne des kollektiven Niederschlags von Vorstellungen, die, ähnlich wie die das Ökonomische betreffenden, die ich Ihnen nannte, ihre reale Basis in weitem Maß verloren haben, länger sogar als die ökonomischen, die sich aber, als psychologische und soziale Vorurteile, zäh erhalten und ihrerseits wieder in die Realität zurückwirken, reale Kräfte werden. Erlauben Sie mir, daß ich Ihnen einige triviale Belege dafür gebe. Liest man etwa Heiratsannoncen in den Zeitungen – das ist recht lehrreich –, so betonen die Inserenten, wofern sie Lehrer oder Lehrerinnen sind, sie seien keine Lehrertypen, keine Schulmeister. Sie werden kaum eine Heiratsannonce finden, die von einem Lehrer oder einer Lehrerin herrührt, ohne daß diese beruhigende Versicherung ihr beigesellt wäre. – Oder: nicht nur im Deutschen sondern auch in anderen Sprachen finden sich eine Reihe von herabsetzenden Ausdrücken für den Lehrberuf; im Deutschen der bekannteste wohl Pauker; vulgärer, und ebenfalls aus der Sphäre des Schlagzeugs stammend, Steißtrommler; englisch: schoolmarm für altjüngferliche, verdorrte, unfrohe und eingetrocknete Lehrerinnen. Unverkennbar besitzt der Lehrberuf, verglichen mit anderen akademischen Berufen wie dem des Juristen oder des Mediziners, ein gewisses Aroma des gesellschaftlich nicht ganz Vollgenommenen. Überhaupt wird ja wohl in der Bevölkerung, und die Bildungs- und Hochschulsoziologie hat sich damit kaum hinreichend beschäftigt, zwischen eleganten und nicht eleganten Studienfächern unterschieden; zu den eleganten gehören Jurisprudenz und Medizin, ohne alle Frage nicht das Philologiestudium; in den philosophischen Fakultäten bildet offenbar eine Ausnahme die im Prestige hochrangierende Kunstgeschichte. Wenn ich recht berichtet bin – ich kann das nicht kontrollieren, weil ich keine direkten Beziehungen zu den einschlägigen Kreisen unterhalte –, so werden in einem sehr exklusiven Korps, angeblich dem heute exklusivsten, Philologen stillschweigend nicht aufgenommen. Der Lehrer wäre demnach,
gängiger Anschauung zufolge, zwar Akademiker, aber nicht eigentlich gesellschaftsfähig; fast könnte man sagen, jemand, der nicht als Herr betrachtet wird, so wie das Wort Herr im neudeutschen Jargon seinen besonderen Klang hat, der offenbar mit der angeblichen Gleichheit der Bildungschancen zusammenhängt. Merkwürdig komplementär dazu scheint das bis letzthin ungeminderte, auch statistisch bestätigte Prestige des Universitätsprofessors. Eine solche Ambivalenz: auf der einen Seite der Universitätsprofessor als der höchstangesehene Beruf, auf der anderen das leise Odium über dem Lehrberuf, deutet auf ein Tieferliegendes. In den gleichen Zusammenhang fällt, daß in Deutschland die Universitätslehrer den Oberlehrern oder, wie sie heute heißen, den Studienräten den Professorentitel gesperrt haben; in anderen Ländern, wie Frankreich, ist diese strenge Grenze nicht gezogen durch ein System, das kontinuierlichen Aufstieg ermöglicht. Ob das auch auf das Ansehen des Lehrberufs selbst und auf die psychologischen Aspekte, von denen ich rede, Einfluß hat, entzieht sich meiner Beurteilung. Diesen Symptomen hätten fraglos solche, die der Sache selbst näherstehen, andere und zwingendere hinzuzufügen. Fürs erste mögen sie als Basis für einige Spekulationen genügen. Ich sagte, die Vorstellung von der Armut des Lehrers sei überlebt; fortbesteht fraglos die Diskrepanz zwischen dem Anspruch des Geistes auf Status und Herrschaft, für den der Lehrer jedenfalls der Ideologie nach einsteht, und andererseits seiner materiellen Position. Diese Diskrepanz läßt den Geist nicht unberührt. Schopenhauer hat darauf gerade bei den Universitätslehrern hingewiesen. Er war der Ansicht, die Subalternität, die er an ihnen vor mehr als hundert Jahren konstatierte, stünde in Wesenszusammenhang mit ihrer schlechten Bezahlung. In Deutschland wurde, das muß man hinzufügen, der Anspruch des Geistes auf Status und Herrschaft, problematisch übrigens in sich selbst, nie befriedigt. Das dürfte von der Verspätung der bürgerlichen Entwicklung bedingt sein, dem langen Überleben des nicht gerade spirituellen deutschen Feudalismus, der den Typus des Hofmeisters als eines Bedienten hervorbrachte. Ich darf Ihnen in diesem Zusammenhang eine Geschichte erzählen, die mir charakteristisch erscheint. Sie trug in Frankfurt sich zu. In einer patrizischen und eleganten Gesellschaft kam die Rede auf Hölderlin und dessen Beziehung zu Diotima. Unter den Anwesenden befand
sich eine direkte Deszendentin der Familie Gontard, allerhöchsten Alters, überdies stocktaub; kein Mensch traute ihr zu, daß sie dem Gespräch zu folgen vermöchte. Unerwartet ergriff sie das Wort und sagte einen einzigen Satz, auf gut frankfurterisch: »Ja, ja, mer hat immer so'n Unmus mit dene Hauslehrer.« Sie hat noch in unserer Zeit, vor wenigen Dezennien, jene Liebesgeschichte unter dem Gesichtspunkt des Patriziats gesehen, das einen Hauslehrer als besseren Lakaien betrachtet, so wie damals bekanntlich Herr von Gontard Hölderlin gegenüber wörtlich sich äußerte. Im Sinne dieser imagerie ist der Lehrer ein Erbe des Scriba, des Schreibers. Seine Geringschätzung hat, wie ich andeutete, feudale Wurzeln und ist aus dem Mittelalter und der frühen Renaissance zu belegen; so etwa im Nibelungenlied Hagens Verachtung für den Kaplan als den Schwächling, der dann gerade der ist, der mit dem Leben davonkommt. Ritter, die so gelehrt sind, daß sie in den Büchern lesen, sind die Ausnahme; sonst hätte nicht Hartmann von Aue jener Fähigkeit eigens sich gerühmt. Hineinspielen mögen antike Erinnerungen an den Lehrer als Sklaven. Der Geist ist getrennt von physischer Gewalt. Er hatte zwar stets eine gewisse Funktion bei der Steuerung der Gesellschaft, wurde aber suspekt, wo immer der alte Vorrang der physischen Gewalt die Arbeitsteilung überlebte. Dies vorzeitliche Moment kommt permanent wieder empor. Man könnte die Geringschätzung der Lehrer, jedenfalls in Deutschland, vielleicht auch in den angelsächsischen Ländern, sicherlich in England, charakterisieren als das Ressentiment des Kriegsmanns, das dann durch einen endlosen Identifikationsmechanismus in der Bevölkerung sich durchsetzt. Kinder haben ja insgesamt eine starke Neigung sich zu identifizieren mit Soldatischem, wie man heute so schön sagt; ich erinnere daran, wie gerne sie als Cowboys sich kostümieren, welche Freude es ihnen bereitet, mit Schießprügeln herumzulaufen. Sie machen offensichtlich ontogenetisch noch einmal den phylogenetischen Prozeß durch, der die Menschen von der physischen Gewalt allmählich befreite; der gesamte, höchst ambivalente und affektiv besetzte Komplex der physischen Gewalt in einer Welt, in der sie unmittelbar nur in den sattsam bekannten Grenzsituationen ausgeübt wird, spielt hier seine entscheidende Rolle. Berühmt ist die Anekdote von dem Condottiere Georg von Frundsberg, der auf dem Wormser Reichstag Luther auf die Schulter
klopfte und ihm sagte: »Mönchlein, Mönchlein, du gehst nun einen gefährlichen Gang«; ein Verhalten, in dem sich der Respekt vor der Unabhängigkeit des Geistes mit der leichten Verachtung dessen, der keine Waffen trägt und im nächsten Augenblick von Sbirren abgeführt werden kann, vermischt. Analphabeten halten aus Rancune die Unterrichteten für geringe Leute, sobald diese ihnen irgend mit Autorität gegenübertreten, ohne selbst, wie etwa der hohe Klerus, einen beträchtlichen sozialen Rang einzunehmen und soziale Macht auszuüben. Der Lehrer ist der Erbe des Mönchs; das Odium oder die Doppeldeutigkeit, die dem Mönchsberuf eignete, geht auf ihn über, nachdem der Mönch weithin seine Funktion verlor. Die Ambivalenz dem Wissenden gegenüber ist archaisch. Wahrhaft mythisch die großartige Geschichte Kafkas von dem Landarzt, der, nachdem er dem falschen Ruf der Nachtglocke folgte, zum Opfer wird; bekannt aus der Ethnologie, daß der Medizinmann oder Häuptling ebenso seine Ehren genießt, wie er in bestimmten Situationen umgebracht, geopfert werden kann. Sie könnten fragen, wieso archaisches Tabu und archaische Ambivalenz gerade auf die Lehrer überging, während andere geistige Berufe davon frei blieben. Zu erklären, warum etwas nicht der Fall sei, ist stets mit großen erkenntnistheoretischen Schwierigkeiten verknüpft. Ich möchte einzig eine common-sense-Erwägung dazu mitteilen. Juristen und Ärzte, ebenfalls geistige Berufe, unterstehen nicht jenem Tabu. Es sind aber heute freie Berufe. Sie unterliegen dem Konkurrenzmechanismus; zwar mit materiell besseren Chancen, dafür aber nicht in eine Beamtenhierarchie vermauert und gesichert, und solcher Unbeengtheit wegen höher eingeschätzt. Es deutet sich da ein sozialer Gegensatz an, der möglicherweise viel weiter reicht; ein Bruch in der bürgerlichen Schicht selber, wenigstens im Kleinbürgertum, zwischen den Freien, die mehr verdienen, deren Einkommen aber nicht garantiert ist, und die eines gewissen Airs von Kühnheit, von Ritterlichkeit sich erfreuen mögen, und andererseits den pensionsberechtigten Festangestellten und Beamten, die man zwar wegen ihrer Sekurität beneidet, jedoch als Amts- und Bürohengste, mit festen Arbeitszeiten und Leben nach der Ochsentour, über die Achsel ansieht. Dagegen wiederum ist an Richter und Verwaltungsbeamte einige reale Macht delegiert, während man die der Lehrer als eine über solche, die nicht als voll gleichberechtigte Rechtssubjekte gelten, nämlich Kinder, im
öffentlichen Bewußtsein wahrscheinlich nicht ernst nimmt. Die Macht des Lehrers wird verübelt, weil sie die wirkliche Macht nur parodiert, die bewundert wird. Ausdrücke wie Schultyrann erinnern daran, daß der Typus von Lehrer, den sie festnageln, sowohl irrational despotisch sei wie nur das Zerrbild von Despotie, weil er ja nicht mehr anrichten kann, als irgendwelche armen Kinder, seine Opfer, einen Nachmittag lang einsperren. Das Reversbild jener Ambivalenz ist die magische Verehrung, die die Lehrer in manchen Ländern, wie einst in China, und bei manchen Gruppen, wie bei den frommen Juden, genossen. Der magische Aspekt des Verhältnisses zu den Lehrern scheint stärker zu sein überall dort, wo der Lehrberuf mit religiöser Autorität verbunden ist, während die negative Besetzung mit dem Verfall solcher Autorität anwächst. Bezeichnend, daß die Lehrer, die in Deutschland am meisten Ansehen genießen, nämlich eben die akademischen, in praxi nur höchst selten disziplinäre Funktionen ausüben, und daß sie wenigstens der Idee und der öffentlichen Vorstellung nach produktiv forschen, also nicht in dem als sekundär und, wie ich sagte, als scheinhaft verdächtigen pädagogischen Bereich fixiert sind. Das Problem der immanenten Unwahrheit der Pädagogik ist wohl, daß die Sache, die man betreibt, auf die Rezipierenden zugeschnitten wird, keine rein sachliche Arbeit um der Sache willen ist. Diese wird vielmehr pädagogisiert. Dadurch allein schon dürften die Kinder unbewußt sich betrogen fühlen. Nicht bloß gehen die Lehrer rezeptiv etwas bereits Etabliertes wieder, sondern ihre Mittlerfunktion als solche, wie alle Zirkulationstätigkeiten vorweg gesellschaftlich ein wenig suspekt, zieht etwas von allgemeiner Abneigung auf sich. Max Scheler sagte einmal, er habe pädagogisch nur deshalb gewirkt, weil er niemals seine Studenten pädagogisch behandelt habe. Wenn mir die persönliche Bemerkung gestattet ist, so kann ich das aus meiner Erfahrung sehr bestätigen. Erfolg als akademischer Lehrer verdankt man offenbar der Abwesenheit einer jeden Berechnung auf Einflußnahme, dem Verzicht aufs Überreden. Heute tritt mit der sich ankündigenden Versachlichung des Lehrberufs in diesem Betracht ein gewisser Umschwung ein. Spürbar ist auch eine Strukturveränderung im Verhältnis zu dem Universitätsprofessor. So wie längst in Amerika, wo derlei Prozesse viel krasser verlaufen als hierzulande, wird der Professor allmählich,
aber ich würde denken: unaufhaltsam zum Verkäufer von Kenntnissen, ein wenig bemitleidet, weil er jene Kenntnisse nicht besser für sein eigenes materielles Interesse zu verwerten vermag. Darin liegt fraglos gegenüber der Vorstellung vom Lehrer als dem lieben Gott, wie er noch in den Buddenbrooks vorkommt, ein Fortschritt von Aufklärung; zugleich aber wird der Geist durch solche Zweckrationalität auf den Tauschwert reduziert, und das ist so problematisch wie aller Fortschritt inmitten des Bestehenden. Ich sprach von der disziplinären Funktion. Damit komme ich, wenn ich mich nicht täusche, zum Zentralen, muß aber wiederholen, daß es sich um hypothetische Erwägungen, nicht um Forschungsergebnisse handelt. Hinter der negativen imago des Lehrers steht die des Prüglers, ein Wort übrigens, das ebenfalls bei Kafka, im ›Prozeß‹, vorkommt. Ich halte diesen Komplex auch nach dem Verbot körperlicher Züchtigung für maßgebend mit Rücksicht auf die Tabus über dem Lehrberuf. Den Lehrer präsentiert diese imago als den physisch Stärkeren, der den Schwächeren schlägt. In jener Funktion, die ihm noch zugeschrieben wird, nachdem sie offiziell abgeschafft ist, während sie freilich in manchen Landesteilen als Ewigkeitswert und echte Bindung sich erhält, vergeht sich der Lehrer gegen einen alten, unbewußt sich forterbenden, sicherlich von bürgerlichen Kindern bewahrten Ehrenkodex. Er ist sozusagen nicht fair, kein guter Sport. Von solcher unfairness hat – und das kann jeder Lehrende, auch der Universitätslehrer spüren – etwas auch der Vorsprung des Wissens vor dem seiner Schüler, den er geltend macht, ohne daß er ein Recht dazu hätte, weil ja der Vorsprung selbst von seiner Funktion untrennbar ist, während er ihm stets wieder eine Autorität verleiht, von der abzusehen ihm schwer wird. Unfairness steckt, wenn ich in diesem Zusammenhang den Ausdruck Ontologie ausnahmsweise einmal verwenden darf, gleichsam in der Ontologie des Lehrers. Wer zur Selbstbesinnung fähig ist, stößt darauf, sobald er sich überlegt, daß er als Lehrer, etwa als akademischer, auf dem Katheder die Möglichkeit hat, das Wort zu längeren Ausführungen zu ergreifen, ohne daß ihm einer widerspricht. Zu dieser Situation paßt ironisch, daß man, wenn man dann den Studenten Gelegenheit gibt, Fragen zu stellen, und versucht, den Vorlesungsbetrieb dem Seminar anzunähern, dabei selbst heute im allgemeinen wenig Gegenliebe findet, vielmehr die Studenten in großen Kollegs den
dogmatischen Lehrvortrag zu wünschen scheinen. Zur unfairness zwingt den Lehrer aber nicht nur bis zu einem gewissen Grad sein Beruf: daß er mehr weiß, den Vorsprung hat, ihn nicht verleugnen kann. Sondern er wird dazu, und das halte ich für wesentlicher, von der Gesellschaft gezwungen. Wie sie nach wie vor im Grunde auf physischer Gewalt beruht: ihre Ordnungen, wenn es hart auf hart geht, nur durch physische Gewalt durchzusetzen vermag, sei diese Möglichkeit im vorgeblich normalen Leben noch so entfernt, so kann sie die Leistung der sogenannten zivilisatorischen Integration, welche die Erziehung nach allgemeiner Doktrin besorgen soll, bis heute und unter den herrschenden Verhältnissen nur mit dem Potential physischer Gewalt vollbringen. Diese physische Gewalt wird von der Gesellschaft delegiert und zugleich in den Delegierten verleugnet. Die, welche sie ausüben, sind Sündenböcke für die, welche die Anordnung treffen. Das negativ besetzte Urbild – und ich spreche von einer imagerie, von unbewußt wirksamen Vorstellungen, nicht oder nur rudimentär von einer Realität –: das Urbild jener imagerie ist der Kerkermeister, mehr noch vielleicht der Unteroffizier. Ich weiß nicht, wieweit es den Tatsachen entspricht, daß im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert ausgediente Soldaten als Volksschullehrer bestellt wurden. Jedenfalls ist diese Populärvorstellung für die imago des Lehrers ungemein charakteristisch. Soldatisch klingt jenes Wort Steißtrommler; unbewußt werden Lehrer vielleicht wie jene Veteranen als eine Art von Krüppeln vorgestellt, als Menschen, die innerhalb des eigentlichen Lebens, des realen Reproduktionsprozesses der Gesellschaft keine Funktion haben, sondern nur auf eine schwer durchsichtige Weise und auf dem Weg ihnen erwiesener Gnade dazu beitragen, daß das Ganze und ihr eigenes Leben irgendwie weitergehe. Wer daher gegen die Prügelstrafe ist, vertritt, um jener imagerie willen, das Interesse des Lehrers mindestens ebensosehr wie das des Schülers. Eine Änderung des gesamten Komplexes, von dem ich rede, ist nur dann zu erwarten, wenn das Prügeln bis in die letzte Erinnerungsspur hinein aus den Schulen verschwunden ist, so wie es in weitem Maße in Amerika der Fall sein dürfte. Für die innere Zusammensetzung jenes Komplexes scheint mir wesentlich, daß die physische Gewalt, deren eine auf Herrschaft basierende Gesellschaft bedarf, zugleich von ihr, soweit sie sich als
bürgerlich-liberal auslegt, um keinen Preis eingestanden wird. Das bewirkt ebenso die Delegation der Gewalt – ein Herr prügelt nicht – wie dann die Verachtung des Lehrers, der tut, ohne was man nicht auskommt, wovon man zutiefst weiß, daß es das Böse ist, und das man doppelt abwertet, weil man selber dahinter steht, während man sich zu gut dazu ist, es unmittelbar zu begehen. Meine Hypothese ist, daß die unbewußte imago des Prüglers über die Vorstellungen vom Lehrer weit über Prügelpraktiken hinaus entscheidet. Hätte ich empirische Untersuchungen über den Komplex des Lehrers anzuregen, dann wäre das die erste, die mich interessierte. Im Bild des Lehrers wiederholt sich, sei's noch so abgeschwächt, etwas vom affektiv höchst besetzten Bild des Henkers. Daß diese imagerie es fertigbringt, den Glauben zu befestigen, der Lehrer sei kein Herr, sondern ein prügelnder Schwächling oder ein Mönch ohne Numinosum, zeigt sich drastisch in der erotischen Dimension. Einerseits zählt er erotisch nicht recht, andererseits spielt er, etwa beim schwärmenden teenager, eine große libidinöse Rolle. Aber meist nur als unerreichbares Objekt; es genügt bereits, daß man an ihm leise Regungen von Sympathie bemerkt, um ihn als ungerecht zu diffamieren. Die Unerreichbarkeit gesellt sich der Vorstellung eines aus der erotischen Sphäre tendenziell ausgeschlossenen Wesens. Psychoanalytisch läuft diese imagerie des Lehrers auf Kastration hinaus. Ein Lehrer, der sich etwa, wie es einmal in meiner Kindheit ein sehr humaner tat, elegant kleidet, weil er wohlhabend ist, oder auch nur aus Akademikereinbildung sich ein wenig auffallend trägt, verfällt sogleich der Lächerlichkeit. Schwer zu unterscheiden, wieweit solche spezifischen Tabus wirklich bloß psychologischer Art sind, oder ob noch immer die Praxis, die Idee des Lehrers mit dem untadeligen Leben als Vorbild für Unreife ihn wirklich zu mehr an erotischer Askese nötigt, als in vielen anderen Berufen, etwa dem des Vertreters, um nur einen zu nennen, zugemutet wird. In den Romanen und Stücken aus der Zeit um 1900, welche die Schule kritisieren, erscheinen die Lehrer vielfach als erotisch besonders repressiv, so bei Wedekind; als verkrüppelt gerade auch als Geschlechtswesen. Dies Bild des quasi Kastrierten, wenigstens erotisch Neutralisierten, nicht frei Entwickelten; das von Menschen, die in der erotischen Konkurrenz nicht zählen, deckt sich mit der wirklichen oder vermeintlichen Infantilität des Lehrers. Ich möchte hinweisen auf den sehr bedeutenden Roman ›Professor
Unrat‹ von Heinrich Mann, den die meisten wahrscheinlich nur durch seine Verkitschung in dem Film ›Der blaue Engel‹ kennen. Der Schultyrann, dessen Sturz den Inhalt des Romans bildet, ist in dem Roman nicht, wie in dem Film, mit dem ominösen goldenen Humor verklärt. Er verhält sich tatsächlich der Dirne, der von ihm so genannten Künstlerin Fröhlich gegenüber genauso wie seine Gymnasiasten. Er gleicht ihnen, wie Heinrich Mann an einer Stelle ausdrücklich sagt, seinem ganzen seelischen Horizont und seiner Reaktionsform nach: ist eigentlich selber ein Kind. Die Mißachtung des Lehrers hätte demnach auch den Aspekt, daß man ihn, weil er in eine Kinderwelt eingespannt ist, die entweder ohnehin die seine ist oder der er sich anpaßt, nicht ganz als Erwachsenen betrachtet, während er ein Erwachsener ist und seine Ansprüche aus seinem Erwachsensein ableitet. Seine täppische Würde wird weithin als unzulängliche Kompensation dieser Diskrepanz erfahren. All das ist nur die für den Lehrer spezifische Gestalt eines Phänomens, das in seiner Allgemeinheit der Soziologie bekannt ist unter dem Namen der déformation professionnelle. In der imago des Lehrers wird aber die déformation professionnelle geradezu die Definition des Berufes selbst. Man hat mir in meiner Jugend die Anekdote von einem Gymnasialprofessor aus einem Prager Gymnasium erzählt, der gesagt haben soll: »Also, um ein Beispiel aus dem täglichen Leben zu nehmen: der Feldherr erobert die Stadt.« Mit dem täglichen Leben gemeint ist das der Schule, wo immerzu im Lateinunterricht, in den Paradigmata, Mustersätze dieses Schlages, wie daß der Feldherr die Stadt erobert, vorkommen. Das Schulische, das gerade jetzt erneut so vielfach zitiert und fetischisiert wird, als wäre es ein Werthaftes, Ansichseiendes, setzt sich anstelle der Realität, die es durch organisatorische Veranstaltungen sorgfältig von sich weghält. Das Infantile des Lehrers zeigt sich darin, daß er den Mikrokosmos der Schule, der gegen die Gesellschaft der Erwachsenen mehr oder minder abgedichtet ist – Elternbeiräte und ähnliches sind verzweifelte Versuche, diese Abdichtung zu durchbrechen –, daß er die ummauerte Scheinwelt mit der Realität verwechselt. Nicht zuletzt darum verteidigt die Schule so hartnäckig ihre Wälle. Vielfach werden Lehrer unter den gleichen Kategorien gesehen wie der unglückliche Held einer Tragikomödie aus dem Naturalismus; man könnte mit Rücksicht auf sie von einem
Traumulus-Komplex reden. Sie stehen im permanenten Verdacht der sogenannten Weltfremdheit. Vermutlich sind sie nicht weltfremder als etwa die Richter, denen es Karl Kraus in seinen Analysen von Sittlichkeitsprozessen nachwies. Im Cliché weltfremd verschmelzen infantile Züge mancher Lehrer mit solchen vieler Schüler. Infantil ist deren überwertiger Realismus. Sie meinen dadurch, daß sie erfolgreicher dem Realitätsprinzip sich anpassen, als der Lehrer es kann, der stets Über-Ich-Ideale verkünden und verkörpern muß, das auszugleichen, was sie als ihr eigenes Manko empfinden, eben nämlich, daß sie noch keine selbständigen Subjekte sind. Deswegen wohl sind bei den Schülern fußballspielende oder trinkfeste Lehrer, die ihrem Wunschbild von Weltlichkeit entsprechen, so beliebt; in meiner Gymnasialzeit erfreuten sich solche besonderer Sympathie, die zu Recht oder Unrecht für ehemals Korporierte galten. Eine Art von Antinomie waltet: Lehrer und Schüler tun sich gegenseitig Unrecht an, wenn jener von Ewigkeitswerten schwafelt, die im allgemeinen keine sind, und die Schüler zur Antwort darauf zur schwachsinnigen Verehrung der Beatles sich entschließen. In derlei Zusammenhängen wird man die Rolle der Eigenheiten der Lehrer zu sehen haben, die in so weitem Maß Angriffspunkte der Rancune der Schüler bilden. Der Zivilisationsprozeß, dessen Agenten die Lehrer sind, läuft nicht zuletzt auf Nivellierung hinaus. Er will den Schülern jene ungeformte Natur austreiben, welche als unterdrückte in den Eigenheiten, Sprechmanierismen, Erstarrungssymptomen, Verkrampfungen und Ungeschicklichkeiten der Lehrer wiederkehrt. Schüler, die am Lehrer beobachten, wogegen ihrem Instinkt nach der ganze schmerzhafte Erziehungsprozeß sich richtet, triumphieren. Das beinhaltet allerdings Kritik am Erziehungsprozeß selbst, der in dieser Kultur bis heute im allgemeinen mißlingt. Dies Mißlingen wird bezeugt auch von der doppelten Hierarchie, die sich innerhalb der Schule beobachten läßt: der offiziellen, nach Geist, Leistung, Noten und einer latenten, inoffiziellen, in der physische Kraft, »ein Kerl sein«, auch gewisse praktisch-geistige Fähigkeiten, die von der offiziellen Hierarchie nicht honoriert werden, ihre Rolle spielen. Jene doppelte Hierarchie hat der Nationalsozialismus, übrigens keineswegs nur in der Schule, ausgebeutet, indem er die zweite gegen die erste aufhetzte, so wie in der großen Politik die Partei gegen den Staat.
Der latenten Hierarchie in der Schule wäre von der pädagogischen Forschung besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Die Widerstände der Kinder und der Jugendlichen, in der zweiten Hierarchie gleichsam institutionalisiert, wurden ihnen gewiß zum Teil von den Eltern übermacht. Viele basieren auf ererbten Stereotypen; aber manche liegen, wie ich zu entwickeln suchte, in der objektiven Situation des Lehrers. Hinzu tritt etwas Wesentliches, der Psychoanalyse Vertrautes. In der Bewältigung des Ödipuskomplexes, der Ablösung von dem Vater und der Verinnerlichung des Vaterbildes, bemerken die Kinder, daß die Eltern dem Ich- das sie ihnen übermitteln, selbst nicht entsprechen. In den Lehrern tritt ihnen zum zweiten Mal das Ich-Ideal, womöglich klarer, entgegen, und sie hoffen, mit ihnen sich identifizieren zu können. Das ist ihnen aus vielen Gründen abermals nicht möglich, vor allem deshalb, weil die Lehrer selbst in besonderem Maß Produkt eben des Konformitätszwangs sind, gegen den das Ich-Ideal des noch nicht kompromißbereiten Kindes sich richtet. Auch Lehrer ist ein bürgerlicher Beruf; verleugnen wird das nur der verlogene Idealismus. Der Lehrer ist nicht der unverstümmelte Mensch, den, sei's noch so vag, die Kinder erwarten, sondern jemand, der sich unvermeidlich unter allen möglichen anderen Berufschancen und Berufstypen auf den seinen eingeschränkt, auf ihn als Fachmensch konzentriert hat, eigentlich schon a priori Gegenteil dessen, was das Unbewußte von ihm erhofft: daß gerade er kein Fachmensch sei, während er es doch erst recht sein muß. Die idiosynkratische Empfindlichkeit der Kinder gegen Eigenheiten der Lehrer, die vermutlich über alles hinausgeht, was man sich als Erwachsener vorstellt, stammt daher, daß die Eigenheit das Ideal eines im emphatischen Sinn normalen, richtigen Menschen desavouiert, mit dem die Kinder primär an die Lehrer herangehen, selbst wenn sie schon durch Erfahrungen gewitzigt, durch Clichés verhärtet sind. Dazu kommt ein soziales Moment, das fast unaufhebbare Spannungen bedingt. Das Kind wird, oft übrigens bereits im Kindergarten, aus der primary community, aus unmittelbaren, hegenden, warmen Verhältnissen herausgerissen und erfährt an der Schule jäh, schockhaft zum ersten Mal Entfremdung; die Schule ist für die Entwicklung des Einzelmenschen fast der Prototyp gesellschaftlicher Entfremdung überhaupt. Die altbürgerliche Sitte,
daß der Lehrer am ersten Tag seine Zöglinge mit Brezeln beschenkt, verrät die Ahnung davon: sie sollte den Schock mildern. Agent dieser Entfremdung ist die Lehrerautorität und die negative Besetzung der imago des Lehrers die Antwort darauf. Die Zivilisation, die er ihnen antut, die Versagungen, die er ihnen zumutet, mobilisieren in den Kindern automatisch die imagines des Lehrers, die im Lauf der Geschichte sich angehäuft haben und die, wie aller Unrat, der im Unbewußten fortwest, nach den Bedürfnissen der psychischen Ökonomie wieder erweckt werden können. Es ist darum so verzweifelt schwer für die Lehrer, es recht zu machen, weil ihr Beruf ihnen die in den meisten anderen Berufen mögliche Trennung ihrer objektiven Arbeit – und ihre Arbeit an lebendigen Menschen ist genauso objektive Arbeit wie die darin analoge des Arztes – vom persönlichen Affekt verwehrt. Denn ihre Arbeit vollzieht sich in der Form einer unmittelbaren Beziehung, eines Gib und Nimm, der sie doch unterm Bann ihrer höchst mittelbaren Zwecke nie gerecht werden kann. Prinzipiell bleibt, was in der Schule geschieht, weit hinter dem leidenschaftlich Erwarteten zurück. Insofern ist der Lehrberuf selbst archaisch zurückgeblieben hinter der Zivilisation, die er vertritt; vielleicht werden ihn die Lehrmaschinen von einem menschlichen Anspruch dispensieren, den zu erfüllen ihm verwehrt ist. Solcher Archaismus, der dem Beruf des Lehrers als solchem zukommt, befördert nicht nur die Archaismen der Lehrersymbole, sondern erweckt auch diese Archaismen im Verhalten der Lehrer selbst, in Keifen, Querulieren, Schelten und dergleichen; in Reaktionsweisen, die immer ebenso nahe an der physischen Gewalt sind, wie sie etwas von Unsicherheit und Schwäche verraten. Reagierte jedoch der Lehrer subjektiv gar nicht; wäre er wirklich so objektiviert, daß es zu falschen Reaktionen gar nicht käme, so erschiene er den Kindern erst recht unmenschlich und kalt und würde womöglich von ihnen noch heftiger abgelehnt. Sie mögen daran sehen, daß ich nicht den Mund zu voll genommen habe, als ich von einer Antinomie sprach. Dagegen helfen könnte, wem ich das andeuten darf, nur eine veränderte Verhaltensweise der Lehrer. Sie dürften ihre Affekte nicht unterdrücken und dann rationalisiert doch herauslassen, sondern müßten die Affekte sich selbst und anderen zugestehen und dadurch die Schüler entwaffnen. Wahrscheinlich ist ein Lehrer überzeugender, der sagt: »Jawohl, ich bin ungerecht, ich bin
genauso ein Mensch wie ihr, manches gefällt mir und manches nicht«, als einer, der ideologisch streng auf Gerechtigkeit hält, dann aber unvermeidlich verdrückte Ungerechtigkeit begeht. Aus solchen Reflexionen folgt, nebenbei gesagt, unmittelbar die Notwendigkeit psychoanalytischer Schulung und Selbstbesinnung im Beruf der Lehrer. Ich komme zum Ende und damit zu der unvermeidlichen Frage: Was tun?, für die ich, wie allgemein so auch hier, höchst unzuständig bin. Vielfach sabotiert diese Frage den konsequenten Fortgang von Erkenntnis, nach dem erst etwas sich ändern ließe. Der Gestus des »Du hast gut reden, du stehst ja nicht in unserer Arbeit drin« ist gerade in Diskussionen über die Probleme, die ich heute angerührt habe, bereits automatisiert. Immerhin mag ich ein paar Motive, ohne systematischen Anspruch und auch ohne den, daß sie real sehr weit führten, aufzählen. Zunächst also ist notwendig Aufklärung über den Gesamtkomplex, den ich umrissen habe, und zwar Aufklärung der Lehrer selbst, der Eltern und soweit wie möglich auch der Schüler, mit denen die Lehrer über die tabubesetzten Fragen sich aussprechen sollten. Ich scheue nicht die Hypothese, daß man im allgemeinen mit Kindern viel reifer und ernster sprechen kann, als die Erwachsenen, um ihre eigene Reife dadurch sich zu bestätigen, es Wort haben wollen. Man darf jedoch die Möglichkeit einer solchen Aufklärung nicht überschätzen. Die in Rede stehenden Motive sind, wie ich andeutete, vielfach unbewußt, und die bloße Nennung unbewußter Tatbestände ist, wie man weiß, müßig, wofern die, in denen jene Tatbestände sich finden, sie nicht in ihrer eigenen Erfahrung spontan aufhellen; wofern die Aufhellung nur von außen geschieht. Auf Grund dieser Einsicht, einer psychoanalytischen Trivialität, darf man von der rein intellektiven Aufklärung allein nicht zuviel erwarten, obwohl man doch mit ihr beginnen sollte; ein wenig unzulängliche, nur teilweise wirksame Aufklärung ist immer noch besser als gar keine. – Weiter wären real noch bestehende Hemmungen und Beschränkungen, welche die Tabus, mit denen der Lehrberuf besetzt ist, stützen, unbedingt wegzuschaffen. Vor allem wird man die neuralgischen Punkte schon in der Ausbildung der Lehrer behandeln müssen, anstatt die Ausbildung ihrerseits an den geltenden Tabus zu orientieren. Das Privatleben der Lehrer ist unter gar keinen Umständen irgendeiner Kontrolle zu unterwerfen, die weiterreicht
als die strafrechtliche. – Anzugehen wäre gegen die Ideologie des Schulischen, die theoretisch nicht leicht greifbar ist, auch verleugnet würde, aber durch die Schulpraxis, soweit ich das zu beobachten vermag, hartnäckig hindurchgeht. Die Schule hat eine immanente Tendenz, sich als Sphäre eigenen Lebens und mit eigener Gesetzlichkeit zu etablieren. Schwer zu entscheiden, wieweit das notwendig ist, damit sie ihre Aufgabe erfüllt; sicherlich ist es nicht nur Ideologie. Eine Schule, die nach außen ganz hemmungslos offen wäre, entbehrte wahrscheinlich auch des Hegenden und Formenden. Ich geniere mich nicht, insofern mich als reaktionär zu bekennen, als ich es für wichtiger halte, daß Kinder auf der Schule gut Lateinisch, womöglich lateinische Stilistik lernen, als daß sie törichte Klassenreisen nach Rom machen, die wahrscheinlich meist nur in allgemeiner Magenverstimmung enden, ohne daß sie etwas Wesentliches von Rom erführen. Jedenfalls hat, weil nun einmal die Schulleute nicht sich hineinreden lassen wollen, die Abgeschlossenheit der Schule immer auch die Tendenz, sich zu verhärten, zumal gegen Kritik. Tucholsky gab dafür das Beispiel jener bösartigen Landschulvorsteherin, die irgendwelche Greuel, die sie gegen ihre Zöglinge begangen hat, gegenüber dem freundlichen Liebespaar, das dagegen protestiert, mit der Erklärung rechtfertigt: »So wird das hier gemacht.« Ich möchte nicht wissen, wieviel »So wird das hier gemacht« die Praxis des Schullebens nach wie vor beherrscht. Diese Haltung wird tradiert. Begreiflich wäre zu machen, daß die Schule kein Selbstzweck, daß ihre Geschlossenheit eine Not und nicht die Tugend ist, zu der auch bestimmte Formen der Jugendbewegung, etwa Gustav Wynekens törichte Formel von der Jugendkultur als einer eigenen Kultur, sie gemacht haben, die ja heute in der Ideologie von der Jugend als Subkultur fröhliche Urständ feiert. Die psychologische Deformation vieler Lehrer dürfte einstweilen, wenn meine Beobachtungen im Staatsexamen mich nicht trügen, fortdauern, obwohl ihr die gesellschaftliche Basis weitgehend entzogen ist. Sie wäre, abgesehen von der Liquidation der immer noch bestehenden Kontrollen, vor allem durch die Ausbildung zu berichtigen. Bei älteren Kollegen wäre einfach daran – mit problematischen Aussichten – zu appellieren, daß autoritäre Verhaltensweisen den Erziehungszweck gefährden, den auch sie rational selbst vertreten. – Immer wieder hört man, und das möchte
ich nur anmelden, ohne mir selber ein Urteil darüber zuzutrauen, daß Studienreferendare in ihrer Ausbildungszeit gebrochen würden, gleichgemacht, daß man ihnen den Elan austreibt, das Beste an ihnen. Eingreifende Veränderungen setzen Forschungen über den Ausbildungsgang voraus. Besonders hätte man darauf zu achten, wieweit der Begriff der schulischen Notwendigkeit geistige Freiheit und geistige Bildung unterdrückt. Das kommt dann an den Tag in der Geistfeindschaft mancher Schulverwaltungen, welche die Lehrer planvoll an wissenschaftlicher Arbeit hindern, sie immer wieder down to earth bringen, mißtrauisch gegen solche, die, wie sie wohl sagen, höher hinaus oder woanders hin wollen. Solche Geistfeindschaft, die den Lehrern selbst widerfährt, setzt nur allzu leicht in ihrer Haltung gegenüber den Schülern sich fort. Ich habe von Tabus über dem Lehrberuf gesprochen, nicht von der Wirklichkeit des Lehrberufs, auch nicht von der wirklichen Verfassung der Lehrer; aber beides ist nicht ganz unabhängig voneinander. Immerhin sind Symptome zu beobachten, welche zur Hoffnung veranlassen, daß, wenn die Demokratie in Deutschland ihre Chance wahrnimmt, sich im Ernst weiterentwickelt, all das sich ändern wird. Das ist eines jener engbegrenzten Stücke Wirklichkeit, zu denen der reflektierte und aktive Einzelne etwas beitragen kann. Kaum ist es Zufall, daß das Buch, das ich für das wichtigste politische halte, das in Deutschland während der letzten zwanzig Jahre veröffentlicht worden ist: ›Über Deutschland‹ von Richard Matthias Müller, von einem Lehrer stammt. Nicht zu vergessen ist freilich, daß der Schlüssel eingreifender Veränderung in der Gesellschaft und ihrem Verhältnis zur Schule liegt. Dabei jedoch ist die Schule nicht nur Objekt. Meine Generation hat den Rückfall der Menschheit in die Barbarei erlebt, in buchstäblichem, unbeschreiblichem und wahrem Sinn. Sie ist ein Zustand, in dem alle jene Formungen sich als mißlungen erweisen, denen die Schule gilt. Sicherlich ist, solange die Gesellschaft die Barbarei aus sich heraus erzeugt, zum Widerstand dagegen die Schule nur minimal fähig. Ist aber Barbarei, der furchtbare Schatten über unserer Existenz, doch eben der Gegensatz zur Bildung, so hängt Wesentliches auch davon ab, daß die einzelnen Menschen entbarbarisiert werden. Entbarbarisierung der Menschheit ist die Voraussetzung des Überlebens unmittelbar. Dem muß die Schule, so beschränkt ihr Bereich und ihre Möglichkeiten auch sein mögen,
dienen, und dazu bedarf sie der Befreiung von den Tabus, unter deren Druck die Barbarei sich reproduziert. Das Pathos der Schule heute, ihr moralischer Ernst ist, daß inmitten des Bestehenden nur sie, wenn sie sich dessen bewußt ist, unmittelbar auf die Entbarbarisierung der Menschheit hinzuarbeiten vermag. Mit Barbarei meine ich nicht die Beatles, obwohl ihr Kult dazu gehört, sondern das Äußerste: wahnhaftes Vorurteil, Unterdrückung, Völkermord und Folter; darüber soll kein Zweifel sein. Dagegen anzugehen, ist – so wie die Welt im Augenblick aussieht, in der, zumindest temporär, keine weiter reichenden Möglichkeiten sichtbar sind – vor allem anderen an der Schule. Deshalb ist es, trotz aller theoretisch-gesellschaftlichen Gegenargumente, gesellschaftlich so eminent wichtig, daß sie ihre Aufgabe erfüllt und dazu hilft, daß sie des verhängnisvollen Erbes an Vorstellungen sich bewußt wird, das auf ihr lastet.
Erziehung nach Auschwitz Die Forderung, daß Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung. Sie geht so sehr jeglicher anderen voran, daß ich weder glaube, sie begründen zu müssen noch zu sollen. Ich kann nicht verstehen, daß man mit ihr bis heute so wenig sich abgegeben hat. Sie zu begründen hätte etwas Ungeheuerliches angesichts des Ungeheuerlichen, das sich zutrug. Daß man aber die Forderung, und was sie an Fragen aufwirft, so wenig sich bewußt macht, zeigt, daß das Ungeheuerliche nicht in die Menschen eingedrungen ist, Symptom dessen, daß die Möglichkeit der Wiederholung, was den Bewußtseins- und Unbewußtseinsstand der Menschen anlangt, fortbesteht. Jede Debatte über Erziehungsideale ist nichtig und gleichgültig diesem einen gegenüber, daß Auschwitz nicht sich wiederhole. Es war die Barbarei, gegen die alle Erziehung geht. Man spricht vom drohenden Rückfall in die Barbarei. Aber er droht nicht, sondern Auschwitz war er; Barbarei besteht fort, solange die Bedingungen, die jenen Rückfall zeitigten, wesentlich fortdauern. Das ist das ganze Grauen. Der gesellschaftliche Druck lastet weiter, trotz aller Unsichtbarkeit der Not heute. Er treibt die Menschen zu dem Unsäglichen, das in Auschwitz nach weltgeschichtlichem Maß kulminierte. Unter den Einsichten von Freud, die wahrhaft auch in Kultur und Soziologie hineinreichen, scheint mir eine der tiefsten die, daß die Zivilisation ihrerseits das Antizivilisatorische hervorbringt und es zunehmend verstärkt. Seine Schriften ›Das Unbehagen in der Kultur‹ und ›Massenpsychologie und Ich-Analyse‹ verdienten die allerweiteste Verbreitung gerade im Zusammenhang mit Auschwitz. Wenn im Zivilisationsprinzip selbst die Barbarei angelegt ist, dann hat es etwas Desperates, dagegen aufzubegehren. Die Besinnung darauf, wie die Wiederkehr von Auschwitz zu verhindern sei, wird verdüstert davon, daß man dieses Desperaten sich bewußt sein muß, wenn man nicht der idealistischen Phrase verfallen will. Trotzdem ist es zu versuchen, auch angesichts dessen, daß die Grundstruktur der Gesellschaft und damit ihrer Angehörigen, die es darin gebracht haben, heute die gleichen sind wie vor fünfundzwanzig Jahren. Millionen schuldloser Menschen –
die Zahlen zu nennen oder gar darüber zu feilschen, ist bereits menschenunwürdig – wurden planvoll ermordet. Das ist von keinem Lebendigen als Oberflächenphänomen, als Abirrung vom Lauf der Geschichte abzutun, die gegenüber der großen Tendenz des Fortschritts, der Aufklärung, der vermeintlich zunehmenden Humanität nicht in Betracht käme. Daß es sich ereignete, ist selbst Ausdruck einer überaus mächtigen gesellschaftlichen Tendenz. Ich möchte dabei auf eine Tatsache hinweisen, die sehr charakteristischerweise in Deutschland kaum bekannt zu sein scheint, obwohl ein Bestseller wie ›Die vierzig Tage des Musa Dagh‹ von Werfel seinen Stoff daraus zog. Schon im ersten Weltkrieg haben die Türken – die sogenannte Jungtürkische Bewegung unter der Führung von Enver Pascha und Talaat Pascha – weit über eine Million Armenier ermorden lassen. Höchste deutsche militärische und auch Regierungsstellen haben offensichtlich davon gewußt, aber es strikt geheimgehalten. Der Völkermord hat seine Wurzel in jener Resurrektion des angriffslustigen Nationalismus, die seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts in vielen Ländern sich zutrug. Man wird weiter die Erwägung nicht von sich abweisen können, daß die Erfindung der Atombombe, die buchstäblich mit einem Schlag Hunderttausende auslöschen kann, in denselben geschichtlichen Zusammenhang hineingehört wie der Völkermord. Die sprunghafte Bevölkerungszunahme heute nennt man gern Bevölkerungsexplosion: es sieht aus, als ob die historische Fatalität für die Bevölkerungsexplosion auch Gegenexplosionen, die Tötung ganzer Bevölkerungen, bereit hätte. Das nur, um anzudeuten, wie sehr die Kräfte, gegen die man angehen muß, solche des Zuges der Weltgeschichte sind. Da die Möglichkeit, die objektiven, nämlich gesellschaftlichen und politischen Voraussetzungen, die solche Ereignisse ausbrüten, zu verändern, heute aufs äußerste beschränkt ist, sind Versuche, der Wiederholung entgegenzuarbeiten, notwendig auf die subjektive Seite abgedrängt. Damit meine ich wesentlich auch die Psychologie der Menschen, die so etwas tun. Ich glaube nicht, daß es viel hülfe, an ewige Werte zu appellieren, über die gerade jene, die für solche Untaten anfällig sind, nur die Achseln zucken würden; glaube auch nicht, Aufklärung darüber, welche positiven Qualitäten die verfolgten Minderheiten besitzen, könnte viel nutzen. Die Wurzeln
sind in den Verfolgern zu suchen, nicht in den Opfern, die man unter den armseligsten Vorwänden hat ermorden lassen. Nötig ist, was ich unter diesem Aspekt einmal die Wendung aufs Subjekt genannt habe. Man muß die Mechanismen erkennen, die die Menschen so machen, daß sie solcher Taten fähig werden, muß ihnen selbst diese Mechanismen aufzeigen und zu verhindern trachten, daß sie abermals so werden, indem man ein allgemeines Bewußtsein jener Mechanismen erweckt. Nicht die Ermordeten sind schuldig, nicht einmal in dem sophistischen und karikierten Sinn, in dem manche es heute noch konstruieren möchten. Schuldig sind allein die, welche besinnungslos ihren Haß und ihre Angriffswut an ihnen ausgelassen haben. Solcher Besinnungslosigkeit ist entgegenzuarbeiten, die Menschen sind davon abzubringen, ohne Reflexion auf sich selbst nach außen zu schlagen. Erziehung wäre sinnvoll überhaupt nur als eine zu kritischer Selbstreflexion. Da aber die Charaktere insgesamt, auch die, welche im späteren Leben die Untaten verübten, nach den Kenntnissen der Tiefenpsychologie schon in der frühen Kindheit sich bilden, so hat Erziehung, welche die Wiederholung verhindern will, auf die frühe Kindheit sich zu konzentrieren. Ich nannte Ihnen Freuds These vom Unbehagen in der Kultur. Sie ist aber umfassender noch, als er sie verstand; vor allem, weil unterdessen der zivilisatorische Druck, den er beobachtet hat, sich bis zum Unerträglichen vervielfachte. Damit haben auch die Tendenzen zur Explosion, auf die er aufmerksam machte, eine Gewalt angenommen, die er kaum absehen konnte. Das Unbehagen in der Kultur hat jedoch – was Freud nicht verkannte, wenn er dem auch nicht konkret nachging – seine soziale Seite. Man kann von der Klaustrophobie der Menschheit in der verwalteten Welt reden, einem Gefühl des Eingesperrtseins in einem durch und durch vergesellschafteten, netzhaft dicht gesponnenen Zusammenhang. Je dichter das Netz, desto mehr will man heraus, während gerade seine Dichte verwehrt, daß man herauskann. Das verstärkt die Wut gegen die Zivilisation. Gewalttätig und irrational wird gegen sie aufbegehrt. Ein Schema, das in der Geschichte aller Verfolgungen sich bestätigt hat, ist, daß die Wut gegen die Schwachen sich richtet, vor allem gegen die, welche man als gesellschaftlich schwach und zugleich – mit Recht oder Unrecht – als glücklich empfindet. Soziologisch möchte ich wagen, dem hinzuzufügen, daß unsere
Gesellschaft, während sie immer mehr sich integriert, zugleich Zerfallstendenzen ausbrütet. Diese Zerfallstendenzen sind, dicht unter der Oberfläche des geordneten, zivilisatorischen Lebens, äußerst weit fortgeschritten. Der Druck des herrschenden Allgemeinen auf alles Besondere, die einzelnen Menschen und die einzelnen Institutionen, hat eine Tendenz, das Besondere und Einzelne samt seiner Widerstandskraft zu zertrümmern. Mit ihrer Identität und mit ihrer Widerstandskraft büßen die Menschen auch die Qualitäten ein, kraft deren sie es vermöchten, dem sich entgegenzustemmen, was zu irgendeiner Zeit wieder zur Untat lockt. Vielleicht sind sie kaum noch fähig zu widerstehen, wenn ihnen von etablierten Mächten befohlen wird, daß sie es abermals tun, solange es nur im Namen irgendwelcher halb oder gar nicht geglaubter Ideale geschieht. Spreche ich von der Erziehung nach Auschwitz, so meine ich zwei Bereiche: einmal Erziehung in der Kindheit, zumal der frühen; dann allgemeine Aufklärung, die ein geistiges, kulturelles und gesellschaftliches Klima schafft, das eine Wiederholung nicht zuläßt, ein Klima also, in dem die Motive, die zu dem Grauen geführt haben, einigermaßen bewußt werden. Ich kann mir selbstverständlich nicht anmaßen, den Plan einer solchen Erziehung auch nur im Umriß zu entwerfen. Aber ich möchte wenigstens einige Nervenpunkte bezeichnen. Vielfach hat man – etwa in Amerika – den autoritätsgläubigen deutschen Geist für den Nationalsozialismus und auch für Auschwitz verantwortlich gemacht. Ich halte diese Erklärung für zu oberflächlich, obwohl bei uns, wie in vielen anderen europäischen Ländern, autoritäre Verhaltensweisen und blinde Autorität viel zäher überdauern, als man es unter Bedingungen formaler Demokratie gern Wort hat. Eher ist anzunehmen, daß der Faschismus und das Entsetzen, das er bereitete, damit zusammenhängen, daß die alten, etablierten Autoritäten des Kaiserreichs zerfallen, gestürzt waren, nicht aber die Menschen psychologisch schon bereit, sich selbst zu bestimmen. Sie zeigten der Freiheit, die ihnen in den Schoß fiel, nicht sich gewachsen. Darum haben dann die Autoritätsstrukturen jene destruktive und – wenn ich so sagen darf – irre Dimension angenommen, die sie vorher nicht hatten, jedenfalls nicht offenbarten. Denkt man daran, wie Besuche irgendwelcher Potentaten, die politisch gar keine reale Funktion mehr haben, zu
ekstatischen Ausbrüchen ganzer Bevölkerungen führen, so ist der Verdacht wohl begründet, daß das autoritäre Potential nach wie vor weit starker ist, als man denken sollte. Ich möchte aber nachdrücklich betonen, daß die Wiederkehr oder Nichtwiederkehr des Faschismus im Entscheidenden keine psychologische, sondern eine gesellschaftliche Frage ist. Vom Psychologischen rede ich nur deshalb soviel, weil die anderen, wesentlicheren Momente dem Willen gerade der Erziehung weitgehend entrückt sind, wenn nicht dem Eingriff der Einzelnen überhaupt. Vielfach wird von Wohlmeinenden, die nicht möchten, daß es noch einmal so komme, der Begriff der Bindung zitiert. Daß die Menschen keine Bindung mehr hätten, sei verantwortlich für das, was da vorging. Tatsächlich hängt der Autoritätsverlust, eine der Bedingungen des sadistisch-autoritären Grauens, damit zusammen. Für den gesunden Menschenverstand ist es plausibel, Bindungen anzurufen, die dem Sadistischen, Destruktiven, Zerstörerischen Einhalt tun durch ein nachdrückliches »Du sollst nicht«. Trotzdem halte ich es für eine Illusion, daß die Berufung auf Bindungen oder gar die Forderung, man solle wieder Bindungen eingehen, damit es besser in der Welt und in den Menschen ausschaue, im Ernst frommt. Die Unwahrheit von Bindungen, die man fordert, nur damit sie irgend etwas – sei es auch Gutes – bewirken, ohne daß sie in sich selbst von den Menschen noch als substantiell erfahren werden, wird sehr rasch gefühlt. Erstaunlich, wie prompt selbst die törichtesten und naivsten Menschen reagieren, wenn es ums Aufspüren von Schwächen des Besseren geht. Leicht werden die sogenannten Bindungen entweder zum Gesinnungspaß – man nimmt sie an, um sich als ein zuverlässiger Bürger auszuweisen – oder sie produzieren gehässige Rancune, psychologisch das Gegenteil dessen, wofür sie aufgeboten werden. Sie bedeuten Heteronomie, ein Sichabhängigmachen von Geboten, von Nonnen, die sich nicht vor der eigenen Vernunft des Individuums verantworten. Was die Psychologie Über-Ich nennt, das Gewissen, wird im Namen von Bindung durch äußere, unverbindliche, auswechselbare Autoritäten ersetzt, so wie man es nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs auch in Deutschland recht deutlich hat beobachten können. Gerade die Bereitschaft, mit der Macht es zu halten und äußerlich dem, was stärker ist, als Norm sich zu beugen, ist aber die Sinnesart der Quälgeister, die nicht mehr aufkommen soll. Deswegen ist die
Empfehlung der Bindungen so fatal. Menschen, die sie mehr oder minder freiwillig annehmen, werden in eine Art von permanenten Befehlsnotstand versetzt. Die einzig wahrhafte Kraft gegen das Prinzip von Auschwitz wäre Autonomie, wenn ich den Kantischen Ausdruck verwenden darf; die Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen. Mich hat einmal eine Erfahrung sehr erschreckt: ich las auf einer Reise an den Bodensee eine badische Zeitung, in der über das Sartre-Stück ›Tote ohne Begräbnis‹ berichtet wurde, das die furchtbarsten Dinge darstellt. Dem Kritiker war das Stück offensichtlich unbehaglich. Aber er hat dies Unbehagen nicht mit dem Grauen der Sache, die das Grauen unserer Welt ist, erklärt, sondern hat es so gedreht, daß wir gegenüber einer Haltung wie der Sartres, der damit sich abgebe, doch – ich möchte beinahe sagen – einen Sinn für etwas Höheres hätten: daß wir die Sinnlosigkeit des Grauens nicht anerkennen könnten. Kurz: der Kritiker wollte sich durch edles existentielles Gerede der Konfrontation mit dem Grauen entziehen. Nicht zuletzt darin liegt die Gefahr, daß es sich wiederhole, daß man es nicht an sich herankommen läßt und den, der auch nur davon spricht, von sich wegschiebt, als wäre er, wofern er es ungemildert tut, der Schuldige, nicht die Täter. Beim Problem von Autorität und Barbarei drängt sich mir ein Aspekt auf, der im allgemeinen kaum beachtet wird. Auf ihn verweist eine Bemerkung in dem Buch ›Der SS-Staat‹ von Eugen Kogon, das zentrale Einsichten zu dem gesamten Komplex enthält und das von der Wissenschaft und Pädagogik längst nicht so absorbiert ist, wie es absorbiert zu werden verdiente. Kogon sagt, die Quälgeister des Konzentrationslagers, in dem er selbst Jahre verbracht hat, seien zum größten Teil jüngere Bauernsöhne gewesen. Die immer noch fortdauernde kulturelle Differenz von Stadt und Land ist eine, wenn auch gewiß nicht die einzige und wichtigste, der Bedingungen des Grauens. Jeder Hochmut gegenüber der Landbevölkerung ist mir fern. Ich weiß, daß kein Mensch etwas dafür kann, ob er ein Städter ist oder im Dorf groß wird. Ich registriere dabei nur, daß wahrscheinlich die Entbarbarisierung auf dem platten Land noch weniger als sonstwo gelungen ist. Auch das Fernsehen und die anderen Massenmedien haben wohl an dem Zustand des mit der Kultur nicht ganz Mitgekommenseins nicht allzuviel geändert. Mir scheint es
richtiger, das auszusprechen und dem entgegenzuwirken, als sentimental irgendwelche besonderen Qualitäten des Landlebens, die verlorenzugehen drohen, anzupreisen. Ich gehe so weit, die Entbarbarisierung des Landes für eines der wichtigsten Erziehungsziele zu halten. Sie setzt allerdings ein Studium des Bewußtseins und Unbewußtseins der Bevölkerung dort voraus. Vor allem auch wird man sich zu beschäftigen haben mit dem Aufprall der modernen Massenmedien auf einen Bewußtseinsstand, der den des bürgerlichen Kulturliberalismus des neunzehnten Jahrhunderts längst noch nicht erreicht hat. Um diesen Zustand zu verändern, dürfte das normale, auf dem Land vielfach sehr problematische Volksschulsystem nicht ausreichen. Ich dächte an eine Reihe von Möglichkeiten. Eine wäre – ich improvisiere –, daß Fernsehsendungen geplant werden unter Berücksichtigung von Nervenpunkten jenes spezifischen Bewußtseinszustands. Dann könnte ich mir vorstellen, daß etwas wie mobile Erziehungsgruppen und -kolonnen von Freiwilligen gebildet werden, daß sie aufs Land fahren und in Diskussionen, Kursen und zusätzlichem Unterricht versuchen, die bedrohlichsten Lücken auszufüllen. Ich verkenne dabei freilich nicht, daß solche Menschen sich schwerlich sehr beliebt machen werden. Aber es wird dann doch ein kleiner Kreis um sie sich bilden, der anspricht, und von dort könnte es vielleicht ausstrahlen. Kein Mißverständnis allerdings sollte darüber aufkommen, daß die archaische Neigung zur Gewalt auch in städtischen Zentren, gerade in den großen, sich findet. Regressionstendenzen – will sagen, Menschen mit verdrückt sadistischen Zügen – werden von der gesellschaftlichen Gesamttendenz heute überall hervorgebracht. Dabei möchte ich an das verquere und pathogene Verhältnis zum Körper erinnern, das Horkheimer und ich in der ›Dialektik der Aufklärung‹ dargestellt haben. Überall dort, wo Bewußtsein verstümmelt ist, wird es in unfreier, zur Gewalttat neigender Gestalt auf den Körper und die Sphäre des Körperlichen zurückgeworfen. Man muß nur bei einem bestimmten Typus von Ungebildeten einmal darauf achten, wie bereits ihre Sprache – vor allem, wenn irgend etwas ausgesetzt oder beanstandet wird – ins Drohende übergeht, als wären die Sprachgesten solche von kaum kontrollierter körperlicher Gewalt. Hier müßte man wohl auch die Rolle des Sports studieren, die von einer kritischen Sozialpsychologie wohl
noch kaum zureichend erkannt wurde. Der Sport ist doppeldeutig: auf der einen Seite kann er antibarbarisch und antisadistisch wirken durch fair play, Ritterlichkeit, Rücksicht auf den Schwächeren. Andererseits kann er in manchen seiner Arten und Verfahrungsweisen Aggression, Roheit und Sadismus fördern, vor allem in Personen, die nicht selbst der Anstrengung und Disziplin des Sports sich aussetzen, sondern bloß zusehen; in jenen, die auf dem Sportfeld zu brüllen pflegen. Solche Doppeldeutigkeit wäre systematisch zu analysieren. Soweit Erziehung darauf Einfluß hat, wären die Ergebnisse aufs Sportleben anzuwenden. All das hängt mehr oder weniger mit der alten autoritätsgebundenen Struktur zusammen, mit Verhaltensweisen – ich hätte beinahe gesagt – des guten alten autoritären Charakters. Was aber Auschwitz hervorbringt, die für die Welt von Auschwitz charakteristischen Typen, sind vermutlich ein Neues. Sie bezeichnen auf der einen Seite die blinde Identifikation mit dem Kollektiv. Auf der anderen sind sie danach zugeschnitten, Massen, Kollektive zu manipulieren, so wie die Himmler, Höss, Eichmann. Für das Allerwichtigste gegenüber der Gefahr einer Wiederholung halte ich, der blinden Vormacht aller Kollektive entgegenzuarbeiten, den Widerstand gegen sie dadurch zu steigern, daß man das Problem der Kollektivierung ins Licht rückt. Das ist nicht so abstrakt, wie es angesichts der Leidenschaft gerade junger, dem Bewußtsein nach progressiver Menschen, sich in irgend etwas einzugliedern, klingt. Anknüpfen ließe sich an das Leiden, das die Kollektive zunächst allen Individuen, die in sie aufgenommen werden, zufügen. Man braucht nur an die eigenen ersten Erfahrungen in der Schule zu denken. Anzugehen wäre gegen jene Art folk-ways, Volkssitten, Initiationsriten jeglicher Gestalt, die einem Menschen physischen Schmerz – oft bis zum Unerträglichen – antun als Preis dafür, daß er sich als Dazugehöriger, als einer des Kollektivs fühlen darf. Das Böse von Gebräuchen wie die Rauhnächte und das Haberfeldtreiben und wie derlei beliebte bodenständige Sitten sonst heißen mögen, ist eine unmittelbare Vorform der nationalsozialistischen Gewalttat. Kein Zerfall, daß die Nazis solche Scheußlichkeiten unter dem Namen »Brauchtum« verherrlicht und gepflegt haben. Die Wissenschaft hätte hier eine höchst aktuelle Aufgabe. Sie könnte die Tendenz der Volkskunde, die von den Nationalsozialisten begeistert beschlagnahmt wurde, energisch umwenden, um dem zugleich
brutalen und gespenstischen Überleben dieser Volksfreuden zu steuern. In dieser gesamten Sphäre geht es um ein vorgebliches Ideal, das in der traditionellen Erziehung auch sonst seine erhebliche Rolle spielt, das der Härte. Es kann auch noch, schmachvoll genug, auf einen Ausspruch von Nietzsche sich berufen, obwohl er wahrhaft etwas anderes meinte. Ich erinnere daran, daß der fürchterliche Boger während der Auschwitz-Verhandlung einen Ausbruch hatte, der gipfelte in einer Lobrede auf Erziehung zur Disziplin durch Härte. Sie sei notwendig, um den ihm richtig erscheinenden Typus vom Menschen hervorzubringen. Dies Erziehungsbild der Härte, an das viele glauben mögen, ohne darüber nachzudenken, ist durch und durch verkehrt. Die Vorstellung, Männlichkeit bestehe in einem Höchstmaß an Ertragenkönnen, wurde längst zum Deckbild eines Masochismus, der – wie die Psychologie dartat – mit dem Sadismus nur allzu leicht sich zusammenfindet. Das gepriesene Hart-Sein, zu dem da erzogen werden soll, bedeutet Gleichgültigkeit gegen den Schmerz schlechthin. Dabei wird zwischen dem eigenen und dem anderer gar nicht einmal so sehr fest unterschieden. Wer hart ist gegen sich, der erkauft sich das Recht, hart auch gegen andere zu sein, und rächt sich für den Schmerz, dessen Regungen er nicht zeigen durfte, die er verdrängen mußte. Dieser Mechanismus ist ebenso bewußt zu machen wie eine Erziehung zu fördern, die nicht, wie früher, auch noch Prämien auf den Schmerz setzt und auf die Fähigkeit, Schmerzen auszuhalten. Mit anderen Worten: Erziehung müßte Ernst machen mit einem Gedanken, der der Philosophie keineswegs fremd ist: daß man die Angst nicht verdrängen soll. Wenn Angst nicht verdrängt wird, wenn man sich gestattet, real so viel Angst zu haben, wie diese Realität Angst verdient, dann wird gerade dadurch wahrscheinlich doch manches von dem zerstörerischen Effekt der unbewußten und verschobenen Angst verschwinden. Menschen, die blind in Kollektive sich einordnen, machen sich selber schon zu etwas wie Material, löschen sich als selbstbestimmte Wesen aus. Dazu paßt die Bereitschaft, andere als amorphe Messe zu behandeln. Ich habe die, welche sich so verhalten, in der ›Authoritarian Personality‹ den manipulativen Charakter genannt, und zwar zu einer Zeit, als das Tagebuch von Höss oder die Aufzeichnungen von Eichmann noch gar nicht bekannt waren.
Meine Beschreibungen des manipulativen Charakters datieren auf die letzten Jahre des zweiten Weltkrieges zurück. Manchmal vermögen Sozialpsychologie und Soziologie Begriffe zu konstruieren, die erst später empirisch ganz sich bewahrheiten. Der manipulative Charakter – jeder kann das an den Quellen kontrollieren, die über jene Naziführer zur Verfügung stehen – zeichnet sich aus durch Organisationswut, durch Unfähigkeit, überhaupt unmittelbare menschliche Erfahrungen zu machen, durch eine gewisse Art von Emotionslosigkeit, durch überwertigen Realismus. Er will um jeden Preis angebliche, wenn auch wahnhafte Realpolitik betreiben. Er denkt oder wünscht nicht eine Sekunde lang die Welt anders, als sie ist, besessen vom Willen of doing things, Dinge zu tun, gleichgültig gegen den Inhalt solchen Tuns. Er macht aus der Tätigkeit, der Aktivität, der sogenannten efficiency als solcher einen Kultus, der in der Reklame für den aktiven Menschen anklingt. Dieser Typ ist unterdessen – wenn meine Beobachtungen mich nicht trügen und manche soziologische Untersuchungen Verallgemeinerung gestatten – viel weiter verbreitet, als man denken könnte. Was damals nur einige Nazimonstren exemplifizierten, wird man heute feststellen können an sehr zahlreichen Menschen, etwa jugendlichen Verbrechern, Bandenführern und ähnlichen, von denen man jeden Tag in der Zeitung liest. Hätte ich diesen Typus des manipulativen Charakters auf eine Formel zu bringen – vielleicht soll man es nicht, aber zur Verständigung mag es doch gut sein –, so würde ich ihn den Typus des verdinglichten Bewußtseins nennen. Erst haben die Menschen, die so geartet sind, sich selber gewissermaßen den Dingen gleichgemacht. Dann machen sie, wenn es ihnen möglich ist, die anderen den Dingen gleich. Der Ausdruck »fertigmachen«, ebenso populär in der Welt jugendlicher Rowdies wie in der der Nazis, drückt das sehr genau aus. Menschen definiert dieser Ausdruck »fertigmachen« als im doppelten Sinn zugerichtete Dinge. Die Folter ist nach der Einsicht von Max Horkheimer die in Regie genommene und gewissermaßen beschleunigte Anpassung der Menschen an die Kollektive. Etwas davon liegt im Geist der Zeit, so wenig es auch mit Geist zu tun hat. Ich zitiere bloß das vor dem letzten Krieg gesprochene Wort von Paul Valéry, die Unmenschlichkeit habe eine große Zukunft. Besonders schwer ist es, dagegen anzugehen, weil jene manipulativen Menschen, die zu
Erfahrungen eigentlich nicht fähig sind, eben deshalb Züge von Unansprechbarkeit aufweisen, die sie mit gewissen Geisteskranken oder psychotischen Charakteren, den Schizoiden, verbinden. Bei Versuchen, der Wiederholung von Auschwitz entgegenzuwirken, schiene es mir wesentlich, zunächst Klarheit darüber zu schaffen, wie der manipulative Charakter zustande kommt, um dann durch Veränderung der Bedingungen sein Entstehen, so gut es geht, zu verhindern. Ich möchte einen konkreten Vorschlag machen: die Schuldigen von Auschwitz mit allen der Wissenschaft verfügbaren Methoden, insbesondere mit langjährigen Psychoanalysen, zu studieren, um möglicherweise herauszubringen, wie ein Mensch so wird. Das, was jene an Gutem irgend noch tun können, ist, wenn sie selbst, in Widerspruch zu ihrer eigenen Charakterstruktur, etwas dazu helfen, daß es nicht noch einmal so komme. Das würde nur dann geschehen, wenn sie mitarbeiten wollten bei der Erforschung ihrer Genese. Allerdings dürfte es schwierig sein, sie zum Reden zu bringen; um keinen Preis dürfte irgend etwas ihren eigenen Methoden Verwandtes angewendet werden, um zu lernen, wie sie so wurden. Einstweilen jedenfalls fühlen sie – eben in ihrem Kollektiv, im Gefühl, daß sie allesamt alte Nazis sind – sich so geborgen, daß kaum einer auch nur Schuldgefühle gezeigt hat. Aber vermutlich existieren auch in ihnen, oder wenigstens in manchen, psychologische Anknüpfungspunkte, durch die sich das ändern könnte, etwa ihr Narzißmus, schlicht gesagt ihre Eitelkeit. Sie mögen sich wichtig vorkommen, wenn sie hemmungslos von sich sprechen können, so wie Eichmann, der ja offenbar ganze Bibliotheken von Bändern einsprach. Schließlich ist anzunehmen, daß auch in diesen Personen, wenn man tief genug gräbt, Restbestände der alten, heute vielfach in Auflösung befindlichen Gewissensinstanz vorhanden sind. Kennt man aber einmal die inneren und äußeren Bedingungen, die sie so machten – wenn ich hypothetisch unterstellen darf, daß man das tatsächlich herausbringen kann –, dann lassen sich möglicherweise doch praktische Folgerungen ziehen, daß es nicht noch einmal so werde. Ob der Versuch etwas hilft oder nicht, wird sich erst zeigen, wenn er unternommen ward; ich möchte ihn nicht überschätzen. Man muß sich vergegenwärtigen, daß aus derlei Bedingungen Menschen nicht automatisch erklärt werden können. Unter gleichen Bedingungen wurden manche so und manche ganz anders.
Trotzdem wäre es der Mühe wert. Ein aufklärendes Potential dürfte allein schon in der Fragestellung liegen, wie man so wurde. Denn es gehört zu dem unheilvollen Bewußtseins- und Unbewußtseinszustand, daß man sein So-Sein – daß man so und nicht anders ist – fälschlich für Natur, für ein unabänderlich Gegebenes hält und nicht für ein Gewordenes. Ich nannte den Begriff des verdinglichten Bewußtseins. Das ist aber vor allem eines, das gegen alles Geworden-Sein, gegen alle Einsicht in die eigene Bedingtheit sich abblendet und das, was so ist, absolut setzt. Würde dieser Zwangsmechanismus einmal durchbrochen, wäre – so dächte ich – doch einiges gewonnen. Weiter sollte man im Zusammenhang mit dem verdinglichten Bewußtsein auch das Verhältnis zur Technik genau betrachten, und zwar keineswegs nur bei kleinen Gruppen. Es ist so doppeldeutig wie das zum Sport, mit dem es im übrigen verwandt ist. Einerseits produziert jede Epoche diejenigen Charaktere – Typen der Verteilung von psychischer Energie –, die sie gesellschaftlich braucht. Eine Welt, in der die Technik eine solche Schlüsselposition hat wie heute, bringt technologische, auf Technik eingestimmte Menschen hervor. Das hat seine gute Rationalität: in ihrem engeren Bereich werden sie weniger sich vormachen lassen, und das kann auch ins Allgemeinere hinein wirken. Andererseits steckt im gegenwärtigen Verhältnis zur Technik etwas Übertriebenes, Irrationales, Pathogenes. Das hängt zusammen mit dem »technologischen Schleier«. Die Menschen sind geneigt, die Technik für die Sache selbst, für Selbstzweck, für eine Kraft eigenen Wesens zu halten und darüber zu vergessen, daß sie der verlängerte Arm der Menschen ist. Die Mittel – und Technik ist ein Inbegriff von Mitteln zur Selbsterhaltung der Gattung Mensch – werden fetischisiert, weil die Zwecke – ein menschenwürdiges Leben – verdeckt und vom Bewußtsein der Menschen abgeschnitten sind. Solange man das so allgemein sagt, wie ich es eben formulierte, dürfte das einleuchten. Aber eine solche Hypothese ist noch viel zu abstrakt. Keineswegs weiß man bestimmt, wie die Fetischisierung der Technik in der individuellen Psychologie der einzelnen Menschen sich durchsetzt, wo die Schwelle ist zwischen einem rationalen Verhältnis zu ihr und jener Überwertung, die schließlich dazu führt, daß einer, der ein Zugsystem ausklügelt, das die Opfer möglichst schnell und reibungslos nach Auschwitz bringt,
darüber vergißt, was in Auschwitz mit ihnen geschieht. Bei dem Typus, der zur Fetischisierung der Technik neigt, handelt es sich, schlicht gesagt, um Menschen, die nicht lieben können. Das ist nicht sentimental und nicht moralisierend gemeint, sondern bezeichnet die mangelnde libidinöse Beziehung zu anderen Personen. Sie sind durch und durch kalt, müssen auch zuinnerst die Möglichkeit von Liebe negieren, ihre Liebe von anderen Menschen von vornherein, ehe sie sich nur entfaltet, abziehen. Was an Liebesfähigkeit in ihnen irgend überlebt, müssen sie an Mittel verwenden. Die vorurteilsvollen, autoritätsgebundenen Charaktere, mit denen wir es in der ›Authoritarian Personality‹ in Berkeley zu tun hatten, lieferten manche Belege dafür. Eine Versuchsperson – das Wort ist selber schon ein Wort aus dem verdinglichten Bewußtsein – sagte von sich: »I like nice equipment«, Ich habe hübsche Ausstattungen, hübsche Apparaturen gern, ganz gleichgültig, welche Apparaturen das sind. Seine Liebe wurde von Dingen, Maschinen als solchen absorbiert. Das Bestürzende ist dabei – bestürzend, weil es so hoffnungslos erscheinen läßt, dagegen anzugehen –, daß dieser Trend mit dem der gesamten Zivilisation verkoppelt ist. Ihn bekämpfen heißt soviel wie gegen den Weltgeist sein; aber damit wiederhole ich nur etwas, was ich zu Eingang als den düstersten Aspekt einer Erziehung gegen Auschwitz vorwegnahm. Ich sagte, jene Menschen seien in einer besonderen Weise kalt. Wohl sind ein paar Worte über Kälte überhaupt erlaubt. Wäre sie nicht ein Grundzug der Anthropologie, also der Beschaffenheit der Menschen, wie sie in unserer Gesellschaft tatsächlich sind; wären sie also nicht zutiefst gleichgültig gegen das, was mit allen anderen geschieht außer den paar, mit denen sie eng und womöglich durch handgreifliche Interessen verbunden sind, so wäre Auschwitz nicht möglich gewesen, die Menschen hätten es dann nicht hingenommen. Die Gesellschaft in ihrer gegenwärtigen Gestalt – und wohl seit Jahrtausenden – beruht nicht, wie seit Aristoteles ideologisch unterstellt wurde, auf Anziehung, auf Attraktion, sondern auf der Verfolgung des je eigenen Interesses gegen die Interessen aller anderen. Das hat im Charakter der Menschen bis in ihr Innerstes hinein sich niedergeschlagen. Was dem widerspricht, der Herdentrieb der sogenannten lonely crowd, der einsamen Menge, ist eine Reaktion darauf, ein Sich-Zusammenrotten von Erkalteten, die die eigene Kälte nicht ertragen, aber auch nicht sie ändern können.
Jeder Mensch heute, ohne jede Ausnahme, fühlt sich zuwenig geliebt, weil jeder zuwenig lieben kann. Unfähigkeit zur Identifikation war fraglos die wichtigste psychologische Bedingung dafür, daß so etwas wie Auschwitz sich inmitten von einigermaßen gesitteten und harmlosen Menschen hat abspielen können. Was man so »Mitläufertum« nennt, war primär Geschäftsinteresse: daß man seinen eigenen Vorteil vor allem anderen wahrnimmt und, um nur ja nicht sich zu gefährden, sich nicht den Mund verbrennt. Das ist ein allgemeines Gesetz des Bestehenden. Das Schweigen unter dem Terror war nur dessen Konsequenz. Die Kälte der gesellschaftlichen Monade, des isolierten Konkurrenten, war als Indifferenz gegen das Schicksal der anderen die Voraussetzung dafür, daß nur ganz wenige sich regten. Das wissen die Folterknechte; auch darauf machen sie stets erneut die Probe. Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich möchte nicht die Liebe predigen. Sie zu predigen, halte ich für vergeblich: keiner hätte auch nur das Recht, sie zu predigen, weil der Mangel an Liebe – ich sagte es schon – ein Mangel aller Menschen ist ohne Ausnahme, so wie sie heute existieren. Liebe predigen setzt in denen, an die man sich wendet, bereits eine andere Charakterstruktur voraus als die, welche man verändern will. Denn die Menschen, die man lieben soll, sind ja selber so, daß sie nicht lieben können, und darum ihrerseits keineswegs so liebenswert. Es war einer der großen, mit dem Dogma nicht unmittelbar identischen Impulse des Christentums, die alles durchdringende Kälte zu tilgen. Aber dieser Versuch scheiterte; wohl darum, weil er nicht an die gesellschaftliche Ordnung rührte, welche die Kälte produziert und reproduziert. Wahrscheinlich ist jene Wärme unter den Menschen, nach der alle sich sehnen, außer in kurzen Perioden und ganz kleinen Gruppen, mag sein auch unter manchen friedlichen Wilden, bis heute überhaupt noch nicht gewesen. Die vielgeschmähten Utopisten haben das gesehen. So hat Charles Fourier die Attraktion als ein durch menschenwürdige gesellschaftliche Ordnung erst Herzustellendes bestimmt; auch erkannt, daß dieser Zustand nur möglich sei, wenn die Triebe der Menschen nicht länger unterdrückt sind, sondern erfüllt und freigegeben. Wenn irgend etwas helfen kann gegen Kälte als Bedingung des Unheils, dann die Einsicht in ihre eigenen Bedingungen und der Versuch, vorwegnehmend im individuellen Bereich diesen ihren Bedingungen
entgegenzuarbeiten. Man möchte meinen, je weniger in der Kindheit versagt wird, je besser Kinder behandelt werden, um so mehr Chance sei. Aber auch hier drohen Illusionen. Kinder, die gar nichts von der Grausamkeit und Härte des Lebens ahnen, sind, einmal aus dem Geschützten entlassen, erst recht der Barbarei ausgesetzt. Vor allem aber kann man Eltern, die selber Produkte dieser Gesellschaft sind und ihre Male tragen, zur Wärme nicht animieren. Die Aufforderung, den Kindern mehr Wärme zu geben, dreht die Wärme künstlich an und negiert sie dadurch. Überdies läßt sich in beruflich vermittelten Verhältnissen wie dem von Lehrer und Schüler, von Arzt und Patient, von Anwalt und Klient Liebe nicht fordern. Sie ist ein Unmittelbares und widerspricht wesentlich vermittelten Beziehungen. Der Zuspruch zur Liebe – womöglich in der imperativischen Form, daß man es soll – ist selber Beständstück der Ideologie, welche die Kälte verewigt. Ihm eignet das Zwangshafte, Unterdrückende, das der Liebesfähigkeit entgegenwirkt. Das erste wäre darum, der Kälte zum Bewußtsein ihrer selbst zu verhelfen, der Gründe, warum sie wurde. Lassen Sie mich zum Ende nur noch mit wenigen Worten eingehen auf einige Möglichkeiten der Bewußtmachung der subjektiven Mechanismen überhaupt, ohne die Auschwitz kaum wäre. Kenntnis dieser Mechanismen ist not; ebenso auch die der stereotypen Abwehr, die ein solches Bewußtsein blockiert. Wer heute noch sagt, es sei nicht so oder nicht ganz so schlimm gewesen, der verteidigt bereits, was geschah, und wäre fraglos bereit zuzusehen oder mitzutun, wenn es wieder geschieht. Wenn rationale Aufklärung auch – wie die Psychologie genau weiß – nicht geradeswegs die unbewußten Mechanismen auflöst, so kräftigt sie wenigstens im Vorbewußtsein gewisse Gegeninstanzen und hilft ein Klima bereiten, das dem Äußersten ungünstig ist. Würde wirklich das gesamte kulturelle Bewußtsein durchdrungen von der Ahnung des pathogenen Charakters der Züge, die in Auschwitz zu dem Ihren kamen, so würden die Menschen jene Züge vielleicht besser kontrollieren. Weiter wäre aufzuklären über die Möglichkeit der Verschiebung dessen, was in Auschwitz sich austobte. Morgen kann eine andere Gruppe drankommen als die Juden, etwa die Alten, die ja im Dritten Reich gerade eben noch verschont wurden, oder die Intellektuellen, oder einfach abweichende Gruppen. Das Klima – ich deutete darauf
hin –, das am meisten solche Auferstehung fördert, ist der wiedererwachende Nationalismus. Er ist deshalb so böse, weil er im Zeitalter der internationalen Kommunikation und der übernationalen Blöcke an sich selbst gar nicht mehr so recht glauben kann und sich ins Maßlose übertreiben muß, um sich und anderen einzureden, er wäre noch substantiell. Konkrete Möglichkeiten des Widerstands wären immerhin zu zeigen. Es wäre etwa auf die Geschichte der Euthanasiemorde einzugehen, die in Deutschland, dank des Widerstands dagegen, doch nicht in dem ganzen Umfang begangen wurden, in dem die Nationalsozialisten sie geplant hatten. Der Widerstand war auf die eigene Gruppe beschränkt; gerade das ist ein besonders auffälliges, weitverbreitetes Symptom der universalen Kälte. Sie ist aber, zu allem anderen, auch borniert angesichts der Unersättlichkeit, die im Prinzip der Verfolgungen liegt. Schlechterdings jeder Mensch, der nicht gerade zu der verfolgenden Gruppe dazugehört, kann ereilt werden; es gibt also ein drastisches egoistisches Interesse, an das sich appellieren ließe. – Schließlich müßte man nach den spezifischen, geschichtlich objektiven Bedingungen der Verfolgungen fragen. Sogenannte nationale Erneuerungsbewegungen in einem Zeitalter, in dem der Nationalismus veraltet ist, sind offenbar besonders anfällig für sadistische Praktiken. Aller politischer Unterricht endlich sollte zentriert sein darin, daß Auschwitz nicht sich wiederhole. Das wäre möglich nur, wenn zumal er ohne Angst, bei irgendwelchen Mächten anzustoßen, offen mit diesem Allerwichtigsten sich beschäftigt. Dazu müßte er in Soziologie sich verwandeln, also über das gesellschaftliche Kräftespiel belehren, das hinter der Oberfläche der politischen Formen seinen Ort hat. Kritisch zu behandeln wäre, um nur ein Modell zu geben, ein so respektabler Begriff wie der der Staatsraison: indem man das Recht des Staates über das seiner Angehörigen stellt, ist das Grauen potentiell schon gesetzt. Walter Benjamin fragte mich einmal in Paris während der Emigration, als ich noch sporadisch nach Deutschland zurückkehrte, ob es denn dort noch genug Folterknechte gäbe, die das von den Nazis Befohlene ausführten. Es gab sie. Trotzdem hat die Frage ihr tiefes Recht. Benjamin spürte, daß die Menschen, die es tun, im Gegensatz zu den Schreibtischmördern und Ideologen, in
Widerspruch zu ihren eigenen unmittelbaren Interessen handeln, Mörder an sich selbst, indem sie die anderen ermorden. Ich fürchte, durch Maßnahmen auch einer noch so weit gespannten Erziehung wird es sich kaum verhindern lassen, daß Schreibtischmörder nachwachsen. Aber daß es Menschen gibt, die unten, eben als Knechte das tun, wodurch sie ihre eigene Knechtschaft verewigen und sich selbst entwürdigen; daß es weiter Bogers und Kaduks gebe, dagegen läßt sich doch durch Erziehung und Aufklärung ein Weniges unternehmen.
Auf die Frage: Was ist deutsch »Was ist deutsch?« – darauf vermag ich nicht unmittelbar zu antworten. Zuvor ist über die Frage selbst zu reflektieren. Belastet wird sie von jenen selbstgefälligen Definitionen, die als das spezifisch Deutsche unterstellen nicht, was es ist, sondern wie man es sich wünscht. Das Ideal muß zur Idealisierung herhalten. Bereits der puren Form nach frevelt die Frage an den unwiderruflichen Erfahrungen der letzten Dezennien. Sie verselbständigt die kollektive Wesenheit »deutsch«, von der dann ausgemacht werden soll, was sie charakterisiere. Die Bildung nationaler Kollektive jedoch, üblich in dem abscheulichen Kriegsjargon, der von dem Russen, dem Amerikaner, sicherlich auch dem Deutschen redet, gehorcht einem verdinglichenden, zur Erfahrung nicht recht fähigen Bewußtsein. Sie hält sich innerhalb jener Stereotypen, die von Denken gerade aufzulösen wären. Ungewiß, ob es etwas wie den Deutschen, oder das Deutsche, oder irgendein Ähnliches in anderen Nationen, überhaupt gibt. Das Wahre und Bessere in jedem Volk ist wohl vielmehr, was dem Kollektivsubjekt nicht sich einfügt, womöglich ihm widersteht. Dagegen befördert die Stereotypenbildung den kollektiven Narzißmus. Das, womit man sich identifiziert, die Essenz der Eigengruppe, wird unversehens zum Guten; die Fremdgruppe, die anderen, schlecht. Ebenso ergeht es dann, umgekehrt, dem Bild des Deutschen bei den anderen. Nachdem jedoch unterm Nationalsozialismus die Ideologie vom Vorrang des Kollektivsubjekts auf Kosten von jeglichem Individuellen das äußerste Unheil anrichtete, ist in Deutschland doppelt Grund, vorm Rückfall in die Stereotypie der Selbstbeweihräucherung sich zu hüten. Während der letzten Jahre zeichnen Tendenzen eben dieser Art sich ab. Sie werden heraufbeschworen von den politischen Fragen der Wiedervereinigung, der Oder-Neiße-Linie, auch mancher Ansprüche der Vertriebenen; einen weiteren Vorwand bietet die nur in der Einbildung vorhandene internationale Ächtung des Deutschen, oder ein nicht minder fiktiver Mangel an jenem nationalen Selbstgefühl, das manche so gern wieder aufstacheln möchten. Unmerklich langsam formiert sich ein Klima, das verpönt,
was am notwendigsten wäre: kritische Selbstbesinnung. Wieder bereits kann man das unselige Sprichwort vom Vogel zitiert hören, der das eigene Nest beschmutzt, während die, welche über jenen Vogel krächzen, die Krähen zu sein pflegen, die keiner anderen das Auge aushacken. Nicht wenige Fragen gibt es, über die ihre wahre Ansicht zu sagen fast alle mit Rücksicht auf die Folgen sich selbst verbieten. Rasch verselbständigt sich solche Rücksicht zu einer inneren Zensurinstanz, die schließlich nicht nur die Äußerung unbequemer Gedanken, sondern diese selbst verhindert. Weil die deutsche Einigung geschichtlich zu spät, prekär und unstabil nur gelang, neigt man dazu, um überhaupt als Nation sich zu fühlen, das Nationalbewußtsein zu überspielen und jede Abweichung gereizt zu ahnden. Dabei wird dann leicht regrediert auf archaische Zustände vorindividuellen Wesens, ein Stammesbewußtsein, an das psychologisch um so wirksamer appelliert werden kann, je weniger es mehr aktuell existiert. Jenen Regressionstendenzen sich zu entziehen, mündig zu werden, der eigenen geschichtlichen und gesellschaftlichen Situation und der internationalen ins Auge zu sehen, wäre gerade an denen, die auf deutsche Tradition sich berufen, die Kants. Sein Denken hat sein Zentrum im Begriff der Autonomie, der Selbstverantwortung des vernünftigen Individuums anstelle jener blinden Abhängigkeiten, deren eine die unreflektierte Vormacht des Nationalen ist. Nur im Einzelnen verwirklicht sich, Kant zufolge, das Allgemeine der Vernunft. Wollte man Kant als Kronzeugen deutscher Tradition sein Recht verschaffen, so bedeutete das die Verpflichtung, der kollektiven Hörigkeit und der Selbstvergötzung abzusagen. Freilich sind die, welche am lautesten Kant, Goethe oder Beethoven als deutsches Gut reklamieren, regelmäßig die, welche mit dem Gehalt von deren Werken am wenigsten zu schaffen haben. Sie verbuchen sie als Besitz, während, was sie lehrten und hervorbrachten, die Verwandlung in ein Besessenes verwehrt. Die deutsche Tradition wird verletzt von jenen, die sie zum gleichzeitig bewunderten und unverbindlichen Kulturgut neutralisieren. Wer indessen von der Verpflichtung jener Ideen nichts weiß, wird prompt von Empörung ergriffen, wo auch nur ein kritisches Wort fällt über einen großen Namen, den man als deutschen Markenartikel beschlagnahmen und verwerten möchte. Damit ist nicht gesagt, daß die Stereotypen jeglicher Wahrheit entbehrten. Erinnert sei an die berühmteste Formel des deutschen
kollektiven Narzißmus, die Wagnersche: deutsch sein heißt, eine Sache um ihrer selbst willen tun. Unleugbar die Selbstgerechtigkeit des Satzes, auch der imperialistische Oberton, der den reinen Willen der Deutschen dem vorgeblichen Krämergeist zumal der Angelsachsen kontrastiert. Richtig jedoch bleibt, daß das Tauschverhältnis, die Ausbreitung des Warencharakters über alle Sphären, auch die des Geistes – das, was man populär mit Kommerzialisierung bezeichnet –, im späteren achtzehnten und im neunzehnten Jahrhundert in Deutschland nicht so weit gediehen war wie in den kapitalistisch fortgeschritteneren Ländern. Das verlieh zumindest der geistigen Produktion einige Resistenzkraft. Sie verstand sich als ein An sich, nicht nur als ein Für anderes und Für andere Sein, nicht als Tauschobjekt. Ihr Modell war nicht der nach den Marktgesetzen handelnde Unternehmer, sondern eher der seine Pflicht gegenüber der Obrigkeit erfüllende Beamte; an Kant ist das häufig hervorgehoben worden. In der Lehre Fichtes von der Tathandlung als Selbstzweck hat es seinen konsequentesten theoretischen Ausdruck gefunden. Was an jenem Stereotyp seine Wahrheit hat, wäre vielleicht am Fall Houston Stewart Chamberlain zu studieren, dessen Name und Entwicklung mit den verhängnisvollsten Aspekten der neueren deutschen Geschichte, dem völkischen und antisemitischen, verknüpft ist. Fruchtbar wäre, zu verstehen, wie es zur finsteren politischen Funktion des eingedeutschten Engländers kam. Sein Briefwechsel mit seiner Schwiegermutter Cosima Wagner bietet dafür das reichste Material. Chamberlain war ursprünglich ein differenzierter, zarter, gegen das Abgefeimte kommerzialisierter Kultur überaus empfindlicher Mensch. An Deutschland insgesamt, zumal an Bayreuth, zog ihn die dort verkündete Absage ans kommerzielle Wesen an. Schuld daran, daß er zum Rassedemagogen wurde, trägt weniger natürliche Bosheit noch selbst Schwäche gegenüber der paranoisch-herrschsüchtigen Cosima, sondern Naivetät. Chamberlain nahm, was er an der deutschen Kultur im Vergleich zum total entfalteten Kapitalismus seiner Heimat liebte, absolut. Er sah darin eine unveränderlich-natürliche Beschaffenheit, nicht das Ergebnis ungleichzeitiger gesellschaftlicher Entwicklungen. Das führte ihn sprunglos zu jenen völkischen Vorstellungen, die dann unvergleichlich viel barbarischere Konsequenzen hatten als das amusische Wesen, dem Chamberlain entfliehen wollte.
Ist es schon wahr, daß ohne jenes »um seiner selbst willen« zumindest die große deutsche Philosophie und die große deutsche Musik nicht hätten sein können – bedeutende Dichter der westlichen Länder haben der durchs Tauschprinzip verschandelten Welt nicht weniger widerstanden –, so ist das doch nicht die ganze Wahrheit. Auch die deutsche Gesellschaft war, und ist, eine Tauschgesellschaft, und das Etwas um seiner selbst willen Tun nicht so rein, wie es sich stilisiert. Vielmehr versteckte sich dahinter auch ein Für anderes, auch ein Interesse, das in der Sache selbst keineswegs sich erschöpft. Nur war es weniger das individuelle als die Unterordnung von Gedanken und Handlungen unter den Staat, dessen Expansion erst dem einstweilen gezügelten Egoismus der Einzelnen Befriedigung verschaffen sollte. Die großen deutschen Konzeptionen, in denen die Autonomie, das reine Um seiner selbst willen, so überschwenglich verherrlicht wird, waren durchweg auch zur Vergottung des Staates bereit; die Kritik der westlichen Länder hat darauf, ebenso einseitig, immer wieder insistiert. Der Vorrang des Kollektivinteresses über den individuellen Eigennutz war verkoppelt mit dem aggressiven politischen Potential des Angriffskriegs. Drang zu unendlicher Herrschaft begleitete die Unendlichkeit der Idee, das eine war nicht ohne das andere. Geschichte erweist sich daran, bis heute, als Schuldzusammenhang, daß die höchsten Produktivkräfte, die obersten Manifestationen des Geistes verschworen sind mit dem Schlimmsten. Noch dem Um seiner selbst willen ist, im unerbittlich integern Mangel an Rücksicht auf den anderen, auch Inhumanität nicht fremd. Sie offenbart sich in einer gewissen auftrumpfenden, nichts auslassenden Gewalttätigkeit gerade der größten geistigen Gebilde, ihrem Willen zur Herrschaft. Ausnahmslos fast bestätigen sie das Bestehende, weil es besteht. Wenn man etwas als spezifisch deutsch vermuten darf, dann ist es dies Ineinander des Großartigen, in keiner konventionell gesetzten Grenze sich Bescheidenden, mit dem Monströsen. Indem es die Grenzen überschreitet, möchte es zugleich unterjochen, so wie die idealistischen Philosophien und Kunstwerke nichts tolerierten, was nicht in dem gebietenden Bannkreis ihrer Identität aufging. Auch die Spannung dieser Momente ist keine Urgegebenheit, kein sogenannter Nationalcharakter. Die Wendung nach innen, das Hölderlinsche Tatenarm doch gedankenvoll, wie es in den authentischen Gebilden
um die Wende des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts vorwaltet, hat die Kräfte gestaut und bis zur Explosion überhitzt, die dann zu spät sich realisieren wollten. Das Absolute schlug um ins absolute Entsetzen. Waren tatsächlich über lange Zeiträume der früheren bürgerlichen Geschichte hinweg die Maschen des zivilisatorischen Netzes – der Verbürgerlichung – in Deutschland nicht so eng gesponnen wie in den westlichen Ländern, so erhielt sich ein Vorrat unerfaßt naturhafter Kräfte. Er erzeugte ebenso den unbeirrten Radikalismus des Geistes wie die permanente Möglichkeit des Rückfalls. So wenig darum Hitler als Schicksal dem deutschen Nationalcharakter zuzuschreiben ist, so wenig zufällig war doch, daß er in Deutschland hinaufgelangte. Allein schon ohne den deutschen Ernst, der vom Pathos des Absoluten herrührt und ohne den das Beste nicht wäre, hätte Hitler nicht gedeihen können. In den westlichen Ländern, wo die Spielregeln der Gesellschaft den Massen tiefer eingesenkt sind, wäre er dem Lachen verfallen. Der heilige Ernst kann übergehen in den tierischen, der mit Hybris sich buchstäblich als Absolutes aufwirft und gegen alles wütet, was seinem Anspruch nicht sich fügt. Solche Komplexität: jene Einsicht, daß an dem, was deutsch ist, das eine nicht ohne das andere sich haben läßt, entmutigt jede eindeutige Antwort auf die Frage. Die Forderung solcher Eindeutigkeit geht auf Kosten dessen, was der Eindeutigkeit sich entzieht. Mit Vorliebe macht man dann das allzu komplizierte Denken des Intellektuellen verantwortlich für Sachverhalte, die ihm, will er nicht lügen, einfache Bestimmungen nach dem Schema Entweder-Oder verwehren. Darum ist es vielleicht besser, wenn ich die Frage nach dem, was deutsch sei, ein wenig reduziere und bescheidener fasse: was mich bewog, als Emigrant, als mit Schimpf und Schande Vertriebener, und nach dem, was von Deutschen an Millionen Unschuldiger verübt worden war, doch zurückzukommen. Indem ich versuche, einiges mitzuteilen, was ich an mir selbst erfahren und beobachtet habe, glaube ich der Bildung von Stereotypen am ehesten entgegenzuarbeiten. Daß solche, die von einer Tyrannis willkürlich, blind aus ihrer Heimat vertrieben wurden, nach deren Sturz zurückkehren, ist eine antike Tradition. Ihr wird einer, der den Gedanken, ein neues Leben anzufangen, haßt, fast selbstverständlich folgen, ohne lang zu fragen. Zudem ist dem gesellschaftlich Denkenden, der auch den Faschismus
sozial-ökonomisch begreift, die These, es läge an den Deutschen als Volk, recht fremd. Keinen Augenblick habe ich in der Emigration die Hoffnung auf Rückkunft aufgegeben. Die Identifikation mit dem Vertrauten in dieser Hoffnung ist nicht zu verleugnen; nur darf sie nicht zur theoretischen Rechtfertigung für etwas mißbraucht werden, was wahrscheinlich nur solange legitim ist, wie es dem Impuls gehorcht, ohne sich auf umständliche Hilfstheorien zu berufen. Daß ich bei meinem freiwilligen Entschluß das Gefühl hegte, in Deutschland auch einiges Gute tun, der Verhärtung, der Wiederholung des Unheils entgegenarbeiten zu können, ist nur ein anderer Aspekt jener spontanen Identifikation. Ich habe eine eigentümliche Erfahrung gemacht. Menschen, die konformieren, die sich mit der gegebenen Umwelt und ihren Herrschaftsverhältnissen generell eins fühlen, passen jeweils im neuen Lande viel leichter sich an. Hier Nationalist, dort Nationalist. Wer prinzipiell nicht ungebrochen mit den Verhältnissen einig, wer nicht vorweg gesonnen ist mitzuspielen, der bleibt oppositionell auch im neuen Land. Sinn für Kontinuität und Treue zur eigenen Vergangenheit ist nicht dasselbe wie Hochmut und Verstocktheit bei dem, was man nun einmal ist, so leicht sie auch dazu ausartet. Solche Treue verlangt, daß man lieber dort etwas zu ändern trachtet, wo die eigene Erfahrung sich zuständig weiß, wo man zu unterscheiden, vor allem die Menschen wirklich zu begreifen vermag, als daß man der Anpassung ans andere Milieu zuliebe sich aufgibt. Ich wollte einfach dorthin zurück, wo ich meine Kindheit verbracht hatte, wodurch mein Spezifisches bis ins Innerste vermittelt war. Spüren mochte ich, daß, was man im Leben realisiert, wenig anderes ist als der Versuch, die Kindheit einzuholen. Darum fühle ich mich berechtigt, von der Stärke der Motive zu sprechen, die mich heimzogen, ohne in den Verdacht von Schwäche oder Sentimentalität zu geraten, oder gar dem Mißverständnis mich auszusetzen, ich unterschriebe die fatale Antithese von Kultur und Culture. Nach einer zivilisationsfeindlichen Tradition, die älter ist als Spengler, glaubt man sich dem anderen Kontinent überlegen, weil er nichts als Eisschränke und Autos hervorgebracht hätte und Deutschland die Geisteskultur. Indem jedoch diese fixiert, sich zum Selbstzweck wird, hat sie auch die Tendenz, von realer Humanität sich zu entbinden und sich selbst zu genügen. In Amerika aber gedeiht in
dem allgegenwärtigen Für anderes, bis ins keep smiling hinein, auch Sympathie, Mitgefühl, Anteilnahme am Los des Schwächeren. Der energische Wille, eine freie Gesellschaft einzurichten, anstatt Freiheit ängstlich nur zu denken und selbst im Gedanken zu freiwilliger Unterordnung zu erniedrigen, büßt sein Gutes nicht darum ein, weil seiner Realisierung durchs gesellschaftliche System Schranken gesetzt sind. Hochmut gegen Amerika in Deutschland ist unbillig. Er nutzt nur, unter Mißbrauch eines Höheren, den muffigsten Instinkten. Man braucht den Unterschied zwischen einer sogenannten Geisteskultur und einer technologischen nicht zu leugnen, um gleichwohl über die sture Entgegensetzung sich zu erheben. So verblendet das nützlichkeitsgebundene Lebensgefühl sein mag, das, verschlossen gegen die unablässig anwachsenden Widersprüche, wähnt, alles sei zum besten bestellt, sofern es nur funktioniert, so verblendet ist auch der Glaube an eine Geisteskultur, die vermöge ihres Ideals selbstgenügsamer Reinheit auf die Verwirklichung ihres Gehalts verzichtet und die Realität der Macht und ihrer Blindheit preisgibt. Dies vorausgeschickt, riskiere ich, von dem zu reden, was mir den Entschluß zur Rückkehr erleichterte. Ein Verleger, übrigens ein eingewanderter Europäer, äußerte den Wunsch, den Hauptteil der ›Philosophie der neuen Musik‹, dessen deutsches Manuskript er kannte, auf englisch zu publizieren. Er bat mich um einen Rohentwurf der Übersetzung. Als er ihn las, fand er, das ihm bereits bekannte Buch sei »badly organized«, schlecht organisiert. Ich sagte mir, in Deutschland würde mir das wenigstens, trotz alles Geschehenen, erspart bleiben. Einige Jahre danach wiederholte sich das gleiche, grotesk gesteigert. Ich hatte in der Psychoanalytischen Gesellschaft in San Francisco einen Vortrag gehalten und der zuständigen Fachzeitschrift zur Publikation gegeben. In den Korrekturfahnen entdeckte ich, daß man sich nicht mit der Verbesserung stilistischer Mängel begnügt hatte, die dem Einwanderer unterlaufen waren. Der gesamte Text war bis zur Unkenntlichkeit entstellt, die Grundintention nicht wiederzuentdecken. Auf meinen höflichen Protest empfing ich die nicht minder höfliche, bedauernde Erklärung, die Zeitschrift verdanke ihren Ruf eben ihrer Praxis, alle Beiträge einem solchen editing, einer solchen Redaktion, zu unterwerfen. Sie verschaffe ihr die Einheitlichkeit; ich sei mir nur selbst im Wege, wenn ich auf
ihre Vorzüge verzichtete. Ich verzichtete dennoch; heute steht der Aufsatz in dem Band ›Sociologica II‹, unter dem Titel ›Die revidierte Psychoanalyse‹, in einer recht getreuen deutschen Übersetzung. An ihr mag man überprüfen, ob der Text durch eine Maschine hätte filtriert werden müssen, gehorsam jener fast universalen Technik der Adaptation, der Bearbeitung, des Arrangements, die in Amerika ohnmächtige Autoren über sich ergehen lassen müssen. Ich nenne die Beispiele nicht, um mich über das Land zu beklagen, wo ich gerettet ward, sondern um zu verdeutlichen, warum ich nicht blieb. Verglichen mit dem Grauen des Nationalsozialismus waren meine literarischen Erlebnisse läppische Bagatellen. Aber nachdem ich einmal weiterlebte, war es wohl entschuldbar, daß ich mir Bedingungen der Arbeit aussuchte, welche diese möglichst wenig beeinträchtigten. Bewußt war mir, daß die Autonomie, die ich als unbedingtes Recht des Autors auf die integrale Gestalt seiner Produktion verfocht, gegenüber der hochrationalisierten wirtschaftlichen Verwertung auch geistiger Gebilde zugleich etwas Rückschrittliches hatte. Was man von mir verlangte, war nichts anderes als die folgerechte Anwendung der Gesetze hochgesteigerter ökonomischer Konzentration auf wissenschaftliche und schriftstellerische Produkte. Aber dies nach dem Maß von Anpassung Fortgeschrittenere bedeutete unweigerlich nach dem Maß der Sache den Rückschritt. Anpassung schneidet ab, wodurch geistige Gebilde über das selbst bereits gesteuerte Konsumentenbedürfnis sich erheben, ihr, vielleicht, Neues und Produktives. Hierzulande ist die Forderung, auch den Geist anzupassen, noch nicht total. Noch wird, sei's auch oft genug mit problematischem Recht, zwischen seinen autonomen Erzeugnissen unterschieden und solchen für den Markt. Derlei ökonomische Rückschrittlichkeit, von der ungewiß ist, wie lange sie noch geduldet wird, ist der Schlupfwinkel von all dem Fortschrittlichen, das in den geltenden gesellschaftlichen Spielregeln nicht alle Wahrheit sieht. Wird einmal der Geist, wie freilich Unzählige es möchten, auf Touren gebracht, auf den Kunden zugeschnitten, den das Geschäft beherrscht, indem es seine Inferiorität zum Vorwand der eigenen Ideologie erkürt, so ist es mit dem Geist so gründlich aus wie unter den faschistischen Knüppeln. Intentionen, die sich beim Bestehenden nicht bescheiden: ich würde sagen qualitativ moderne Intentionen, leben von Rückständigkeit im ökonomischen
Verwertungsprozeß. Auch sie ist keine nationale deutsche Eigentümlichkeit, sondern bezeugt gesamtgesellschaftliche Widersprüche. Bisher kennt Geschichte keinen geradlinigen Fortschritt. Solange er einsträhnig verläuft, in der Bahn bloßer Naturbeherrschung, verkörpert sich, was geistig darüber hinausreicht, eher in dem mit der Haupttendenz nicht ganz Mitgekommenen als in dem, was up to date ist. Das mag noch in einer politischen Phase, die Deutschland als Nation in weitem Maß zur Funktion der Weltpolitik relegiert – mit allen Gefahren eines wiedererwachenden Nationalismus, die das mit sich bringt –, die Chance des deutschen Geistes sein. Der Entschluß zur Rückkehr nach Deutschland war kaum einfach vom subjektiven Bedürfnis, vom Heimweh, motiviert, so wenig ich es verleugne. Auch ein Objektives machte sich geltend. Das ist die Sprache. Nicht nur, weil man in der neuerworbenen niemals, mit allen Nuancen und mit dem Rhythmus der Gedankenführung, das Gemeinte so genau treffen kann wie in der eigenen. Vielmehr hat die deutsche Sprache offenbar eine besondere Wahlverwandtschaft zur Philosophie, und zwar zu deren spekulativem Moment, das im Westen so leicht als gefährlich unklar – keineswegs ohne allen Grund – beargwöhnt wird. Geschichtlich ist die deutsche Sprache, in einem Prozeß, der erst einmal wirklich zu analysieren wäre, fähig dazu geworden, etwas an den Phänomenen auszudrücken, was in ihrem bloßen Sosein, ihrer Positivität und Gegebenheit nicht sich erschöpft. Man kann diese spezifische Eigenschaft der deutschen Sprache am drastischsten sich vergegenwärtigen an der fast prohibitiven Schwierigkeit, philosophische Texte obersten Anspruchs wie Hegels Phänomenologie des Geistes oder seine Wissenschaft der Logik in eine andere zu übersetzen. Das Deutsche ist nicht bloß Signifikation fixierter Bedeutungen, sondern hat von der Kraft zum Ausdruck mehr festgehalten jedenfalls, als an den westlichen Sprachen der gewahrt, welcher nicht in ihnen aufwuchs, dem sie nicht zweite Natur sind. Wer aber dessen versichert sich hält, daß der Philosophie, im Gegensatz zu den Einzelwissenschaften, die Darstellung wesentlich sei – jüngst hat Ulrich Sonnemann sehr prägnant formuliert, keinen großen Philosophen hätte es gegeben, der nicht auch ein großer Schriftsteller gewesen wäre –, der wird auf das Deutsche verwiesen. Zumindest der geborene Deutsche wird
fühlen, daß er das essentielle Moment der Darstellung, oder des Ausdrucks, in der fremden Sprache nicht voll sich erwerben kann. Schreibt man in einer ernsthaft fremden Sprache, so gerät man, eingestanden oder nicht, unter den Bann, sich mitzuteilen, es so zu sagen, daß die anderen es auch verstehen. In der eigenen Sprache jedoch darf man, wenn man nur die Sache so genau und kompromißlos sagt wie möglich, auch darauf hoffen, durch solche unnachgiebige Anstrengung verständlich zu werden. Für die Mitmenschen steht im Bereich der eigenen Sprache diese selbst ein. Ob der Tatbestand fürs Deutsche spezifisch ist, oder viel allgemeiner das Verhältnis zwischen jeweils eigener und fremder Sprache betrifft, wage ich nicht zu entscheiden. Doch spricht die Unmöglichkeit, nicht nur hoch ausgreifende spekulative Gedanken, sondern sogar einzelne recht genaue Begriffe wie den des Geistes, des Moments, der Erfahrung, mit all dem, was in ihnen auf deutsch mitschwingt, ohne Gewaltsamkeit in eine andere Sprache zu transponieren, für eine spezifische, objektive Eigenschaft der deutschen Sprache. Fraglos hat sie dafür auch ihren Preis zu zahlen in der immerwährenden Versuchung, daß der Schriftsteller wähnt, der immanente Hang ihrer Worte, mehr zu sagen, als sie sagen, mache es leichter und entbinde davon, dies Mehr zu denken und womöglich kritisch einzuschränken, anstatt mit ihm zu plätschern. Der Zurückkehrende, der die Naivetät zum Eigenen verloren hat, muß die innigste Beziehung zur eigenen Sprache vereinen mit unermüdlicher Wachsamkeit gegen allen Schwindel, den sie befördert; gegen den Glauben, das, was ich den metaphysischen Überschuß der deutschen Sprache nennen möchte, garantiere bereits die Wahrheit der von ihr nahegelegten Metaphysik, oder von Metaphysik überhaupt. Vielleicht darf ich in diesem Zusammenhang gestehen, daß ich den ›Jargon der Eigentlichkeit‹ auch darum geschrieben habe. Weil ich der Sprache als einem Konstituens des Gedanken soviel Gewicht beilege wie in der deutschen Tradition Wilhelm von Humboldt, dränge ich sprachlich, auch im eigenen Denken, auf eine Disziplin, der die eingeschliffene Rede nur allzugern entläuft. Der metaphysische Sprachcharakter ist kein Privileg. Nicht ist von ihm die Idee einer Tiefe zu erborgen, die in dem Augenblick verdächtig wird, in dem sie sich ihrer selbst rühmt. Ähnlich etwa ward, was immer am Begriff deutsche Seele einmal daran war, tödlich beschädigt, als ein ultrakonservativer Komponist
sein romantisch-retrospektives Werk danach betitelte. Der Begriff der Tiefe selbst ist nicht unreflektiert zu bejahen, nicht, wie die Philosophie es nennt, zu hypostasieren. Keiner, der deutsch schreibt und seine Gedanken von der deutschen Sprache durchtränkt weiß, dürfte die Kritik Nietzsches an jener Sphäre vergessen. In der Tradition war selbstgerechte deutsche Tiefe ominös einig mit dem Leiden und mit dessen Rechtfertigung. Darum hat man die Aufklärung als flach verketzert. Ist etwas noch tief, nämlich unzufrieden mit blind eingeschliffenen Vorstellungen, dann die Aufkündigung von jeglichem verdeckenden Einverständnis mit der Unabdingbarkeit des Leidens. Solidarität verwehrt seine Rechtfertigung. In der Treue zur Idee, daß, wie es ist, nicht das letzte sein solle – nicht in hoffnungslosen Versuchen, festzustellen, was das Deutsche nun einmal sei, ist der Sinn zu vermuten, den dieser Begriff noch behaupten mag: im Übergang zur Menschheit.
Wissenschaftliche Erfahrungen in Amerika Eine amerikanische Anregung hat mich bewogen, etwas von den geistigen Erfahrungen festzuhalten, die ich drüben machte. Vielleicht wird dadurch, von einem Extrem her, auch über das minder Exponierte ein wenig Licht verbreitet. Daß ich, vom ersten bis zum letzten Tag, mich als Europäer empfand, habe ich nie verleugnet. An der geistigen Kontinuität festzuhalten, war mir selbstverständlich und artikulierte sich mir in Amerika rasch genug zu vollem Bewußtsein. Ich erinnere mich noch des Schocks, den mir eine Emigrantin wie wir in der New Yorker Anfangszeit bereitete, als sie, Tochter aus sogenanntem guten Hause, erklärte: »Früher ist man ins philharmonische Konzert gegangen, jetzt geht man ins Radio City.« In nichts mochte ich es ihr gleichtun. Durch Naturell und Vorgeschichte war ich zur Anpassung in geistigen Dingen denkbar ungeeignet. So wenig ich verkenne, daß anders als durch Anpassungs- und Sozialisierungsprozesse hindurch geistige Individualität überhaupt nicht sich bildet, so sehr halte ich es andererseits für die Verpflichtung und den Beweis von Individuation, daß sie über Anpassung hinausgeht. Durch die Mechanismen von Identifikation mit Ichidealen hindurch muß sie von dieser Identifikation sich emanzipieren. Dies Verhältnis von Autonomie und Anpassung ward von Freud früh erkannt und ist unterdessen dem amerikanischen wissenschaftlichen Bewußtsein vertraut. Kam man aber vor dreißig Jahren herüber, so war das nicht ebenso. Adjustment war noch ein Zauberwort, zumal dem gegenüber, der als Verfolgter aus Europa flüchtete, und von dem man ebensowohl erwartete, daß er in dem neuen Land sich qualifizierte, wie daß er nicht hochmütig bei dem sich versteifte, was er nun einmal war. Die mir durch meine ersten vierunddreißig Jahre vorgezeichnete Richtung war durchaus spekulativ, das Wort einmal im schlichten, vorphilosophischen Sinn genommen, obwohl es bei mir mit philosophischen Intentionen sich verband. Ich empfand es als mir gemäß und als objektiv geboten, Phänomene zu deuten, nicht Fakten zu ermitteln, zu ordnen, zu klassifizieren, gar als Information zur Verfügung zu stellen; nicht nur in der Philosophie sondern auch in
der Soziologie. Bis zum heutigen Tag habe ich beides nie rigoros getrennt, so gut ich auch weiß, daß hier wie dort Spezialisierung nicht durch einen bloßen Willensakt rückgängig gemacht werden kann. Die Abhandlung ›Zur gesellschaftlichen Lage der Musik‹ etwa, die ich als Frankfurter Privatdozent 1932 in der Zeitschrift für Sozialforschung veröffentlichte, und an die all meine späteren musiksoziologischen Studien sich anschlossen, war schon durchaus theoretisch orientiert, getragen von der Vorstellung einer in sich antagonistischen Totalität, die auch in der Kunst »erscheint« und auf welche die Kunst zu interpretieren ist. Ein Typus von Soziologie, für den eine solche Art von Denken allenfalls den Wert von Hypothesen, nicht aber den von Erkenntnis hatte, war mir konträr. Andererseits kam ich, so hoffe ich wenigstens, nach Amerika als ein von Nationalismus und kultureller Arroganz völlig Freier. Die Problematik des traditionellen, zumal deutschen, geisteswissenschaftlichen Kulturbegriffs war mir viel zu evident geworden, als daß ich solchen Anschauungen länger mich anvertraut hätte. Das aufklärerische Moment auch im Verhältnis zur Kultur, im amerikanischen geistigen Klima selbstverständlich, mußte mich aufs stärkste berühren. Überdies war ich voll von Dankbarkeit für die Rettung vor der Katastrophe, die bereits 1937 sich abzeichnete: ebenso willig, das Meine zu tun, wie entschlossen, mich nicht aufzugeben. Die Spannung von beidem dürfte einigermaßen umschreiben, wie ich zur amerikanischen Erfahrung mich verhielt. Im Herbst 1937 erhielt ich von meinem Freund Max Horkheimer, vor der Hitlerzeit Direktor des Instituts für Sozialforschung an der Frankfurter Universität, das er nun in Verbindung mit der Columbia University in New York fortführte, ein Telegramm nach London, es bestünde die Möglichkeit meiner raschen Übersiedlung nach Amerika, wenn ich bereit wäre, an einem Radioprojekt mitzuarbeiten. Nach kurzem Überlegen sagte ich telegraphisch zu. Ich wußte nicht einmal so recht, was ein Radioprojekt sei; der amerikanische Gebrauch des Wortes »project«, das heutzutage in Deutschland etwa mit »Forschungsvorhaben« übersetzt wird, war mir unbekannt. Ich war nur dessen gewiß, daß mein Freund mir den Vorschlag nicht gemacht hätte, wäre er nicht der Überzeugung gewesen, daß ich, von Fach Philosoph, die Aufgabe bewältigen könnte. Vorbereitet darauf war ich nur durch weniges. In drei Jahren in Oxford hatte ich
zwar autodidaktisch, aber doch einigermaßen anständig Englisch gelernt. Im Juni 1937 dann war ich, auf Einladung von Horkheimer, für ein paar Wochen in New York gewesen und hatte immerhin einen ersten Eindruck gewonnen. In der Zeitschrift für Sozialforschung 1936 hatte ich eine soziologische Interpretation des Jazz publiziert, die zwar empfindlich an dem Mangel spezifisch amerikanischer Kenntnisse krankte, aber wenigstens in einem Material sich bewegte, das als charakteristisch amerikanisch gelten mochte. Eine gewisse Kenntnis amerikanischen Lebens, insbesondere der musikalischen Verhältnisse drüben, dürfte ich mir rasch und intensiv erworben haben; da gab es wenig Schwierigkeiten. Der theoretische Kern jener Arbeit über Jazz stand in wesentlicher Beziehung zu späteren sozialpsychologischen Untersuchungen, auf die ich mich einließ. Manche meiner Theoreme fand ich durch amerikanische Kenner wie Winthrop Sargeant bestätigt. Dennoch hatte jene Arbeit, obwohl sie sich dicht an die musikalischen Sachverhalte heftete, nach amerikanischen Begriffen von Soziologie den Makel des Unbewiesenen. Sie verblieb im Bereich des auf Hörer einwirkenden Materials, des »Stimulus«, ohne daß ich mich mit den Methoden statistischer Erhebung auf die other side of the fence begeben hätte oder hätte begeben können. Dadurch provozierte ich den Einwand, den ich nicht zum letzten Mal hören sollte: »Where is the evidence?« Schwerer wog eine gewisse Naivetät der amerikanischen Situation gegenüber. Wohl wußte ich, was Monopolkapitalismus, was die großen Trusts sind; nicht jedoch, in welchem Maß rationelle Planung und Standardisierung die sogenannten Massenmedien, und damit den Jazz, dessen Derivate an ihrer Produktion einen so erheblichen Anteil haben, durchdrangen. Ich nahm tatsächlich noch den Jazz als die unmittelbare Äußerung hin, als die er sich selbst so gern propagiert, und gewahrte nicht das Problem einer angedrehten, manipulierten Schein-Spontaneität, das des »aus zweiter Hand«, das mir dann in der amerikanischen Erfahrung aufging und das ich später, tant bien que mal, zu formulieren suchte. Als ich, fast dreißig Jahre nach ihrer ersten Publikation, die Arbeit ›Über Jazz‹ wieder drucken ließ, stand ich zu ihr sehr distanziert. Darum konnte ich außer ihren Schwächen auch das bemerken, was sie etwa taugt. Gerade dadurch, daß sie ein amerikanisches Phänomen nicht mit
jener Selbstverständlichkeit wahrnimmt, die es in Amerika besitzt, sondern, wie man heutzutage etwas gar zu behend in Deutschland auf Brechtisch sagt, es »verfremdete«, bestimmte sie Züge, die von der Vertrautheit des Jazz-Idioms allzu leicht verdeckt werden, und die für das Phänomen wesentlich sein mögen. In gewissem Sinn ist solche Verschränkung von Outsidertum und unbefangener Einsicht wohl für all meine Arbeiten über amerikanisches Material charakteristisch. Als ich im Februar 1938 von London nach New York übersiedelte, war ich die Hälfte meiner Zeit für das Institut für Sozialforschung tätig, die Hälfte für das Princeton Radio Research Project. Das letztere wurde geleitet von Paul F. Lazarsfeld, als Mitdirektoren standen ihm Hadley Cantril und Frank Stanton, damals noch Research Director des Columbia Broadcasting System, zur Seite. Ich selbst sollte die sogenannte Music Study des Projekts dirigieren. Dank meiner Zugehörigkeit zum Institut für Sozialforschung war ich nicht derart dem unmittelbaren Konkurrenzkampf, und dem Druck von außen gesetzter Forderungen, exponiert, wie es sonst wohl zu gehen pflegt; ich hatte die Möglichkeit, eigene Intentionen zu verfolgen. Dem Problem der Doppeltätigkeit suchte ich durch eine gewisse Kombination dessen gerecht zu werden, womit ich hier und dort wissenschaftlich mich beschäftigte. In den theoretischen Texten, die ich damals für das Institut schrieb, formulierte ich die Gesichtspunkte und Erfahrungen, die ich in dem Radio Project verwerten wollte. Es handelte sich dabei, zunächst, um den Essay ›Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens‹, der bereits 1938 in der Zeitschrift für Sozialforschung erschien, heute in dem Band ›Dissonanzen‹ zu lesen ist, und um den Abschluß des bereits 1937 in London begonnenen Buches über Richard Wagner, aus dem wir einige Kapitel 1939 in der Zeitschrift für Sozialforschung brachten, während das Ganze 1952 im Suhrkamp Verlag veröffentlicht wurde. Der Abstand dieses Buches von den empirisch-musiksoziologischen Publikationen war beträchtlich. Trotzdem gehört es in den Gesamtkomplex meiner damaligen Arbeit hinein. Der ›Versuch über Wagner‹ trachtete, soziologische, technisch-musikalische und ästhetische Analysen derart miteinander zu verbinden, daß einerseits gesellschaftliche Analysen von Wagners »Sozialcharakter« und der Funktion seines Werks Licht
werfen sollten auf dessen innere Zusammensetzung. Andererseits, und das schien mir wesentlicher, sollten innertechnische Befunde ihrerseits gesellschaftlich zum Sprechen gebracht, als Chiffren gesellschaftlicher Sachverhalte gelesen werden. Der Text über den Fetischcharakter aber wollte die frischen musikalisch-soziologischen Beobachtungen, die ich in Amerika machte, auf den Begriff bringen und etwas wie ein »frame of reference«, ein Bezugssystem, für die durchzuführenden Einzeluntersuchungen entwerfen. Gleichzeitig stellte die Abhandlung eine Art kritische Replik auf die kurz vorher in unserer Zeitschrift abgedruckte Arbeit von Walter Benjamin über das ›Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit‹ dar. Die Problematik der kulturindustriellen Produktion und der ihr zugeordneten Verhaltensweisen wurde darin unterstrichen, während Benjamin eben jene problematische Sphäre, wie mir schien, allzu ungebrochen zu »retten« trachtete. Das Princeton Radio Research Project hatte sein Zentrum damals weder in Princeton noch in New York, sondern in Newark, New Jersey, und zwar, etwas improvisierender Weise, in einer unbenutzten Brauerei. Wenn ich dorthin fuhr, durch den Tunnel unter dem Hudson, kam ich mir ein wenig wie im Kafkaschen Naturtheater von Oklahoma vor. Freilich zog gerade die nach europäischen akademischen Sitten schwer vorstellbare Unbefangenheit in der Wahl der Lokalität mich sehr an. Mein erster Eindruck von den im Gang befindlichen Untersuchungen jedoch zeichnete sich nicht gerade durch viel Verständnis aus. Ich ging, auf Anregung Lazarsfelds, von Zimmer zu Zimmer und unterhielt mich mit den Mitarbeitern, hörte Worte wie »Likes and Dislikes Study«, »Success or Failure of a Programme« und ähnliches, worunter ich mir zunächst wenig vorstellen konnte. Doch begriff ich soviel, daß es sich um das Ansammeln von Daten handelte, die planenden Stellen im Bereich der Massenmedien, sei's unmittelbar der Industrie, sei's kulturellen Beiräten und ähnlichen Gremien zugute kommen sollten. Zum ersten Mal sah ich administrative research vor mir: ich weiß heute nicht mehr, ob Lazarsfeld diesen Begriff prägte oder ich in meinem Staunen über einen mir so gänzlich ungewohnten, unmittelbar praktisch orientierten Typus von Wissenschaft. Jedenfalls hat Lazarsfeld später den Unterschied eines solchen
administrative research von der kritischen Sozialforschung, wie unser Institut sie sich angelegen sein ließ, in einer Abhandlung dargelegt, die das der ›Kommunikationsforschung‹ gewidmete Sonderheft unserer Studies in Philosophy and Social Science 1941 einleitete. Im Rahmen des Princeton Project freilich war für kritische Sozialforschung wenig Raum. Dessen Charter, die von der Rockefeller Foundation stammte, stipulierte ausdrücklich, die Untersuchungen müßten sich im Rahmen des in den USA etablierten kommerziellen Radiosystems vollziehen. Das schloß ein, daß nicht dies System selbst, seine sozialen und ökonomischen Voraussetzungen und seine bildungssoziologischen Folgen analysiert werden dürften. Ich kann nicht sagen, daß ich an jene Charter mich strikt gehalten hätte. Keineswegs veranlaßte mich dazu die Begierde nach Kritik um jeden Preis, die einem schlecht angestanden hätte, der überhaupt erst mit dem sogenannten kulturellen Klima sich vertraut machen mußte. Vielmehr beunruhigte mich ein grundsätzliches methodologisches Problem – das Wort Methode mehr in seinem europäischen, erkenntniskritischen Sinn verstanden als in dem amerikanischen, demzufolge ja methodology beinahe soviel wie praktische Erhebungstechniken bedeutet. Ich war durchaus gesonnen, auf jene berühmte other side of the fence mich zu begeben, also Hörerreaktionen zu studieren, und weiß noch, wieviel Freude ich hatte, und wieviel ich lernte, als ich selbst, zu meiner Orientierung, eine Reihe von freilich recht wildwüchsigen, der Systematik entratenden Interviews durchführte. Unbehagen am bloßen Drauflosdenken hatte ich seit frühester Jugend verspürt. Es schien mir aber andererseits, und davon bin ich auch heute noch überzeugt: daß, im kulturellen Betrieb, in dem, was nach den Anschauungen von Wahrnehmungspsychologie bloßer Stimulus ist, ein seinerseits qualitativ Bestimmtes, Geistiges, seinem objektiven Gehalt nach Erkennbares vorliegt. Ich sträube mich dagegen, Wirkungen zu konstatieren und zu messen, ohne sie in Beziehung auf jene »Stimuli«, nämlich die Objektivität dessen zu setzen, worauf die Konsumenten der Kulturindustrie, hier also: die Radiohörer, reagieren. Was nach den Spielregeln des orthodoxen social research axiomatisch war, der Ausgang von den Reaktionsweisen der Probanden als von einem Primären, der letzten Rechtsquelle soziologischer Erkenntnis, schien mir ein durchaus Vermitteltes und
Abgeleitetes. Oder, vorsichtiger: es wäre erst von der Forschung zu ermitteln gewesen, inwieweit derlei subjektive Reaktionen der Probanden tatsächlich so spontan und unmittelbar sind, wie die Probanden meinen, oder wieweit dahinter nicht nur die Verbreitungsmechanismen und die Suggestionskraft des Apparats, sondern auch die objektiven Implikationen der Medien und des Materials stehen, mit dem die Hörer konfrontiert werden – und schließlich weit übergreifende gesellschaftliche Strukturen, bis hinauf zu der der Gesamtgesellschaft. Allein jedoch, daß ich von objektiven Implikaten der Kunst ausging, anstatt von statistisch meßbaren Hörerreaktionen, kollidierte mit den positivistischen Denkgewohnheiten, wie sie in der amerikanischen Wissenschaft fast unbestritten galten. Weiter behinderte mich, beim Übergang von der theoretischen Erwägung zur Empirie, etwas spezifisch Musikalisches: die Schwierigkeit, das, was Musik subjektiv im Hörer auslöst, zu verbalisieren, überhaupt die Dunkelheit dessen, was man so gern »Musikerlebnis« nennt. Eine kleine Maschine, der sogenannte program analyzer, die es erlaubte, durch Druck beim Ablauf eines Musikstücks zu bezeichnen, was einem gefiel und was nicht, und ähnliches, schien mir, trotz der scheinbaren Objektivität der Daten, zu denen sie verhalf, gegenüber der Komplexität des zu Erkennenden höchst unzulänglich. Jedenfalls hielt ich es für nötig, zunächst einmal in weitem Maß das zu betreiben, was man vielleicht mit musikalischer content analysis, der der Sache selbst – ohne daß dabei die Musik als Programmusik mißverstanden worden wäre –, bezeichnen könnte, ehe ich, wie man so sagt, ins Feld gehen mochte. Ich erinnere mich daran, wie verwirrt ich war, als mein unterdessen verstorbener Kollege Franz Neumann vom Institut für Sozialforschung, der Autor des ›Behemot‹, mich fragte, ob die Fragebogen der Music Study schon herausgeschickt wären, während ich noch kaum wußte, ob man den Fragen, die ich für essentiell hielt, mit Fragebogen überhaupt gerecht werden kann. Ich weiß es immer noch nicht: immer noch nicht ist es energisch genug versucht worden. Freilich, und darin bestand wohl mein Mißverständnis, waren zentrale Einsichten in das Verhältnis von Musik und Gesellschaft gar nicht von mir erwartet worden, sondern verwertbare Informationen. Auf dies Bedürfnis mich umzuschalten, spürte ich heftigen Widerwillen; ich hätte es, nach einer Bemerkung
von Horkheimer, die mir den Rücken stärkte, wahrscheinlich meiner Beschaffenheit nach auch dann nicht vermocht, wenn ich es gewollt hätte. Sicherlich war all das zu nicht geringem Grad mitbedingt dadurch, daß ich zunächst an das spezifische Gebiet der Musiksoziologie mehr als Musiker heranging denn als Soziologe. Doch spielte ein genuin soziologisches Moment hinein, über das ich mir erst nach Jahren Rechenschaft geben konnte. Beim Rekurs auf subjektive Verhaltensweisen zur Musik stieß ich auf die Frage der Vermittlung. Ausgelöst wurde sie eben dadurch, daß mir die scheinbar primären, unmittelbaren Reaktionen, als selbst vermittelte, nicht als zureichende Basis soziologischer Erkenntnis genügten. Man könnte darauf verweisen, daß in der sogenannten Motivationsanalyse der auf subjektive Reaktionen und deren Verallgemeinerungen gerichteten Sozialforschung ein Mittel zur Verfügung stünde, jenen Schein von Unmittelbarkeit zu korrigieren und in die vorgängigen Bedingungen der subjektiven Reaktionsweisen, etwa durch ergänzende ausführliche, qualitative case studies, einzudringen. Abgesehen davon jedoch, daß vor dreißig Jahren die empirische Sozialforschung sich noch nicht so intensiv mit Techniken der Motivationsforschung befaßte wie später, empfand und empfinde ich auch eine solche Verfahrungsweise, so sehr sie dem common sense sich empfiehlt, nicht als voll adäquat. Auch sie bliebe notwendig befangen im subjektiven Bereich: Motivationen haben ihren Ort im Bewußten und Unbewußten der Individuen. Durch Motivationsanalyse allein würde nicht eruiert, ob und wie Reaktionen auf Musik durch das sogenannte kulturelle Klima und darüber hinaus durch gesellschaftliche Strukturmomente bedingt sind. Selbstverständlich kommen auch in subjektiven Meinungen und Verhaltensweisen indirekt soziale Objektivitäten zutage. Meinungen und Verhaltensweisen der Subjekte sind selbst immer auch ein Objektives. Sie fallen für die Entwicklungstendenzen der Gesamtgesellschaft ins Gewicht, wenngleich nicht zu dem Grad, den ein soziologisches Modell unterstellt, das die Spielregeln parlamentarischer Demokratie schlechtweg der Realität der lebendigen Gesellschaft gleichsetzt. Überdies blitzen in den subjektiven Reaktionen soziale Objektivitäten, bis hinab zu konkreten Einzelheiten, auf. Von subjektivem Material läßt sich auf
objektive Determinanten zurückschließen. Insofern subjektive Reaktionen eher feststellbar und quantifizierbar sind als Strukturen, auf die, zumal als »gesamtgesellschaftliche«, nicht ebenso empirisch der Finger sich legen läßt, hat der Ausschließlichkeitsanspruch der empirischen Methoden seine Stütze. Plausibel, daß man von den an Subjekten erhobenen Daten ebenso zur gesellschaftlichen Objektivität gelangen könne, wie wenn man von dieser ausginge, nur daß man, wofern die Soziologie mit der Ermittlung jener Daten beginne, auf festerem Boden sich befinde. Trotz alldem jedoch ist unbewiesen, ob tatsächlich von Meinungen und Reaktionsweisen einzelner Personen zur Gesellschaftsstruktur und zum gesellschaftlichen Wesen fortgeschritten werden kann. Auch der statistische Durchschnitt jener Meinungen ist, wie bereits Durkheim erkannte, noch ein Inbegriff von Subjektivität. Kaum Zufall, daß die Vertreter eines rigorosen Empirismus die Theoriebildung derart einschränken, daß die Konstruktion der Gesamtgesellschaft und ihrer Bewegungsgesetze verhindert wird. Vor allem aber: die Wahl von Bezugssystemen, der Kategorien und Verfahrungsweisen, die eine Wissenschaft benutzt, ist nicht so neutral und gegen den Inhalt des Erkannten gleichgültig, wie ein Denken es möchte, zu dessen wesentlichen Ingredienzien die strikte Trennung von Methode und Sache gehört. Ob man von einer Theorie der Gesellschaft ausgeht und die vermeintlich gesicherten beobachtbaren Phänomene als deren Epiphänomene auffaßt, oder ob man in diesen die Substanz der Wissenschaft zu besitzen glaubt und die Theorie der Gesellschaft lediglich als eine durch Klassifikation resultierende Abstraktion, das hat weittragende inhaltliche Konsequenzen für die Konzeption der Gesellschaft. Die Wahl des einen oder des anderen »Bezugssystems« entscheidet, vor jeder besonderen Parteinahme und vor jedem »Werturteil«, darüber, ob man das Abstraktum Gesellschaft als die Realität denkt, von der alles Einzelne abhängt, oder ob man es um seiner Abstraktheit willen, wie es in der Tradition des Nominalismus liegt, als bloßen flatus vocis, als leeres Wort, einschätzt. Diese Alternative reicht in alle gesellschaftlichen Urteile, schließlich auch in die politischen hinein. Motivationsanalyse führt nicht viel weiter als auf einzelne partikulare Einwirkungen, die zu den Reaktionen der Probanden in Beziehung gesetzt werden, die aber, zumal innerhalb des Gesamtsystems der Kulturindustrie, ihrerseits nur mehr oder minder
willkürlich aus der Totalität dessen herausoperiert werden, was nicht allein von außen auf die Menschen einwirkt, sondern von ihnen längst auch verinnerlicht ist. Dahinter steht ein für die »Kommunikationsforschung« weit relevanterer Sachverhalt. Die Phänomene, mit denen die Soziologie der Massenmedien zumal in Amerika sich abzugeben hat, sind, als solche von Standardisierung, von der Verwandlung künstlerischer Gebilde in Konsumgüter, von kalkulierter Pseudo-Individualisierung und ähnlichen Erscheinungsformen dessen, was man in deutscher philosophischer Sprache Verdinglichung nennt, nicht zu trennen. Ihr entspricht ein verdinglichtes, der spontanen Erfahrung kaum mehr mächtiges, sondern weithin manipulierbares Bewußtsein. Was ich mit verdinglichtem Bewußtsein meine, kann ich, ohne umständliche philosophische Erwägung, am einfachsten mit einem amerikanischen Erlebnis illustrieren. Unter den vielfach wechselnden Mitarbeitern, die im Princeton Projekt an mir vorüberzogen, befand sich eine junge Dame. Nach ein paar Tagen faßte sie Vertrauen zu mir und fragte mit vollendeter Liebenswürdigkeit: »Dr. Adorno, would you mind a personal question?« Ich sagte: »It depends on the question, but just go ahead«, und sie fuhr fort: »Please tell me: are you an extrovert or an introvert?« Es war, als dächte sie bereits als lebendiges Wesen nach dem Modell der Cafeteria-Fragen aus Questionnaires. Sie mochte sich selbst unter derlei starre und vorgegebene Kategorien subsumieren, ähnlich wie man es mittlerweile vielfach auch in Deutschland beobachten kann, etwa wenn Leute sich durch Sternbildzeichen charakterisieren, unter denen sie geboren sind: »Schützefrau, Widdermann«. Verdinglichtes Bewußtsein ist keineswegs nur in Amerika zu Hause, sondern wird von der gesellschaftlichen Gesamttendenz gefördert. Nur ist es mir drüben zum ersten Mal bewußt geworden. Auch in der Formation jenes Geistes zieht Europa, im Einklang mit der wirtschaftlich-technologischen Entwicklung, hinterher. Der Komplex ist unterdessen in Amerika ins allgemeine Bewußtsein gedrungen. Um 1938 indessen war es anathema, den mittlerweile seinerseits recht abgenutzten Begriff der Verdinglichung irgend zu gebrauchen. Mich irritierte insbesondere ein methodologischer Zirkel: daß
man, um nach den geltenden Normen empirischer Soziologie das Phänomen kultureller Verdinglichung in den Griff zu bekommen, sich selbst verdinglichter Methoden bedienen müsse, wie sie mir in Gestalt jenes program analyzer so bedrohlich vor Augen standen. War ich etwa mit der Forderung konfrontiert, wie man wörtlich sagte, »Kultur zu messen«, so besann ich demgegenüber mich darauf, daß Kultur eben jener Zustand sei, der eine Mentalität ausschließt, die ihn messen möchte. Insgesamt sträubte ich mich gegen die undifferenzierte Anwendung des damals auch in den Sozialwissenschaften noch wenig kritisierten Grundsatzes science is measurement. Das Gebot des Vorrangs quantitativer Erhebungsmethoden, denen gegenüber die Theorie ebenso wie die qualitativen Einzelstudien bestenfalls supplementären Charakter haben sollten, brachte es mit sich, daß man eben jenes Paradoxe unternehmen mußte. Die Aufgabe, meine Erwägungen in research terms umzusetzen, kam einer Quadratur des Zirkels gleich. Wieviel dabei zu Lasten meiner persönlichen Gleichung geht, bin sicherlich nicht ich die rechte Person zu beurteilen; tatsächlich jedoch sind die Schwierigkeiten gewiß auch objektiver Art. Sie gründen in der Inhomogenität des Wissenschaftsgebildes Soziologie. Kein Kontinuum besteht zwischen kritischen Theoremen und den naturwissenschaftlich empirischen Verfahrungsarten. Beides hat divergente historische Ursprünge und ist nur mit äußerster Gewalttätigkeit zu integrieren. Zweifel solcher Art türmten derart sich vor mir auf, daß ich mich zwar mit Beobachtungen über das amerikanische Musikleben, insbesondere über das Radiosystem, vollsog und Theoreme und Thesen zu Papier brachte, aber es nicht vermochte, Fragebogen und Interviewschemata wenigstens zu den Nervenpunkten zu entwerfen. Allerdings war ich in meiner Aktivität ein wenig verlassen. Die Ungewohntheit dessen, was mir vorschwebte, wirkte derart, daß ich bei Mitarbeitern eher auf Skepsis als auf Kooperation stieß. Einzig die sogenannten sekretarialen Hilfskräfte sprachen sogleich auf meine Anregungen sehr an. Heute noch denke ich mit Dankbarkeit an die Damen Rose Kohn und Eunice Cooper, die mir nicht nur meine zahllosen Entwürfe schrieben und korrigierten, sondern mir auch gut zusprachen. Je höher hinauf jedoch es in der wissenschaftlichen Hierarchie ging, um so prekärer wurde die Situation. So hatte ich einmal einen Assistenten von lange
zurückliegender deutscher, mennonitischer Abstammung, der mich insbesondere in den Untersuchungen zur leichten Musik unterstützen sollte. Er war Jazzmusiker gewesen, und ich habe von ihm über die Technik des Jazz ebenso wie über das Phänomen der song hits in Amerika viel gelernt. Anstatt daß er mir jedoch geholfen hätte, meine Problemstellungen in sei's noch so limitierte Forschungsinstrumente umzusetzen, schrieb er eine Art Protestmemorandum, in dem er nicht ohne Pathos seine wissenschaftliche Weltanschauung meiner nach seiner Ansicht wüsten Spekulation entgegensetzte. Was ich wollte, hatte er kaum recht verstanden. Bei ihm war ein gewisses Ressentiment unverkennbar: die Art von Bildung, die ich nun einmal mitbrachte, und auf die ich, gesellschaftskritisch wie ich schon dachte, mir wahrhaft nichts einbildete, erschien ihm als ungerechtfertigter Hochmut. Er hegte gegen den Europäer ein Mißtrauen, wie man es im achtzehnten Jahrhundert in bürgerlichen Schichten gegen emigrierte französische Aristokraten hegen mochte. Ich erschien ihm als eine Art falscher Prinz, wie wenig ich auch, bar jeglichen Einflusses, mit gesellschaftlichem Privileg zu tun haben mochte. Ohne daß ich meine eigenen psychologischen Schwierigkeiten im Projekt, vorab den Mangel an Flexibilität eines bereits in seinen Intentionen wesentlich geprägten Menschen, im mindesten beschönigen möchte, darf ich doch vielleicht der Erinnerung an jenen Assistenten noch einige hinzufügen, die zeigen mögen, daß die Schwierigkeiten nicht allein von meiner Insuffizienz herrührten. Ein in seinem eigenen Gebiet, das mit Musiksoziologie nichts zu tun hatte, hochqualifizierter Mitarbeiter, unterdessen längst in Amt und Würden, bat mich, ihm einige Voraussagen für eine Erhebung über Jazz zu machen: ob diese Form der Unterhaltungsmusik auf dem Land oder in der Stadt beliebter sei, ob bei Jüngeren oder Älteren, bei kirchlich Gebundenen oder »Agnostikern«, und ähnliches. Ich beantwortete diese Fragen, welche durchweg diesseits der Probleme liegen, die mich an der Soziologie des Jazz beschäftigten, mit einfachem Menschenverstand, wie ein Unbefangener, nicht durch Wissenschaft Verängstigter sie vermutlich beantworten würde. Meine wenig tiefgründigen Prophezeiungen bestätigten sich. Die Wirkung davon war überraschend. Der junge Mitarbeiter schrieb das Resultat nicht etwa meiner einfachen Vernunft zu, sondern einer Art magischen Fähigkeit zur Intuition. Ich erwarb mir dadurch bei ihm
eine Autorität, die ich durch die Antezipation, daß Jazzfans eher in Großstädten als auf dem Lande zu finden sind, keineswegs verdient hatte. Seine akademische Erziehung wirkte sich offensichtlich bei ihm so aus, daß für Überlegungen, die nicht bereits durch streng beobachtete und registrierte Fakten gedeckt waren, kein Raum mehr blieb. Tatsächlich begegnete mir das Argument, daß man, wenn man vor empirischen Untersuchungen gar zuviel Gedanken als Hypothesen entwickle, möglicherweise einem »bias« verfalle, einem Vorurteil, das die Objektivität der Befunde gefährde. Eher wollte mein überaus freundlicher Kollege mich als Medizinmann gelten lassen, als dem ein Recht einräumen, worüber das Tabu von Spekulation lag. Tabus solcher Art haben die Tendenz, sich über ihren ursprünglichen Sinn hinaus auszubreiten. Leicht kann die Skepsis gegen das Unbewiesene ins Denkverbot umschlagen. Ein anderer, ebenfalls fachlich hochqualifizierter und schon damals anerkannter Gelehrter betrachtete meine Analysen leichter Musik als »expert opinion«. Er verbuchte sie auf der Seite der Wirkungen, nicht auf der der Analyse des Objekts, das er, als bloßen Stimulus, von der Analyse ausgenommen wissen wollte, die nichts als Projektion sei. Auf dies Argument bin ich immer wieder gestoßen. Offenbar war es außerhalb der Spezialsphäre von Geisteswissenschaft in Amerika sehr schwierig, den Gedanken einer Objektivität von Geistigem zu fassen. Der Geist wird umstandslos dem Subjekt gleichgesetzt, das sein Träger ist, ohne daß seine Verselbständigung und Autonomie zugegeben würde. Vor allem realisiert die organisierte Wissenschaft kaum, wie wenig Kunstwerke aufgehen in denen, die sie hervorbringen. Einmal habe ich das an einem grotesken Extrem beobachtet. In einer Gruppe von Radiohörern war ich, Gott weiß warum, vor die Aufgabe gestellt, eine musikalische Analyse im Sinn strukturellen Hörens zu geben. Um an allgemein Bekanntes und das herrschende Bewußtsein anzuknüpfen, wählte ich die berühmte Melodie, welche das zweite Hauptthema des ersten Satzes von Schuberts h-moll-Symphonie bildet, und zeigte den kettenartig in sich verschränkten Charakter dieses Themas, dem es seine besondere Eindringlichkeit verdankt. Einer der Teilnehmer des meeting, ein sehr junger Mensch, der mir durch seine extravagant bunte Kleidung aufgefallen war, meldete sich zu Wort und sagte etwa Folgendes: was ich da gesagt hätte, sei ja recht schön und überzeugend. Aber wirksamer wäre es doch,
wenn ich Maske und Kostüm Schuberts anlegte und quasi als der Komponist selber, der über seine Absichten Auskunft erteilt, jene Gedanken entwickelte. Es prägte in Erfahrungen solchen Schlages etwas sich aus, was Max Weber vor bald fünfzig Jahren in den bildungssoziologischen Ansätzen seiner Lehre von der Bürokratie diagnostizierte und was in den dreißiger Jahren in Amerika sich bereits voll entfaltet hatte: der Niedergang des gebildeten Menschen im europäischen Sinn, der freilich als sozialer Typus in Amerika nie mag voll etabliert gewesen sein. Mir wurde das besonders deutlich an der Differenz zwischen Intellektuellem und Forschungstechniker. Die erste wirkliche Hilfe im Zusammenhang des Princeton Radio Research Project wurde mir zuteil, als man mir Dr. George Simpson als Assistenten adjungierte. Gern benutze ich die Gelegenheit, den Dank an ihn in Deutschland öffentlich zu wiederholen. Er war durchaus theoretisch orientiert; als gebürtiger Amerikaner ebenso mit den in den USA geltenden soziologischen Kriterien vertraut wie als Übersetzer der ›Division du travail‹ von Durkheim mit der europäischen Tradition. Immer wieder konnte ich beobachten, daß gebürtige Amerikaner sich aufgeschlossener, vor allem auch hilfsbereiter erwiesen als eingewanderte Europäer, die, unter dem Druck von Vorurteil und Konkurrenz, oft die Neigung zeigten, die Amerikaner zu überamerikanisieren, wohl auch leicht jeden neu hinzugekommenen Mit-Europäer als eine Art Störenfried ihres eigenen adjustment betrachteten. Offiziell fungierte Simpson als »editorial assistant«; in Wahrheit leistete er viel mehr: die ersten Ansätze einer Integration meiner spezifischen Bestrebungen mit amerikanischen Methoden. Die Zusammenarbeit vollzog sich auf eine für mich höchst überraschende und instruktive Weise. Ich hatte, als gebranntes Kind, welches das Feuer scheut, allzu große Vorsicht entwickelt; wagte kaum mehr, auf amerikanisch meine Dinge so ungeschminkt und plastisch zu formulieren, wie es notwendig war, um ihnen Relief zu verleihen. Solche Vorsicht steht aber einem Denken nicht an, das dem Schema von trial and error so wenig entsprach wie meines. Simpson nun ermunterte mich nicht nur, so konzessionslos und drastisch zu schreiben wie nur möglich, sondern trug von sich aus alles dazu bei, damit das gelang. Es wurden dann also in den Jahren 1938 bis 1940 in der Music Study des Princeton Radio Research Project vier größere Abhandlungen von mir fertig, an denen Simpson mitwirkte; ohne
ihn existierten sie kaum. Die erste hieß: ›A Social Critique of Radio Music‹. Sie erschien im Frühjahr 1945 in der Kenyon Review, ein Vortrag, den ich 1940 vor dem Mitarbeiterkreis des Radio Project hielt, und der die grundsätzlichen Gesichtspunkte meiner Arbeit entfaltete; etwas krud vielleicht, aber unmißverständlich. Drei konkrete Studien führten jene Gesichtspunkte am Material aus. Einmal die ›On Popular Music‹, gedruckt im Kommunikationsheft der Studies in Philosophy and Social Science, eine Art sozialer Phänomenologie der Schlager, in der insbesondere die Theorie der Standardisierung und Pseudo-Individualisierung, und dadurch eine bündige Unterscheidung der leichten von der ernsten Musik, gegeben wurde. Die Kategorie der Pseudo-Individualisierung war eine Vorform des Begriffs von Personalisierung, der dann später in der ›Authoritarian Personality‹ eine erhebliche Rolle spielte, wohl überhaupt für die politische Soziologie einige Relevanz erlangte. Dann gab es die Studie über die NBC Music Appreciation Hour, deren umfangreicher amerikanischer Text leider damals unveröffentlicht blieb. Was mir daran wesentlich dünkte, habe ich, mit der freundlichen Erlaubnis von Lazarsfeld, in das Kapitel ›Die gewürdigte Musik‹ aus dem ›Getreuen Korrepetitor‹ deutsch eingefügt. Es ging darin um kritische content analysis, strikt und einfach um den Nachweis, daß die populäre und als nicht kommerzieller Beitrag viel beachtete Damrosch-Stunde, die beanspruchte, musikalische Erziehung zu fördern, sowohl falsche Informationen über Musik wie ein durch und durch unwahres Bild von ihr verbreitete. Die sozialen Gründe solcher Unwahrheit wurden im Konformismus der Anschauungen aufgesucht, denen die für jene Appreciation Hour Verantwortlichen huldigten. Schließlich wurde abgeschlossen der Text ›The Radio Symphony‹, gedruckt in dem Band ›Radio Research 1941‹. Die These war, daß ernste symphonische Musik, soweit sie vom Radio so, wie sie ist, gesendet wird, nicht das ist, als was sie auftritt, und daß damit der Anspruch der Radio-Industrie, ernste Musik ins Volk zu bringen, sich als dubios erweist. Diese Arbeit löste sogleich Empörung aus; so hat der bekannte Musikkritiker Haggin dagegen polemisiert, und sie als die Art von Zeug bezeichnet, auf das Foundations hereinfielen – ein Vorwurf, der in meinem Fall keineswegs zutraf. Auch diese Arbeit habe ich, im Kern, in den ›Getreuen Korrepetitor‹ aufgenommen, ins letzte Kapitel, ›Über die musikalische Verwendung des Radios‹.
Freilich erwies sich eine der zentralen Ideen als überholt: meine These, die Radiosymphonie sei keine Symphonie mehr, technologisch abzuleiten aus Veränderungen des Klanges, dem damals im Radio noch vorherrschenden »Hörstreifen«, der unterdessen durch die Techniken von High Fidelity und Stereophonie wesentlich beseitigt ist. Doch glaube ich, daß davon weder die Theorie des atomistischen Hörens berührt wird noch die von jenem eigentümlichen »Bildcharakter« der Musik im Radio, der den Hörstreifen überlebt haben dürfte. Gemessen an dem, was eigentlich die Music Study wenigstens im Umriß hätte leisten sollen, waren jene vier Arbeiten fragmentarisch oder, amerikanisch gesprochen, das Ergebnis einer salvaging action. Mir ist nicht gelungen, eine systematisch ausgeführte Soziologie und Sozialpsychologie der Musik im Radio zu geben. Was vorlag, waren eher Modelle als ein Entwurf jenes Ganzen, zu dem ich mich verpflichtet fühlte. Der Mangel dürfte wesentlich den Grund haben, daß mir der Übergang zur Hörerforschung nicht glückte. Er wäre dringend notwendig: vor allem zur Differenzierung und Korrektur der Theoreme. Es ist eine offene, tatsächlich nur empirisch zu beantwortende Frage, ob, wieweit, in welchen Dimensionen die in musikalischer content analysis aufgedeckten gesellschaftlichen Implikationen von den Hörern auch aufgefaßt werden, und wie sie darauf reagieren. Naiv wäre es, wollte man ohne weiteres eine Äquivalenz zwischen den gesellschaftlichen Implikationen der Reize und der »responses« unterstellen, nicht weniger naiv allerdings, beides solange als unabhängig voneinander zu betrachten, wie ausgeführte Forschungen über die Reaktionen nicht vorliegen. Sind tatsächlich, wie in der Studie ›On Popular Music‹ entwickelt wurde, die Normen und Spielregeln der Schlagerindustrie sedimentierte Resultate von Publikumspräferenzen aus einer noch nicht ebenso standardisierten und technologisch durchorganisierten Gesellschaft, so wird man immerhin vermuten dürfen, daß die Implikationen des objektiven Materials von dem Bewußtsein und Unbewußtsein derer, an die es appelliert, nicht durchaus abweichen – sonst wäre das Populäre schwerlich populär. Der Manipulation sind Grenzen gesetzt. Andererseits ist zu erwägen, daß Flachheit und Oberflächlichkeit eines Materials, das von vornherein darauf angelegt ist, im Zustand von Zerstreuung wahrgenommen zu werden, verhältnismäßig flache
und oberflächliche Reaktionen erwarten lassen. Die von der musikalischen Kulturindustrie ausgestrahlte Ideologie muß nicht notwendig die ihrer Hörer sein. Als Analogie sei angeführt, daß die Boulevardpresse in vielen Ländern, auch in Amerika und England, vielfach rechtsextreme Ansichten propagiert, ohne daß das in jenen Ländern jahrzehntelang allzu große Konsequenzen für die politische Willensbildung gehabt hätte. Meine eigene Position in der Kontroverse zwischen empirischer und theoretischer Soziologie, die oft, vor allem hierzulande, ganz falsch dargestellt wurde, möchte ich grob und in aller Kürze so präzisieren, daß mir empirische Untersuchungen, auch im Bereich von Kulturphänomenen, nicht nur legitim sondern notwendig erscheinen. Man darf sie aber nicht hypostasieren und als Universalschlüssel betrachten. Vor allem müssen sie selbst in theoretischer Erkenntnis terminieren. Theorie ist kein bloßes Vehikel, das überflüssig würde, sobald man die Daten einmal zur Verfügung hat. Angemerkt mag werden, daß die vier musikalischen Abhandlungen des Princeton Project, zusammen mit der deutschen über den Fetischcharakter in der Musik, den Keim der erst 1948 abgeschlossenen ›Philosophie der neuen Musik‹ enthielten: die Gesichtspunkte, denen ich in den amerikanischen Musiktexten Fragen der Reproduktion und des Konsums unterworfen hatte, sollten auf die Sphäre der Produktion selbst angewandt werden. Die ›Philosophie der neuen Musik‹ dann wieder, noch in Amerika beendet, war verbindlich für alles, was ich danach irgend über Musik schrieb, auch für die ›Einleitung in die Musiksoziologie‹. Die Arbeit der Music Study ward keineswegs ganz von dem umschrieben, was unter meinem Namen herauskam. Es gab zwei andere Untersuchungen, darunter eine strikt empirische, die zumindest als davon angeregt betrachtet werden dürfen, ohne daß ich über sie Autorität gehabt hätte – ich zählte nicht zu den Herausgebern von ›Radio Research 1941‹. Edward Suchman hat in ›Invitation to Music‹ den bis heute wohl einzigen Versuch gemacht, eine These der ›Radio Symphony‹ an Hörerreaktionen zu überprüfen. Er ermittelte den Unterschied musikalischer Erfahrungsfähigkeit zwischen denen, die lebendige ernste Musik kennen, und denen, die erst durchs Radio initiiert wurden. Die Problemstellung hing insofern mit der meinen zusammen, als diese den Unterschied zwischen lebendiger und »verdinglichter«, durch
mechanische Reproduktionsmittel und alles, was sie beinhalten, tingierter Erfahrung betraf. Meine These dürfte durch Suchmans Untersuchung bestätigt worden sein. Der Geschmack derer, die ernste Musik lebendig gehört hatten, war dem derjenigen überlegen, die ernste Musik nur durch den damals auf sie spezialisierten New Yorker Sender WQXR kannten. Ungeklärt bleibt freilich, ob jene Differenz tatsächlich, wie es im Sinn meiner These und wohl auch der Folgerungen von Suchman lag, allein auf die hier und dort verschiedenen Auffassungsweisen zurückdatiert, oder ob nicht, wie es mir heute wahrscheinlich dünkt, ein dritter Faktor hineinspielt: daß diejenigen, die überhaupt in Konzerte gehen, bereits einer Tradition angehören, die sie mit ernster Musik vertrauter macht als die Radio Fans; daß sie überdies wahrscheinlich von vornherein ein spezifischeres Interesse daran haben als die, welche sich aufs Radiohören beschränken. Weiter wurde angesichts jener Studie, deren Existenz mich begreiflicherweise erfreute, mein Bedenken recht konkret, Fragen der Verdinglichung des Bewußtseins mit dinghaften Methoden zu behandeln. Über die Qualität der Komponisten, die der Unterscheidung der Niveaus von life- und Radio-Initiierten dienen sollte, befand, gemäß der damals noch viel verwendeten Technik der Thurston Scale, ein Gremium von Sachverständigen. Diese waren weitgehend nach ihrer Prominenz, ihrer Autorität im öffentlichen Musikleben ausgewählt. Dabei stellte sich die Frage, ob nicht solche Experten ihrerseits von denselben konventionellen Vorstellungen mitgeprägt sind, die zu jenem verdinglichten Bewußtsein hinzurechnen, das eigentlich das Objekt von derlei Untersuchungen bildet. Der hohe Rang, den die Skala Tschaikowsky zuerteilte, scheint mir einen solchen Argwohn zu rechtfertigen. Der Konkretisierung der These von der Manipuliertheit musikalischen Geschmacks diente die Studie von Duncan McDougald ›The Popular Music Industry‹ in ›Radio Research 1941‹. Sie war ein erster Beitrag zur Einsicht in die Vermitteltheit des scheinbar Unmittelbaren, indem sie bis ins einzelne beschrieb, wie damals Schlager »gemacht« wurden. Mit den Methoden einer high pressure-Reklame, »plugging«, bearbeitete man die wichtigsten Instanzen für die Popularität von Schlagern, die Kapellen, damit bestimmte Songs so oft, insbesondere im Radio gespielt wurden, bis sie tatsächlich durch die schiere Macht der anhaltenden
Wiederholung die Chance hatten, von großen Massen akzeptiert zu werden. Allerdings spürte ich auch bei McDougalds Darstellung gewisse Bedenken. Die Tatsachen, auf denen er insistierte, gehören ihrer Struktur nach einer früheren Ära an als der der zentralisierten Radiotechnik und der großen Monopole im Bereich der Massenmedien. Wesentlich erscheint noch als das Werk operettenhaft eifriger Agenten, wenn nicht individueller Korruption, was in Wahrheit längst vom objektiven System, in einigem Ausmaß von den technologischen Bedingungen selbst besorgt wird. Insofern bedürfte die Untersuchung heute der Duplikation, die eher den objektiven Mechanismen der Popularisierung des Populären nachfragt als den Machenschaften und Intrigen jener geschwätzigen Typen, deren »sheet« McDougald so saftig charakterisierte. Angesichts der gegenwärtigen sozialen Realität nimmt es sich bereits leicht altmodisch und darum versöhnlich aus. 1941 kam meine Funktion am Princeton Radio Research Project, aus dem sich das Bureau of Applied Social Research entwickelte, zum Ende, und meine Frau und ich siedelten nach Californien über, wohin Horkheimer schon vorher gezogen war. Er und ich brachten die nächsten Jahre in Los Angeles fast ausschließlich mit der gemeinsamen Arbeit an der ›Dialektik der Aufklärung‹ zu; das Buch war 1944 abgeschlossen, die letzten Ergänzungen wurden 1945 geschrieben. Bis zum Herbst 1944 war mein Kontakt mit der amerikanischen Wissenschaft unterbrochen, dann erst stellte er sich wieder her. Noch in unserer New Yorker Zeit hatte Horkheimer, angesichts des Grauenvollen, das in Europa geschah, Untersuchungen über das Problem des Antisemitismus in die Wege geleitet. Wir hatten, gemeinsam mit anderen Mitgliedern unseres Instituts, das Programm eines Forschungsprojekts entworfen und publiziert, auf das wir dann vielfach rekurrierten. Es enthielt unter anderem eine Typologie von Antisemiten, die dann, weitgehend modifiziert, in späteren Arbeiten wiederkehrte. Ähnlich wie die Music Study am Princeton Radio Research Project theoretisch durch die deutsch geschriebene Abhandlung ›Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens‹ bestimmt war, erging es nun. Das Kapitel ›Elemente des Antisemitismus‹ in der ›Dialektik der Aufklärung‹, das Horkheimer und ich im strengsten Sinn gemeinsam verfaßten, nämlich buchstäblich zusammen diktierten,
war verbindlich für meinen Anteil an den später mit der Berkeley Public Opinion Study Group durchgeführten Untersuchungen. Sie fanden in der ›Authoritarian Personality‹ ihren literarischen Niederschlag. Der Verweis auf die ›Dialektik der Aufklärung‹ die bis jetzt noch nicht ins Englische übertragen ist, scheint mir darum nicht überflüssig, weil das Buch am ehesten einem Mißverständnis vorbeugt, dem die ›Authoritarian Personality‹ von Anbeginn sich ausgesetzt sah, und an dem sie, durch ihre Akzentsetzung, nicht ganz unschuldig sein mochte: daß die Autoren versucht hätten, den Antisemitismus, und darüber hinaus den Faschismus insgesamt, lediglich subjektiv zu begründen, dem Irrtum verfallen, dies politisch-ökonomische Phänomen sei primär psychologischer Art. Aus dem, was ich zur Konzeption der Music Study des Princeton Project andeutete, dürfte zur Genüge hervorgehen, wie wenig das beabsichtigt war. Die ›Elemente des Antisemitismus‹ haben theoretisch das Rassevorurteil in den Zusammenhang einer objektiv gerichteten, kritischen Theorie der Gesellschaft gerückt. Allerdings haben wir dabei, im Gegensatz zu einer gewissen ökonomistischen Orthodoxie, uns gegen Psychologie nicht spröde gemacht, sondern ihr, als einem Moment der Erklärung, in unserem Entwurf ihren Stellenwert zugewiesen. Nie jedoch ließen wir Zweifel am Vorrang objektiver Faktoren über psychologische. Wir gehorchten der, wie mir scheint, plausiblen Erwägung, daß in der gegenwärtigen Gesellschaft die objektiven Institutionen und Entwicklungstendenzen eine solche Vormacht über die Einzelpersonen gewonnen haben, daß diese, und zwar offenbar in anwachsendem Maß, zu Funktionären der über ihren Kopf sich durchsetzenden Tendenz werden. Von ihrem eigenen bewußten und unbewußten Sosein, ihrem Innenleben, hängt immer weniger ab. Mittlerweile ist vielerorten die psychologische, auch die sozialpsychologische Erklärung sozialer Phänomene zu einem ideologischen Deckbild geworden: je mehr die Menschen von dem Gesamtsystem abhängig sind, je weniger sie darüber vermögen, desto mehr wird ihnen absichtlich und unabsichtlich eingebläut, es käme nur auf sie an. Dadurch werden aber die sozialpsychologischen Fragestellungen, zumal die tiefenpsychologischen und charakterologischen, die im Zusammenhang mit der Freudschen Theorie sich aufgeworfen haben, nicht gleichgültig. Schon in der großen Einleitung zu dem
Band des Instituts für Sozialforschung ›Autorität und Familie‹ von 1935 hatte Horkheimer von dem »Kitt« gesprochen, der die Gesellschaft zusammenhält, und die These entwickelt, daß, angesichts der Divergenz zwischen dem, was die Gesellschaft ihren Angehörigen verspricht, und dem, was sie ihnen gewährt, das Getriebe schwerlich sich erhalten könnte, wenn es nicht die Menschen selbst bis ins Innerste so gemodelt hätte, daß sie ihm konformieren. Hatte einst das bürgerliche Zeitalter, mit dem erwachenden Bedürfnis nach freien Lohnarbeitern, Menschen hervorgebracht, die den Anforderungen der neuen Produktionsweise entsprachen, so waren diese gleichsam vom ökonomisch-gesellschaftlichen System erzeugten Menschen später der zusätzliche Faktor, der den Bedingungen zu ihrem Fortbestand verhalf, nach deren Bild die Subjekte geschaffen waren. Sozialpsychologie sahen wir als subjektive Vermittlung des objektiven Gesellschaftssystems an: ohne ihre Mechanismen wären die Subjekte nicht bei der Stange zu halten gewesen. Insofern näherten sich unsere Anschauungen subjektiv gerichteten Forschungsmethoden, als einem Korrektiv starren Denkens von oben her, bei dem die Berufung auf die Vormacht des Systems die Einsicht in den konkreten Zusammenhang zwischen dem System und denen ersetzt, aus denen es doch selbst besteht. Andererseits haben die subjektiv gerichteten Analysen nur innerhalb objektiver Theorie ihren Stellenwert. In der ›Authoritarian Personality‹ ist das immer wieder hervorgehoben worden. Daß in jenem Werk der Blick auf die subjektiven Momente sich richtete, wurde, dem herrschenden Zug gemäß, so interpretiert, als sei die Sozialpsychologie als Stein der Weisen benutzt, während sie doch lediglich, nach einer berühmten Formulierung von Freud, dem bereits Bekannten ein Neues, Ergänzendes hinzufügen wollte. Horkheimer hatte mit einer Gruppe von Forschern an der University of California in Berkeley, die vor allem aus Nevitt Sanford, der unterdessen verstorbenen Else Frenkel-Brunswik und dem damals noch sehr jungen Daniel Levinson bestand, Fühlung genommen. Ich glaube, der erste Berührungspunkt war eine von Sanford initiierte Studie über das Phänomen des Pessimismus, das dann, sehr modifiziert, in den weitschichtigen Untersuchungen wiederkehrte, in denen die Dimension des Destruktionstriebs sich als eine der entscheidenden des autoritätsgebundenen Charakters
erwies, nur freilich nicht länger im Sinn eines »overten« Pessimismus, sondern vielfach gerade als dessen reaktive Übertäubung. Horkheimer übernahm 1945 die Leitung der Research-Abteilung des American Jewish Committee in New York und ermöglichte damit, daß die wissenschaftlichen Ressourcen der Berkeleygruppe und unseres Instituts »gepooled« wurden, und daß wir über Jahre hin umfangreiche Forschungen durchführen konnten, die sich an gemeinsame theoretische Reflexionen anschlossen. Ihm ist nicht nur der Gesamtplan der Arbeiten zu verdanken, die in der Reihe ›Studies in Prejudice‹ bei Harper's zusammengefaßt wurden. Auch die ›Authoritarian Personality‹ ist, ihrem spezifischen Gehalt nach, ohne ihn undenkbar, wie denn Horkheimers und meine philosophischen und soziologischen Erwägungen sich längst so sehr integriert hatten, daß es uns beiden nicht möglich wäre anzugeben, was vom einen stammt und was vom anderen. Die Berkeleystudie war so organisiert, daß Sanford und ich als Direktoren fungierten, Frau Brunswik und Daniel Levinson als Hauptmitarbeiter. Von Anbeginn aber geschah alles in vollkommenem team work, ohne irgendwelche hierarchischen Momente. Der Titel der ›Authoritarian Personality‹, der uns allen gleichen »credit« zuweist, gibt durchaus dem tatsächlichen Sachverhalt Ausdruck. Diese Art von Kooperation in einem demokratischen Geist, der nicht in Formalien steckenbleibt, sondern bis in alle Details von Planung und Durchführung hineinreicht, war für mich wohl das Fruchtbarste, was ich, im Gegensatz zum akademischen Herkommen in Europa, in Amerika kennenlernte. Die gegenwärtigen Bestrebungen zur inneren Demokratisierung der deutschen Universität sind mir aus meiner amerikanischen Erfahrung vertraut. Die Kooperation in Berkeley kannte keine Reibereien, keine Widerstände, keine Gelehrtenkonkurrenz. Dr. Sanford etwa hat alle von mir verfaßten Kapitel aufs liebenswürdigste und sorgfältigste, mit großen Opfern an Zeit, sprachlich redigiert. Der Grund für unser team work mochte freilich nicht nur das amerikanische Klima sein, sondern auch wissenschaftlich: die gemeinsame Orientierung an Freud. Wir vier waren uns darin einig, weder uns starr an diesen zu binden noch ihn, wie die psychoanalytischen Revisionisten, zu verwässern. Ein gewisses Maß an Abweichung von ihm war dadurch gesetzt, daß wir eben doch ein spezifisch soziologisches Interesse verfolgten. Die Hereinnahme der objektiven Momente, hier vor allem des
»kulturellen Klimas«, war mit der Freudschen Vorstellung von Soziologie als bloßer angewandter Psychologie nicht vereinbar. Ebenso differierten die Desiderate der Quantifizierung, denen wir uns unterwarfen, einigermaßen von Freud, bei dem die Substanz der Forschung in qualitativen Untersuchungen, case studies, besteht. Doch haben wir das qualitative Moment überaus schwer genommen. Die Kategorien, die den quantitativen Untersuchungen zugrunde lagen, waren ihrerseits qualitativer Art und leiteten von der analytischen Charakterologie sich her. Weiter hatten wir schon bei der Planung es darauf abgesehen, die Gefahr des Mechanistischen in quantitativen Untersuchungen zu kompensieren durch ergänzende qualitative Einzelstudien. Die Aporie, daß das rein quantitativ Ermittelte selten die genetischen Tiefenmechanismen erreicht, den qualitativen aber ebenso leicht die Generalisierbarkeit und deswegen die objektive soziologische Gültigkeit aberkannt werden kann, suchten wir zu meistern, indem wir eine ganze Reihe verschiedener Techniken verwendeten, die wir nur im Kern der dahinter stehenden Konzeption aufeinander abstimmten. Frau Brunswik unternahm den bemerkenswerten Versuch, die Befunde strikt qualitativer, klinischer Analyse, die sie in dem ihr vorbehaltenen Sektor gewann, ihrerseits nochmals zu quantifizieren, wogegen ich allerdings den Einwand anmeldete, man ginge durch solche Quantifizierung der komplementären Vorteile der qualitativen Analyse wieder verlustig. Wegen ihres frühen und tragischen Todes wurde diese Kontroverse nicht mehr nach unserer Weise zwischen uns ausgetragen. Soweit ich zu sehen vermag, ist sie stets noch offen. Die Untersuchungen über die autoritätsgebundene Persönlichkeit waren weitschichtig angelegt. Während sich der Schwerpunkt in Berkeley befand, wohin ich alle vierzehn Tage fuhr, wurde gleichzeitig von meinem Freund Frederick Pollock eine Studiengruppe in Los Angeles organisiert, an der der Sozialpsychologe J.F. Brown, die Psychologin Carol Creedon und einige andere hervorragend beteiligt waren. Damals schon traten wir in Kontakt mit dem Psychoanalytiker Dr. Frederick Hacker und dessen Mitarbeitern. In dem Kreis aller Interessierten fanden in Los Angeles häufig gemeinsame seminarartige Besprechungen statt. Die Idee eines großen literarischen Werkes, zu dem die Einzeluntersuchungen integriert wurden, formte sich erst allmählich und einigermaßen unwillkürlich aus. Das eigentliche Zentrum des
gemeinsam Erarbeiteten bildete die F-Skala, die ja wohl auch von allen Teilen der ›Authoritarian Personality‹ die größte Wirkung übte, jedenfalls zahllose Male angewandt und modifiziert wurde, und die dann später auch der Skala zur Messung eines autoritären Potentials in Deutschland, den hiesigen Verhältnissen angepaßt, zugrunde lag, über die das 1950 in Frankfurt neu gegründete Institut für Sozialforschung bald einen größeren Bericht vorlegen wird. Gewisse Tests in amerikanischen Magazinen, auch unsystematische Beobachtungen an einigen Bekannten brachten uns auf die Idee, man könne indirekt, also ohne unmittelbar nach antisemitischen und anderen faschistischen Meinungen zu fragen, derlei Neigungen ermitteln, indem man rigide Ansichten feststellt, von denen man einigermaßen sicher sein kann, daß sie im allgemeinen mit jenen spezifischen Meinungen zusammengehen und mit ihnen eine charakterologische Einheit bilden. In Berkeley entwickelten wir dann die F-Skala in einer Freiheit, die von den Vorstellungen einer pedantischen Wissenschaft, die über jeden ihrer Schritte Rechenschaft abzulegen hat, erheblich abwich. Was man drüben bei uns vier Leitern der Studie den »psychoanalytic background«, insbesondere die Vertrautheit mit der Methode der freien Assoziation nennen mochte, war wohl der Grund dafür. Ich hebe das deshalb hervor, weil ein Werk wie die ›Authoritarian Personality‹, dem man vieles vorgeworfen, die Vertrautheit mit amerikanischem Material und amerikanischen Verfahrungsarten jedoch nie abgesprochen hat, auf eine Weise produziert wurde, die mit dem üblichen Bild vom sozialwissenschaftlichen Positivismus keineswegs sich deckt. In praxi herrscht dieser nicht so unbedingt, wie man nach der theoretisch-methodologischen Literatur glauben würde. Schwerlich ist die Vermutung zu weit hergeholt, daß das, was die ›Authoritarian Personality‹ etwa an Neuem, Unverbrauchtem, an Phantasie und Interesse für wesentliche Gegenstände etwa aufweist, eben jener Freiheit sich verdankte. Das Moment des Spielerischen, von dem ich denken möchte, daß es jeder geistigen Produktivität notwendig ist, fehlte bei der Entwicklung der F-Skala keineswegs. Wir brachten Stunden damit zu, sowohl ganze Dimensionen, »variables« und Syndrome, als auch besondere Fragebogenitems uns einfallen zu lassen, auf die wir um so stolzer waren, je weniger ihnen die Beziehung auf das Hauptthema anzusehen war, während wir aus theoretischen Motiven
Korrelationen mit Ethnozentrismus, Antisemitismus und politisch-ökonomisch reaktionären Ansichten erwarteten. Dann haben wir diese items in ständigen Pretests kontrolliert und dabei ebenso die technisch gebotene Beschränkung des Fragebogens auf einen noch zu verantwortenden Umfang erreicht wie diejenigen items ausgeschieden, die sich als nicht genügend trennscharf erwiesen. Dabei mußten wir freilich etwas Wasser in unseren Wein gießen. Aus einer Reihe von Gründen, unter denen die später so genannte Bildungsanfälligkeit keine geringe Rolle spielte, mußten wir oft gerade solche items aufgeben, die wir selbst für die tiefsten und originellsten hielten, und ihnen andere vorziehen, die ihre größere Trennschärfe damit bezahlten, daß sie der Oberfläche offener Meinungen näher lagen als die wahrhaft tiefenpsychologischen. So konnten wir etwa die Dimension des Widerwillens autoritätsgebundener Personen gegen avantgardistische Kunst einfach deshalb nicht weiter verfolgen, weil dieser Widerwille ein Bildungsniveau, einfach das Rencontre mit solcher Kunst voraussetzt, das der überwiegenden Mehrheit der von uns Befragten versagt war. Während wir glaubten, durch die Kombination quantitativer und qualitativer Methoden den Antagonismus des Generalisierbaren und des Spezifisch-Relevanten überwinden zu können, ereilte er uns inmitten unserer eigenen Bestrebungen doch noch. Es scheint die Not jeder empirischen Soziologie, daß sie zu wählen hat zwischen der Zuverlässigkeit und der Tiefe ihrer Befunde. Immerhin konnten wir damals noch mit der Likertschen Form operationell definierter Skalen operieren in einer Weise, die es uns vielfach erlaubte, mehrere Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, also mit einem item mehrere der Dimensionen gleichzeitig zu berühren, die nach unserem theoretischen Entwurf für den autoritätsgebundenen Charakter, die highs, und für dessen Widerspiel, die lows, bezeichnend sind. Nach der Guttmanschen Kritik an den zuvor üblichen Verfahren des scaling wäre die Unbefangenheit unserer F-Skala kaum noch vorstellbar. Es ist mir schwer, mich des Verdachts zu entschlagen, daß die zunehmende Exaktheit der Methode in der empirischen Soziologie, so unwiderleglich auch ihre Argumente sein mögen, vielfach die wissenschaftliche Produktivität fesselt. Wir mußten das Werk für die Publikation verhältnismäßig rasch
abschließen; es kam fast genau zur gleichen Zeit heraus, als ich wieder nach Europa ging, um die Wende 1949/50. Seine Wirkung in den USA habe ich in den Jahren danach nicht mehr unmittelbar miterlebt. Die Zeitnot, in der wir uns befanden, hatte eine paradoxe Folge. Bekannt ist der englische Witz von dem Mann, der einen Brief damit beginnt, er habe nicht die Zeit, sich kurz zu fassen. Ähnlich erging es uns: einfach weil wir nicht noch einmal einen ganzen Arbeitsgang einlegen konnten, um das Manuskript zu kondensieren, wurde das Buch so schwerfällig und umfangreich, wie es sich nun präsentiert. Doch mag dieser Mangel, dessen wir alle uns bewußt waren, ein wenig kompensiert werden durch den Reichtum mehr oder minder voneinander unabhängiger Methoden und dabei gewonnener Materialien. Was vielleicht dem Buch an disziplinierter Stringenz und Einheitlichkeit der Beweisführung abgeht, dürfte es teilweise wiedergutmachen dadurch, daß so viele konkrete Einsichten aus den verschiedensten Richtungen zusammenströmen, die in denselben Hauptthesen konvergieren, bis auch das nach strikten Kriterien Unbewiesene an Plausibilität gewinnt. Brachte die ›Authoritarian Personality‹ Gewinn, so ist er nicht in der absoluten Verbindlichkeit der positiven Einsichten, gar der Meßzahlen zu suchen, sondern in erster Linie in der Fragestellung, die durch ein wesentliches gesellschaftliches Interesse geprägt und in Zusammenhang mit einer Theorie gerückt ist, die vordem kaum in derartige quantitative Untersuchungen umgesetzt war. Unterdessen hat man, wohl nicht ohne Einfluß der ›Authoritarian Personality‹, vielfach versucht, psychoanalytische Theoreme mit empirischen Methoden zu testen. Auch unsere Absicht ging, darin der Psychoanalyse ähnlich, nicht auf die Ermittlung gegenwärtiger Meinungen und Dispositionen. Interessiert waren wir am faschistischen Potential. Deshalb, und um ihm entgegenarbeiten zu können, haben wir, soweit es nur möglich war, auch die genetische Dimension, also das Zustandekommen des autoritätsgebundenen Charakters, in die Untersuchung hineingezogen. Wir alle betrachteten das Werk, trotz seines großen Umfangs, als Pilotenstudie, mehr als Exploration von Möglichkeiten denn als Sammlung unwiderleglicher Resultate. Gleichwohl waren unsere Resultate signifikant genug, um unsere Folgerungen zu rechtfertigen: nur eben als auf Tendenzen bezogene, nicht als einfache statements of fact. Else Frenkel-Brunswik hat in ihrem Teil
besonders darauf aufmerksam gemacht. Ein gewisses handicap lag, wie übrigens bei vielen Untersuchungen solcher Art, im sample, und wir haben das nicht beschönigt. Empirisch-soziologische Untersuchungen an amerikanischen Universitäten, und nicht nur dort, kranken chronisch daran, daß sie weit mehr mit Studenten als Probanden auszukommen haben, als nach den Grundsätzen eines für die Gesamtbevölkerung repräsentativen sample zu rechtfertigen wäre. Später, in Frankfurt, haben wir bei Untersuchungen ähnlichen Stils diesem Mangel abzuhelfen gesucht, indem wir durch eigens designierte Kontaktpersonen versuchten, Probandengruppen aus den verschiedensten Bevölkerungsschichten, am Quota-System orientiert, zu organisieren. Immerhin darf gesagt werden, daß wir eigentlich repräsentativen Charakter in Berkeley nicht anstrebten. Viel mehr waren wir an Schlüsselgruppen interessiert. Freilich nicht so sehr, wie es vielleicht gut gewesen wäre, an den unterdessen vielberufenen opinion leaders als an Gruppen, die wir als besonders »anfällig« vermuteten, wie Strafgefangene in St. Quentin – sie waren tatsächlich »higher« als der Durchschnitt – oder den Insassen einer psychiatrischen Klinik, weil wir uns von der Kenntnis pathogener Strukturen auch hier Aufschlüsse über »normale« erhofften. Schwerer wiegt der vor allem von Jahoda und Christie erhobene Einwand der Zirkelschlüssigkeit: daß die Theorie, die von den Forschungsinstrumenten vorausgesetzt werde, von diesen validiert werden solle. Es ist nicht der Ort, auf jenen Einwand einzugehen. Nur soviel mag gesagt sein: wir haben die Theorie niemals einfach als Hypothese, sondern als ein in gewissem Sinn Selbständiges betrachtet, darum auch nicht die Theorie durch die Resultate beweisen oder widerlegen wollen, sondern nur aus ihr konkrete Forschungsfragestellungen ableiten, die dann auf eigenen Füßen stehen und gewisse durchgängige sozialpsychologische Strukturen erweisen. Daß allerdings die technische Idee der F-Skala: indirekt Neigungen zu ermitteln, die man direkt nicht berühren mag, aus Angst vor sonst ins Spiel kommenden Zensurmechanismen, voraussetzt, daß man sie erst selbst einmal durch jene offenen Meinungen validiert, von denen man annimmt, die Versuchspersonen zögerten, sie kundzugeben, ist der Kritik nicht abzustreiten. Insofern besteht das Argument der Zirkelschlüssigkeit
zu Recht. Doch möchte ich meinen, man sollte hier die Forderungen nicht überspannen. Nachdem einmal, in einer beschränkten Anzahl von Pretests, ein Zusammenhang zwischen dem Overten und dem Latenten sich ergeben hat, wird man diesem Zusammenhang in den Haupttests an ganz anderen Personen nachgehen dürfen, die durch keine overten Fragen beunruhigt werden. Die einzige Möglichkeit wäre, daß, weil in Amerika die offenen Antisemiten und faschistisch Gesonnenen 1944 und 1945 zögerten, ihre Meinung zu sagen, die ursprüngliche Kopplung beider Fragetypen zu allzu optimistischen Resultaten, einer Überwertung des Potentials der lows hätte führen können. Die Kritik jedoch, die an uns geübt wurde, ging eher in die entgegengesetzte Richtung: sie warf uns vor, daß unsere Instrumente allzusehr auf die highs zugeschnitten wären. Jene methodologischen Probleme, die allesamt an dem Modell Voraussetzung – Beweis – Folgerung gebildet sind, haben mich später zu jener philosophischen Kritik des herkömmlichen szientifischen Begriffs des absolut Ersten mitveranlaßt, die ich in meinen erkenntnistheoretischen Büchern übte. Ähnlich wie im Fall des Radioprojekts kristallisierten an die ›Authoritarian Personality‹ andere Untersuchungen sich an. So die ›Child Study‹, die Frau Brunswik und ich am Child Welfare Institute in Berkeley in die Wege leiteten, und deren Durchführung wesentlich ihr oblag; leider blieb die Studie unvollendet. Es sind wohl nur Teilresultate daraus veröffentlicht worden. Eine gewisse Mortalität einzelner Studien ist offenbar bei groß angelegten Forschungsprojekten unvermeidlich; heute, da die Sozialwissenschaft so viel über sich selbst reflektiert, wäre es wohl der Mühe wert, einmal systematisch zu untersuchen, warum so vieles, was darin begonnen wird, nicht zu Ende kommt. Die ›Child Study‹ verwendete Grundkategorien der ›Authoritarian Personality‹. Es deuteten dabei durchaus unerwartete Ergebnisse sich an. Sie differenzierten die Anschauung vom Zusammenhang zwischen Konventionalismus und autoritätsgebundener Gesinnung. Gerade die »braven«, also konventionellen Kinder dürften die von Aggression, einem der wesentlichsten Aspekte der autoritätsgebundenen Persönlichkeit, freieren sein, und umgekehrt. Retrospektiv läßt sich das einleuchtend erklären; nicht a priori. An diesem Aspekt der ›Child Study‹ wurde mir zum ersten Mal bewußt, worin, unabhängig davon, Robert Merton eine der wichtigsten
Rechtfertigungen empirischer Untersuchungen erblickt: daß mehr oder minder alle Befunde sich theoretisch erklären lassen, sobald sie einmal vorliegen, aber auch ihr Gegenteil. An wenigem habe ich die Legitimität und Notwendigkeit empirischer Forschung, die theoretische Fragen wirklich beantwortet, so drastisch erfahren wie daran. – Ich selbst schrieb, schon ehe die Kooperation mit Berkeley begann, eine größere Monographie über die sozialpsychologische Technik eines kurz vorher an der amerikanischen Westküste aktiven faschistischen Agitators, Martin Luther Thomas. Sie war 1943 vollendet, eine Contentanalyse, welche die mehr oder minder standardisierten, und keineswegs allzu zahlreichen, Stimuli behandelt, welche faschistische Agitatoren benutzen. Hier kam abermals die Konzeption zur Geltung, die bereits hinter der Music Study des Princeton Radio Research Project gestanden hatte: Reaktionsweisen und objektive Einwirkungen gleichermaßen zu behandeln. Im Rahmen der ›Studies in Prejudice‹ wurden die beiden »approaches« nicht aufeinander abgestimmt und gar integriert. Zu sagen bleibt freilich, daß die artikulierten Einwirkungen durch Agitatoren aus dem »lunatic fringe« keineswegs die einzigen, vermutlich nicht einmal die entscheidenden objektiven Momente sind, die eine dem Faschismus geneigte Mentalität in den Bevölkerungen befördern. Die Wurzeln reichen tief in die Struktur der Gesellschaft selbst hinab, die faschistoide Mentalität wird von ihr erzeugt, schon ehe Demagogen ihr willentlich zu Hilfe kommen. Die Meinungen der Demagogen sind keineswegs derart auf den lunatic fringe beschränkt, wie man optimistischerweise denken möchte. Sie finden sich unverkennbar, nur nicht ebenso kompakt und so aggressiv formuliert, in ungezählten Äußerungen sogenannter respektabler Politiker. Mir selbst lieferte die Thomas-Analyse viel Anregung für items, die in der ›Authoritarian Personality‹ verwertbar waren. Sie dürfte eine der ersten kritischen, qualitativen Contentanalysen sein, die in den USA durchgeführt wurden. Bis heute ist sie unveröffentlicht. Im Spätherbst 1949 ging ich nach Deutschland zurück und war jahrelang ganz festgehalten vom Wiederaufbau des Instituts für Sozialforschung, dem Horkheimer und ich damals unsere gesamte Zeit widmeten, und von meiner Lehrtätigkeit an der Frankfurter Universität. Nach einem kurzen Besuch 1951 fuhr ich erst 1952 für
ungefähr ein Jahr wieder nach Los Angeles, als wissenschaftlicher Leiter der Hacker Foundation in Beverly Hills. Fest stand, daß ich, weder Psychiater noch Therapeut, meine Arbeit auf Sozialpsychologisches konzentrierte. Andererseits waren die Mitarbeiter der Klinik von Dr. Hacker, auf welche die Foundation angewiesen war, praktisch tätig und voll beschäftigt, sei es als Psychoanalytiker, sei es als psychiatric social workers. Wann immer die Kooperation sich realisierte, ging es gut. Nur blieb eben den Mitarbeitern für Forschungen allzu wenig Zeit, und ich meinerseits hatte, als Research Director, nicht die Autorität, die Kliniker in Untersuchungen einzuspannen. Dadurch war notwendigerweise die Möglichkeit des zu Realisierenden beschränkter, als sowohl Dr. Hacker wie ich es uns vorgestellt hatten. Ich sah mich in die Situation dessen gedrängt, was man amerikanisch mit »One Man Show« bezeichnet: mußte die wissenschaftlichen Arbeiten der Foundation, abgesehen von der Organisation von Vorträgen, fast allein durchführen. Daher sah ich mich abermals auf die Seite der Analyse von »Stimuli« zurückgeworfen. Zwei Contentstudien brachte ich unter Dach und Fach. Einmal die über die Astrologiespalte der Los Angeles Times, die, englisch, unter dem Titel ›The Stars Down to Earth‹ im Jahrbuch für Amerikastudien 1957 in Deutschland erschien, und die ich dann meiner deutschen Abhandlung ›Aberglaube aus zweiter Hand‹ in den ›Sociologica II‹ zugrunde legte. Mein Interesse an diesem Material datierte auf die Berkeley-Untersuchung zurück: vor allem auf die sozialpsychologische Bedeutung des Destruktionstriebs, die Freud im ›Unbehagen in der Kultur‹ entdeckt hatte und die mir das gefährlichste subjektive Massenpotential in der gegenwärtigen politischen Lage scheint. Die Methode, die ich einschlug, war die, mich gleichsam in die Situation des populären Astrologen zu versetzen, der durch das, was er schreibt, seinen Lesern unmittelbar eine Art Befriedigung verschaffen muß, und der ständig der Schwierigkeit sich gegenüber findet, Menschen, von denen er nichts weiß, scheinbar spezifische, jedem Einzelnen gemäße Ratschläge zu erteilen. Als Ergebnis stellte sich ebenso die Verstärkung konformistischer Ansichten durch die kommerzielle und standardisierte Astrologie heraus wie auch, daß bestimmte Widersprüche im Bewußtsein der Angesprochenen, die auf gesellschaftliche zurückdatieren, in der Technik des Schreibers der
column, vor allem ihrer Zweiphasen-Beschaffenheit zutage kommen. Ich verfuhr qualitativ, obwohl ich nicht darauf verzichtete, in dem Material, das ich ausgewählt hatte, und das über zwei Monate sich erstreckte, wenigstens im gröbsten die Häufigkeit der jeweils wiederkehrenden Grundtricks zu zählen. Zu den Rechtfertigungen quantitativer Methode gehört, daß die Produkte der Kulturindustrie selbst gleichsam nach statistischen Gesichtspunkten geplant sind. Quantitative Analyse mißt sie mit ihrem eigenen Maß. Unterschiede in der Häufigkeit etwa, mit der bestimmte Tricks wiederholt werden, kommen ihrerseits aus einem quasi wissenschaftlichen Kalkül der Wirkung von seiten des Astrologen, der in vieler Hinsicht dem Demagogen und Agitator ähnelt, wenn er auch offene politische Thesen vermeidet; übrigens waren wir bereits in der ›Authoritarian Personality‹ auf die Neigung der »highs« gestoßen, abergläubische Sätze vor allem bedrohlichen und destruktiven Inhalts bereitwillig zu akzeptieren. Die Astrologiestudie fügte sich damit in die Kontinuität dessen ein, womit ich zuvor in Amerika mich beschäftigt hatte. Das gilt auch für die Studie ›How to Look at Television‹, publiziert im Hollywood Quarterly of Film, Radio and Television, Spring 1954, ebenfalls später verwertet in der deutschen Arbeit ›Fernsehen als Ideologie‹ aus dem Band ›Eingriffe‹. Es bedurfte der gesamten Diplomatie von Dr. Hacker, um mir eine gewisse Anzahl von Fernsehmanuskripten zu verschaffen, die ich auf ihre ideologischen Implikationen, ihre gezielte Mehrschichtigkeit hin analysierte. Die Industrie gibt die Manuskripte höchst ungern aus der Hand. Beide Arbeiten rechnen zur Ideologieforschung. Im Herbst 1953 kehrte ich abermals nach Europa zurück. Seither bin ich nicht mehr in Amerika gewesen. Sollte ich resümieren, was ich hoffe in Amerika gelernt zu haben, so wäre als erstes ein Soziologisches und für den Soziologen unendlich Wichtiges zu nennen: daß ich drüben, im Ansatz übrigens schon während meiner englischen Zeit, dazu veranlaßt wurde, nicht länger Verhältnisse, die geworden, historisch entstanden waren wie die in Europa, für natürliche zu halten, »not to take things for granted«. Mein verstorbener Freund Tillich sagte einmal, er sei erst in Amerika entprovinzialisiert worden; er hat damit wohl etwas Ähnliches gemeint. In Amerika wurde ich von kulturgläubiger
Naivetät befreit, erwarb die Fähigkeit, Kultur von außen zu sehen. Um das zu verdeutlichen: mir war, trotz aller Gesellschaftskritik und allem Bewußtsein von der Vormacht der Ökonomie, von Haus aus die absolute Relevanz des Geistes selbstverständlich. Daß diese Selbstverständlichkeit nicht schlechterdings galt, darüber wurde ich in Amerika belehrt, wo kein stillschweigender Respekt vor allem Geistigen herrscht, wie in Mittel- und Westeuropa weit über die sogenannte Bildungsschicht hinaus; die Abwesenheit dieses Respekts veranlaßt den Geist zu kritischer Selbstbesinnung. Das tangierte insbesondere die europäischen Voraussetzungen musikalischer Kultur, von denen ich durchdrungen war. Nicht als ob ich diese Voraussetzungen verleugnet, meine Vorstellungen von solcher Kultur irgend preisgegeben hätte; aber es ist ein erheblicher Unterschied, ob man sie unreflektiert mitbringt oder ihrer inne wird gerade in ihrer Differenz von dem technologisch und industriell fortgeschrittensten Land. Dabei verkenne ich nicht, welche Verlagerung der Schwerpunkte des Musiklebens die materiellen Ressourcen in den USA unterdessen bewirkt haben. Als ich vor dreißig Jahren anfing, in Amerika mit Musiksoziologie mich zu beschäftigen, war das noch nicht abzusehen. Wesentlicher, und beglückender, war die Erfahrung des Substantiellen demokratischer Formen: daß sie in Amerika ins Leben eingesickert sind, während sie zumindest in Deutschland nie mehr als formale Spielregeln waren und, wie ich fürchte, immer noch nicht mehr sind. Drüben lernte ich ein Potential realer Humanität kennen, das im alten Europa so kaum vorfindlich ist. Die politische Form der Demokratie ist den Menschen unendlich viel näher. Dem amerikanischen Leben eignet, trotz der vielbeklagten Hast, ein Moment von Friedlichkeit, Gutartigkeit und Großzügigkeit, das von der aufgestauten Bosheit und dem aufgestauten Neid, wie er in den Jahren 1933 bis 1945 in Deutschland explodierte, aufs äußerste sich abhebt. Wohl ist Amerika nicht mehr das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, aber man hat immer noch das Gefühl, daß alles möglich wäre. Begegnet man etwa in soziologischen Studien in Deutschland immer wieder Aussagen von Probanden wie: Wir sind noch nicht reif zur Demokratie, dann wären in der angeblich so viel jüngeren Neuen Welt derlei Äußerungen von Herrschgier und zugleich Selbstverachtung schwer denkbar. Ich möchte damit nicht sagen,
daß Amerika vor der Gefahr eines Umkippens zu totalitären Herrschaftsformen gefeit sei. Eine solche Gefahr liegt in der Tendenz der modernen Gesellschaft überhaupt. Aber wahrscheinlich ist die Resistenzkraft gegen faschistische Strömungen in Amerika doch größer als in irgendeinem europäischen Land, mit Ausnahme vielleicht von England, das in mehr Hinsichten, als wir gewohnt sind anzunehmen, keineswegs nur durch die Sprache, Amerika und das kontinentale Europa verbindet. Europäische Intellektuelle wie ich sind geneigt, den Begriff der Anpassung, des adjustment, bloß als Negativum, als Auslöschung der Spontaneität, der Autonomie des einzelnen Menschen anzusehen. Es ist aber eine von Goethe und von Hegel scharf kritisierte Illusion, daß der Prozeß der Vermenschlichung und Kultivierung sich notwendig und stets von innen nach außen abspiele. Er vollzieht sich, wie Hegel es nannte, auch und gerade durch »Entäußerung«. Wir werden nicht dadurch freie Menschen, daß wir uns selbst, nach einer scheußlichen Phrase, als je Einzelne verwirklichen, sondern dadurch, daß wir aus uns herausgehen, zu anderen in Beziehung treten und in gewissem Sinn an sie uns aufgeben. Dadurch erst bestimmen wir uns als Individuen, nicht indem wir uns wie Pflänzchen mit Wasser begießen, um allseitig gebildete Persönlichkeiten zu werden. Ein Mensch, der unter äußerem Zwang, ja durch sein egoistisches Interesse zur Freundlichkeit gebracht wird, gelangt am Ende eher zu einer gewissen Humanität in seinem Verhältnis zu anderen Menschen als jemand, der nur, um mit sich selbst identisch zu sein – als ob diese Identität immer wünschbar wäre –, ein bösartiges, vermuffeltes Gesicht macht und einem von vornherein bedeutet, man sei für ihn eigentlich nicht vorhanden und habe in seine Innerlichkeit, die vielfach gar nicht existiert, nichts hineinzureden. Wir sollten hierzulande uns bemühen, nicht selber, indem wir über die amerikanische Oberflächlichkeit uns entrüsten, unsererseits oberflächlich und undialektisch uns zu verhärten. Zu solchen allgemeinen Beobachtungen kommt etwas hinzu, das die spezifische Lage des Soziologen oder, weniger fachwissenschaftlich, dessen betrifft, der gesellschaftliche Erkenntnis für zentral, für untrennbar auch von Philosophie hält. Innerhalb der Gesamtentwicklung der bürgerlichen Welt haben fraglos die Vereinigten Staaten ein Extrem erreicht. Sie zeigen den
Kapitalismus gleichsam in vollkommener Reinheit, ohne vorkapitalistische Restbestände. Nimmt man, im Gegensatz zu einer freilich hartnäckig verbreiteten Meinung, an, daß auch die anderen nichtkommunistischen und nicht der Dritten Welt zugehörigen Länder auf einen ähnlichen Zustand sich hinbewegen, so bietet für einen Menschen, der weder in bezug auf Amerika noch auf Europa naiv sich verhält, Amerika die fortgeschrittenste Beobachtungsposition. Tatsächlich kann der Rückkehrer unendlich viel in Europa heraufkommen sehen oder bestätigt finden, was ihm in Amerika erstmals auffiel. Was immer eine Kulturkritik, die den Begriff von Kultur ernst nimmt, durch dessen Konfrontation mit amerikanischen Zuständen seit Tocqueville und Kürnberger gegen jene wird einzuwenden haben, man wird, wenn man sich nicht elitär sperrt, in Amerika der Frage nicht ausweichen können, ob nicht der Begriff von Kultur, in dem man groß geworden ist, selber veraltete; ob nicht das, was der Kultur heute der Gesamttendenz nach widerfährt, die Quittung auf ihr eigenes Mißlingen ist, auf die Schuld, welche sie dadurch auf sich lud, daß sie als Sondersphäre des Geistes sich abkapselte, ohne in der Einrichtung der Gesellschaft sich zu verwirklichen. Gewiß ist das auch in Amerika nicht geschehen, aber der Horizont solcher Verwirklichung ist nicht ebenso verbaut wie in Europa. Angesichts des quantitativen Denkens in Amerika, mit all seinen Gefahren von Undifferenziertheit und Verabsolutierung des Durchschnitts, muß der Europäer davon sich beunruhigen lassen, wie weit in der gesellschaftlichen Welt heute qualitative Differenzen überhaupt noch substantiell sind. Jetzt schon sehen die Flughäfen allerorten in Europa, Amerika, im Ostbereich, wohl auch in den Staaten der Dritten Welt einander zum Verwechseln ähnlich; jetzt schon ist es eine Frage kaum mehr von Tagen sondern von Stunden, aus einem Land ins entlegenste zu reisen. Die Unterschiede nicht nur des Lebensstandards sondern auch der besonderen Beschaffenheit der Völker und ihrer Existenzformen nehmen einen anachronistischen Aspekt an. Allerdings ist ungewiß, ob tatsächlich die Gleichheiten das Entscheidende, die qualitativen Differenzen das bloß Rückständige sind, und vor allem: ob nicht in einer vernünftig eingerichteten Welt das qualitativ Verschiedene wiederum zu einem Recht käme, das gegenwärtig von der Einheit der technologischen Vernunft nur unterdrückt wird. Erwägungen dieser Art jedoch wären
überhaupt nicht vollziehbar ohne amerikanische Erfahrung. Kaum ist es übertrieben, daß ein jegliches Bewußtsein heute etwas Reaktionäres hat, das nicht, sei es auch mit Widerstand, jene Erfahrung sich wahrhaft zugeeignet hätte. Dem darf ich zum Ende vielleicht noch ein Wort über die spezifische Bedeutung der wissenschaftlichen Erfahrung in Amerika für mich selbst und mein Denken hinzufügen. Es weicht erheblich vom common sense ab. Hegel aber hat, darin allem späteren Irrationalismus und Intuitionismus überlegen, den größten Nachdruck darauf gelegt, daß das spekulative Denken nicht ein von dem sogenannten gesunden Menschenverstand, dem common sense, absolut Verschiedenes sei, sondern wesentlich in dessen kritischer Selbstreflexion und Selbstbesinnung bestände. Hinter diese Erkenntnis darf auch ein Bewußtsein nicht zurückfallen, das den Idealismus der Hegelschen Gesamtkonzeption ablehnt. Wer in der Kritik des common sense so weit geht wie ich, muß die einfache Forderung erfüllen, daß er common sense hat. Er darf nicht über etwas sich zu erheben beanspruchen, dessen Disziplin er selbst nicht zu genügen vermag. Erst in Amerika habe ich wahrhaft das Gewicht dessen erfahren, was Empirie heißt, sosehr im übrigen auch von früh auf das Bewußtsein mich leitete, daß fruchtbare theoretische Erkenntnis anders als in engster Fühlung mit ihren Materialien nicht möglich ist. Umgekehrt habe ich an der Gestalt des in wissenschaftliche Praxis umgesetzten Empirismus in Amerika einsehen müssen, daß die volle, unreglementierte Breite der Erfahrung durch die empiristischen Spielregeln beengter ist, als es im Begriff der Erfahrung selbst liegt. Nicht die falscheste Bezeichnung dessen, was mir nach all dem vorschwebt, wäre eine Art Restitution von Erfahrung gegen ihre empiristische Zurichtung. Das nicht zuletzt wird mich, neben der Möglichkeit, in Europa die eigenen Intentionen einstweilen ungehinderter verfolgen und zur politischen Aufklärung einiges helfen zu können, zur Rückkehr bewogen haben. Weder jedoch hat diese an meiner Dankbarkeit, auch an der intellektuellen Dankbarkeit, das geringste geändert, noch glaube ich, daß ich je als Gelehrter vernachlässigen werde, was ich in und an Amerika lernte.
Dialektische Epilegomena
Zu Subjekt und Objekt 1 Mit Erwägungen über Subjekt und Objekt einzusetzen, bereitet die Schwierigkeit anzugeben, worüber eigentlich geredet werden soll. Offenkundig sind die Termini äquivok. So kann »Subjekt« sich auf das einzelne Individuum ebenso wie auf allgemeine Bestimmungen, nach der Sprache der Kantischen Prolegomena von »Bewußtsein überhaupt« beziehen. Die Äquivokation ist nicht einfach durch terminologische Klärung wegzuräumen. Denn beide Bedeutungen bedürfen einander reziprok; kaum ist die eine ohne die andere zu fassen. Von keinem Subjektbegriff ist das Moment der Einzelmenschlichkeit – bei Schelling Egoität genannt – wegzudenken; ohne jede Erinnerung daran verlöre Subjekt allen Sinn. Umgekehrt ist das einzelmenschliche Individuum, sobald überhaupt auf es in allgemeinbegrifflicher Form als auf das Individuum reflektiert, nicht nur das Dies da irgendeines besonderen Menschen gemeint wird, bereits zu einem Allgemeinen gemacht, ähnlich dem, was im idealistischen Subjektbegriff ausdrücklich wurde; sogar der Ausdruck »besonderer Mensch« bedarf des Gattungsbegriffs, wäre sonst sinnleer. Implizit wohnt noch den Eigennamen die Beziehung auf jenes Allgemeine inne. Sie gelten einem, der so und nicht anders heißt; und »einer« steht elliptisch für »einen Menschen«. Wollte man dagegen, um Komplikationen dieses Typus zu entgehen, die beiden Termini definieren, so geriete man in eine Aporie, die zu der von der neueren Philosophie seit Kant stets wieder gewahrten Problematik des Definierens hinzutritt. In gewisser Weise nämlich haben die Begriffe Subjekt und Objekt, vielmehr das, worauf sie gehen, Priorität vor aller Definition. Definieren ist soviel wie ein Objektives, gleichgültig, was es an sich sein mag, subjektiv, durch den festgesetzten Begriff einzufangen. Daher die Resistenz von Subjekt und Objekt gegens Definieren. Ihre Bestimmung bedarf der Reflexion eben auf die Sache, welche zugunsten von begrifflicher Handlichkeit durchs Definieren abgeschnitten wird. Deshalb empfiehlt es sich, die Worte Subjekt und Objekt zunächst so zu übernehmen, wie sie die eingeschliffene philosophische Sprache als Sediment von Geschichte an die Hand
gibt; nur freilich nicht bei solchem Konventionalismus zu verharren, sondern kritisch weiter zu analysieren. Anzuheben wäre mit der angeblich naiven, wenngleich selber schon vermittelten Ansicht, daß ein wie immer auch geartetes Subjekt, ein Erkennendes, einem gleichfalls wie immer auch gearteten Objekt, dem Gegenstand der Erkenntnis, gegenüberstehe. Die Reflexion dann, welche in der philosophischen Terminologie unter dem Namen der intentio obliqua geht, ist die Rückbeziehung jenes vieldeutigen Objektbegriffs auf einen nicht minder vieldeutigen vom Subjekt. Zweite Reflexion reflektiert jene, bestimmt das Vage näher um des Gehalts der Begriffe Subjekt und Objekt willen.
2 Die Trennung von Subjekt und Objekt ist real und Schein. Wahr, weil sie im Bereich der Erkenntnis der realen Trennung, der Gespaltenheit des menschlichen Zustands, einem zwangvoll Gewordenen Ausdruck verleiht; unwahr, weil die gewordene Trennung nicht hypostasiert, nicht zur Invarianten verzaubert werden darf. Dieser Widerspruch in der Trennung von Subjekt und Objekt teilt der Erkenntnistheorie sich mit. Zwar können sie als getrennte nicht weggedacht werden; das peydos der Trennung jedoch äußert sich darin, daß sie wechselseitig durcheinander vermittelt sind, Objekt durch Subjekt, mehr noch und anders Subjekt durch Objekt. Zur Ideologie, geradezu ihrer Normalform, wird die Trennung, sobald sie ohne Vermittlung fixiert ist. Dann usurpiert der Geist den Ort des absolut Selbständigen, das er nicht ist: im Anspruch seiner Selbständigkeit meldet sich der herrschaftliche. Einmal radikal vom Objekt getrennt, reduziert Subjekt bereits das Objekt auf sich; Subjekt verschlingt Objekt, indem es vergißt, wie sehr es selber Objekt ist. Das Bild eines zeitlich oder außerzeitlich ursprünglichen Zustands glücklicher Identität von Subjekt und Objekt aber ist romantisch; zuzeiten Projektion der Sehnsucht, heute nur noch Lüge. Ungeschiedenheit, ehe das Subjekt sich bildete, war der Schrecken des blinden Naturzusammenhangs, der Mythos; die großen Religionen hatten ihren Wahrheitsgehalt im Einspruch dagegen. Übrigens ist Ungeschiedenheit nicht Einheit; diese erfordert, schon der Platonischen Dialektik zufolge, Verschiedenes, dessen Einheit sie ist. Das neue Grauen, das der Trennung, verklärt denen, die es erleben, das alte, das Chaos, und beides ist das Immergleiche. Vergessen wird über der Angst vor der gähnenden Sinnlosigkeit die einst nicht geringere vor den rachsüchtigen Göttern, welche der epikureische Materialismus und das christliche Fürchtet euch nicht von den Menschen nehmen wollten. Anders nicht als durch Subjekt ist das vollziehbar. Würde es liquidiert, anstatt in einer höheren Gestalt aufgehoben, so bewirkte das Regression des Bewußtseins nicht bloß sondern eine auf reale Barbarei. Schicksal, die Naturverfallenheit der Mythen, stammt aus totaler gesellschaftlicher Unmündigkeit, einem Zeitalter, darin
Selbstbesinnung noch nicht die Augen aufschlug, Subjekt noch nicht war. Anstatt jenes Zeitalter durch kollektive Praxis zur Wiederkehr zu beschwören, wäre der Bann des alten Ungeschiedenen zu tilgen. Seine Verlängerung ist das Identitätsbewußtsein des Geistes, der repressiv sein Anderes sich gleichmacht. Wäre Spekulation über den Stand der Versöhnung erlaubt, so ließe in ihm weder die ununterschiedene Einheit von Subjekt und Objekt noch ihre feindselige Antithetik sich vorstellen; eher die Kommunikation des Unterschiedenen. Dann erst käme der Begriff von Kommunikation, als objektiver, an seine Stelle. Der gegenwärtige ist so schmählich, weil er das Beste, das Potential eines Einverständnisses von Menschen und Dingen, an die Mitteilung zwischen Subjekten nach den Erfordernissen subjektiver Vernunft verrät. An seiner rechten Stelle wäre, auch erkenntnistheoretisch, das Verhältnis von Subjekt und Objekt im verwirklichten Frieden sowohl zwischen den Menschen wie zwischen ihnen und ihrem Anderen. Friede ist der Stand eines Unterschiedenen ohne Herrschaft, in dem das Unterschiedene teilhat aneinander.
3 In der Erkenntnistheorie wird unter Subjekt meist soviel wie Transzendentalsubjekt verstanden. Nach idealistischer Lehre baut es entweder, kantisch, die objektive Welt aus einem unqualifizierten Material auf oder erzeugt sie, seit Fichte, überhaupt. Daß dies transzendentale, alle inhaltliche Erfahrung konstituierende Subjekt seinerseits von den lebendigen einzelnen Menschen abstrahiert sei, wurde nicht erst von der Kritik am Idealismus entdeckt. Evident ist, daß der abstrakte Begriff des transzendentalen Subjekts, die Formen von Denken, deren Einheit und die ursprüngliche Produktivität von Bewußtsein, voraussetzt, was er zu stiften verspricht: tatsächliche, lebendige Einzelwesen. Das war in den idealistischen Philosophien gegenwärtig. Kant zwar hat eine grundsätzliche, konstitutions-hierarchische Verschiedenheit des transzendentalen vom empirischen Subjekt im Kapitel von den psychologischen Paralogismen zu entwickeln versucht. Seine Nachfolger indessen, zumal Fichte und Hegel, aber auch Schopenhauer, trachteten, mit der unübersehbaren Schwierigkeit des Zirkels in subtilen Beweisführungen fertig zu werden. Vielfach rekurrierten sie auf das Aristotelische Motiv, das fürs Bewußtsein Erste – hier: das empirische Subjekt – sei nicht das an sich Erste und postuliere als seine Bedingung oder seinen Ursprung das transzendentale. Noch die Husserlsche Polemik gegen den Psychologismus samt der Distinktion von Genesis und Geltung fällt in die Kontinuität jener Argumentationsweise. Sie ist apologetisch. Bedingtes soll als unbedingt, Abgeleitetes als primär gerechtfertigt werden. Wiederholt wird ein Topos der gesamten abendländischen Überlieferung, demzufolge allein das Erste oder, wie Nietzsche kritisch es formulierte, nur das nicht Gewordene wahr sein könne. Die ideologische Funktion der These ist nicht zu verkennen. Je mehr die einzelnen Menschen real zu Funktionen der gesellschaftlichen Totalität durch deren Verknüpfung zum System herabgesetzt werden, desto mehr wird der Mensch schlechthin, als Prinzip, mit dem Attribut des Schöpferischen, dem absoluter Herrschaft, vom Geist tröstlich erhöht. Gleichwohl wiegt die Frage nach der Wirklichkeit des
transzendentalen Subjekts schwerer, als sie in dessen Sublimierung zum reinen Geist, vollends beim kritischen Widerruf des Idealismus, sich darstellt. In gewissem Sinn ist, was freilich der Idealismus am letzten zugestünde, das transzendentale Subjekt wirklicher, nämlich für das reale Verhalten der Menschen und die Gesellschaft, die daraus sich bildete, bestimmender als jene psychologischen Individuen, von denen das transzendentale abstrahiert ward und die in der Welt wenig zu sagen haben; die ihrerseits zu Anhängseln der sozialen Maschinerie, am Ende zur Ideologie geworden sind. Der lebendige Einzelmensch, so wie er zu agieren gezwungen ist und wozu er auch in sich geprägt wurde, ist als verkörperter homo oeconomicus eher das transzendentale Subjekt denn der lebendige Einzelne, für den er sich doch unmittelbar halten muß. Insofern war die idealistische Theorie realistisch und brauchte sich vor Gegnern, welche ihr Idealismus vorwarfen, nicht zu genieren. In der Lehre vom transzendentalen Subjekt erscheint getreu die Vorgängigkeit der von den einzelnen Menschen und ihrem Verhältnis abgelösten, abstrakt rationalen Beziehungen, die am Tausch ihr Modell haben. Ist die maßgebende Struktur der Gesellschaft die Tauschform, so konstituiert deren Rationalität die Menschen; was sie für sich sind, was sie sich dünken, ist sekundär. Von dem philosophisch als transzendental verklärten Mechanismus sind sie vorweg deformiert. Das vorgeblich Evidenteste, das empirische Subjekt, müßte eigentlich als ein noch gar nicht Existentes betrachtet werden; unter diesem Aspekt ist das transzendentale Subjekt »konstitutiv«. Es ist, angeblich Ursprung aller Gegenstände, in seiner starren Zeitlosigkeit vergegenständlicht, ganz nach der Kantischen Lehre von den festen und unveränderlichen Formen des transzendentalen Bewußtseins. Seine Festigkeit und Invarianz, welche der Transzendentalphilosophie zufolge die Objekte erzeugt, wenigstens ihnen die Regel vorschreibt, ist die Reflexionsform der im gesellschaftlichen Verhältnis objektiv vollzogenen Verdinglichung der Menschen. Der Fetischcharakter, gesellschaftlich notwendiger Schein, ist geschichtlich zum Prius dessen geworden, wovon er seinem Begriff nach das Posterius wäre. Das philosophische Konstitutionsproblem hat sich spiegelbildlich verkehrt; in seiner Verkehrung jedoch drückt es die Wahrheit über den erreichten geschichtlichen Stand aus; eine Wahrheit freilich, die durch eine zweite Kopernikanische Wendung theoretisch wieder zu negieren
wäre. Sie hat allerdings auch ihr positives Moment: daß die vorgängige Gesellschaft sich und ihre Mitglieder am Leben hält. Das besondere Individuum verdankt dem Allgemeinen die Möglichkeit seiner Existenz; dafür zeugt Denken, seinerseits ein allgemeines, insofern gesellschaftliches Verhältnis. Nicht nur fetischistisch ist Denken dem Einzelnen vorgeordnet. Nur wird im Idealismus die eine Seite hypostasiert, die anders als im Verhältnis zur anderen gar nicht begriffen werden kann. Das Gegebene aber, das Skandalon des Idealismus, das er doch nicht wegzuräumen vermag, demonstriert stets wieder das Mißlingen jener Hypostase.
4 Durch die Einsicht in den Vorrang des Objekts wird nicht die alte intentio recta restauriert, das hörige Vertrauen auf die so seiende Außenwelt, wie sie diesseits von Kritik erscheint, ein anthropologischer Stand bar des Selbstbewußtseins, welches erst im Kontext der Rückbeziehung von Erkenntnis auf das Erkennende sich kristallisiert. Das krude Gegenüber von Subjekt und Objekt im naiven Realismus ist zwar geschichtlich necessitiert und durch keinen Willensakt wegzuschaffen. Es ist aber zugleich Produkt falscher Abstraktion, schon ein Stück Verdinglichung. Darin einmal durchschaut, wäre das sich selbst vergegenständlichte, gerade als solches nach außen gerichtete, virtuell nach außen schlagende Bewußtsein nicht ohne Selbstbesinnung weiterzuschleppen. Die Wendung zum Subjekt, die freilich von Anbeginn auf dessen Primat hinauswill, verschwindet nicht einfach mit ihrer Revision; diese erfolgt nicht zuletzt im subjektiven Interesse von Freiheit. Vorrang des Objekts heißt vielmehr, daß Subjekt in einem qualitativ anderen, radikaleren Sinn seinerseits Objekt sei als Objekt, weil es nun einmal anders nicht denn durch Bewußtsein gewußt wird, auch Subjekt ist. Das durch Bewußtsein Gewußte muß ein Etwas sein, Vermittlung geht auf Vermitteltes. Subjekt aber, Inbegriff der Vermittlung, ist das Wie, niemals, als dem Objekt Kontrastiertes, das Was, das durch jegliche faßbare Vorstellung vom Subjektbegriff postuliert wird. Von Objektivität kann Subjekt potentiell, wenngleich nicht aktuell weggedacht werden; nicht ebenso Subjektivität von Objekt. Aus Subjekt, gleichgültig, wie es bestimmt werde, läßt ein Seiendes nicht sich eskamotieren. Ist Subjekt nicht etwas – und »etwas« bezeichnet ein irreduzibel objektives Moment –, so ist es gar nichts; noch als actus purus bedarf es des Bezugs auf ein Agierendes. Der Vorrang von Objekt ist die intentio obliqua der intentio obliqua, nicht die aufgewärmte intentio recta; das Korrektiv der subjektiven Reduktion, nicht die Verleugnung eines subjektiven Anteils. Vermittelt ist auch Objekt, nur nicht dem eigenen Begriff nach so durchaus auf Subjekt verwiesen wie Subjekt auf Objektivität. Solche Differenz hat der Idealismus ignoriert und damit eine Vergeistigung vergröbert, in welcher Abstraktion sich
tarnt. Das aber veranlaßt zur Revision der Stellung zum Subjekt, die in der traditionellen Theorie vorwaltet. Diese verherrlicht es in der Ideologie und diffamiert es in der Erkenntnispraxis. Will man indessen das Objekt erlangen, so sind seine subjektiven Bestimmungen oder Qualitäten nicht zu eliminieren; eben das wäre dem Vorrang von Objekt entgegen. Hat Subjekt einen Kern von Objekt, so sind die subjektiven Qualitäten am Objekt erst recht ein Moment des Objektiven. Denn einzig als Bestimmtes wird Objekt zu etwas. In den Bestimmungen, die scheinbar bloß das Subjekt ihm anheftet, setzt dessen eigene Objektivität sich durch: sie alle sind der Objektivität der intentio recta entlehnt. Auch nach idealistischer Doktrin sind die subjektiven Bestimmungen kein bloß Angeheftetes, immer werden sie auch vom zu Bestimmenden verlangt, und darin behauptet sich der Vorrang des Objekts. Umgekehrt ist das vermeintlich reine, der Zutat von Denken und Anschauung ledige Objekt gerade der Reflex abstrakter Subjektivität: nur sie macht durch Abstraktion das Andere sich gleich. Das Objekt ungeschmälerter Erfahrung, zum Unterschied vom bestimmungslosen Substrat des Reduktionismus, ist objektiver als jenes Substrat. Die von der traditionellen Erkenntniskritik am Objekt ausgemerzten und dem Subjekt gutgeschriebenen Qualitäten verdanken in der subjektiven Erfahrung sich dem Vorrang des Objekts; darüber betrog die Herrschaft der intentio obliqua. Ihre Erbschaft fiel einer Kritik der Erfahrung zu, welche deren eigene geschichtliche Bedingtheit, schließlich die gesellschaftliche erreicht. Denn Gesellschaft ist der Erfahrung immanent, kein allo genos. Nur die gesellschaftliche Selbstbesinnung der Erkenntnis erwirkt dieser die Objektivität, die sie versäumt, solange sie den in ihr waltenden gesellschaftlichen Zwängen gehorcht, ohne sie mitzudenken. Kritik an der Gesellschaft ist Erkenntniskritik und umgekehrt.
5 Vom Vorrang des Objekts ist legitim zu reden nur, wenn jener Vorrang, gegenüber dem Subjekt im weitesten Verstande, irgend bestimmbar ist, mehr also denn das Kantische Ding an sich als unbekannte Ursache der Erscheinung. Auch es freilich trägt bereits, trotz Kant, durch seine bloße Unterscheidung zum kategorial Prädizierten ein Minimum von Bestimmungen an sich; eine solche, negativer Art, wäre die der Akausalität. Sie reicht hin, einen Gegensatz zu der konventionellen Ansicht zu stiften, welche mit dem Subjektivismus konform geht. Der Vorrang des Objekts bewährt sich daran, daß er die Meinungen des verdinglichten Bewußtseins qualitativ verändert, die mit dem Subjektivismus reibungslos sich vertragen. Dieser tangiert den naiven Realismus nicht inhaltlich, sondern sucht lediglich formale Kriterien seiner Geltung anzugeben, so wie die Kantische Formel vom empirischen Realismus es bestätigt. Für den Vorrang des Objekts spricht wohl ein mit Kants Konstitutionslehre Unvereinbares: daß die ratio in den modernen Naturwissenschaften über die Mauer blickt, die sie selbst errichtet; ein Zipfelchen dessen erhascht, was mit ihren eingeschliffenen Kategorien nicht übereinkommt. Solche Erweiterung der ratio erschüttert den Subjektivismus. Wodurch aber das vorgängige Objekt, zum Unterschied von seiner subjektiven Zurüstung, sich bestimmt, das ist zu fassen an dem, was seinerseits die kategoriale Apparatur bestimmt, von der es dem subjektivistischen Schema zufolge bestimmt werden soll, an der Bedingtheit des Bedingenden. Die kategorialen Bestimmungen, die Kant zufolge Objektivität erst zeitigen, sind als ihrerseits Gesetztes, wenn man will, wirklich »bloß subjektiv«. Damit wird die reductio ad hominem zum Sturz des Anthropozentrismus. Daß noch der Mensch als Konstituens ein von Menschen Gemachtes ist, entzaubert das Schöpfertum des Geistes. Weil aber der Vorrang des Objekts der Reflexion aufs Subjekt und der subjektiven Reflexion bedarf, wird Subjektivität, anders als im primitiven Materialismus, der Dialektik eigentlich nicht zuläßt, zum festgehaltenen Moment.
6 Was unter dem Namen Phänomenalismus geht: daß von nichts gewußt werde, es sei denn durchs erkennende Subjekt hindurch, das verband sich seit der Kopernikanischen Wendung mit dem Kultus des Geistes. Beides wird von der Einsicht in den Vorrang des Objekts aus den Angeln gehoben. Was Hegel innerhalb der subjektiven Klammer intendierte, zerbricht in kritischer Konsequenz die Klammer. Die generelle Versicherung, daß Innervationen, Einsichten, Erkenntnisse »nur subjektiv« seien, verfängt nicht länger, sobald Subjektivität als Gestalt von Objekt durchschaut wird. Schein ist die Verzauberung des Subjekts in seinen eigenen Bestimmungsgrund, seine Setzung als wahres Sein. Subjekt selbst ist zu seiner Objektivität zu bringen, nicht sind seine Regungen aus der Erkenntnis zu verbannen. Der Schein des Phänomenalismus jedoch ist ein notwendiger. Er bezeugt den fast unwiderstehlichen Verblendungszusammenhang, den Subjekt als falsches Bewußtsein produziert und dessen Glied es zugleich ist. In solcher Unwiderstehlichkeit gründet die Ideologie des Subjekts. Aus dem Bewußtsein eines Mangels, dem von der Grenze der Erkenntnis, wird, damit der Mangel sich besser ertragen lasse, ein Vorzug. Kollektiver Narzißmus ist am Werk gewesen. Aber er hätte nicht mit solcher Stringenz sich durchsetzen, nicht die mächtigsten Philosophien hervorbringen können, läge ihm nicht verzerrt ein Wahres zugrunde. Was die Transzendentalphilosophie an der schöpferischen Subjektivität pries, ist die sich selbst verborgene Gefangenschaft des Subjekts in sich. In allem Objektiven, das es denkt, bleibt es eingespannt wie gepanzerte Tiere in ihren Verschalungen, die sie vergebens abzuwerfen suchen; nur kam jenen nicht der Einfall, ihre Gefangenschaft als Freiheit auszuposaunen. Wohl wäre zu fragen, warum die Menschen das taten. Die Gefangenschaft ihres Geistes ist überaus real. Daß sie als Erkennende abhängen von Raum, Zeit, Denkformen, markiert ihre Abhängigkeit von der Gattung. Sie schlug in jenen Konstituentien sich nieder; diese gelten darum nicht weniger. Das Apriori und die Gesellschaft sind ineinander. Die Allgemeinheit und Notwendigkeit jener Formen, ihr Kantischer Ruhm, ist keine andere als die, welche
die Menschen zur Einheit verbindet. Ihrer bedurften sie zum survival. Gefangenschaft wurde verinnerlicht: das Individuum ist nicht weniger in sich gefangen als in der Allgemeinheit, der Gesellschaft. Daher das Interesse an der Umdeutung von Gefangenschaft in Freiheit. Die kategoriale Gefangenschaft des individuellen Bewußtseins wiederholt die reale Gefangenschaft jedes Einzelnen. Noch der Blick des Bewußtseins, der jene durchschaut, wird determiniert von den Formen, die sie ihm eingepflanzt hat. An der Gefangenschaft in sich könnten die Menschen der gesellschaftlichen innewerden: das zu verhindern war und ist ein kapitales Interesse des Fortbestands des Bestehenden. Ihm zuliebe mußte, mit kaum geringerer Notwendigkeit als jener der Formen selbst, Philosophie sich versteigen. So ideologisch war der Idealismus, schon ehe er sich anschickte, die Welt als absolute Idee zu glorifizieren. Die Urkompensation schließt bereits ein, daß die Realität, zum Produkt des vermeintlich freien Subjekts erhöht, als ihrerseits freie sich rechtfertige.
7 Identitätsdenken, Deckbild der herrschenden Dichotomie, gebärdet sich im Zeitalter subjektiver Ohnmacht nicht länger als Verabsolutierung des Subjekts. Statt dessen formiert sich ein Typus scheinbar antisubjektivistischen, wissenschaftlich objektiven Identitätsdenkens, der Reduktionismus; vom frühen Russell sprach man als Neorealisten. Er ist die gegenwärtig charakteristische Form verdinglichten Bewußtseins, falsch wegen seines latenten und desto verhängnisvolleren Subjektivismus. Der Rest ist nach dem Maß der Ordnungsprinzipien subjektiver Vernunft gemodelt und kommt mit deren eigener Abstraktheit überein, abstrakt seinerseits. Das verdinglichte Bewußtsein, das sich verkennt, wie wenn es Natur wäre, ist naiv: sich selbst, ein Gewordenes und in sich überaus Vermitteltes, nimmt es, mit Husserl zu reden, als »Seinssphäre absoluter Ursprünge«, und sein von ihm zugerüstetes Gegenüber als die ersehnte Sache. Das Ideal der Entpersonalisierung von Erkenntnis um der Objektivität willen behält von dieser nichts als ihr caput mortuum zurück. Gesteht man den dialektischen Vorrang des Objekts zu, bricht die Hypothese unreflektierter praktischer Wissenschaft vom Objekt als Residualbestimmung nach Abzug von Subjekt zusammen. Subjekt ist dann nicht länger ein subtrahierbares Addendum zur Objektivität. Diese wird durch die Ausscheidung eines ihr wesentlichen Moments gefälscht, nicht gereinigt. Die Vorstellung, welche den residualen Objektivitätsbegriff leitet, hat denn auch ihr Urbild an einem Gesetzten, von Menschen Gemachten; keineswegs an der Idee jenes An sich, für das sie das gereinigte Objekt substituiert. Vielmehr ist es das Modell des Profits, der in der Bilanz nach Abzug sämtlicher Gestehungskosten übrigbleibt. Der aber ist das auf die Form des Kalküls gebrachte und beschränkte subjektive Interesse. Was für die nüchterne Sachlichkeit des Profitdenkens zählt, ist alles andere als die Sache: die geht unter in dem, was sie einem abwirft. Erkenntnis jedoch müßte geleitet werden von dem, was vom Tausch nicht verstümmelt ist, oder – denn es gibt nichts Unverstümmeltes mehr – von dem, was unter den Tauschvorgängen sich verbirgt. Objekt ist so wenig subjektloses Residuum wie das vom Subjekt Gesetzte. Beide einander
widerstreitenden Bestimmungen sind ineinander gepaßt: der Rest, mit dem die Wissenschaft als ihrer Wahrheit sich abspeisen läßt, ist Produkt ihres manipulativen Verfahrens, subjektiv veranstaltet. Zu definieren, was Objekt sei, wäre seinerseits ein Stück solcher Veranstaltung. Objektivität ist auszumachen einzig dadurch, daß auf jeder geschichtlichen Stufe und jeder der Erkenntnis reflektiert wird sowohl auf das, was jeweils als Subjekt und Objekt sich darstellt, wie auf die Vermittlungen. Insofern ist Objekt tatsächlich, wie der Neukantianismus es lehrte, »unendlich aufgegeben«. Zuweilen gelangt Subjekt, als uneingeschränkte Erfahrung, näher ans Objekt als das gefilterte, nach den Erfordernissen subjektiver Vernunft zurechtgestutzte Residuum. Unreduzierte Subjektivität vermag ihrem gegenwärtigen geschichtsphilosophischen Stellenwert nach, dem polemischen, objektiver zu fungieren als objektivistische Reduktionen. Verhext ist alle Erkenntnis unterm Bann nicht zuletzt darin, daß die überlieferten epistemologischen Thesen ihren Gegenstand auf den Kopf stellen: fair is foul, and foul is fair. Der objektive Gehalt individueller Erfahrung wird hergestellt nicht durch die Methode komparativer Verallgemeinerung, sondern durch Auflösung dessen, was jene Erfahrung, als selber befangene, daran hindert, dem Objekt so ohne Vorbehalt, nach Hegels Wort, mit der Freiheit sich zu überlassen, die das Subjekt der Erkenntnis entspannte, bis es wahrhaft in dem Objekt erlischt, dem es verwandt ist vermöge seines eigenen Objektseins. Die Schlüsselposition des Subjekts in der Erkenntnis ist Erfahrung, nicht Form; was bei Kant Formung heißt, wesentlich Deformation. Die Anstrengung von Erkenntnis ist überwiegend die Destruktion ihrer üblichen Anstrengung, der Gewalt gegen das Objekt. Seiner Erkenntnis nähert sich der Akt, in dem das Subjekt den Schleier zerreißt, den es um das Objekt webt. Fähig dazu ist es nur, wo es in angstloser Passivität der eigenen Erfahrung sich anvertraut. An den Stellen, wo die subjektive Vernunft subjektive Zufälligkeit wittert, schimmert der Vorrang des Objekts durch; das an diesem, was nicht subjektive Zutat ist. Subjekt ist das Agens, nicht das Konstituens von Objekt; das hat auch fürs Verhältnis von Theorie und Praxis seine Konsequenz.
8 Auch nach der zweiten Reflexion der Kopernikanischen Wendung behält Kants anfechtbarstes Theorem, die Distinktion von transzendentem Ding an sich und konstituiertem Gegenstand, einige Wahrheit. Denn Objekt wäre einmal das Nichtidentische, befreit vom subjektiven Bann und zu greifen durch dessen Selbstkritik hindurch – wenn es überhaupt schon ist und nicht vielmehr das, was Kant mit dem Begriff der Idee umriß. Ein solches Nichtidentisches käme dem Kantischen Ding an sich recht nahe, obwohl jener an dem Fluchtpunkt seiner Koinzidenz mit Subjekt festhielt. Es wäre kein Relikt eines entzauberten mundus intelligibilis, sondern realer als der mundus sensibilis insofern, als die Kantische Kopernikanische Wendung von jenem Nichtidentischen abstrahiert und daran ihre Schranke findet. Dann jedoch ist kantisch das Objekt das vom Subjekt »Gesetzte«, das subjektive Formgespinst über dem entqualifizierten Etwas; schließlich das Gesetz, welches die durch ihre subjektive Rückbeziehung desintegrierten Erscheinungen zum Gegenstand zusammenfaßt. Die Attribute der Notwendigkeit und Allgemeinheit, die Kant an den emphatischen Gesetzesbegriff heftet, besitzen dinghafte Festigkeit und sind undurchdringlich gleich der gesellschaftlichen Welt, mit der die Lebendigen kollidieren. Jenes Gesetz, welches Kant zufolge das Subjekt der Natur vorschreibt, die höchste Erhebung von Objektivität in seiner Konzeption, ist vollkommener Ausdruck des Subjekts sowohl wie seiner Selbstentfremdung: das Subjekt unterschiebt sich auf der Spitze seiner formenden Prätention als Objekt. Das indessen hat wieder sein paradoxes Recht: tatsächlich ist Subjekt auch Objekt, vergißt nur eben in seiner Verselbständigung zur Form, wie und wodurch es selbst konstituiert wird. Genau trifft die Kantische Kopernikanische Wendung die Objektivierung des Subjekts, die Realität von Verdinglichung. Ihr Wahrheitsgehalt ist der keineswegs ontologische sondern geschichtlich aufgetürmte Block zwischen Subjekt und Objekt. Ihn errichtet das Subjekt dadurch, daß es die Suprematie über das Objekt beansprucht und dadurch um es sich betrügt. Als in Wahrheit Nichtidentisches wird das Objekt dem Subjekt desto ferner gerückt, je mehr das Subjekt das Objekt
»konstituiert«. Der Block, an dem die Kantische Philosophie sich die Stirn eindenkt, ist zugleich Produkt jener Philosophie. Subjekt als reine Spontaneität, ursprüngliche Apperzeption, scheinbar das absolut dynamische Prinzip, ist aber, vermöge des Chorismos von jeglichem Material, nicht weniger verdinglicht als die nach dem Modell der Naturwissenschaften konstituierte Dingwelt. Denn durch den Chorismos wird die behauptete absolute Spontaneität, an sich, wenngleich nicht für Kant, stillgelegt; Form, die zwar die von etwas sein soll, der eigenen Beschaffenheit nach jedoch mit keinem Etwas in Wechselwirkung treten kann. Ihre schroffe Scheidung von der Tätigkeit der Einzelsubjekte, die als kontingent-psychologisch abgewertet werden muß, zerstört die ursprüngliche Apperzeption, Kants innerstes Prinzip. Sein Apriorismus beraubt das reine Tun eben der Zeitlichkeit, ohne welche unter Dynamik schlechterdings nichts sich verstehen läßt. Tun schlägt zurück in ein Sein zweiter Ordnung; ausdrücklich, wie allbekannt, in der Wendung des späten Fichte gegenüber der Wissenschaftslehre von 1794. Solche objektive Doppeldeutigkeit im Begriff des Objekts kodifiziert Kant, und kein Theorem übers Objekt darf sie überspringen. Strenggenommen hieße Vorrang des Objekts, daß es Objekt als ein dem Subjekt abstrakt Gegenüberstehendes nicht gibt, daß es aber als solches notwendig erscheint; die Notwendigkeit dieses Scheins wäre zu beseitigen.
9 Ebensowenig allerdings »gibt« es eigentlich Subjekt. Dessen Hypostasis im Idealismus führt auf Ungereimtheiten. Sie mögen dahin zusammengefaßt werden, daß die Bestimmung von Subjekt in sich involviert, wogegen es gesetzt ist. Und zwar keineswegs bloß erst, weil es als Konstituens das Konstitutum voraussetzt. Es ist selber Objekt insofern, als das »gibt«, das die idealistische Konstitutionslehre impliziert – es muß Subjekt geben, damit es irgend etwas konstituieren kann –, seinerseits der Sphäre von Faktizität entlehnt ward. Der Begriff dessen, was es gibt, meint nichts anderes als der des Daseienden, und als Daseiendes fällt Subjekt vorweg unter Objekt. Als reine Apperzeption aber möchte Subjekt das schlechthin Andere alles Daseienden sein. Auch darin erscheint negativ ein Stück Wahrheit: daß die Verdinglichung, die das souveräne Subjekt allem, es inbegriffen, angetan hat, Schein ist. In den Abgrund seiner selbst verlegt es, was der Verdinglichung entrückt wäre; freilich mit der widersinnigen Konsequenz, daß es damit einer jeden anderen Verdinglichung den Freibrief ausstellt. Der Idealismus projiziert die Idee richtigen Lebens falsch nach innen. Das Subjekt als produktive Einbildungskraft, reine Apperzeption, schließlich freie Tathandlung, verschlüsselt jene Tätigkeit, in der real das Leben der Menschen sich reproduziert, und antezipiert in ihr, mit Grund, die Freiheit. Darum verschwindet so wenig Subjekt einfach in Objekt, oder irgendeinem vorgeblich Höheren, dem Sein, wie es hypostasiert werden darf. Subjekt ist in seiner Selbstsetzung Schein und zugleich ein geschichtlich überaus Wirkliches. Es enthält das Potential der Aufhebung seiner eigenen Herrschaft.
10 Die Differenz von Subjekt und Objekt schneidet sowohl durch Subjekt wie durch Objekt hindurch. Sie ist so wenig zu verabsolutieren wie vom Gedanken fortzuschaffen. An Subjekt läßt eigentlich alles dem Objekt sich zurechnen; was daran nicht Objekt ist, sprengt semantisch das »Ist«. Die reine subjektive Form der traditionellen Erkenntnistheorie ist dem eigenen Begriff nach jeweils nur als Form von Objektivem, nicht ohne es und ohne es nicht einmal zu denken. Das Feste des erkenntnistheoretischen Ichs, die Identität des Selbstbewußtseins ist ersichtlich der unreflektierten Erfahrung des beharrenden, identischen Objekts nachgebildet; wird auch von Kant wesentlich darauf bezogen. Dieser hätte nicht die subjektiven Formen als Bedingungen von Objektivität reklamieren können, hätte er nicht stillschweigend ihnen eine Objektivität zugebilligt, die er von der erborgt, welcher er das Subjekt entgegensetzt. Am Extrem jedoch, in das Subjektivität sich zusammenzieht, vom Punkt seiner synthetischen Einheit her, wird immer nur das zusammengenommen, was auch an sich zusammengehört. Sonst wäre Synthesis bloße klassifikatorische Willkür. Freilich ist solche Zusammengehörigkeit ohne den subjektiven Vollzug der Synthesis ebensowenig vorzustellen. Noch vom subjektiven Apriori ist die Objektivität seiner Geltung einzig so weit zu behaupten, wie es eine objektive Seite hat; ohne diese wäre das vom Apriori konstituierte Objekt eine pure Tautologie für Subjekt. Dessen Inhalt endlich, bei Kant die Materie der Erkenntnis, ist vermöge seiner Unauflöslichkeit, Gegebenheit, seiner Äußerlichkeit zum Subjekt, ebenfalls Objektives in diesem. Danach dünkt leicht Subjekt seinerseits, wie es Hegel nicht gar so fern lag, ein Nichts und Objekt absolut. Doch das ist abermals transzendentaler Schein. Zum Nichts wird Subjekt durch seine Hypostasis, die Verdinglichung des Undinglichen. Sie geht zu Protest, weil sie dem zuinnerst naiv-realistischen Kriterium von Dasein nicht genügen kann. Die idealistische Konstruktion des Subjekts scheitert an seiner Verwechslung mit einem Objektiven als einem Ansichseienden, das es gerade nicht ist: nach dem Maß des Seienden ist Subjekt zur Nichtigkeit verurteilt. Subjekt ist um so
mehr, je weniger es ist, und um so weniger, je mehr es zu sein, ein für sich Objektives zu sein wähnt. Als Moment indessen ist es untilgbar. Nach Eliminierung des subjektiven Moments ginge Objekt diffus auseinander gleich den flüchtigen Regungen und Augenblicken subjektiven Lebens.
11 Objekt ist, wenngleich abgeschwächt, auch nicht ohne Subjekt. Fehlte Subjekt als Moment an Objekt selber, so würde dessen Objektivität zum Nonsens. An der Schwäche von Humes Erkenntnistheorie wird das flagrant. Sie war subjektiv gerichtet, während sie des Subjekts entraten zu können wähnte. Danach ist über das Verhältnis von individuellem und transzendentalem Subjekt zu urteilen. Das individuelle ist, wie seit Kant ungezählte Male variiert ward, Bestandteil der empirischen Welt. Seine Funktion jedoch: seine Fähigkeit zur Erfahrung – die dem transzendentalen Subjekt abgeht, denn kein rein Logisches könnte irgend erfahren – ist in Wahrheit weit konstitutiver als die vom Idealismus dem transzendentalen Subjekt zugesprochene, seinerseits einer Abstraktion vom individuellen Bewußtsein, die zutiefst vorkritisch hypostasiert ward. Gleichwohl erinnert der Begriff des Transzendentalen daran, daß Denken vermöge der ihm immanenten Allgemeinheitsmomente die eigene unabdingbare Individuation übersteigt. Auch die Antithese von Allgemeinem und Besonderem ist notwendig sowohl wie trügend. Keines von beiden ist ohne das andere, das Besondere nur als Bestimmtes und insofern allgemein, das Allgemeine nur als Bestimmung von Besonderem und insofern besonders. Beide sind und sind nicht. Das ist eines der stärksten Motive nicht-idealistischer Dialektik.
12 Die Reflexion des Subjekts auf seinen eigenen Formalismus ist die auf die Gesellschaft, mit der Paradoxie, daß, gemäß der Intention des späten Durkheim, die konstitutiven Formanten gesellschaftlich entsprungen sind, andererseits jedoch, worauf die gängige Erkenntnistheorie pochen kann, objektiv gültig; von Durkheims Argumentationen werden sie bereits vorausgesetzt in jedem Satz, der ihre Bedingtheit demonstriert. Die Paradoxie dürfte eins sein mit der objektiven Gefangenschaft des Subjekts in sich. Die Erkenntnisfunktion, ohne die Differenz so wenig wie Einheit des Subjekts wäre, entsprang ihrerseits. Sie besteht wesentlich in jenen Formanten; soweit es Erkenntnis gibt, muß sie nach ihnen sich vollziehen, auch wo sie darüber hinausblickt. Sie definieren den Erkenntnisbegriff. Dennoch sind sie nicht absolut sondern geworden wie die Erkenntnisfunktion überhaupt. Daß sie vergehen könnten, ist nicht jenseits aller Möglichkeit. Ihre Absolutheit zu prädizieren setzte die Erkenntnisfunktion, das Subjekt absolut; sie zu relativieren widerriefe die Erkenntnisfunktion dogmatisch. Dagegen wird vorgebracht, das Argument involviere den törichten Soziologismus: Gott habe die Gesellschaft geschaffen und diese den Menschen und Gott nach seinem Bild. Aber die These von der Vorgängigkeit ist widersinnig nur, solange das Individuum oder dessen biologische Vorform hypostasiert wird. Entwicklungsgeschichtlich ist eher das zeitliche Prius, wenigstens die Gleichzeitigkeit der Gattung zu vermuten. Daß »der« Mensch vor jener soll gewesen sein, ist entweder biblische Reminiszenz oder schierer Platonismus. Die Natur ist auf ihren niedrigen Stufen voll von nicht-individuierten Organismen. Werden nach der These neuerer Biologen tatsächlich die Menschen soviel unausgerüsteter geboren als andere Lebewesen, so haben sie wohl überhaupt nur assoziiert, durch rudimentäre gesellschaftliche Arbeit am Leben sich erhalten können; das principium individuationis ist deren Sekundäres, hypothetischerweise eine Art biologischer Arbeitsteilung. Daß irgendein einzelner Mensch zuerst, urbildlich hervortrat, ist unwahrscheinlich. Der Glaube daran projiziert mythisch das bereits historisch voll ausgebildete principium
individuationis nach rückwärts oder auf den ewigen Ideenhimmel. Die Gattung mochte durch Mutation sich individuieren, um dann durch Individuation, in Individuen unter Anlehnung ans biologisch Singuläre sich zu reproduzieren. Der Mensch ist Resultat, kein eidos; die Erkenntnis von Hegel und Marx reicht bis ins Innerste der sogenannten Konstitutionsfragen hinein. Die Ontologie »des« Menschen – Modell der Konstruktion des transzendentalen Subjekts – ist am entfalteten Einzelnen orientiert, so wie es sprachlich die Äquivokation in dem Ausdruck »der« anzeigt, welcher ebenso das Gattungswesen wie das Individuum benennt. Insofern enthält der Nominalismus, wider die Ontologie, viel eher als diese den Primat der Gattung, der Gesellschaft. Diese freilich ist mit dem Nominalismus darin sich einig, daß sie die Gattung sogleich verleugnet, vielleicht weil sie an die Tiere mahnt: Ontologie, indem sie den Einzelnen zur Form von Einheit und gegenüber dem Vielen zum Ansichseienden erhebt; Nominalismus, indem er unreflektiert den Einzelnen, nach dem Modell des Einzelmenschen, zum wahrhaft Seienden erklärt. Er verleugnet die Gesellschaft in den Begriffen dadurch, daß er sie zur Abbreviatur für Einzelnes herabsetzt.
Marginalien zu Theorie und Praxis
Für Ulrich Sonnemann
1 Wie sehr die Frage nach Theorie und Praxis abhängt von der nach Subjekt und Objekt, tut eine einfache historische Besinnung dar. Zur selben Zeit, da die Cartesianische Zweisubstanzenlehre die Dichotomie von Subjekt und Objekt ratifizierte, wurde in der Dichtung Praxis erstmals als fragwürdig wegen ihrer Spannung zur Reflexion dargestellt. Die reine praktische Vernunft ist bei allem eifrigen Realismus so objektlos wie die Welt, für Manufaktur und Industrie, zum qualitätslosen Material der Bearbeitung wird, die ihrerseits nirgendwo anders als auf dem Markt sich legitimiert. Während Praxis verspricht, die Menschen aus ihrem Verschlossensein in sich hinauszuführen, ist sie eh und je verschlossen; darum sind die Praktischen unansprechbar, die Objektbezogenheit von Praxis a priori unterhöhlt. Wohl ließe sich fragen, ob nicht bis heute alle naturbeherrschende Praxis in ihrer Indifferenz gegens Objekt Scheinpraxis sei. Ihren Scheincharakter erbt sie fort auch an all die Aktionen, die den alten gewalttätigen Gestus von Praxis ungebrochen übernehmen. Man hat dem amerikanischen Pragmatismus seit seiner Frühzeit mit Grund vorgeworfen, daß er, indem er zum Kriterium von Erkenntnis deren praktische Verwertbarkeit erklärt, sie auf bestehende Verhältnisse vereidige; nirgends sonst lasse der praktische Nutzeffekt der Erkenntnis sich überprüfen. Wird aber am Ende Theorie, der es ums Ganze geht, wenn sie nicht vergeblich sein soll, auf ihren Nutzeffekt jetzt und hier festgenagelt, so widerfährt ihr dasselbe, trotz des Glaubens, sie entrinne der Systemimmanenz. Dieser entwände Theorie sich allein, wo sie die gleichviel wie modifizierte pragmatistische Fessel abstreifte. Daß alle Theorie grau sei, läßt Goethe Mephistopheles dem Schüler predigen, den er an der Nase herumführt; der Satz war Ideologie schon am ersten Tag, Betrug darüber, wie wenig grün des Lebens Baum ist, den die Praktiker gepflanzt haben, und den der Teufel im gleichen Atemzug mit dem
Metall Gold vergleicht; das Grau der Theorie seinerseits ist Funktion des entqualifizierten Lebens. Nichts soll sein, was nicht sich anpacken läßt; nicht der Gedanke. Das auf sich selbst zurückgeworfene, durch einen Abgrund von seinem Anderen getrennte Subjekt sei unfähig zur Tat. Hamlet ist ebenso die Urgeschichte des Individuums in dessen subjektiver Reflexion wie das Drama des im Handeln durch jene Reflexion Gelähmten. Die Selbstentäußerung des Individuums zu dem, was ihm nicht gleicht, spürt es als ihm unangemessen und wird gehemmt, sie zu vollbringen. Wenig später schon beschreibt der Roman, wie es auf jene Situation reagiert, die durch das Wort Entfremdung falsch benannt ist – so als wäre im vorindividuellen Zeitalter Nähe gewesen, die doch anders als von Individuierten schwerlich empfunden werden kann: die Tiere sind nach Borchardts Wort »einsame Gemeinde« –; mit Pseudo-Aktivität. Die Narrheiten des Don Quixote sind Versuche der Kompensation fürs entgleitende Andere, nach psychiatrischer Sprache Restitutionsphänomene. Was seitdem als Problem der Praxis gilt und heute abermals sich zuspitzt zur Frage nach dem Verhältnis von Praxis und Theorie, koinzidiert mit dem Erfahrungsverlust, den die Rationalität des Immergleichen verursacht. Wo Erfahrung versperrt oder überhaupt nicht mehr ist, wird Praxis beschädigt und deshalb ersehnt, verzerrt, verzweifelt überwertet. So ist, was das Problem der Praxis heißt, mit dem der Erkenntnis verflochten. Die abstrakte Subjektivität, in der der Rationalisierungsprozeß terminiert, kann strengen Sinnes so wenig irgend etwas tun, wie vom transzendentalen Subjekt vorzustellen ist, was gerade ihm attestiert wird, Spontaneität. Seit der Cartesianischen Doktrin von der zweifelsfreien Gewißheit des Subjekts – und die Philosophie, die sie beschrieb, kodifizierte ein geschichtlich Vollzogenes, eine Konstellation von Subjekt und Objekt, in der, dem antiken Topos zufolge, nur Ungleiches Ungleiches soll erkennen können – nimmt Praxis etwas Scheinhaftes an, so als trüge sie nicht über den Graben hinüber. Worte wie Betriebsamkeit und Geschäftigkeit treffen die Nuance recht prägnant. Die Scheinrealitäten mancher praktischer Massenbewegungen des zwanzigsten Jahrhunderts, welche zur blutigsten Realität wurden und dennoch vom nicht ganz Realen, Wahnhaften überschattet sind, hatten ihre Geburtsstunde, als erst einmal nach der Tat gefragt wurde. Während Denken zur
subjektiven, praktisch verwertbaren Vernunft sich beschränkt, wird korrelativ das Andere, das ihr entgleitet, einer zunehmend begriffslosen Praxis zugewiesen, die kein Maß anerkennt als sich selbst. So antinomisch wie die Gesellschaft, die ihn trägt, vereint der bürgerliche Geist Autonomie und pragmatistische Theoriefeindschaft. Die Welt, die von der subjektiven Vernunft tendenziell nur noch nachkonstruiert wird, soll zwar immerfort, ihrer wirtschaftlichen Expansionstendenz gemäß, verändert werden, aber doch bleiben, was sie ist. Coupiert wird am Denken, was daran rührt: zumal Theorie, die mehr will als Nachkonstruktion. Herzustellen wäre ein Bewußtsein von Theorie und Praxis, das beide weder so trennt, daß Theorie ohnmächtig würde und Praxis willkürlich; noch Theorie durch den von Kant und Fichte proklamierten, urbürgerlichen Primat der praktischen Vernunft bricht. Denken ist ein Tun, Theorie eine Gestalt von Praxis; allein die Ideologie der Reinheit des Denkens täuscht darüber. Es hat Doppelcharakter: ist immanent bestimmt und stringent, und gleichwohl eine unabdingbar reale Verhaltensweise inmitten der Realität. Soweit Subjekt, die denkende Substanz der Philosophen, Objekt ist, soweit es in Objekt fällt, soweit ist es vorweg auch praktisch. Die stets wieder obenauf kommende Irrationalität der Praxis aber – ihr ästhetisches Urbild sind die jähen Zufallsaktionen, durch die Hamlet das Geplante realisiert und an der Realisierung scheitert – belebt unermüdlich den Schein absoluter Getrenntheit von Subjekt und Objekt. Wo Objekt dem Subjekt als schlechthin Inkommensurables vorgegaukelt wird, erbeutet blindes Schicksal die Kommunikation zwischen beiden.
2 Man vergröberte, wollte man der geschichtsphilosophischen Konstruktion zuliebe die Divergenz von Theorie und Praxis so spät wie auf die Renaissance datieren. Nur ist sie damals, nach dem Einsturz jenes ordo, der wie der Wahrheit so auch den guten Werken ihren hierarchischen Ort anzuweisen sich vermaß, erstmals reflektiert worden. Man erfuhr die Krise von Praxis in der Gestalt: nicht wissen, was man tun soll. Samt der mittelalterlichen Hierarchie, die mit ausgeführter Kasuistik verbunden war, sind die praktischen Anweisungen zergangen, die damals, bei all ihrer Fragwürdigkeit, zumindest als der Sozialstruktur adäquat erschienen. Im vielbefehdeten Formalismus der Kantischen Ethik kulminiert eine Bewegung, die mit der Emanzipation autonomer Vernunft unaufhaltsam, und mit kritischem Recht, ins Rollen kam. Die Unfähigkeit zur Praxis war primär das Bewußtsein des Mangels an Regulativen, Schwäche schon ursprünglich; das Zaudern, der Vernunft als Kontemplation verschwistert und Hemmung der Praxis, rührt daher. Der formale Charakter der reinen praktischen Vernunft konstituierte deren Versagen vor der Praxis; veranlaßte freilich auch zur Selbstbesinnung, die über den schuldhaften Begriff von Praxis hinausgeleitet. Hat die autarkische Praxis seit je manische und zwangshafte Züge, so heißt diesen gegenüber Selbstbesinnung: die Unterbrechung der blind nach außen zielenden Aktion; Unnaivetät als Übergang zum Humanen. Wer nicht das Mittelalter romantisieren will, muß die Divergenz von Theorie und Praxis bis auf die älteste Trennung körperlicher und geistiger Arbeit zurückverfolgen, wahrscheinlich bis in die finstere Vorgeschichte. Praxis ist entstanden aus der Arbeit. Zu ihrem Begriff gelangte sie, als Arbeit nicht länger bloß das Leben direkt reproduzieren sondern dessen Bedingungen produzieren wollte: das stieß zusammen mit den nun einmal vorhandenen Bedingungen. Ihre Abkunft von Arbeit lastet schwer auf aller Praxis. Bis heute begleitet sie das Moment von Unfreiheit, das sie mitschleppte: daß man einst wider das Lustprinzip agieren mußte um der Selbsterhaltung willen; obwohl doch die auf ein Minimum reduzierte Arbeit nicht länger mit Verzicht gekoppelt zu sein brauchte. Auch daß die Sehnsucht nach
Freiheit der Aversion gegen Praxis eng verwandt ist, verdrängt der gegenwärtige Aktionismus. Praxis war der Reflex von Lebensnot; das entstellt sie noch, wo sie die Lebensnot abschaffen will. Insofern ist Kunst Kritik von Praxis als Unfreiheit; damit hebt ihre Wahrheit an. Der Abscheu vor Praxis, die heute allerorten so hoch im Kurs steht, läßt schockhaft sich nachfühlen an naturgeschichtlichen Phänomenen wie den Bauten der Biber, der Emsigkeit der Ameisen und Bienen, der grotesk mühseligen Geducktheit des Käfers, der einen Halm transportiert. Jüngstes verschränkt in Praxis sich mit einem Ältesten; sie wird abermals zum heiligen Tier, so wie es in der Vorwelt als Frevel dünken mochte, nicht mit Haut und Haaren dem selbsterhaltenden Betrieb der Gattung sich auszuliefern. Die Physiognomie von Praxis ist tierischer Ernst; er löst sich, wo das Ingenium von Praxis sich emanzipiert: das wohl war von Schillers Spieltheorie gemeint. Die meisten Aktionisten sind humorlos auf eine Weise, die nicht weniger beängstigt als der Mitlacher-Humor anderer. Der Mangel an Selbstbesinnung rührt nicht nur von ihrer Psychologie her. Er markiert Praxis, sobald sie als ihr eigener Fetisch zur Barrikade vor ihrem Zweck wird. Desperat ist die Dialektik, daß aus dem Bann, den Praxis um die Menschen legt, allein durch Praxis hinauszugelangen ist, daß sie aber einstweilen zwangshaft als Praxis am Bann verstärkend mitwirkt, dumpf, borniert, geistfern. Die neueste Theoriefeindschaft, die das innerviert, macht ein Programm daraus. Aber der praktische Zweck, der die Befreiung von allem Bornierten einschließt, ist gegen die Mittel, die ihn erreichen wollen, nicht gleichgültig; sonst artet Dialektik in vulgären Jesuitismus aus. Der blödsinnige Parlamentarier von Dorés Karikatur, der sich rühmt: »Meine Herren, ich bin vor allem praktisch«, offenbart sich als Wicht, der über anfallende Aufgaben nicht hinaussieht und sich auch noch etwas darauf einbildet; sein Gestus denunziert den Geist von Praxis selber als Ungeist. Das nicht Bornierte wird von Theorie vertreten. Trotz all ihrer Unfreiheit ist sie im Unfreien Statthalter der Freiheit.
3 Heute wird abermals die Antithese von Theorie und Praxis zur Denunziation der Theorie mißbraucht. Als man einem Studenten das Zimmer zerschlug, weil er lieber arbeitete als an Aktionen sich zu beteiligen, schmierte man ihm an die Wand: wer sich mit Theorie beschäftige, ohne praktisch zu handeln, sei ein Verräter 1 am Sozialismus. Praxis wurde nicht ihm allein gegenüber zum ideologischen Vorwand von Gewissenszwang. Das von ihnen diffamierte Denken strengt offenbar die Praktischen ungebührlich an: es bereitet zuviel Arbeit, ist zu praktisch. Wer denkt, setzt Widerstand; bequemer ist, mit dem Strom, erklärte er sich auch als gegen den Strom, mitzuschwimmen. Indem man einer regressiven und deformierten Gestalt des Lustprinzips nachgibt, es sich leichter macht, sich gehenläßt, darf man überdies eine moralische Prämie von den Gleichgesinnten erhoffen. Das kollektive Ersatz-Überich gebietet in roher Umkehrung, was das alte Überich mißbilligte: die Zession seiner selbst qualifiziert den Willigen als besseren Menschen. Auch bei Kant war emphatische Praxis guter Wille; der aber soviel wie autonome Vernunft. Ein nicht bornierter Begriff von Praxis indessen kann einzig noch auf Politik sich beziehen, auf die Verhältnisse der Gesellschaft, welche die Praxis eines jeden Einzelnen weithin zur Irrelevanz verurteilen. Das ist der Ort der Differenz zwischen der Kantischen Ethik und den Anschauungen Hegels, der, wie Kierkegaard sah, Ethik im traditionellen Verstande eigentlich nicht mehr kennt. Die moralphilosophischen Schriften Kants waren, dem Stand von Aufklärung im achtzehnten Jahrhundert gemäß, bei allem Antipsychologismus und aller Anstrengung zu schlechthin verbindlicher, übergreifender Gültigkeit, individualistisch soweit, wie sie an das Individuum sich wendeten als an das Substrat richtigen – bei Kant: radikal vernünftigen – Handelns. Kants Beispiele kommen allesamt aus der Privat- und der geschäftlichen Sphäre; der Begriff der Gesinnungsethik, deren Subjekt der individuierte Einzelne sein muß, wird davon bedingt. In Hegel meldet erstmals die Erfahrung sich an, daß das Verhalten des Individuums, sei es noch so reinen Willens, nicht heranreicht an eine Realität, die dem Individuum die
Bedingungen seines Handelns vorschreibt und einschränkt. Indem Hegel den Begriff des Moralischen ins Politische erweitert, löst er ihn auf. Keine unpolitische Reflexion über Praxis seitdem ist triftig. Ebensowenig jedoch sollte man darüber sich täuschen, daß in eben der politischen Erweiterung des Praxisbegriffs Repression des Einzelnen durchs Allgemeine mitgesetzt ist. Humanität, die ohne Individuation nicht ist, wird durch deren schnöselige Abfertigung virtuell widerrufen. Ist aber einmal das Handeln des Einzelnen, und damit aller Einzelnen, verächtlich gemacht, so lähmt das auch das kollektive. Spontaneität erscheint angesichts der tatsächlichen Übermacht der objektiven Verhältnisse vorweg als nichtig. Kants Moral-und Hegels Rechtsphilosophie repräsentieren zwei dialektische Stufen des bürgerlichen Selbstbewußtseins von Praxis. Beide sind, gespalten nach den Polen des Besonderen und des Allgemeinen, die jenes Bewußtsein auseinanderreißt, auch falsch; beide behalten so lange gegeneinander recht, wie nicht in der Realität eine mögliche höhere Gestalt von Praxis sich enthüllt; ihre Enthüllung bedarf der theoretischen Reflexion. Kein Zweifel und unbestritten, daß die vernünftige Analyse der Situation die Voraussetzung zumindest von politischer Praxis ist: sogar in der militärischen Sphäre, der des kruden Vorrangs von Praxis, wird so verfahren. Analyse der Situation erschöpft sich nicht in der Anpassung an diese. Indem sie darüber reflektiert, hebt sie Momente hervor, welche über die Situationszwänge hinausführen mögen. Das ist von unabsehbarer Relevanz für das Verhältnis von Theorie und Praxis. Durch ihre Differenz von dieser als dem unmittelbaren, situationsgebundenen Handeln, durch Verselbständigung also, wird Theorie zur verändernden, praktischen Produktivkraft. Betrifft Denken irgend etwas, worauf es ankommt, so setzt es allemal einen, wie sehr auch dem Denken verborgenen praktischen Impuls. Der allein denkt, welcher das je Gegebene nicht passiv hinnehmen will; von dem Primitiven, der sich überlegt, wie er sein Feuerchen vorm Regen beschützen oder wohin er vorm Gewitter sich verkriechen kann, bis zum Aufklärer, der konstruiert, wie die Menschheit durchs Interesse an der Selbsterhaltung aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit hinausgelange. Derlei Motive wirken fort; erst recht vielleicht, wo keine praktischen Anlässe unmittelbar thematisch sind. Es gibt keinen Gedanken, wofern er irgend mehr ist als Ordnung von Daten und ein Stück Technik, der nicht sein
praktisches Telos hätte. Jegliche Meditation über die Freiheit verlängert sich in die Konzeption ihrer möglichen Herstellung, solange die Meditation nicht an die praktische Kandare genommen und auf ihr anbefohlene Ergebnisse zugeschnitten wird. So wenig indessen die Getrenntheit von Subjekt und Objekt durch den Machtspruch des Gedankens unmittelbar revozierbar ist, so wenig gibt es unmittelbare Einheit von Theorie und Praxis: sie imitierte die falsche Identität von Subjekt und Objekt und perpetuierte das identitätssetzende Herrschaftsprinzip, gegen das anzugehen in wahrer Praxis liegt. Der Wahrheitsgehalt der Rede von der Einheit von Theorie und Praxis war an geschichtliche Bedingungen geknüpft. An Knotenpunkten, Bruchstellen der Entwicklung mögen Reflexion und Handlung zünden; selbst dann jedoch sind beide nicht eins.
4 Der Vorrang des Objekts ist von Praxis zu achten; die Kritik des Idealisten Hegel an Kants Gewissensethik hat das erstmals verzeichnet. Recht verstanden ist Praxis, insofern Subjekt seinerseits ein Vermitteltes ist, das, was das Objekt will: sie folgt seiner Bedürftigkeit. Aber nicht durch Anpassung des Subjekts, welche die heteronome Objektivität bloß befestigte. Die Bedürftigkeit des Objekts ist durchs gesellschaftliche Gesamtsystem vermittelt; daher nur durch Theorie kritisch bestimmbar. Praxis ohne Theorie, unterhalb des fortgeschrittensten Standes von Erkenntnis, muß mißlingen, und ihrem Begriff nach möchte Praxis es realisieren. Falsche Praxis ist keine. Verzweiflung, die, weil sie die Auswege versperrt findet, blindlings sich hineinstürzt, verbindet noch bei reinstem Willen sich dem Unheil. Feindschaft gegen Theorie im Geist der Zeit, ihr keineswegs zufälliges Absterben, ihre Ächtung durch die Ungeduld, welche die Welt verändern will, ohne sie zu interpretieren, während es doch an Ort und Stelle geheißen hatte, die Philosophen hätten bislang bloß interpretiert – solche Theoriefeindschaft wird zur Schwäche der Praxis. Daß dieser die Theorie sich beugen soll, löst deren Wahrheitsgehalt auf und verurteilt Praxis zum Wahnhaften; das auszusprechen ist praktisch an der Zeit. Kollektivbewegungen, offenbar einstweilen gleich welchen Inhalts, verschafft das Quentchen Wahnsinn ihre sinistre Anziehungskraft. Durch Integration in den Kollektivwahn werden die Individuen mit der eigenen Desintegration, nach Ernst Simmels Einsicht durch die kollektive mit der privaten Paranoia fertig. Sie äußert sich im Augenblick vorab als Unfähigkeit, objektive, vom Subjekt nicht in Harmonie aufzulösende Widersprüche reflektierend ins Bewußtsein hineinzunehmen; krampfhaft unangefochtene Einheit ist das Deckbild unaufhaltsamer Selbstentzweiung. Der sanktionierte Wahn dispensiert von der Realitätsprüfung, die notwendig auf dem geschwächten Bewußtsein unerträgliche Antagonismen wie den von subjektivem Bedürfnis und objektiver Versagung gerät. Schmeichlerisch bösartiger Diener des Lustprinzips, steckt das wahnhafte Moment mit einer Krankheit an, die das Ich durch den Schein seiner Geborgenheit tödlich bedroht.
Davor sich zu fürchten wäre die einfachste und darum ebenfalls verdrängte Selbsterhaltung: die unbeirrte Weigerung, den rasch eintrocknenden Rubikon zwischen Vernunft und Wahn zu überschreiten. Der Übergang zur theorielosen Praxis wird motiviert von der objektiven Ohnmacht der Theorie und vervielfacht jene Ohnmacht durch die Isolierung und Fetischisierung des subjektiven Moments der geschichtlichen Bewegung, der Spontaneität. Ihre Deformation ist abzuleiten als reaktiv auf die verwaltete Welt. Indem sie jedoch vor deren Totalität krampfhaft die Augen verschließt und sich verhält, als stünde es bei den Menschen unmittelbar, ordnet sie der objektiven Tendenz fortschreitender Entmenschlichung sich ein; auch in ihren Praktiken. Spontaneität, welche die Bedürftigkeit des Objekts innervierte, müßte an die anfälligen Stellen der verhärteten Realität sich heften, an die, wo die Brüche nach außen kommen, die der Druck der Verhärtung bewirkt; nicht wahllos, abstrakt, ohne Rücksicht auf den Inhalt des oft nur der Reklame zuliebe Bekämpften um sich schlagen.
5 Riskiert man ausnahmsweise, über die historischen Differenzen hinweg, in denen die Begriffe Theorie und Praxis ihr Leben haben, eine sogenannte große Perspektive, so gewahrt man das unendlich Fortschrittliche der von der Romantik beklagten und in ihrem Gefolge von vielen Sozialisten – nicht dem reifen Marx – diffamierten Trennung von Theorie und Praxis. Wohl ist der Dispens des Geistes von der materiellen Arbeit Schein, denn Geist setzt zur eigenen Existenz materielle Arbeit voraus. Aber er ist nicht nur Schein, dient nicht nur der Repression. Die Trennung markiert die Stufe eines Prozesses, der aus der blinden Vorherrschaft materieller Praxis hinausführt, potentiell hin auf Freiheit. Daß einige ohne materielle Arbeit leben und, wie Nietzsches Zarathustra, ihres Geistes sich freuen, das ungerechte Privileg, sagt auch, daß es allen möglich sei; vollends auf einem Stand der technischen Produktivkräfte, der den allgemeinen Dispens von materieller Arbeit, ihre Reduktion auf einen Grenzwert absehbar macht. Durch Machtspruch jene Trennung widerrufen dünkt sich idealisch und ist regressiv. Der ohne Überschuß in die Praxis heimbefohlene Geist würde Konkretismus. Er verstünde sich mit der technokratisch-positivistischen Tendenz, der er zu opponieren meint und zu der er, übrigens auch in gewissen Parteiungen, mehr Affinität besitzt, als er sich träumen läßt. Mit der Trennung von Theorie und Praxis erwacht Humanität; fremd ist sie jener Ungeschiedenheit, die in Wahrheit dem Primat von Praxis sich beugt. Tiere, ähnlich wie regredierende Gehirnverletzte, kennen nur Aktionsobjekte: Wahrnehmung, List, Fressen sind einerlei unterm Zwang, der auf den Subjektlosen schwerer noch lastet als auf den Subjekten. List muß sich verselbständigt haben, damit die Einzelwesen jene Distanz vom Fressen gewinnen, deren Telos das Ende der Herrschaft wäre, in welcher Naturgeschichte sich perpetuiert. Das Mildernde, Gutartige, Zarte – auch das Versöhnliche an Praxis ahmt den Geist nach, ein Produkt der Trennung, deren Widerruf die allzu unreflektierte Reflexion betreibt. Entsublimierung, die man ohnehin im gegenwärtigen Zeitalter kaum eigens zu empfehlen braucht, verewigte den finsteren
Zustand, den ihre Fürsprecher aufhellen möchten. Daß Aristoteles die dianoetischen Tugenden am höchsten stellte, hatte fraglos seine ideologische Seite, die Resignation des hellenistischen Privatmanns, der der Einwirkung auf die öffentlichen Dinge aus Angst sich entziehen muß und nach Rechtfertigung dafür sucht. Aber seine Tugendlehre öffnete auch den Horizont seliger Betrachtung; selig, weil sie dem Ausüben und Erleiden von Gewalt entronnen wäre. Die Aristotelische Politik ist so viel humaner als der Platonische Staat, wie ein quasi-bürgerliches Bewußtsein humaner ist als ein restauratives, das, um einer bereits aufgeklärten Welt sich zu oktroyieren, prototypisch ins Totalitäre umschlägt. Das Ziel richtiger Praxis wäre ihre eigene Abschaffung.
6 Marx hat in dem berühmten Brief an Kugelmann vor dem drohenden Rückfall in die Barbarei gewarnt, der damals schon absehbar gewesen sein muß. Nichts hätte besser die Wahlverwandtschaft von Konservativismus und Revolution ausdrücken können. Diese erschien bereits Marx als ultima ratio, um den von ihm prognostizierten Zusammenbruch abzuwenden. Aber die Angst, die Marx nicht zuletzt wird bewogen haben, ist überholt. Der Rückfall hat stattgefunden. Nach Auschwitz und Hiroshima ihn für die Zukunft zu erwarten, hört auf den armseligen Trost, es könne immer noch schlimmer werden. Die Menschheit, die das Schlimme ausübt und über sich ergehen läßt, ratifiziert dadurch das Schlimmste: man muß nur dem Gewäsch von den Gefahren der Entspannung lauschen. Fällige Praxis wäre allein die Anstrengung, aus der Barbarei sich herauszuarbeiten. Diese ist, mit der Beschleunigung der Geschichte zur Überschallgeschwindigkeit, so weit gediehen, daß sie alles ansteckt, was ihr widerstrebt. Vielen klingt die Ausrede plausibel, gegen die barbarische Totalität verfingen nur noch barbarische Mittel. Unterdessen jedoch ist ein Schwellenwert erreicht. Was vor fünfzig Jahren der allzu abstrakten und illusionären Hoffnung auf totale Veränderung für eine kurze Phase noch gerecht erscheinen mochte, Gewalt, ist nach der Erfahrung des nationalsozialistischen und stalinistischen Grauens und angesichts der Langlebigkeit totalitärer Repression unentwirrbar verstrickt in das, was geändert werden müßte. Ist der Schuldzusammenhang der Gesellschaft, und mit ihm der Prospekt der Katastrophe, wahrhaft total geworden – und nichts erlaubt, daran zu zweifeln –, so ist dem nichts entgegenzusetzen, als was jenen Verblendungszusammenhang aufkündigt, anstatt in den eigenen Formen daran zu partizipieren. Entweder die Menschheit verzichtet auf das Gleich um Gleich der Gewalt, oder die vermeintlich radikale politische Praxis erneuert das alte Entsetzen. Schmählich wird die Spießbürgerweisheit, Faschismus und Kommunismus seien dasselbe, oder die jüngste, die ApO hülfe der NPD, verifiziert: die bürgerliche Welt ist vollends so geworden, wie die Bürger sie sich vorstellen. Wer nicht den Übergang zu irrationaler und roher Gewalt
mitvollzieht, sieht in die Nachbarschaft jenes Reformismus sich gedrängt, der seinerseits mitschuldig ist am Fortbestand des schlechten Ganzen. Aber kein Kurzschluß hilft, und was hilft, ist dicht zugehängt. Dialektik wird zur Sophistik verdorben, sobald sie pragmatistisch auf den nächsten Schritt sich fixiert, über den doch die Erkenntnis der Totale längst hinausreicht.
7 Das Falsche des heute geübten Primats von Praxis wird deutlich an dem Vorrang von Taktik über alles andere. Die Mittel haben zum Äußersten sich verselbständigt. Indem sie reflexionslos den Zwecken dienen, haben sie diesen sich entfremdet. So fordert man allerorten Diskussion, zunächst gewiß aus anti-autoritärem Impuls. Aber Taktik hat die Diskussion, übrigens wie Öffentlichkeit eine durchaus bürgerliche Kategorie, vollends zunichte gemacht. Was aus Diskussionen resultieren könnte, Beschlüsse von höherer Objektivität darum, weil Intentionen und Argumente ineinandergreifen und sich durchdringen, interessiert die nicht, welche automatisch, auch in ganz inadäquaten Situationen, Diskussion wollen. Jeweils dominierende Cliquen haben vorweg die von ihnen gewollten Ergebnisse parat. Die Diskussion dient der Manipulation. Jedes Argument ist auf die Absicht zugeschnitten, unbekümmert um Stichhaltigkeit. Was der Kontrahent sagt, wird kaum wahrgenommen; allenfalls, damit man mit Standardformeln dagegen aufwarten kann. Erfahrungen will man nicht machen, wofern man sie überhaupt machen kann. Der Diskussionsgegner wird zur Funktion des jeweiligen Plans: verdinglicht von verdinglichtem Bewußtsein malgré lui-même. Entweder man will ihn durch Diskussionstechnik und Solidaritätszwang zu etwas Verwertbarem bewegen, oder ihn vor den Anhängern diskreditieren; oder sie reden einfach zum Fenster hinaus, der Publizität zuliebe, deren Gefangene sie sind: Pseudo-Aktivität vermag einzig durch unablässige Reklame sich am Leben zu erhalten. Gibt der Kontrahent nicht nach, so wird er disqualifiziert und des Mangels eben der Eigenschaften bezichtigt, welche von der Diskussion vorausgesetzt würden. Deren Begriff wird ungemein geschickt so zurechtgebogen, daß der andere sich überzeugen lassen müsse; das erniedrigt die Diskussion zur Farce. Hinter der Technik waltet ein autoritäres Prinzip: der Dissentierende müsse die Gruppenmeinung annehmen. Unansprechbare projizieren die eigene Unansprechbarkeit auf den, welcher sich nicht will terrorisieren lassen. Mit all dem fügt der Aktionismus in den Trend sich ein, dem sich entgegenzustemmen er meint oder vorgibt: dem bürgerlichen
Instrumentalismus, welcher die Mittel fetischisiert, weil seiner Art Praxis die Reflexion auf die Zwecke unerträglich ist.
8 Pseudo-Aktivität, Praxis, die sich um so wichtiger nimmt und um so emsiger gegen Theorie und Erkenntnis abdichtet, je mehr sie den Kontakt mit dem Objekt und den Sinn für Proportionen verliert, ist Produkt der objektiven gesellschaftlichen Bedingungen. Sie wahrhaft ist angepaßt: an die Situation des huis clos. Der scheinrevolutionäre Gestus ist komplementär zu jener militärtechnischen Unmöglichkeit spontaner Revolution, auf die vor Jahren bereits Jürgen von Kempski hinwies. Gegen die, welche die Bombe verwalten, sind Barrikaden lächerlich; darum spielt man Barrikaden, und die Gebieter lassen temporär die Spielenden gewähren. Mit den Guerillatechniken der Dritten Welt mag es anders sich verhalten; nichts in der verwalteten Welt funktioniert bruchlos. Darum erwählt man in fortgeschrittenen Industrieländern die unterentwickelten sich als Muster. Diese sind so unkräftig wie der Personenkult hilflos und schmählich ermordeter Führer. Modelle, die nicht einmal im bolivianischen Busch sich bewährten, lassen sich nicht übertragen. Pseudo-Aktivität wird herausgefordert vom Stand der technischen Produktivkräfte, der zugleich zum Schein sie verdammt. Wie die Personalisierung falsch darüber tröstet, daß es im anonymen Getriebe auf keinen Einzelnen mehr ankommt, so betrügt Pseudo-Aktivität über die Depotenzierung einer Praxis, welche den frei und autonom Handelnden voraussetzt, der nicht länger existiert. Relevant auch für politische Aktivität ist, ob es zur Mondumseglung der Astronauten überhaupt bedurft hätte, die nicht nur nach ihren Knöpfen und Apparaturen sich zu richten hatten, sondern obendrein minuziöse Ordres von der großen Zentrale drunten empfingen. Physiognomik und Sozialcharakter bei Columbus und Borman differieren ums Ganze. Als Reflex auf die verwaltete Welt wiederholt Pseudo-Aktivität jene in sich selbst. Die Prominenzen des Protests sind Virtuosen der Geschäftsordnungen und formalen Prozeduren. Mit Vorliebe verlangen die geschworenen Feinde der Institutionen, man müsse dies oder jenes, meist Wünsche zufällig konstituierter Gremien, institutionalisieren; worüber man redet, soll um jeden Preis »verbindlich« sein. Subjektiv wird all das befördert
vom anthropologischen Phänomen des gadgeteering, der jegliche Vernunft überschreitenden, über alle Lebensbereiche sich ausdehnenden affektiven Besetzung der Technik. Ironisch – Zivilisation in ihrer tiefsten Erniedrigung – behält McLuhan recht: the medium is the message. Die Substitution der Zwecke durch Mittel ersetzt die Eigenschaften in den Menschen selbst. Verinnerlichung wäre das falsche Wort dafür, weil jener Mechanismus feste Subjektivität gar nicht mehr sich bilden läßt; Instrumentalisierung usurpiert deren Stelle. In Pseudo-Aktivität bis hinauf zur Scheinrevolution findet die objektive Tendenz der Gesellschaft mit subjektiver Rückbildung fugenlos sich zusammen. Parodistisch bringt abermals die Weltgeschichte diejenigen hervor, deren sie bedarf.
9 Die objektive Theorie der Gesellschaft, als eines den Lebendigen gegenüber Verselbständigten, hat den Primat über die Psychologie, die ans Maßgebende nicht heranreicht. Freilich schwang in dieser Einsicht, seit Hegel, vielfach Rancune gegen den Einzelnen und seine sei's noch so pratikulare Freiheit, zumal gegen den Trieb mit. Sie begleitete als Schatten den bürgerlichen Subjektivismus, war am Ende dessen schlechtes Gewissen. Askese gegen die Psychologie ist aber auch objektiv nicht durchzuhalten. Seitdem die Marktökonomie zerrüttet ist und von einem Provisorium bis zum nächsten zusammengeflickt wird, reichen ihre Gesetze allein zur Erklärung nicht aus. Anders als durch die Psychologie hindurch, in der die objektiven Zwänge stets aufs neue sich verinnerlichen, wäre weder zu verstehen, daß die Menschen einen Zustand unverändert destruktiver Irrationalität passiv sich gefallen lassen, noch daß sie sich in Bewegungen einreihen, deren Widerspruch zu ihren Interessen keineswegs schwer zu durchschauen wäre. Dem verwandt ist die Funktion der psychologischen Determinanten bei den Studenten. Im Verhältnis zur realen Macht, die sich kaum gekitzelt fühlt, ist der Aktionismus irrational. Klügere sind seiner Aussichtslosigkeit sich bewußt, andere verhehlen sie sich mühsam. Da größere Personengruppen zum Martyrium kaum sich entschlossen haben, muß man psychologische Triebfedern in Rechnung stellen; übrigens fehlen direkt ökonomische Interessenmotive weniger, als das Geschwätz von der Wohlstandsgesellschaft glauben macht: nach wie vor vegetieren zahlreiche Studenten an der Grenze des Hungers. Wohl ist die Errichtung der Scheinrealität schließlich von den objektiven Sperren erzwungen; vermittelt wird sie psychologisch, die Sistierung des Denkens bedingt durch die Triebdynamik. Dabei ist ein Widerspruch eklatant. Während die Aktionisten an sich selbst, ihren seelischen Bedürfnissen, am sekundären Lustgewinn der Beschäftigung mit sich libidinös überaus interessiert sind, erregt das subjektive Moment, wofern es in den Kontrahenten zutage kommt, in ihnen hämische Wut. Man wird darin zunächst die Freudsche These aus ›Massenpsychologie und Ich-Analyse‹ verlängert finden,
daß die imagines von Autorität subjektiv den Charakter des Liebund Beziehungslosen, der Kälte haben. Wie in den Anti-Autoritären Autorität fortwest, so staffieren sie ihre negativ besetzten imagines mit den traditionellen Führerqualitäten aus und werden unruhig, sobald sie anders sind, nicht dem entsprechen, was die Anti-Autoritären insgeheim doch von Autoritäten begehren. Die am heftigsten protestieren, gleichen den autoritätsgebundenen Charakteren in der Abwehr von Introspektion; wo sie sich mit sich beschäftigen, geschieht es kritiklos, richtet sich ungebrochen, aggressiv nach außen. Die eigene Relevanz überschätzen sie narzißtisch, ohne zureichenden Sinn für Proportionen. Ihre Bedürfnisse installieren sie unmittelbar, etwa unter dem Schlagwort »Lernprozesse«, als Maß von Praxis; für die dialektische Kategorie der Entäußerung blieb bislang wenig Raum. Sie verdinglichen die eigene Psychologie und erwarten von jenen, die ihnen gegenübertreten, verdinglichtes Bewußtsein. Eigentlich tabuieren sie Erfahrung und werden allergisch, sobald etwas an diese sie gemahnt. Sie nivelliert sich ihnen zu dem, was sie »Informationsvorsprung« nennen, ohne zu bemerken, daß die von ihnen ausgeschlachteten Begriffe der Information und Kommunikation aus der monopolistischen Kulturindustrie und der auf sie geeichten Wissenschaft importiert sind. Objektiv tragen sie bei zur regressiven Verwandlung dessen, was von Subjekt etwa noch übrig ist, in Bezugspunkte von conditioned reflexes.
10 Wissenschaftlich hat die Trennung von Theorie und Praxis in neuerer Zeit, und zwar in der Soziologie, der sie thematisch sein müßte, unreflektiert und extrem sich abgedrückt in Max Webers Lehre von der Wertfreiheit. Bald siebzig Jahre alt, wirkt sie weiter bis in die jüngste positivistische Soziologie hinein. Was dagegen vorgebracht wurde, hat auf die etablierte Wissenschaft wenig Einfluß ausgeübt. Die mehr oder minder ausdrückliche, unvermittelte Gegenposition, die einer materialen Wertethik, welche, unmittelbar evident, Praxis lenken solle, diskreditierte sich durch restaurative Willkür. Die Webersche Wertfreiheit war festgemacht an seinem Begriff von Rationalität. Dahin steht, welche der beiden Kategorien in ihrer Weberschen Version die andere trägt. Wie bekannt, heißt Rationalität, das Zentrum der gesamten Arbeit Webers, bei ihm vorwiegend soviel wie Zweckrationalität. Sie wird definiert als Relation zwischen angemessenen Mitteln und Zwecken. Diese seien prinzipiell außerhalb von Rationalität; werden einer Art von Entscheidung überlassen, deren finstere Implikationen, die Weber nicht wollte, bald nach seinem Tod offenbar wurden. Solche Exemtion der Zwecke von der ratio, die Weber zwar verklausulierte, die indessen unverkennbar den Tenor seiner Wissenschaftslehre und vollends seiner Wissenschaftsstrategie bildete, ist aber nicht weniger Willkür als das Dekret von Werten. Rationalität läßt so wenig wie die subjektive Instanz, die ihr dient, das Ich, von Selbsterhaltung einfach sich abspalten; der antipsychologische, aber subjektiv gerichtete Soziologe Weber hat das auch nicht versucht. Als Instrument der Selbsterhaltung, das der Realitätsprüfung, ist ratio überhaupt entstanden. Ihre Allgemeinheit, die Weber zupaß kam, weil sie ihm die Abhebung von Psychologie gestattete, hat sie über ihren unmittelbaren Träger, den einzelnen Menschen hinaus erweitert. Das emanzipierte sie, wohl seit es sie gibt, von der Zufälligkeit individueller Zwecksetzung. Das sich selbst erhaltende Subjekt der ratio ist in seiner immanenten, geistigen Allgemeinheit ein real Allgemeines, die Gesellschaft, in voller Konsequenz die Menschheit. Deren Erhaltung liegt unaufhaltsam im Sinn von Rationalität: sie hat ihren Zweck an einer vernünftigen Einrichtung
der Gesellschaft, sonst würde sie ihre eigene Bewegung autoritär stillstellen. Vernünftig ist die Menschheit eingerichtet einzig, wofern sie die vergesellschafteten Subjekte ihrer ungefesselten Potentialität nach erhält. Irrational wahnhaft dagegen wäre – und das Beispiel ist mehr als nur Beispiel –, daß zwar die Adäquanz von Zerstörungsmitteln an den Zweck der Zerstörung rational sein soll, der Zweck des Friedens jedoch und der Beseitigung der Antagonismen, die ihn ad Calendas Graecas verhindern, irrational. Weber hat, als getreuer Schalltrichter seiner Klasse, das Verhältnis von Rationalität und Irrationalität auf den Kopf gestellt. Wie zur Rache schlägt bei ihm, wider seine Intention, die Zweck-Mittel-Rationalität dialektisch um. Die von Weber mit offenem Schauder prophezeite Entwicklung der Bürokratie, der reinsten Form rationaler Herrschaft, in die Gesellschaft des Gehäuses ist irrational. Worte wie Gehäuse, Verfestigung, Verselbständigung der Apparatur und ihre Synonyma indizieren, daß die damit bezeichneten Mittel sich zum Selbstzweck werden, anstatt ihre Zweck-Mittel-Rationalität zu erfüllen. Das jedoch ist keine Entartungserscheinung, wie es dem bürgerlichen Selbstverständnis behagt. Weber erkannte so durchdringend wie für seine Konzeption konsequenzlos, daß die von ihm beschriebene und verschwiegene Irrationalität aus der Bestimmung von ratio als Mittel, ihrer Abblendung gegen Zwecke und gegen das kritische Bewußtsein von ihnen folge. Die resignative Webersche Rationalität wird irrational gerade dadurch, daß, wie Weber in wütender Identifikation mit dem Angreifer postuliert, ihrer Askese die Zwecke irrational bleiben. Ohne Halt an der Bestimmtheit der Objekte, entläuft ratio sich selbst: ihr Prinzip wird zu einem schlechter Unendlichkeit. Ersonnen war Webers scheinbare Entideologisierung der Wissenschaft als Ideologie gegen die Marxische Analyse. Sie demaskiert sich aber in ihrer Gleichgültigkeit gegen den offenbaren Wahnsinn, untriftig und widerspruchsvoll in sich. Ratio darf nicht weniger sein als Selbsterhaltung, nämlich die der Gattung, von der das Überleben jedes Einzelnen buchstäblich abhängt. Durch Selbsterhaltung hindurch freilich gewinnt sie das Potential jener Selbstbesinnung, die einmal die Selbsterhaltung transzendieren könnte, auf welche sie durch ihre Limitation zum Mittel eingeebnet ward.
11 Aktionismus ist regressiv. Im Bann jener Positivität, die längst zur Armatur der Ichschwäche rechnet, weigert er sich, die eigene Ohnmacht zu reflektieren. Die unablässig »zu abstrakt« schreien, befleißigen sich des Konkretismus, einer Unmittelbarkeit, der die vorhandenen theoretischen Mittel überlegen sind. Der Scheinpraxis kommt das zugute. Besonders Gewitzigte sagen, Theorie sei – ähnlich summarisch wie sie über Kunst urteilen – repressiv; und welche Tätigkeit inmitten des status quo wäre es nicht auf ihre Weise. Aber das unmittelbare Tun, das allemal ans Zuschlagen mahnt, ist unvergleichlich viel näher an Unterdrückung als der Gedanke, der Atem schöpft. Der Archimedische Punkt: wie eine nicht repressive Praxis möglich sei, wie man durch die Alternative von Spontaneität und Organisation hindurchsteuern könne, ist, wenn überhaupt, anders als theoretisch nicht aufzufinden. Wird der Begriff fortgeworfen, so werden Züge sichtbar wie die einseitige, in Terror ausartende Solidarität. Geradeswegs setzt die bürgerliche Suprematie der Mittel über die Zwecke sich durch, jener Geist, den man dem Programm nach beficht. Die technokratische Universitätsreform, die man, vielleicht noch bona fide, abwenden will, ist nicht erst der Gegenschlag auf den Protest. Dieser befördert sie von sich selbst aus. Freiheit der Lehre wird zum Kundendienst erniedrigt und soll sich Kontrollen fügen.
12 Von den Argumenten, über die der Aktionismus verfügt, ist eines zwar weitab von der politischen Strategie, deren man sich rühmt, doch dafür von desto größerer Suggestivkraft: man müsse für die Protestbewegung optieren, gerade weil man ihre objektive Hoffnungslosigkeit erkenne; nach dem Muster von Marx während der Pariser Kommune oder auch des Einspringens der kommunistischen Partei beim Zusammenbruch der anarcho-sozialistischen Räteregierung 1919 in München. Wie jene Verhaltensweisen von Verzweiflung ausgelöst worden seien, so müßten die an der Möglichkeit Verzweifelnden aussichtsloses Tun unterstützen. Die unabwendbare Niederlage gebiete als moralische Instanz Solidarität auch denen, welche die Katastrophe vorausgesehen und dem Diktat einseitiger Solidarität nicht sich gebeugt hätten. Aber der Appell an den Heroismus verlängert in Wahrheit jenes Diktat; wer das Sensorium für dergleichen nicht sich hat austreiben lassen, wird den hohlen Ton darin nicht verkennen. Im sicheren Amerika vermochte man als Emigrant die Nachrichten von Auschwitz zu ertragen; nicht leicht wird man irgendeinem glauben, Vietnam raube ihm den Schlaf, zumal jeder Gegner von Kolonialkriegen wissen muß, daß die Vietcong ihrerseits auf chinesische Weise foltern. Wer sich einbildet, er sei, als Produkt dieser Gesellschaft, von der bürgerlichen Kälte frei, hegt Illusionen wie über die Welt so über sich selbst; ohne jene Kälte könnte keiner mehr leben. Die Fähigkeit zur Identifikation mit fremdem Leiden ist, ausnahmslos in allen, gering. Daß man es einfach nicht mehr habe mitansehen können, und daß keiner guten Willens es länger mitansehen dürfe, rationalisiert den Gewissenszwang. Möglich und bewundernswert war jene Haltung am Rand des äußersten Grauens, so wie die Verschwörer vom 20. Juli es erfuhren, die lieber ihren qualvollen Untergang riskierten als Untätigkeit. Aus der Distanz zu beanspruchen, man fühle wie jene, verwechselt die Vorstellungskraft mit der Gewalt unmittelbarer Gegenwart. Purer Selbstschutz verhindert im Abwesenden die Imagination des Schlimmsten; vollends Handlungen, die ihn selbst dem Schlimmsten aussetzen. Am Erkennenden ist es, die objektiv ihm aufgenötigten
Grenzen einer Identifikation, die mit seinem Anspruch auf Selbsterhaltung und Glück zusammenprallt, einzugestehen, nicht sich zu gebärden, als wäre er bereits ein Mensch von der Art, wie sie erst im Stande von Freiheit, also dem ohne Angst, vielleicht sich realisiert. Vor der Welt, wie sie ist, kann man sich gar nicht genug fürchten. Opfert einer nicht nur seinen Intellekt sondern auch sich selbst, so darf keiner ihn daran hindern, obwohl es objektiv falsches Martyrium gibt. Ein Gebot aus dem Opfer zu machen, gehört zum faschistischen Repertoire. Solidarität mit einer Sache, deren unvermeidliches Scheitern man durchschaut, mag erlesenen narzißtischen Gewinn abwerfen; an sich ist sie so wahnhaft wie die Praxis, von der man bequem eine Approbation sich erhofft, die doch vermutlich im nächsten Augenblick widerrufen wird, weil kein Opfer des Intellekts den unersättlichen Ansprüchen der Geistlosigkeit je genügt. Brecht, der der damaligen Lage gemäß noch mit Politik zu tun hatte, nicht mit ihrem Surrogat, sagte einmal, dem Sinn nach, ihn interessiere, wenn er ganz ehrlich mit sich sei, au fond das Theater mehr als die Veränderung der Welt. 2 Solches Bewußtsein wäre das beste Korrektiv eines Theaters, das heute mit der Realität sich verwechselt, so wie die happenings, welche die Aktionisten zuweilen inszenieren, ästhetischen Schein und Realität verfransen. Wer hinter Brechts freiwilligem und gewagtem Geständnis nicht zurückbleiben möchte, dem ist die meiste Praxis heute verdächtig als Mangel an Talent.
Fußnoten 1 Der Begriff des Verräters kommt aus dem ewigen Vorrat kollektiver Repression, gleichgültig welcher Farbe. Das Gesetz verschworener Gemeinschaften ist die Unwiderruflichkeit; darum wärmen Verschwörer gern den mythischen Begriff des Eides auf. Wer anderen Sinnes wird, ist nicht nur ausgestoßen sondern härtesten moralischen Sanktionen ausgesetzt. Der Begriff der Moral erheischt Autonomie, sie wird aber von denen nicht toleriert, die Moral im Munde führen. Wer in Wahrheit Verräter genannt zu werden verdiente, wäre der Frevler an der eigenen Autonomie. 2 Vgl. Walter Benjamin, Versuche über Brecht, Frankfurt a.M. 1966, S. 118.
13 Der gegenwärtige Praktizismus stützt sich auf ein Moment, das die abscheuliche Sprache der Wissenssoziologie Ideologieverdacht getauft hat, so als wäre der Motor zur Kritik von Ideologien nicht die Erfahrung ihrer Unwahrheit, sondern die spießbürgerliche Geringschätzung allen Geistes wegen seiner angeblichen Interessenbedingtheit, die der skeptische Interessent auf den Geist projiziert. Vernebelt aber Praxis durchs Opiat der Kollektivität die eigene aktuelle Unmöglichkeit, so wird sie Ideologie ihrerseits. Dafür gibt es ein untrügliches Anzeichen: das automatische Einschnappen der Frage nach dem Was tun, die auf jeglichen kritischen Gedanken antwortet, ehe er nur recht ausgesprochen, geschweige denn mitvollzogen ist. Nirgendwo ist der Obskurantismus jüngster Theoriefeindschaft so flagrant. Sie erinnert an den Gestus des den Paß Abverlangens. Unausdrücklich, doch desto mächtiger ist das Gebot: du mußt unterschreiben. Der Einzelne soll sich ans Kollektiv zedieren; zum Lohn dafür, daß er in den melting pot springt, wird ihm die Gnadenwahl der Zugehörigkeit verheißen. Schwache, Verängstigte fühlen sich stark, wenn sie rennend sich an den Händen halten. Das ist der reale Umschlagspunkt in Irrationalismus. Mit hundert Sophismen wird verteidigt, mit hundert Mitteln moralischen Drucks den Adepten eingeprägt, man werde durch Verzicht auf eigene Vernunft und eigenes Urteil höherer, eben kollektiver Vernunft teilhaftig, während man doch, um die Wahrheit zu erkennen, jener unabdingbar individuierten Vernunft bedürfte, von der einem eingehämmert wird, sie sei überholt und, was sie etwa anzumelden habe, von der allemal überlegenen Weisheit der Genossen längst widerlegt und erledigt. Zurückgefallen wird auf jene disziplinäre Attitüde, die einst die Kommunisten einübten. Als Komödie wiederholt sich in den Scheinrevolutionären, einem Diktum von Marx gemäß, was todernst und von furchtbaren Folgen war, als die Situation noch offen dünkte. Anstatt auf Argumente stößt man auf standardisierte Parolen, die offensichtlich von Führern und ihrem Anhang ausgegeben sind.
14 Sind Theorie und Praxis weder unmittelbar eins noch absolut verschieden, so ist ihr Verhältnis eines von Diskontinuität. Kein stetiger Weg führt von der Praxis zur Theorie – das eben wird vom Hinzutretenden als dem spontanen Moment gemeint. Theorie aber gehört dem Zusammenhang der Gesellschaft an und ist autonom zugleich. Trotzdem verläuft Praxis nicht unabhängig von Theorie, diese nicht unabhängig von jener. Wäre Praxis das Kriterium von Theorie, so würde sie dem thema probandum zuliebe zu dem von Marx angeprangerten Schwindel und könnte darum nicht erreichen, was sie will; richtete Praxis sich einfach nach den Anweisungen von Theorie, so verhärtete sie sich doktrinär und fälschte die Theorie obendrein. Was Robespierre und St. Just mit der Rousseauschen volonté générale anstellten, der allerdings der repressive Zug nicht fehlte, ist dafür der berühmteste, keineswegs der einzige Beleg. Das Dogma von der Einheit von Theorie und Praxis ist entgegen der Lehre, auf die es sich beruft, undialektisch: es erschleicht dort simple Identität, wo allein der Widerspruch die Chance hat, fruchtbar zu werden. Während Theorie aus dem gesellschaftlichen Gesamtprozeß nicht herausoperiert werden kann, hat sie in diesem auch Selbständigkeit; sie ist nicht nur Mittel des Ganzen sondern auch Moment; sonst vermöchte sie nicht dem Bann des Ganzen irgend zu widerstehen. Das Verhältnis von Theorie und Praxis ist, nachdem beide einmal voneinander sich entfernten, der qualitative Umschlag, nicht der Übergang, erst recht nicht die Subordination. Sie stehen polar zueinander. Diejenige Theorie dürfte noch die meiste Hoffnung auf Verwirklichung haben, welche nicht als Anweisung auf ihre Verwirklichung gedacht ist, analog etwa zu dem, was in der Naturwissenschaft zwischen Atomtheorie und Kernspaltung sich zutrug; das Gemeinsame, die Rückbeziehung auf mögliche Praxis steckte in der technologisch orientierten Vernunft an sich, nicht im Gedanken an Verwendung. Die Marxische Einheitslehre galt, wohl aus dem Vorgefühl heraus, sonst könne es zu spät werden, dem Jetzt oder Nie. Insofern war sie gewiß praktisch; aber es fehlen der eigentlich ausgeführten Theorie, der Kritik der politischen Ökonomie, alle konkreten Übergänge zu jener
Praxis, die der elften Feuerbach-These zufolge ihre raison d'être sein sollte. Die Scheu von Marx vor theoretischen Rezepten für Praxis war kaum geringer als die, eine klassenlose Gesellschaft positiv zu beschreiben. Das ›Kapital‹ enthält zahllose Invektiven, meist übrigens gegen Nationalökonomen und Philosophen, aber kein Aktionsprogramm; jeder Sprecher der ApO, der sein Vokabular gelernt hat, müßte das Buch abstrakt schelten. Aus der Mehrwerttheorie war nicht herauszulesen, wie man Revolution machen soll; der antiphilosophische Marx ging im Hinblick auf Praxis generell – nicht in politischen Einzelfragen – kaum über das Philosophem hinaus, die Emanzipation des Proletariats könne nur dessen eigene Sache sein; und damals war das Proletariat noch sichtbar. In den jüngstvergangenen Dezennien wurden die ›Studien über Autorität und Familie‹, die ›Authoritarian Personality‹, auch die in vielem heterodoxe Herrschaftstheorie der ›Dialektik der Aufklärung‹ ohne praktische Absicht geschrieben und übten doch wohl einige praktische Wirkung aus. Was davon ausstrahlte, rührte nicht zuletzt daher, daß in einer Welt, in der auch die Gedanken zu Waren geworden sind und sale's resistance provozieren, es bei der Lektüre dieser Bände keinem einfallen konnte, irgend etwas solle ihm verkauft, aufgeschwätzt werden. Wo ich im engeren Sinn unmittelbar, mit sichtbarer praktischer Wirkung eingegriffen habe, geschah es durch Theorie allein: in der Polemik gegen die musikalische Jugendbewegung und ihren Anhang, in der Kritik am neudeutschen Jargon der Eigentlichkeit, die einer sehr virulenten Ideologie das Vergnügen versalzte, indem sie abgeleitet und auf ihren eigenen Begriff gebracht wurde. Sind tatsächlich jene Ideologien falsches Bewußtsein, so inauguriert ihre Auflösung, die im Medium des Gedankens weit sich verbreitete, eine gewisse Bewegung hin zur Mündigkeit; sie allerdings ist praktisch. Der Marxische Kalauer über »kritische Kritik«, der witzlos pleonastische, ausgewalzte Witz, der Theorie damit vernichtet meint, daß sie Theorie ist, verdeckt nur die Unsicherheit bei deren direkter Umsetzung in Praxis. Dieser hat Marx sich denn auch später, trotz der Internationale, mit der er sich zerstritt, keineswegs überantwortet. Praxis ist Kraftquelle von Theorie, wird nicht von ihr empfohlen. In der Theorie erscheint sie lediglich, und allerdings mit Notwendigkeit, als blinder Fleck, als Obsession mit dem Kritisierten; keine kritische Theorie ist im einzelnen auszuführen,
die nicht das Einzelne überschätzte; aber ohne die Einzelheit wäre sie nichtig. Der Zusatz des Wahnhaften dabei indessen warnt vor Überschreitungen, in denen es unaufhaltsam sich vergrößert.
Kritische Modelle 3
Kritik Über Kritik in ihrem Zusammenhang mit Politik soll einiges gesagt werden. Da jedoch Politik keine in sich geschlossene, abgedichtete Sphäre ist, wie sie etwa in politischen Institutionen, Prozeduren und Verfahrensregeln sich manifestiert, sondern begriffen werden kann nur in ihrem Verhältnis zu dem Kräftespiel der Gesellschaft, das die Substanz alles Politischen ausmacht und das von politischen Oberflächenphänomenen verhüllt wird, so ist auch der Begriff der Kritik nicht auf den engeren politischen Bereich zu beschränken. Kritik ist aller Demokratie wesentlich. Nicht nur verlangt Demokratie Freiheit zur Kritik und bedarf kritischer Impulse. Sie wird durch Kritik geradezu definiert. Man mag das historisch einfach daran sich vergegenwärtigen, daß die Konzeption der Gewaltenteilung, auf der von Locke über Montesquieu und die amerikanische Verfassung bis heute alle Demokratie beruht, an Kritik ihren Lebensnerv hat. Das system of checks and balances, die wechselseitige Kontrolle der Exekutive, der Legislative und der Judikatur, sagt so viel, wie daß jeweils die eine dieser Gewalten an der anderen Kritik übt und dadurch die Willkür einschränkt, zu der eine jegliche, ohne jenes kritische Element, tendiert. Mit der Voraussetzung von Demokratie, Mündigkeit, gehört Kritik zusammen. Mündig ist der, der für sich selbst spricht, weil er für sich selbst gedacht hat und nicht bloß nachredet; der nicht bevormundet wird. Das erweist sich aber in der Kraft zum Widerstand gegen vorgegebene Meinungen und, in eins damit, auch gegen nun einmal vorhandene Institutionen, gegen alles bloß Gesetzte, das mit seinem Dasein sich rechtfertigt. Solcher Widerstand, als Vermögen der Unterscheidung des Erkannten und des bloß konventionell oder unter Autoritätszwang Hingenommenen, ist eins mit Kritik, deren Begriff ja vom griechischen krino, Entscheiden, herrührt. Wenig übertreibt, wer den neuzeitlichen Begriff der Vernunft mit Kritik gleichsetzt. Der Aufklärer Kant, der die Gesellschaft aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit befreit sehen wollte, und der Autonomie, also Urteil nach eigener Einsicht im Gegensatz zur Heteronomie, zum Gehorsam gegen fremd Anbefohlenes lehrte, hat seine drei Hauptwerke Kritiken genannt. Das galt nicht nur den geistigen
Vermögen, deren Grenzen abzumessen und deren Verfahren er zu konstruieren vorhatte. Die Gewalt Kants, so wie etwa Kleist noch lebendig sie verspürte, war die von Kritik in sehr konkretem Sinn. Er kritisierte den Dogmatismus der vor ihm akzeptierten rationalistischen Systeme: Kritik der reinen Vernunft war vor allem anderen schneidende Kritik an Leibniz und Wolff. Kants Hauptwerk wirkte durch seine negativen Ergebnisse, und einer seiner wichtigsten Teile, der sich mit den Grenzüberschreitungen reinen Denkens beschäftigte, war negativ durchaus. Aber Kritik, Grundstück von Vernunft und bürgerlichem Denken überhaupt, beherrschte keineswegs so sehr den Geist, wie man nach dessen Selbstverständnis annehmen sollte. Sogar der Alleszerschmetterer, wie man vor zweihundert Jahren Kant nannte, zeigte oft die Gebärde dessen, der Kritik als ungebührlich tadelt. In seinem Vokabular zeigt sich das an, etwa durch gehässige Worte wie »Vernünfteln«, die nicht nur Grenzüberschreitungen der Vernunft ahnden, sondern ihren Gebrauch zügeln möchten, der, nach Kants eigener Einsicht, unwiderstehlich auf jene Grenzüberschreitungen drängt. Vollends Hegel, in dem die mit Kant anhebende Bewegung kulminiert, und der an vielen Stellen Denken überhaupt der Negativität und damit der Kritik gleichsetzt, hat parallel die entgegengesetzte Tendenz: Kritik stillzustellen. Wer auf die beschränkte Tätigkeit des eigenen Verstandes sich verläßt, heißt bei ihm mit einem politischen Schimpfwort Raisonneur; er bezichtigt ihn der Eitelkeit, weil er nicht auf die eigene Endlichkeit sich besinne, unfähig, einem Höheren, der Totalität, begreifend sich unterzuordnen. Dies Höhere aber ist bei ihm das Bestehende. Hegels Abneigung gegen Kritik geht zusammen mit seiner These, das Wirkliche sei vernünftig. Der ist, nach Hegels autoritärer Weisung, seiner Vernunft wahrhaft mächtig, der nicht bei ihrem Gegensatz zu Bestehendem, Seiendem verharrt, sondern darin die eigene Vernunft wiederfindet. Der einzelne Bürger soll vor der Wirklichkeit kapitulieren. Verzicht auf Kritik wird in höhere Weisheit umgebogen; die Formel des jungen Marx von der rücksichtslosen Kritik alles Bestehenden war die einfache Antwort darauf, und noch der reife gab seinem Hauptwerk den Untertitel einer Kritik. Der Gehalt jener Stellen Hegels, zumal des Buches, in dem die antikritische Tendenz bei ihm sich zusammenfaßt, der Rechtsphilosophie, ist gesellschaftlich. Man muß nicht Soziologe
sein, um aus dem Spott gegen den Raisonneur und Weltverbesserer die salbungsvolle Predigt herauszuhören, die den Untertan zur Ruhe verhält, der aus einer Dummheit heraus, an deren Änderung seinem Vormund offenbar nichts gelegen ist, die über ihn ergehenden Ratschlüsse der Obrigkeit mißbilligt, unfähig zu erkennen, daß alles schließlich zu seinem Besten ist und geschieht, und daß jene, die im Leben ihm übergeordnet sind, auch geistig ihm überlegen sein sollen. Etwas von dem Widerspruch zwischen der neuzeitlichen Emanzipation des kritischen Geistes und seiner gleichzeitigen Dämpfung ist gesamtbürgerlich: von einer frühen Phase an mußte das Bürgertum fürchten, die Konsequenz seiner eigenen Prinzipien könne über seine eigene Interessenlage hinaustreiben. Widersprüche dieser Art hat Habermas an der öffentlichen Meinung – dem wichtigsten Medium aller politisch wirksamen Kritik – dargetan, die einerseits die kritische Mündigkeit der gesellschaftlichen Subjekte zusammenfassen soll, andererseits zur Ware geworden ist und dem kritischen Prinzip entgegenarbeitet, um sich besser zu verkaufen. Man vergißt leicht in Deutschland, daß Kritik, als zentrales Motiv des Geistes, nirgends in der Welt gar zu beliebt ist. Aber man hat Grund, bei Kritikfeindschaft zumal im politischen Bereich auch an spezifisch Deutsches zu denken. Die volle bürgerliche Befreiung ist in Deutschland nicht gelungen oder erst in einer Phase, an der ihre Voraussetzung, der Liberalismus des zerstreuten Unternehmertums, ausgehöhlt war. Ebenso hinkte die nationalstaatliche Einigung, in vielen anderen Ländern parallel mit der Erstarkung des Bürgertums erreicht, hinter der Geschichte her und wurde zum kurzfristigen Intermezzo. Das mag das deutsche Einheits- und Einigkeitstrauma verursacht haben, das in jener Vielheit, deren Resultante demokratische Willensbildung ist, Schwäche wittert. Wer kritisiert, vergeht sich gegen das Einheitstabu, das auf totalitäre Organisation hinauswill. Der Kritiker wird zum Spalter und, mit einer totalitären Phrase, zum Diversionisten. Die Denunziation des angeblichen Parteiengezänks war als nationalsozialistisches Propagandamittel unentbehrlich. Das Einheitstrauma hat Hitler überlebt, womöglich durch die Teilung Deutschlands nach dem von Hitler entfesselten Krieg sich noch gesteigert. Es ist eine Trivialität, daß Demokratie in Deutschland verspätet kam. Weniger allgemein bewußt jedoch dürfte sein, daß diese Verspätung bis in geistige Verzweigungen hinein ihre Folgen
hatte. Unter den Schwierigkeiten, welche Demokratie in Deutschland findet, um das souveräne Volk zu durchdringen, ist, neben den ökonomischen und unmittelbar gesellschaftlichen, nicht unerheblich auch die, daß vordemokratische und undemokratische Bewußtseinsformen, insbesondere solche, die von Etatismus und Obrigkeitsdenken herstammen, inmitten der plötzlich eingeführten Demokratie sich erhalten und die Menschen daran verhindern, diese zu ihrer eigenen Sache zu machen. Eine solche zurückgebliebene Verhaltensweise ist das Mißtrauen gegen Kritik und die Neigung, sie unter welchem Vorwand auch immer abzuwürgen. Daß Goebbels den Begriff des Kritikers zu dem des Kritikasters erniedrigen und mit dem des Meckerers hämisch zusammenbringen konnte, und daß er die Kritik jeglicher Kunst verbieten wollte, sollte nicht nur freie geistige Regungen gängeln. Der Propagandist kalkulierte sozialpsychologisch. Er konnte anknüpfen an das deutsche Vorurteil gegen Kritik allgemein, wie es aus dem Absolutismus stammte. Er sprach den Gegängelten aus der Seele. Wollte man eine Anatomie der deutschen Kritikfeindschaft entwerfen, so fände man sie fraglos mit der Rancune gegen den Intellektuellen verbunden. Wahrscheinlich wird in der öffentlichen oder, nach Franz Böhms Ausdruck, der nicht-öffentlichen Meinung der beargwöhnte Intellektuelle mit dem Kritisierenden gleichgesetzt. Die Herkunft des Anti-Intellektualismus vom obrigkeitsstaatlichen Denken leuchtet ein. Kritik, so wird immer wieder vorgebetet, soll verantwortlich sein. Das läuft aber darauf hinaus, daß zu ihr eigentlich nur diejenigen berechtigt seien, die in verantwortlicher Position sich befinden, so wie ja auch der Anti-Intellektualismus an beamteten Intellektuellen wie den Professoren bis vor kurzem seine Grenze hatte. Der Materie ihrer Arbeit nach müßten Professoren zu den Intellektuellen gerechnet werden. Im allgemeinen jedoch wurden sie wegen ihres amtlichen, offiziellen Prestiges von der etablierten öffentlichen Meinung hoch eingeschätzt, solange nicht Konflikte mit den Studenten ihrer realen Ohnmacht sie überführten. Kritik wird gleichsam departementalisiert. Aus einem Menschenrecht und einer Menschenpflicht des Bürgers wird sie zum Privileg derer gemacht, die durch ihre anerkannte und geschützte Stellung sich qualifizieren. Wer Kritik übt, ohne die Macht zu haben, seine Meinung durchzusetzen, und ohne sich selbst der öffentlichen Hierarchie einzugliedern, der soll schweigen – das ist
die Gestalt, in der das Cliché vom beschränkten Untertanenverstand variiert im Deutschland formaler Gleichberechtigung wiederkehrt. Offensichtlich werden Menschen, die mit bestehenden Zuständen institutionell verflochten sind, im allgemeinen zögern, an diesen Zuständen Kritik zu üben. Mehr noch als verwaltungsrechtliche Konflikte fürchten sie solche mit den Meinungen der eigenen Gruppe. Durch die Teilung zwischen verantwortlicher Kritik, als der von solchen, die öffentliche Verantwortung tragen, und unverantwortlicher, nämlich der, die solche üben, die man für die Konsequenzen nicht zur Rechenschaft ziehen kann, wird vorweg Kritik neutralisiert. Die unausdrückliche Aberkennung des kritischen Rechts denen gegenüber, die keine Position innehaben, macht das Bildungsprivileg, zumal die durch Examina eingehegte Karriere zur Instanz dafür, wer kritisieren darf, während diese Instanz allein der Wahrheitsgehalt der Kritik sein dürfte. All das ist unausdrücklich und nicht institutionell verankert, aber so tief im Vorbewußten Ungezählter vorhanden, daß eine Art sozialer Kontrolle davon ausgeht. In den letzten Jahren hat es nicht an Fällen gefehlt, wo Menschen, die außerhalb der Hierarchie, die übrigens im Zeitalter der Prominenz keineswegs mehr auf die Beamteten sich beschränkt, Kritik übten, etwa an den juristischen Praktiken in einer bestimmten Stadt. Sogleich wurden sie als Querulanten abgefertigt. Nicht genügt demgegenüber der Hinweis auf die Mechanismen, die in Deutschland den individualistisch Unabhängigen, Dissentierenden als Narren verdächtig machen. Der Sachverhalt wiegt noch viel schwerer: durch die antikritische Struktur des öffentlichen Bewußtseins wird der Typus des Dissentierenden wirklich in die Situation des Querulanten gebracht und nimmt querulantenhafte Züge an, wofern sie ihn nicht schon zur hartnäckigen Kritik trieben; unbeirrte kritische Freiheit geht durch die eigene Dynamik leicht in die Haltung des Michael Kohlhaas über, der nicht umsonst ein Deutscher war. Eine der wichtigsten Bedingungen für die Veränderung der Struktur öffentlicher Meinung in Deutschland wäre, daß die Sachverhalte, auf die ich hindeutete, allgemein bewußt, etwa schon im politischen Unterricht behandelt würden und dadurch etwas von ihrer verhängnisvoll blinden Gewalt verlören. Zuweilen erscheint das Verhältnis der deutschen öffentlichen Meinung zur Kritik geradezu auf den Kopf gestellt. Das Recht auf freie Kritik wird einseitig zugunsten derer angerufen, die
dem kritischen Geist einer demokratischen Gesellschaft opponieren. Die Wachsamkeit jedoch, die gegen solchen Mißbrauch rebelliert, fordert eben jene Stärke der öffentlichen Meinung, an der es in Deutschland nach wie vor gebricht, und die kaum durch bloßen Appell herzustellen ist. Bezeichnend für das verbogene Verhältnis der öffentlichen Meinung zur Kritik ist die Attitüde auch solcher ihrer Organe, die auf eine freiheitliche Tradition sich berufen. Manche Zeitungen, die keineswegs für reaktionär gelten möchten, befleißigen sich eines Tons, den man in Amerika, wo es an Analogem nicht fehlt, mit pontifical bezeichnet. Sie sprechen, als stünden sie über den Kontroversen, posieren eine Abgeklärtheit, der der Name des Tantenhaften anstünde. Ihre distanzierte Überlegenheit kommt aber meist nur der Verteidigung des Offiziellen zugute. Der Macht wird allenfalls wohlweise zugeredet, sich in ihren guten Absichten nicht beirren zu lassen. Die Sprache solcher Zeitungen klingt an die von Regierungsverlautbarungen an, selbst wo gar nichts von Regierungs wegen verlautbart wird. Hinter der pontifikalen Haltung steht die autoritätsgebundene: sowohl bei denen, welche sie einnehmen, wie bei den Konsumenten, auf die man es klug abgesehen hat. Nach wie vor waltet in Deutschland Identifikation mit der Macht; darin lauert das gefährliche Potential, mit Machtpolitik nach innen und außen sich zu identifizieren. Die Vorsicht bei der Reform von Einrichtungen, die vom kritischen Bewußtsein verlangt und in erheblichem Maß von der Exekutive eingesehen ist, basiert auf der Angst vor den Wählermassen; diese Angst macht Kritik leicht folgenlos. Sie deutet zugleich darauf hin, wie weit der antikritische Geist bei jenen verbreitet ist, deren Interesse das an Kritik wäre. Die Folgenlosigkeit von Kritik hat in Deutschland ein spezifisches Modell, vermutlich militärischen Ursprungs: die Tendenz, Untergebene, denen Mißstände oder Verstöße angekreidet werden, um jeden Preis zu decken. In militärischen Hierarchien mag das unterdrückende Moment solchen Korpsgeists allerorten zu finden sein; irre ich mich jedoch nicht, so ist es spezifisch deutsch, daß dies militärische Verhaltensschema auch die zivilen, zumal die spezifisch politischen Bereiche durchherrscht. Man wird das Gefühl nicht los, als ob auf jede öffentliche Kritik die dem Kritisierten übergeordneten Instanzen, die letztlich die Verantwortung tragen, zunächst einmal, gleichgültig gegen den Sachverhalt, für den
Kritisierten eintreten und nach außen schlagen. Dieser Mechanismus, den die Soziologie einmal gründlich studieren sollte, ist so eingeschliffen, daß er politische Kritik vorweg mit einem ähnlichen Schicksal bedroht, wie es in Wilhelminischen Zeiten dem Soldaten beschieden war, der über seinen Vorgesetzten sich zu beklagen wagte. Die Rancune gegen die Institution des Wehrbeauftragten ist symbolisch für die gesamte Sphäre. Vielleicht wird das beschädigte deutsche Verhältnis zur Kritik an ihrer Folgenlosigkeit am faßlichsten. Wenn Deutschland sich den Namen des Landes der unbegrenzten Zumutbarkeiten verdiente, den Ulrich Sonnemann formulierte, so hängt das damit zusammen. Eine Phrase mag es sein, daß jemand vom Druck der öffentlichen Meinung weggefegt worden sei; schlimmer indessen als die Phrase ist es, wenn weder eine öffentliche Meinung sich formiert, die jenen Druck ausübte, noch, wo es doch geschieht, Konsequenzen gezogen würden. Ein Thema der politischen Wissenschaft wären Forschungen über die Folgen öffentlicher Meinung, nichtbeamteter Kritik in den alten Demokratien England, Frankreich, Amerika im Vergleich zu denen in Deutschland. Ich wage nicht das Resultat einer solchen Untersuchung zu antezipieren, aber ich kann es mir vorstellen. Wird, als auf die eine Ausnahme, auf die Spiegelaffäre verwiesen, so ist zu bedenken, daß in jenem Fall die protestierenden Zeitungen, Träger der öffentlichen Meinung, ihre seltene Verve an den Tag legten nicht aus Solidarität mit der Freiheit zur Kritik und ihrer Voraussetzung, der unbehinderten Information, sondern weil sie in ihren eigenen handgreiflichen Interessen, dem news value, dem Marktwert von Informationen sich bedroht sahen. Ansätze wirksamer öffentlicher Kritik in Deutschland unterschätze ich nicht. Zu ihnen gehört der Sturz eines rechtsradikalen Kultusministers in einem Bundesland. Doch ist zu bezweifeln, ob heute, nachdem nirgendwo mehr jene Solidarität zwischen Studenten und Professoren besteht wie damals in Göttingen, ähnliches noch sich ereignen könnte. Mir will es scheinen, als ob der Geist öffentlicher Kritik, seitdem er von politischen Gruppen monopolisiert und dadurch öffentlich kompromittiert wurde, empfindliche Rückschläge erlitten hätte; hoffentlich täusche ich mich. Wesentlich deutsch, obwohl wiederum nicht so durchaus, wie leicht der annimmt, der nicht Analoges in anderen Ländern zu beobachten Gelegenheit hatte, ist ein antikritisches Schema, das aus
der Philosophie, eben jener, die den Raisonneur anschwärzte, ins Gewäsch herabsank: die Anrufung des Positiven. Stets wieder findet man dem Wort Kritik, wenn es denn durchaus toleriert werden soll, oder wenn man gar selber kritisch agiert, das Wort konstruktiv beigesellt. Unterstellt wird, daß nur der Kritik üben könne, der etwas Besseres anstelle des Kritisierten vorzuschlagen habe; in der Ästhetik hat Lessing vor zweihundert Jahren darüber gespottet. Durch die Auflage des Positiven wird Kritik von vornherein gezähmt und um ihre Vehemenz gebracht. Bei Gottfried Keller gibt es eine Stelle, an der er die Forderung nach dem Aufbauenden ein Lebkuchenwort nennt. Viel sei schon gewonnen, so etwa argumentiert er, wenn dort, wo ein schlechtes Gewordenes Licht und Luft versperre, der Muff weggeräumt würde. Tatsächlich ist es keineswegs stets möglich, der Kritik die unmittelbare praktische Empfehlung des Besseren beizugeben, obwohl vielfach Kritik derart verfahren kann, indem sie Wirklichkeiten mit den Normen konfrontiert, auf welche jene Wirklichkeiten sich berufen: die Normen zu befolgen, wäre schon das Bessere. Das Wort positiv, gegen das vor Jahrzehnten nicht nur Karl Kraus sondern auch ein so wenig radikaler Schriftsteller wie Erich Kästner polemisierte, ist mittlerweile in Deutschland magisiert worden. Es schnappt automatisch ein. Man mag seine Fragwürdigkeit daran erkennen, daß in der gegenwärtigen Situation die höhere Form, auf welche nach progressiver Konzeption die Gesellschaft sich hinbewegen sollte, nicht mehr als Tendenz aus der Wirklichkeit konkret herauszulesen ist. Wollte man darum auf Kritik der Gesellschaft verzichten, so befestigte man sie nur in eben jenem Fragwürdigen, das den Übergang zu einer höheren Form verhindert. Die objektive Verstelltheit des Besseren betrifft nicht abstrakt das große Ganze. In jedem Einzelphänomen, das man kritisiert, stößt man rasch auf jene Grenze. Das Verlangen nach positiven Vorschlägen wird immer wieder unerfüllbar, und darum Kritik desto bequemer diffamiert. Genügen mag der Hinweis darauf, daß sozialpsychologisch die Versessenheit aufs Positive ein Deckbild des unter dünner Hülle wirksamen Destruktionstriebs ist. Die am meisten vom Positiven reden, sind einig mit zerstörender Gewalt. Der kollektive Zwang zu einer Positivität, welche unmittelbare Umsetzung in Praxis erlaubt, hat mittlerweile gerade die erfaßt, die sich in schroffstem Gegensatz zur Gesellschaft meinen. Nicht zuletzt dadurch ordnet ihr
Aktionismus dem herrschenden gesellschaftlichen Trend so sehr sich ein. Dem entgegenzusetzen wäre, in Variation eines berühmten Satzes von Spinoza, daß das Falsche, einmal bestimmt erkannt und präzisiert, bereits Index des Richtigen, Besseren ist.
Resignation Uns älteren Repräsentanten dessen, wofür der Name Frankfurter Schule sich eingebürgert hat, wird neuerdings gern der Vorwurf der Resignation gemacht. Wir hätten zwar Elemente einer kritischen Theorie der Gesellschaft entwickelt, wären aber nicht bereit, daraus die praktischen Konsequenzen zu ziehen. Weder hätten wir Aktionsprogramme gegeben noch gar Aktionen solcher, die durch die kritische Theorie angeregt sich fühlen, unterstützt. Ich sehe ab von der Frage, ob das von theoretischen Denkern, einigermaßen empfindlichen und keineswegs stoßfesten Instrumenten, verlangt werden kann. Die Bestimmung, die ihnen in der arbeitsteiligen Gesellschaft zugefallen ist, mag fragwürdig, sie selber mögen durch sie deformiert sein. Aber sie sind durch sie auch geformt; gewiß können sie, was sie wurden, nicht aus bloßem Willen abschaffen. Das Moment subjektiver Schwäche, das der Einengung auf Theorie anhaftet, möchte ich nicht verleugnen. Für wichtiger halte ich die objektive Seite. Der Einwand, der leicht abschnurrt, lautet etwa: einer, der an der Möglichkeit eingreifender Veränderung der Gesellschaft zu dieser Stunde zweifelt und der darum weder an spektakulären, gewaltsamen Aktionen teilnimmt noch sie empfiehlt, habe entsagt. Er halte, was ihm vorschwebe, nicht für realisierbar, eigentlich wolle er es nicht einmal realisieren. Indem er die Zustände so lasse, wie sie sind, billige er sie uneingestandenermaßen. Distanz von Praxis ist allen anrüchig. Beargwöhnt wird, wer nicht fest zupacken, nicht die Hände sich schmutzig machen möchte, als wäre nicht die Abneigung dagegen legitim und erst durchs Privileg entstellt. Das Mißtrauen gegen den der Praxis Mißtrauenden reicht von solchen, welche die alte Parole »Genug des Geredes« auf der Gegenseite nachreden, bis zum objektiven Geist der Reklame, die das Bild – das Leitbild nennen sie es – des aktiv tätigen Menschen, sei er Wirtschaftsführer oder Sportsmann, verbreitet. Man soll mitmachen. Wer nur denkt, sich selbst herausnimmt, sei schwach, feige, virtuell ein Verräter. Das feindselige Cliché des Intellektuellen wirkt, ohne daß sie es merkten, tief hinein in die Gruppe jener Oppositionellen, die
ihrerseits als Intellektuelle beschimpft werden. Von denkenden Aktionisten wird geantwortet: zu verändern gelte es, neben anderem, eben den Zustand der Trennung von Theorie und Praxis. Gerade um der Herrschaft der praktischen Leute und des praktischen Ideals ledig zu werden, bedürfe es der Praxis. Nur wird daraus fix ein Denkverbot. Ein Minimales reicht hin, den Widerstand gegen die Repression repressiv gegen die zu wenden, welche, so wenig sie das Selbstsein verherrlichen mögen, doch nicht aufgeben, was sie geworden sind. Die vielberufene Einheit von Theorie und Praxis hat eine Tendenz, in die Vorherrschaft von Praxis überzugehen. Manche Richtungen diffamieren Theorie selber als eine Form von Unterdrückung; wie wenn nicht Praxis mit jener weit unmittelbarer zusammenhinge. Bei Marx war die Lehre von jener Einheit beseelt von der – schon damals nicht realisierten – präsenten Möglichkeit der Aktion. Heute zeichnet eher das Gegenteil sich ab. Man klammert sich an Aktionen um der Unmöglichkeit der Aktion willen. Schon bei Marx allerdings verbirgt sich da eine Wunde. Er mochte die elfte Feuerbachthese so autoritär vortragen, weil er ihrer nicht ganz sicher sich wußte. In seiner Jugend hatte er die »rücksichtslose Kritik alles Bestehenden« gefordert. Nun spottete er über Kritik. Aber sein berühmter Witz gegen die Junghegelianer, das Wort »kritische Kritik«, war ein Blindgänger, verpuffte als bloße Tautologie. Der forcierte Vorrang von Praxis stellte die Kritik, die Marx selbst übte, irrational still. In Rußland und in der Orthodoxie anderer Länder wurde der hämische Spott über die kritische Kritik zum Instrument dafür, daß das Bestehende furchtbar sich einrichten konnte. Praxis hieß nur noch: gesteigerte Produktion von Produktionsmitteln; Kritik wurde nicht mehr geduldet außer der, es werde noch nicht genug gearbeitet. So leicht schlägt die Subordination von Theorie unter Praxis um in den Dienst an abermaliger Unterdrückung. Die repressive Intoleranz gegen den Gedanken, dem nicht sogleich die Anweisung zu Aktionen beigesellt ist, gründet in Angst. Man muß den ungegängelten Gedanken und muß die Haltung, die ihn nicht sich abmarkten läßt, fürchten, weil man zutiefst weiß, was man sich nicht eingestehen darf: daß der Gedanke recht hat. Ein uralt bürgerlicher Mechanismus, den die Aufklärer des achtzehnten Jahrhunderts gut kannten, läuft erneut, doch unverändert ab: das Leiden an einem negativen Zustand, diesmal an der blockierten
Realität, wird zur Wut auf den, welcher ihn ausspricht. Der Gedanke, die ihrer selbst bewußte Aufklärung, droht die Pseudorealität zu entzaubern, in der, nach der Formulierung von Habermas, der Aktionismus sich bewegt. Diesen läßt man nur darum gewähren, weil man ihn als Pseudorealität einschätzt. Ihr ist, als subjektives Verhalten, Pseudo-Aktivität zugeordnet, Tun, das sich überspielt und der eigenen publicity zuliebe anheizt, ohne sich einzugestehen, in welchem Maß es der Ersatzbefriedigung dient, sich zum Selbstzweck erhebt. Eingesperrte möchten verzweifelt heraus. In solchen Situationen denkt man nicht mehr, oder unter fiktiven Voraussetzungen. In der verabsolutierten Praxis reagiert man nur und darum falsch. Einen Ausweg könnte einzig Denken finden, und zwar eines, dem nicht vorgeschrieben wird, was herauskommen soll, wie so häufig in jenen Diskussionen, bei denen feststeht, wer recht behalten muß, und die deshalb nicht der Sache weiterhelfen, sondern unweigerlich in Taktik ausarten. Sind die Türen verrammelt, so darf der Gedanke erst recht nicht abbrechen. Er hätte die Gründe zu analysieren und daraus die Konsequenz zu ziehen. An ihm ist es, nicht die Situation als endgültig hinzunehmen. Zu verändern ist sie, wenn irgend, durch ungeschmälerte Einsicht. Der Sprung in die Praxis kuriert den Gedanken nicht von der Resignation, solange er bezahlt wird mit dem geheimen Wissen, daß es so doch nicht gehe. Pseudo-Aktivität ist generell der Versuch, inmitten einer durch und durch vermittelten und verhärteten Gesellschaft sich Enklaven der Unmittelbarkeit zu retten. Rationalisiert wird das damit, die kleine Veränderung sei eine Etappe auf dem langen Weg zu der des Ganzen. Das fatale Modell von Pseudo-Aktivität ist das »Do it yourself«, Mach es selber: Tätigkeiten, die, was längst mit den Mitteln der industriellen Produktion besser geleistet werden kann, nur um in den unfreien, in ihrer Spontaneität gelähmten Einzelnen die Zuversicht zu erwecken, auf sie käme es an. Der Unsinn des »Mach es selber« bei der Herstellung materieller Güter, auch bei vielen Reparaturen, liegt auf der Hand. Er ist allerdings nicht total. Bei der Verknappung von sogenannten services, Dienstleistungen, erfüllen zuweilen nach dem technischen Stand überflüssige Maßnahmen, die ein Privatmensch durchführt, einen quasi rationalen Zweck. Das »Mach es selbst« in der Politik ist nicht ganz vom selben Schlag. Die Gesellschaft, die undurchdringlich den
Menschen gegenübersteht, sind sie doch selbst. Das Vertrauen auf die limitierte Aktion kleiner Gruppen erinnert an die Spontaneität, die unter dem verharschten Ganzen verkümmert und ohne die es nicht zu einem Anderen werden kann. Die verwaltete Welt hat die Tendenz, alle Spontaneität abzuwürgen, nicht zuletzt sie in Pseudo-Aktivitäten zu kanalisieren. Das wenigstens funktioniert nicht so umstandslos, wie die Agenten der verwalteten Welt es sich erhofften. Jedoch Spontaneität ist nicht zu verabsolutieren, so wenig von der objektiven Situation abzuspalten und zu vergötzen wie die verwaltete Welt selber. Sonst schlägt die Axt im Haus, die nie den Zimmermann erspart, die nächste Tür ein, und das Überfallkommando ist zur Stelle. Auch politische Tathandlungen können zu Pseudo-Aktivitäten absinken, zum Theater. Kein Zufall, daß die Ideale unmittelbarer Aktion, selbst die Propaganda der Tat, wiederauferstanden sind, nachdem ehemals progressive Organisationen sich willig integrierten und in allen Ländern der Erde Züge dessen entwickeln, wogegen sie einmal gerichtet waren. Dadurch aber ist die Kritik am Anarchismus nicht hinfällig geworden. Seine Wiederkehr ist die eines Gespensts. Die Ungeduld gegenüber der Theorie, die in ihr sich manifestiert, treibt den Gedanken nicht über sich hinaus. Indem sie ihn vergißt, fällt sie hinter ihn zurück. Erleichtert wird das dem Einzelnen durch seine Kapitulation vorm Kollektiv, mit dem er sich identifiziert. Ihm wird erspart, seine Ohnmacht zu erkennen; die Wenigen werden sich zu Vielen. Dieser Akt, nicht unbeirrtes Denken ist resignativ. Keine durchsichtige Beziehung waltet zwischen den Interessen des Ichs und dem Kollektiv, dem es sich überantwortet. Das Ich muß sich durchstreichen, damit es der Gnadenwahl des Kollektivs teilhaftig werde. Unausdrücklich hat sich ein wenig Kantischer kategorischer Imperativ aufgerichtet: du mußt unterschreiben. Das Gefühl neuer Geborgenheit wird bezahlt mit dem Opfer autonomen Denkens. Trügend der Trost, im Zusammenhang kollektiver Aktion werde besser gedacht: Denken, als bloßes Instrument von Aktionen, stumpft ab wie die instrumentelle Vernunft insgesamt. Keine höhere Gestalt der Gesellschaft ist, zu dieser Stunde, konkret sichtbar: darum hat, was sich gebärdet, als wäre es zum Greifen nah, etwas Regressives. Wer aber regrediert, hat Freud zufolge sein Triebziel nicht erreicht. Rückbildung ist objektiv Entsagung, auch wenn sie
sich für das Gegenteil hält und arglos das Lustprinzip propagiert. Demgegenüber ist der kompromißlos kritisch Denkende, der weder sein Bewußtsein überschreibt noch zum Handeln sich terrorisieren läßt, in Wahrheit der, welcher nicht abläßt. Denken ist nicht die geistige Reproduktion dessen, was ohnehin ist. Solange es nicht abbricht, hält es die Möglichkeit fest. Sein Unstillbares, der Widerwille dagegen, sich abspeisen zu lassen, verweigert sich der törichten Weisheit von Resignation. In ihm ist das utopische Moment desto stärker, je weniger es – auch das eine Form des Rückfalls – zur Utopie sich vergegenständlicht und dadurch deren Verwirklichung sabotiert. Offenes Denken weist über sich hinaus. Seinerseits ein Verhalten, eine Gestalt von Praxis, ist es der verändernden verwandter als eines, das um der Praxis willen pariert. Eigentlich ist Denken schon vor allem besonderen Inhalt die Kraft zum Widerstand und nur mühsam ihr entfremdet worden. Ein solcher emphatischer Begriff von Denken allerdings ist nicht gedeckt, weder von bestehenden Verhältnissen noch von zu erreichenden Zwecken, noch von irgendwelchen Bataillonen. Was einmal gedacht ward, kann unterdrückt, vergessen werden, verwehen. Aber es läßt sich nicht ausreden, daß etwas davon überlebt. Denn Denken hat das Moment des Allgemeinen. Was triftig gedacht wurde, muß woanders, von anderen gedacht werden: dies Vertrauen begleitet noch den einsamsten und ohnmächtigsten Gedanken. Wer denkt, ist in aller Kritik nicht wütend: Denken hat die Wut sublimiert. Weil der Denkende es sich nicht antun muß, will er es auch den anderen nicht antun. Das Glück, das im Auge des Denkenden aufgeht, ist das Glück der Menschheit. Die universale Unterdrückungstendenz geht gegen den Gedanken als solchen. Glück ist er, noch wo er das Unglück bestimmt: indem er es ausspricht. Damit allein reicht Glück ins universale Unglück hinein. Wer es sich nicht verkümmern läßt, der hat nicht resigniert.
Anhang I
Vorwort zu einer Übersetzung der »Prismen« Für die Übersetzung der »Prismen« ins Englische schrieb Adorno ein Vorwort (vgl. Theodor W. Adorno, Prisms, translated from the German by Samuel and Shierry Weber, London o.J., S. 7f.), das im folgenden nach dem deutschen Original abgedruckt wird. So sehr es den Autor freut, daß nun erstmals eines seiner deutsch verfaßten Bücher, in einer höchst sorgfältigen und verständnisvollen Übersetzung, auf englisch erscheint, so sehr ist er sich der Schwierigkeit bewußt, die die Aufnahme solcher Texte in angelsächsischen Ländern bereiten muß. Daß er den dort geltenden Normen von Denken und Darstellung nicht fremd ist, meint er in seinen englisch verfaßten Arbeiten: seinen Beiträgen zur ›Authoritarian Personality‹, seinen musiksoziologischen Abhandlungen aus dem Princeton Radio Research Project, später auch in Untersuchungen wie ›How to Look at Television‹ oder ›The Stars Down to Earth‹ unter Beweis gestellt zu haben. Sie sind für ihn wesentlich als Kontrolle darüber, daß er nicht dem common sense absagt, ohne diesem gewachsen zu sein, sondern daß er, wenn so zu reden erlaubt ist, mit dessen eigenen Kategorien seinen Umfang zu überschreiten trachtet. Dazu aber fühlt er sich verpflichtet, weil das hieb- und stichfest Faktische, unreflektiert Dinghafte ihm selber als ein unendlich in sich Vermitteltes erscheint, dessen Wörtlichkeit er nicht traut. Er kann sich nicht mit dem üblichen, Fakten registrierenden und sie klassifikatorisch aufbereitenden Denken begnügen. Seine eigentliche Anstrengung beruht darin, das Bereich der Faktizität, ohne das keine verbindliche Erkenntnis ist, in Reflexionen eines anderen Typus zu durchdringen, als dem nach den Spielregeln der Wissenschaft eingeschliffenen. Um dies Verfahren zu rechtfertigen, wäre es wohl am angemessensten gewesen, die Erwägungen wiederzugeben, die er jetzt in der ›Negativen Dialektik‹ zusammengefaßt hat. Nicht nur weil es dazu an Zeit fehlt, sondern weil seine Kritik auch dem herkömmlichen Gegensatz von Methodologie und ausgeführter inhaltlicher Erkenntnis gilt, hat der Autor für ein anderes Verfahren sich entschieden. Er präsentiert ein Buch, das aus Einzelstudien besteht, die ihm jenen Typus von Erkenntnis zu konkretisieren
scheinen, dem er nachhängt. Er vertraut dabei ein wenig darauf, daß sie, auch ohne ausdrückliche Erkenntnistheorie, für sich selber sprechen mögen. In dieser Hoffnung ist er ebenso bestärkt durch die Qualität der Übertragung durch Samuel Weber, wie insbesondere durch das Nachwort, das jener verfaßte. Diesem würde der Autor, als höchst angemessener Wiedergabe seiner Intentionen, gänzlich zustimmen, fühlte er sich nicht durch Webers Worte ein wenig beschämt. Nichts Besseres aber könnte er sich wünschen, als wenn die englische Version der ›Prismen‹ etwas von der Dankbarkeit ausdrücken könnte, die der Autor für England und die Vereinigten Staaten hegt: die Länder, in denen es ihm in der Zeit der Verfolgung möglich war, zu überleben, und denen er seitdem aufs tiefste verbunden sich fühlt. Frankfurt, März 1967
Replik zu einer Kritik der »Zeitlosen Mode« Der Aufsatz »Zeitlose Mode. Zum Jazz« aus den »Prismen«, der zuerst 1953 im Juniheft der Zeitschrift »Merkur« publiziert worden war, wurde im Septemberheft derselben Zeitschrift von Joachim-Ernst Berendt kritisiert. Adorno erwiderte mit dem folgenden Beitrag, der – gemeinsam mit dem Text von Berendt – unter dem Titel »Für und wider den Jazz« erschien. Um es als Kritiker des Jazz Joachim-Ernst Berendt recht zu machen, müßte man selber ein fan sein, und das eben schlösse die Kritik aus. Er verlangt »Belege«, nach jener Manier, die den Begriff der Sache verbaut durch ein Aufgebot von Namen, durch Gebrauch des Jargons, durch Einverständnis mit Jazzmusikern, welche man an den ersten drei Noten erkennt, als wäre die trademark ihrer Tonbildung dasselbe wie der Stil von Beethoven oder Brahms. Solche blinde Faktentreue ist der erprobteste Abwehrmechanismus der Kulturindustrie; das Detail stimme nicht, protestiert das System, das nicht stimmt. Aber mich beeindruckt nicht einmal die Autorität jener Jazzmusiker, welche »die wohl größte Anzahl Schallplatten bespielt« haben, während doch, Berendt zufolge, der Jazz »seit je eine Musik von wenigen für wenige« gewesen sein soll. Zur Kontroverse steht vielmehr die Unterscheidung des »echten« vom kommerzialisierten Jazz, die Berendt für »grundlegend für jede Beschäftigung mit dem Jazz« hält. Er meint, sie sei mir unbekannt; mein Aufsatz aber hat sie angegriffen und kann darum Berendts Forderung nicht gelten lassen. Denn das Prinzip, die rhythmische Verfahrungsweise ist im raffinierteren Jazz und in der ordinären popular music dasselbe. Über einer unveränderlich durchgehaltenen Zählzeit werden, dort mehr, hier weniger, Synkopierungen ausgeführt und dann wieder »zurückgenommen«, in dem gleichsam kollektiven Grundmetron aufgehoben. Mit Hinblick auf diesen tragenden Sachverhalt scheinen Berendt und ich gar nicht so sehr zu differieren. Nur stellt er es so hin, als bezöge er sich lediglich auf den hot jazz, und als werde in diesem der fundamentale Rhythmus vom Melodie-Rhythmus wesentlich negiert. In beiden Gattungen jedoch hat der fundamentale Rhythmus das letzte Wort. Jeglicher
Jazz, »hot and hybrid«, kehrt sich wider die ohnmächtig aufbegehrende individuelle Regung, die er inszeniert, und nicht wider die Norm. Die Vorentschiedenheit verwehrt musikalische Logik, auch wenn das ein »Hauptterminus in der internationalen Jazzkritik« ist: die Wechselwirkung von Ganzem und Teil. In diesem Sinn, dem der prinzipiellen Vertauschbarkeit des aufeinander Folgenden, gibt es in der Tat am Jazz nichts zu verstehen. Die Differenz der Jazztypen, aus der Berendt eine Weltanschauung macht, ist eine der Façon, nicht der Struktur des musikalischen Verfahrens. Daher sind die Übergänge so fließend und die periodischen Wiederbelebungen des hot jazz, unter wechselnden Namen, bloße Vitaminspritzen im Einerlei der Massenproduktion. Weiß Berendt nicht, daß der von ihm hochgeschätzte Louis Armstrong heute in deren Betrieb seine Triumphe feiert? Berendts Reaktionen hatte ich allesamt in meinem Aufsatz vorausgesagt. Die Improvisationen, deren gelegentliches Vorkommen ich bestätigte, überschätzt er maßlos. Die große Musik, die heute noch spricht – die »lebendige« –, hat sich gebildet, seitdem die Improvisation zurücktrat und dem fixierten Kunstwerk mit eindeutigem Text Raum schuf. Ohne eindeutige, genaue Notation wäre undenkbar gewesen, was keineswegs auf die verlästerte »Romantik« sich beschränkt, sondern von Haydn und Mozart bis Schönberg und Webern reicht und den eigentlich polyphonen Teil des Bachschen œuvres einschließt. Sieht man von der Orgelimprovisation ab, so hat sich selbst in dem von Berendt glorifizierten »Barock« – nichts ist weniger barock als die sogenannte Barockmusik – die Improvisation mit der Ausführung des Generalbasses, der ornamentalen Umkleidung der Harmonie begnügen müssen, ohne je die musikalische Substanz zu ergreifen. Mit den Jazzimprovisationen steht es kaum anders. Im Eifer gegen die Romantik bemerkt Berendt nicht, daß sein eigenes Kriterium der Tonbildung im Jazz, das des Ausdrucksvollen gegenüber dem Schönen, in der Romantik aufkam und von der autonomen neuen Musik unvergleichlich viel weiter getrieben wurde als vom Jazz, der hier wie durchweg den Nordpol noch einmal entdeckte. Hat Berendt nie den manchmal grellen, manchmal gepreßten Orchesterklang Mahlers vernommen, nie das hohe b des Kontrabasses in der ›Salome‹, nie das um allen balancierten
Wohllaut völlig unbekümmerte Timbre in Schönbergs Orchesterstücken op. 16 oder in der ›Erwartung‹? Noch bescheidener sind die übrigen Errungenschaften des Jazz. Daß er in der Gestaltung der Form niemals über eine starre Variationstechnik (»chorus«) hinausgelangte und damit dynamische Entwicklung nicht zuließ, wird selbst Berendt kaum in Abrede stellen. Aber auch die Harmonik ist nicht reicher und kühner. Wer die heutige Praxis von Strawinsky und Hindemith, die programmatisch zur Tonalität zurückkehrten, für den Inbegriff des Modernen ansieht, dem mögen auch die Jazzakkorde neu klingen, aber nicht, wer das ›Sacre du Printemps‹ im Ohr hat oder gar die emanzipierten Klänge der Wiener Schule. Die neutrale Terz, die Berendt besonders avanciert dünkt, ist in der ernsten Musik längst vorher verwandt worden; von der Nüll hat sie vor mehr als zwanzig Jahren geradezu als das harmonische Prinzip Bartóks nachgewiesen. In all dem will Berendt mich mißverstehen. Ich habe gegen den Jazz nicht den Einwand der Wildheit und Anarchie, sondern den der Zahmheit und des Konventionellen erhoben. Nirgends sind in ihm Dissonanzen und Effekte wie die dirty notes funktionell-harmoniebildend, sondern stets bloß stimulierende Zusätze zur traditionellen Harmonik. Daher die »falschen Töne« – bei Schönberg gibt es die nicht. In der Diskussion über Metrik verwechselt Berendt diese mit der Einzelrhythmik. An einzelnen komplizierten Rhythmen und Kombinationen im Jazz vermag ich mich zu freuen; metrisch bleiben sie eingespannt in das Schema eines Verlaufs von regelmäßiger Taktzahl. Oder ist die Zwölftaktigkeit des Blues auch erst eine Folge der Kommerzialisierung? – Polyrhythmik ist natürlich in der ernsten Musik längst allenthalben zu finden, seitdem diese zur realen Polyphonie überging – im Gegensatz zum Jazz, in dem, wie gesagt, selbst in scheinbar entfesselten Augenblicken der Primat des Generalbaßschemas herrscht. Mit Hinsicht auf die Jazz melodik widerspricht Berendt sich selbst. Erst behauptet er, daß »Jazzmelodien in freier Improvisation entstehen«, dann aber redet er von Themen, die zur Jazzimprovisation geschaffen wurden – woraus doch hervorgeht, daß nicht die Melodien selber, sondern nur allenfalls ihre Varianten improvisiert werden, wodurch eben der Improvisation jene Grenzen gesteckt sind, auf die ich hinwies. Nicht darum geht es, ob alle diese Themen aus Gesangsschlagern entlehnt sind, sondern darum, ob sie
sich nach Niveau und Struktur wesentlich von jenen unterscheiden. Ich nehme nicht an, daß Berendt das für die berühmtesten, wie den ›St. Louis Blues‹ oder den ›Tiger‹, vertreten wird. Er will sich von meinen »philosophischen und soziologischen Folgerungen fernhalten«, obgleich doch Aussagen wie die vom »Jazz als ursprünglichster und vitalster musikalischer Äußerung, die unser Jahrhundert hervorgebracht hat«, wohl aus dem kulturphilosophischen Vorrat stammen; in Wahrheit habe ich meinen Aufsatz bloß geschrieben, um ihnen den musikalischen Boden zu entziehen. Wo ich aber über die musikalischen Sachverhalte hinausgehe, stellt Berendt sich dumm. Ich hatte betont, was er mir als vernichtende Konstatierung entgegenhält, daß nämlich in den europäischen Diktaturstaaten beider Schattierungen der Jazz als dekadent verfemt war, und hatte lediglich die anthropologischen Voraussetzungen angedeutet, die es dem Jazz erlauben, als Massenphänomen sich festzusetzen: die sadomasochistischen. Unabhängig von mir, doch ganz analog, schrieb Sargeant, Jazz sei »a ›get together‹ art for ›regular fellows‹. In fact it emphasizes their very ›regularity‹ by submerging individual consciousness in a sort of mass self-hypnotism ... In the social dimension of jazz, the individual will submits, and men become not only equal but virtually indistinguishable«. Berendt, der mir den »Nerv« abstreitet, fühlt nicht, daß alle Abweichungsmomente im Jazz dem Konformismus dienen. Ich fürchte, in seiner Arglosigkeit hat er das Ritual etwa so wenig verstanden wie Parsifal jenes am Ende des ersten Akts. Isn't it romantic? Da Berendt schließlich, wo es um die Neger geht, ad hominem argumentiert, muß er mir schon gestatten, daß ich von mir selber rede und ihn darauf aufmerksam mache, daß ich in weitem Maße verantwortlich bin für das meist diskutierte amerikanische Buch zur Erkenntnis des Rassevorurteils 1 . Er mag mir glauben, daß ich mir auf den Erfolg nichts einbilde, aber die Neger gerade vor meinem weißen Hochmut – dem eines von Hitler Verjagten – zu beschützen, ist grotesk. Eher möchte ich nach meinen schwachen Kräften die Neger gegen die Entwürdigung verteidigen, die ihnen widerfährt, wo man ihre Ausdrucksfähigkeit für die Leistung von Exzentrikclowns mißbraucht. Daß es unter den Fans ehrlich protestierende, nach Freiheit begierige Menschen gibt, weiß ich:
mein Aufsatz erwähnt, daß »das Exzessive, Unbotmäßige am Jazz ... immer noch mitgefühlt wird«. Gern rechne ich Berendt zu denen, die eben darauf ansprechen. Aber ich glaube, daß ihre Sehnsucht, vielleicht infolge des abscheulichen musikalischen Bildungsprivilegs, das in der Welt herrscht, auf eine falsche Urtümlichkeit abgelenkt und autoritär gesteuert wird. Musik hat in den letzten Jahrhunderten die Züge der Dienste verloren, die sie zuvor in Fesseln hielten. Soll sie auf ihr heteronomes Stadium zurückgeworfen werden? Soll man ihr bloßes Zu-Willen-Sein als Bürgschaft kollektiver Verbindlichkeit annehmen? Ist es nicht eine Beleidigung der Neger, die Vergangenheit ihres Sklavendaseins seelisch in ihnen zu mobilisieren, um sie zu solchen Diensten tauglich zu machen? Das aber geschieht, auch wo man zum Jazz nicht tanzt – und im Savoy in Harlem wird getanzt. Der Jazz ist schlecht, weil er die Spuren dessen genießt, was man den Negern angetan hat und wogegen Berendt mit Recht sich empört. Ich habe kein Vorurteil gegen die Neger, als daß sie von den Weißen durch nichts sich unterscheiden als durch die Farbe.
Fußnoten 1 Vgl. Theodor W. Adorno, Else Frenkel-Brunswik, Daniel J. Levinson und R. Nevitt Sanford, The Authoritarian Personality, New York 1950 [die von Adorno verfaßten Teile jetzt auch GS 9.1, s. S. 143ff.].
Thesen zur Kunstsoziologie Einleitung zum Vortrag im Rundfunk Die Thesen über Kunstsoziologie, ursprünglich entwickelt im Rahmen des bildungssoziologischen Ausschusses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, antworten auf polemische Äußerungen des früher in Köln und nun als Ordinarius in Lausanne wirkenden Alphons Silbermann, die seit einer Reihe von Jahren über dessen Publikationen verstreut sind. Die Kontroverse hat keinen persönlichen sondern durchaus nur wissenschaftlichen Charakter. Silbermann regte mich ursprünglich dazu an, die musiksoziologischen Aspekte meiner Arbeit in einem Buch zusammenzufassen; es liegt heute, zwölf an der Frankfurter Universität gehaltene Vorlesungen vereinend, unter dem Titel Einleitung in die Musiksoziologie vor. Gerade an diesem Buch freilich dürfte die Differenz zwischen Silbermann und mir am deutlichsten sich kristallisiert haben. Silbermann vertritt in der Musiksoziologie extremen Empirismus. Meine eigene Position, welche die empirische Sozialforschung als wesentliches Moment einschließt, kann sich bei den Spielregeln des sogenannten social research nirgends und vollends nicht im Bereich der Kunst bescheiden. Meine Thesen wollen nichts anderes, als das begründen. Der Nerv von Silbermanns Argumentation ist der Vorwurf, ich hätte »durch einen Rückzug auf die Soziologie als Gesellschaftskritik« »eine pure, wirklichkeitsnahe, werturteilsfreie soziologische Methodik« verlassen und zurückgegriffen »auf die Mittel philosophischen Denkens, auf die der Prüfung, um durch sie das Kunstwerk kulturkritisch zu ergründen und zu erläutern«. Nun braucht einer, dessen Arbeit wesentlich philosophisch ist und der weder ihren philosophischen Charakter verleugnet noch die starre Trennungslinie zwischen Philosophie und Soziologie anerkennt, nicht sich zu verteidigen, wenn er genannt wird, was er ist, ein Philosoph. Aber die philosophische Erwägung hat ihre soziologische Konsequenz. Sie führt notwendig auf den Begriff der Tatsache, den Silbermann als selbstverständliches Kriterium der Soziologie unterstellt. Tatsachen sind ihm zu ermittelnde und zu verallgemeinernde Reaktionsweisen befragter Personen; nichts
anderes möchte er als Gegenstand der Kunstsoziologie gelten lassen. Jedoch auch die Kunstwerke sind Tatsachen, und zu ihrem Dasein gehört unendlich Vieles, was nicht einfach mit Fragebogen und Interviews sich dingfest machen läßt, sondern genau jener Analyse der Sachen selbst bedarf, die er verpönt. Das vernachlässigt er. Da Silbermann gegen mich nun einmal den Standpunkt des common sense vertritt und mich altertümlicher Spekulation bezichtigt, möchte ich ihn daran erinnern, daß doch wohl der einfachste Menschenverstand fordert, es möchten beim Studium des Verhältnisses geistiger Gebilde zur Gesellschaft die Gebilde selbst, das ihnen Innewohnende und ihre institutionelle Stellung in der Gesamtgesellschaft ins Blickfeld treten. Sie sind fürs Verhältnis von Kunst und Gesellschaft so wesentlich wie die subjektiven Daten, mögen jene Momente auch schwerer zu erkennen und zuweilen gegen die gängigen wissenschaftlichen Methoden spröde sein. Der Grundirrtum von Silbermann besteht darin, daß er die Methode und ihre vermeintliche Zweifelsfreiheit vor das objektive Interesse schiebt, dem die Methode dienen soll. Er eliminiert die Probleme aus der Betrachtung, die sich seinem Methodenbegriff nicht einordnen. Damit ist er nicht allein, sondern findet sich in Übereinstimmung mit weitverbreiteten Neigungen des sozialwissenschaftlichen Positivismus. Sie dünken mir desto problematischer, je mehr sie an Sachverhalte sich heften, die selber geistige sind und deshalb ihrer Übersetzung in krude Tatsächlichkeit unangemessen; und das gilt selbst für den von der Kulturindustrie gefertigten Ungeist. In Wahrheit geht es zwischen Silbermann und mir nicht um zwei individuell verschiedene Auffassungen von Kunstsoziologie sondern um entgegengesetzte Konzeptionen einer Wissenschaft von der Gesellschaft. Zwar geht Silbermann vom Ideal sozialwissenschaftlicher Objektivität, unter Berufung auf Max Weber und Theodor Geiger, aus. Gleichwohl möchte ich seine Position, analog zu der seit nun bald hundert Jahren akademisch vorherrschenden subjektiven Ökonomie, die einer subjektiven Soziologie nennen. Er meint, es könnten soziologische Erkenntnisse, allgemein und im kulturellen Bereich, aus den subjektiven Verhaltensweisen der vergesellschafteten Menschen erschlossen werden, während alles ihnen Vorgeordnete eine Art Mythologie und am besten auszuschalten sei. Demgegenüber halten
Max Horkheimer und ich, die wir seit vielen Jahren an solchen Fragen uns abarbeiten, am Begriff einer objektiven Theorie der Gesellschaft fest, daran also, daß die vermeintlichen Tatsachen bewußter und unbewußter sozialer Verhaltensweisen der Subjekte ein vielfach Abgeleitetes sind. Das wesentliche Objekt gesellschaftlicher Erkenntnis ist deren objektiver Zusammenhang, ihre Strukturgesetze, denen die einzelnen Menschen bis in ihre Reaktionsweisen hinein gehorchen. Diesen Kern des Disputs bitte ich Sie, sich gegenwärtig zu halten, wenn ich Ihnen nun meine Thesen zur Kunstsoziologie * vortrage. Geschrieben 1966; ungedruckt
Fußnoten * Vgl. jetzt GS 10.1, s. S. 367ff.
Schlußwort zu einer Kontroverse über Kunstsoziologie Zu den »Thesen zur Kunstsoziologie« aus »Ohne Leitbild« publizierte Alphons Silbermann eine Erwiderung (vgl. Anmerkungen zur Musiksoziologie. Eine Antwort auf Theodor W. Adornos »Thesen zur Kunstsoziologie«, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 19 [1967], S. 538ff. [Heft 3]). Adorno schrieb ein »Schlußwort« zu der Kontroverse, das im folgenden nach dem Manuskript abgedruckt wird. Ein Schlußwort zu der Kontroverse über Kunstsoziologie, und Musiksoziologie im besonderen, zu schreiben, ist deswegen ein wenig schwierig, weil Alphons Silbermann eher die bekannten Differenzen resümiert, als daß er auf meine spezifische Argumentation einginge. Die Grundsatzdifferenz aber ist wohl nur innerhalb der Debatte über Positivismus und Dialektik in den Sozialwissenschaften auszutragen, die mittlerweile in Gang kam und die weitergetrieben werden wird – auch von mir. Der Hinweis darauf, daß die Konzeption von Musiksoziologie, für die ich einstehe, aus Philosophie entspringt, erschreckt mich darum nicht, weil jene Konzeption ihres eigenen philosophischen Charakters sich bewußt ist und ihn stets wieder betont hat. Horkheimer und ich haben seit Jahrzehnten in unseren Publikationen vertreten, daß Philosophie und Soziologie der Sache nach nicht willkürlich, der Reinheit der Disziplinen zuliebe, voneinander sich trennen lassen. Ich muß gestehen, daß mich Demarkationslinien auf der Landkarte der Wissenschaften niemals gar zu sehr interessiert haben; so habe ich es verschmäht, zwischen Soziologie und Sozialpsychologie strikt zu distinguieren. Über Recht oder Unrecht einer solchen geistigen Verhaltensweise entscheidet, ob man glaubt, den Gegenstand von innen aufschließen zu können oder der szientifischen Askese sich befleißigt, wie sie etwa Albert, Topitsch und – doch wohl minder extrem – Karl Popper fordern. Hinweise auf Autoren der Überlieferung, welcher unsere Konzeption zugehöre, dürften weniger fruchten als die Frage nach ihrem Neuen und dessen Wahrheitsanspruch. Über den Stand der bisherigen
Diskussion unterrichtet, nach der prinzipiellen und unverändert aktuellen Abhandlung von Habermas aus den ›Zeugnissen‹, jüngst ein vorzüglicher Aufsatz von Margherita von Brentano im Heft 43 der Berliner Zeitschrift ›Das Argument‹. Ich beschränke mich also auf ein paar Einzelbemerkungen. Daß die theoretische Befassung mit Kunst, und die Kunstsoziologie, »in das Vakuum zwischen Immanenz und Transzendenz« vordringen möchte, läßt sich wohl kaum sagen; gewiß nicht mit Hinblick auf Hegel, den Silbermann als Kronzeugen für diese Intention heranzieht, während Hegel die Kantische Grenzsetzung zwischen beiden Bereichen schneidend kritisierte. – Daß etwa Freud »auf die Erkenntnis Wert gelegt« habe, »daß Kunst und Kultur nicht am Rande des täglichen praktischen Lebens existieren können«, ist mir ein Novum. Er war interessiert an der psychologischen Genese und Funktion der Kunst, nicht an ihrer sozialen Rolle. Wesentlich dürfte es für den Begriff von Kunst sein, daß sie zugleich ein der Gesellschaft gegenüber sich Verselbständigendes, Objektivierendes, und daß sie fait social unmittelbar ist; ihr Gesellschaftliches ist nicht zuletzt in der Antithetik vieler ihrer Manifestationen zur alltäglichen gesellschaftlichen Praxis zu suchen. Wollte man die Kunstsoziologie auf die Rolle der Kunst im »täglichen praktischen Leben« einschränken, so verengte man damit ihren Begriff in einer Weise, wie Silbermann wohl am letzten es advoziert. Musiksoziologie hätte dann nur mit Gebrauchsmusik zu tun. Nicht zutreffen dürfte weiter, daß man, seitdem Musiksoziologie sich regte, gegen sie von der Musik her aus Spezialistenhochmut sich wehrte. Verstehe ich Silbermann recht, erhebt er diesen Vorwurf auch keineswegs gegen mich, sondern bezieht sich eher auf die Rezeption der einschlägigen Schrift Max Webers. Ich hätte dazu wenig anderes vorzubringen als das Platonische Argument gegen die Sophisten, man müsse, um über eine Sache zu reden, von der Sache selbst etwas verstehen; und Musik fällt ja wohl in die Sache, mit der Musiksoziologie sich zu beschäftigen hat. Mit anderen Worten: eine Musiksoziologie, die, wie es fraglos auch Silbermann möchte, über die äußerlichsten Feststellungen hinausgelangen und genuine Wissenschaft werden will, bedarf ebenso der Einsicht in die Musik selbst wie der in die Gesellschaft. Im letzten Kapitel der ›Einleitung in die Musiksoziologie‹ habe ich zu entfalten versucht, wie schwierig es ist, dies doppelte Desiderat zu erfüllen. Die von
Silbermann so positiv bewertete Studie von Sorokin freilich scheint mir in fataler Äußerlichkeit befangen. Die Trivialität von Konstatierungen wie den seinen über Mittelalter und religiöse Kunst zu durchbrechen, wäre gerade die Aufgabe. Trivial und vergröbernd übrigens sind Sorokins Thesen nicht nur ästhetisch sondern auch soziologisch. Vermeiden möchte ich den Anschein, als wollte ich ältere und neuere Werttheorien wieder einmal aufwärmen. Vielmehr habe ich verschiedentlich die Absicht bekundet und theoretisch entfaltet, die Alternative von Wert und Wertfreiheit zu liquidieren, den Glauben an statisch ansichseiende Werte nicht minder als den an die Abstinenz von Werturteilen zu erschüttern. Das nun ist allerdings, im Sinn der gängigen Arbeitsteilung, tatsächlich Philosophie, und ich möchte auf eine Erörterung diesmal verzichten. Statt dessen begnüge ich mich damit, daran zu erinnern, daß ein so positivistisch gesonnener Soziologe wie Durkheim einmal schrieb: »Es gibt nicht eine Weise des Denkens und Urteilens für das Setzen von Existenzen und eine andere für die Bewertung.« Dadurch hat er bereits von den kurrenten Vorstellungen von der Wertfreiheit sich distanziert; gewiß, ohne daß er darüber einer Wertontologie verfallen wäre. Keineswegs weise ich von der Hand, »was diesbezüglich« – gemeint ist die Musik – »auch nur im entferntesten in die Nähe der empirischen Sozialforschung gerät«. Auch Silbermann dürfte bekannt sein, daß Erhebungen wie die von Edward Suchmann über die verschieden gearteten Verhaltensweisen solcher, die ernste Musik von lebendigen Aufführungen, und solcher, die sie nur vom Radio her kennen, auf meine Theoreme zurückgehen. Ich habe in der ›Einleitung in die Musiksoziologie‹ nachdrücklich unterstrichen, für wie wichtig ich es hielte, daß man eine Reihe von Motiven des Buches in Hypothesen für empirische Untersuchungen umsetzte; so die Typologie des musikalischen Hörens, die das Buch eröffnet. Daß das bis jetzt nicht geschehen ist, kann niemand mehr bedauern als ich; daß aber das Institut für Sozialforschung, für das diese Thematik peripher wäre, nicht solche Studien in Angriff nahm, dürfte legitim sein, obwohl eine Untersuchung über die Wirkung der Beatles mich ungemein lockt. Finanzierungsfragen sind bei derlei Plänen zu berücksichtigen. Sonst kann ich nur wiederholen, daß die Schwierigkeit wahrhaft sinnvoller empirischer Erhebungen über die
Rezeption von Musik einzig der ermessen kann, der um deren Durchführung sich einmal selbst bemüht hat. Andererseits halte ich das, was empirisch etwa über die ökonomischen Grundlagen des Musiklebens erarbeitet wurde, auch die Beiträge Silbermanns zu diesem Komplex, oder die vorliegenden Studien über musikalische Verbreitungsmechanismen, für wichtig. Der »den Kunstwerken immanente soziale Gehalt« indessen ist kein Tummelplatz unverbindlicher Reflexion sondern diskursiv dem zugänglich, der von der Sache etwas versteht. Ich bilde mir immerhin ein, daß diejenigen meiner Veröffentlichungen, die Silbermann anzieht, auch dazu etwas beigetragen haben, den Weg solcher immanenten soziologischen Erkenntnis zu erhellen. Unterstellt mir Silbermann, daß ich seinen »Ansichten im Grunde genommen nichts anderes entgegenzuhalten« habe, »als einen Verlaß auf durch Musik hervorgerufene Wirkungen«, so ist das ein schlichtes Mißverständnis. Wie in der Ästhetik gehe ich auch in der Soziologie gerade nicht von der Wirkung sondern von dem wirkenden Gebilde, insgesamt von der Produktionssphäre aus. Doch mag Silbermann darin mich nicht so sehr mißverstanden als sich selbst mißverständlich ausgedrückt haben und sich lediglich dagegen verteidigen, daß ich ihm eine allein an der Wirkung orientierte Wissenschaftsgesinnung zuschriebe. Über seinen Satz, er habe nie und nimmer versucht, die Kunstsoziologie auf die gesellschaftliche Wirkung von Kunstwerken einzuschränken, freue ich mich; daß nicht alles, was er veröffentlicht hat, diese Auffassung ausprägt, scheint mir unbestreitbar. Betont er, daß nach seiner Auffassung »das Studium der soziologischen Verzweigungen der Musik« nicht dazu diene, »Natur und Essenz der Musik selbst zu klären«, so resultiert daraus ein Paradoxes. Er, der gegen mich, den der Philosophie Verdächtigen, den Primat der Soziologie lehrt, traut dieser weniger zu als ich. Bis in sehr tiefe Schichten der Musik hinein läßt deren gesellschaftliche Dechiffrierung tatsächlich Zentrales über ihr Wesen – wenn auch nicht alles – erkennen. Das würde ich zumal für die gesamte Sphäre der sogenannten leichten Musik, also für das weit überwiegende Quantum aller konsumierten, vertreten. Als Modell dieser Intention darf ich vielleicht meine Untersuchungen über den Jazz zitieren. In ihnen ist versucht, technischmusikalische Sachverhalte als ein Formelsystem zu interpretieren, das bestimmte Schemata sozialer
Identifikation vorzeichnet. Nimmt man ernsthaft die Kunst als fait social, dann kann es auch der Soziologie nicht gleichgültig sein, was in der Kunst gesellschaftlich richtig, was »›an sich selbst wahr‹« ist, weil diese Wahrheit, oder Unwahrheit, von der Stellung nicht sich ablösen läßt, welche das ästhetische Gefüge jeweils zur Gesellschaft bezieht. Wollte Soziologie nichts damit zu schaffen haben, so verfehlte sie keineswegs bloß ein Musikalisches, sondern den gesellschaftlichen Kern der Musik selbst. Zum Schluß möchte Silbermann mir einen Widerspruch nachweisen. »Heißt es ganz zu Anfang: ›Kunstsoziologie umfaßt, dem Wortsinn nach, alle Aspekte des Verhältnisses von Kunst und Gesellschaft‹, so lesen wir gegen Ende seiner« – Adornos – »Ausführungen: ›Nicht genug ist zu fragen, wie die Kunst in der Gesellschaft steht, wie sie in ihr wirkt, sondern zu erkennen, wie Gesellschaft in den Kunstwerken sich objektiviert.‹ Sind das wirklich alle Aspekte des Verhältnisses von Kunst und Gesellschaft?« Nirgends habe ich gesagt, und glaube auch nicht, daß die Frage, wie Gesellschaft in den Kunstwerken sich objektiviert, »alle Aspekte des Verhältnisses von Kunst und Gesellschaft« einschließe; zu den philosophischen Unsitten, zu denen ich mich bekenne, gehört auch die, keine Disziplin durch Definition dessen, was ihr obliege, einzuengen, sondern sie fortschreitender Erfahrung offenzuhalten; insofern fühle ich mich als empirischer denn der approbierte Empirismus. Daß ich aber jenen besonderen Aspekt hervorhebe, hat den Grund, daß die Disziplin Musiksoziologie, einseitig mit Soziologie und nicht ebenso mit Musik befaßt, ihn vernachlässigt. Da jedoch Musik, wie alle geistigen Gebilde, in sich ein geistig Strukturiertes und dadurch allemal gesellschaftlich Beredtes ist, sind nur in der Relation zu solcher Objektivität auch die Wirkungszusammenhänge adäquat zu fassen.
Einleitung zum Vortrag »Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit« Die folgenden Bemerkungen stellte Adorno einer Wiederholung des Vortrags »Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit« voran, die am 24. Mai 1962 in Berlin, auf Einladung des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS), erfolgte. Der Vortrag, den Sie jetzt hören werden, wurde am 6. November 1959 gehalten, also ehe die antisemitische Schmutzwelle ihm seine traurige Aktualität verlieh. Erlaubt sei der Hinweis darauf, daß ich vorweg den Versuch gemacht habe, die Phänomene, die uns während der letzten Monate beunruhigten, aus objektiven gesellschaftlichen und sozialpsychologischen Gegebenheiten abzuleiten. Soziologische Theorie ist also diesmal der Empirie einigermaßen vorausgeeilt und von ihr bestätigt worden. Freilich hatten Untersuchungen, wie die im »Gruppenexperiment« des Instituts für Sozialforschung niedergelegten, aber auch die Umfragen einiger Meinungsforschungsinstitute, längst genug Material geliefert, das derlei Befürchtungen begründete. Die theoretische Vorwegnahme ist aber deshalb vielleicht für die Kontroverse über Wesen und Bedeutung der jüngsten Vorgänge nicht unerheblich, weil sie aus Strukturmomenten erschlossen wurden, die sie tiefer und ernster erklären dürften als Thesen, die sich an die Symptome des Tages anschließen. Insbesondere die immer wieder aufgeworfene Frage, ob es sich um ein gesteuertes Unternehmen oder um Streiche derjenigen handelt, die man durch den Namen Halbstarke eigentlich erst zu dem macht, als was sie sich dann betätigen, wird kaum den Ereignissen gerecht. Wenn in der Tat, wie ich es Ihnen nun entwickeln werde, objektive Verhältnisse und Tendenzen den Rückfall ins Unheil produzieren, dann verlieren solche Alternativen doch wohl ihren Sinn. Auf der einen Seite gibt es fraglos Gruppen, die mit jenen Tendenzen sich identifizieren, sie tragen, sie in den Dienst ihres eigenen politischen Machtwillens stellen. Bei der allbekannten deutschen Organisierfreudigkeit darf man wohl, ohne selber in Verfolgungsphantasien zu verfallen, annehmen, daß solche Gruppen
in höherem Maß organisiert sind als sie zeigen; daß sie so schwer sich dingfest machen lassen, dürfte selbst auf bedachte Organisation zurückweisen. Andererseits schaffen jene sozialpsychologischen Momente, die ihrerseits aus der objektiven gesellschaftlichen Lage folgen, und über die ich Ihnen einiges sagen werde, ein Reservoir von Menschen, die für die Ziele solcher Organisatoren sich einspannen lassen. Es herrscht eine Art prästabilierter Harmonie zwischen diesem Reservoir und denen, die es ausnutzen. Beides befindet sich in einer Wechselwirkung, welche die Zurechnung nach der einen oder anderen Seite erschwert. Waren doch auch die nationalsozialistischen Verschwörer nicht wesentlich verschieden von denen, die ihnen zuliefen, sondern hatten vor ihnen lediglich die unselige Gabe voraus, für das die ungehemmte Phrase zu finden, was in jenen stumm und verdrückt schon bereit lag. Man nähme die zwölf Jahre des Grauens allzu leicht, wenn man sie lediglich dem Hitler und seinen Paladinen aufbürdete und nicht sähe, wie sehr in ihrer Clique etwas sich verdichtete, was weit über ihren privaten Willen und ihre Sonderinteressen hinausreichte. Umgekehrt hätte jenes breite Reservoir an sich allein niemals so zerstörende Gewalt gewonnen, wenn es nicht kanalisiert und ständig über das hinausgetrieben worden wäre, was unmittelbar darin gegenwärtig war. Ich bitte Sie also, meine Erwägungen als einen Beitrag aufzufassen dazu, mit dem Bedrohlichen fertig zu werden nicht durch fruchtlose Entrüstung und durch Fassadenmaßnahmen, sondern erst einmal es seiner Tiefendimension nach zu begreifen. Einige Anregungen für die Praxis mögen daraus immerhin folgen, auch wenn man den Weg von der Einsicht zum Handeln sich nicht so kurz vorstellt, wie er gerade vielen Wohlmeinenden heute erscheint.
Anhang II
Nachweise zu den »Prismen« Kulturkritik und Gesellschaft 1 vgl. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Amsterdam 1947, S. 204ff. [GS 3, s. S. 197ff.] 2 vgl. Max Frisch, Kultur als Alibi, in: Der Monat 7, Jahrgang 1, April-Heft 1949, S. 82ff. 3 Karl Marx und Friedrich Engels, Werke, Bd. 13, 2. Aufl., Berlin 1964, S. 8 (Marx, »Zur Kritik der politischen Ökonomie«, Vorwort). Das Bewußtsein der Wissenssoziologie 4 Karl Mannheim, Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus, Leiden, 1935, S. 2. 5 ebd., S. 12. 6 ebd., S. 16. 7 vgl. ebd., S. 36 und 88. 8 ebd., S. 94. 9 ebd., S. 6f. 10 vgl. ebd., S. 64. 11 ebd., S. 65. 12 ebd., S. 67. 13 ebd., S. 69. 14 ebd.
15 ebd., S. 76. 16 ebd., S. 77. 17 vgl. ebd., S. 96ff. 18 ebd., S. 100. 19 ebd., S. 93. 20 ebd., S. 159. 21 ebd., S. 21. 22 ebd., S. 91. 23 ebd., S. 102. 24 ebd., S. 137. 25 ebd. 26 vgl. ebd., S. 130ff. 27 ebd., S. 7. 28 ebd., S. 31. 29 ebd., S. 32. 30 ebd., S. 163f. 31 ebd., S. 86. 32 ebd., S. 11. 33 vgl. ebd., S. 190.
34 ebd., S. 40. 35 ebd., S. 173. 36 ebd., S. 116. 37 ebd., S. 168. 38 ebd., S. 36. 39 ebd., S. 109.
Spengler nach dem Untergang 40 Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, Bd. 2: Welthistorische Perspektiven, München 1922, S. 118. 41 ebd., S. 120. 42 ebd., S. 122. 43 vgl. a.a.O., Bd. 1: Gestalt und Wirklichkeit, 7.–10. Aufl., München 1920, S. 49. 44 a.a.O., Bd. 2, S. 125. 45 ebd., S. 578f. 46 ebd., S. 579f. 47 ebd., S. 580. 48 ebd., S. 580, Anm. 49 ebd., S. 580. 50 ebd., S. 538.
51 ebd., S. 542. 52 ebd., S. 564. 53 ebd., S. 566. 54 ebd., S. 573. 55 ebd., S. 568. 56 ebd., S. 569. 57 ebd., S. 56. 58 James Shotwell, Essays in Intellectual History, New York, London 1929, S. 62. 59 vgl. Karl Joel, Die Philosophie in Spenglers »Untergang des Abendlandes«, in: Logos 9 (1920/21), S. 140f. 60 Spengler, a.a.O., Bd. 1, S. 57. 61 a.a.O., Bd. 2, S. 456. 62 ebd., S. 634. 63 Joel, a.a.O., S. 140. 64 Spengler, a.a.O., Bd. 2, S. 488. 65 ebd., S. 223. 66 Shotwell, a.a.O., S. 66f. Veblens Angriff auf die Kultur 67 vgl. Thorstein Veblen, The Theory of the Leisure Class. An Economic Study of Institutions, New York 1945, S. 1.
68 vgl. ebd., S. 191. 69 ebd., S. 188: »Das Leben des Menschen in der Gesellschaft ist genauso wie das Leben anderer Arten ein Kampf ums Dasein; es ist darum ein Prozeß selektiver Anpassung. Die Entwicklung der sozialen Struktur hat sich in einem Prozeß natürlicher Selektion von gesellschaftlichen Lebensformen vollzogen. Der bisherige und noch andauernde Fortschritt des menschlichen Typus und der menschlichen Lebensformen kann – im großen und ganzen – zurückgeführt werden auf eine natürliche Selektion der praktischsten Denkgewohnheiten und einen Prozeß erzwungener Anpassung der Einzelwesen an eine Umwelt, die sich mit dem Wachstum der Gruppen und mit dem Wandel der gesellschaftlichen Formen, unter denen die Menschen gelebt haben, zunehmend verändert hat.« 70 ebd., S. 349: »Es mögen etwa gewisse Summen als Stiftung für ein Findlings- oder Altersheim abgezweigt worden sein. Die Aufwendung von Geldmitteln für eine mit Prestigegewinn verknüpfte Verschwendung ist in solchen Fällen nicht ungewöhnlich genug, um Erstaunen oder auch nur ein Lächeln hervorzurufen. Ein beträchtlicher Teil des Geldes wird auf die Errichtung eines Gebäudes verwandt, das mit irgendeinem ästhetisch zweifelhaften aber kostspieligen Stein verkleidet, mit grotesken und verworrenen architektonischen Details überdeckt und dem ganzen Entwurf nach – mit seinen Zinnen und Türmchen, massiven Portalen und befestigungsähnlichen Zugängen – dazu bestimmt ist, barbarische Methoden der Kriegführung ins Gedächtnis zu rufen.« 71 Thorstein B. Veblen, The Theory of the Leisure Class, New York 1934 (The Modern Library), S. XIV: »Weder in früheren Epochen noch heutzutage verwenden diejenigen, die über dem bloßen Existenzminimum leben, den Überschuß, den sie von der Gesellschaft bekommen, in der Hauptsache für nützliche Zwecke.« 72 Veblen, ed. 1945, a.a.O., S. 255: »Diese Manifestationen des räuberischen Charakters sind sämtlich unter dem Titel des ›exploit‹ – der Parforceleistung – zu klassifizieren. Sie sind zum Teil einfacher und unreflektierter Ausdruck eines Geistes agonaler
Wildheit, zum Teil Bestätigungen, denen man sich mit der Absicht hingibt, den Ruf überlegenen kriegerischen Mutes zu gewinnen. Alle Arten des Sports haben im Grunde den gleichen Charakter.« 73 ebd.: »Den Grund der Sportleidenschaft bildet eine archaische Sinnesart.« 74 ebd., S. 254 f: »Wenn ein Mensch, der solcherart mit einem Hang zum ›exploit‹ ausgestattet ist, eine Position innehat, wo er die Entwicklung der Gewohnheiten der heranwachsenden Gruppenmitglieder lenkt, so kann der Einfluß, den er hinsichtlich der Erhaltung und Wiedererweckung von Rauflust ausübt, sehr beträchtlich sein. Das ist die Bedeutung etwa der sorgsamen Pflege, die viele Geistliche und andere Stützen der Gesellschaft neuerdings den ›boy's brigades‹ und anderen pseudo-militärischen Organisationen angedeihen lassen.« 75 vgl. ebd., S. 324. 76 ebd., S. 229. 77 ebd., S. 229f.: »Soweit die Denkgewohnheiten der Menschen durch den agonalen Prozeß des Aneignens und Behauptens geformt sind; und soweit ihre ökonomischen Funktionen im Bereich des Besitzes von Gütern, die Tauschwerte darstellen, und der Verwaltung und Finanzierung dieses Besitzes durch weiteren Tausch von Gütern liegen: soweit begünstigt ihre Erfahrungen im ökonomischen Leben die Erhaltung und Betonung des räuberischen Charakters und der entsprechenden Denkgewohnheiten.« 78 ebd., S. 230: »... der Menschenklasse und dem Aufgabenbereich im ökonomischen Prozeß, die mit dem Besitz von am Konkurrenzkampf beteiligten Industrieunternehmen zusammenhängen; besonders aber mit jenen Grundlinien der Wirtschaftsführung, die man als Finanzierungsoperationen klassifiziert. Der größte Teil aller merkantilen Beschäftigungen kann dem hinzugerechnet werden.« 79 ebd., S. 319: »Eine archaische Verfassung des Geistes erhält
sich, weil kein wirksamer ökonomischer Druck diese Klasse zu einer Anpassung ihrer Denkgewohnheiten an die sich verändernde Situation nötigt.« 80 vgl. ebd., S. 218. 81 vgl. ebd., S. 136. 82 ebd., S. 219: »Die Umstände, unter denen die Menschen in den primitivsten Phasen des Lebens in Gruppen, die sich noch als menschlich bezeichnen lassen, gelebt haben, scheinen friedlicher Art gewesen zu sein; und der Typus – nach Temperament und Sinnesart – der Menschen in diesem Urmilieu scheint von friedfertigem und unaggressivem, um nicht zu sagen indolentem Gepräge gewesen zu sein. Für unseren gegenwärtigen Zweck mag der Anfang der gesellschaftlichen Entwicklung bei diesem friedlichen Kulturstadium angesetzt werden. Was unsere besondere Fragestellung anlangt, so scheint das vorherrschende geistige Merkmal dieser präsumptiven Urphase der Kultur ein instinkthaftes, unformuliertes Gefühl der Gruppensolidarität gewesen zu sein, das sich insbesondere ausdrückte in einer dankbaren, aber keineswegs zwangshaften Wertschätzung von allem, was das Leben leichter machte, und einem unbehaglichen Aufbegehren gegen fühlbare Hemmungen des Lebens oder vergebliche Anstrengungen.« 83 ebd., S. 351: »Vermöge der geborgenen Situation, in der die ›leisure class‹ sich befindet, scheint daher so etwas wie eine Regression auf den Bereich nicht-böswilliger Impulse stattzufinden, wie sie die noch nicht vom räuberischen Charakter bestimmte primitive Kultur kennzeichnen. Diese Regression betrifft sowohl den Instinkt des Herstellens und Machens als auch den Hang zu Indolenz und Kameradschaft.« 84 ebd., S. 356: »... die präglaziale Stellung der Frauen wiederaufzurichten ...« 85 ebd., S. 270: »Aber warum sind Entschuldigungen nötig? Wenn es eine kompakte Majorität zugunsten des Sports gibt, warum soll das Faktum keine hinreichende Legitimation sein? Durch die
fortdauernde Übung der Rauflust, der die Menschengattung sowohl unter der vom räuberischen Charakter bestimmten als auch unter der quasi-friedlichen Kultur unterworfen war, hat sich auf den heutigen Menschen eine Sinnesart übertragen, die in solchen Manifestationen von Wildheit und Geschicklichkeit Befriedigung findet. Also warum sollte man den Sport nicht als legitimen Ausdruck einer normalen und wohlgeratenen Menschennatur anerkennen? Welche andere Norm gibt es, nach der zu leben wäre, als die, die durch die Gesamtskala der Neigungen gegeben ist, die sich in den Empfindungen der gegenwärtigen Generation ausdrücken und die das Erbteil von Rauflust mit umfassen?« 86 ebd., S. 270: »Die letzte Norm, an die appelliert wird, ist der Instinkt des Herstellens und Machens, der ein fundamentaler, älterer Instinkt ist als der Hang zu räuberischem Wettstreit.« 87 ebd., S. 124f.: »Man empfindet, daß die Gottheit ein besonders heiteres und müßiges Leben führen müsse. Und wann immer ihr Aufenthaltsort zur Erbauung oder, um eine fromme Einbildungskraft anzusprechen, in Bildern poetischer Verklärung ausgemalt wird, entwirft der fromme Wortmaler als selbstverständlich vor seinen Zuhörern einen von zahllosen Dienern und allen nur erdenklichen Insignien des Reichtums und der Macht umgebenen Thron. Zum gewohnten Stil solcher Darstellungen der himmlischen Wohnungen gehört es, daß die Dienerschar sich einem ›stellvertretenden Müßiggang‹ hingibt, wobei ihre Zeit und Kraft weitgehend in wirtschaftlich unproduktiver Lobpreisung der erhobenen Eigenschaften und der Stärke der Gottheit aufgezehrt wird.« 88 ebd., S. 191: »Gesellschaftliche Lebens- und Bewußtseinsformen sind das Produkt der vergangenen Entwicklung, sie sind einem früheren Milieu angepaßt und stimmen deshalb nie völlig mit den Erfordernissen der Gegenwart überein. Es liegt in der Natur der Sache, daß dieser Prozeß selektiver Anpassung die unablässig sich ändernde Situation, in der die Gruppe sich zu jedem gegebenen Zeitpunkt befindet, nie ganz einholen kann, denn die Umwelt, die Situation, die Erfordernisse des Lebens, welche die Anpassung erzwingen und die Selektion treffen, ändern sich von Tag zu Tag, und jede neue Situation der Gruppe ist, sobald sie sich hergestellt
hat, schon im Begriff, überholt zu werden. Wenn ein Schritt in der Entwicklung stattgefunden hat, hat sich mit diesem Schritt selber eine Änderung der Situation ergeben, die wiederum nach neuer Anpassung verlangt; sie wird zum Ausgangspunkt für einen neuen Schritt in der Anpassung, und so ›in infinitum‹.« 89 vgl. ebd., S. 304. 90 Zur Klassifikation als Erkenntnisideal Veblens vgl. ebd., S. 9. 91 ebd., S. 335: »... identification with the life process ...« 92 vgl. ebd., S. 193. 93 ebd., S. 204: »Die ganz Armen und alle diejenigen, deren Energien vom Kampf ums tägliche Brot ganz aufgezehrt werden, sind konservativ, weil sie es sich nicht leisten können, über den nächsten Tag hinaus zu denken; genau wie der Wohlhabende konservativ ist, weil er wenig Anlaß hat, mit der je gegebenen Situation unzufrieden zu sein.« Aldous Huxley und die Utopie 94 vgl. Walter Benjamin, L'œuvre d'art à l'époque de sa reproduction mécanisée, in: Zeitschrift für Sozialforschung 5 (1936), S. 40ff. 95 vgl. Marquis de Sade, La philosophie dans le boudoir, Sadopolis (?), S. 233ff. 96 Max Horkheimer, Thesen über Bedürfnis; unveröffentlichter Diskussionsbeitrag im Seminar des Instituts für Sozialforschung. 97 vgl. Theodor W. Adorno, Thesen über Bedürfnis [GS 8, s. S. 392ff.]. 98 Herbert Marcuse, Referat über »Brave New World«; Seminar des Instituts für Sozialforschung.
Zeitlose Mode 99 Winthrop Sargeant, Jazz Hot and Hybrid, New York 1938, S. 90. 100 vgl. David Riesman, Listening to Popular Music, in: American Quarterly, Vol. 2, No. 4; Winter 1950. 101 Wilder Hobson, American Jazz Music, New York 1939, S. 161. Arnold Schönberg 102 Sigmund Freud, Gesammelte Werke, Bd. 16: Werke aus den Jahren 1932–1939, 3. Aufl., Frankfurt a.M. 1968, S. 208f. 103 zit. Wilhelm Broel, Durchführungsgestaltung in Beethovens Sonatensätzen, Braunschweig 1937, S. 15. 104 Anton von Webern, Schönbergs Musik, in: Arnold Schönberg. Mit Beiträgen von Alban Berg u.a., München 1912, S. 45. Valéry Proust Museum 105 vgl. Theodor W. Adorno, Arnold Schönberg, in: Die Neue Rundschau 64 (1953), S. 80ff. [GS 10.1, s. S. 152ff.]. George und Hofmannsthal 106 Briefwechsel zwischen George und Hofmannsthal, hrsg. von Robert Boehringer, 2., erg. Aufl., München, Düsseldorf 1953, S. 85. 107 ebd., S. 86. 108 ebd., S. 22. 109 ebd., S. 23. 110 ebd., S. 24. 111 ebd.
112 ebd., S. 24f. 113 Briefwechsel, a.a.O., S. 8. 114 ebd., S. 166. 115 Stefan George, Werke. Ausgabe in zwei Bänden, hrsg. von Robert Boehringer, 2. Aufl., Düsseldorf, München 1968, Bd. 1, S. 190 (»Der Teppich« aus »Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod«). 116 Briefwechsel, a.a.O., S. 160. 117 ebd., S. 159f. 118 ebd., S. 260. 119 George, Werke, a.a.O., Bd. 1, S. 325 (»Kairos« aus »Der siebente Ring«). 120 Briefwechsel, a.a.O., S. 154. 121 ebd. 122 ebd., S. 60f. 123 ebd., S. 86f. 124 ebd., S. 87. 125 ebd., S. 102f. 126 Briefwechsel, a.a.O., S. 78. 127 ebd., S. 22. 128 vgl. Rudolf Borchardt, Reden, hrsg. von Marie Luise Borchardt unter Mitarbeit von R.A. Schröder und S. Rizzi (Gesammelte Werke
in Einzelbänden), Stuttgart o.J., S. 87. 129 vgl. Briefwechsel, a.a.O., S. 241. 130 ebd., S. 242. 131 Briefwechsel, a.a.O., S. 15f. 132 vgl. George, Werke, a.a.O., Bd. 1, S. 489. 133 ebd., S. 326. 134 ebd., S. 331 (»Der siebente Ring«). 135 ebd., S. 241 (»Der siebente Ring«). 136 George, Werke, a.a.O., Bd. 1, S. 429. 137 ebd., S. 331 (»An Derleth« aus »Der siebente Ring«). 138 Briefwechsel, a.a.O., S. 154f. 139 ebd., S. 116; vgl. George, Werke, a.a.O., Bd. 1, S. 148. 140 Hofmannsthal, Gedichte und lyrische Dramen (Gesammelte Werke in Einzelausgaben), Stockholm 1952, S. 182. 141 Hofmannsthal, Gedichte und lyrische Dramen, a.a.O., S. 7 (»Vorfrühling«). 142 Hofmannsthal, Lustspiele III (Gesammelte Werke in Einzelausgaben), Frankfurt a.M. 1956, S. 58. 143 Briefwechsel, a.a.O., S. 166. 144 George, Werke, a.a.O., Bd. 1, S. 383. 145 Briefwechsel, a.a.O., S. 159.
146 ebd., S. 171. 147 ebd., S. 38f. 148 Briefwechsel, a.a.O., S. 158f. 149 George, Werke, a.a.O., Bd. 1, S. 367 (»Fragbar ward Alles« aus »Der Stern des Bundes«). 150 ebd., S. 165 (»Ihr tratet zu dem herde« aus »Das Jahr der Seele«). 151 Briefwechsel, a.a.O., S. 67. 152 George, Werke, a.a.O., Bd. 1, S. 256. 153 ebd., S. 214. 154 Briefwechsel, a.a.O., S. 124. 155 vgl. ebd., S. 112. 156 vgl. ebd., S. 162f. 157 ebd., S. 228. 158 ebd., S. 116f. 159 ebd., S. 30. 160 vgl. George, Werke, a.a.O., Bd. 1, S. 20f. (»Der Infant« aus »Hymnen Pilgerfahrten Algabal«). 161 Briefwechsel, a.a.O., S. 42. 162 Briefwechsel, a.a.O., S. 91; vgl. ebd., S. 253. 163 George, Werke, a.a.O., Bd. 1, S. 6.
164 Briefwechsel, a.a.O., S. 261. 165 Briefwechsel, a.a.O., S. 150. 166 Borchardt, Prosa I, hrsg. von Maria Luise Borchardt (Gesammelte Werke in Einzelbänden), Stuttgart 1957, S. 460f. 167 Briefwechsel, a.a.O., S. 110f. 168 ebd., S. 58. 169 ebd., S. 52f. 170 ebd., S. 68. 171 ebd., S. 130. 172 ebd., S. 159f. 173 ebd., S. 68. 174 ebd., S. 213. 175 ebd., S. 209. 176 ebd., S. 14f. 177 vgl. Hugo von Hofmannsthal und Eberhard von Bodenhausen, Briefe der Freundschaft, o.O. 1953, passim. 178 Briefwechsel, a.a.O., S. 225f. 179 ebd., S. 226f. 180 Borchardt, Prosa I, a.a.O., S. 455f. 181 George, Werke, a.a.O., Bd. 1, S. 364 (»Der Stern des Bundes«). 182 Hofmannsthal, Prosa II, a.a.O., S. 82f.
183 George, Werke, a.a.O., Bd. 1, S. 6. 184 Briefwechsel, a.a.O., S. 257. 185 ebd., S. 151. 186 ebd., S. 116. 187 George, Werke, a.a.O., Bd. 1, S. 14 (»Die Spange«). 188 Briefwechsel, a.a.O., S. 220. 189 ebd., S. 221f.; vgl. Thorstein Veblen, The Theory of the Leisure Class, New York 1934, S. 162ff. 190 Briefwechsel, a.a.O., S. 120. 191 ebd., S. 43. 192 Hofmannsthal, Prosa II, a.a.O., S. 84. 193 Baudelaire, Œuvres complètes, éd. Y.-G. Le Dantec et Claude Pichois, Paris 1961 (Bibliothèque de la Pléiade, 1 et 7), S. 116 (»Les litanies de Satan«). 194 Briefwechsel, a.a.O., S. 41f.; im Original findet sich über den Wörtern ›an der pest‹ ein Strich. 195 Hofmannsthal, Prosa II, a.a.O., S. 88 bis 90. 196 vgl. Briefwechsel, a.a.O., S. 120. 197 Hofmannsthal, Prosa II, a.a.O., S. 87. 198 vgl. Leo Löwenthal, Die Auffassung Dostojewskis im Vorkriegsdeutschland, in: Zeitschrift für Sozialforschung 3 (1934), S. 365f.
199 ebd., S. 115 (»Le reniement de Saint Pierre«). 200 George, Werke, a.a.O., Bd. 1, S. 372 (»Wenn meine lippen sich an deine drängen«). 201 J.P. Jacobsen, Gesammelte Werke, Bd. 1, aus dem Dänischen von Marie Herzfeld, Jena 1910, S. XX. 202 Briefwechsel zwischen George und Hofmannsthal, a.a.O., S. 37. 203 Hugo von Hofmannsthal, Prosa I (Gesammelte Werke in Einzelausgaben, hrsg. von Herbert Steiner), Frankfurt a.M. 1956, S. 89. 204 Sören Kierkegaard, Gesammelte Werke, Bd. 1: Entweder/Oder, 1. Teil, übers. von Wolfgang Pfleiderer und Christoph Schrempf, Jena 1922, S. 38. 205 Briefwechsel, a.a.O., S. 80. 206 Hofmannsthal, Prosa I, a.a.O., S. 110. 207 vgl. Marcel Proust, Im Schatten der jungen Mädchen, übers. von Walter Benjamin und Franz Hessel, Berlin o.J. [1927], S. 403. 208 ebd., S. 224. 209 Hofmannsthal, Briefe 1900–1909, Wien 1937, S. 366. 210 ebd., S. 366 (»Der Stern des Bundes«). 211 Borchardt, Reden, a.a.O., S. 86f. 212 Briefwechsel, a.a.O., S. 170. 213 George, Werke, a.a.O., Bd. 1, S. 141. 214 Briefwechsel, a.a.O., S. 161.
215 Friedrich Gundolf, George, 3. Aufl., Berlin 1930, S. 279. 216 George, Werke, a.a.O., Bd. 1, S. 429. 217 Gundolf, a.a.O., S. 279. 218 ebd., S. 269. 219 Borchardt, Reden, a.a.O., S. 91. 220 George, Werke, a.a.O., Bd. 1, S. 267 (»Der siebente Ring«). 221 Hofmannsthal, Gedichte und lyrische Dramen, a.a.O., S. 13. 222 Jacobsen, a.a.O., S. 102f. 223 Hofmannsthal, Prosa II (Gesammelte Werke in Einzelausgaben), Frankfurt a.M. 1959, S. 11f.; vgl. Briefwechsel, a.a.O., S. 113. 224 ebd., S. 90. 225 Gundolf, a.a.O., S. 50. 226 Briefwechsel, a.a.O., S. 169. 227 ebd., S. 171. 228 George, Werke, a.a.O., Bd. 1, S. 366. 229 vgl. George, Werke, a.a.O., Bd. 2, S. 289. 230 George, Werke, a.a.O., Bd. 1, S. 167. 231 George, Werke, a.a.O., Bd. 1, S. 508f. 232 vgl. Marie Bashkirtseff, The Journal of a Young Artist 1860–1884, New York 1889, S. 264.
233 vgl. Theodor W. Adorno in: Willi Reich, Alban Berg. Mit Bergs eigenen Schriften und Beiträgen von Theodor Wiesengrund-Adorno und Ernst Krenek, Wien, Leipzig, Zürich 1937, S. 104 [jetzt: Gesammelte Schriften, Bd. 13: Die musikalischen Monographien, Frankfurt a.M. 1971, S. 511f.]. 234 vgl. Briefwechsel, a.a.O., S. 52. 235 Baudelaire, Œuvres complètes, a.a.O., S. 28 (»Avec ses vêtements ondoyants et nacrés«). 236 Hofmannsthal, Gedichte und lyrische Dramen, a.a.O., S. 13 (»Dein Antlitz ...«). 237 George, Werke, a.a.O., Bd. 2, S. 326. Charakteristik Walter Benjamins 238 vgl. Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1977, S. 313. 239 a.a.O., Bd. 1, Frankfurt a.M. 1974, S. 408. 240 Benjamin, Passagenwerk, Konvolut N, Bl. 3 (unveröffentlichtes Manuskript). 241 vgl. Benjamin, Gesammelte Schriften, a.a.O., Bd. 4, Frankfurt a.M. 1972, S. 89. 242 Benjamin, Passagenwerk, Konvolut K, Bl. 6. 243 vgl. Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. 1, a.a.O., S. 317. 244 vgl. a.a.O., Bd. 2, S. 334ff. 245 Benjamin, Schriften, hrsg. von Theodor W. Adorno und Gretel Adorno, Frankfurt a.M. 1955, Bd. 1, S. 408.
246 vgl. ebd., S. 420. 247 ebd., S. 413. 248 vgl. Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. 4, a.a.O., S. 138. 249 vgl. ebd., S. 117: »Das Vermögen der Phantasie ist die Gabe, im unendlich Kleinen zu interpolieren.« 250 a.a.O., Bd. 2, S. 204. 251 a.a.O., Bd. 1, S. 201. Aufzeichnungen zu Kafka 252 Sigmund Freud, Gesammelte Werke, Bd. 9: Totem und Tabu, 5. Aufl., Frankfurt a.M. 1973, S. 43f. 253 Theodor Wiesengrund-Adorno, Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen, Tübingen 1933, S. 58f. [GS 2, s. S. 78].
Editorische Nachbemerkung
Adornos Essaysammlungen verdankten sich nicht selten zufälligen Anlässen, vor allem dem Wunsch des Verlages, Bände für bestehende oder einzurichtende Buchreihen zu gewinnen; auch sprach bei der Aufnahme oder dem Ausschluß einzelner Texte gelegentlich nicht der Autor sondern der Verlag das letzte Wort. Gleichwohl hat Adorno es stets verstanden, das Äußerliche eines Anlasses gleichsam zu hintergehen und, was dieser ihm abverlangte oder vorgab, für die eigenen Intentionen fruchtbar zu machen. Deshalb bestand für den Herausgeber der »Gesammelten Schriften« auch kein Zweifel, daß die vom Autor selber zusammengestellten Sammelbände als solche erhalten werden mußten. Im vorliegenden zehnten Band der »Gesammelten Schriften« wurden vier solcher Essaybücher vereinigt: obwohl ihr Erscheinen sich über fünfzehn Jahre verteilte, gehören sie eng zusammen. Ihre literarische Form »mahnt an die enzyklopädische Form als jene, die systemlos, diskontinuierlich darstellt, was durch Einheit der Erfahrung zur Konstellation zusammenschießt« (oben, S. 598). Inhaltlich wird das Gemeinsame der vier Bände am genauesten durch den Untertitel des ersten bezeichnet: Kulturkritik und Gesellschaft. Gemeint ist, daß die geistigen Phänomene, von denen Adornos Essays in der Regel ausgehen, nicht immanent, nur um ihrer selbst willen analysiert werden, sondern daß durch die Analyse von Gebilden des Überbaus hindurch deren Basis, die Gesellschaft selber schärfer in den Blick gerückt wird. Der vorliegende Band steht innerhalb der »Gesammelten Schriften« an der Grenze zwischen den philosophischen und soziologischen Werken einerseits, die in den Bänden 1 bis 9 enthalten sind, und andererseits den Arbeiten zu Literatur und Musik, wie sie in den Bänden 11 bis 19 abgedruckt werden. Der Band »Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft« erschien zuerst 1955 im Suhrkamp Verlag, Berlin und Frankfurt a.M. An der zweiten Ausgabe – 1963 im Deutschen Taschenbuch Verlag, München, als Band 159 der Reihe »dtv« erschienen – war der Autor unbeteiligt. Die letzte von Adorno verantwortete Ausgabe wurde 1969 vom Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M., als »Wissenschaftliche Sonderausgabe« herausgebracht; es handelte sich um einen photomechanischen Nachdruck der Erstausgabe von 1955, in dem jedoch eine Anzahl von Adorno gewünschte Änderungen mittels Tekturen ausgeführt wurden. – Die übrigen drei Bände erschienen
innerhalb der Reihe »edition suhrkamp« im Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. Die Sammlung »Ohne Leitbild. Parva Aesthetica«, die als Band 201 zuerst 1967, in erweiterter Fassung 1968 herauskam, konzentriert sich auf Arbeiten zur Ästhetik und Ideologiekritik; Adorno wollte den Band als Propädeutik zu seiner »Ästhetischen Theorie« verstanden wissen. – Den zweiten Teil des zehnten Bandes der »Gesammelten Schriften« bilden die »Kritischen Modelle«: kaum irgendwo sonst in Adornos œuvre wird so deutlich wie hier, daß Erwägungen, die eingreifen, praktisch verändern wollen, seinem Denken wesentlich sind, nicht dessen bloße Anwendung. Der erste Band der »Kritischen Modelle« erschien unter dem Titel »Eingriffe« 1963 als Band 10 der »edition suhrkamp«; der zweite Band, die »Stichworte«, 1969 als Band 347: er war zwar noch von Adorno zusammengestellt und in den Fahnen korrigiert worden, kam aber erst unmittelbar nach seinem Tod in den Buchhandel. Anders als die anderen Essaysammlungen Adornos enthalten die »Prismen« weder Zitatnachweise noch irgendwelche Verweise auf benutzte Sekundärliteratur. Zwar verfuhr der Autor darin stets durchaus differenzierend: verzichtete etwa auch sonst bei Texten, deren ursprünglichen Vortragscharakter er bewahrt wünschte, auf wissenschaftliche Apparate, oder ließ häufig Zitate aus Dichtungen unbelegt, um den Eindruck von Pedanterie zu vermeiden. Die vollständige Askese jedoch, welche in den »Prismen« geübt wird, geht nicht auf Adorno zurück, sondern wurde von dem Verleger Peter Suhrkamp gefordert, der Fußnoten und Anmerkungen in Büchern nicht schätzte. Da der Charakter der »Prismen«, ihr nicht nur typographisch Unterschiedenes von den übrigen Büchern Adornos, indessen nicht unerheblich durch den Verzicht auf bibliographische Daten bestimmt wird, wollte der Herausgeber diesen Charakter eines Buches, das der Autor selber schließlich zweimal unverändert hatte wiederauflegen lassen, nicht dadurch verändern, daß er Nachweise und Verweise in den Text selbst einfügte. Andererseits erschien dem Herausgeber für eine wissenschaftliche Beschäftigung mit den »Prismen« die Möglichkeit etwa der Zitatkontrolle unerläßlich zu sein. Er entschied sich deshalb dafür, dem Band einen gesonderten Anhang beizugeben, welchem der Benutzer der Ausgabe die wichtigsten Nachweise und Verweise entnehmen kann. – In aller Regel wurde dabei auf
Adornos eigene Anmerkungen zurückgegriffen, wie sie in den Vorveröffentlichungen der einzelnen Essays in Zeitschriften und Sammelpublikationen oder in Manuskripten aus dem Nachlaß des Autors sich finden. Absicht war allerdings nicht die Rekonstruktion dieser – im Sinn Adornos überholten – Erstfassungen, sondern lediglich eine Hilfe für den wissenschaftlich interessierten Leser. Der Herausgeber hat denn auch nicht gezögert, in einigen Fällen, in denen die von Adorno benutzten Ausgaben ihm unzugänglich waren, auf andere zu rekurrieren; gelegentlich hat er darüber hinaus Nachweise ergänzt, die Adorno selber in keiner Version eines Aufsatzes gegeben hatte. Dem vorliegenden Abdruck wurden jeweils die letzten, zu Lebzeiten des Autors erschienenen Auflagen zugrunde gelegt: für die »Prismen« die dritte Ausgabe von 1969, für »Ohne Leitbild« das 13.–18. Tausend vom Mai 1968, für die »Eingriffe« das 33.–39. Tausend vom Januar 1969 und für die »Stichworte« das 1.–15. Tausend vom September 1969. Auf Entstehung und Vorveröffentlichungen der einzelnen Essays hat Adorno in »Drucknachweisen« hingewiesen, die er den Einzelausgaben am Schluß beigab und deren Wortlaut im folgenden mitgeteilt wird: Drucknachweise [zu »Prismen«] Kulturkritik und Gesellschaft, geschrieben 1949, publiziert in »Soziologische Forschung in unserer Zeit«, Leopold von Wiese zum 75. Geburtstag, 1951. Das Bewußtsein der Wissenssoziologie, geschrieben 1937, publiziert in »Aufklärung« 1953. Spengler nach dem Untergang, ursprünglich ein Vortrag (1938), englisch publiziert 1941 in »Studies in Philosophy and Social Science«, deutsch im »Monat« 1950. Veblens Angriff auf die Kultur, Vortrag im Institut für Sozialforschung in New York, Herbst 1941, englisch publiziert in »Studies in Philosophy and Social Science« 1941, deutsch im »Monat« 1953.
Aldous Huxley und die Utopie, geschrieben im Zusammenhang mit einem in Los Angeles 1942 gehaltenen Seminar des Instituts für Sozialforschung, in dem Herbert Marcuse über Brave New World referierte, während Max Horkheimer und der Autor Thesen über Bedürfnis vortrugen. Publiziert in »Die Neue Rundschau« 1951. Zeitlose Mode, geschrieben 1953, publiziert im »Merkur« 1953. Bach gegen seine Liebhaber verteidigt, geschrieben 1951, publiziert im »Merkur« 1951. Arnold Schönberg, geschrieben 1952, publiziert in »Die Neue Rundschau« 1953. Valéry Proust Museum, geschrieben 1953, publiziert in »Die Neue Rundschau« 1953. George und Hofmannsthal, geschrieben 1939/40, veröffentlicht in dem mimeographierten Band »Walter Benjamin zum Gedächtnis« von Max Horkheimer und dem Autor, den das Institut für Sozialforschung 1942 in kleiner Auflage herausgab. Charakteristik Walter Benjamins, geschrieben 1950, publiziert in »Die Neue Rundschau« 1950. Aufzeichnungen zu Kafka, geschrieben 1942–1953, publiziert in »Die Neue Rundschau« 1953. Drucknachweise [zu »Ohne Leitbild«] Ohne Leitbild, Vortrag, gehalten im RIAS, 24. August 1960; erschienen in »Neue deutsche Hefte«, Heft 75, Oktober 1960. Amorbach, publiziert in »Süddeutsche Zeitung«, 5./6. November 1966. Erweitert. Über Tradition, veröffentlicht in »Inselalmanach auf das Jahr 1966«.
Im Jeu de Paume gekritzelt, publiziert in »Frankfurter Allgemeine Zeitung«, 20. Dezember 1958. Aus Sils Maria, erschienen in »Süddeutsche Zeitung«, 1./2. Oktober 1966. Vorschlag zur Ungüte, veröffentlicht in »Wird die moderne Kunst ›gemanagt‹?«, Baden-Baden 1959. Résumé über Kulturindustrie, Vortrag gehalten im Rahmen der Internationalen Rundfunkuniversität des Hessischen Rundfunk, 28. März und 4. April 1963. Nachruf auf einen Organisator, publiziert unter dem Titel Gedenkrede auf Wolfgang Steinecke in »Darmstädter Echo«, 31. Juli 1962. Filmtransparente, teilweise erschienen in »Die Zeit«, 18. November 1966. Zweimal Chaplin, I publiziert in »Frankfurter Zeitung«, 22. Mai 1930; II in »Neue Rundschau«, 75. Jahrgang, 3. Heft, 1964. Thesen zur Kunstsoziologie, vorgetragen im Bildungssoziologischen Ausschuß der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Frankfurt, 5. November 1965; erschienen in »Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie«, 19. Jahrgang 1967, Heft 1. Funktionalismus heute, Vortrag auf der Tagung des Deutschen Werkbundes, Berlin, 23. Oktober 1965; publiziert in »Neue Rundschau«, 77. Jahrgang, 4. Heft, 1966. Luccheser Memorial, erschienen in »Süddeutsche Zeitung«, 9./10. November 1963. Der mißbrauchte Barock, Vortrag im Rahmen der Berliner Festwochen, 22. September 1966; Auszüge erschienen in »Die
Welt«, 1. Oktober 1966. Wien, nach Ostern 1967, erschienen in »Süddeutsche Zeitung«, 10./11. Juni 1967. Die Kunst und die Künste, Vortrag in der Berliner Akademie der Künste, 23. Juni 1966; publiziert in »Anmerkungen zur Zeit«, Nr. 12, Berlin 1967. Drucknachweise [zu »Eingriffe«] Wozu noch Philosophie, ursprünglich ein Vortrag, übertragen vom Hessischen Rundfunk im Januar 1962, veröffentlicht in »Merkur«, November 1962. Überarbeitet. Philosophie und Lehrer, ursprünglich ein Vortrag im Frankfurter Studentenhaus; im November 1961 übertragen vom Hessischen Rundfunk; publiziert in »Neue Sammlung«, März/April 1962. Notiz über Geisteswissenschaft und Bildung, publiziert in »4 daten. Standorte – Konsequenzen«, 1962. Jene zwanziger Jahre, veröffentlicht in »Merkur«, Januar 1962. Prolog zum Fernsehen, publiziert in »Rundfunk und Fernsehen«, Heft 2, 1953. Fernsehen als Ideologie, entstanden aus einer amerikanischen Arbeit des Autors How to Look at Television, in »The Quarterly of Film Radio and Television«, Vol. VIII, Spring 1954, pp. 214–235; deutsch erstmals publiziert in »Rundfunk und Fernsehen«, Heft 4, 1953. Sexualtabus und Recht heute, publiziert in Fischer Bücherei, Bd. 518/519: »Sexualität und Verbrechen«, Frankfurt und Hamburg 1963. Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit, Vortrag vor dem Koordinierungsrat für Christlich- Jüdische
Zusammenarbeit, Herbst 1959; publiziert in »Bericht über die Erzieherkonferenz«, Wiesbaden, November 1959. Meinung Wahn Gesellschaft, Vortrag, gehalten in Bad Wildungen auf den von der Hessischen Landesregierung veranstalteten Hochschulwochen für staatswissenschaftliche Fortbildung, Oktober 1960; publiziert in »Der Monat«, 14. Jg., Dezember 1961. Erweitert und überarbeitet. Drucknachweise [zu »Stichworte«] Anmerkungen zum philosophischen Denken, Vortrag für den Deutschlandfunk, gesendet am 9. Oktober 1964; in: »Neue deutsche Hefte«, Heft 107, Oktober 1965, S. 5ff. Vernunft und Offenbarung, Thesen zu einem Gespräch mit Eugen Kogon in Münster, das vom Westdeutschen Rundfunk am 20. November 1957 gesendet wurde; in: »Frankfurter Hefte«, 13. Jahrgang, Heft 6, Juni 1958, S. 397ff. Fortschritt, Vortrag auf dem Münsteraner Philosophenkongreß am 22. Oktober 1962; in: »Argumentationen, Festschrift für Josef König«, herausg. von Harald Delius und Günther Patzig, Göttingen 1964, S. 1ff. Glosse über Persönlichkeit, geschrieben für den Westdeutschen Rundfunk, gesendet am 2. Januar 1966; in: »Neue deutsche Hefte«, Heft 109, 1966, S. 47ff. Freizeit, Vortrag für den Deutschlandfunk, Sendung am 25. Mai 1969; ungedruckt. Tabus über dem Lehrberuf, Vortrag im Institut für Bildungsforschung Berlin am 21. Mai 1965; in: »Neue Sammlung«, 5 Jahrgang, November/Dezember 1965, Heft 6, S. 31ff. Erziehung nach Auschwitz, Vortrag im Hessischen Rundfunk, gesendet am 18. April 1966; in: »Zum Bildungsbegriff der
Gegenwart«, Frankfurt 1967, S. 111ff. Auf die Frage: Was ist deutsch, Beitrag zur gleichnamigen Sendereihe des Deutschlandfunks, gesendet am 9. Mai 1965; in: »Liberal«, Heft 8, Jahrgang 7, August 1965, S. 470ff. Wissenschaftliche Erfahrungen in Amerika, auf englisch (Scientific Experiences of a European Scholar in America) in: »Perspectives in American History«, Harvard University, Vol. II, 1968; deutsch in: »Neue deutsche Hefte«, Jahrgang 16, Heft 2, Juni 1969, S. 3ff. Dialektische Epilegomena: Zu Subjekt und Objekt; Marginalien zu Theorie und Praxis, unveröffentlicht.
Absicht Adornos war es, die »Kritischen Modelle« gelegentlich mit einem weiteren Band fortzusetzen; in ihn wollte er die beiden 1969 entstandenen Essays »Kritik« und »Resignation« aufnehmen, die der Herausgeber deshalb als »Kritische Modelle 3« den »Stichworten« anfügte. In einem Anhang schließlich faßte er fünf weitere Texte zusammen, welche auf solche des Hauptteils in unterschiedlicher Weise sich beziehen. Zu den Druckvorlagen ist im einzelnen anzumerken: Kritik, in: »Die Zeit«, 27. Juni 1969, S. 22f.; Wiederabdruck in: Politik für Nichtpolitiker. Ein ABC zur aktuellen Diskussion, hrsg. von Hans Jürgen Schultz, Bd. 1, Stuttgart, Berlin 1969, S. 261 bis 267. – Ursprünglich ein Vortrag für den Süddeutschen Rundfunk, gesendet am 26. Mai 1969. Resignation, in: Politik, Wissenschaft, Erziehung. Festschrift für Ernst Schütte, Frankfurt a.M. 1969, S. 62–65. – Ursprünglich ein Vortrag für den Sender Freies Berlin, gesendet am 9. Februar 1969. Vorwort zu einer Übersetzung der »Prismen«, nach dem Typoskript im Nachlaß. Replik zu einer Kritik der »Zeitlosen Mode«, in: »Merkur« 7 (1953), S. 890–893 (= Heft 67).
Thesen zur Kunstsoziologie. Einleitung zum Vortrag im Rundfunk, geschrieben 1966; Erstdruck: Frankfurter Adorno Blätter III, München 1994, S. 139ff. Schlußwort zu einer Kontroverse über Kunstsoziologie, nach dem Typoskript im Nachlaß. Einleitung zum Vortrag »Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit«, nach dem Typoskript im Nachlaß.
Zur Textherstellung zog der Herausgeber für die zu Adornos Lebzeiten gedruckten Arbeiten die Handexemplare des Autors heran und führte die dort angegebenen Korrekturen und Änderungen aus. Bei Stellen problematischen Sinnes wurde darüber hinaus auf die im Nachlaß vorhandenen Manuskripte zurückgegriffen, um Druckfehler und Irrtümer zu berichtigen. Die Zitate sind nach Möglichkeit überprüft und, wo erforderlich, korrigiert worden. Die Nötigung, aus technischen Gründen den vorliegenden Band in zwei Halbbände aufzuteilen, ließ es, im Interesse möglichst unkomplizierter Bibliographierung, geboten erscheinen, nach einem übergreifenden Titel zu suchen. Der Herausgeber glaubt, mit »Kulturkritik und Gesellschaft«, dem Untertitel der »Prismen«, einen solchen gefunden zu haben, der gleichermaßen auch den Bänden »Ohne Leitbild«, »Eingriffe« und »Stichworte« gerecht wird. Er ist sich dabei jener Idiosynkrasie gegen Titel mit »Und«, welche Adorno von Peter Suhrkamp übernommen hatte (vgl. GS 11, s. S. 327f.), durchaus bewußt. Jeder andere Titel indessen, den der Herausgeber dem Band allenfalls auch hätte aufoktroyieren können, wäre, eben durchs Oktroi, gewaltsamer geraten als der gewählte, der nicht nur sachlich-korrekt den Inhalt des Bandes und die Intention des Autors kennzeichnet, sondern dessen eigene Formulierung ist. März 1977