Saskia Bender Kunst im Kern von Schulkultur
Studien zur Schul- und Bildungsforschung Band 34 Herausgegeben vom Zentru...
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Saskia Bender Kunst im Kern von Schulkultur
Studien zur Schul- und Bildungsforschung Band 34 Herausgegeben vom Zentrum für Schul- und Bildungsforschung (ZSB) der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Saskia Bender
Kunst im Kern von Schulkultur Ästhetische Erfahrung und ästhetische Bildung in der Schule
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010 Lektorat: Stefanie Laux VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Ten Brink, Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-16969-9
Dank Diese Dissertationsarbeit wäre nicht ohne die inhaltlichen Anregungen und Diskussionen, Ermunterungen und kritischen Rückfragen von Prof. Dr. Ernst Cloer entstanden. Ihm möchte ich an dieser Stelle von ganzem Herzen danken. Zudem danke ich Prof. Dr. Werner Helsper für die unterstützenden Rückmeldungen an zentralen Stellen des Projekts und die Übernahme einer Gutachtertätigkeit. Für intensive gemeinsame Interpretationen und inhaltliche Auseinandersetzungen, die die Arbeit zu wesentlichen Anteilen vorangebracht haben, danke ich Dr. Ute Karl, Dr. Stefan Köngeter und Maren Zeller. Dr. Michael Hecht, Birgit Oelker und Dr. Christina Sackmann haben das Projekt von den ersten Entwürfen an begleitet. Stellvertretend für die Forschungswerkstatt des Zentrums für Schul- und Bildungsforschung der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg möchte ich mich bei Dr. Merle Hummrich und Dr. Rolf-Torsten Kramer für die überaus kompetenten »Demonstrationen« der Rekonstruktionsmethode der objektiven Hermeneutik bedanken. Die Analysen, die dort stattfanden, waren die entscheidenden ersten Schritte auf dem Weg in das Material. Aber auch im laufenden Prozess kamen von dort viele hilfreiche Hinweise. Meinen ehemaligen Kolleginnen und Kollegen der Universität Hildesheim, Prof. Dr. Cornelie Dietrich, Dr. Dominik Krinninger und Prof. Dr. Volker Schubert danke ich für die vielfältige fachliche und persönliche Unterstützung und Begleitung des Projekts. Ein sehr herzlicher Dank gilt meinen Eltern, meinem Mann, der mich stets bestärkt hat, und meinen Kindern, die auf ihre Weise zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen haben. Ohne die Offenheit und Bereitwilligkeit der an der Studie beteiligten Personen wäre diese Arbeit nicht möglich gewesen. Diese Dissertationsarbeit wurde vom Evangelischen Studienwerk e.V. Villigst finanziell unterstützt und durch interdisziplinäre Veranstaltungen bereichert. Saskia Bender
Hannover im August 2009
Inhalt Abbildungsverzeichnis ..................................................................................... 12 Einführung ....................................................................................................... 13 1. Schulforschung als Schulkulturforschung .................................................. 23 1.1 Neue Schulreform als Schulentwicklung .......................................................... 23 1.2 Schulentwicklung als Schulkulturentwicklung ................................................. 26 1.3 Konsequenzen für die Schulforschung ............................................................. 29 1.4 Schulkulturentwicklung als Schulprogrammentwicklung ............................... 45 1.5 Schulkulturelle Bildungsräume ........................................................................... 49 1.6 Zusammenfassung: Theoretische und empirische Positionierung ................ 53 2. Kunst und Schulkultur ................................................................................ 55 2.1 Kunst und ästhetische Erfahrung ...................................................................... 55 2.2 Struktureigenschaften ästhetischer Erfahrung ................................................. 61 2.3 Entfaltung ästhetischer Bildung ......................................................................... 68 2.4 Ästhetische Erfahrung und Bildung bei Kindern ............................................ 72 Exkurs: Distinktion durch Geschmack ..................................................................... 78 2.5 Ästhetische Erfahrung und Bildung in der Institution Schule....................... 79 Exkurs: Pädagogische Professionalität und Arbeitsbündnisse ............................... 84 Exkurs: Antinomien schulpädagogischen Handelns................................................ 89 3. Methodologische Rahmung und methodische Anlage .............................. 95 3.1 Methodologische Grundbestimmungen der objektiven Hermeneutik ......... 96 3.2 Das sequenzanalytische Verfahren der objektiven Hermeneutik ................ 100 3.3 Zugang und Erhebung ...................................................................................... 104 3.4 Analytische Perspektiven und Wege der Rekonstruktion ............................ 106 3.4.1 Analyse der Schulkultur ............................................................................... 106 3.4.2 Rekonstruktion der Schülerpositionen ...................................................... 111
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3.4.3 Rekonstruktion der bildlichen Ausdrucksgestalten und der Kunstinterviews............................................................................................ 118 3.5 Vermittlung von Schulkultur und Schülerpositionen ................................... 122 4. »unser sonnenlicht hat viele farben weil die kinder unserer sonnenlicht-grundschule auch viele farben haben« – Analyse der Schulkultur.................................................................................................. 125 4.1 Schulbeschreibung ............................................................................................. 125 4.1.1 Einzugsgebiet ................................................................................................ 125 4.1.2 Geschichte des Schulhauses........................................................................ 128 4.1.3 Organisatorischer Rahmen ......................................................................... 129 4.1.4 Das Schulgebäude ........................................................................................ 133 4.1.5 Pädagogisches Profil ....................................................................................137 4.2 Die symbolische Ordnung der kunstbetonten Regelgrundschule – Rekonstruktion der Einschulungsfeier............................................................ 143 4.3 Fallstruktur und Strukturprobleme.................................................................. 170 4.3.1 Die Krise der Institution Schule................................................................. 170 4.3.2 Krisenlösung durch Muße........................................................................... 171 4.3.3 Suggestiv-ästhetisierte Charismatisierung ................................................. 171 4.3.4 Problematische Realitätsentlastetheit......................................................... 172 4.3.5 Stabilisierung durch Homogenisierung: Die kreativ mythische Imagination der Einheit trotz Differenz ................................................... 174 4.3.6 Die strukturelle Ausgrenzung der Familien .............................................. 176 4.3.7 Die Erscheinung der Kunst in der Schulkultur ........................................ 178 4.4 Das Verhältnis zwischen Schulprogramm und Schulkultur ......................... 183 4.4.1 Reale Ausgestaltung der kunstbetonten Schulkultur ............................... 185 4.4.2 Imaginärer Horizont und symbolische Verbürgung................................ 185 4.4.3 Der Schulmythos als ambivalente Legitimation der Realitätsentlastetheit .................................................................................... 188 4.5 Kunstorientierung als konstruktive Krisenbewältigung? .............................. 189 4.5.1 Varianten personeller Verbürgung des Profils – Lehrerpositionen im Feld ........................................................................................................... 190 4.5.2 Die integrative Kraft der Schulkultur ........................................................ 197 4.5.3 Die Grenze der Imagination als Grenze der Idee einer allgemeinen Schulbildung ................................................................................................. 200 4.6 Zusammenfassung: Die schulkulturelle ›Schöpfung des Schülers‹ .............. 203 4.6.1 Schulkulturentwicklung durch Schulprogrammarbeit ............................. 203 4.6.2 Zur Erscheinungsform der Kunst in der Schulkultur ............................. 204
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5. Rekonstruktion der Schülerpositionen ......................................................209 5.1 »die wollen dass ich was schaffe«. Majda: Organisierte Imagination und Bildungserfolg ............................................................................................ 209 5.1.1 Biografische Notiz .......................................................................................209 5.1.2 Interaktionsstruktur und individuelle Habitusformation ........................ 210 5.1.3 Individuelle Fallstruktur im Kontext elterlicher Habitusformation ...... 223 5.1.4 Fallstruktur der schulbiografischen Passung ............................................ 244 5.1.4.1 Einschulung .......................................................................................... 244 5.1.4.2 Einstellung zur Bildung ....................................................................... 250 5.1.5 Fallstruktur des schulkulturellen Passungsverhältnisses ......................... 256 5.1.5.1 Konfrontation von Leistungsorientierung und Kunstbetonung auf der Ebene des Realen .................................................................... 256 5.1.5.2 Kompensatorische Einbettung auf der Ebene des Symbolischen ... 257 5.1.5.3 Die Etablierung einer doppelten Fiktion auf der Ebene des Imaginären ............................................................................................ 258 5.1.6 Kunstunterricht: Entlastung vom Bewährungsdruck in der ästhetischen Erfahrung................................................................................ 259 5.1.6.1 Notiz zur Unterrichtseinheit............................................................... 259 5.1.6.2 Werkanalyse .......................................................................................... 260 5.1.6.3 Zusammenfassung: »des hat man so . glückliches gefühl« ............. 265 5.2 »ich bin alles durcheinander gekommen«. Lek: Schulkulturelle Verstrickung und bereichsspezifische Bewältigung....................................... 268 5.2.1 Biografische Notiz .......................................................................................268 5.2.2 Interaktionsstruktur und individuelle Habitusformation ........................ 270 5.2.3 Individuelle Fallstruktur im Kontext elterlicher Habitusformation ...... 272 5.2.4 Fallstruktur der schulbiografischen Passung ............................................ 277 5.2.4.1 Einschulung .......................................................................................... 277 5.2.4.2 Einstellung zur Bildung ....................................................................... 279 5.2.5 Fallstruktur des schulkulturellen Passungsverhältnisses ......................... 283 5.2.5.1 Die doppelte Realität der kunstbetonten Schule ............................. 283 5.2.5.2 Prekäre Verstrickung auf der Ebene des Symbolischen ................. 284 5.2.5.3 Die Idee der Integration des Differenten auf der Ebene des Imaginären ............................................................................................ 286 5.2.6 Kunstunterricht: Bereichsspezifische Individuierung als ästhetischer Bildungsprozess ...................................................................... 287 5.2.6.1 Werkanalyse .......................................................................................... 287 5.2.6.2 Zusammenfassung: »wollt ich erst einmal nicht machen aber […] ich sollte« ....................................................................................... 292
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5.3 »wir trinken keinen alkohol, wir nehmen keine drogen und so«. Claudio: Habituelle Verbürgung der Grenzen des Ästhetischen ................ 294 5.3.1 Biografische Notiz .......................................................................................294 5.3.2 Interaktionsstruktur und individuelle Habitusformation ........................ 296 5.3.3 Individuelle Fallstruktur im Kontext elterlicher Habitusformation ...... 299 5.3.3.1 Familiäres Milieu .................................................................................. 299 5.3.3.2 Individuelle Fallstruktur ...................................................................... 303 5.3.4 Fallstruktur der schulbiografischen Passung ............................................ 307 5.3.4.1 Einschulung .......................................................................................... 307 5.3.4.2 Einstellung zur Bildung ....................................................................... 310 5.3.5 Fallstruktur der schulkulturellen Passung ................................................. 312 5.3.5.1 Zwischen alternativem Lebensentwurf und den realen Rahmungen des Bildungssystems ...................................................... 312 5.3.5.2 Zwischen Fürsorge- und Leistungsorientierung auf der Ebene des Symbolischen ................................................................................. 313 5.3.5.3 Der Held der Schulkultur? – Die Ebene des Imaginären ............... 315 5.3.6 Kunstunterricht als krisenhafte Differenzerfahrung zum ästhetisierten Lebensmilieu ......................................................................... 315 5.3.6.1 Notiz zur Unterrichtseinheit............................................................... 315 5.3.6.2 Werkanalyse .......................................................................................... 316 5.3.6.3 Zusammenfassung: »also zu hause gibt’s halt bessere kunst« ........ 319 6. Der Anerkennungsraum der kunstbetonten Schulkultur – vergleichende Zusammenführung der Fallanalysen .................................323 6.1 Fallspezifische Voraussetzungen ..................................................................... 327 6.2 Der Einstieg in die institutionelle Schulbildung als Konfrontation zwischen Schule und Subjekt auf den Ebenen des Realen, Symbolischen und Imaginären ......................................................................... 331 6.3 Fallspezifische Bearbeitung der schulkulturellen Passung an der kunstbetonten Regelgrundschule ..................................................................... 335 6.4 Der Kunstunterricht als verbürgender Kern des Schulprofils? ................... 337 6.5 Die Platzierung der Schüler in einer schulkulturellen Diffundierung des Schulischen – Typisierung der Passungsverhältnisse ............................. 343 7. Abschließende Betrachtungen ...................................................................353 7.1 Die Schule als Ort für Krisen durch Muße?................................................... 353 7.2 Kunstorientierung als Überwindung familiärer Enge-Erfahrungen? .......... 357 7.3 Zusammenfassung und Forschungsperspektiven ......................................... 364
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Literatur ..........................................................................................................367 Schriften ....................................................................................................................... 367 Internetadressen .......................................................................................................... 380 Anhang ........................................................................................................... 381 Transkriptionsregeln................................................................................................... 381 Transkriptionszeichen ................................................................................................ 381
Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Abbildung 2: Abbildung 3: Abbildung 4: Abbildung 5: Abbildung 6: Abbildung 7: Abbildung 8: Abbildung 9: Abbildung 10: Abbildung 11: Abbildung 12: Abbildung 13: Abbildung 14:
Methodische Anlage der Analysen zur Schulkultur ........................ 110 Methodische Anlage der Rekonstruktion der Schülerpositionen ................................................................................ 117 Methodische Anlage der Rekonstruktion der bildlichen Ausdrucksgestalten und des Kunstinterviews ................................. 122 Diachrone und synchrone Vermittlung der Sinnebenen ............... 124 Majda 2004a ......................................................................................... 260 Majda 2004b......................................................................................... 263 Lek 2004a ............................................................................................. 288 Lek 2004b ............................................................................................. 290 Lek 2004c ............................................................................................. 291 Claudio 2005 ........................................................................................ 317 Passungsvarianten im schulkulturellen Anerkennungsfeld ............ 344 Kunstbetonung als Reproduktion von Instabilität ......................... 348 Kunstbetonung als Entlastung von der Bewährungsdynamik ...... 349 Kunstbetonung als gegenseitige Bestätigung bestehender Imaginationen ...................................................................................... 351
Einführung Innerhalb der Erziehungswissenschaft werden Ende der 1980er und zu Beginn der 1990er-Jahre verstärkt Positionen und Fragestellungen zur Leiblichkeit menschlicher Existenz, zur Funktion und Bedeutung von Sinnen und Sinnlichkeit, zur Ästhetik und damit Probleme und Chancen ästhetischer Bildung und Erziehung diskutiert. Klaus Mollenhauer spricht 1988 von einer »Konjunktur« dieser Themen als »Symptom« der »kulturgeschichtlichen Situation«, die im Zuge voranschreitender Modernisierung von einer sich stetig vergrößernden Kluft zwischen dem Subjekt und den diesem fremd erscheinenden objektivierten Produkten der herrschenden Kultur geprägt zu sein scheint1 (Mollenhauer 1988: 443). Eine spezifische Bedeutung für diese zunehmende Thematisierung ästhetischer Bildungs- und Erziehungsprozesse kann dabei der damals auch in der Erziehungswissenschaft intensiv stattfindenden Rezeption und Diskussion poststrukturalistischer und postmoderner Ansätze zugeschrieben werden (vgl. Ehrenspeck 2001: 13). So diagnostiziert beispielsweise Welsch2 zu Beginn der 1990er-Jahre einen »Generaltrend Ästhetisierung« (Welsch 1996: 20). Ästhetisiert werde die Lebenswelt und das Individuum, aber auch Erkenntnisweisen entpuppten sich als ästhetisch. Als Reaktion auf diese zunehmend ästhetisierte Wirklichkeit wird die geradezu pädagogische Forderung nach einer Ausbildung ›ästhetischen Denkens‹ erhoben (Welsch 1990). Gerade Welsch vollzieht innerhalb seiner Argumentation allerdings eine entscheidende Begriffsverschiebung. Ästhetik wird für ihn zu Aisthetik.3 Damit schließt er an die von Baumgarten (1735/1983, 1750/2007) generierte Aufgabe der Ästhetik als Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis an: Der Bereich des Empfindens, des Fühlens und der Wahrnehmung sei in den Zusammenhang der Philosophie hinein zu nehmen, um die Wahrheit von Dichtung und Kunst mit der Wahrheit der Philosophie 1 2 3
Konzepte ästhetischer Erziehung bzw. ästhetischer Bildung intendieren seit Friedrich Schiller (1793/2000), den verloren geglaubten Kontakt zwischen sinnlich-subjektiv Erfahrbarem und Produkt (bzw. Theorie und Begriff) wiederherzustellen (vgl. Mollenhauer 1988: 444f.). Welsch erarbeitet insbesondere für den deutschen Sprachraum französische und amerikanische Positionen der Postmoderne-Diskussion (Welsch 2002). »Aisthetik« – ein Kunstwort – wird von Wolfgang Welsch abgeleitet von dem griechischen Begriff der »Aisthesis« (sinnliche Wahrnehmung).
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zu versöhnen (vgl. Ritter 1971: 556). Indem Welsch theoretisch Ästhetik auf Aisthetik reduziert, vernachlässigt er jedoch den sich nach Baumgarten vollziehenden sozialgeschichtlichen Entzug der Kunst aus einer philosophischen Begründung: Die Kunst beginnt, sich aus ihrer Funktion sowie aus sich selbst heraus zu begreifen und sich als autonomes gesellschaftliches Teilsystem zu etablieren (vgl. Winckelmann 1764/1972). Vollendet wird diese Spezifizierung durch Kant (1790/1999) mit der zugehörigen Bestimmung des ästhetischen Urteils als autonomem und zweckfreiem Modus der Erkenntnisgewinnung, der nicht auf verstandesgemäße Formen gebracht werden könne. Dieser Autonomieanspruch der Ästhetik und des ihr zugeordneten Erfahrungsmodus kompliziert also prinzipiell Anschlussmöglichkeiten von Pädagogik und Ästhetik. Dennoch kann für jene Zeit von einer zunehmenden Ästhetikorientierung auch in den erziehungswissenschaftlichen Teildisziplinen gesprochen werden. Motiviert durch die Aktualität postmoderner Erkenntniskritik, geht es verstärkt darum, den »Aspekt Ästhetik in alle Bereiche erziehungswissenschaftlicher Reflexion zu integrieren« (Ehrenspeck 2001: 13). Dabei werden weiterhin stark differierende Definitionen und Konzeptionen von Ästhetik, ästhetischer Erfahrung, ästhetischer Erziehung und Bildung, etc. zugrunde gelegt und entwickelt. Integrationsbemühungen finden sich auch im Feld schulischer Bildung. Neben Forderungen nach einem »Lernen mit allen Sinnen« (zur Lippe 1987; Rumpf 1981, 1987) entstehen Intentionen, das Ästhetische oder ästhetisches Lernen als fächerübergreifendes Prinzip insbesondere für die Primarstufe zu realisieren (vgl. z.B. Schneider 1988; Rumpf 1994; Otto 1998). Ein neues Phänomen sind Schulreformbemühungen, die sich auf eine Verbindung von Pädagogik und Ästhetik gründen, jedoch nicht. Sie stehen in der langen Tradition einer skeptischen Bewertung des modernen Schulsystems als rationalistisch, theorieorientiert sowie lebens- und subjektfern (vgl. Oelkers 2000: 56). Die Debatte um ästhetische Bildung und Lebenskunde als Schulfächer entwickelte sich jedoch erst im Zusammenhang mit den Reformbewegungen um 1900 (vgl. Baader 2007: 113). Infolge der Infragestellung eines verpflichtenden staatlich verantworteten konfessionellen Religionsunterrichts suchte man, die Sitten- bzw. Moralerziehung durch eine Beschäftigung mit der Kunst zu ersetzen (vgl. ebd.: 115).4 Dieser Modernisierungsprozess verband sich in der Kunsterziehungsbewegung (Lorenzen 1966; Götze 1914) mit einer antimodernistischen Kritik an der zunehmenden Rationalisierung und Differenzierung, daraus erwachsenden Entfremdungsprozessen sowie der 4
Diese Orientierungen verbinden sich allerdings auf problematische Weise mit nationalökonomischen Interessen und einer völkischen Ideologie. Diese Kritik kann an dieser Stele jedoch nicht aufgearbeitet werden (vgl. dazu Bender 2001: 24f.).
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zunehmenden Verstädterung und der Verwissenschaftlichung des Schulsystems (vgl. Bender 2001: 24; vgl. auch Baader 2007: 127). Die ästhetische Erziehung zielte stattdessen auf den freien Ausdruck, um dem kindlichen Wahrnehmungsverlust entgegenzuwirken. An eine Hinwendung zu ästhetisch begründeten Lern- und Bildungsprozessen in der Schule werden in dieser Tradition bis heute im Wesentlichen folgende Vorstellungen geknüpft: – Ästhetisches Lernen nimmt den Lernenden als Subjekt der Erfahrung ernst und vermittelt dabei zwischen Subjekt und Objekt. – Ästhetische Erfahrung und ästhetische Bildung gestalten Übergänge zwischen den subjektiven Beständen und dem Allgemeinen der Kultur. – Ästhetische Erkenntnis nimmt sinnliche und leibliche Erfahrungsvollzüge ernst, begreift diese als ergänzend zum begrifflichen Denken und leistet dadurch eine Vermittlung von Sinnlichkeit und Vernunft (vgl. exempl. Aissen-Crewett 2000: 314). Es ist Klaus Mollenhauer, der im Rekurs auf Kant (1790/1999) und Schiller (1793/2000) innerhalb der Auseinandersetzungen der Allgemeinen Pädagogik früh auf die grundlegende Differenz zwischen Sinnesurteil, ästhetischem Urteil und Verstandesurteil verweist. Seine Kritik richtet sich gegen die Versuche, das ästhetische Erfahrungsurteil in pädagogische Praxis5 zu überführen, denn dieses lasse sich nicht unter einem solchen Begriff subsumieren. Mollenhauer bleibt auch nach seinen empirischen Studien zu »Grundfragen ästhetischer Bildung« bei Kindern (1996) insbesondere skeptisch gegenüber einer gezielten Einfädelung ästhetischer Bildung in die an »klaren Verstandesbegriffen« und »ethischen Handlungsorientierungen« ausgerichtete Regelschule (Mollenhauer 1990: 484). Die zum reflektorischen Moment ästhetischer Bildung notwendige Selbstdistanz als freies reflexives Spiel stehe einem zielorientierten didaktischen Handeln entgegen. Zu sperrig für eine curriculare Eingliederung erscheinen zudem Schwierigkeiten in Bezug auf die »intersubjektive Zugänglichkeit« ästhetischer Erfahrungen (ebd.: 487). Die Debatte wird Ende 1998 von Yvonne Ehrenspeck bilanziert. Sie entwickelt aus der Rekonstruktion ausgewählter Positionen des Deutschen Idealismus die These, dass mit unterschiedlichen ästhetikorientierten Theorien jeweils spezifische Versprechungen verknüpft werden (vgl. Ehrenspeck 1998: 281). In den Bildungsund Erziehungstheorien der Moderne werde der Ästhetik und der Kunst eine 5
Vgl. Mollenhauers Kritik an der »Allgemeinen Pädagogik« von D. Benner (1987): Mollenhauer: 1990: 482.
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»positive Wirkmacht für gesellschaftliche, pädagogische, politische oder individuelle Belange attestiert«. Zudem werde darauf gesetzt, dass Ästhetik oder ästhetische Bildung den Menschen »individualisiere, moralisch bilde oder sensibilisiere«. Solche Erwartungen an das Ästhetische finden sich nach Ehrenspeck in der modernen Pädagogik zu jeder Zeit und in fast jeder theoretischen Richtung (Ehrenspeck 2001: 14). Sie reichen von Friedrich Schiller (1793/2000), der als der Begründer einer ästhetischen Bildungstheorie sowie des Konzepts ästhetischer Erziehung gilt, bis zu gegenwärtigen quantifizierenden Ausführungen aus dem Feld der musischen Erziehung (vgl. z.B. Bastian 2000; kritisch Dietrich 2002). Diese Versprechungen des Ästhetischen oder Wirkungsversprechungen ästhetischer Erziehung und Bildung verbleiben allerdings in der Dimension des Promittiven. Spezifische Versprechungen bleiben dabei unverändert, während andere im Lauf der Zeit stark differieren. Beständigkeit zeige sich hauptsächlich bezüglich der Versprechensdimension an sich, die jedoch in deutlicher Differenz zur jeweiligen Umsetzungswirklichkeit stehe. Dieses Differenzmodell ist für Ehrenspeck die eigentliche Ursache für die Perpetuierung der »Versprechungen des Ästhetischen«. Das Desiderat, mit dem sie schließt, ist die Forderung nach einer fortschreitenden Aufklärung der empirischen Basis einer Verknüpfung von Pädagogik und Ästhetik als Aufgabe einer aktuellen Verbindung von Erziehungswissenschaft und Ästhetikorientierung (vgl. Ehrenspeck 2001: 15). Ebenfalls Ende der 1980er-Jahre beginnt eine »neue internationale Schulreformbewegung« (Wenzel 2004: 411), deren veränderte Sicht auf Schule heute bereits als »Paradigmenwechsel« (ebd.: 395) bezeichnet wird. Im Wesentlichen handelt es sich um eine Entwicklung, die eine Stärkung des Handlungs- und Gestaltungsspielraums auf der Ebene der Einzelschule fordert. Diese Debatten um mehr Autonomie und Verantwortung der einzelnen Schule waren und sind das Ergebnis differenter und zum Teil widersprüchlicher Entwicklungslinien sowie argumentativer Wechselwirkungen (vgl. ebd.): Neue Erkenntnisse aus dem Bereich der Schuleffektivitäts- bzw. Schulqualitätsforschung betonten die Bedeutung der Einzelschule und verwiesen auf die mögliche Gestaltbarkeit innerschulischer Organisationsstrukturen sowie der Schulkultur durch die jeweiligen schulischen Akteure (vgl. dazu Kap. 1). Verstärkt wurde versucht, Strategien und Ansätze der Organisationsentwicklung für die Schulentwicklung nutzbar zu machen. Diese Prozesse fielen zusammen mit notwendigen Sparmaßnahmen im Bildungsbereich und damit mit der Hoffnung auf einen effizienteren Mitteleinsatz. Hinzu kam der zunehmende internationale Konkurrenzdruck im Zuge der Globalisierung (vgl. Wenzel 2004: 397; Fuchs 2003). Ein wichtiges und international akzeptiertes Instrumentarium innerhalb solcher neuerer Schulentwicklungsprozesse ist die Arbeit an und mit einem Schulprogramm,
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aus der ein spezifisches Schulprofil hervorgehen soll. Ein Schulprogramm entsteht bestenfalls in einem innerschulischen Verständigungsprozess aller schulischen Akteure und wird damit Handlungsgrundlage sowie Motor zukünftiger Entwicklung. »Schulprogrammarbeit ist quantitativ betrachtet die größte internationale Reformmaßnahme zur inneren Schulreform der letzten Jahrzehnte« (Wenzel 2004: 405). Im Zuge der zunehmenden Bedeutung, die Schulprogrammen im Kontext von Schulentwicklungsprozessen zugeschrieben wird, entstehen auf inhaltlicher Ebene neben etablierten Schwerpunktsetzungen wie naturwissenschaftlich und sprachlich orientierten Schulen, musikbetonten oder sportbetonten Schulen seit dem Ende der 1980er-Jahre auch erste kunstbetonte Schulprogramme. Diese Entwicklungen können durchaus mit dem zeitgleich steigenden Interesse an der ästhetischen Dimension von Bildung und Erziehung in Zusammenhang gebracht werden. Angeregt durch beginnende Profilierungsforderungen beginnt Ende der 1980er Jahre die Sonnenlicht-Grundschule als eine der ersten deutschen Schulen, ein kunstbetontes Schulprogramm zu entwickeln und zu erproben. Die Schule gewinnt mit diesem Programm einen international bedeutenden Preis für innovative Schulen in Deutschland und wird danach offiziell als erste »kunstbetonte Schule« anerkannt. Das neu etablierte Profil steht damit formal gleichrangig neben traditionellen z.B. musikbetonten und sportbetonten Schulen. Zentral ist dabei die Intention der Schule, mit der Kunstbetonung auf ihre Lage innerhalb eines sozialen Brennpunktgebietes zu reagieren. Der Schulleiter formuliert, dass die besondere Profilierung der Schule die Schüler überhaupt erst befähigt »zu lernen, das befähigt sie überhaupt erst lesen schreiben und rechnen zu lernen . weil sie sich öffnen lernen weil sie sich bestätigt fühlen« (EI Z 24-27/12).6 Zum Teil beginnen andere Schulen zeitgleich mit der Entwicklung kunstorientierter Schulprogramme, zum Teil richten sich viele Schulen, vor allem in anderen Brennpunktgebieten des städtischen Umfelds der Schule, nach dem dort bereits vorhandenen, erprobten und ›bewährten‹ Konzept. Die Etablierung kunstbetonter Schulprogramme sowie kunstorientierter Schwerpunkte nimmt im Rahmen der Schulentwicklungsprozesse bis heute kontinuierlich zu.7
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Alle Namen und konkreten Angaben bezüglich der Schule und einzelner Personen wurden hier und im Folgenden für die Darstellung der Studie aus Gründen der Anonymisierung verändert. Die Darlegung der Transkriptionsregeln für alle in dieser Arbeit abgebildeten Interviewsequenzen findet sich im Anhang (S. 383). Die Abkürzung EI steht für das Experteninterview mit dem Schulleiter. Bezüglich einer solchen Verbindung von kultureller Bildung und Schule finden sich vielfältige Beispiele wie z.B. das Projekt »Kultur macht Schule« im Rahmen des IZBB der Bundesregierung zum Auf- und Ausbau von Ganztagsschulen (http://www.kultur-macht-schule.de) und Förderprogramme zur Stärkung und Verbesserung des Kunstunterrichts, insbesondere durch eine gezielte Kooperation mit Künstlern, so z.B. bei der Yehudi-Menuhin-Stiftung (http://www. ymsd.de).
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Diese realgeschichtliche Entwicklung einer zunehmenden Verbreitung kunstbetonter Schulprofile sowie kunstorientierter Einzelzüge an Schulen im Kontext aktueller Schulentwicklungsbemühungen steht jedoch jener unaufgehobenen theoretisch begründeten Skepsis bezüglich der Möglichkeiten von ästhetischer Bildung und Erziehung in der Schule gegenüber. Diese Kluft konnte bislang nur unzureichend durch empirische Studien überbrückt werden. Die meisten Untersuchungen in diesem Feld, die sich zudem hauptsächlich auf die Sekundarstufe II beziehen (Peters 1996), arbeiten mit inszenierten kunstpädagogischen Settings. Didaktische und methodische Konzeptionen werden meist von externen Fachkräften mit Schülergruppen erprobt (Peez 2000, 2005; Kirchner 1999; Zentrum für Kulturforschung 2003; Staudte 1977). Dabei entstehen interessante und anregende Demonstrationen kunstpädagogischer Arbeit, die jedoch eine geringe Aussagekraft hinsichtlich alltäglicher Schul- und Unterrichtswirklichkeit erreichen. Eine kunstbetonte Schulprogrammarbeit erhebt dagegen den Anspruch auf die Gestaltung und Entwicklung der gesamten Schule (vgl. Bildungskommission NRW 1995; Wenzel 2004). Kernstück eines Schulprogramms ist dabei das die ganze Schule betreffende pädagogische Konzept (vgl. Holtappels 2002). Eines seiner wesentlichen Resultate bezüglich der »Grundfragen ästhetischer Bildung« (1996) bezieht Klaus Mollenhauer auf die Frage nach dem rechten gesellschaftlichen Ort für ästhetische Bildung. Spezifische Orte können demnach, so Mollenhauer, durch die Schaffung von Rahmenbedingungen und Unterstützungsleistungen durchaus hilfreich sein für die »Ermöglichung ästhetischer Erfahrung« (Mollenhauer 1996: 258). Sie begründen jedoch nicht die ästhetische Bildung, denn diese entfaltet ihre Bildungskraft auch ohne die Kompositionen einer Lehre (vgl. ebd.: 257). Pädagogische Arrangements können im ungünstigen Fall deren Entfaltungsmöglichkeiten vielmehr entscheidend beschränken. Der Grund bzw. der Auslöser gelingender ästhetischer Erfahrung und Bildung liegt für Mollenhauer also nicht im Bereich institutioneller Pädagogik, denn die ästhetische Bildung als Bestandteil der »conditio humana«, die wiederum gekennzeichnet ist durch die leibgeistige Doppelheit des Menschen8 (Plessner 1965: 292), vermag nichts, wenn das gesellschaftliche Umfeld diese spezifische Form der Selbstauslegung nicht repräsentiert. Ausgestattet mit diesem Problembewusstsein wird in der vorliegenden Studie nicht danach gefragt, ob sich ästhetische Erfahrungen bzw. ästhetische Bildungsprozesse 8
Plessner bestimmt in seiner philosophischen Anthropologie den Menschen sowohl als zentrisch in der Welt verankert als auch dieser Welt exzentrisch gegenübergestellt. Der Mensch geht also nicht in seinem Leben auf, sondern ist gleichsam in der Lage, dazu Abstand zu nehmen.
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im Kontext von Schule überhaupt einstellen können. Diese Überlegung ist theoretisch positiv zu beantworten (vgl. Mollenhauer 1988: 458), und sie wurde bereits in verschiedenen Einzelprojekten erhellt (Griebel 2005; Kirchner 1999; Peters 1996). Empirisch muss vielmehr die Fragestellung verfolgt werden, was es für eine Institution und die in ihr handelnden schulischen Akteure bedeutet, wenn eine Schule sich programmatisch auf das Zeichensystem Kunst und die diesem im Wesentlichen zugeordnete Erfahrungsform, die ästhetische Erfahrung, bezieht. Die vorliegende Arbeit leistet damit ihren zentralen Beitrag an der Schnittstelle zwischen Kunst und Schule. Anhand einer empirisch differenzierten Einzelstudie an einer kunstbetonten Regelgrundschule wird die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen einer sinnvollen Verbindung von Kunst und der Bildungsinstitution Schule gestellt: Wie wird die Kunst in schulisches Handeln eingebunden? Was passiert dabei mit der Schule? Was passiert dabei mit der Kunst? Ergeben sich Zusammenhänge zwischen Kunstorientierung und der Erfüllung schulisch-institutioneller Lern- und Bildungsaufgaben? Demzufolge wird mit der vorliegenden Arbeit die spezifische inhaltliche Profilierung einer Einzelschule im Regelschulsystem Gegenstand erziehungswissenschaftlicher Forschung. Diese Ausrichtung zielt in eine Lücke der Schulprofilforschung und entspricht zudem Forderungen aus der Schulentwicklungsforschung nach einer intensiven Konzentration auf den Einzelfall (vgl. Horstkemper/Tillmann 2004: 300). Wie Forschungsarbeiten zur Schulprogrammarbeit und Schulkulturforschung zeigen, lassen sich allerdings aus auch in diesem Fall vorliegenden schriftlichen Fixierungen des Schulprogramms keine Rückschlüsse auf die schulisch alltägliche Realität ableiten. Solche »Selbstbilder« einer Institution können nach Helsper u.a. (2001) die Interaktions- und Kommunikationsprozesse der Handlungen und Handlungsverkettungen unterschiedlicher schulischer Akteure und die sich daraus ergebenden Strukturmomente sowie die latenten Sinnstrukturen der jeweiligen Schule mehr oder weniger zutreffend darstellen, »[...] aber auch deutliche Idealisierungen und Verzeichnungen bilden« (ebd.: 25). Die tatsächliche Realität und damit Kultur einer Schule entfaltet sich demgegenüber als symbolische Ordnung der einzelnen Schule im Spannungsfeld zwischen systemischen Vorgaben, bildungspolitischen Strukturentscheidungen und der handelnden Auseinandersetzung der schulischen Akteure mit diesen Vorgaben um die Durchsetzung, evtl. im Schulprogramm formulierter kultureller Ordnungen. Durch das Handeln der schulischen Akteure entstehen dann einzelschulspezifische Schulkulturen (vgl. ebd.: 25f.; vgl. im Folgenden Kap. 1). Um dem »Kunstbetonten« jener Grundschule nachzuspüren, wird daher in dieser Arbeit zuerst eine Bestimmung der spezifischen Schulkultur der Schule vor-
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genommen, die sich methodisch an bereits vorliegenden Arbeiten zur Rekonstruktion von Schulkulturen orientiert (Helsper u.a. 2001). Ein solcher als ethnografischanalytisch gekennzeichneter Zugang gewährleistet eine Erforschung der Einzelinstitution, die über die Analyse von Formulierungen im Schulprogramm sowie einzelnen programmbezogenen Aktivitäten hinausgeht. Stattdessen wird über die Erschließung der Schulkultur der Einzelschule das zum Gegenstand der Untersuchung, was entsprechend den Forderungen nach einer Gestaltung und Entwicklung der gesamten Schule im Kontext von Schulprogrammentwicklungen jene eigentümliche kulturelle Gesamtheit der Schule ausmacht. Zweitens ergibt sich auf der Grundlage der Intention der Schule, mit dem kunstbetonten Profil auf ihr bildungsfernes Einzugesgebiet zu reagieren, die Frage, ob es der Schule gelingt, zu ihren Schülern über die innovative Profilierung ein spezifisches »Passungsverhältnis« (Kramer 2002) herzustellen. Inwiefern harmonieren beziehungsweise konfligieren die zu rekonstruierende symbolische Ordnung (Schulkultur) der kunstbetonten Schule und spezifische Schüler. Begünstigen Elemente des kunstbetonten Arbeitens das Gelingen von Passungsverhältnissen mit ›bildungsfernen‹ Schülern und damit das Gelingen schulischer Lern- und Bildungsprozesse? Die Studie knüpft an dieser Stelle weiterführend an die These an, dass die Herausbildung spezifischer schulkultureller Formen unterschiedlichen kulturellen Praxen im Rahmen sozialer Milieus und Lebensformen mehr oder weniger nah bzw. fernsteht (vgl. Helsper u.a. 2001: 595f.). Implizit stellt sich die Arbeit damit zugleich prinzipiellen Schwierigkeiten der empirischen Forschung im Feld ästhetischer Erfahrung respektive ästhetischer Bildung. So liegen auf den ersten Blick theoretische Intentionen, den ästhetischen Modus in seinem Eigensinn zu beschreiben, in ihren Orientierungen und Vokabularien (vgl. Mollenhauer 1996: 13) weit auseinander. Das zeigt sich beispielhaft an der Einschätzung des Verhältnisses von Ästhetik und Aisthetik und in der Folge an der Frage nach Kontinuität bzw. Diskontinuität zwischen alltäglicher und ästhetischer Erfahrung (vgl. Mattenklott 2004: 15). Eine enge Orientierung empirischer Forschung an spezifisch begrifflichen Konstruktionen begrenzt insofern gleichsam den Möglichkeitsraum dessen, was überhaupt als beobachtbar bzw. interpretierbar geltend gemacht werden kann (vgl. Ehrenspeck 2001: 16). Darüber hinaus kann vermutet werden, dass es sich bei ästhetischen Erfahrungen sowie ästhetischen Bildungsbewegungen um komplexe Phänomene handelt. Dabei scheint insbesondere der als vorbegriffliches Spiel zwischen Selbst- und Welterkenntnis bezeichnete Ausgangspunkt der ästhetischen Bildung einer direkten empirischen Beobachtung entzogen zu sein (vgl. Mollenhauer 1996: 16). Forschung im Feld der ästhetischen Erfahrung ist deshalb aufzufassen als »Empirie der Äußerungen, die Menschen über vergangene
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Erfahrungen machen« (Rora 2004: 27). Das bedeutet, dass empirische Forschung, die diese Problematik der Zugänglichkeit und Sagbarkeit ästhetischer Erfahrungen ernst nimmt, aufgefordert ist, eine angemessene Sprache zu finden (vgl. Mollenhauer 1996: 14). Auf der Grundlage einer umfassenden, aber gleichsam offenen Heuristik zur Kunst und ästhetischen Erfahrung sowie einer entsprechenden methodischen und methodologischen Rahmung werden die Ergebnisse der Studie also daraufhin zu bewerten sein, ob es einer Schule gelingt, die Kunst und die dieser zugeordnete Erfahrungsform in den Kern von Schulkultur zu rücken. Es geht also darum, welche konkrete Gestalt eine Kunstorientierung in der alltäglichen schulpädagogischen Praxis annimmt und wie die in diese kulturelle Praxis integrierten Schüler solchen spezifischen Ausprägungen begegnen. Die Darstellung der Untersuchung gliedert sich wie folgt: In Kapitel 1 wird zunächst der historische Wandel der Schulreform zur Schulentwicklung nachvollzogen, es werden die Probleme und die Möglichkeiten einer Entwicklung der »Kultur« der Schule erörtert sowie die methodologischen Diskussionen zu Fallstudien aufgearbeitet. Darin enthalten ist der umfangreiche Nachvollzug der theoretischen und methodischen Rahmung zur Schulkulturforschung von Helsper u.a. (2001), der mit einer Markierung relevanter Desiderata schließt. Im Anschluss daran wird in Kapitel 2 eine heuristische Rahmung für diese zu untersuchende Verbindung von Kunst und Schule entfaltet. Im Rekurs auf ästhetiktheoretische und strukturtheoretische Bestimmungen werden die spezifischen Struktureigenschaften ästhetischer Erfahrung herausgearbeitet und denkbare Anschlussmöglichkeiten sowie Risiken einer Verbindung zwischen diesem besonderen Erfahrungsmodus und den Lern- und Bildungsformen der institutionellen Grundschulbildung herausgearbeitet, die ihrerseits in die grundsätzlichen Antinomien pädagogischen Handelns eingebettet bleibt. Dem in der Studie umgesetzten methodischen und methodologischen Forschungsdesign widmet sich das Kapitel 3. Hier werden die Vorgehensweisen bezüglich der Datenerhebung dargestellt und begründet sowie die Methoden und die methodologische Rahmung der Datenauswertung erläutert. In weiten Teilen der Arbeit wurde das rekonstruktive Verfahren der objektiven Hermeneutik verwendet. Im Anschluss werden die mehrebenenanalytisch angelegten Auswertungsprozesse in ein Modell der Vermittlung überführt, das es ermöglicht, den spezifischen Anerkennungsraum der kunstbetonten Schulkultur sowie die Rolle ästhetischer Erfahrungen und Bildungsprozesse für einzelne schulkulturelle Passungsverhältnisse zu bestimmen.
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In Kapitel 4 werden die durchgeführten Rekonstruktionen zur Schulkultur der ›Sonnenlicht-Grundschule‹ und in Kapitel 5 die Rekonstruktionen von drei differenten Schülerpositionen zum Teil ergebnisorientiert dargestellt. In den Analysen der Schülerpositionen zeigen sich unterschiedliche Typen des Umgangs mit der kunstbetonten Schulkultur, was zu mehr und weniger gelingenden Passungsvarianten führt. Diese werden in Kapitel 6 in den konkreten Entwurf eines Anerkennungsraums der kunstbetonten Schule überführt und hinsichtlich ihrer ›Abhängigkeit erzeugenden‹ und ›Höherbildung befördernden‹ Wirkung unterschieden. Die Arbeit schließt in Kapitel 7 mit einer Betrachtung der zentralen Ergebnisse zu jener exemplarisch eingeholten Verknüpfung von Kunst und Schule und der Bedeutung der spezifischen schulkulturellen Ausdrucksgestalt für die Schüler unterschiedlicher Herkünfte.
1. Schulforschung als Schulkulturforschung 1.1 Neue Schulreform als Schulentwicklung Die Geschichte der Schulreform ist, bezogen auf die Entwicklungen seit den 1950er-Jahren, eine Geschichte der Umbrüche in den pädagogischen Basisorientierungen (vgl. Fend 1996). In den 1950er-Jahren stehen in Anknüpfung an die humanistischen Erziehungstraditionen die personale Entwicklung des einzelnen Menschen und der Lehrer als »Entwicklungshelfer« im Vordergrund. Die Grundlage der Erziehung ist »das leidenschaftliche Verhältnis eines reifen Menschen zu einem werdenden Menschen, […] dass er zu seinem Leben und zu seiner Form komme« (Nohl 1988: 166, 176). Diese geisteswissenschaftliche Orientierung an der »Bildungsgemeinschaft« (Klika 2000: 42f.) weicht in den 1960er-Jahren sozialpolitischen Zielsetzungen. Gesellschaftliche Rahmenbedingungen treten als Bedingungsfaktoren für Bildungserwerb in den Vordergrund (Dahrendorf 1965). Es entwickelt sich insbesondere im Bildungswesen ein »unvorstellbarer Eifer der Systemveränderung«. »Durch die Veränderung der Systembedingungen sollte die ideale Schule entstehen, die Chancengleichheit für alle und Solidarität aller mit allen schafft« (Fend 1996: 86). Vergleichsstudien im deutschsprachigen Raum, insbesondere im Zusammenhang mit der Entstehung der Gesamtschulen (Fend 1977, 1987), und die Rezeption angloamerikanischer empirischer Forschung zu Schuleffektivität (Rutter 1980) zeigten allerdings schließlich, dass differente Systemmerkmale keine hinreichenden Erklärungen für die Unterschiede zwischen einzelnen Schulen liefern. »Ein wichtiges Ergebnis war die Tatsache, dass es Gesamtschulen gab, in denen sich aufzuhalten belastend bis quälend war, während in anderen tatsächlich eine Annäherung an Ideale erlebt wurde. Auch herkömmliche Schulen repräsentierten sich in völlig unterschiedlicher Attraktivität« (Fend 1996: 86). Die Frage, was eine »gute« Schule ist, was die »Qualität«, »Effizienz«, oder die »Leistung« einer Schule bestimmt, wird damit auf die Einzelschule als »pädagogische Handlungseinheit« (ebd., Fend 1987) fokussiert. Damit rückt in der Mitte der 1980er-Jahre die Gestaltbarkeit der innerschulischen Organisationsstruktur und der Schulkultur in das Zentrum des Interesses (vgl. Wenzel 2004). Dieser Ansatz verbindet sich schnell mit bestehenden Vor-
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1. Schulforschung als Schulkulturforschung
stellungen von Organisationsentwicklung9 und lernenden Organisationen (z.B. Dalin 1986). Die zweite Hälfte der 1990er-Jahre wird schließlich in der Retrospektive als das »Goldene Zeitalter der Schulentwicklung charakterisiert« (Büeler u.a. 2005: 15). Die Konzentration auf die Einzelschule als Zentrum der Innovation wird zum »Paradigmenwechsel« (Wenzel u.a. 1998a: 10). Diese historisch rekonstruierbaren Wandlungen der Schulreform werden von Büeler u.a. (2005) als sich zeitlich überlagernde Phasen der Innovation des Schulsystems charakterisiert. Sie lassen sich z.B. sinnvoll darüber unterscheiden, auf welcher strukturellen Ebene des Bildungssystems sie ansetzen. Büeler u.a. bieten die folgende Differenzierung von Innovationstypen an: Auf der Makroebene ist die Schulreform angesiedelt. Hier geht es um eine Veränderung der Steuerungssysteme und der Schulaufsicht im Sinne einer Reform von »oben«. Davon zu trennen sind die Mesoebene, als Ebene der Einzelschule und Ansatzpunkt von Organisations- bzw. Schulentwicklung10 und die Mikroebene, die den Bereich der Unterrichtsentwicklung und damit die einzelne Schulklasse mit ihren spezifischen Akteuren fasst. Als vierte Ebene wird eine personale Ebene herausgearbeitet als Ort der Personalentwicklung der im Bildungssystem involvierten Akteure (vgl. ebd.: 22). Insbesondere im Kontext der Schulentwicklungsbewegung kam es zu intensiven Auseinandersetzungen über den richtigen Weg der Reformen. So unterscheidet man beispielsweise zwischen Schulentwicklung als Organisationsentwicklung, bei der die Ebene der Institution zum Ausgangspunkt vielfältiger Reformen wird (vgl. z.B. Dalin u.a. 1995; Bencke-Galm u.a. 1999) und dem Ansatz der pädagogischen Schulentwicklung, der seinen Ausgangspunkt auf der Mikroebene nimmt und über eine Veränderung und Entwicklung des Unterrichts Rückwirkungen auf die ganze Schule intendiert (vgl. dazu z.B. den Ansatz von Klippert 2004, 2000; Klippert/Lohre 1999; kritisch Sackmann 2007).11 Inzwischen besteht allerdings weitgehend Einigkeit darüber, dass die Entwicklung von Schule nicht ausschließlich durch Innovationen auf einer der Ebenen 9
Vornehmlich handelt es sich bei Aktivitäten in diesem Bereich um »analogisierende Adaptionen«, da prinzipielle Unterschiede zwischen einem privatwirtschaftlich geführten Unternehmen und der Schule bestehen und daher die Entwicklungsmöglichkeit von Schulen entlang von Modellen aus der Organisationsentwicklung ohnehin begrenzt bleibt (vgl. Terhart 2000). Einige zentrale Unterscheidungsmerkmale seien hier genannt: Lehren und Lernen geschieht nicht anhand von klaren Technologien, die Intention und Wirkung eindeutig bestimmbar machen; die Schule kann sich aufgrund ihres Bildungsauftrages nicht einseitig an den Interessen etwaiger »Abnehmer« orientieren; Bildung ist nicht produzierbar, sondern die Heranwachsenden sind selbst an ihren Entwicklungsprozessen beteiligt (Fend 2000: 69). 10 Schulentwicklung als Entwicklung der Einzelschule wird auch als Gegenmodell zur Schulreform, die von außen bzw. oben gesteuert wird, verstanden (vgl. Büeler 2005: 16). 11 Für eine ausführliche Ausarbeitung zu den unterschiedlichen Ansätzen der Schulentwicklung siehe z.B. Rahm (2005) sowie Altrichter u.a. (1998). Neben einer strukturellen Differenzierung von Schulentwicklungsansätzen können auch unterschiedliche inhaltliche und bildungstheoretische Rahmungen unterschieden werden, die den jeweiligen Ansätzen zugrunde liegen.
1.1 Neue Schulreform als Schulentwicklung
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vorangetrieben werden kann, sondern dass die verschiedenen schulischen Gestaltungsebenen in einem systemischen Zusammenhang stehen (vgl. Büeler 2005: 17). Notwendig ist daher eine Mehr-Ebenen-Perspektive (Fend 1996; Ditton 2000). Insgesamt können die Entwicklungen als Teil fortschreitender schulischer Modernisierung begriffen werden. Innovationen setzen gegenwärtig im Wesentlichen auf der Mesoebene an. Die zentrale Veränderung besteht darin, dass die Akteure vor Ort einen größeren Handlungs- und Gestaltungsspielraum zugewiesen bekommen. Sie sollen in eigener Verantwortung erforderliche Maßnahmen der Konfliktund Problemlösung, der Entwicklung und Profilierung, der Modernisierung und ferner der Haushalts- und Personalentwicklung einleiten und evaluieren (vgl. Wenzel 2004: 395). Mit einem solchen Autonomiezuwachs12 wird die Hoffnung verbunden, dass die Schule, aufbauend auf ihrer je eigenen pädagogischen Qualität und Problemlösefähigkeit, hinsichtlich ihrer spezifischen Bedingungen und Anforderungen zu besseren Ergebnissen gelangt (vgl. Holtappels 1998: 32). Dabei wächst insbesondere die Bedeutung der Schulleitung, die in ihren Managementbefugnissen aufgewertet wird (vgl. Brüsemeister/Eubel 2005: 18; Wenzel u.a. 1998a). Auf der Makroebene zieht sich der Staat zunehmend zurück. Gleichzeitig werden verstärkt spezifische Zielsetzungen und strukturelle Rahmungen vorgegeben und überprüft. Diese Entwicklung wird forciert durch die Veröffentlichung der Ergebnisse der internationalen Leistungsvergleichsstudien. Die landesweite Befürchtung vor einem erneuten schlechten Rangplatz in solchen Studien13 befördert die Diskussion über die Etablierung nationaler Bildungsstandards (Veröffentlichungen der Kultusministerkonferenz 2005). Auf der Mikroebene ändert sich das professionelle Selbstverständnis des Lehrers. Die Forderung, zur Stärkung der Einzelschule die teamorientierte Zusammenarbeit der Lehrkräfte untereinander zu fördern, tritt in den Vordergrund (vgl. Brüsemeister/Eubel 2005: 19). Von fast allen schulischen Akteuren erfordern diese Entwicklungen eine neue Positionsbestimmung. 12 Das Schlagwort »Autonomie« dient vorwiegend einer gezielten rhetorischen Provokation, denn kein ernstzunehmender Beitrag im Kontext aktueller Schulentwicklungsprozesse fordert eine völlige Unabhängigkeit der Schulen vom staatlichen Bildungssystem. Es geht vielmehr um Möglichkeiten zur Reduzierung der Abhängigkeit und Verwiesenheit der Einzelschule von staatlichen Regelungsmechanismen. Der Autonomiebegriff an sich ist in pädagogischen Kontexten ein grundsätzliches Paradoxon, was insbesondere in neueren leibphänomenologischen Untersuchungen hervorgehoben wird (Meyer-Drawe 1998, 2000). 13 Radikale Schulkritik, die die bestehende Form des Schule-Haltens angesichts einer veränderten Lebenswelt grundsätzlich in Frage stellt, ist kein neues Phänomen (vgl. Oelkers 2000). Sie paart sich traditionell mit der Angst, aufgrund der Defizite im Schulsystem im internationalen Konkurrenzkampf auch in anderen Bereichen zurückzubleiben. Diese Befürchtungen werden derzeit durch die international angelegten Leistungsvergleichsuntersuchungen forciert (z.B. Deutsches PISA-Konsortium 2001, 2004), die vermeintliche Vergleichbarkeit hinsichtlich spezifischer (ebenso vermeintlicher) Zielsetzungen suggerieren (vgl. Fuchs 2003).
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1. Schulforschung als Schulkulturforschung
1.2 Schulentwicklung als Schulkulturentwicklung Die Erkenntnis, dass sich innerhalb der gleichen Schulform und trotz vergleichbarer Rahmenbedingungen Schulen ganz unterschiedlich entwickeln, führte dazu, dass Begriffe wie Schulklima, Schulethos, Schulgeist und insbesondere der Begriff der Schulkultur herangezogen wurden, um die empirisch feststellbaren Qualitätsunterschiede zwischen den einzelnen Schulen zu erklären. Hinter diesen Begrifflichkeiten steht die Intention, die Gesamtheit einer Schule analytisch zu fassen. Allerdings wurden die vermeintlichen Merkmale einer gelingenden Schulkultur schnell zu normativen Orientierungsmerkmalen, vor deren Hintergrund Schulkultur zur Gestaltungsaufgabe gerann (vgl. Wenzel 2004). Schulentwicklung erscheint in diesem Kontext als gelungen, wenn sich Schulkultur einstellt. Diese Entwicklung verweist auf eine grundsätzliche Problematik bezüglich der Unterscheidung von »guten« und »schlechten« Schulen bzw. der Bestimmung der Qualität von Schule. Denn die Frage nach der spezifischen Qualität einer Sache oder einer Eigenschaft ist grundsätzlich nicht ohne den Bezug auf normative Bewertungskriterien positiv oder negativ zu beantworten. In Bezug auf die Schule und ihre Kultur resultiert daraus, dass an ihr selbst keine spezifische Qualität nachgewiesen werden kann. Qualität zeigt sich indessen nur in Bezug auf die jeweiligen Zweckbestimmungen, welche wiederum an gewissen Normen orientiert bleiben müssen. Diese Normativitätsproblematik ist dabei nicht an sich prekär, prekär sind vielmehr die unüberprüften Prämissen und Kriterien, die Untersuchungen und Bestimmungsversuchen häufig zugrunde liegen (vgl. Heid 2000). Auch im Begriff der Schulkultur schwingen unterschiedliche Konnotationen mit. Im Kontext von Schulentwicklungsprozessen sind dies insbesondere oft reformpädagogische Inhalte und Zielsetzungen (vgl. Bildungskommission NRW 1995; Fend 2000; kritisch: Helsper/Böhme 1998; Wenzel u.a. 1998a). Deshalb besteht die Gefahr, eine analytische Rekonstruktion der Schulkultur einer Einzelschule von vornherein als Ist-Soll-Vergleich anzulegen, was die Erfassung spezifischer schulkultureller Ausprägungen verhindern kann (vgl. Helsper u.a. 2001: 18). Aus einer nicht-normativen Perspektive kann schließlich nicht mehr im Sinne von Haben oder nicht Haben von Schulkultur gesprochen werden, beispielsweise als reichhaltiges Rahmenangebot einzelner Schulen am Nachmittag. Denn jede Schule bildet vor dem Hintergrund ihrer Rahmenbedingungen und durch das Handeln der schulischen Akteure eine ihr spezifisch eigene kulturelle Form aus, die analytisch zugänglich gemacht werden kann (vgl. ebd.: 17). In dieser Fassung des Schulkulturbegriffs werden also zum einen normative Orientierungsmarken ausgesetzt, zum anderen wird jedoch auch auf die Grenzen der Kultur der Schule hingewiesen. Denn trotz der Allianz, die die beiden Begriffe
1.2 Schulentwicklung als Schulkulturentwicklung
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›Schule‹ und ›Kultur‹ hier eingehen, muss die Differenz zu anderen kulturellen Teilsystemen und auch zu Teilsystemen des Erziehungs- und Bildungswesens gewahrt bleiben (vgl. ebd.: 13). Zwar öffnet sich die Schule zunehmend ihrem kulturellen Umfeld, aber auch wenn die teilautonome Schule einen verstärkten Handlungs- und Gestaltungsspielraum und dadurch die Möglichkeit erhält, gezielter als zuvor auf ihr spezifisches Einzugsgebiet zu reagieren, ist eine Verschmelzung zwischen traditioneller Lebenswelt und kulturell rationalisierter Lebenswelt nicht möglich und auch nicht vorbehaltlos wünschenswert. Denn Schulkultur bleibt im Kern immer bezogen auf »die Vermittlung kultureller Wissensbestände, den Aufbau kognitiver, sozialkognitiver und symbolischer Kompetenzen« (ebd.: 15) und damit auf die Ermöglichung gelingender autonomer Lebensführung. Das heißt andererseits, dass Schulkultur, um einer Auflistung von Helsper u.a. zu folgen, nicht Alltagskultur, Jugendkultur, eine familiale Kultur der Nähe, aber auch nicht Unternehmenskultur, politische Kultur oder reine Unterhaltungs- oder Hochkultur werden kann (vgl. ebd.: 13f.). Die Schule hat im Sinne des Bildungsideals zwar die Aufgabe, die Grenzen der Herkunftsmilieus durch Zugänge zu pluralen Lebensformen und Denkweisen zu überschreiten, denn sie bietet als milieuübergreifende Bildungsinstanz die Möglichkeit zur Überwindung der Zumutungen der sozialen Herkunft und damit – über den Zuwachs biografischer Entscheidungsmöglichkeiten – die Chance zur Konstruktion von Identität (vgl. Benner/Tenorth 1996: 12f.). Sie kann aber auf der anderen Seite das Leben auch nicht vollständig er- bzw. besetzen. Im Zuge der Verlebensweltlichung von Schule im Sinne der Ausgestaltung von Schulkultur droht auf der einen Seite eine zunehmende Überformung der Lebenswelt durch die Schule als institutionellem Raum und damit der Ausschluss des Nichtidentischen.14 Helsper spricht hier von der Gefahr der Durchsetzung eines auf Kompetenzentfaltung eingeengten Subjektkonzeptes gegenüber den Anerkennungsstrukturen der traditionellen Lebenswelt der Herkunftsmilieus (vgl. Helsper 1990: 181, 188; ähnlich Grundmann u.a. 2003). Hinzu kommt, dass neuere Forschungen zur Schulkultur zeigen, dass die intendierte universalistische kulturelle Form der Schule »zum einen unterschiedliche kulturelle Milieus und Lebensformen mit ihren spezifischen, materialen kulturellen Praxen unterschiedlich deutlich [bricht] und die entfalteten spezifischen schulkulturellen Ausformungen zum anderen für unterschiedliche Milieus materiale Anknüpfungsmöglichkeiten für die in ihnen favorisierten kulturellen Praktiken, Formen und Ausdrucksgestalten [bieten]« (Helsper u.a. 2001: 17). 14 Aktuell ist diese Entwicklung nachzuvollziehen an der Expansion des auf Kompetenzorientierung eingeschränkten Bildungsbegriffs im Kontext der PISA-Studien.
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1. Schulforschung als Schulkulturforschung
Das heißt, es finden sich lediglich unterschiedliche schulisch-kulturelle Praxen, die den kulturellen Praxen spezifischer Milieus und Lebensformen unterschiedlich nahbzw. fernstehen (ebd.). Diese »Verbindungslinien zu sozialen Milieus« (ebd.: 604) und darin liegenden individuellen Habitusformationen können den Verlauf individueller Schulkarrieren nachhaltig beeinflussen (vgl. Böhme 2000; Kramer 2002). Vor diesem Hintergrund ist auf der anderen Seite auf ein weiteres Problem der zunehmenden Gestaltungsfreiheit der Einzelschule hinzuweisen: Wenn die Schule zunehmend aus staatlicher Hand entlassen wird, läuft sie Gefahr, sich wieder verstärkt den Anforderungen der Eltern, der Sozialmilieus und der Erziehungsgemeinschaften auszusetzen (vgl. Benner/Tenorth 1996: 11). Erfahrungen z.B. aus den USA zeigen, dass eine Ausrichtung von Schulen an Marktmechanismen und damit die Anwahlmöglichkeit einer bestimmten Schule durch die Eltern sich auf die Bemühungen der Schulen, ein gutes Angebot zu entwickeln, positiv auswirkt. Allerdings versuchen die Schulen, deren Existenz von ihrer Qualität abhängt, möglichst viele gute Schüler mit finanzstarken Eltern an sich zu binden, die auch bereit sind, in die Bildung ihrer Kinder und damit in die Schule zu investieren. Die Fähigkeit, problematische Kinder draußen zu halten, wird damit zur zentralen Voraussetzung, ein hohes Niveau von Schulleistungen zu erzielen. Die schwächeren Schüler finden sich dann gehäuft in Schulen mit schlechter Ausstattung, einem schlechten sozialen Umfeld und einem schlechten Ruf. Es erhöht sich also bei der Umstellung auf ein marktorientiertes Angebot nicht das allgemeine Niveau des Bildungswesens, sondern nur die Qualität bevorzugter Segmente – infolge einer Magnetwirkung einzelner Schulen oder Schulbezirke – und damit die Varianz zwischen den einzelnen Schulen (vgl. Fend 2000: 66f.). Auf der anderen Seite wird wiederum eine mögliche Schulauswahl der Eltern durch milieuspezifische und habituelle Hintergründe strukturiert (vgl. Horstkemper/Tillmann 2004: 298). Durch die Entstehung solcher ›Verbindungslinien‹ zwischen Schule und sozialen Milieus kann Schule dann eine »Garantie des Allgemeinen« im Sinne eines Schonraums vor gesellschaftlichen und elterlichen Interessen nicht mehr gewährleisten (Benner/Tenorth 1996: 14). Eine schulkulturelle Entwicklung muss im Kontext fortschreitender Modernisierung demnach die Antinomie berücksichtigen, zum einen Instanz individueller Freisetzung bzw. Freiheit und gleichzeitig ihrer Bedrohung zu sein (vgl. Helsper 1990: 177f.). Für wissenschaftlich-theoretische Zugänge bietet sich daher an, zum Zweck der Erschließung einzelschulspezifischer Schulkulturen einen deskriptiv-analytischen Zugang zu wählen. Eine solche Perspektive ermöglicht die Vermeidung einer Analyse der Schulkultur vor dem Hintergrund bereits bestehender Konzepte von ›guten‹ bzw. ›schlechten‹ Schulen und damit die Erkundung der besonderen kulturellen Ordnung der Einzelschule.
1.3 Konsequenzen für die Schulforschung
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Studien, die in einer ethnografisch-analytischen Perspektive solch dichte Beschreibungen (vgl. Geertz 1983) von Schulkulturen ausarbeiten, bilden derzeit noch ein Forschungsdesiderat (vgl. Helsper 2001: 19). »Derartige Studien zielen auf die sinnhafte Erschließung der Alltagspraxen, Rituale, Interaktionsformen, Symboliken, außeralltäglichen Ereignisse (z.B. Feste) in der Spannung formeller und informeller Ebenen einer Schule« (ebd.).
1.3 Konsequenzen für die Schulforschung Die veränderte Sicht auf Schule und Schulentwicklung, die als Erklärungsansatz für die Varianz zwischen Schulen derselben Schulform insbesondere die Schulkultur der einzelnen Schule in den Blick nimmt, hat Konsequenzen für die Schulforschung, die verstärkt als Einzelschulforschung angelegt wird. Die Einzelfallforschung ist dabei nicht nur das Ergebnis des neuen Schulentwicklungsverständnisses, sondern kann an umfangreiche erziehungswissenschaftliche Traditionslinien anknüpfen (vgl. Horstkemper/Tillmann 2004). Neben den historischen Bezügen zu kasuistischen Ansätzen in der Pädagogik verbindet sich die Wiederentdeckung des Einzelfalls mit Forschungsansätzen der 1970er- und 80er-Jahre, die im Kontext der Kritik an empirisch standardisierten Forschungsverfahren das qualitative Forschungsparadigma in den Erziehungswissenschaften stark zu machen versuchen (vgl. z.B. den Sammelband von Fischer 1982; Fatke 1997). Allerdings findet sich bereits zu jener Zeit eine deutliche Varianz zwischen den unterschiedlichen Verständnissen dessen, was als Fallstudie in den Erziehungswissenschaften geltend gemacht werden kann.15 Die Ansätze variieren dabei insbesondere bezüglich der Definition dessen, (1) was als Fall in den Blick geraten kann, (2) der Methodenauswahl und -kombination, (3) der Darstellungsform der Ergebnisse und vor allem (4) der Erwartungen hinsichtlich des Theoretisierungsgrades der Studien. 1. Die klassische Fallstudie ist der Versuch, einen Gegenstand »ganzheitlich« zu erheben (Fischer 1982: 231). Sie will dabei weniger vorher gefasste Annahmen über einen Sachverhalt belegen oder zurückweisen, sondern vielmehr den Fall selbst erhellen, zeigen und illustrieren (vgl. ebd.: 233). Es gilt somit, in allen Phasen des Forschungsprozesses offen zu bleiben für die individuelle Spezifik
15 Eine differenzierte aktuelle Darstellung der unterschiedlichen Formen sowie der historischen Entwicklung pädagogischer Wirklichkeitserschließung findet sich bei Wernet (2006). Dieser unterscheidet zwischen geistes- und wirklichkeitswissenschaftlicher Hermeneutik sowie zwischen einer illustrativen und einer rekonstruktiven Kasuistik (Fallrekonstruktion).
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1. Schulforschung als Schulkulturforschung
des Falls. Als Antwort auf die Frage ›Was ist der Fall?‹ kann jedoch Vieles und Unterschiedliches in den Blick geraten: – eine spezifische kulturelle Gemeinschaft wie z.B. in der ethnologischen Forschung, – eine einzelne Person und ihre Fallgeschichte als z.B. zentrales Instrumentarium der Psychologie oder – eine einzelne Institution wie beispielsweise eine Modellschule (vgl. Horstkemper/Tillmann 2004: 303), und in diesem Kontext eine Gruppe von Schülern, mit denen neue didaktische Modelle erprobt werden. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Darüber hinaus ist auch der Hinweis auf die Menge der Untersuchungsobjekte nicht hinreichend für die Zurechnung zur Einzelfallforschung. Denn natürlich finden sich auch verschiedene Forschungsarbeiten, die sich als vergleichende Fallstudien mit beliebig vielen Fällen beschäftigen. Eine zentrale Aufgabe der Einzellfallstudie ist insofern die Bestimmung der analytischen Einheit. Was als ›Ganzes‹ in den Blick geraten soll, ist damit von vornherein begrenzt und mit diesen Grenzen gilt es umzugehen (vgl. Terhart 1982: 109; Horstkemper/Tillmann 2004: 304). 2. Die Fallstudie wird bedeutsam vor dem Hintergrund der Abgrenzung von Standardisierung und quantitativer Verarbeitung. Sie ist von daher eng mit qualitativen Forschungsmethoden verbunden. Entsprechend der intendierten Rückkehr zur genauen Beobachtung des Einzelphänomens im Rekurs auf ethnografische und phänomenologische Forschungsansätze (vgl. Stenhouse 1982: 28) wäre die teilnehmende Beobachtung die Königsmethode der Einzelfallforschung. Allerdings sind Fallstudien in der Erziehungswissenschaft nicht mit der Verwendung ethnografischer oder rein qualitativer Methodendesigns zu verwechseln. Schon früh werden Fallstudien verdichtet, z.B. über die Auswertung von Interviews, und auch die Kombination von qualitativen und quantitativen Daten ist eine gängige Praxis. 3. Im Kontext der Intention, die Spezifik des Falls herauszuarbeiten, stellt sich die Frage nach der angemessenen Darstellungsform der Ergebnisse. Auf der einen Seite finden sich hier Positionen, die dafür plädieren, Fälle in Form von Geschichten zu erzählen. »Geschichten sind mehrschichtig, weil sie die Zuordnung von Ursache und Wirkung in der Schwebe lassen können. Wer Geschichten erzählt, muss Wirkungen nicht bestimmten Ursachen zuschreiben, er kann aus der Fallauf-
1.3 Konsequenzen für die Schulforschung
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zeichnung eine ganze Reihe von Informationen aufmarschieren lassen und dann den Leser dazu einladen, diese Informationen auf mögliche UrsacheWirkung-Beziehungen zu durchmustern. Dabei ist der Autor so höflich, den Leser mit Material für verschiedene Deutungen zu versorgen« (ebd.: 48). Stenhouse plädiert in Anknüpfung an Habermas (1963) für eine solche deutendfinale Ausarbeitung von Fallstudien auf der Basis des umfänglichen Hintergrundwissens des Autors. Solche Anwendung von Klugheit bringe es zu größerer Gewissheit in der Praxis, da Sprache und Deutungsmuster lebenswelt- und damit praxisnäher seien als empirisch sozialwissenschaftliche Zugänge. Der Nachvollzug von Geschichten ermöglicht eine nähere, sinnlich-erfahrbare und sogar ästhetische Erfassung von Wirklichkeit, wodurch die Teilhabe des Lesers am Fall und damit auch die Umsetzung der gewonnenen Deutungen in Handlungspraxis leichter wird. Gegen dieses formelle Paradigma ist einzuwenden, dass es sich hier nicht selten um ein elitäres Konzept handelt, bei dem ausschließlich Gleichgesinnte und »ähnlich kluge Leser« den auf diese Weise dargestellten Aussagen »intuitiv« folgen können (Terhart 1982: 115). Darüber hinaus ist es wahrscheinlich, dass auch dem Verfasser der Geschichten selbst nicht unbedingt bewusst sein muss, vor welchem biografischen Wissenshintergrund er die Deutungen angelegt hat. Terhart weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass absolute Verallgemeinerbarkeit zwar eine Fiktion bleibe, dass aber auch über subjektive Phänomene objektive, d.h. nachvollziehbare Aussagen möglich sein müssten (vgl. ebd.: 114). Hier schließt die Frage nach der Verallgemeinerbarkeit bzw. dem Theoretisierungsgrad von Fallstudien an. 4. Entsprechend der Divergenz in der Darstellungsform zwischen Geschichte und Analyse unterscheiden sich Fallstudien hinsichtlich der theoretischen Durchdringung des Gegenstandes. Diesbezüglich ist es auch möglich, die unterschiedlichen Begrifflichkeiten zuzuordnen: Fallbeschreibung und Fallbericht benennen eine deutend-finale Bearbeitung von Daten, während Fallstudien und Fallanalysen bzw. Fallrekonstruktionen auf Theoriebildung hin orientiert sind und damit stärker die Übertragbarkeit und Verallgemeinerbarkeit für sich in Anspruch nehmen. Aktuelle Fallforschungsarbeiten aus dem Bereich der Schulqualitätsforschung beziehen sich nicht mehr derart emphatisch auf die Differenz zwischen qualitativen und quantitativen Forschungsansätzen. Die Auswahl der Methoden ergibt sich vornehmlich bezüglich des Forschungsgegenstandes und nicht prinzipiell paradigmatisch. Aber
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1. Schulforschung als Schulkulturforschung
auch die gegenwärtigen Forschungen zu Einzelschulen können einer Skala zwischen pragmatischer Praxisrelevanz und Theorieproduktion zugeordnet werden (vgl. Idel 1999). Die Gesamtheit der Studien, die sich im Rahmen der Schulqualitätsforschung um eine Erfassungsform von Schulwirklichkeit bemühen, wird dabei auch unter Begriff der »Schulportraitforschung«16 (Idel 1999) zusammengefasst. Als Schulportraits finden sich am einen Ende der Skala die Arbeiten, die in einem unmittelbaren Zusammenhang mit konkreten Schulentwicklungsprozessen stehen. Wenn es um die Frage geht, welche außer- und innerschulischen Bedingungen dazu führen, ob und wie ein zugestandener Entfaltungs- und Gestaltungsspielraum genutzt wird, dann ist ein Schulportrait besonders geeignet, um die hemmenden und fördernden Faktoren einzelschulspezifisch abzubilden. Von einer solchen von vornherein angelegten Fallspezifik wird erwartet, dass die Übersetzung der Ergebnisse in die Schulwirklichkeit besser gelingt. Wenn nämlich Veränderungen von Schule letztendlich von den in der Schule tätigen Menschen ausgehen, dann ist es wichtig, dass diese die Analysen und die daraus hervorgehenden Reformziele verstehen (vgl. Klafki 1983 nach Idel 1999). Am anderen Ende sind Studien einzuordnen, die sich als Grundlagenforschung und theoriegenerierend verstehen. Idel formuliert, dass alle Schulportraits, die über eine unmittelbar pragmatische Funktion in Schulentwicklungsprozessen hinausgehen, sich an ihrer Theorieproduktivität messen lassen müssen (vgl. Idel 1999: 53). Diesbezüglich unterscheidet er methodisch zwischen rein deskriptiven Falldokumentationen und strukturtheoretischen Ansätzen (ebd.: 54). Deskriptive Falldokumentationen beschränken sich darauf, den subjektiv gemeinten Sinn der Akteure im Feld nachzuvollziehen, deren unterschiedliche Deutungsmuster abzubilden und zu kontrastieren, um dann im Sinne einer direkten ethnografischen Beschreibung das Milieu der Schule zu rekonstruieren (vgl. ebd.: 54; vgl. dazu z.B. die Studie von Böttcher/Plath/Weishaupt 1999). Über die Ebene der subjektiven intentionalen Repräsentanzen gehen solche Studien nicht hinaus. Strukturtheoretische Ansätze bemühen sich demgegenüber um die Rekonstruktion »latenter Sinnstrukturen« (Oevermann u.a. 1979). Diese Ansätze gehen davon aus, dass die intentional durch schulische Akteure repräsentierten Bedeutungen die ob-
16 Über die Verwendung des Begriffs »Schulportrait« besteht in der einschlägigen wissenschaftlichen Literatur kein Konsens. In dieser Arbeit wird der Schulportraitbegriff als Oberbegriff für Schuleinzelfalluntersuchungen gebraucht. Es finden sich aber auch Ansätze, die Schulportraits als subjektiv getönte bildhafte Beschreibungen von Schulen verstehen und sie folglich begrifflich von analytischen Fallstudien abgrenzen (vgl. Kunze/Meyer 1999). Auf der anderen Seite findet sich auch harsche Kritik an der Erarbeitung von Schulportraits, die eine Analogie zur künstlerischen Darstellungsform des Portraits herausstellen, die betont, dass jede Falluntersuchung empirisch-wissenschaftlichen Gütekriterien unterliegt (vgl. Idel 1999).
1.3 Konsequenzen für die Schulforschung
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jektiven Sinnstrukturen eines Falles nicht hinreichend abbilden können, da auch den jeweils konkret handelnden Subjekten die ihren Handlungen zugrunde liegenden Sinnstrukturen nicht hinreichend bewusst sind (vgl. ebd.: 380). Die Forschungspraxis bemüht sich hier um die Rekonstruktion der verborgenen Strukturiertheit und der Strukturprobleme. Mit dem strukturtheoretischen Ansatz ist im Wesentlichen Theoriebildung intendiert.17 Eine Arbeit, die sozusagen die Kategorie des strukturtheoretischen Ansatzes in diesem Zusammenhang selbst mit hervorgebracht hat, ist die umfangreiche Studie »Schulkultur und Schulmythos. Rekonstruktionen von Schulkultur«, die Werner Helsper, Jeanette Böhme, Rolf-Thorsten Kramer und Angelika Lingkost (2001) vorgelegt haben. Sie entwerfen darin im Zuge der Erforschung der Transformation ostdeutscher Gymnasien nach der Wende sowohl eine ethnografisch-analytische Theorie der Schulkultur und ihrer Entwicklung als auch die methodische Grundlegung einer hermeneutisch-rekonstruktiven Institutionenanalyse. Da diese Schulkulturstudie sinnvolle theoretische Grundlagen und Anknüpfungspunkte für die vorliegende Forschungsarbeit liefert, soll sie als einzige Schulportraitstudie im Folgenden ausführlicher dargestellt werden. Auch wenn die Arbeit von Helsper u.a. sowohl bezüglich des theoretischen Anspruchs, der Ausführlichkeit der Ausarbeitungen und den umfangreichen empirischen Rekonstruktionen einen kaum einholbaren Maßstab vorgibt, können Untersuchungen, die sich als Einzelschulforschung bzw. Schulkulturforschung verstehen, diesen »Meilenstein empirischer Schulforschung« (Rumpf 2004: 374) oder – ein wenig weniger pathetisch – dieses »hoffentlich epochemachende Riesenwerk« (ebd.: 376) nicht unbeachtet lassen. Dabei werden im Folgenden, ohne den Gesamtzusammenhang der Studie zu vernachlässigen, im Wesentlichen die Aspekte herausgearbeitet, die auch im Verlauf der vorliegenden Arbeit bedeutsam werden. Für Helsper u.a. entsteht die spezifische Kultur einer Schule durch das Handeln schulischer Akteure innerhalb systemischer, bildungspolitischer, historischer und sozialer Rahmenvorgaben. Diese Aushandlungsprozesse werden als Auseinandersetzungen um die Ausgestaltung der Schulkultur bzw. als Streit um die Durchset17 Für eine umfangreichere Beschreibung von einzelnen Schulportrait-Studien siehe ausführlicher Idel (1999) und Horstkemper/Tillmann (2004). Auch Horstkemper/Tillmann versuchen, die Schulfallforschung zu systematisieren. Sie unterscheiden neben methodischen Gesichtspunkten (Anzahl der Fälle) drei inhaltliche Forschungsperspektiven von Schulfallstudien: Probleme identifizieren und beschreiben, pädagogische Haltungen und Prozesse verstehen, Entwicklungen anregen und Innovationen fördern. Diese rein inhaltliche Differenzierung greift meines Erachtens aber zu kurz, da hierin auf Theoriebildung hin orientierte Fallstudien der Bedeutung für die Schulpraxis nachgeordnet werden. Praxisrelevanz kann jedoch nicht das Gütekriterium erziehungswissenschaftlicher Forschung sein.
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1. Schulforschung als Schulkulturforschung
zung unterschiedlicher, miteinander konkurrierender kultureller Ordnungen verstanden (vgl. ebd.: 27). Analytisch wird gezeigt, dass diese ›Kämpfe‹ nicht ontologischen Rivalitäten oder egozentrischen Machtansprüchen entspringen, sondern durch die besondere Bedingungslage der Einzelschule mitgestaltet werden. Der Ansatz unterscheidet sich also von Schulkultur- und Schulentwicklungskonzepten, die eine konsensuelle Höherentwicklung hin zu dem Ideal einer ›Guten Schule‹ als möglich und wünschenswert betonen (z.B. Rolff 1993; Dalin/Rolff/ Buchen 1996). So wird darauf hingewiesen, dass in modernisierten und pluralisierten Gesellschaften der sinnvolle Umgang mit Dissens und damit das GeltenlassenKönnen von Differenz ebenso bedeutsam sein müsse (Helsper u.a. 2001: 19). In Anlehnung an Oevermann und in einer Verbindung von Struktur- und Handlungstheorie wird ein heuristisches Modell entwickelt, das diese Auseinandersetzungsprozesse im Schulsystem auf unterschiedlichen Ebenen als Spannung zwischen sozialen Regeln und Strukturvariationen verortet:18 Auf einer ersten Ebene sind die nationalen Strukturen des Schulsystems genannt, die durch das Handeln kollektiver Akteure (Parteien, Verbände, Interessensgruppen etc.) konstituiert werden. Hier ist der Ursprung der generellen Strukturprobleme des Schulsystems. Die zweite Ebene greift die regionalen und landesspezifischen Ausformungen übergreifender schulischer Strukturvarianten auf. Diese bilden den Rahmen für die einzelschulspezifischen Handlungsoptionen und damit das Handeln der kollektiven regionalen Akteure. Hier entstehen spezifische Strukturprobleme. Auf der – dritten – Ebene der Einzelschule bilden sich durch das Handeln der einzelschulischen Akteure einzelschulspezifische Strukturvarianten bzw. konkret ausgeformte Strukturprobleme heraus. Die vierte Ebene beschreibt die Auseinandersetzung der Gruppen und Individuen mit dieser spezifischen Struktur der Einzelschule, die wiederum zur Konstituierung individueller Strukturvarianten und Probleme führt. Dabei intendieren die Autoren, über die Verbindung von Handlung und Struktur die Wechselwirkung von Akteur und Regel zu greifen. Strukturen werden zwar als das Ergebnis des Handelns kollektiver Akteure verstanden, die den Handlungsrahmen für konkrete Akteure auf den Ebenen drei und vier vorstrukturieren, diese Strukturen können jedoch durch das Handeln der einzelnen Akteure wiederum modifiziert und transformiert werden. Diese einzelschulspezifischen Ausformungen der Auseinandersetzungen der schulischen Akteure mit äußeren Vorgaben bilden als Ergebnis die Schulkultur einer Schule. Methodisch wird Schulkultur damit zur »symbolischen Ordnung« (ebd.: 25) der Einzelschule, die wiederum konstitutiv für die schulischen Mikroprozesse ist. Analog zu den Erkenntnissen aus der Schulentwicklungsfor18 Oevermann unterscheidet diesbezüglich zwischen Parametern I. und II. Ordnung. Eine ausführliche Darstellung der methodologischen Rahmung bei Oevermann erfolgt in Kapitel 3 (S. 96ff.).
1.3 Konsequenzen für die Schulforschung
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schung wird damit auch die zu erarbeitende Theorie der Schulkultur mehrebenenanalytisch gefasst. Die symbolische Ordnung der Einzelschule wird schließlich ausdifferenziert als spannungsvolles Verhältnis zwischen dem Realen, Symbolischen und Imaginären. Als Reales werden die schon benannten gesellschaftlichen Strukturierungen sowie prinzipiellen Strukturproblematiken wie z.B. die Antinomien schulpädagogischen Handelns (vgl. dazu ausführlich Kap. 2.5) bezeichnet. Diese Regeln übergreifender sozialer Ordnungen werden auf den bereits dargestellten strukturellen Ebenen generiert. Sie sind konstitutiv für das schulische Handeln und können durch dieses zwar variiert und modifiziert, aber nicht prinzipiell außer Kraft gesetzt werden. Das Symbolische umfasst demgegenüber die spezifische Ausformung und Bearbeitung der Strukturvarianten durch die schulischen Akteure. Hier findet sich die eigentliche, durch Handeln vermittelte Ausgestaltung der Schulkultur. Diese Strukturmomente der Einzelschule sind allerdings wiederum Rahmenvorgaben für einen individuellen und gruppenspezifischen Umgang mit diesen. Das Imaginäre bezeichnet schließlich das Selbstverständnis der Institution bzw. das Verhältnis der kollektiven und individuellen Akteure zu sich selbst. Es findet seinen Ausdruck in den Selbstbildern der Institution, z.B. als Präsentation der Schule in Ansprachen, Festen, Veröffentlichungen und insbesondere in programmatischen Entwürfen (z.B. in Schulprogrammen). Wichtig ist dabei zu betonen, dass diese Selbstbilder der Institution »das Symbolische, die Strukturmomente und latenten Sinnstrukturen der jeweiligen Schule, mehr oder weniger zutreffend symbolisieren, aber auch deutliche Idealisierungen und Verzeichnungen bilden [können]« (ebd.: 25). Ausdruck dieser Ebene ist bei Helsper u.a. der institutionell-pädagogischen Sinn erzeugende Schulmythos (vgl. dazu ausführlich im Folgenden). In Übereinstimung mit der neueren Schulforschung wird weiter ausgeführt, dass es somit für die Erfassung der Schulkultur einer Einzelschule nicht ausreicht, ausschließlich die Rahmenvorgaben zu rekonstruieren oder subjektiv- bzw. institutionell-intentionale Stellungnahmen zu systematisieren. Eine Rekonstruktion von Schulkultur besteht vielmehr in der »Erschließung des spannungsvollen Verhältnisses zwischen dem Realen, dem Symbolischen und dem Imaginären der einzelnen Schule« (ebd.: 25). Diese Theoretisierung von Schulkultur ist orientiert an dem Modell der Lebenspraxis, das Oevermann der Forschungsmethode der objektiven Hermeneutik zugrunde gelegt hat.19 Gegenstand der Methode der objektiven Hermeneutik sind
19 Das rekonstruktive Verfahren der objektiven Hermeneutik und seine strukturtheoretische Rahmung werden ausführlich in Kapitel 3 vorgestellt. Die Ausführungen im vorliegenden Abschnitt bleiben auf die Theorie- und Methodenelemente bezogen, die zum Nachvollzug der Anlage des Forschungsprojektes »Schulkultur und Schulmythos« relevant sind.
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1. Schulforschung als Schulkulturforschung
Protokolle von Interaktionen. Ziel der Methode ist die Rekonstruktion von Bedeutungsstrukturen bzw. die Sinnauslegung von Interaktionen. Diesbezüglich unterscheiden Oevermann u.a. (1979) zwischen unterschiedlichen Realitätsebenen: der Ebene des subjektiven-intentionalen Sinns und der Ebene der latenten Sinnstrukturen eines Textes bzw. einer Interaktion. Als subjektiv-intentionale Realität bezeichnet er die Bedeutungsstrukturen, die dem handelnden Subjekt in der konkreten Situation bewusst sind und die auf Nachfragen von dem Subjekt selbst reproduziert bzw. dechiffriert werden können. Darüber hinaus entsteht bei der Produktion von Texten jedweder Art eine eigengesetzliche Realität, die nicht in der Realitätsebene des subjektiv-intentionalen Sinns aufgeht. Diese Realität bezeichnet Oevermann als die latenten Sinnstrukturen einer Interaktion. Diese Sinnstrukturen sind den handelnden Subjekten nicht bewusst und prinzipiell nicht sinnlich wahrnehmbar, sondern abstrakt. Sie können nur durch eine gründliche methodisch abgesicherte hermeneutische Rekonstruktion erschlossen werden. »Die den Fall kennzeichnende Struktur von Interaktionsabläufen ist mehr als die Summe der Persönlichkeitseigenschaften der Beteiligten. Die emergente Struktur eines Interaktionssystems als Fall konstituiert eine eigenständige Ebene der sozialen Realität […], eine Realität, die ihrerseits die Persönlichkeitssysteme der Beteiligten prägt und modifiziert« (ebd.: 387). Die latenten Sinnstrukturen werden wiederum konstituiert im Zusammenspiel der Regeln, die an der Erzeugung eines Textes beteiligt sind. Oevermann nennt hier die Regeln der sprachlichen Kompetenz auf den Ebenen der Syntax und der Phonologie, die Regeln einer kommunikativen oder illokutiven Kompetenz, die universellen Regeln einer kognitiven und moralischen Kompetenz und die das sozio-historisch spezifische Bewusstsein des sozialisierten Subjekts konstituierenden institutionalisierten Normen, lebensweltspezifischen Typisierungen und Deutungsmuster, die eine unterschiedliche historische und gattungsgeschichtliche Reichweite haben (vgl. ebd.: 387). Diese Regeln sind die Voraussetzung jeder Form von Interaktion und Handeln. Oevermann unterscheidet damit zwischen den konstitutiven Erzeugungsregeln der humanen Sozialität und der darauf aufbauenden spezifischen Lebenspraxis. Nur die Ebene der latenten Sinnstrukturen erfasst dabei allerdings die volle Bedeutung der spezifischen Fallstrukturgesetzlichkeit. Der subjektiv-intentionale Sinn wird damit als subjektive Bedeutung beschrieben, während die latenten Sinnstrukturen die objektive Bedeutung der Interaktion aufschlüsseln, die mit dem Verfahren der in Bezug auf diese Aufmerksamkeitsrichtung so benannten objektiven Hermeneutik rekonstruiert werden können.
1.3 Konsequenzen für die Schulforschung
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Dieses Modell findet sich in der Ausdifferenzierung der symbolischen Ordnung der Schule als Spannungsfeld zwischen dem Realen, dem Symbolischen und dem Imaginären wieder. Als Reales werden die Regeln gefasst, die die Handlungen der institutionellen Akteure vorstrukturieren. Auf der Ebene des Symbolischen verortet Helsper die spezifische Fallstrukturgesetzlichkeit der Einzelschule, die die Institution über die Ver- und Bearbeitung des Realen ausbildet. Hier sind damit die Strukturmomente und latenten Sinnstrukturen der Institution entschlüsselbar. Die Ebene des Imaginären ist schließlich analog zu der Oevermann'schen Realitätsebene des subjektiv-intentionalen Sinns zu verstehen. Damit wird auch deutlich, dass diese institutionellen Selbstbilder im Sinne der Differenzierung der Realitätsebenen in der objektiven Hermeneutik die objektive Realität und damit die Fallstrukturgesetzlichkeit der Einzelschule nur unzureichend abbilden. Allerdings ist hier ergänzend anzuführen, dass auch diese Selbstbilder wiederum bezüglich ihrer latenten Sinnstrukturen befragt werden können (vgl. z.B. bei Idel 1999a; Gruschka u.a. 2003). Vor diesem erarbeiteten Hintergrund zeigt sich nun, dass die Begriffe und damit die – im Rahmen jener kulturtheoretischen Konzeption von Sozialität zu unterscheidenden – Ebenen des »Realen« des »Symbolischen« und des »Imaginären« teilweise nicht trennscharf auseinandergehalten werden können. Denn für alle drei Sinnebenen ist es möglich, latente Sinnstrukturen zu bestimmen, sodass letztendlich auch alle Ebenen als symbolisch vermittelte in den Blick geraten können (vgl. dazu auch kritisch Kramer 2002: 284f.). Die Unterscheidung der Ebenen innerhalb einer Schulkulturanalyse bedarf aus diesem Grund einer vorangehenden Bestimmung, welche Ebene an welchem Material und mit welchem methodischen Zugang in den Blick genommen werden soll. Darüber hinaus erweckt der Begriff des Imaginären verstärkt den Eindruck des Fiktiven oder Irrealen, was jedoch m.E. von der Differenzierung Oevermanns in zwei Realitätsebenen nicht gedeckt zu sein scheint. Vielmehr steht das Imaginäre in einem engen Zusammenhang mit der Ebene des Symbolischen. Die idealen Konstruktionen können in die symbolische Ebene als handlungsleitend eingehen und die Deutungs- und Wahrnehmungsschemata, die dem Handeln zugrunde liegen, können den Möglichkeitsraum imaginärer Entwürfe rahmen (vgl. Kramer 2002: 285). Ausgehend von der dargestellten struktur- und handlungstheoretischen Rahmung der Theorie der Schulkultur weisen Helsper u.a. nun darauf hin, dass die jeweils einzelschulspezifisch ausgeprägten Strukturen und dominanten Strukturmomente ein Feld von »spezifisch ausgeprägten exzellenten, legitimen, tolerablen, marginalen und tabuisierten kulturellen Ausdrucksgestalten« bilden (Helsper u.a. 2001: 26). Das bedeutet – und hier begründet sich die zentrale pädagogische Relevanz der strukturtheoretischen Rahmung –, dass Aushandlungsprozesse um die je-
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weilige Schulkultur als deren Kernstruktur spezifisch ausgeformte Anerkennungsverhältnisse generieren (vgl. ebd.: 31). Solche Anerkennungsverhältnisse können den schulischen Bildungs- und Bewährungsraum öffnen, aber auch spezifisch, z.B. milieuspezifisch begrenzen. Insbesondere dem Anerkennungsverhältnis zwischen Lehrer und Schüler kommt dabei für die Ermöglichung und Ausformung schulischer Bildungsprozesse eine entscheidende Bedeutung zu. Bezüglich der grundlegenden Anerkennungsstrukturen für die Lehrer-Schüler-Beziehung unterschieden die Autoren zwischen emotionaler Anerkennung als einem prinzipiell positiv getönten Interesse an der Person des Schülers, moralischer Anerkennung als gerechter Behandlung und Zubilligung gleicher Rechte und Möglichkeiten und der Anerkennung des konkreten einzelnen Schülers als vom Anderen Verschiedenen, aufgrund seiner spezifischen Leistungen, Eigenschaften, Haltungen, etc. (vgl. ebd.: 31ff.). Zudem werden auf einer horizontalen Ebene verschiedene Dimensionen von Schulkultur bestimmt. Die Forschergruppe geht davon aus, dass die dominanten Strukturmomente einer Schulkultur nicht unterschiedlich in zu trennenden kulturellen Bereichen (wie z.B. Organisations- und Erziehungskultur; Holtappels 1993), sondern kulturübergreifend zur Geltung kommen. Sie unterscheiden in ihrer Studie die Dimensionen: Leistung, Inhalte, pädagogische Orientierungen und Partizipationsformen. Gerade hier kann es zwischen z.B. öffentlich programmatisch vertretenen Orientierungen und konkreten Ausformungen einzelner Dimensionen zu widerspruchsvollen Ausprägungen kommen (vgl. z.B. Helsper 1995, 1999). So kommt es in den ostdeutschen Gymnasien insbesondere vermehrt zu Inkonsistenzen in den partizipativen Anspruchskulturen: An Entscheidungssituationen in einzelnen Gremien (z.B. einer Gesamtkonferenz) wird herausgearbeitet, dass scheinbare Partizipations- bzw. Entscheidungsmöglichkeiten nicht offen, sondern von vornherein geschlossen sind, also die Entscheidung z.B. eigentlich schon im Vorfeld getroffen worden ist und in der konkreten Situation nur die Simulation einer offenen Entscheidungssituation stattfindet (vgl. Helsper u.a. 2001: 414, 567). Damit wird in wichtigen Räumen der Meinungsbildung und -artikulation Partizipation und Auseinandersetzung blockiert, insbesondere, wenn diese den imaginären Entwurf der Schule bedroht (vgl. ebd.: 568). Den zentralen heuristischen Rahmen der Studie bilden Überlegungen zu den Antinomien des pädagogisch-professionellen Lehrerhandelns. Sie sind als konstitutive Regeln und Strukturierungen auf der Ebene des Realen angesiedelt. Die einzelnen schulischen Akteure müssen sich mit diesen in Handlung und Kommunikation auseinandersetzen, was auf der Ebene des Symbolischen zu einzelschulspezifischen Strukturvariationen führt, die schließlich auf der Ebene des Imaginären sinnstiftend und legitimierend bearbeitet und gegebenenfalls durch die Ausprägung
1.3 Konsequenzen für die Schulforschung
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von Schulmythen überbrückt werden. Die Arbeit leistet hier eine differenzierte Systematisierung der pädagogisch-professionellen Antinomien des Lehrerhandelns, die Helsper aus Überlegungen von Schütze zu »professionellen Paradoxien« (1999) sowie anknüpfend an die professionstheoretischen Überlegungen bei Oevermann (1999) entwickelt und auf zunächst vier Ebenen ausdifferenziert: 1. Die erste Ebene fasst die konstitutiven nicht aufhebbaren pädagogisch-professionellen Antinomien, die um die im lebenspraktischen Handeln angelegten Antinomien zentriert sind und wiederum durch die stellvertretende Bearbeitung des Professionellen gesteigert werden, der diese Praxis verantwortlich mit bearbeitet. 2. Die zweite Ebene beschreibt daraus resultierende konkrete Handlungsdilemmata, in denen die Antinomien in realen Situationen im Sinne von Fallstrukturvarianten konkrete Gestalt annehmen. Nur auf dieser Ebene wird von der Forschergruppe von Paradoxien gesprochen, nämlich wenn sich die strukturell zugrunde liegenden Antinomien situativ als Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Anforderungen ausformen. 3. Die dritte Ebene fasst konkrete, aber grundsätzlich aufhebbare Ausformungen der professionellen Praxis in spezifischen historischen und sozialen Institutionalisierungen und Organisationsrahmungen. Diese können sich auf die konstitutiven Antinomien des professionellen Handelns erschwerend oder erleichternd, paradoxierend oder entspannend, Scheitern oder Bewältigung verstärkend auswirken. 4. Die vierte Ebene verweist auf das Zusammenwirken von Professionalisierungsantinomien und zunehmender Modernisierung und Rationalisierung, die ihrerseits antinomisch strukturiert sind und sich steigernd und verschärfend auf das professionelle Handeln auswirken20 (vgl. ebd.: 46). Um diese Systematisierung nachvollziehen zu können, ist es auch hier unerlässlich, die grundlegenden strukturtheoretischen Überlegungen Oevermanns kurz aufzuarbeiten: Die Lebenspraxis selbst ist bei Oevermann bestimmt als widersprüchliche Einheit, der die antinomische Struktur von Entscheidungszwang und Begründungsverpflichtung zugrunde liegt (vgl. Oevermann 1996). Jede tatsächliche Entscheidungssituation wird von Oevermann als Krise bezeichnet. In einer solchen ist das Entscheidungssubjekt gezwungen, zwischen divergierenden Möglichkeiten zu wählen. Oevermann geht dabei grundsätzlich von dem vernunftbegabten Subjekt aus, das sich an jeder »Sequenzstelle seines Lebens hypothetische Welten und damit 20 Die im Einzelnen ausgearbeiteten Antinomien werden im Rahmen dieser Arbeit in Kapitel 2.5 (S. 79ff.) ausführlich dargestellt.
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Möglichkeiten konstruieren kann, also Spielräume öffnen kann, die durch Entscheidung geschlossen werden müssen« (ebd.: 6). Das Subjekt kann sich dabei nicht auf bewährte Routinen verlassen, denn dann stünde es nicht vor einem tatsächlichen Entscheidungszwang. Vielmehr muss eine begründete Entscheidung in eine prinzipiell offene Zukunft hinein getroffen werden. Die Begründung bewährt sich also eigentlich erst in der Zukunft durch eine nachträgliche Bewertung der einst getroffenen Entscheidung. Das Subjekt kann sich auch nicht nicht entscheiden, denn auch ein Nicht-Wahrnehmen von Möglichkeiten ist in diesem Sinne eine Entscheidung. Die Widersprüchlichkeit der Lebenspraxis besteht nun darin, dass einerseits aktuell die eröffneten Spielräume tatsächlich offen sind und damit eine Begründung für eine rationale richtige Wahl im selben Augenblick nicht zur Verfügung steht. Andererseits muss an der Begründungsverpflichtung festgehalten werden, obwohl sie aktuell nicht eingelöst werden kann. »Sie muss also aufgeschoben werden. Aber sie ist nicht aufgehoben« (ebd.: 6). Aus dieser konstitutiv widersprüchlichen Lebenspraxis ergeben sich wichtige Folgerungen: Erstens ist die Entscheidungssituation selbst immer eine Krise, weil die Erfüllung der Begründungsverpflichtung nicht möglich ist. Zweitens kommt die Lebenspraxis erst in dieser aufgenötigten Bewährung der Krisenbewältigung zu ihrer Autonomie. »Autonomie heißt genau, dass grundsätzlich das Subjekt sich in Krisen selbstständig ohne Rückgriff auf fertige Routinen oder fertige Rationalitätsmaßstäbe entscheiden muss« (ebd.). Darüber hinaus ist drittens diese Autonomie nicht ohne die Gefahr des Scheiterns zu haben. Zu dieser dialektischen Einheit von Autonomie und Scheitern gehört weiter das Komplementärverhältnis von Risiko und Chance. Viertens stellt Oevermann fest, dass für das praktisch handelnde Subjekt die Routine den Normalfall bildet und die Krise den Ausnahmefall. Jedoch bildet für die strukturanalytische Wissenschaft die Krise den Normal- und die Routine den Ausnahmefall. An dieser Stelle setzt die objektive Hermeneutik methodisch an, indem sie durch extensive Sequenzanalysen die Krise als Normalfall unterstellt und die durch Erzeugungsregeln eröffneten Optionen expliziert, unter denen das Subjekt auswählen muss. Oevermann bemerkt, dass das Subjekt an den meisten dieser Sequenzstellen aufgrund von feststehenden Routinen »entscheidet« und damit die potenzielle Entscheidungskrise gar nicht bemerkt (ebd.: 8). Professionelles pädagogisches Handeln ist in diese widersprüchliche Lebenspraxis eingebunden. Es ist allerdings stellvertretendes Handeln bzw. eine stellvertretende Bearbeitung von Praxisfragen.21 Es zielt auf die Generierung oder Wiederherstellung der lebenspraktischen Autonomie, um sich selbst wieder überflüssig zu machen (vgl. Helsper u.a. 2001: 45). Dabei ist professionelles Handeln der gesell21 Vgl. dazu ausführlicher Kapitel 2.5, S. 79ff..
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schaftliche Ort der Vermittlung von Theorie und Praxis. Das heißt, das professionelle stellvertretende Handeln agiert unter Einbezug und unter den Bedingungen der verwissenschaftlichten Rationalität. Damit ist es der Versuch der wissenschaftlich zu begründenden Problemlösung in der Praxis. Da nun nach Oevermann das lebenspraktische Handeln selbst, wenn es nicht routiniertes Handeln bleibt und dadurch auch nicht autonom werden kann, nicht rational begründbar ist, stößt automatisch der Versuch der wissenschaftlich begründeten Praxis auf eine prinzipielle Problematik. Anschlussfähig sind an dieser Stelle die Überlegungen von Schütze zu den Handlungsparadoxien der Profession, die er über einen interpretativen, Sinn erschließenden Zugang gewinnt. Diese nach Schütze zahlreichen Grund- und Grenzprobleme sind nicht wirklich lösbar (Schütze 1999: 191). Vielmehr fordert er, dass sich der Professionelle offen mit den unaufhebbaren »Kernproblemen seines Arbeitsfeldes als Handlungsparadoxien« auseinandersetzt. Nur dann könne er die Fehlerquellen der Profession bewusst und wirksam kontrollieren (ebd.: 188). Die besondere Leistung Helspers besteht nun in der Zusammenführung der strukturtheoretischen Überlegungen Oevermanns mit den ausdifferenzierten professionellen Paradoxien von Schütze in einem Vier-Ebenen-Modell der Antinomien des Lehrerhandelns. In dieser theoretischen Rahmung sind dabei nicht nur die originär pädagogischen Antinomien aufgenommen wie z.B. die Autonomieantinomie, die in sich seit Kant (1983) die konstitutive Spannung von Autonomie und Heteronomie begreift. Vielmehr wird Helspers heuristisches Konzept darüber hinaus anschlussfähig an analytische Überlegungen zur fortschreitenden Zivilisierung und Modernisierung (Ebene vier), die als sich zuspitzende Widersprüchlichkeiten in das Sozialgeflecht Schule und die Handlungspraxis der Akteure einbrechen (vgl. Rumpf 2004: 373). Diese antinomischen Strukturen stellen für Helsper die Grundlage jeder spezifisch ausgeformten Schulkultur dar. »Die einzelnen Schulen, im Rahmen der kommunikativen und strategischen Handlungsvollzüge ihrer Akteure, bilden spezifisch ausgestaltete Strukturvarianten der Grundantinomien des pädagogischen Lehrerhandelns aus, in denen sich die nicht aufhebbaren, antinomischen Grundspannungen in einzelschulspezifisch ausgeformte Handlungsdilemmata auf der Ebene der symbolischen Ordnung der einzelnen Schule transformieren« (Helsper u.a. 2001: 65).
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Diese Notwendigkeit des Handelns der schulischen Akteure innerhalb mehrerer antinomischer Figuren führt zu einer »prekären Situierung« der Institution Schule (ebd.: 81), die zu paradoxen Verwicklungen führen kann. Die einzelnen Akteure können dabei von der Notwendigkeit des Handelns und damit der Entscheidung und Bewährung dieser Entscheidungen nicht entbunden werden. An dieser Stelle wird in der Studie zusätzlich die Figur des Mythos eingeführt. Denn eine Bewältigungsform real nicht aufhebbarer Widersprüche und Ambivalenzen ist, so die theoretische Rahmung, die Konstruktion von Schulmythen, die Ungewissheit und Unsicherheiten im alltäglichen pädagogischen Handeln imaginär überbrückt und die von ständigem Scheitern bedrohte professionelle Praxis als erfolgreiche entwirft (vgl. ebd.: 81). Hier wird insbesondere die Dynamik der Anerkennungs- und Ausschlussverhältnisse der jeweiligen Schule legitimiert und sinnstiftend begründet und damit letztendlich die symbolische Gewalt der Institution verdeckt. Solche Bewährungsmythen werden allerdings erst durch eine verbürgende Gemeinschaft zur überzeugenden Gewissheit (vgl. ebd.: 74). Empirisch bleibt der eine Schulmythos, der sich auf eine umfassende Verbürgung aller schulischen Akteure stützen kann, deshalb der idealtypische Grenzfall. Als Ergebnis der Studie wird diesbezüglich festgehalten, dass es an einer Schule immer einen dominanten Schulmythos als Ergebnis der kollektiven Auseinendersetzung der schulischen Akteure gibt, von dem sich Akteure mehr oder weniger stark auch durch die Entwicklung von oppositionellen Gegenentwürfen distanzieren können. Diese Mythenbildung – als imaginäre Überbrückung real nicht aufhebbarer Latenzen – kann ebenfalls mit der Widersprüchlichkeit der Lebenspraxis selbst begründet werden. Im Kontext fortschreitender Modernisierung, die verstärkt dazu führt, dass kollektive Verbürgungen sowie bewährte Entscheidungsgrundlagen verloren gehen und das Individuum, aber auch die Institutionen, zunehmend der Krisenhaftigkeit der Lebenspraxis selbst ausgesetzt werden, spitzt sich diese Bewährungsdynamik zunehmend zu. Für die konkreten Fälle der Schulkulturen der ostdeutschen Gymnasien wird in diesem Sinne als, allerdings noch riskantes, Ergebnis die Kontinuitätsthese bezüglich der Diskussion um die Transformation der Schullandschaft in Ostdeutschland gestärkt (vgl. ebd.: 565). Es wird herausgearbeitet, dass sich die gesellschaftlich-politischen Heilserwartungen der DDR-Gesellschaft, zu deren Verwirklichung insbesondere die Schule beitragen sollte, nach der Wende in der konkreten Ausformung von Schulmythen wiederfinden, die sozusagen Strukturvarianten von Heilsmythen darstellen. Das ehemals gesellschaftlich Imaginäre wird hier auf der Ebene der Einzelinstitution fortgeführt. Damit bleibt im Anschluss an die Studie aber auch die Frage offen, inwiefern die ausgearbeitete Theorie der Schulkultur auch für
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Schulkulturen westdeutscher Schulen gilt bzw. inwiefern zu Schulmythen westdeutscher Schulen Differenzen sichtbar werden. In Absehung von der besonderen Konstruktion des Schulmythos wird hinsichtlich der strukturellen Unterteilung von Schulkultur in die Ebenen des Realen, Symbolischen und Imaginären festgehalten, dass die Rekonstruktion der drei ostdeutschen Gymnasien zeigt, dass eine hinreichende Auseinandersetzung mit der Ebene des Realen, also den konstitutiven Antinomien und strukturellen Rahmungen pädagogischen Handelns, in der Schule nicht stattfindet. Stattdessen wird meist das Reale der Schule nach außen in ein gesellschaftlich Reales verlagert, damit also nicht als strukturelle Problematik der Schule, sondern als hereinbrechende bzw. draußen zu haltende gesellschaftliche Problematik ausgewiesen. Helsper spricht hier von einer Verkennung des schulischen Realen und der innerschulischen Strukturprobleme. Eine intensive Auseinandersetzung mit realen Problematiken wird stattdessen – und das ist eines der zentralen Ergebnisse der Studie – innerschulisch durch Imaginäres ersetzt, welches als verkennende Sinnkonstruktion die Strukturproblematiken der jeweiligen Institution als gelöst und bewältigt imaginiert (vgl. ebd.: 55). Gerade Schulen, die hohe und umfassende Ansprüche entwickeln, sind, indem sie versuchen, das Bild der gelingenden schulischen Programmatik zu schützen, besonders empfänglich für Verkennungen. Auf der anderen Seite geht die Ebene des Imaginären nicht in konkreten programmatischen Schulentwicklungskonzepten auf. Vielmehr wird von einem facettenreichen imaginären Horizont ausgegangen, in dem sich sowohl Konkretes, Hypothetisches als auch Mythisches empirisch nachweisen lässt. Die Bestimmung solcher imaginärer Horizonte sowie dominanter Schulmythen kann aufgrund der prinzipiell nicht aufhebbaren antinomischen Grundspannungen jedoch nicht in die Forderung nach einer Entmythisierung oder Entimaginisierung der Schulkultur einmünden. Gefordert ist vielmehr der reflexive Umgang mit den damit verbundenen Verkennungen (vgl. ebd.: 618). Das Forschungsprojekt ist methodisch rein qualitativ angelegt. Die Autoren selbst charakterisieren die Arbeit auf einer ersten Ebene – und damit insbesondere in Bezug auf die Auswahl und Erhebung des Materials – als ethnografische Studie, die sich allerdings hermeneutisch-rekonstruktiver Auswertungsverfahren bedient. Im Wesentlichen werden zentrale Institutionentexte (Gesamtkonferenzen, Reden, etc.) mit der Forschungsmethode der objektiven Hermeneutik rekonstruiert. So lässt sich ein Gerüst der Schulkultur in der Spannung zwischen Realem, Symbolischem und Imaginärem nachzeichnen. Im weiteren Verlauf werden dann Lehrerund Schülerinterviews narrationsstrukturell ausgewertet, um die unterschiedlichen Positionen im Feld der Schulkultur sowie die Ausprägungen bezüglich der unterschiedenen Dimensionen der Schulkultur auszudifferenzieren.
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1. Schulforschung als Schulkulturforschung
Die Studie überzeugt durch Komplexität und Genauigkeit. Es wird nicht nur die Schulkultur mehrebenenanalytisch erschlossen, sondern die Theoretisierung des schulkulturellen Falls wird zudem angebunden an allgemein modernisierungstheoretische Überlegungen. Darüber hinaus besteht die besondere pädagogische Relevanz der Untersuchung darin, dass herausgearbeitet werden konnte, dass unterschiedliche Schulkulturen den kulturellen Praxen in den unterschiedlichen Milieus spezifisch nahe stehen bzw. bestimmten Milieus die Anerkennung verweigern, dass aber diese spezifischen Anerkennungsstrukturen der Institution und den in ihr handelnden Akteuren nun gerade nicht hinreichend bewusst sind. Vermittelt über die Außenwirkung der jeweiligen Schulkultur findet eine profilbezogene Selektion statt. Für alle drei untersuchten Schulen konnte dieser schulkulturspezifische Habitus herausgearbeitet werden, dem jeweils ein »ideales Schülerselbst« entspricht (ebd.: 597). So tritt neben das Ideal individualisierten Leistungsstrebens, das in allen drei Gymnasien als Grundhabitus herausgearbeitet werden konnte, z.B. an einer neu gegründeten Gesamtschule ein hoher moralisch-ethischer Anspruch. Die spezifische Kultur der Schule »als Schule für alle« verlangt gerade von dem erfolgreichen Gymnasiasten gegenüber den Schülern der anderen Zweige, dass er seinen Erfolg nicht zur Schau stellt. Er soll »zurückhaltend, taktvoll und bescheiden sein«, um »soziale Emotionen von Neid, Rivalität, Eifersucht und Scham« aufseiten der schwächeren und unterlegenen Anderen zu vermeiden: ein »fürsorgeethisch gezähmter Erfolgsmensch« (ebd.: 597). Überzeugend wird schließlich herausgearbeitet, dass die Schulkulturen der einzelnen Schulen, indem sie einen spezifischen Schülerhabitus favorisieren, an die kulturellen Praktiken in ganz bestimmten Milieuzusammenhängen anschlussfähig werden. Es bilden sich »Institutionen-Milieu-Komplexe« (ebd.: 601). Die Forschergruppe geht dabei so weit, dass sie im Rekurs auf Studien, die die unterschiedlichen Milieus für West und Ostdeutschland differenzieren (Vester u.a. 2001; Hradil 1999), konkrete Milieubindungen für die einzelnen Schulen herausarbeiten. So ist das ideale Schülerselbst des ›fürsorgeethisch gezähmten Erfolgsmenschen‹ der Gesamtschule insbesondere anschlussfähig an die mittleren Milieus der Nachwendegesellschaft, »die entweder von Abstieg und Desintegration bedroht um ihren Statuserhalt kämpfen oder um Aufstieg in den sozialen Differenzierungsprozessen der Nachwendegesellschaft bemüht sind« (Helsper u.a. 2001: 600). Trotz des Umfangs der Studie ist jedoch auch die empirische Reichweite dieses Forschungsprojektes begrenzt. Die Begrenzung ergibt sich im Wesentlichen aus der Auswahl der drei Schulen, deren Schulkulturen Gegenstand der Rekonstruktionen wurden. Die Konzentration auf ostdeutsche Gymnasien lässt die Frage offen, ob der empirisch rekonstruktiv untermauerte Entwurf der Schulkultur sich auch bezo-
1.4 Schulkulturentwicklung als Schulprogrammentwicklung
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gen auf andere Schulformen und Arten in differenten sozialräumlichen Umgebungen bewährt. Insofern sprechen die Autoren selbst noch von einer »Theorie auf dem Prüfstand, die einer weiteren Ausdifferenzierung und Modifikation harrt« (ebd.: 551). In dem kurz gehaltenen Durchgang durch die zentralen Aussagen und Ergebnisse des Projektes dürfte außerdem deutlich geworden sein, dass diese Art von Schulportraitforschung, die sich methodisch durchaus in der Tradition ethnografischer Schulfallforschung verortet, nicht die Erwartungen an Praxis bzw. Fallnähe erfüllt, die teilweise an Schulfallstudien gestellt werden. Rezeptionsbarrieren zwischen Theorie und Praxis werden hier nicht abgebaut (vgl. dazu Horstkemper/Tillmann 2004: 317), ebenso wenig wird aber auch die Praxis unter den theoretischen Entwurf subsumiert. Vielmehr werden intensiv »Erfahrungswelten eingeholt« (Rumpf 2004: 376), rekonstruiert und auf Theoriegenerierung hin strukturiert. Die Studie generiert damit als erste überhaupt den Entwurf einer Theorie der Schulkultur, der mit der vorliegenden Arbeit über eine kunstbetonte Schule aufgegriffen werden soll.
1.4 Schulkulturentwicklung als Schulprogrammentwicklung Es gibt im Kontext der Schulentwicklungsbewegung nun ein zentrales Instrument, das im Wesentlichen auf die Einzelschule und die Entwicklung ihrer Schulkultur abzielt. Das ist das Schulprogramm. Der Gestaltungsspielraum, der es der Einzelschule ermöglichen soll, entsprechend ihren spezifischen Ressourcen und speziellen Bedingungslagen adäquat zu handeln, wird durch die Erstellung eines Schulprogramms strukturiert. Es erfüllt damit zum einen die Aufgabe, ein von der Einzelschule ausgearbeitetes Programm zu sein, an welchem sich die schulischen Akteure abarbeiten und orientieren können, das gleichzeitig auch für Zwecke der Werbung und Legitimation(sbeschaffung) hilfreich ist.22 Zum anderen wird anhand des Programms der Einzelschule auch der der Schule zugestandene Raum und der dort statthabende Prozess für die Schulaufsichtsbehörden transparent und überprüfbar. Länderübergreifend werden von Gruschka u.a. (2003) die folgenden sechs Arbeitsschritte herausgearbeitet, auf die die Schulen in der Erstellung eines Schulprogramms Bezug nehmen sollten: (1) Zunächst besteht die Aufgabe der Schule darin, eine Ist-Analyse durchzuführen. Gefordert ist dabei nicht nur eine Beschreibung des Bestands. Die Analyse zielt auf die Vergegenwärtigung der Situation der Schule unter problematisierungswürdigen Aspekten (vgl. ebd.: 172). Nur eine solche 22 Dies gilt z.B. hinsichtlich der Abgrenzung gegenüber anderen Schulen.
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1. Schulforschung als Schulkulturforschung
analytische Vorbereitung des Programms liefert eine solide Grundlage für mögliche und notwendige Entwicklungsschritte. Die Schulen sind außerdem aufgefordert, (2) sich über gemeinsame Ziele zu verständigen. Diese sind Ausdruck des noch Nicht-Erreichten und damit als erstrebenswert ausgewiesen. Diese übergeordnete Zielbestimmung zielt auf die »Aktivierung des pädagogischen Geistes«; dieser wird ausgedrückt in der Formulierung von Leitbildern, Motti, etc. und soll für die Weiterentwicklung der Schule Maßstäbe setzen, an denen sich insbesondere auch der Einsatz der Mittel orientiert. Die etablierten Ziele erhalten einen Verpflichtungscharakter (ebd.). Insbesondere sollen die Schulen dabei (3) über die Anforderungen und Möglichkeiten reflektieren, die durch das schulische Umfeld und die spezifische Schülerschaft in die Schule hineinwirken. An zentraler Stelle wird damit gefordert, dass die Schulen sich gegenüber ihrem Umfeld öffnen und beginnen, sich als »Problemlöseschulen« zu verstehen. Inkludiert sind auch die Probleme, die durch eine z.B. räumliche oder personelle Situierung das Arbeiten in der Schule beeinflussen (ebd.: 172f.). Schließlich sind die Schulen aufgefordert, (4) konkrete Maßnahmen bezüglich ihrer Weiterentwicklung im Hinblick auf die Zielformulierungen zu beschreiben. In den Ländern, die bereits den Auftrag zu systematischer Schulentwicklung erteilt haben, sind diese erforderlichen Maßnahmen allerdings nicht normativ gerahmt oder vorgegeben, was im Kontrast steht zu den vielfältigen programmatischen Veröffentlichungen, in denen unermüdlich Gelingensbedingungen für die »gute Schule« formuliert werden. Betont wird jedoch, dass die Maßnahmen exemplarischen Charakter für die ganze Schule haben sollen und insbesondere der Unterricht als »Kern« der Institution in die zielbezogene Weiterentwicklung mit einbezogen werden muss (ebd.: 173). Soll die Schule sich verändern, dann geht das natürlich nicht ohne die Beteiligung der schulischen Akteure. Dieses Engagement ist jedoch nicht mehr über herkömmliche Führungsstrukturen der Anweisung und Verwaltung zu etablieren. Insofern wird es für die einzelne Schule notwendig, (5) eine der Aufgabe angemessene Form der Zusammenarbeit und Beteiligung zu finden. Diese soziale Organisation der Schulprogrammarbeit kann ganz unterschiedlich verstanden und ins Werk gesetzt werden (vgl. ebd.). Der Prozess der schulprogrammbezogenen Entwicklungsarbeit zielt auf die Entwicklung der Schulkultur, bezogen auf die Steigerung der Qualität der Einzelschule. Insofern sind die finalen im Schulprogramm zu bearbeitenden Schritte die Überlegungen bezüglich der Überprüfung von Zielerfüllung und Zielverfehlung. Die Schulen sind angehalten, (6) sich über geeignete Formen der Evaluation der Wirkungen der Schulprogrammarbeit zu verständigen. Dadurch soll bei den Akteuren nicht
1.4 Schulkulturentwicklung als Schulprogrammentwicklung
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nur ein Qualitätsbewusstsein entstehen, sondern auch eine reflexive Entwicklung des Bewertungsverhaltens erreicht werden (vgl. ebd.: 174). Die Schulprogrammarbeit als Reformpraxis ist nicht unbedingt eine Erfindung der neueren Schulentwicklungsbewegung. Modell- und Alternativschulen erarbeiten traditionell spezifische Programmatiken. Neu ist jedoch die schulpolitische Bedeutung, die diesem Entwicklungsinstrument in den letzten Jahrzehnten zugeschrieben wurde. So bestehen zwar zwischen den einzelnen Ländern Unterschiede in der Verankerung der Aufgabe für die Einzelschule, ein Schulprogramm zu erstellen, es handelt sich aber dennoch um die quantitativ größte Reformmaßnahme der letzten Jahrzehnte (vgl. ebd.: 12). Damit ist eine rasante Entwicklung hinsichtlich der administrativen Forderung nach der Erarbeitung von Schulprogrammen festzustellen, die einerseits flankiert wird von organisatorischen Unterstützungsmaßnahmen für die Einzelschule, die sich andererseits aber einer Fülle von Veröffentlichungen bezüglich inhaltlicher Gestaltungsvorschläge von Schulprogrammen gegenübersieht. Somit ist bis heute eine Vielfalt an schulprogrammatischen Ansätzen entstanden (vgl. Stern 1999; Holtappels 2004), die sich allerdings kaum oder nur ansatzweise auf empirisch-analytische Forschung stützen können. Das bedeutet, dass sich die administrativ eingeforderten Veränderungsprozesse bezüglich des Schulprogramms weitgehend ohne wissenschaftliche Begleitung vollziehen. Zwar existiert inzwischen eine Reihe von Sammelbänden, in denen Lehrer und Moderatoren als Einzelfallbeschreibung über ihre Erfahrungen mit Schulentwicklungsprozessen berichten. »Fallstudien, in denen versucht wird, systematisch die Effekte von Schulprogrammarbeit zu erschließen, bleiben Desiderat«23 (Gruschka u.a. 2003: 17). Ein Forschungsprojekt, das gezielt Schulprogrammarbeit in den Blick nimmt, ist die Studie »Innere Schulreform durch Kriseninduktion« von Gruschka u.a. (2003). Die Forschergruppe beschäftigt sich allerdings gezielt mit der Problematik der »verordneten Schulprogrammarbeit« (ebd.: 59f.). Denn trotz der Intention, durch die Methode der Schulprogrammentwicklung eine Reformmaßnahme von ›unten‹ einzuführen, kommt der Auftrag für die Schulen, an einem Programm zu arbeiten,
23 Ergebnisse liegen vor zu Einstellungen und Erwartungen, die mit Schulprogrammarbeit verknüpft werden (Schlömerkemper 1999), zu Formen der Schulprogrammarbeit, die u.a. Spannungsfelder offen legen (Arnold/Bastian/Reh 2000; Haenisch 1998), sowie zu in Schulprogrammen festgeschriebenen Inhalten (Ministerium für Bildung 1998; Weiß/Steinert 2001). Eine Evaluationsstudie des Landes Nordrhein-Westfalen zur Schulprogrammarbeit kann zudem zwar die Entwicklungswirkung der gemeinsamen Arbeit an einem Schulprogramm bestätigen, Erhebungen zu Effekten dieser Arbeit für Unterrichts- und Erziehungsprozesse zeigen allerdings, dass die Inhalte der Schulprogramme oft noch nicht in den Schulalltag integriert sind (Burkard/Kanders 2002).
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1. Schulforschung als Schulkulturforschung
weiterhin von ›oben‹. Die Autoren fragen entsprechend, ob die Schulen über die Schulprogrammarbeit tatsächlich in einen Transformationsprozess geraten oder ob die Schulprogramme trotz Verschriftlichung bewährte Routinen fortsetzen. Hinzugezogen werden darüber hinaus die Anweisungen der Gesetzgeber und der Ministerien sowie die Ebene der Umsetzung durch die Schulaufsicht und der Beratung, um dadurch einen analytischen Mehrebenenzusammenhang bezüglich der Wirkungen verordneter Schulprogrammarbeit in den Blick nehmen zu können. Die Forscher arbeiten interessanterweise auch mit dem heuristischen Modell der Krise und der Routine. Methodisch wird danach gefragt, an welchen Stellen die administrative Kriseninduktion tatsächlich auch zu einer Krise und damit zu einer Veränderung der Schulkultur führt. Entsprechend werden auch in diesem Projekt die Texte der administrativen Ebene und die Schulprogramme, die als Datenmaterial dienen, mittels der objektiven Hermeneutik rekonstruiert. Erste Ergebnisse weisen darauf hin, dass viele Schulen auf den Krisenimpuls mithilfe schulischer Routinen antworten. In dem kompletten Sample der Untersuchung wurde darüber hinaus keine Schule gefunden, die in ihrem Schulprogramm alle sechs Schritte vollständig und sinngemäß ausführt (ebd.: 118). Die Studie liefert damit interessante Erkenntnisse über die Reaktionsformen der Schulen auf die verordnete Schulprogrammarbeit. Anschlussfähig und damit ein Desiderat bleibt die Frage, inwiefern nun aber Schulprogramme, durch die die Schule tatsächlich in eine Krise der Neubestimmung gerät, auf die Schulkultur der Einzelschule wirken. Diesbezüglich kann angenommen werden, dass spezifische inhaltliche Ziel- und Maßnahmenbestimmungen sich auch unterschiedlich auf die einzelne Schulkultur auswirken. Hierzu findet sich wiederum bei Helsper u.a. eine strukturtheoretische Rahmung der Bedeutung von Schulprogrammentwicklung für die Schulkultur der Einzelschule, wenn das Programm denn tatsächlich beginnt, auf die Kultur der Schule Einfluss zu nehmen und nicht bereits vorher durch den Rückgriff auf bewährte Routinen in ihrer Entwicklungswirkung stecken bleibt. Sie verorten das Schulprogramm auf der Ebene des Imaginären und betonen, dass die herausgearbeitete Bewährungsproblematik der Einzelschule durch die Ausarbeitung eines Schulprogramms zusätzlich zugespitzt wird (vgl. Helsper u.a. 2001: 86; Helsper/Böhme 1998). Denn in Schulprogrammen werden insbesondere pädagogische und organisatorische Ziele und Orientierungsmarken formuliert sowie Mittel und Wege, diese zu erreichen. Durch diese meist idealen oder zu mindest in die Zukunft gerichteten Formulierungen werden sowohl die Qualität als auch die Quantität der Ansprüche an Schule noch gesteigert. Die ohnehin schon immensen Begründungs- und Legitimationsnotwendigkeiten schulischen Handelns wachsen. Da die grundlegenden Antinomien dabei fortbestehen, führt die beträchtlichere Ansprüchlichkeit zu einer
1.5 Schulkulturelle Bildungsräume
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Steigerung der Bewährungsdynamik mit der Folge erhöhter Scheiternsrisiken. Dadurch wird die mythologisierende Überbrückung zwischen Anspruch, Aufgabe und Möglichkeiten zusätzlich herausgefordert (vgl. Helsper u.a. 2001: 87). Anschlussfähig ist daran eine Aufmerksamkeitsrichtung, die sich mit der konkreten Ausrichtung einer Programmatik intensiver beschäftigt. Welche Bedeutung hat es für die Schule hinsichtlich der beschriebenen Bewährungsproblematik, dass sie mit einem spezifischen, inhaltlich ausdefinierten Schulprogramm institutionell arbeitet und agiert? Es ist möglich, dass die Arbeit mit einem Schulprogramm nicht allein aufgrund der Profilierung an sich zu einer Verschärfung der Antinomien pädagogisch-professionellen Handelns führt, sondern dass insbesondere die inhaltliche Schwerpunktsetzung charakteristische Verschiebungen und Zuspitzungen oder Entlastungen innerhalb aller beschriebenen Ebenen professionellen Handelns zur Folge hat, die, natürlich auch positiv, als reflexive Arbeit an Schulkultur wirken können.
1.5 Schulkulturelle Bildungsräume Wenn empirisch nachgewiesen werden kann, dass Einzelschulen spezifische Kulturen ausbilden, die ihren Ausdruck auch in der möglichen Konkretisierung eines »idealen Schülerselbst« finden, dann kann gleichsam geschlussfolgert werden, dass schulprogrammatische Entwicklungen, die in die symbolische Ordnung der Einzelschule eingehen, aufzuzeigende Folgen für die Ausprägung jener Anerkennungskultur haben können (vgl. Kramer 2002: 317). Die Analogisierung zwischen Schulkultur und Milieukultur bzw. milieuspezifischem Habitus greift dabei jedoch zu kurz, denn darüber hinaus muss immer die Frage gestellt werden, ob und wie diese schulisch imaginären Entwürfe des idealen Schülerselbst »relativiert, gebrochen und in verschiedenen Formen durch die Akteure (insbesondere die Schüler S.B.) redefiniert« (Helsper u.a. 2001: 601) werden. Die hypothetische Konstruktion von Passungsverhältnissen reicht als Erklärungsansatz dafür, welche Schulkulturen spezifischen Schülern schulische Lern- und Bildungsräume eröffnen, also nicht aus, da so die individuellen Auseinandersetzungen mit der dominanten Schulkultur nicht eingeholt werden können.24 Die Frage danach, welche individuellen Lern- und Bildungsräume eine Schule ihren Schülern eröffnet, die mit einem kunstbetonten
24 Helsper u.a (2001: 604) weisen außerdem darauf hin, dass die jeweiligen Schulkulturen kleine »geschlossenen homogenen Räume« darstellen, sondern natürlich weiterhin in Prozesse der Auseinandersetzungen und mögliche Transformationen eingebunden sind, was dementsprechend auch für das ideale Schülerselbst zutrifft.
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1. Schulforschung als Schulkulturforschung
Schulprogramm arbeitet, bedarf aus diesem Grund der »zweiseitigen Rekonstruktion« (Helsper/Bertram 1999: 268f.): die Erschließung der institutionellen Strukturen sowie die Analyse von Schülerlebensgeschichten und deren Vermittlung (vgl. dazu auch Grundmann u.a. 2006: 249). Forschungsarbeiten, die die Zusammenhänge zwischen individuellen Schulkarrieren und deren institutionellen einzelschulspezifischen Bedingungen in den Blick nehmen, sind gegenwärtig aufgrund ihres Anschlusses an den Diskurs um den Zusammenhang zwischen Bildung und sozialer Ungleichheit hoch bedeutsam. Normativ geht es dabei nach wie vor um die Gewährung von Chancengleichheit und damit im »Spannungsfeld von gesellschaftlich vorgegebenen (externen) Ungleichheitsstrukturen und innerhalb des Bildungssystems (›selbst‹-)erzeugten Ungleichheiten« (Büchner 2003: 7) um die Begründung und Durchsetzung geeigneter Maßnahmen zum Abbau ungleicher Bildungschancen (vgl. ebd.). Die Ergebnisse der PISAStudie haben jüngst den nach wie vor »straffen Zusammenhang zwischen erworbenen Kompetenzen und Sozialschichtzugehörigkeit belegt« (Deutsches PISAKonsortium 2001: 372). Deutschland gehört zudem im internationalen Vergleich zu den Ländern, in denen die engste Kopplung von sozialer Herkunft und Kompetenzerwerb nachweisbar ist. Eine Risikogruppenzugehörigkeit ist bedingt durch die soziale Herkunft, das Bildungsniveau des Elternhauses, die Zuwanderungsgeschichte der Familie25 und das (männliche) Geschlecht (vgl. ebd.: 402). Trotz der zwischenzeitlichen Ungleichheitsvergessenheit26 (vgl. Büchner 2003: 7; Grundmann u.a. 2003: 25) haben damit die Thesen von Bourdieu zur Verortung von Bildung im sozialen Raum Bestand (vgl. Busse/Helsper 2004: 445). Das Bildungssystem ist demnach nicht unabhängig gegenüber dem System der sozialen Milieus, denn nach Bourdieu resultiert jede »Einzelentscheidung, durch die sich ein Kind vom weiteren Bildungserfolg ausschließt oder in einen aussichtslosen Zweig relegieren lässt […], selbst wenn sie durch den Druck innerer Berufung oder die Feststellung unzureichender Befähigung erzwungen scheint, aus der Gesamtheit der objektiven Relatio-
25 Für die Autoren der PISA-Studie ist ein niedriges Kompetenzniveau von Kindern mit Migrationshintergrund vor allem auf eine unzureichende Beherrschung der Verkehrssprache zurückzuführen. Insbesondere die frühe Selektion im deutschen Schulsystem verhindert hier längerfristige sprachkompetenzbezogene Interventionen. Andere Studien weisen allerdings ergänzend darauf hin, dass den Bildungsaspirationen der Herkunftsfamilie auch in Migrantenfamilien eine große Bedeutung zukommt (Nauck 1994). Darüber hinaus zeigen die Ergebnisse von Hummrich (2002, 2002a), dass der Bildungserfolg junger Migrantinnen eher gegen das Bildungssystem als gegen das Elternhaus erbracht wird, das auch als Initiator von Transformation auftreten kann. 26 Diese Ungleichheitsvergessenheit kann in einen Zusammenhang mit den Thesen des Zerfalls der sozialen Milieus in der postindustriellen Wissensgesellschaft gebracht werden (Beck/Giddens/Lash; Beck 1986). Dagegen können Vester u.a. in einer umfangreichen Studie für West- und Ostdeutschland die durchgängige Stabilität der Klassenkulturen belegen (Vester u.a. 2001).
1.5 Schulkulturelle Bildungsräume
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nen zwischen sozialer Klasse und Bildungssystem« (Bourdieu/Passeron 1971: 178). Ausschlaggebend für einen gelingenden Verbleib im Bildungssystem, der in modernen Gesellschaften eng gekoppelt ist mit einem möglichen Aufstieg durch Bildung, ist nach den Studien von Bourdieu der im Kontext familiärer Milieus ausgebildete Habitus und speziell die »Einstellung« zu Bildung, die die Chancen beeinflusst, eine bestimmte Schule zu besuchen, ihre Normen zu übernehmen und darin erfolgreich zu sein (vgl. ebd.). Dazu scheinen aber nun nur jene privilegierten oberen Milieus in besonderer Weise in der Lage zu sein, in denen diese spezifische »Einstellung« bereits innerhalb einer frühen familialen Sozialisation vermittelt wird: »Da das [Bildungs-]System nicht explizit liefert, was es verlangt, verlangt es implizit, dass seine Schüler bereits besitzen, was es nicht liefert: eine Sprache und Kultur, die außerhalb der Schule durch unmerkliche Familiarisierung gleichzeitig mit der entscheidenden Einstellung zu Sprache und Kultur ausschließlich auf diese Weise erworben werden kann. Da es eine Form des Lehrens und Lernens perpetuiert, die in ihrer Pädagogik und teilweise auch in ihren Inhalten kaum von der Familienerziehung abweicht, bietet es eine Art der Bildung und des Wissens, die nur denen wirklich zugänglich ist, welche die implizit vorausgesetzte Bildung bereits besitzen« (ebd.: 126). Die Paradoxie liegt darin, dass das Bildungssystem jene Einstellung anerkennt, die hervorzubringen es selbst nicht in der Lage ist – von Bourdieu/Passeron beschrieben als der Habitus des »Dilettantismus« (ebd.: 73), der die Illusion des Lernens als Selbstzweck aufrechterhält und den Durchlauf des Bildungssystems als intellektuelles Abenteuer begreift. Demgegenüber verurteilt die Institution jede zweckgerichtete Einstellung zur Bildung, die auf Rationalisierung und Qualifikation dringt: »Es ist nur scheinbar paradox, dass die Wahrheit der Schulbildung gerade außerhalb ihres eigenen Bereichs am deutlichsten zum Ausdruck kommt. In den am wenigsten schulmäßigen Reden der von Schulzwängen am besten emanzipierten Intellektuellen zeigt sich jene selbstgefällige Einstellung zur Kultur, welche von einem Bildungssystem gefördert und anerkannt wird, das aufgrund seiner Abhängigkeit verurteilt ist, seinerseits all das verächtlich zu machen, was schulmäßig wirkt, angefangen von der schulmäßigen Einstellung zur Bildung« (ebd.: 121). Wenn Subjekte hier bestehen wollen, ist es nach Bourdieu ihre Aufgabe, vor allem die Fiktion nicht zu widerlegen, dass sie verstanden haben, was der Lehrer lehrt.
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1. Schulforschung als Schulkulturforschung
»Würden sie zugeben, dass sie nicht, oder nur halb verstehen, müssten sie darauf verzichten sich selbst in dem schmeichelhaften Licht jenes Sein-Sollens zu sehen […] [, das] die guten Schüler auch tatsächlich zu erreichen scheinen«27 (ebd.: 107). Die soziale Lage ist in den unterschiedlichen Milieus also an spezifische Habitusformationen gekoppelt, die von den Kindern bereits vor Schuleintritt und damit in der Familie und der primären Sozialisation erworben werden. Empirische Studien zeigen jedoch, dass sich die Vermittlung des Habitus nicht bruchlos gestaltet (Kramer 2002: 315; Herzberg 2004, 2005; Ecarius 1996). So müssen auch die Einflüsse anderer Sozialisationsinstanzen – der Peers, der Eltern-Kind-Interaktion, der elterlichen schulischen Unterstützungsleistungen und der schulischen Mikroprozesse – in die Forschung einbezogen werden (vgl. Busse/Helsper 2004: 445). Kramer zeigt in seinen Rekonstruktionen zur Schulkultur und SchülerBiografie, dass das Kind im Individuationsprozess zwar auf den elterlichen Habitus bezogen bleibt, aber in Einzeldimensionen auch andere habituelle Orientierungen ausbilden kann (vgl. Kramer 2002: 315). Passungsvarianten zwischen SchülerBiografie und Schulkultur gehen damit über hypothetisch zu rekonstruierende Verhältnisse von Milieu und Schulkultur hinaus, da sie zum einen von der konkreten SchülerBiografie und zum anderen von der spezifischen Schulkultur konstituiert werden, deren Vielfalt durch schulische Profilierungsprozesse noch angeregt wird (vgl. ebd.: 317). »Jede Schule [hat] zwangsweise ihre spezifische Schulkultur – und darin eine dominante Habitusformation –, mit der sie unterschiedlich abweisend oder bestätigend auf verschiedene Biographien und familiale Kontexte wirkt. Um diese Wirkung des einzelschulischen Habitus auszuschließen, wäre die Institution selbst aufzulösen« (ebd.: 319). Andererseits muss hier die weiterführende Frage anschließen, ob es einer Schule durch ihre Arbeit auf der Grundlage eines Schulprogramms – wie im vorliegenden Fall intendiert – gelingen kann, aktiv eine Bindung zu einer spezifischen Schülerklientel und deren Milieuzugehörigkeit herzustellen. Weiterführend sind hier wiederum Forschungsarbeiten zur Bildungssoziologie, die betonen, dass Kinder aus unterschiedlichen Milieus nicht defizitäre, sondern lediglich differente Wissensformen erwerben, die wiederum unterschiedlich anschlussfähig an schulische Lern- und Bildungsräume sind. Grundmann u.a. bezeichnen diese Kompetenzdifferenzen mit dem Begriff der »milieuspezifischen Handlungsbefähigung«. Differente Milieus bilden demnach, angepasst an ihre spezifischen Bedingungen, individuelle Kompetenzen sowie Handlungsmuster aus, die von der Forschergruppe auch als lebensweltlich optimierte Bildungsstrategien bezeichnet werden (Grundmann u.a. 2003: 27, 35; Grundmann u.a. 2006: 43). Die Komplexität erlangter Dispositionen und Mentalitäten ist dabei in allen Milieus vergleichbar, unterscheidet sich aber 27 Bourdieu/Passeron sprechen hier von einem nicht vorhandenen »Recht auf Verständnis« (ebd.: 107).
1.6 Zusammenfassung: Theoretische und empirische Positionierung
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bezüglich der Nähe bzw. Distanz zu den dominanten schulischen Wissensformen und Verhaltensweisen (vgl. Grundmann u.a. 2006: 47). Das heißt, dass nicht der Mangel an Bildung, sondern die qualitativ ganz andere Bildung, die benachteiligte Milieus erfahren, den »Versuchen einer kompensatorischen – und kolonialisierenden – Erziehung so zähe Widerstände« leistet (Grundmann u.a. 2003: 40). Zur Überwindung der engen Koppelung zwischen sozialer Lage und Bildungserfolg wird eine schulische Inwertsetzung milieuspezifischer Wissensbestände gefordert, um individuelle Wirksamkeitserfahrungen auch innerhalb der Schule möglich zu machen. Die Vermittlung von Wirksamkeitserfahrungen ist nach Grundmann u.a. im Leistungskontext der Schule an die Fähigkeit gekoppelt, den jeweiligen (Leistungs-)Erwartungen zu entsprechen (»kann ich leisten, was von mir als Person verlangt wird«) (Grundmann u.a. 2006: 61). Ist dies nicht der Fall, kann die fehlende Erfahrung von Handlungswirksamkeit als persönliches Defizit gewertet werden, woraus wiederum eine Einschränkung von Entwicklungsmöglichkeiten resultieren kann (vgl. ebd.: 60). Um solchen, bei schulbildungsfernen Milieus wahrscheinlichen, Erfahrungen im schulkulturellen Raum entgegenzuwirken, fordert die Forschergruppe die »Akzeptanz und Anerkennung der lebensweltlichen Praktikabilität auch solcher milieuspezifischen Handlungsbefähigungen […], die im institutionalisierten Bildungswesen bislang keine Anerkennung erfahren« (Grundmann u.a. 2003: 41).
1.6 Zusammenfassung: Theoretische und empirische Positionierung Unter Berücksichtigung der vorstehenden Ausführungen versteht sich die vorliegende Studie als ein Beitrag zur Schulportraitforschung im Kontext aktueller Schulentwicklungsmaßnahmen im Horizont einer allgemeinpädagogischen Fragestellung nach den Möglichkeiten und Grenzen einer Verbindung von Pädagogik und Ästhetik. Die konkretisierte Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen des kunstbetonten Arbeitens an einer Regelschule wird fokussiert auf die Rekonstruktion der spezifischen Schulkultur einer kunstbetonten Schule. Damit stellt die Arbeit den als Desiderat markierten Zusammenhang zwischen der besonderen inhaltlichen Profilierung einer Schule und den damit mutmaßlich einhergehenden Veränderungen der Schulkultur der Einzelschule respektive der Niederschläge bezüglich der spezifischen Anerkennungskultur und einer evtl. milieuspezifischen Öffnung bzw. Schießung von schulischen Lern- und Bildungsräumen in das Zentrum des Forschungsinteresses. Bereits bei den ersten Erkundungen im Forschungsfeld wurde deutlich, dass trotz des preisgekrönten kunstbetonten Schulprogramms keine einheitliche Orientierung
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1. Schulforschung als Schulkulturforschung
der verschiedenen schulischen Akteure an diesem festzustellen war. Es war also schnell klar, dass nicht eine ungebrochen gelingende pädagogische und organisatorische Schulprogrammarbeit vorausgesetzt werden konnte, was die Möglichkeit eröffnet hätte, direkt die Auswirkungen des kunstbetonten Arbeitens auf das Lehren und Lernen in der Schule in den Blick zu nehmen. Vielmehr stellte sich die Frage, was das kunstbetonte Schulprogramm denn nun für die Institution und die in dieser handelnden schulischen Akteure (Lehrer, Schüler, Eltern u.v.m.) bedeutet – wie die Kunst in der Schule erscheint. Aufgrund dieser Vorerfahrungen wurde angenommen, dass auch an dieser Schule nicht von einem konsensuellen Arbeiten an und mit der Kunstbetonung ausgegangen werden kann, sondern dass das Pogramm als solches auf einer Ebene des Idealen bzw. Imaginären anzusiedeln ist und sich in seinen Zielsetzungen sowie Operationalisierungsstrategien deutlich von der alltäglichen schulischen Praxis als symbolischem Niederschlag institutionellen Handelns unterscheidet. In der vorliegenden Arbeit werden damit die Bestimmungen einer Theorie der Schulkultur von Helsper u.a. aufgegriffen und im Hinblick auf die Frage nach einer schulprogrammbezogenen Modifikation von Schulkultur weiterentwickelt. Angelegt als ethnografisch-analytische Einzelfallstudie umgeht die Arbeit die methodischen und inhaltlichen Normativitätsfallen. Zum einen werden keine Orientierungsmarken für »gute Schulen« als Analyseraster angelegt, zum anderen werden Versprechungen bezüglich einer gelingenden Verbindung von Pädagogik und Ästhetik nicht präskriptiv auf die kunstbetonte Schulprofilierung übertragen. Intendiert ist mit diesem Vorgehen eine Theoriegenerierung hinsichtlich der Verbindung von Kunst und Schule im Kontext von Schulprogrammentwicklungen. Die Studie ist damit nicht nur anschlussfähig an die aktuell als Einzelfallforschung angelegte Schulforschung, sondern auch an Fragestellungen aus der Allgemeinen Pädagogik hinsichtlich der Möglichkeiten und Grenzen für ästhetische Bildung und Erziehung in festen institutionellen Kontexten. Dazu wird es im Folgenden notwendig, sowohl eine heuristische Rahmung bezüglich der möglichen Verbindungen von Kunst und Schule zu entfalten als auch ein entsprechendes methodisches Vorgehen zu entwickeln, bevor die Analyse des empirischen Materials erfolgen kann.
2. Kunst und Schulkultur In den nachstehenden Abschnitten wird der erkenntnistheoretische Horizont bezüglich der inhaltlichen Dimension einer sich als »kunstbetont« verstehenden Schulprofilierung eingeholt. Ausgehend von dem Begriff der Kunst, der innerhalb der Bezeichnung des Profils die wesentliche Bestimmung der konkreten inhaltlichen Ausgestaltung vorgibt, gehen die folgenden theoretischen Rahmungen zunächst von der Frage aus, was gemeint sein kann, wenn von Kunst bzw. Kunstbetonung die Rede ist, wie eine Verbindung von Kunst und Pädagogik vor allem in Bezug auf die Grundschule theoretisch zu begründen und zu legitimieren ist und in welcher Weise eine solche inhaltliche Ausrichtung ihre Spuren innerhalb dessen hinterlassen könnte, was die Schulkultur der Einzelschule genannt wird. Die zunächst unabhängig erarbeiteten empirischen Ergebnisse der Schulkulturanalyse und der Schülerpositionen können dann, neben der Konturierung ihrer spezifischen Ausdrucksgestalt, vor einer solchen Heuristik der Kunst, der ästhetischen Erfahrung und der ästhetischen Bildung, daraufhin geprüft werden, in welcher Form die Kunst und die ihr zugeordnete Erfahrung innerhalb der schulkulturellen Ausdrucksgestalt und der zu rekonstruierenden Passungsverhältnisse erscheint und welche spezifische Bedeutung sie erlangt.
2.1 Kunst und ästhetische Erfahrung Kunst ist immer mit der Frage verbunden, was als Kunst gilt und was nicht. Mit dieser Frage beginnt Bertram (2005) sein philosophisches Gespräch über die Frage »Was ist Kunst« (ebd.: 20). Die Auseinandersetzung mit Kunst bedarf aus diesem Grund immer einer Verständigungsarbeit, denn das, was die Kunst auszeichnet, sei ihre fehlende »Selbstverständlichkeit« (ebd.: 113). Die philosophische Disziplin, die sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts mit solchen Fragen der Kunst befasst, ist die von Baumgarten (1735/1983, 1750/2007) begründete ›Ästhetik‹. Historisch betrachtet ist die Entstehung dieser neuen Wissenschaft nach J. Ritter eine Reaktion auf die Kritik eines sich verändernden
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2. Kunst und Schulkultur
künstlerischen Selbstverständnisses an einem Rationalismus, der im Zusammenhang mit der Aufklärung das Subjekt zunehmend über seine geistigen Vermögen definiert (vgl. Ritter 1971: 556; Szczepanski 2006: [1]). Innerhalb dieses historisch-wissenschaftlichen Prozesses wird zunächst versucht, die Ästhetik – reduziert auf eine Wissenschaft von der sinnlichen Erkenntnis – in das System der Philosophie hineinzuholen und so die eigentlich widerstreitenden Kräfte miteinander zu verbinden. Diese Aussöhnung gelingt jedoch nicht. Die Kunst löst sich letztendlich aus einer solchen philosophischen Begründung und gewinnt ihre Legitimation als spezifische Ausdrucksform von nun an aus sich selbst heraus. Daneben entwickelt sich im Anschluss an Winckelmann (1764/1972) die wissenschaftliche Kunstgeschichte, die diese Form künstlerischer Symbolisierung zunächst historisch bestimmt und ihre besondere Entwicklung verfolgt. Dieser Prozess der gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Autonomisierung der Kunst gehört, nach Ritter, in die geistige und politische Umwälzung einer fortschreitenden Aufklärung und die damit beginnende Moderne mit den zugeordneten Prozessen einer steigenden Rationalisierung, »mit der in der Objektivierung der Natur zur verdinglichten Natur die alte Metaphysik verschwindet. Wo das Schöne zum Ding, der heilige Hain zum Holz, der Tempel zu Klötzen und Steinen, das religiöse Verhältnis zum wesenlosen Spiel werden und das Göttliche und Ganze ohne Zusammenhang mit der Wirklichkeit ist« (Ritter 1971: 564). Diese aufklärerische Entsinnlichung des Denkens und der Welt führt nun speziell dazu, dass »die ästhetische Kunst ihren Grund in dem Zusammenhang der Entzweiung [erhält]; sie bringt das in der Sphäre der Subjektivität bewahrte Göttliche, (Über-)sinnliche, Absolute […] hervor« (ebd.). Nach dem Ende der alten Metaphysik übernimmt in letzter Konsequenz bei Kant die ästhetische Urteilskraft die Vermittlung des Übersinnlichen, als sinnliches Scheinen der Idee. Die zwischen Natur und Freiheit, Anschauung und Begriff entzweite Wirklichkeit wird somit in der Kunst versöhnt und zu einer Einheit gebracht. Auf der Ebene des Subjekts wird auf diese Weise der rein rationale Begriff mit einer sinnlichen Anschauung unterlegt. Insgesamt wird bereits in dieser skizzenhaften Darstellung deutlich, wie eng die Ästhetik mit einer Wiederbelebung des Sinnlichen, des Nicht-Rationalen und damit auch letztendlich des Mystischen verbunden zu sein scheint. Interessant ist an dieser historischen Lesart nun – speziell vor dem Hintergrund der im ersten Kapitel dargestellten Überlegungen zur schulkulturellen Bedeutung des Mythos –, dass sie es erlaubt, eine Parallele zu den von J. Assmann in seinem Buch »Die mosaische Unterscheidung« (2003) entwickelten Unterscheidungen zwischen mythischen und monotheistischen Religionen zu ziehen. Assmann beschreibt diese Unterscheidung, die sich in der Bibel an der Gestalt Moses’ konstituiert, als Wende von einer primären Religion, die auf Weltbeheimatung und auf die Integra-
2.1 Kunst und ästhetische Erfahrung
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tion der menschlichen Dinge in die göttliche Ordnung der Natur zielt (vgl. ebd.: 20), zu einer sekundären Religion, die genau diese Weltbeheimatung aufgibt: Die primären oder archaischen Religionen sind in der Regel polytheistisch. An die Götter wird nicht geglaubt, sondern von ihnen wird gewusst und dieses Wissen ist nicht über wahr oder falsch definiert, sondern es lässt viele »in unseren Augen widersprüchliche Aussagen nebeneinander zu« (ebd.: 28). Das Göttliche ist der Welt demnach eingeschrieben. Es ist dem Irdischen zugewandt, mit ihm symbiotisch verbunden und lässt sich aus der Welt nicht herauslösen. Genau diese Herauslösung ist nun jedoch das Ziel jener sekundären Religion – des Monotheismus. Diese Religion setzt sich von den anderen Religionen ab, »indem sie die ausschließliche Verehrung des einen Gottes fordert, die Herstellung von Bildern verbietet und das göttliche Wohlgefallen weniger von Opfern und Riten abhängig macht, als vielmehr vom Rechttun des Einzelnen und der Einhaltung gottgegebener, schriftlich fixierter Gesetze« (ebd.: 19). Das Irdische wird so ›entgöttert‹ bzw. säkularisiert und zu einer eigenen, von der Transzendenz unterschiedenen Sphäre. Diese Wende ist nach Assmann nun kein Ausdruck einer fortschreitenden Entwicklung, sondern ein Bruch zwischen Mythos und Monotheismus, der auf der folgenreichen Unterscheidung von wahr und falsch beruht.28 Die Welt kann von nun an nicht mehr göttlich sein, denn der eine wahre Gott hat sich aus der Welt zurückgezogen und verkündet die von nun an absolute, geoffenbarte, metaphysische Wahrheit (vgl. ebd.: 28). Die Welt wird in Bezug auf diese Entzweiung zum Feld menschlicher Bewährung und kann nicht mehr Gegenstand magischer Praktiken sein. Dieser neue Religionsbegriff korrespondiert nun nach Assmann mit einem neuen Wissenschaftsbegriff. Beiden ist erstmalig eine Kraft der Unterscheidung, Negation und Ausgrenzung eigen (vgl. ebd.: 24). Beide basieren auf der Differenzierung von wahr und falsch und intendieren, sich gegen den Irrtum abzugrenzen. Die Unterscheidungen zwischen Mythos und Logos, Weisheit und Wissen entsprechen genau jener Unterscheidung zwischen Heidentum und Religion. Dieser Bruch zwischen Weltbeheimatung und einer Distanz zum Weltlichen kommt nun in bestimmten Situationen oder historischen Epochen immer wieder verschärft zum Ausbruch, so eben auch im sogenannten Zeitalter der Aufklärung. Man könnte nun in Bezug auf die Entstehung der Ästhetik erneut formulieren, dass sich ihr Erstarken in jener Zeit sozusagen auf einen Widerstand gegen diesen verschärften 28 Die mosaische Unterscheidung ist für Assmann nicht nur in ihrer religiösen Wende folgenreich, sondern auch in Bezug auf die sich entfaltende Kraft des Ausschlusses des Falschen, aus dem sich die Haltung der Intoleranz gegenüber anderen als »unwahr« erkannten Religionen ergibt. Diese Abgrenzung wird nach Assmann historisch vielfach über die Ausübung von Gewalt gegen die »Heiden« umgesetzt und führt gleichermaßen zu Hass und Neid auf der Seite der Ausgegrenzten selbst (Assmann 2003: 34f.).
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Rückzug des Mystischen, der Wahrheit und des Logos aus der Welt gründe. Die Verstrickung mit der Welt als im Subjekt verankerte Verbindung von Anschauung und Begriff, Sinnlichkeit und Vernunft erscheint aus einer ästhetischen Sicht nicht »tödlich«, sondern muss anerkannt werden, denn »wer auf dem Boden der mosaischen Unterscheidung steht, fühlt sich in dieser Welt nicht ganz zu Hause« (ebd.: 63). Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum – mit Kierkegaard beschrieben – »christlich betrachtet jedwede Dichterexistenz […] die Sünde« zu sein scheint: »zu dichten anstatt zu sein, zu dem Guten und Wahren durch die Phantasie sich zu verhalten, anstatt […] existenziell danach zu streben, es zu sein« (Kierkegaard zit. nach Ritter 1971: 571). Löst sich schließlich sogar das Ästhetische aus dem Zusammenhang der Kunst, indem es sich anschickt, zu einer Haltung und Weise des Lebens zu werden, das dann als ein sich von Entscheidungen und Bindungen frei haltendes Dasein bezeichnet werden kann, scheint ihr Verhältnis zum Ernst der Wirklichkeit zweideutig (ebd.: 572). Ist die autonom gewordene Kunst aus diesem Grund bis heute in der Regel ein getrennter, dem ›Schein‹ verhafteter, gesonderter Bereich menschlichen Lebens? Solche Betrachtungen der Geschichte der Ästhetik liefern jedoch noch keinen hinreichenden Beitrag zur Beantwortung der eingangs gestellten Frage, wodurch sich die Kunst als eigenständige Ausdruckform auszeichnet und was dann der eigentliche Gegenstand jener wissenschaftlichen Betrachtungen der Ästhetik ist. Hier stehen sich im Allgemeinen werkästhetische und rezeptionsästhetische Ansätze gegenüber. Rein werkorientierte Ansätze versuchen, das Wesen der Kunst im Sinne eines spezifischen Zeichensystems über bestimmte Eigenschaften zu begründen, die Kunstwerken zugeschrieben werden (vgl. Bertram 2005: 22). Die materiale Faktizität eines Kunstwerks sei dabei jeder Rezeption durch den Betrachter vorgängig (vgl. Siegmund 2006). Andererseits scheint das Wesen von Kunstwerken nicht ausschließlich essenzialistisch bestimmbar zu sein, sondern erst über eine bestimmte Praxis des Begreifens bzw. Erfahrens zu entstehen, an der die Subjekte der Erfahrung maßgeblich beteiligt sind (vgl. Bertram 2005: 35). Methodisch geht der Weg zur Beantwortung der unter diesen Voraussetzungen variierten Frage »Wann ist Kunst« (ebd.: 29) dann über die Analyse ästhetischer Erfahrungen. Eine solche Herangehensweise knüpft explizit an die kantische Bestimmung in der »Kritik der Urteilskraft« (1790/1999) an. Kant »analysiert allein die Wirkungen innerhalb der ästhetischen Erfahrung, und dabei zeigt sich die Erfahrung von solcher Art zu sein, dass gar nicht gegenständlich und für sich angegeben werden kann, was die Erfahrung auslöst« (Bubner 1989: 35). Was in der ästhetischen Erfahrung tatsächlich erfahren wird, »konstituiert sich nämlich in der Erfahrung und durch die Erfahrung,
2.1 Kunst und ästhetische Erfahrung
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sodass unabhängig von ihr nicht objektiviert werden kann, etwa in einem Werke, was Inhalt jener Erfahrung ist« (ebd.). Für die ästhetische Erfahrung bedeutet dies, dass sie sich von einer Bestimmung der Werkkategorie löst. Dadurch rückt sie als von der Kunst unabhängige spezifische Erfahrungsform mit einer besonderen Wirkung in den Blick und kann sich auch an anderen sinnlichen Eindrücken entfalten, wie zum Beispiel dem Naturschönen. Damit steht die ästhetische Erfahrung im Grunde in einer engen Beziehung zu alltäglichen Erfahrungen. Sonst, so Bertram, »wüssten wir nicht, in welchem Sinn wir von Erfahrung sprechen können« (Bertram 2005: 196). Ein bedeutender und gegenwärtig auch in erziehungswissenschaftlichen Kontexten intensiv rezipierter (vgl. Mattenklott/Rora 2004) Vertreter einer solchen Kontinuitätsannahme zwischen ästhetischer und alltäglicher Erfahrung ist der amerikanische Philosoph, Psychologe und Pädagoge John Dewey. Er fordert die »Wiederherstellung der Kontinuität zwischen der ästhetischen Erfahrung und den gewöhnlichen Lebensprozessen«29 (Dewey 1934/1980: 18), denn die Ästhetik dringt nicht von außen in die Erfahrung ein, sondern die ästhetische Erfahrung ist die geläuterte und verdichtete Entwicklung von Eigenschaften, die Bestandteil jeder normalen ganzheitlichen Erfahrung sind (vgl. ebd.: 59): Eine ästhetische Erfahrung hat im Gegensatz zu einer alltäglichen Erfahrung einen Anfang und ein Ende. Sie wird weder durch eine unzusammenhängende lockere Reihenfolge der verschiedenen Elemente einer Wahrnehmung oder Handlung noch durch einen Stillstand erreicht, sondern entwickelt sich als eine Einheit der Erfahrung, die sich als zusammenhängende Reihe von Ereignissen auf einen Höhepunkt zu bewegt. Aufgrund dieser Verdichtung einer Erfahrung zu einer harmonischen Ganzheitlichkeit kann mit Dewey auch davon gesprochen werden, dass die ästhetische Erfahrung durch Eigenschaften dominiert wird, die in anderen Erfahrungen unterdrückt werden, nämlich durch diejenigen, die diese Erfahrung zu einer integrierten und aus sich selbst heraus bestehenden Erfahrung machen (vgl. ebd.: 70). Damit kann die ästhetische Erfahrung auch als eine Erfahrung mit Erfahrungen bzw. als Erfahrung der Form von Erfahrung verstanden werden (vgl. Bertram 2005: 196). Aus einer werkästhetischen Perspektive erscheint eine solche Bestimmung, die Kunst restlos über die ästhetische Erfahrung definiert, als entgrenzend. Die Frage, 29 Die Deweysche Position wird in erziehungswissenschaftlichen Ansätzen, die sich den Möglichkeiten einer Verbindung von Pädagogik und Ästhetik widmen, derzeit bevorzugt angeführt, weil sie zum einen erlaubt, die zentrale Bedeutung der ästhetischen Erfahrung für die Erfahrungen des Subjekts und die daraus entstehenden Erkenntnis- und Lernprozesse herauszustellen, und zum anderen, weil, aufgrund der Annahme der Anschlussfähigkeit an andere Erfahrungsformen, pädagogische Bemühungen denkbar und legitimiert werden, die versuchen, allgemeine Fähigkeiten des Subjekts speziell auch über ästhetische Erfahrungen auszubilden (vgl. z.B. Dewey 1934/1980: 54).
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2. Kunst und Schulkultur
die sich stellt, ist, ob in diesem Fall jede Art von Gegenständen und Situationen allein aufgrund der sich an diesen entfaltenden ästhetischen Erfahrungen unter den Begriff des Kunstwerks fällt (vgl. Siegmund 2006: [3]). Was ist es dann, was das Kunstwerk als solches von anderen Gegenständen unterscheidet? Wiederum mit Dewey kann hierauf geantwortet werden, dass das Kunstwerk auf charakteristische Weise und im Gegensatz zu anderen Objekten und Anschauungen den »vollen Sinn« einer gewöhnlichen Erfahrung zum Ausdruck bringen kann, die dann – nach Dewey – eben eine ästhetische Erfahrung ist (Dewey 1934/1980: 18). »Jedes Kunstwerk folgt dem Plan und dem Muster einer ganzheitlichen Erfahrung und gestaltet sie ausdrucksstärker und in ihrer Wirkung konzentrierter« (ebd.: 66). Es kann also angenommen werden, dass das Subjekt eventuell auch mit anderen Gegenständen und in variierenden Situationen ästhetische Erfahrungen machen kann, dass aber die Kunst aufgrund ihrer strukturellen Verfasstheit ganz besonders gut dazu geeignet ist, eine ästhetische Erfahrung mit ihr zu machen.30 Diese Überlegungen decken sich mit der Zurückweisung einer rein rezeptionsästhetischen Bestimmung von Kunstwerken durch Ulrich Oevermann. Demnach könne der Werkcharakter einer Ausdrucksgestalt strukturtheoretisch bestimmt werden. Die Grundstruktur des Gelungenen Werks liegt dabei in einer Dominanz von Unbestimmtheit und Unauslotbarkeit (Oevermann 2001: 16) als einem immanenten strukturellen Beziehungsreichtum, der mit dem Fortschreiten der Analyse nur erweitert werden kann. Nur dann, wenn ein solcher Nachweis des Gelingens des Werks als Struktur der Unbestimmtheit in einer Werkanalyse aufgezeigt werden kann, kann sinnvoll von einem Kunstwerk und von dessen Autonomie gesprochen werden. Die Eigenständigkeit der Kunst wäre dann nicht etwas, das dieser erst durch bewusste Maßnahmen im Verlauf des 18. Jahrhunderts zukommt, sondern etwas, das ihr in ihrer ästhetische Erfahrungen befördernden Ausdrucksgestalt potenziell ohnehin innewohnt und das historisch durch fortschreitende Emanzipation von gesellschaftlichen und religiösen Bindungen freigesetzt wird. Die Entwicklung hin zu einer Autonomie der Kunst beinhaltet insofern keinen »Paradigmenwechsel« auf der Ebene der »Ausdruckslogik selbst«, sondern nur eine »deutlichere und gesteigerte Manifestation eines schon immer latent beteiligten Potentials« (Oevermann 1997: 26). 30 Dewey unterscheidet dabei nicht zwischen Künstler und Rezipient. Auch für ihn ist das Werk im Wesentlichen von jenen abhängig, die es sehen und genießen. In diesem Sinne ist für Dewey der künstlerische Schaffensprozess selbst ein Wechselspiel zwischen Produktion und Rezeption. Der Anblick dessen, was er schafft, muss dem Künstler in der unmittelbaren Betrachtung gefallen. Der Betrachter wiederum vollzieht die vom Künstler angelegten Beziehungen nicht nur nach, sondern wird in seiner Perzeption zum Schöpfer seiner eigenen individuell besonderen Erfahrung (vgl. Dewey 1934/1980: 68).
2.2 Struktureigenschaften ästhetischer Erfahrung
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Diese strukturtheoretische Bestimmung verweist jedoch wiederum auf einen außerhalb des Werks liegenden Bezug, denn eine Grundstruktur der Unbestimmtheit, stößt in Bezug auf die Frage nach dem Wesen eines Werks bzw. dessen konkreter Bedeutung an immanente Grenzen. Diese Frage kann wiederum nur in Bezug auf z.B. eine spezifisch historische Einbettung, die Biografie oder die Person des Künstlers – oder in Bezug auf den jeweiligen Rezipienten beantwortet werden. Nur unter der Voraussetzung einer solchen Konkretisierung der Analyse, kann sich die zunächst lediglich allgemein bestimmbare Struktur der Unbestimmtheit des Kunstwerkes zu einer konkreten Bedeutung bzw. einem individuell oder historisch bedeutsamen Wesen des Werks verdichten Das führt gleichsam dazu, die Struktur ästhetischer Erfahrung genauer zu betrachten, was nun im Folgenden geschehen soll
2.2 Struktureigenschaften ästhetischer Erfahrung Begreift man die ästhetische Erfahrung in einer engen Beziehung zu gewöhnlichen alltäglichen Erfahrungen, dann kann sie in einem ersten Schritt zunächst in ihrer Nähe als auch in ihrer Differenz zu diesen sinnvoll bestimmt werden. Eine immer noch aktuelle und differenzierte Betrachtung findet sich diesbezüglich in den Briefen »Über die ästhetische Erziehung des Menschen« von Friedrich Schiller (1793/2000). In seinen Analysen des Ästhetischen bezieht er sich direkt auf die vorausgegangene Bestimmung der reflektierenden Urteilskraft von Kant. Da Schillers ästhetische Theorie Aspekte einer ästhetischen Anthropologie beinhaltet (Bender 2001; Schütze 1993), befasst auch er sich – entgegen seiner ursprünglichen Intention, einen objektiven Begriff der Schönheit aufzustellen – mit der Frage nach der Besonderheit ästhetischer Erfahrung: »Ich habe wirklich eine Deduktion meines Begriffs vom Schönen versucht, aber es ist ohne das Zeugnis der Erfahrung nicht auszukommen« (Schiller 1793/1971: 5). Schiller versucht nun, das Wesen des Menschen anhand von zwei Merkmalen zu erfassen. Er unterscheidet etwas das bleibt, die Person, von etwas, das dauernder Veränderung unterworfen ist, dem Zustand.31 Die Persönlichkeit als intelligibles Prinzip, als reiner, unveränderbarer Begriff, kann dabei nicht existieren, ohne sich auf einen bestimmten Zustand der Welt und damit auf eine bestimmte Anschauung zu beziehen. »Um also nicht bloß Welt zu sein, muss er der Materie Form erteilen; 31 Die »Person« ist dabei nicht im Sinne einer konsistenten unveränderbaren Identität zu verstehen. »Person« und »Zustand« sind an dieser Stelle nur Begriffe für zwei Prinzipien, die das Wesen des Menschen konstituieren.
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um nicht bloß Form zu sein, muss er der Anlage, die er in sich trägt, Wirklichkeit geben« (Schiller 1793/2000: 46), oder, um mit Kant zu sprechen, würde »uns ohne Sinnlichkeit […] kein Gegenstand gegeben und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalte sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind« (Kant 1787/1999a: 119). Der sinnlich-vernünftigen Doppelnatur des Menschen kommt es also zu, zum einen durch eine sinnliche, auf Anschauung bezogene Weltzuwendung so viel Materie wie möglich aufzunehmen, um diese dann durch Formung bzw. begriffliche Bestimmung zu strukturieren. Sinnlichkeit und Vernunft, Anschauung und Begriff befinden sich dabei nach Schiller in der Realität und damit in alltäglichen Erfahrungen jedoch nicht in einem ausgewogenen Verhältnis: Entweder überwiegt das bestimmende Vermögen der Vernunft und eine allein darauf gründende Erfahrung entfremdet sich sozusagen von der materiell gegebenen Welt. Oder die ausschließlich sinnliche Weltzuwendung wird durch einen dauernden Wechsel der Zustände bzw. Eindrücke in ihren Bann gezogen, ohne in der Lage zu sein, diese als Teil einer Form zu begreifen, »denn solange er nur empfindet, bleibt ihm seine Person oder seine absolute Existenz, und solange er nur denkt, bleibt ihm seine Existenz in der Zeit oder sein Zustand Geheimnis. Gäbe es aber Fälle, wo er diese doppelte Erfahrung zugleich machte, wo er sich zugleich seiner Freiheit bewusst würde, und sein Dasein empfände, wo er sich zugleich als Materie fühlte, und als Geist kennen lernte, so hätte er in diesen Fällen, und schlechterdings nur in diesen, eine vollständige Anschauung seiner Menschheit« (Schiller 1793/2000: 56). Neben den Momenten ästhetischer Erfahrung gibt es für Schiller nur im Spiel diese Ausgewogenheit der ›Kräfte‹. Der Kern ästhetischer Erfahrung wird somit eine zwischen diesen beiden Polen hin und her spielende Reflexionstätigkeit. Die beiden Pole wiederum können, wie Schiller verdeutlicht, nicht ineinander aufgehen, sondern müssen stets widerstreitende Kräfte bleiben (vgl. Bubner 1989: 52). Eine sinnliche Wahrnehmung als Begegnung mit einem Gegenstand, einer Erscheinung oder einem Kunstwerk bildet dabei eine unhintergehbare Basis der ästhetischen Erfahrung. Darauf aufbauend entwickeln sich vielfältige reflexive Beziehungen, die jedoch nicht zu einem auf Dauer konsistenten Eindruck verstetigt werden können. »Wenn immer der Betrachter meint, das Ganze erfasst zu haben, vermag das freie Spiel der Reflexion wieder zurückzukehren zu gewissen Einzelheiten, um sie neu oder besser zu integrieren und somit die vermeintliche Einheit der Anschauung auch wieder zu verwandeln« (ebd.: 63). So verselbstständigt sich in dieser besonderen Erfahrung eine unbegrenzte Freiheit intellektueller Betätigung zu einer Art Spiel, das durch keine begriffliche Bestimmtheit eingeschränkt und von dessen Teilnahme nach Bubner vor allem kein Subjekt ausgeschlossen ist (vgl. ebd.: 38).
2.2 Struktureigenschaften ästhetischer Erfahrung
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Dieses freie Spiel der Erkenntniskräfte zwischen sinnlich Besonderem und geistig Allgemeinem kann, wie gesagt, nicht in einem der beiden Vermögen aufgehen. Zum einen scheitert die bestimmende Tätigkeit, denn die endgültige Subsumtion unter verfügbare Allgemeinbegriffe gelingt nicht; zum anderen geht die sinnliche Wahrnehmung nicht in einem sinnlichen »Interesse am Haben oder Genießen« auf (ebd.: 37). Würde es gelingen, die Erfahrung dem Personal- oder dem Zustandsprinzip zuzuschreiben, könnte nicht mehr von einer ästhetischen Erfahrung gesprochen werden. Da die ästhetische Erfahrung an kein Ende kommt, tritt in diesem sich beständig vollziehenden Übergang zwischen sinnlich Besonderem und geistig Allgemeinem die vermittelnde Funktion der Erfahrung in den Vordergrund. Die Aufmerksamkeit richtet sich also, wie mit Dewey schon eingeholt wurde, auf die spezifische Form der Erfahrung bzw. ihre besondere Leistung. Insofern kann mit schillerschen Begrifflichkeiten davon gesprochen werden, dass das Subjekt deshalb im ästhetischen Zustand eine ›vollständige Anschauung seiner Menschheit‹ erlangt, weil sich die Aufmerksamkeit auf die Möglichkeiten der Erkenntnis richtet. Es kommt zu einer spielerischen Versicherung menschlicher Erkenntnisfähigkeit überhaupt. Ästhetische Erfahrung ist aus diesem Grund als Selbstverständigungsprozess zu begreifen, der einen praktischen Sinn in sich birgt: »Wir fassen Vertrauen in das Funktionieren unserer Erkenntniskräfte. Für uns, die wir ästhetisch erfahren sind, besteht kein Grund daran zu zweifeln, dass die beiden Seiten des Zusammenspiels unserer Erkenntniskräfte auseinanderfallen könnten. Die ästhetische Erfahrung hat in diesem Sinn eine durchaus praktische Bedeutung. Sie stiftet Vertrauen oder drängt – negativ gesagt – die Skepsis zurück« (Bertram 2005: 122). Entgegen dem Postulat, das der Kunst neben der Autonomie in der Regel zugleich Zweckfreiheit unterstellt und sich dabei auf die begriffliche Nicht-Einholbarkeit ästhetischer Erfahrung und speziell des autonomen Kunstwerks stützt, kann der ästhetischen Erfahrung als selbstzweckhafte ästhetische Selbstverständigung vor dem Hintergrund der vorangegangenen Bestimmungen also durchaus ein spezifischer Wert zugesprochen werden. Insofern ist es notwendig, zwischen der Autonomie der Kunst und damit der erforderlichen Unabhängigkeit der ästhetischen Erfahrung von begrifflichen Subsumtionen, Erkenntnis- oder Nutzenerwartungen und jenem spezifischen Wert, den eine solche Erfahrung für das Subjekt dann hervorbringen kann, zu unterscheiden. Die Autonomie ist in diesem Sinne nur die Bedingung dafür, dass eine solche Erfahrung mit ihrem durchaus ›praktischem Sinn‹ sich überhaupt entfalten kann. Selbst und Welt sind in diesem ›Erkenntnisprozess‹ verschränkt. Das quasi objektive Zeichen, die Materie, bleibt untrennbar mit der sich auf Subjektseite entfaltenden Erfahrung verbunden. Es handelt sich also eher nicht um eine losgelöste,
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2. Kunst und Schulkultur
exterritoriale Erfahrung, die, wenn überhaupt, in einer Selbstbezüglichkeit aufgeht (vgl. Mollenhauer 1990: 492), sondern vielmehr um einen Zustand, in dem Gewohntes in anderen Umständen erscheint (vgl. Alheit/Brandt 2006: 431). Wichtig ist, dass die ästhetische Erfahrung trotz ihres praktischen Werts krisenhaft bleibt, denn ein endgültiges Verstehen gelingt nicht. Vielmehr kommen, wie erläutert wurde, ästhetische Erfahrungen im Rahmen eines »brüchigen Verständnisprozesses« zustande (Bertram 2005: 176). So bedeutet ästhetisches Verstehen immer eine »Krise des Verstehens« (ebd.: 161), aus der sowohl Momente der Infragestellung als auch solche der Bestätigung hervorgehen können. An dieser Stelle ergibt sich nun jedoch die Frage, inwiefern ein Selbstverständigungsprozess, der als vertrauensstiftend beschrieben werden kann und der darüber hinaus ein spielerisches Moment in sich birgt, mit Erfahrungen von Krisen, die in ihrer Grundtendenz eher selbstdestruierend statt selbstversichernd beurteilt werden müssten, zu vermitteln ist. Welche strukturellen Ähnlichkeiten bestehen zwischen dem Spiel und der krisenhaften ästhetischen Erfahrung? Gerne wird an dieser Stelle, neben dem bereits angeführten schillerschen Zitat, ein Ausschnitt aus einem Vortrag Hugo von Hofmannsthals zitiert, um jene Gemütslage bzw. den Modus ästhetischer Erfahrung zu beschreiben (vgl. König 1978: 264; Mollenhauer 1990; Zirfas 2004). Hofmannsthal beschreibt die beglückende Wirkung eines Gedichts mit den folgenden Worten: »Sein Ich sich selber gleich zu fühlen und sicher zu schweben im Sturze des Daseins« (Hofmannsthal 1907/1957: 464). Unterzieht man dieses Zitat einer sorgsamen Analyse, kommt zunächst der erste Teil in den Blick. Was kann es heißen, »sein Ich sich selber gleich zu fühlen«? Es kann angenommen werden, dass eine Trennung besteht zwischen dem Ich und dem Selbst, die in der Erfahrung mit dem Gedicht emotional (fühlend) zueinander vermittelt werden, sodass es sich im weitesten Sinn um eine menschliche Identitätsvergewisserung handeln muss, die dadurch zustande kommt, dass das Selbst als Beständiges mit dem in vielerlei Situationen verstrickten Ich zusammenfällt. Die Parallele zu Schillers Formulierung der ›vollständigen Anschauung‹ scheint offensichtlich. Gleichzeitig zeigt sich bereits hier die Distanz, aus der eine solche Wahrnehmung der Getrenntheit von Ich und Selbst, der von Plessner so genannten »Doppelheit« (Plessner 1965: 292), erst gelingen kann und die in dem nun folgenden Teil des Zitates augenscheinlich wird. Das Ich kann nämlich dem Selbst nur als gleich empfunden werden, wenn es nicht in akute lebensweltliche Handlungsnotwendigkeiten eingebunden ist. Die Formulierung »sicher zu schweben im Sturze des Daseins« erscheint dabei auf den ersten Blick widersprüchlich. Ein Zustand sicheren Schwebens als gesicherte Distanz zu irdischen Nötigungen und Notwendigkeiten ist unvereinbar mit einem Zustand des Stürzens. Da es sich jedoch um den Sturz des Daseins handelt,
2.2 Struktureigenschaften ästhetischer Erfahrung
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kann gefolgert werden, dass es sich bei der Verwendung des Begriffes »Sturz« um eine Metapher handeln muss. Denn das Dasein kann nicht wie ein Gegenstand oder ein Körper stürzen. Insofern drückt dieser metaphorische Sturz aus, dass das Dasein sozusagen den Halt verliert und droht, ohne diesen Halt auseinander bzw. in sich zusammenzufallen. Diese Auflösung des Daseins, die etwas schmuckloser als das Ungewisswerden von Orientierungen bzw. vormals aufgebauten Formen und Begriffen beschrieben werden kann, geschieht nun aber in jenem Zustand des sicheren Schwebens. Das heißt, der Prozess der Kontingentwerdung, der Krise, vollzieht sich in einem realitätsfernen Bereich. Diese Rahmung der krisenhaften Erfahrung des Sturzes des Daseins wird insofern oft als Moment eines ›Als-Ob‹ oder auch als ›fiktiver Raum‹ bezeichnet. An diesem Punkt offenbart sich die strukturelle Ähnlichkeit der Rahmungen ästhetischer Erfahrungen mit dem Spiel. Beide Modi der Weltzuwendung sind nur unter der strukturellen Bedingung der Handlungsbeziehungsweise Realitätsentlastetheit umsetzbar und werden durch ein Hereinbrechen von lebensweltlichen Notwendigkeiten gestört. Oevermann bezeichnet die ästhetische Erfahrung aus diesem Grund auch als eine sich in Krisen durch Muße (Oevermann 2004: 167) konstituierende Erfahrung. Er spricht, ähnlich wie zuvor eingeholt wurde, davon, dass die ästhetische Erfahrung von einer Wahrnehmung um ihrer selbst willen ausgeht, die nicht integraler Bestandteil einer zweckgerichteten praktischen Handlung ist. Die sich aus dieser Wahrnehmung entfaltende ästhetische Erfahrung ist deshalb ein »Teil von Praxis, aber eine solche Praxis, die als Muße zugleich aus der Routine bewusst herausspringt unter der Bedingung der Handlungsentlastetheit« (ebd.). Oevermann unterscheidet nun die Krise durch Muße, aus der sich die ästhetische Erfahrung konstituiert, von zwei anderen Krisentypen, denen er je unterschiedliche Erfahrungsformen zuordnet. Erstens die Traumatische Krise, in der ein konkretes Leben von einem unbestimmten Ereignis ereilt wird, für das gilt, dass man auf es nicht nicht reagieren kann. Das jeweilige erste spontane Reagieren gehört dann gleichsam schon zur Bewältigung einer traumatischen Krise. Diesem Krisentyp entspricht die Konstitution von „Naturerfahrung und von leiblicher Erfahrung“ (ebd.: 165). Davon unterscheidet Oevermann die Entscheidungskrise, die nicht durch Unmittelbarkeit gekennzeichnet ist, sondern durch eine hypothetische Konstruktion von Möglichkeiten als Antizipation möglicher Zukünfte auf der Seite der Lebenspraxis selbst herbeigeführt wird (ebd.). Diese Krise drängt sich dem Subjekt zwar nicht von außen auf, ist aber stattdessen dadurch gekennzeichnet, dass man sich nicht nicht entscheiden kann. Der Entscheidungskrise korrespondiert nach Oevermann nun die Konstitution »religiöser Erfahrung« (ebd.: 166). Er geht dabei in Bezug auf die Endlichkeit des menschlichen Lebens von einer nicht stillstellbaren
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2. Kunst und Schulkultur
Bewährungsdynamik aus. Das heißt, es müssen spätestens ab der Adoleszenz beständig selbstständige Entscheidungen getroffen werden, ohne dass eine feststehende Begründung für die jeweilige Entscheidung zur Verfügung steht.32 Das Urteil über eine tatsächliche Bewährtheit kann insofern nur jenseits des Irdischen gesprochen werden, weshalb eine Gewissheit über die Bewährung der Entscheidung nur erhofft, aber nicht sichergestellt werden kann. Diese bereits im ersten Kapitel thematisierte nicht stillstellbare Bewährungsdynamik, die sich hier konkret mit der Entscheidungskrise verbindet, beginnt nach Oevermann historisch mit der monotheistischen jüdisch-christlichen Religion.33 Im Monotheismus wird, wie in Bezug auf Assmann (2003) schon angedeutet (S. 56), also diese Bewährungsdynamik freigesetzt, denn der »eine allmächtige Gott« zieht sich einerseits aus der Welt zurück und überlässt sie dem Menschen zur Fortführung und Verwaltung, während er andererseits weiterhin über sie wacht (Oevermann 1995: 68). Dabei entzieht sich diese Instanz des abstrakten Gesetzes immer weiter der sinnlichen Wahrnehmung. Die Menschen stehen dementsprechend vor jener Aufgabe der Bewährung, können jedoch im Diesseits nie im Besitze der Bewährung sein (vgl. ebd.: 82). Diese Trennung zwischen abstraktem Gott und konkreter Welt ist für Oevermann nun im Grunde bereits der Beginn einer zunehmenden Säkularisierung, in der sich das Göttliche immer weiter aus der Welt zurückzieht und dadurch die diesseitige Bewährungsdynamik verschärft, was in einer zunehmenden Rationalisierung ihren Ausdruck findet (vgl. ebd.: 66). Dadurch werden gleichsam zuvor entlastende religiöse Glaubensinhalte aufgegeben, was dazu führt, dass die auf Krisenerfahrungen zurückgehenden bewussten Entscheidungsbelastungen für das Subjekt zunehmen (vgl. ebd.: 43). Im Gegensatz zu Assmann (2003) bedeutet der Übergang zum Monotheismus für Oevermann nun jedoch nicht das Verschwinden des Mythischen, denn um die Paradoxie in der Gegenwart nicht einlösbarer Bewährung auszuhalten – um »das Leben lebenswert erscheinen zu lassen« – ist nach Oevermann sozusagen die Konstruktion individueller und auch kollektiver Bewährungsmythen notwendig (Oevermann 1995: 96). Ein Ausdruck solcher Bewährungsmythen ist z.B. die Subsumtion von – von der Bewährungsdynamik und dem Individuierungszwang überforderten – Subjekten unter gekaufte und kulturindustriell standardisierte, scheinbar exklusive Lebensstile.
32 Zum Beispiel kann die Entscheidung, ob es richtig war, eine Ausbildung zum Tischler anzustreben, statt unmittelbar mit dem Studium zu beginnen, nur im Nachhinein und im Rückblick auf das gelebte Leben als angemessen oder unangemessen beurteilt werden. Die Entscheidung selbst wird in eine prinzipiell offene und damit unbestimmbare und unkalkulierbare Zukunft hinein getroffen und kann immer wieder erneut durch unvorhersehbare Ereignisse in Frage gestellt werden. 33 Die hier entfalteten Bestimmungen bleiben dementsprechend religions- und kulturspezifisch.
2.3 Entfaltung ästhetischer Bildung
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An der Gegenüberstellung dieser drei Krisentypen und der dazugehörigen Erfahrungsmodi wird nun noch einmal deutlich, worin ein besonderer Reiz ästhetischer Erfahrung liegt. Denn während in den jeweiligen anderen Erfahrungsformen das Subjekt mit existenziellen Krisen des Daseins konfrontiert ist, ist es von diesem Handlungs- und Bewährungsdruck im Modus der ästhetischen Erfahrung strukturell – analog zu den Phantasiewelten des kindlichen Spiels – entlastet. Bei Bubner klingt das so: »Man möchte dem Druck der Conditio humana in die Sphäre des Spiels entweichen« (Bubner 1989: 101). »Angesichts ungewisser Problemlagen äußert sich die betörende Natur alles Ästhetischen ganz allgemein darin, durch Übertragung in ein anderes Feld Befreiung vom Druck der aktuellen Schwierigkeit zu bereiten« (Bubner 1989: 101f.). Ein Verschwimmen der Differenzen zwischen den Erfahrungsformen ist nach Bubner jedoch nicht möglich, denn »im Ernste treten wir für keinen Augenblick in die fiktive Gegenwelt ein« (ebd.: 101). Damit bleiben Wahrheitsfragen und Fragen der Moral der ästhetischen Sphäre äußerlich.34 Ein »wohl trainiertes Grenzgängertum« (ebd.: 101f.) eröffnet dem Subjekt allerdings eine »unerschöpfliche Perspektivenerweiterung«, wobei er jedoch vermutet, dass eine solche sich am »Schein« orientierende Einstellung verfestigen kann. Darüber hinaus wäre ein Leben im Modus der Muße nicht möglich, denn »wenn nichts mehr vorliegt, von dem Entlastung zu befreien hätte, schwindet eben jene Erfahrung, um die es geht. Eine Welt, in der die ästhetische Selbstbegegnung des Subjekts zum Alltag gehört, wäre eine, in der wir uns nicht mehr auskennen würden« (ebd.: 131).35 So kann ferner angenommen werden, dass die Kunst auch deshalb ein paradigmatischer Auslöser ästhetischer Erfahrungen ist, weil in ihren Werken eben gerade Verständnisprozesse systematisch offen gehalten werden. Wie auch Loer (1994) diesbezüglich ausführt, lösen sich einmal gebildete Lesarten bzw. entwickelte Verständnisspuren immer wieder auf, denn überall dort, wo die reflektierend spielerische Bewegung an ein Ende gelangt, z.B. durch die Identifizierung eines Gegenstandes in einem abstrakten Werk, eröffnen sich sofort mehrere Möglichkeiten des Weiterschreitens (vgl. ebd.: 351). Eine gewohnte bestimmende Tätigkeit bzw. die Einordnung in einen Wissensbestand bereits gemachter Erfahrungen scheitert strukturell an den Phänomenen der Kunst. Diese Wirkung wird nun zusätzlich dadurch unterstützt, dass Kunst in der Regel herausgelöst aus dem Praxis- und Ver34 Bubner betont, dass eine starke Unsicherheit eingetreten sein muss, bevor z.B. die Verlagerung öffentlicher Moral ins Ästhetische unwidersprochene Zustimmung findet (vgl. ebd.: 107). 35 Bubner wendet sich hier explizit gegen Ansätze, die versuchen, die Grenzen zwischen dem ästhetischen und den anderen Erfahrungsmodi aufzuheben. Solche Intentionen scheitern nach Bubner an der Grundstruktur ästhetischer Erfahrung oder müssen diese Besonderheit letztendlich zugunsten z.B. einer ausschließlichen Forderung nach mehr Sinnlichkeit (Aisthesis) aufgeben (so z.B. bei Welsch 1990, 1996; vgl. die Einführung zu dieser Arbeit).
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2. Kunst und Schulkultur
antwortungsdruck des Erwachsenenlebens in »Daseins-Inseln« (Oevermann 2004: 169) wie dem Museum präsentiert wird, die eine mußevolle Wahrnehmung begünstigen. Unabhängig von solchen kulturspezifischen Einrichtungen wie einem Museum bleibt die Grundstruktur der ästhetischen Erfahrung aufgrund ihrer anthropologischen Fundierung immer erhalten und insofern ahistorisch. Die Struktureigenschaften sind zudem unabhängig von der unterschiedlichen Materialität der Kunstwerke, von den Gegenständen oder Ansichten, auf die sich die sinnliche Aufmerksamkeit richtet, sowie von einer spezifischen Performanz der Eindrücke. Inwiefern kann in Bezug auf die herausgearbeiteten Struktureigenschaften ästhetischer Erfahrungen aber dann überhaupt noch davon gesprochen werden, dass es sich bei solchen Erfahrungen um ›Erkenntnisse‹ handelt? Und was kann in der ästhetischen Erfahrung – neben ihrem spezifischen Wert jener Stiftung des Vertrauens in die Erkenntniskräfte – angesichts der stets gleich bleibenden Grundstruktur überhaupt ein spezifischer Inhalt einer solchen Erkenntnis sein? Oevermann spricht sogar davon, dass es sich bei ästhetischen Erfahrungen um eine »UrForm von Erkenntnis« (ebd.: 167) handele, weil die Erkenntnis um ihrer selbst willen geschieht, also keinen Nutzenerwartungen und Zielvorstellungen unterliegt. Das zuvor herausgearbeitete Merkmal, nach dem ästhetische Erfahrungen begrifflich nicht eindeutig zu bestimmen sind, scheint einer klaren Erkenntnis als möglichem Ertrag jener Erfahrung jedoch im Wege zu stehen. Die vorangestellten Fragen nach möglichen Erkenntnissen im Modus der ästhetischen Erfahrung sowie die sich anschließende Ungewissheit bezüglich denkbarer Inhalte solcher Erkenntnisse leiten nun im Folgenden in stärker erziehungswissenschaftliche Fragestellungen über, die insbesondere in den Debatten um Ästhetische Bildung thematisch werden.
2.3 Entfaltung ästhetischer Bildung Tatsächliche Erfahrungen können nur innerhalb eines Prozesses der Krisenbewältigung entstehen, also in einem Vollzug von Lebenspraxis, für die keine Handlungsroutinen zur Verfügung stehen. Solange ein Individuum nämlich routiniert handelt, macht es keine Erfahrungen, sondern lebt von bereits gemachten Erfahrungen (vgl. Oevermann 2004: 165; Dewey 1934/1980: 47). Eine Erfahrung zu machen bedeutet demnach den Vollzug eines auch distanzierten Akts, der immer schon über gewohnte Anschauungen bzw. bereits erworbene Bestände des Selbst hinausgeht (vgl. Zirfas 2004: 78). Eine tatsächliche Erfahrung dringt daher immer auf eine Trans-
2.3 Entfaltung ästhetischer Bildung
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formation von bereits bestehenden Erfahrungsmustern, denn sie kann nicht im Sinne eines Lernzuwachses harmonisch in diese eingefügt werden. Ein so verstandener Erfahrungsbegriff bewegt sich nah an dem, was in der Regel unter Bildung bzw. unter Bildungsprozessen verstanden wird. Denn auch Bildung bedeutet ein Sich-Fremd-Werden und Etwas-Neues-Lernen, so »dass von dem Neu-Erfahrenen Anregungen zu fortschreitender Entfremdung und Weltaneignung ausgehen können« (Benner 1990: 117). Strukturtheoretisch bestimmt Marotzki (1990) Bildungsprozesse entsprechend als dialektische Transformationen von Welt- und Selbstverhältnissen, die gewohnte Orientierungsrahmen außer Kraft setzen. Ein sich verändernder Weltbezug bringt dabei in der Regel auch einen sich ändernden Selbstbezug mit sich. Denn »indem das Subjekt sich selbst in einer anderen Weise transparent macht, macht es sich die Welt auf andere Weise zugänglich. Und: Indem sich das Subjekt die Welt auf andere Weise zugänglich macht, macht es sich auf andere Weise sich selbst transparent« (ebd.: 42). Dieses Fremdwerden bestehender Orientierungsmuster scheint sich nun auf paradigmatische Weise in der ästhetischen Erfahrung zu vollziehen, denn gerade dort ereignen sich die vielfältigsten »Übergänge, Verknüpfungen und das In-Beziehung setzen von Wahrnehmungen, Erfahrungen und Symbolen« (Zirfas 2004: 81). In vielen Arbeiten wird aufgrund dieser »innigen Verbindung« zwischen dem Ästhetischen bzw. der ästhetischen Erfahrung und dem neuhumanistischen Bildungskonzept (Hörster 1995: 46 in Bezug auf de Man 1988: 206) kein begrifflicher Unterschied zwischen ästhetischer Erfahrung und ästhetischer Bildung gezogen, sondern beide Begriffe werden synonym verwendet. Differenziertere Arbeiten sprechen jedoch stattdessen mitunter von dem »Bildungssinn ästhetischer Ereignisse« der »bildenden Wirkung ästhetischer Erfahrung« (Müller 2004: 62) oder ihrer »bildungstheoretischen Bedeutung« (Alheit/Brandt 2006: 417). Solche begrifflichen Markierungen machen dabei darauf aufmerksam, dass der Erfahrungsbegriff zumindest theoretisch nicht im Bildungsbegriff aufgeht (vgl. Karl 2005: 60). Insbesondere im Rahmen empirischer Forschung scheint mir eine solche Sensibilisierung gegenüber einer damit auch möglichen empirischen Differenz zwischen ästhetischer Erfahrung und ihrer bildenden Wirkung allerdings sinnvoll zu sein. Eine derartige Aufmerksamkeit kann im besten Fall dazu beitragen, die Debatte um den spezifischen Bildungswert ästhetischer Erfahrungen weiterzuführen. Theoretisch kann die Problemstellung diesbezüglich noch folgendermaßen weiterentwickelt werden: Nach Marotzki handelt es sich bei Bildungsprozessen, wenn man diese strukturtheoretisch begreift, zwar auch um ein Eröffnen von Möglichkeitsstrukturen und um eine Begegnung mit dem Fremden, die zunächst mit geltenden Ordnungsschemata inkommensurabel ist. Bildend ist die Erfahrung einer solchen »Grenze der Vertrauten« aber erst dann, »wenn sie am Verstehenshorizont
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des Subjekts anschließt« (Müller 2004: 68) und im Anschluss daran auf eine Realisierung dieser sich neu eröffnenden Möglichkeiten drängt (vgl. Alheit/Brandt 2006: 430). Marotzki spricht in diesem Zusammenhang von der Frage nach der »handelnden Kraft« neu gewonnener Weltanschauungen, die im Zentrum einer bildungstheoretisch orientierten Biografieforschung steht (Marotzki 1999: 61f.). In Bezug auf die methodische Rahmung der Studie kann also angenommen werden, dass, wenn der ästhetischen Erfahrung eine bildende Wirkung zugeschrieben werden kann, diese dann sozusagen transformierend in die Fallstruktur des jeweiligen Subjekts eingehen und sich entsprechend rekonstruktiv nachweisen lassen muss. Von einem Erkenntnis- bzw. Bildungswert ästhetischer Erfahrungen kann wahrscheinlich also nur dann gesprochen werden, wenn sich aus der ästhetischen Erfahrung eine handelnde Kraft entfaltet, die sich im Selbst- und Weltverhältnis des erfahrenden Subjekts niederschlägt. Die Frage, die sich nun im Anschluss an eine solche strukturtheoretische Bestimmung stellt, ist, ob in diesem Fall noch zwischen ästhetischer Bildung und Bildung unterschieden werden kann oder ob in dem Moment, in dem eine ästhetische Erfahrung in einen Bildungsprozess übergeht, die Struktur dieses Prozesses nicht mehr von Bildungsbewegungen unterschieden werden kann, die ihren Ausgang nicht in ästhetischen Erfahrungen haben. Ich sehe insbesondere im Anschluss an die bildungstheoretischen Überlegungen Marotzkis eine zentrale Differenz zwischen Bildung und ästhetischer Bildung. Nach Marotzki lebt Bildung vom Spiel mit dem Unbestimmten. Sie unterscheidet sich von rein subsumtiven Verarbeitungsweisen von Erfahrungen, die nicht zu einer bildenden Identitätstransformation führen, sondern rein affirmativ als Bestätigung kognitiver Selbst- und Weltbilder angelegt sind. Bildungsprozesse hingegen sind Formen tentativer Erfahrungsverarbeitung. Es handelt sich um Suchbewegungen, die nicht die Bestätigung, sondern eine Transformation von Selbst- und Weltbildern zur Folge haben. Diese können sich aber nur dann entfalten, wenn sich Bestimmtheiten lockern und wenn Unbestimmtheiten zugelassen werden. Unbestimmtheit ist dann kein Mangel an Bestimmtheit, sondern erst der Möglichkeitsraum für Bildungsprozesse (vgl. Marotzki 1991: 81f.). Bildungsprozesse, so könnte man zusammenfassen, sind also krisenhaft und führen zu Transformation. Die Differenz zu ästhetischen Bildungsprozessen liegt m.E. nun darin, dass jene, obwohl sie aus der ästhetischen Erfahrung hervorgehen, ebenso grundsätzlich krisenhaft sind und keine unmittelbare Subsumtion oder Affirmation der Erfahrung unter bestehende Kategorien zulassen, dennoch, trotz ihres genuin krisenhaften Entstehungsgrundes, bestätigend bzw. selbstbestätigend wirken können. Die ästhetische Bildung ist in diesem Sinne zwar krisenhaft, aber nicht unbedingt befremdend, denn sie stiftet eben jenes grundlegende Vertrauen in das Funktionieren der Erkenntniskräfte.
2.3 Entfaltung ästhetischer Bildung
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Ästhetische Bildung muss daher nicht, wie es in aufklärerischer Tradition von Bildung oft erwartet wird, ausschließlich als »Be- und Verfremdung und damit als partikularer Selbstverlust« [Herv. S.B.] verstanden werden (Zirfas 2004: 81), sondern ihre eigentümliche Wirkung könnte sich demgegenüber auch in der Möglichkeit eines Selbstgewinns niederschlagen, als Zutrauen in die je individuellen Fähigkeiten. Die mußevolle, aber zugleich krisenhafte Erfahrung mit der Erfahrungsfähigkeit stärkt in diesem Fall das menschliche Subjekt. So ist nach Schiller der Mensch im »ästhetischen Zustand« zwar »Null«, wie Parmentier zitiert, sodass die etablierten Ichabgrenzungen und damit die Leistungen des bisherigen Bildungsprozesses dahinschmelzen (Parmentier 2004: 103), jedoch erfährt er in diesem Zustand zugleich eine unvergleichliche Bestimmungsfreiheit: Das Vermögen zur Selbstbestimmung im Sinne der Möglichkeit, aus sich selbst zu machen, »was er will« (Schiller 1793/2000: 83f.). So geht es auch bei Schiller genau um diese doppelte Wirkkraft der ästhetischen Erfahrung. Denn nur durch die Unabhängigkeit von einer spezifischen Bestimmung kann es zu jener neuen Bestimmbarkeit kommen, die durchaus, und das wäre nun ein Spezifikum ästhetischer Bildung, in eine Erfahrung der Bestätigung einmünden kann. Eine durch eine ästhetische Erfahrung ausgelöste Transformation bestehender Selbst- und Weltverhältnisse führt das Subjekt dann sozusagen wieder zu sich selbst zurück. Alheit/Brand (2006) verstehen diese Form ästhetischer Reflexivierung als eine Form der Selbstvergewisserung des Subjekts, die insbesondere in den Prozessen fortschreitender Modernisierung, die mit jener zunehmenden Rationalisierung und Kontingenzwerdung traditioneller Orientierungsmuster einhergeht (vgl. ebd.: 418), stabilisierend wirken kann. Ästhetische Bildungsprozesse können sich damit wahrscheinlich an bestimmten Eindrücken entzünden; ihnen ist jedoch immer eine subjektive Bedeutung inhärent, die das individuell Spezifische der ästhetischen Bildung konturiert (vgl. Karl 2005: 328). Neben einem damit plausibilisierten Verständnis für die der künstlerischen Tätigkeit zugeschriebene ›heilende Kraft‹ im Kontext kunst- und gestalttherapeutischer Ansätze erklärt sich so auch, warum der Rekurs auf Ästhetik historisch insbesondere in Zeiten der Verunsicherung und Kontingenzwerdung Konjunkturen zu verzeichnen hat. Es bleibt zu ergänzen, dass es andererseits auch vorstellbar ist, dass eine ästhetische Erfahrung keinen Bildungswert entfaltet. Bei der ästhetischen Erfahrung handelt es sich nämlich um jenen spezifischen Erfahrungsmodus, der sich in Muße oder eben handlungsentlastet in einem so genannten »Freiheitsspielraum« (Müller 2004: 67) vollzieht. Dementsprechend ist es möglich, dass das angesprochene Drängen auf Realisierung der Perspektivenerweiterung nicht einsetzt, und die gemachten Erfahrungen im Bereich des Fiktiven verbleiben. Es wäre in einem solchen Fall kein
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Bildungsprozess nachweisbar oder beschreibbar. Die reine Erfahrung bleibt in diesem Fall dem Reich des Scheins verhaftet. Diese Bestimmung kann auch erklären, warum gerade im Kontext erziehungswissenschaftlicher Debatten der unmittelbaren ästhetischen Erfahrung mitunter wenig Bedeutung beigemessen wird und die Aufmerksamkeit sich deshalb auf die Beschreibungen ästhetischer Wirkungen (vgl. König 1978) oder eine gezielte Erinnerungsarbeit mit einmal gemachten ästhetischen Erfahrungen richtet (vgl. Mattenklott 2004a). Über solche rekonstruktiven Prozesse können die Erfahrungen reflexiv eingeholt werden. Sie werden als Bildungsprozesse darstellbar bzw. über solche Beschreibungs- und Erinnerungsarbeit erst in Bildungsprozesse überführt. Auf diese Weise wird es wahrscheinlicher, dass sie ihre handelnde Kraft entfalten.
2.4 Ästhetische Erfahrung und Bildung bei Kindern Die vorliegende Arbeit beinhaltet außerdem einen weiteren Aspekt, der im Kontext der Debatten um ästhetische Erfahrung und Bildung kontrovers diskutiert wird. So muss, da die nachstehenden Analysen zu einer möglichen Verbindung von Kunst und Schule die Elementarbildung in den Blick nehmen, die Frage, ob Kinder überhaupt zu ästhetischen Erfahrungen respektive Bildungsprozessen in der Lage sind, in die theoretischen Vorüberlegungen einbezogen werden. Hierzu sollte erwähnt werden, dass nur die wenigsten Positionen die ästhetische Erfahrungsfähigkeit von Kindern gänzlich in Abrede stellen. Eine solche Haltung findet sich beispielsweise bei Parmentier (2004). Ausgehend von der Kunst als dem »Vehikel« (ebd.: 104) ästhetischer Wirkungen bestimmt dieser zwei Bedingungen, die ein Kunstwerk erfüllen muss, um zu einem Instrument der »kalkulierten Erzeugung ästhetischer Wirkungen« (ebd.: 105) zu werden. Zum einen muss die Kunst imaginär sein und damit in jenem bereits beschriebenen Raum des Als-Ob angesiedelt sein bzw. Realitäts- und Handlungsentlastetheit voraussetzen. »Im Schutze der Fiktion können die unter der Oberfläche der Gewohnheiten verborgenen und abgespaltenen Bedeutungen […] gefahrlos sichtbar gemacht […] werden« (ebd.: 105). Zugleich jedoch müsse die Kunst gegen diese Verhaftung im Schein rebellieren, um dem Vorwurf der »bloßen Gaukelei« (ebd.) und dem ihrer realen Belanglosigkeit zu begegnen. Eine solche Rebellion dürfe jedoch nicht dazu führen, die Grenze zwischen Kunst und Leben zu überschreiten, denn sobald die Kunst ihren »Scheincharakter abstreift, zerstört sie ihre eigenen Voraussetzungen und hört auf, Kunst zu sein« (ebd.: 106). Aus diesem Grund müsse die Kunst sowohl imaginär als auch ironisch sein. Sie grenze sich dann nicht nur von der Welt draußen ab, sondern
2.4 Ästhetische Erfahrung und Bildung bei Kindern
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zugleich über Ironie auch von dieser Abgrenzung. Gemeint ist eine Kunst, die die Bedingungen ihrer eigenen Möglichkeit, die Form der Darstellung mit thematisiert. So kann nach Parmentier das »unerträglich Scheinhafte an der Kunst als etwas erscheinen, was gar nicht gemeint ist« (ebd.), sondern vielmehr das Gegenteil, nämlich die reale Versöhnung und die wahre Freiheit. Die Voraussetzung zur Erschaffung und Rezeption solcher Kunst ist dann ein entwickeltes Formgefühl. Aus diesen Überlegungen folgert er zum einen, dass es sich bei den »symbolischen Ausdrucksgestalten« (ebd.: 108), also den künstlerischen Tätigkeiten von Kindern, nicht um ästhetische Gebilde im strengen Sinn handeln könne. Denn diese seien zwar imaginär, besäßen jedoch kein problematisches Verhältnis zu ihrer eigenen Darstellungsform und seien daher nicht ironisch. Kinder bringen keine ausreichend bestehenden Weltverhältnisse mit, zu denen sie innerhalb der ästhetischen Erfahrung ein spielerisch-reflexives Verhältnis entwickeln könnten. Darüber hinaus spricht Parmentier Kindern nicht nur die Möglichkeit ab, Kunst zu machen, was in diesem Rahmen noch nachvollziehbar wäre, sondern darüber hinaus auch die Fähigkeit, ästhetische Erfahrungen auszudrücken. Die Frage, ob Kinder in der Lage sind, ästhetische Erfahrungen zu machen, wird dabei eher ausgeklammert. Parmentiers Ansatz kann zunächst entnommen werden, dass es eher unwahrscheinlich ist, dass Kinder als ›Künstler‹ tätig sind, was realgeschichtlich auch kaum vorkommt. Darüber hinaus wird behauptet, dass es ihnen schwer falle, ästhetische Erfahrungen auszudrücken, und auch ihre Fähigkeit, überhaupt ästhetische Erfahrungen zu machen, wird von ihm in Frage gestellt. Auf der anderen Seite finden sich nun in der Mehrheit Positionen, die Kindern die Fähigkeit, ästhetische Erfahrungen zu machen, nicht nur einräumen, sondern ihnen sogar eine besondere Empfänglichkeit für solche Erfahrungen zusprechen (vgl. Mattenklott 2004b: 19). Sie warnen vor einer Ontologisierung der Kindheit als vom Erwachsenenalter gänzlich zu unterscheidender Lebensphase (vgl. ebd.: 21) und stützen sich häufig auf phänomenologische Arbeiten zum kindlichen Zur-WeltSein. Der ästhetische Bereich erscheint dann als im leibsinnlichen Erleben des Kindes fundiert. Das Vermögen zur Distanzierung zwischen Selbst und Ich wird nicht vorausgesetzt, sondern es wird angenommen, dass dieses umgekehrt gerade in jenen ersten kindlichen ästhetischen Wahrnehmungen entsteht (vgl. Mattenklott 2004b: 20). Das Kind koexistiert mit Dingen und Mitmenschen in je konkreten Situationen. Meyer-Drawe spricht von »kindlichen Milieuwelten« (Meyer-Drawe 1988: 128). In diesen begegnen dem (Klein-)Kind keine Gegenstände, sondern die Objekte bilden innerhalb des Milieus mit dem Kind eine expressive Einheit. Zwar erbringt es bereits bestimmte Ordnungsleistungen, jedoch nicht nach rationalen Kriterien, son-
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dern eher über leibsinnliche Empfindungen wie Vertrautheit, Wärme etc. (vgl. ebd.: 130). Diese Milieuwelt ist dabei mehrdeutig und mehrwertig. Die Dinge sind nicht bestimmten Funktionen und Nutzungserwartungen unterworfen, sondern sie appellieren, etwas mit ihnen zu tun, das in der Regel jenseits ihrer allgemein pragmatischen Bedeutung liegt. Im Gegensatz zu den Erwachsenen scheinen die Kinder diese Fähigkeit, vom Gebrauchs- und Funktionswert der Dinge abzusehen, noch nicht verloren zu haben (vgl. ebd.: 132). Entsprechend diesem präobjektiven ZurWelt-Sein spricht Meyer-Drawe zudem von der Präsubjektivität des Kindes. So hat es weder ein Bewusstsein von seinem Ich noch eine differenzierte Beziehung zum Anderen. Diese bildet sich erst in einer Entwicklung heraus, in der sich das Kind zunehmend vom Anderen unterscheidet. Bis dahin spricht Meyer-Drawe von einer »symbiotischen Zwischenleiblichkeit« als »vorpersonale Intersubjektivität« (ebd.: 138). Insofern wird der Prozess der Genese von Rationalität und Sozialität nicht als linearer Prozess zunehmender Autonomie, sondern als komplexer Umstrukturierungsprozess komplexer Wirklichkeitsfelder verstanden. Darüber hinaus werden die Transformationen, die diese kindlichen Milieuwelten beim Übergang zum begrifflichen Begreifen und Lernen erfahren, nicht im Sinne einer vollständigen Dekonstruktion beschrieben (vgl. Köhler 2001). Vielmehr bleiben innerhalb aller Stufen der symbolischen Entwicklung leibfundierte Anteile der Symbolbildung implizit (vgl. Seewald 1992; vgl. auch Lippitz 2001; Schäfer 1995; Schad 1990), die auch in einer sich entwickelnden rationalen Haltung gegenüber der Welt unhintergehbar bleiben (vgl. Meyer-Drawe 2000). So handelt es sich auch in Bezug auf Erwachsene immer um eine situierte und in konkrete Konfigurationen eingebundene Vernunft (vgl. ebd.: 11). Erst wenn diese leibliche Verstrickung mit der Welt anerkannt wird, kann die Forderung nach zunehmender Autonomie sinnvollerweise gestellt werden. Denn diese kann dann ihre maßgebliche Kraft entfalten, wenn sie sich kritisch gegen reale Verstrickungen wendet. Die Erreichbarkeit umfassender Autonomie bleibt dabei eine notwendige Illusion (ebd.: 12). Im kindlichen Erleben gibt es demnach wenig bereits unter allgemeine Begriffe Subsumiertes. Erfahrungen gehen in der Regel vom leibsinnlichen Erleben aus und werden nicht durch eine bereits bestehende funktionale Gebundenheit der Wahrnehmung in ihrer Entfaltung eingedämmt. Hier scheint sich eine Freiheit und Unbestimmtheit der Erfahrungsfähigkeit anzudeuten, die, da sie beim sinnlichen Erleben ihren Ausgangspunkt nimmt, der ästhetischen Erfahrung strukturell ähnelt. Diese rückt so erneut in ihrer anthropologischen Bedeutung in den Blick. Ein unhintergehbares Merkmal von Kindheit ist dementsprechend das »kulturelle Tätigsein Aller« (Behnken/Zinnecker 2001: 664).
2.4 Ästhetische Erfahrung und Bildung bei Kindern
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Eine ergänzende soziologisch fundierte Begründung für die Bedeutung ästhetischer Erfahrung in der Kindheit entwickelt Oevermann (2004). Sie scheint anschlussfähig an die Betonung der anthropologischen Fundierung ästhetischer Erfahrungen, wurde in den einschlägigen erziehungswissenschaftlichen Diskussionen bislang aber noch nicht berücksichtigt. Kinder, je jünger sie sind, sind für Oevermann in umso reinerer Form Protagonisten ästhetischer Erfahrungen (vgl. Oevermann 2004: 168). In diesem Punkt ist die Übereinstimmung mit den leibphänomenologischen Bestimmungen deutlich. Ausgehend von der Unterscheidung der drei Krisentypen: der Traumatischen Krise, der Entscheidungskrise und der Krise durch Muße (S. 65f.) hält Oevermann fest, dass Kinder sich sozusagen »ständig und ganz wie von selbst« in einem Zustand der »Muße« befinden, sodass sie in der Regel ästhetische Erfahrungen machen.36 Innerhalb des sich insgesamt krisenhaft vollziehenden Sozialisationsprozesses werden nämlich gerade Kinder (je jünger sie sind) durch die Symbiose mit der Mutter bzw. durch den »elterlichen Schirm der Symbiose« vor dem Ernst des Lebens bewahrt und von diesem entlastet (ebd.: 169). Die Aufgabe der Eltern besteht demnach darin, die Kinder vor unnötigen vor allem Traumatischen Krisen zu bewahren, in die Kinder, das scheint vorauszusetzen zu sein, ohne den Schutz der Eltern allzu leicht geraten (man denke dabei an die Beschaffung von Nahrung oder etwas später an die Bewältigung der Verkehrsteilnahme, den Umgang mit Anderen etc.). Überwiegen beim Aufwachsen des Kindes solche Krisen, die strukturell immer eine Überforderung bedeuten, dann kann dies, so Oevermann, zu Depression und Rückzug bzw. zu Resignation und Ängstlichkeit führen (vgl. ebd.: 170). Insbesondere wenn die frühe Sozialisation im Modus der Bewältigung von Krisen durch Muße durch »mütterliche Pathologie, mangelnde Selbstverständlichkeit der Symbiose oder materiell einschränkende Bedingungen« nicht gegeben ist (ebd.: 169), kann es zu einer folgenreichen Beeinträchtigung der Entwicklung kommen, wobei insbesondere der Glauben daran verloren geht, dass es im Zweifelsfall gut geht, was zu einer Beeinträchtigung des notwendigen »strukturellen Optimismus führt« (ebd.). Der Begriff des ›strukturellen Optimismus‹ scheint hier mit der philosophischen Vorstellung der Entstehung des Vertrauens in die eigenen (Erkenntnis-)Kräfte durch die ästhetische Erfahrung analogisierbar zu sein, durch die die grundsätzliche Skepsis zurückgedrängt wird, die Herausforderungen menschlichen Lebens nicht bewältigen zu können. Für Kinder ist somit – im Gegensatz zu Erwachsenen, die die sozialen Rahmungen für Krisen durch Muße weitgehend selbstständig herstellen bzw. »selbst36 An dieser Stelle zeigt sich die Analogie dieses Erfahrungsmodus zum Weltverhältnis des Kindes im Spiel.
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2. Kunst und Schulkultur
ständig die gesellschaftlich dafür vorgesehenen Sozialräume und -zeiten aufsuchen müssen« (ebd.) – der Erfahrungsmodus der Krise durch Muße infolge des Schutzes durch die elterliche Fürsorge die Regel und damit auf Dauer gestellt. Jener Modus wird (sollte) nur in Ausnahmen von Erfahrungen des Ernsts des Lebens in Gestalt anderer Krisentypen unterbrochen (werden) (vgl. ebd.). Sicherlich bleibt aber auch das behütete Kind vom Ernst des Lebens nicht verschont, denn die Eltern können vorausschauend diese Krisen anderer Gestalt nur so weit mildern, wie es geht. Andererseits darf dem Kind die Konfrontation mit traumatischen Krisen aber auch nicht gänzlich erspart bleiben, denn nur so kann ein »Lernen auf der Grundlage von Scheitern und Widerstand« (ebd.: 170) stattfinden, das eine Genese von zunehmender Autonomie durch selbstständige Krisenbewältigung ermöglicht. Dieser »Stress« (ebd.) muss für das Kind jedoch zu bewältigen bleiben. Die Konfrontation mit Krisen erfordert demnach innerhalb der Erziehung eine spezifische Dosierung, sodass es sich nach Oevermann um Situationen »mittlerer Diskrepanz zwischen kindlicher Erwartung sowie Fähigkeit und tatsächlicher Anforderung« (ebd.: 171) handelt. »Aber es sind andererseits auch Krisen, an deren Bewältigung wir uns gewöhnen müssen, weil sie dazu führen, dass wir unseren Leib erfahren und diese Erfahrungen zu einem integrierten Körperbild zusammensetzen und der Natur nicht, wie in der Krise durch Muße, als auf Distanz gebrachtem Erkenntnisgegenstand oder als Naturschönem, sondern als einer sich eigengesetzlichen, gegenüber unseren Strebungen prinzipiell widerständigen Umwelt gegenübertreten« (ebd.). Ästhetische Erfahrungen sind demnach auch bei Oevermann eine Art »Schleuse des Übergangs« von unmittelbarer – man könnte hier nun einfügen: präobjektiver und präsubjektiver – Praxis zur methodisierten Erkenntnis (ebd.: 168). Dabei bleibt für Oevermann die autonome Handlungspraxis ebenso eine nicht stillstellbare Herausforderung. Der Vollständigkeit wegen muss nun noch die Entscheidungskrise innerhalb des fortschreitenden Sozialisationsprozesses verortet werden. Nach Oevermann kann das Subjekt erst dann in Entscheidungskrisen geraten, wenn es ein solches Maß an Autonomie erlangt hat, dass es in die Lage versetzt wird, seine offene Zukunft bewusst zu antizipieren und zu konstruieren. In der Ablösungskrise, die das Subjekt in das Erwachsenenleben entlässt, der Adoleszenzkrise, muss diese Fähigkeit nicht nur vorhanden sein, sondern sogar von der Umwelt erwartet werden. Nun geht es darum, »beständig Entscheidungen selbstverantwortlich treffen zu müssen, ohne
2.4 Ästhetische Erfahrung und Bildung bei Kindern
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dass eine feststehende Begründung oder Rechtfertigung, auf die man sich berufen könnte, schon zur Verfügung steht« (ebd.: 171). Diese nicht stillstellbare Bewährungsdynamik kann nur unter jener Maxime bestanden werden: »Im Zweifelsfall geht alles gut«. Die Grundlage für dieses Selbstvertrauen muss am Ende der Bewältigung der Adoleszenzkrise, insbesondere ausgehend von Erfahrungen in Muße und der dosierten Konfrontation mit traumatischen Krisen, grundsätzlich erworben worden sein (ebd.). Die Betrachtung dieser theoretischen Positionen lässt es aus einer anthropologischsoziologischen Perspektive wahrscheinlich erscheinen, dass Kinder dazu in der Lage sind, ästhetische Erfahrungen zu machen. Dennoch scheint es diesbezüglich insbesondere aufgrund der Vorbegrifflichkeit ästhetischer Erfahrungen eventuell schwierig, zu Beschreibungen eines solchen Erfahrungsmodus innerhalb empirischer Forschungsarbeiten zu gelangen. Entsprechend bleiben die Fragen, ob Kinder in der Lage sind, ästhetische Erfahrungen zu machen, und wie diese im Zusammenhang mit Bildungs- und Sozialisationsprozessen des Subjektes stehen, ein empirisches Desiderat und eine methodische Herausforderung (siehe dazu Kap. 3.). Die einzige empirische Studie, die sich in diesem Sinne grundständig mit ästhetischen Bildungsprozessen von Kindern befasst, ist die Arbeit von Klaus Mollenhauer u.a. zu »Grundfragen ästhetischer Bildung« (1996). Die Forschergruppe arbeitet mit einer Stichprobe von Kindern zwischen zehn und zwölf Jahren, hauptsächlich über die Untersuchung und Auswertung praktischer Arbeiten, die im Kontext unterschiedlicher Aufgabenstellungen entstehen und bestimmten Analysekriterien zugeordnet werden. Klaus Mollenhauer hat durch seine Ergebnisse den für die erziehungswissenschaftliche Diskussion wichtigen Beleg dafür geliefert, dass ästhetische Bildung nicht auf ein von Institutionen, hier insbesondere der Schule, geregeltes Lerngeschehen reduziert werden darf, sondern dass es sich immer um eine individuelle Auseinandersetzung mit und Aneignung von Welt handelt (Mollenhauer 1996: 253). Die Studie konzentriert sich jedoch im Wesentlichen auf die Frage, was die ästhetische Erfahrung überhaupt sei, und kann auf diese Weise auch bestimmte Struktureigenschaften ästhetischer Erfahrungen isolieren und an den ästhetischen Produkten der Kinder nachweisen. Da die Analyse der praktischen Arbeiten jedoch nicht mit Einzelfallanalysen verknüpft wurde, konnten darüber hinaus keine Aussagen darüber getroffen werden, was der subjektiv bedeutsame Inhalt einer solchen Erfahrung sein könnte, der eventuell einen individuellen Bildungswert sowie biografische Relevanz in sich birgt. So finden sich durchaus Ergebnisse, die ästhetische Erfahrungen in der Kindheit wahrscheinlich erscheinen lassen; die anthropologische und die biografische Dimension dieses Erfahrungsmodus in der Kindheit sowie sein Übergangspotenzial für Anschlussmöglichkeiten an andere Erfahrungs- und Lern-
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2. Kunst und Schulkultur
prozesse, insbesondere diejenigen der Schule, bleiben, wie gesagt, empirische Desiderata.
Exkurs: Distinktion durch Geschmack Vorbereitend für die nun folgenden Überlegungen, die die Anschlussfähigkeit ästhetischer Erfahrungen an institutionalisiertes Lehren und Lernen erkunden, soll noch auf eine weitere Besonderheit einer solchen anthropologischen Bedeutsamkeit ästhetischer Erfahrung, sei es im Rahmen des Entwicklungs- und Sozialisationsprozesses, sei es bezüglich einer Gewinnung von Selbstvertrauen, hingewiesen werden. Bildungserfolg in der Schule ist, wie bereits im Anschluss an die Studien von Bourdieu/Passeron (1971) dargestellt wurde, von der Ausprägung des individuellen Habitus und speziell der ›Einstellung‹ zu Bildung abhängig, die die Chancen beeinflusst, eine bestimmte Schule zu besuchen, ihre Normen zu übernehmen und darin erfolgreich zu sein. Eine größtmögliche Passung dieses Habitus zu jener in der Schule erwarteten Einstellung scheint also zunächst der Garant für eine gelingende Schullaufbahn zu sein. Ein spezifischer Habitus drückt dabei nach Bourdieu gleichzeitig eine bestimmte Milieuzugehörigkeit aus. Bourdieus Forschungsarbeiten zeigen nun, dass innerhalb dieser Differenzierungen zwischen den einzelnen Milieus der »Geschmack«, insbesondere der ästhetisch kulturelle Geschmack, zu einem Vehikel der sozialen Distinktion wird. Er lenkt die Individuen sowohl »auf die auf ihre Eigenschaften zugeschnittenen sozialen Positionen, als auch auf die praktischen Handlungen, Aktivitäten und Güter, die ihnen als Inhaber derartiger Positionen entsprechen und zu ihnen ›passen‹« (Bourdieu 1982: 728). Innerhalb des sozialen Raums lassen sich die unterschiedlichen sozialen Milieus also neben ihren habituellen Strukturen über die von ihnen bevorzugten Kulturgüter und kulturellen Praxen unterscheiden und zuordnen. Ein bestimmter Geschmack wird dann zum Ausdruck einer bestimmten Schicht- oder Milieuzugehörigkeit und des zugeordneten Bildungsgrades. Dieser Geschmack hat dabei zunächst noch nichts gemein mit der ästhetischen Erfahrung; er ist lediglich Ausdruck jener von Oevermann so genannten, »Selbstsubsumtion« unter Lebensstile und Geschmackskonventionen (Oevermann 1997: 23). Die Kategorie des kulturellen Geschmacks scheint dabei sinnvoll zur Illustration dieser Stile, berührt jedoch nicht die Frage, ob bestimmte Milieuzugehörigkeiten die Fähigkeit, ästhetische Erfahrung zu machen, begünstigen oder verhindern. So kann es durchaus sein, dass eine habituelle Nähe zum Museum einen regelmäßigen Besuch desselben nach sich zieht und hierdurch Räume für ästhetische Erfah-
2.5 Ästhetische Erfahrung und Bildung in der Institution Schule
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rungen eröffnet werden. Gleichwohl bleibt es laut den strukturtheoretischen Bestimmungen ästhetischer Erfahrung auch möglich, diese in der Natur oder im Rahmen anderer Tätigkeiten und Weltzuwendungen zu erfahren, wenn diese mußevoll sind. So ist anzunehmen, dass die ästhetische Erfahrung in ihrer anthropologischen Bestimmung unabhängig von einer bestimmten Milieuzugehörigkeit und einem bestimmten Geschmack ist, sondern ein Modus der Weltzuwendung neben anderen, von dessen Teilnahme zunächst kein Subjekt ausgeschlossen ist, »egal wie gebildet und welchen Alters der ästhetisch aktive Mensch jeweils sein mag« (Roszak 2004: 41).37
2.5 Ästhetische Erfahrung und Bildung in der Institution Schule Eine theoretische Erörterung möglicher und realgeschichtlicher Verknüpfungen von Kunst und Schule bewegt sich innerhalb eines mehrdimensionalen Möglichkeitshorizonts. Die Historie der Verbindung von Kunst und Schule ist beinahe ebenso lang wie die Geschichte des Schulwesens und erfährt ihren ersten Höhepunkt als »Kunsterziehungsbewegung« (Lorenzen 1966) im Rahmen einer reformpädagogischen Kritik am Bildungssystem (vgl. Oelkers 1992; vgl. die Einführung zu dieser Arbeit, S. 26). In der Folge finden sich bis heute mehr oder weniger intensive Bemühungen und Strömungen, die die wissenschaftlichen sowie die praxisnahen Diskussionen bestimmen und versuchen, die Kunst in der Schule zu stärken bzw. das Künstlerische zum übergeordneten Prinzip schulischen Lernens zu erheben (zur Lippe 1987; Rumpf 1994, 1987; Reckmann 1988; Schneider 1988). Diese historischen Entwicklungen sind insbesondere geprägt durch die jeweiligen ästhetiktheoretischen Diskussionen, die einen großen Einfluss darauf nehmen, was sich ihre Protagonisten von einer Einbindung der Kunst in die Lern- und Bildungsprozesse in der Schule aktuell »versprechen« (Ehrenspeck 1998). Im Kern geht es bei diesen Auseinandersetzungen letztendlich immer um die Problematik einer inhaltlichen, curricularen und didaktischen Gestaltung des Unterrichts und des Schullebens,38 die in Bezug auf die Kunst und die mit ihr möglichen Erfahrungen um die Frage der ›rechten‹ Gestaltung institutioneller Lern- und 37 Hinzugefügt werden muss jedoch noch, dass prekäre Lebenslagen in bestimmten Milieus eine mußevolle Weltzuwendung wahrscheinlich eher einschränken, während in anderen Milieus aufgrund der dort in gewissem Maß bereits vorhandenen Entlastung von alltäglichen Anforderungen und Krisenproblematiken eine solche wahrscheinlich begünstigt wird. 38 Der Begriff des Schullebens wird hier in Abgrenzung zum Begriff der Schulkultur verwendet und meint auf einer übergeordneten Ebene die vielfältigen Aktivitäten, die im Rahmen von Schule stattfinden können.
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2. Kunst und Schulkultur
Bildungsprozesse kreist. In diesem Sinne wird die Kunst als besondere Erkenntnisform gewichtet, die zu einer Bereicherung schulischen Lernens beitragen soll. Je nach dem Stand der wissenschaftlichen Theoriebildung werden dabei unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt.39 Durch die Entwicklungen in Bezug auf eine zunehmende Gestaltungsfreiheit der Schule haben die Einzelschulen nun neuerdings jedoch die Möglichkeit, eine solche spezifische inhaltliche Gewichtung in Bezug auf die Kunst über die Ausarbeitung eines Schulprogramms konsequent und einzellfallspezifisch umzusetzen. Diese Gelegenheit wird, wie bereits angeführt wurde (vgl. die Einführung zu dieser Arbeit, S. 17), in zunehmendem Maß genutzt. Im Folgenden sollen nicht die differenten historischen Strömungen abgebildet werden, die sich zudem in die verschiedenen Fachdisziplinen ausdifferenzieren ließen, die sich mit der Verbindung von Kunst und Pädagogik auseinandersetzen. Die Betrachtungen konzentrieren sich stattdessen auf die Entfaltung und Diskussion der Bedeutung und Anschlussfähigkeit der zuvor erarbeiteten Struktureigenschaften ästhetischer Erfahrungen an institutionelle Bildungs- und Lernprozesse, insbesondere in der Elementarstufe. Die Erörterungen gehen dabei auch hier von der Annahme aus, dass, wie auch immer Kunst und künstlerische Tätigkeiten in die Schule integriert werden, der Kern einer solchen gelingenden Praxis die Schaffung von Räumen für Krisen durch Muße sein müsste, in denen die ästhetische Erfahrung ihre besondere Wirkung entfaltet. Alle anderen Bezüge auf Kunst und Ästhetik treffen nicht den Kern dieses besonderen Erfahrungsmodus und laufen dann z.B. auf eine reine »Alphabetisierung« (Mollenhauer 1990: 485) des Ästhetischen hinaus. Die in einem solchen Fall ausgebildeten Fertigkeiten des »›Codierens‹ und ›Decodierens‹ von Informationen, die im Medium der ästhetischen Ereignisse transportiert werden« (ebd.), hätten dann jedoch mit der besonderen Wirkung ästhetischer Erfahrung bzw. dem ihr eigenen Wert wenig gemeinsam (vgl. ebd.: 491).40 Dennoch bleibt die Möglichkeit bestehen, dass in solchen Fällen andere Implikationen einer solchen schulprogrammatischen Bezugnahme bedeutsam werden, denen gegenüber eine empirische Studie aufmerksam bleiben muss.
39 Hierzu gehören z.B. eine aufklärende Funktion im Bereich der Mediennutzung (vgl. SchuhmacherChilla 2000) oder eine entsprechende Vorbereitung für die ästhetisierte Lebenswelt durch eine Schulung der Sinne etc. Solche Inanspruchnahmen von Ästhetik enthalten zudem oft spezifische Verkürzungen (vgl. z.B. Rumpf 1999) des Verständnisses von Kunst und ästhetischer Erfahrung. 40 Diese Fokussierung der Aufmerksamkeit legitimiert sich im Vorgriff auf das Material zudem aus den schriftlichen Bestimmungen des Schulprogramms. Dessen Kerngedanken entwickeln sich deutlich in Bezug auf diese Ermöglichung ästhetischer Erfahrungen durch Kunst und künstlerische Tätigkeiten sowie den damit verbundenen Wirkungserwartungen.
2.5 Ästhetische Erfahrung und Bildung in der Institution Schule
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Zwei Argumentationslinien werden nachstehend fokussiert: Zum einen wird, aufbauend auf den leibphänomenologischen Bestimmungen und den strukturtheoretischen Überlegungen Oevermanns, die Einmündung der anthropologisch fundierten Bedeutung ästhetischer Erfahrungen in der Kindheit in eine Theorie der in der Schule anzubahnenden Lern- und Bildungsprozesse dargestellt. Zum anderen wird, anhand der von Helsper für die Schule ausdifferenzierten Antinomien pädagogischen Handelns, auf die unhintergehbare ›Sperrigkeit‹ (vgl. Mollenhauer 1990: 484) einer solchen Verbindung von ästhetischer Erfahrung respektive ästhetischer Bildung und schulischen Vermittlungsaufgaben im Kontext der einzelschulspezifischen Schulkultur hingewiesen. 1. Die moderne Allgemeinbildung zeichnet sich in historisch-systematischer Sicht durch eine Stufenordnung aus, »welche Lehr-Lernprozesse, die einer künstlichen Vermittlung und Einübung in der Schule bedürfen« (Benner 2002: 72), horizontal gliedert. Diese Struktur löste die zuvor auf feste Berufsstände des absolutistischen Staates ausgerichtete vertikale Schulorganisation ab und erreichte im 20. Jahrhundert zunächst die Schulen des gehobenen Bürgertums und von dort aus das gesamte Schulsystem (vgl. ebd.). Die systematische Grundstruktur des Kerncurriculums moderner Allgemeinbildung beruht in diesem Sinne von Schulstufe zu Schulstufe auf dem Lehren und Lernen von Inhalten und Aufgaben, die so aufeinander folgen, dass das auf der vorausgegangenen Stufe Gelernte in den Folgenden wirksam bleibt (vgl. ebd.: 72f.). Die älteste Schulstufe ist in Europa überall die Elementarschule, die in die »Kunst des Lesens, Schreibens und Rechnens einführt« (ebd.: 73). Benner betont, dass die bildungstheoretische Rahmung der Allgemeinbildung in der Elementarschule sich nicht darin erschöpft, dass die Techniken des Lesens, Schreibens und Rechnens erlernt werden, sondern dass die Kinder darüber hinaus lernen, »lesend, schreibend, rechnend und zeichnend« (ebd.: 73) miteinander und mit der Welt umzugehen. Diese Gestaltung des Übergangs von der Muttersprache zu künstlichen Formen der Schriftsprache, von der gesprochenen Sprache zum richtigen Gebrauch der Zeichen der Schriftsprache ist die zentrale Aufgabe der Elementarschule (vgl. ebd.: 73). Die Notwendigkeit für den Vollzug dieses »Blickwechsels« (ebd.: 74) besteht darin, dass in modernen Gesellschaften die Kompetenzen und Fähigkeiten, die für ein angemessenes und sachkundiges Handeln notwendig sind, nicht mehr allein im Zusammenleben der Menschen und Generationen tradiert werden, sondern immer mehr Inhalte künstlich in der Schule vermittelt werden müssen. Insofern sind die Kinder in der Elementarschule gefordert, jenen Übergang
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einzuüben und zu vollziehen, der zentral für die Aneignung allgemeiner Sachverhalte ist. »Es ist dies der Blickwechsel von einem Denken, Lernen und Handeln in den Sphären unmittelbarer Welterfahrung und zwischenmenschlichen Umgangs in die Erfahrungs- und Umgangsformen eines szientifischen und historischen Wissens und Könnens« (ebd.: 74). Die Erfahrung sowie die Anstrengung zum Vollzug dieses Blickwechsels dürfe im Sinne einer zeitgemäßen Mündigkeit keinem vorenthalten werden (vgl. dazu auch Mollenhauer 1994: 52f.). Jener Übergang von gesprochener Sprache und unmittelbarer Interaktion zu Schriftsprache und schriftlicher Kommunikation ist schließlich die Voraussetzung zum Erreichen der zweiten Schulstufe allgemeiner schulischer Bildung. Dort werden die Fähigkeiten dahingehend erweitert, dass nun auch im Medium der Schriftsprache jenseits einer Einheit von Leben und Lernen gelernt und weitergelernt werden kann, um sich jene ohne die Schule nicht tradierbaren Kulturbereiche anzueignen. Den Bildungsgehalt der dritten Schulstufe bestimmt Benner schließlich im Rekurs auf die Schulpläne Humboldts als wissenschaftspropädeutisches Wissen und dazugehörige Reflexionsformen. Wissenschaften müssten dabei so gelehrt und vermittelt werden, »dass die Lernenden sich mit den zwischen umgänglichen und wissenschaftlichen Weltverhältnissen bestehenden Differenzen auseinandersetzen« und diese in ihrer Entstehung und ihren Konstruktionen reflektieren (Benner 2002: 75). Die leibphänomenologisch fundierten Begründungen für die Bedeutung der ästhetischen Erfahrung in der Grundschule knüpfen nun genau an jenes hier von Benner bildungstheoretisch konkretisierte Übergangsmoment von unmittelbarer Welterfahrung und gesprochener Sprache zu höhersymbolischen Ausdrucksformen an. Kindliches Zur-Welt-Sein unterscheidet sich nach diesen Ansätzen nicht nur graduell, sondern prinzipiell von dem des Erwachsenen. Die sich vollziehenden Lernprozesse und insbesondere die Einmündung in die besondere Form institutionalisierter Bildung erfordern entsprechend ein grundsätzliches Umlernen im Sinne eines komplexen Umstrukturierungsprozesses der bisherigen Wirklichkeitserfahrung (vgl. Meyer-Drawe 1984: 28). Das kindliche Vorwissen erweist sich dabei laut Meyer-Drawe als vortheoretisches und vorobjektives Wissen. Das Kind realisiert nicht nur eine Wahrnehmungsmöglichkeit, sondern ein Feld von Möglichkeiten. So reagiert es nicht auf denselben Gegenstand in jeweils derselben Weise, sondern verschieden im Hinblick auf verschiedene Situationen. »Die funktionale Gebundenheit oder vielmehr funktionale Fixierung des Handelns ist eher kennzeichnend für die Erwachsenenperspektive, in der bestimmte Erfahrungen die Beweglichkeit des Denkens einschränken, in-
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dem Dinge nur auf bestimmte Verwendungszwecke festgelegt werden. Deshalb staunen wir oft angesichts der Phantasie von Kindern« (ebd.: 28). Zu erwerbendes Wissen wird bei Kindern nach solchen Ansätzen nicht in eine vorgegebene Sinnmatrix integriert, wobei sich weder das Wissen noch die Matrix ändern (vgl. ebd.: 34), sondern Lernen ist aus dieser entwicklungstheoretisch-leibphänomenologischen Perspektive, mit dem Akzent auf der Symbolentwicklung, permanenter Umbau einer Beziehung zur Welt. Dabei beginnt Lernen und insbesondere auch schulisches Lernen als erste professionell-institutionell organisierte LehrLernform nie beim Nullpunkt. »Es knüpft immer an Vorerfahrungen und Vorverstandenes an und ist insofern ein Umlernen« (Seewald 1992: 486). Eine stärkere Gewichtung ästhetischer Erfahrung bzw. ästhetischer Erziehung in der Grundschule lässt sich somit leicht mit der Hoffnung verknüpfen, die dem kindlichen Erleben angenommenerweise nahe stehenden Erfahrungsformen der ästhetischen Erfahrung würden den Weg in die institutionalisierten Lern- und Bildungsformen ebnen. Gundel Mattenklott argumentiert, dass ästhetische Erziehung in der Grundschule eine leiborientierte Erziehung und ein leiborientiertes Lernen verbürgt und so insbesondere an die leibnahe Welt der Kinder anknüpft. Ästhetische Erziehung »erleichtert und fördert durch die Rückbindung an die leiblichen Wurzeln der Symbolbildung die neuen Lernprozesse, die anzubahnen und zu vertiefen die Aufgabe der Grundschule ist: die Einführung in die Symbolsysteme der Schrift, der Mathematik, des sozialen und politischen Lebens sowie die Ermutigung und Anregung erster Schritte auf dem Weg zu den Wissenschaften« (Mattenklott 1998: 32). Auch Oevermann betont die Bedeutung ästhetischer Erfahrungen für die Schule. Er erinnert daran, dass das Wort Schule auf das griechische »scholé« () zurückgeht, welches »Muße« bzw. in »Muße zu erledigen« bedeutet (Oevermann 2004: 169). Oevermann sieht entsprechend die Aufgabe der Schule darin, durch Muße Krisen herzustellen, um ein Lernen bzw. eine Erkenntnis um ihrer selbst willen zu ermöglichen. Zur Beförderung einer solchen Erkenntnisform sei jedoch die Achtung und die Bewahrung der Neugierde des Schülers eine grundsätzliche Voraussetzung schulischen Lernens. Die gesetzliche Schulpflicht gründet das Lernen in der Schule nun jedoch statt auf Neugierde auf äußeren Zwang. Darin besteht die zentrale Kritik Oevermanns an der Grundstruktur institutioneller Bildung. Denn aufgrund dieser Zwangssituation kommt es zu einer Aberkennung und Hemmung von Neugierde und in der Folge zu einer Verhinderung pädagogischer Arbeitsbündnisse, wodurch eine Professionalisierung des Lehrerhandelns seiner Ansicht nach unmöglich ist (vgl. ebd.: 177).
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Unter der strukturellen Voraussetzung einer Entlastung der Schule von dem äußeren Zwang zur Bildung und zum Lernen sowie einer dazu tretenden Befreiung von der Pflicht der Notengebung, die nach Oevermann an die aufnehmenden Institutionen bzw. Arbeitgeber übergeben werden könnte (vgl. Oevermann 2002), hegt dieser demnach keine Vorbehalte gegenüber der möglichen Stärkung des ästhetischen Erfahrungsmodus in der Regelschule. Die Krise durch Muße ist für ihn stattdessen insbesondere in der Schule, in der es immer auch um die Bildung von Subjekten geht, die zu befördernde Ur-Form von Erkenntnis (vgl. Oevermann 2004: 167), weil sie als solche noch keinen Nutzungserwartungen unterliegt. Für ein differenzierteres Verständnis der Oevermann'schen Position ist eine Darstellung der Bestimmungen pädagogischer Professionalität sowie deren zentraler Handlungsform des Arbeitsbündnisses notwendig, die im Folgenden als Exkurs eingefügt wird.
Exkurs: Pädagogische Professionalität und Arbeitsbündnisse Professionen sind gekennzeichnet durch ein hohes Maß an Autonomie in der Bestimmung und Kontrolle der Beraufsausbildung und -ausübung. Sie verfügen über ein vergleichsweise hohes gesellschaftliches Prestige und Einkommen, in der Regel über eine akademische Ausbildung und sind durch ihre jeweilige Professionsethik der Erfüllung zentraler gesellschaftlicher Werte verpflichtet (vgl. Oevermann 2002: 21). Dabei können sie weder durch den Markt noch administrativ angemessen kontrolliert werden. Sie sind insofern weitgehend autonom und unterliegen lediglich einer professionsethischen kollegialen Kontrolle. Der Grund für diese privilegierte Stellung ist nach Oevermann nun nicht das Ergebnis eines historisch und gesellschaftlich erfolgreichen Kampfes um ein Machtmonopol, sondern in der allgemeinen Strukturlogik und Dynamik des der beruflichen Praxis inhärenten Handlungsproblems dieser Professionen angelegt. Jenes spezifische Handlungsproblem besteht darin, dass Professionen sich darauf gründen, »stellvertretend für Laien, d.h. für die primäre Lebenspraxis, deren Krisen zu bewältigen« (ebd.: 23). Diese Bestimmung setzt voraus, dass bis dahin geltende und für unproblematisch gehaltene Routinen der Lebensführung in Frage gestellt werden, sodass es zu einer Krise bzw. zu einem krisenhaften Scheitern der Alltagspraxis kommt. Die professionelle Praxis übernimmt dann im Sinne einer stellvertretenden Krisenbewältigung zum einen die Aufgabe, die »somato-psycho-soziale Integrität der je konkreten Lebenspraxis« (einer Person,
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einer Familie oder einer größeren Gemeinschaft) zu gewährleisten und zum anderen die Verpflichtung, die »Gerechtigkeit im Zusammenleben eines vergemeinschafteten Verbandes« (ebd.) sicherzustellen. Um diese Aufgaben erfüllen zu können, bedarf es im Sinne einer Expertise der jeweiligen Professionen abstrakten und methodisch gesicherten Wissens als Begründungsbasis für das praktische Handeln der stellvertretenden Krisenbewältigung. Zur Verdeutlichung unterscheidet Oevermann zwei Formen der Wissensanwendung. Die ingenieurale Praxis und die Interventionspraxis: Im ersten Fall handelt es sich um normier- und standardisierbare Funktionszusammenhänge. Auftretende Schwierigkeiten können subsumtionslogisch bestimmten Problemlösungsstrategien und Methoden untergeordnet werden, sodass es meistens nicht nötig ist, für die je konkret auftretenden Probleme neues Wissen zu entwickeln, sondern es in erster Linie darum geht, bereits routiniert zur Verfügung stehende Kenntnisse, z.B. im Sinne einer Technik, anzuwenden. Das interventionspraktische Handeln ist dagegen durch eine grundsätzlich andere Strukturlogik bestimmt. Zwar kommt auch dort dem Anwendungswissen eine gewisse Bedeutsamkeit zu, es steht aber nicht im strukturbestimmenden Zentrum dieser Handlungspraxis. Die Interventionspraxis hat es dementsprechend mit nicht standardisierbaren Problemstellungen zu tun, die aus genuinen Krisenkonstellationen von Lebenspraxen resultieren. Diese können aus dieser primären Praxis heraus nicht mehr gelöst werden, sodass die Bewältigung an jene professionelle, wissenschaftlich begründete Expertise delegiert werden muss (vgl. ebd.: 25). Die zu gewährende Hilfe ist nun aus dem Grund nicht standardisierbar, weil sie immer auf die Eigenart und Eigenlogik eines individuellen Falles bezogen bleibt, der nicht unter bestehende Lösungsstrategien subsumiert werden kann. So kann eine Hilfe zur Bewältigung akuter Krisensituationen immer nur fallspezifisch umgesetzt werden. Da es sich dabei in der Regel um konkrete Personen handelt, die eine solche Hilfe in Anspruch nehmen, weil sie die auftretenden Schwierigkeiten nicht mehr selbstständig bearbeiten können, muss die stellvertretende Krisenbewältigung so gestaltet werden, dass sie diesen Autonomieverlust, bzw. die entstehende Abhängigkeit des Klienten von dem Professionellen in der Struktur der Hilfebeziehung aufhebt. Diese besondere Struktur der Hilfebeziehung nennt Oevermann dann das Arbeitsbündnis. Aufbauend auf dieser Bestimmung professionellen Handelns ist nun für Oevermann auch die Tätigkeit von Lehrern eine Form stellvertretender Krisenbewältigung (vgl. ebd.: 29) und in diesem Fall der Schüler der Klient in einem
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pädagogischen Arbeitsbündnis.41 Die Lebenspraxis des Schülers ist in diesem Fall allein aus dem Grund krisenhaft, weil dieser zumindest bis zum Erreichen der Adoleszenzkrise noch nicht in der Lage ist, zum Lehrer eine reine Rollenbeziehung einzugehen. Der Schüler befindet sich somit ungefähr bis zur 10. Klasse in struktureller Ambivalenz zwischen einer spezifischen Rollenbeziehung mit dem Lehrer und einer Beziehung als ganze Person mit dem Lehrer als ganzer Person. In der Schule erfolgt aus diesem Grund eine Assimilierung an die Praxis des primären familiären Sozialisationsprozesses. Die Pädagogik erbringt damit in zweierlei Hinsicht eine stellvertretende Sozialisationsleistung als stellvertretende Krisenbewältigung:42 zum einen in der Beziehung zum einzelnen Schüler und der Schülergruppe und zum anderen gesellschaftlich dort, wo historisch, wie auch Benner konstatiert, aufgrund des kumulativen Anstiegs gesellschaftlichen Wissens die Familie die Vermittlung dieses Wissens nicht mehr gewährleisten kann und sie an didaktische Experten delegieren muss. Diese damit in der Schule bereits aufgrund des Alters der Kinder und der Übernahme der Bildungsaufgabe bestehende Grundstruktur der Ambivalenz zwischen diffuser (Beziehung zwischen ganzen Personen) und rollenförmiger Beziehung ist nun nach Oevermann die Grundvoraussetzung für ein gelingendes Arbeitsbündnis. In dieser »übergänglichen strukturellen Ambivalenz von spezifisch und diffus [liegt] zugleich eine günstige natürliche strukturelle Voraussetzung für die Integration in ein Arbeitsbündnis der pädagogischen Praxis« (ebd.: 42). Die Struktur dieses Arbeitsbündnisses entwickelt Oevermann dabei in Anlehnung an die therapeutische Beziehung zwischen Arzt und Patient: Unter dem obersten Ziel, die somato-psycho-soziale Integrität des Klienten aufrechtzuerhalten, vollzieht sich das Arbeitsbündnis als eine widersprüchliche Einheit zwischen spezifisch und diffus. Der Klient folgt in seinem Verhalten der Grundregel: »Eröffne Dich bedingungslos in allem, was dir durch den Kopf geht, teile gerade auch das Dir ganz unwichtig Erscheinende und vor allem auch das Dir Peinliche mit« (ebd.). Diese Grundregel entspricht nach Oevermann der diffusen Sozialbeziehung. Der Klient überträgt so die im Fall der Therapie pathogene Konstellation seiner sonstigen sozialisatorischen Lebenspraxis auf die diffuse Beziehung mit dem Therapeuten, sodass dieses Verhältnis nun beim Therapeuten Gegenübertragungsgefühle und -empfindungen erzeugt (vgl. Oevermann 1999: 116). Es handelt sich dabei um eine Art der Re-Inszenierung der
41 Darüber hinaus unterhält der Lehrer ein Arbeitsbündnis mit der Schülergruppe und den Eltern des Schülers (vgl. ebd.). 42 Wie bereits erwähnt, verläuft der Sozialisationsprozess nach Oevermann prinzipiell krisenhaft (Oevermann 2004).
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Verstrickungen und der Symptome des Patienten, und jener gelangt so zu einem individuellen Sinnverständnis für dessen Situation. Im Unterschied zum Klienten partizipiert der Professionelle jedoch rein innerlich an der diffusen Sozialbeziehung (vgl. ebd.: 117), denn er darf die Gegenübertragungsgefühle nicht ausagieren oder äußern. Insofern gilt für den Therapeuten die Abstinenzregel: »Sei spezifisch«. Von seiner Seite aus verbleibt die therapeutische Beziehung im Modell der spezifischen Rollenbeziehungen, die darüber hinaus in der Begrenzung der Gesprächszeit und der gesamten Behandlung angelegt ist. Diese damit offene Asymmetrie verkörpert die spezifische Maxime des Arbeitsbündnisses. Die Gesprächszeit wird so zu einer Art von »szenischem Verstehen« der latenten Sinnstruktur des Klienten – seiner Traumatisierungsgeschichte und der Sinngestalt seiner Krankheit (ebd.: 120). Die Voraussetzung dafür, dass eine Person sich überhaupt in eine solche Behandlung begibt und es in der Folge möglich wird, eine Arbeitsbündnisbeziehung zu etablieren, ist in der Regel nun der aus einer Manifestation der Krise resultierende Leidensdruck. Der Klient begibt sich also aus seinem eigenen Antrieb heraus in diese Beziehung mit dem Therapeuten. Oevermann überträgt nun dieses Modell auf das pädagogische Handeln und setzt an die Stelle des Leidensdrucks die naturwüchsige Bedingung der Neugierde beim Schüler. So bekennt der Schüler offen, noch nicht alles zu wissen, was man wissen möchte und sollte, was dazu führt, dass er bereit ist, ›alles dafür zu tun‹, diese Wissenslücke zu schließen. Die gesetzliche Schulpflicht erkennt dem Schüler aber diese von ihm ausgehende Neugierde ab. Dadurch geht die Grundvoraussetzung für ein gelingendes Arbeitsbündnis verloren und die Lehrer können nicht als Professionelle mit den Schülern in der Schule arbeiten. Aus diesem Grund bescheinigt Oevermann der pädagogischen Praxis in der Schule eine nicht vollzogene Professionalisierung trotz immenser Professionalisierungsbedürftigkeit. Das führt dazu, dass das Selbstverständnis von Lehrern mehr dem eines Erfüllungsgehilfen operationalisierbarer Lernziele entspricht als dem eines autonomen Gestalters fallspezifischer Lern- und Bildungsprozesse. »Das Fehlen einer institutionalisierten professionalisierten Praxis drückt sich vor allem aus in dem Fehlen einer gelassenen problemorientierten Annahme der pädagogischen Grundsituation als Krise. Stattdessen wird die Krise als Krise befürchtet und als Ausnahme bzw. als Zeichen individuellen Versagens abgewehrt. Dadurch entsteht eine permanente Überforderung und ein Dauerstress des Empfindens des Versagens auf der unrealistischen Folie eines tech-
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nokratisch-normativen Modells standardisierten Funktionierens« (Oevermann 2002: 49f.). Die Lehrer-Schüler-Beziehung, die demnach als widersprüchliche Einheit von spezifischen und diffusen Sozialbeziehungen gekennzeichnet werden kann (vgl. Helsper u.a. 2007: 507), bleibt in ihrem Zentrum dabei immer eine sachhaltige und sachvermittelnde (vgl. ebd.: 509), die für die Vermittlung der Sache jedoch die Person des Schülers im Blick behalten muss (vgl. ebd.: 507). 2. Entgegen der nun also abgebildeten Auffassung, ästhetische Erfahrung müsse sozusagen in das Kerngeschehen schulischen Handelns eingebunden werden, wird im Kommenden auf die zumindest theoretisch nicht vollständig aufzuhebende ›Sperrigkeit‹ einer solchen Verbindung von ästhetischer Erfahrung respektive ästhetischer Bildung und schulischen Vermittlungsaufgaben, eingebettet in die einzelschulspezifische Schulkultur, hingewiesen. Entsprechend der Anlage der Arbeit geht es auch hier nicht darum, in Frage zu stellen, dass ästhetische Erfahrungen in der Schule stattfinden können. »Denn tatsächlich geschieht ja Tag für Tag, in Schulen, Familien und anderswo anscheinend dauernd das, was manch einer ›ästhetische Bildung‹ nennt – wenngleich nicht mit dieser Absicht; aber ist das wichtig? Man könnte deshalb meinen, dass das Stichwort ›ästhetische Bildung‹ etwas hervorhebt, was ohnehin geschieht« (Mollenhauer 1988: 458). Vor diesem Hintergrund finden sich an den meisten Schulen mehr oder weniger gelungene Einzelprojekte, Kunstunterrichtsstunden oder Projektangebote, in denen es gelingt, Räume für Krisen durch Muße zu eröffnen. Im weiteren Sinn eines Verständnisses von Schulkultur kann in diesen Fällen auch durchaus von einer kulturellen Bereicherung des Schullebens gesprochen werden, das für Lehrer und Schüler einen besonderen Wert in sich birgt. Die vorliegende Studie fragt nun aber entsprechend den Anspruchshaltungen bezüglich der Schulprogrammentwicklung (vgl. Kapitel 1), inwiefern eine Kunstbetonung in den Kern schulischen Handelns im Sinne der schulkulturellen Bestimmungen von Helsper u.a. (2001) vorrücken kann. Da nun gegenwärtig die allgemeine Schulpflicht eine nicht hintergehbare Bedingung schulpädagogischen Handelns ist, kann mit Helsper (2001, 2000) davon ausgegangen werden, dass innerhalb der Schulkultur auf der Ebene des Realen nicht aufhebbare antinomische Strukturen angesiedelt sind, die die Grundlage jeder spezifisch ausgeformten Schulkultur darstellen. Die innerhalb der Schule pädagogisch Handelnden können auf der Ebene der symbolischen Ordnung der einzelnen Schule insofern nur spezifisch ausgestaltete Strukturvarianten dieser
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Grundantinomien des pädagogischen Lehrerhandelns ausbilden. Vor diesem Hintergrund kann, wie im ersten Kapitel bereits erarbeitet wurde, vermutet werden, dass eine spezifische inhaltliche Profilierung der Einzelschule sich innerhalb einer solchen schulkulturellen Ausdrucksgestalt in besonderer Weise niederschlägt. Es bleibt die erkenntnisleitende Frage, wie und ob die Kunst und die ihr zugeordnete Erfahrungsform in die symbolische Ordnung der Einzelschule eingehen kann. Um anhand dieser antinomischen Strukturen die Schwierigkeiten aufzuzeigen, die aufkommen, wenn das Ästhetische zu einem »pädagogischen Projekt« (Mollenhauer 1988: 458) in der Schule werden soll, wird an dieser Stelle ein weiterer Exkurs eingefügt, der jene Grundantinomien schulpädagogischen Handelns nach Helsper zusammenfassend vorstellen soll.
Exkurs: Antinomien schulpädagogischen Handelns Ein Verständnis von Schulkultur als konflikthafte Auseinandersetzung um dominante Deutungsmuster zentriert sich um ein Verständnis der Profession des Lehrers als eine in grundsätzliche Antinomien verstrickte. Die Antinomien professionellen Handelns im pädagogischen Feld als lediglich handhabbare und reflektierbare, aber nicht hintergehbare Widersprüche werden von Helsper (Helsper u.a. 2001: 39ff.) in Anlehnung an die bei Oevermann (1999) und Schütze (1999) entwickelten Kategorien auf vier Ebenen ausdifferenziert: 1. Die erste Ebene meint die konstitutiven nicht aufhebbaren pädagogischprofessionellen Antinomien des lebenspraktischen Handelns. 2. Die zweite Ebene beschreibt daraus resultierende konkrete Handlungsdilemmata, die in realen Situationen im Sinne von Fallstrukturvarianten konkrete Gestalt annehmen. 3. Die dritte Ebene fasst konkrete, aber grundsätzlich aufhebbare Ausformungen dieser Antinomien des lebenspraktischen Handelns an sich in spezifischen historischen und sozialen Institutionalisierungen und Organisationsrahmungen. 4. Die vierte Ebene verweist auf ein Zusammenwirken von Professionalisierungs- und Modernisierungsantinomien. Konstitutive nicht aufhebbare pädagogisch-professionelle Antinomien des lebenspraktischen Handelns (Ebene 1) sind:
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Begründungsantinomie: eine verstärkte Handlungsforderung in Stellvertretung für eine noch nicht entfaltete Lebenspraxis. Dieser Handlungs- bzw. Entscheidungszwang ist allerdings nur auf der Basis eines methodisch kontrollierten und nach expliziten Gütekriterien bewährten Wissens vertretbar. Es resultiert die Antinomie, nicht Nicht-Handeln zu können, dies aber nur zu dürfen, wenn ausreichend abgesicherte Begründungen vorliegen. Praxisantinomie: Widerspruch der Vermittlung von Theorie und Praxis. Die notwendigen theoretisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse sind nicht kongruent in Praxis übersetzbar. Subsumtionsantinomie (Routineparadoxie): Professionelles pädagogisches Handeln ist nicht standardisierbar. Daraus entsteht die Paradoxie, dass konkrete Fälle einerseits subsumtiv unter wissenschaftliche Begriffe und Kategorien eingeordnet werden, andererseits hierin immer die Gefahr einer vorschnellen Typisierung liegt, die dem Einzelfall und dessen Prozess nicht mehr gerecht wird. Ungewissheitsantinomie: Pädagogisches professionelles Handeln ist damit keine eindeutig bzw. einseitig steuerbare Intervention, sondern als Interaktion prinzipiell von der Mitwirkung des ›Anderen‹ abhängig. Symmetrie- bzw. Machtantinomie: Diese Interaktion ist zudem durch die Antinomie strukturell gegebener Asymmetrie und strukturell erforderlicher Symmetrisierung gekennzeichnet. Trotz der prinzipiell nicht aufhebbaren Asymmetrie in pädagogischen Verhältnissen bedarf es immer wieder symmetrischer, gleich gewichteter Verhältnisse, um Problemlösungen zu entwickeln. Auf der zweiten Ebene findet sich nun nicht eine Zuspitzung der Antinomien der Lebenspraxis an sich, sondern hier wird professionelles Handeln als Beziehungsstruktur problematisiert, die zum einen rollenförmigen, doch zugleich auch nicht-rollenförmigen Ansprüchen genügen muss: Nähe-Distanz-Antinomie: In Bezug auf das Lehrerhandeln43 wird hier problematisiert, dass dieses einerseits eine besondere persönliche Distanz erfordere, die nicht nur die Problematik der Leistungsbeurteilung, sondern ebenso die Gefahr affektiver Beeinflussung und Abhängigkeit, insbesondere jüngerer Schüler mit bedenkt, zum anderen zielt Lehrerhandeln im Sinne der Förderung oder Behinderung umfassender Bildungsprozesse und besonders im Fall von Lernproblemen und Lernschwierigkeiten auf die ganze Person des Schülers.
43 Im Folgenden wird hauptsächlich auf die Passagen der Ausführungen Bezug genommen, in denen aus den grundlegenden antinomischen Figuren bereits spezifische Schlussfolgerungen für das Lehrerhandeln entwickelt werden.
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Sachantinomie: Vermittlungsprozesse können sich an der konkreten Person, dem Schüler und seiner Biografie orientieren oder an der zu vermittelnden Sache und deren Eigenstruktur als ebenso sozialer wie normativer Konstruktion. »Ein universalistisch und abstrakt gültiger Gegenstand muss somit zu einem spezifischen und lediglich partikular gültigen Gegenstand, wie er sich in der Lebenswelt und Person einzelner Schüler und deren Ausgangslage herauskristallisiert, in Beziehung gesetzt werden« (Helsper u.a. 2001: 52). Implizit besteht hier die ständige Gefahr, das eine auf Kosten des anderen zu verfehlen und damit keine »Transformation des Gegenstandes durch die Person der Schüler hindurch« (ebd.) zu erreichen. Differenzierungs-/Pluralisierungsantinomie: Lehrer sind in der Institution Schule zum einen mit dem Anspruch konfrontiert, alle Schüler gleich zu behandeln, um in Absehung partikularer oder milieu-spezifischer Interessen formal gleiche Rechte als Ausdruck egalitärer moralischer Anerkennungsverhältnisse durchzusetzen. Jedoch bedeutet gerade diese »Gerechtigkeitshaltung« (ebd.: 53), dass Schüler, die aufgrund milieuspezifischen Ressourcenmangels oder aufgrund familiärer oder lebensgeschichtlicher Problembelastungen Nachteile und Bildungsdefizite aufweisen, Benachteiligung erleiden. Hier stellt sich die Frage differenzierter Integration, denn Zuwendung zu den strukturell Benachteiligten bedeutet auch, dass für andere Schüler mögliche Förder- und Unterstützungsmöglichkeiten verknappt werden. Organisations-/Routineparadoxie: Organisationsregeln und -routinen verleihen einerseits Stabilität und Sicherheit, bedrohen aber auf der anderen Seite die fallund situationsorientierte Flexibilität professionellen Handelns. Insbesondere in der Schule geht von der geradezu zyklischen Wiederkehr des Immergleichen die Verführung aus, das eigene Handeln zu routinisieren (vgl. ebd.: 54). Autonomieantinomie: Unter dieser Antinomie wird seit Kant (1983) die konstitutive Spannung von Autonomie und Heteronomie gefasst: Wie kann das Individuum lebenspraktische Autonomie erlangen, wenn es insbesondere durch erzieherisches professionelles Handeln Prozessen der Disziplinierung, Kultivierung, Zivilisierung und Moralisierung ausgesetzt ist. Der Heranwachsende wird damit innerhalb von Erziehungs- und Bildungsprozessen prinzipiell heteronom begriffen. Zugleich muss der Lehrer fortwährend Autonomie auf der Grundlage noch bestehender Heteronomie unterstellen (vgl. Helsper u.a.: 56). Die ersten zwei Ebenen, die die konstitutiven Antinomien modernen pädagogischen Handelns beschreiben, werden ergänzt durch eine dritte Ebene, auf der historische, kulturelle und soziale Widerspruchsverhältnisse unterschieden wer-
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den. Diese konfrontieren das Bildungssystem und das professionelle Lehrerhandeln mit zwar prinzipiell aufhebbaren, aber tendenziell inkompatiblen Ansprüchen und Leistungserwartungen (vgl. ebd.: 57) und führen zu einer Zuspitzung der konstitutiven Antinomien: Das Verhältnis von Bildung und Qualifikation wird dann zum Problem, wenn von der Schule interessensgebundene Bildungsleistungen erwartet werden, die partikularen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen oder betrieblichen Interessen entspringen. Der Widerspruch von Fördern und Auslesen »gilt als die zentrale Spannung innerhalb der sozialen Institutionalisierung und Organisation des Schulsystems« (ebd.: 8). Der Zusammenhang zwischen der Beurteilung schulischer Leistungen und der Zuweisung zukünftiger Lebenschancen über das Berechtigungssystem erzeugt insbesondere eine Zuspitzung der Differenzierungsantinomie. Lehrer, die sich zu sehr an fallspezifischen Besonderheiten orientieren, sehen sich schnell dem Vorwurf ausgesetzt, bessere Ausgangsbedingungen für einzelne Schüler zu schaffen. Zum anderen gleichen Lehrer nicht nur unterschiedliche Zugangsbedingungen aus, sondern sie erzeugen selbst Differenzen, teilen positive und negative Karrieren zu. Verschiedene Studien weisen nach, dass Lehrerhandeln damit langfristige Auswirkungen bezüglich des Scheiterns oder Gelingens lebenspraktischer Autonomisierung hat. Konstitutive Antinomien des Lehrerhandelns (Symmetrie-, Subsumtions- und Autonomieantinomie) werden hier über die Organisationsform des Bildungssystems als Zuteilung von Lebenschancen (vgl. ebd.: 58) zusätzlich verschärft. Eine weitere Problematik sieht Helsper in der »fremd gesetzten Zwangsförmigkeit« (ebd.: 60) des Schulbesuchs, die zunächst kein Arbeits- bzw. Vertrauensbündnis zwischen Lehrer und Schüler generiert. Allerdings kann man diesen Punkt entschärfen, wenn man die allgemeine Schulpflicht nicht als Belastungsmoment, sondern als Teil der Differenzierungs- und Autonomisierungsantinomie in modernen Gesellschaften betrachtet. Schulpflicht ist dann, ganz widersprüchliche Figur, nicht nur Zwang, sondern grundsätzlich auch Ermöglichungsgrund von Bildungsprozessen. Als übergeordnete Rahmung, die alle Antinomieebenen und damit ebenso die Ausformung professioneller Praxis beeinflusst, beschreibt Helsper auf einer vierten Ebene vier Modernisierungsantinomien: Differenzierungsantinomie: Hier wird die Gleichzeitigkeit zunehmender Vereinheitlichungstendenzen, z.B. der weltweiten Standardisierungen und Vernetzungen, wie sie sich beispielsweise derzeit im Bologna-Prozess an den Hochschulen oder
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allgemeiner im Zusammenhang der Globalisierung finden, und die zunehmende Ausdifferenzierung von Handlungsbereichen und Pluralisierung von Lebensformen und Weltdeutungen gefasst. Rationalisierungsantinomie: Fortschreitende Rationalisierungsprozesse vergrößern die Kluft zwischen dem, was das einzelne Individuum zu erfassen und zu begreifen in der Lage ist, und organisatorischen und kulturellen Formationen. Eine zunehmende Ausdifferenzierung vergrößert auf dieser Ebene zugleich die abstrakte Macht von Organisationen und Institutionen. Zivilisierungsantinomie: Diese Antinomie beschreibt den Widerspruch zwischen individueller Emotionalität, die verstärkt ausgedrückt wird und als hoher Anspruch auf Verständigung und Nähe einer Form der Selbstkontrolle gegenübersteht, die aus den rationalisierten Anforderungen erwächst. Individualisierungsantinomie: Eine zunehmende Freisetzung von Wahlmöglichkeiten erzwingt geradezu ein aktives, selbstverantwortlich handelndes Individuum (vgl. ebd.: 64). Dabei kann zu viel Entscheidungsraum als belastend erlebt werden. Wirkende Macht- und Abhängigkeitsmechanismen (bspw. über die Medien) sind dabei schwer durchschaubar und wenig veränderbar. In Bezug auf diese Ausdifferenzierung antinomischer Strukturen schulpädagogischen Handelns kann nun formuliert werden, dass sich die Kritik Mollenhauers an den Hoffnungen auf eine angemessene Menschenbildung durch den Rekurs auf ästhetische Erfahrungen innerhalb der Schule zu Ende der 1980er und zu Beginn der 1990er-Jahre, sozusagen ›einseitig‹, gegen diese Bemühungen richtet. Die Pädagogik, so Mollenhauer, sei einerseits am Verstandesgebrauch, andererseits an Handlungskompetenz interessiert und tue sich demnach schwer mit der Eigentümlichkeit ästhetischer Erfahrung. Diese bleibt nämlich, wie gezeigt wurde, subjektiv fundiert, sodass der Inhalt der jeweiligen Erfahrung unabhängig von der Person, die sie macht, nicht bestimmt werden kann. Insofern kollidiert die Voraussetzung der Muße oder der Freisetzung von Fremdbestimmungen und zweckorientiertem Handeln mit einer Vorstellung pädagogischer Praxis, die ihre »Fluchtpunkte in klaren Verstandesbegriffen und zuverlässigen ethischen Handlungsorientierungen sucht« (Mollenhauer 1990: 484). So ist es nicht möglich, dieses ästhetische Ich bzw. den besonderen Modus ästhetischer Erfahrungen in einen vor allem in der Schule herrschenden Bildungsbegriff einzuordnen, »der auf gesellschaftliche Integration, auf zeitliche Kontinuitätsannahmen setzt und der in der Bildmetapher der Perspektive sich kurz und bündig beschreiben ließe« (ebd.: 489). Diese sehr skeptische Haltung Mollenhauers gegenüber einer gelingenden Verbindung von Pädagogik und Ästhetik in der Schule kann nun vor dem Hintergrund
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2. Kunst und Schulkultur
der von Helsper ausgearbeiteten antinomischen Strukturen weiter ausdifferenziert werden. So kann formuliert werden, dass Mollenhauer in seiner Kritik an der pädagogischen Praxis schulpädagogisches Handeln nicht als widersprüchliche, sondern als eindeutige, an klaren Verstandesbegriffen und zuverlässigen ethischen Handlungsorientierungen ausgerichtete Praxis begreift. Verortet man die ästhetische Erfahrung innerhalb der antinomischen Strukturen, dann zeigt sich aber vielmehr, dass eine pädagogische Praxis, die sich entsprechend einer kunstbetonten Schulprofilierung der Ermöglichung ästhetischer Erfahrungen verschreibt, sozusagen nur mit der einen Seite dieser Handlungspraxis in Konflikt gerät. Und zwar kollidiert sie dann insbesondere auf der zweiten Ebene der konkreten Handlungsdilemmata mit der Notwendigkeit der Leistungsbeurteilung, einem Vermittlungsprozess, der an der Eigenart des zu vermittelnden Gegenstandes orientiert bleibt, einer direkten inhaltlichen (z.B. sprachlichen) Förderung benachteiligter Schüler und routinisierten Handlungsabläufen. Diese Schwierigkeiten werden auf jener dritten Ebene professionellen Handelns durch die gesellschaftlichen Aufgabenzuweisungen an die Schule als Ort der Qualifikation und der sozialen Auslese in Gestalt einer kohortenübergreifenden Gleichförmigkeit noch zusätzlich zugespitzt. Eine schulkulturelle Ausdrucksgestalt, die sich der Kunst und der dieser zugeordneten Erfahrungsform verschreibt, kann dagegen eben jenen anderen Pol des pädagogischen Handelns stärker gewichten: die ganze Person des Schülers, seine individuellen, biografisch geprägten Auseinandersetzungen und Erfahrungen mit den Dingen, seine dafür konstitutiven individuellen und habituellen Fähigkeiten und Voraussetzungen sowie die daraus folgende Ausrichtung der didaktischen Praxis am Einzelfall und der konkreten Situation. Auf der vierten Ebene, der Modernisierungsantinomien, wäre ebenso eine eindeutige Positionierung gegen die vereinseitigenden Prozesse einer zunehmenden Rationalisierung, Vereinheitlichung, Selbstkontrolle und zunehmender indirekter Zwangsförmigkeit möglich. Hier schließt sich die Frage an, inwiefern eine solche, hier bislang nur hypothetisch anzunehmende Schulkultur jener konstitutiv widersprüchlichen Struktur, die im Grunde als unhintergehbar anerkannt und reflexiv eingeholt werden muss, gerecht werden kann – oder ob sich die ästhetische Erfahrung tatsächlich als »Sperrgut« in der »pädagogische[n] Kiste« (Mollenhauer 1990: 484) erweist, weil sie zu einer einseitigen Transformation der Grundstruktur neigt und dann tatsächlich mit der schulischen Wirklichkeit in Konflikt gerät.
3. Methodologische Rahmung und methodische Anlage Bezüglich der methodologischen und der methodischen Anlage der Studie musste versucht werden, zum einen die Ebene der Institution zu erschließen und zum anderen die Bedeutung dieser institutionellen Sinnstrukturen für die in diesen handelnden Schüler zu erfassen. Hinzu kommt der Umstand, dass ästhetische Erfahrungen selbst, deren Möglichkeiten und Grenzen überdies innerhalb der Schulwirklichkeit erschlossen werden sollen, nur auf der Ebene des Einzelsubjekts nachweisbar sein können, da eine Institution im eigentlichen Sinn nicht dazu in der Lage sein kann, »eine Erfahrung [zu] machen« (Dewey 1934/1980: 47f.). Die Untersuchung ist daher in ihrer methodischen Grundstruktur als »zweiseitige Rekonstruktion« angelegt (Helsper/Bertram 1999: 268f.), in der zunächst unabhängig (a) auf der Grundlage einer Rekonstruktion der Einschulungsfeier, der Untersuchung des Schulprogramms der Schule und der Analyse von Lehrerinterviews eine Institutionenanalyse als Schulkulturanalyse sowie (b.1) ausgehend von Schülerinterviews biografisch-orientierte Schülerfallanalysen und (b.2) im Kontext der Schülerfallanalysen Interpretationen von im Kunstunterricht entstandenen Arbeiten durchgeführt und miteinander vermittelt werden. Die Analyse des erhobenen Materials wird im Wesentlichen sequenzanalytisch durchgeführt44 und folgt den methodologischen und methodischen Rahmungen der Rekonstruktionsmethode der objektiven Hermeneutik (vgl. z.B. Oevermann u.a. 1979, 1986; Wernet 2000; Schneider 1994; Sutter 1994; kritisch Reichertz 1994, 1995). Bevor die Darstellung der in dieser Arbeit vorgenommenen Materialerhebungen und -auswertungen konkretisiert wird, soll zunächst die Konzeption und methodische Umsetzung dieses Forschungsansatzes kurz vorgestellt werden. In Bezug auf die unterschiedlichen Forschungsgegenstände wird zu zeigen sein, aus welchem Grund sich die Methode der objektiven Hermeneutik sowohl für die Analyse der Schulkultur und die Rekonstruktion der Schülerpositionen als auch für die im Rahmen der Schülerfallanalysen herangezogenen
44 Die Darstellungen des Schulprogramms in Kombination mit der Auswertung eines Experteninterviews mit dem Rektor der Schule sowie die Analyse der Lehrerinterviews folgen einem anderen methodischen Vorgehen. Diese Entscheidungen werden im Abschnitt 3.4.1 (S. 107ff.) eigens begründet. Dort werden die besonderen methodischen Zugänge dieses Auswertungsschritts dargestellt.
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3. Methodologische Rahmung und methodische Anlage
Produkte aus dem Kunstunterricht anbietet, und wie die Vermittlung der Ergebnisse zueinander – ausdifferenziert für die Sinnebenen des Realen, des Symbolischen und des Imaginären – sowohl in Bezug auf die Institution als auch auf das Individuum geleistet wird.
3.1 Methodologische Grundbestimmungen der objektiven Hermeneutik Die objektive Hermeneutik ist nicht allein ein textanalytisches Verfahren, sondern baut auf jenem von Oevermann entwickelten Modell der Lebenspraxis auf, das in seinen Grundzügen in den vorangegangenen Kapiteln bereits entfaltet wurde. Wie dort expliziert, ist diese Lebenspraxis geprägt von dem Verhältnis zwischen Krisen und Routinen. Während die Individuen in der Regel auf der Basis bereits ausgebildeter routinierter Entscheidungsmuster handeln, ist die Krisensituation dadurch geprägt, dass keine bereits bewährten Strategien zur Verfügung stehen. So ist der Sozialisationsprozess an sich genuin krisenhaft (vgl. dazu auch Helsper 1989) und von den zu unterscheidenden Krisentypen – der Traumatischen Krise, der Entscheidungskrise und der Krise durch Muße – geprägt, die zudem innerhalb der Genese des Individuums in Abhängigkeit vom Lebensalter differierende Relevanz erlangen (vgl. Oevermann 2004: 165f.; vgl. Kap. 2.3, S. 68ff.). Alle Routinen gehen konstitutionstheoretisch aus Krisenlösungen hervor. Die Ausbildung einer Routine bedeutet die Beendigung einer manifest gewordenen Krise durch eine erfolgreiche Krisenlösung (vgl. Kramer 2002: 51). Aufgrund dieser beständigen Konfrontation des Individuums mit Krisensituationen, in denen neue Lösungen für auftretende Problematiken generiert werden müssen, ist der Sozialisationsprozess von Oevermann als zukunftsoffener Bildungsprozess des Subjekts definiert, in dem dieses sich seine eigene Zukunft durch die hypothetische Konstruktion möglicher Welten eröffnet und diese durch die selbsttätige Praxis der individuellen Krisenlösungen füllt (vgl. Oevermann 2004: 157). Dieser zukunftsoffene Bildungsprozess der Sozialisation ist insofern ein Ort der systematischen Erzeugung des Neuen als Strukturtransformationsprozess. Der Begriff der Lebenspraxis bezeichnet, losgelöst von einem alleinigen Blick auf das Individuum, diesen Prozess der Erzeugung des Neuen als einen fallstrukturgesetzlichen Zusammenhang von Leib, Seele und Sozialität (vgl. ebd.: 158). Dieser ist demnach Ausdruck einer spezifischen subjektiven Positionalität und zugleich bezogen auf die Reproduktion von Sozialität – nach Oevermann eine Lebenseinheit, in der sich Somatisches, Psychisches, Soziales und Kulturelles synthetisieren (ebd.). Lebenspraxis
3.1 Methodologische Grundbestimmungen der objektiven Hermeneutik
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wird nicht nur in der Biografie einer personalen Existenz verkörpert, sondern z.B. auch in der sozialisatorischen Praxis einer konkreten Familie. Diese Einbettung des einzelnen Falles und des Individuums in die soziale Realität bildet den Ausgangspunkt für die Bestimmung der objektiv-hermeneutischen Position als »strukturalistische«, die sich mit einer »rekonstruktionslogischen Methodologie« verknüpft (Oevermann 1996a: 1). Diese strukturale Soziologie hat ihre Basis primär in der Praxis der sozialen Akteure, in der sich sowohl diese Praxis als auch das Subjekt konstituiert. Die Interaktion ist die kleinste Einheit dieser Praxis und die Einzelhandlung lediglich von dieser abstrahiert (vgl. ebd.: 9). Aus dieser Grundbestimmung ergibt sich die Annahme der Regelgeleitetheit menschlichen Handelns, die in Gestalt von Erzeugungsregeln erster Ordnung (Parameter I; vgl. Oevermann 2004: 160) dem potenziell autonomen Subjekt als soziale Tatsache gegenübersteht und sich insofern auch als »Zwang« auswirken kann (Oevermann 1996a: 10). Allerdings bedingen sich nach Oevermann gesellschaftlicher Zwang und Autonomie gegenseitig, denn die autonome Lebenspraxis kann nun aus diesen Regeln erster Ordnung und den sich dort eröffnenden Entscheidungsmöglichkeiten eine charakteristische Auswahl treffen. Spezifische Dispositionen (Parameter II) erweisen sich dabei aufseiten des Subjektes oder des Falles als »Auswahlprinzipien« (Oevermann 2004: 160) als leitend. Aus dem Zusammenspiel zwischen den Parametern erster (I) und zweiter (II) Ordnung, ergibt sich zum einen die methodisch-propädeutische Bestimmung des Strukturbegriffs – denn Strukturen sind, im Gegensatz zu den sich in der sozialen Realität vielfältig aufspannenden generativen Regeln (I), immer Fallstrukturen konkreter historischer Gebilde (vgl. Oevermann 1996a: 12), die als Handlungseinheit abgegrenzt (vgl. Oevermann u.a. 1979: 7), und als Ergebnis von Bildungs- und Individuierungsprozessen (vgl. Oevermann 1981: 40) begriffen werden können, und zum anderen folgt daraus die methodologische Annahme der Sequenzialität menschlicher Praxis. Eine Sequenzstelle ist dadurch markiert, dass dort zunächst vor dem Hintergrund eines Aktes oder einer Äußerung durch Erzeugungsregeln objektive Möglichkeiten eröffnet werden, die eine Entscheidungssituation herbeiführen, die an einer folgenden Sequenzstelle durch den Vollzug einer Handlung geschlossen werden muss. Die Rekonstruktion solcher Sequenzen in hinreichender Zahl ermöglicht die Abbildung der Fallstrukturgesetzlichkeit einer Handlungseinheit als wieder erkennbare Entscheidungsform (vgl. Oevermann 2004: 160). Entsprechend können Transformations- und Reproduktionsprozesse dieser Fallstruktur im Verlauf der Analyse sequenzanalytisch bestimmt werden (vgl. Oevermann 1996a: 13, 1979: 423), da methodisch nun an jeder Sequenzstelle die sich eröffnenden, aber aufgrund der Fallstruktur nicht gewählten Handlungsmöglichkeiten expliziert werden können.
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3. Methodologische Rahmung und methodische Anlage
Bewusste Entscheidungen bilden einen Unterfall eines solchen meist durch Routinen schon vorbestimmten fallspezifischen Selektionsprozesses. In diesen kann sich eine bis dahin reproduzierende Fallstruktur potenziell transformieren (vgl. Oevermann 1995: 43). Die bewusste Entscheidung ist dabei für das Subjekt eine manifeste Krisen- und Belastungssituation, weil, wie bereits an anderer Stelle ausgeführt (vgl. Kap. 1), angesichts der prinzipiellen Zukunftsoffenheit der Lebenspraxis eine hinreichende oder gar rationale Begründung für die zu treffende Entscheidung nicht zur Verfügung steht. Oevermann spricht hier von der widersprüchlichen Einheit von Entscheidungsverpflichtung und Begründungszwang als nicht stillstellbarer Bewährungsdynamik, die universell für die Kultur als solche gilt (vgl. ebd.: 44). Innerhalb eines solchen transformatorischen Übergangs, in dem strukturell Neues erzeugt werden muss, benötigt es nun ein Drittes, das dialektisch zwischen den bestehenden rational begründeten Routinen und der rational noch nicht bewährten Krisenlösung, der manifesten Entscheidungssituation vermittelt (vgl. Oevermann 1995: 47; dazu auch Böhme 2001: 69f., 2000). Jenes »Dritte« bezeichnet dabei nicht die Inhalte des Neuen, denn diese bleiben unvorhersehbar, sondern einen als gesetzmäßig zu beschreibenden Prozess, den Oevermann in Anlehnung an Max Weber (1956, 1966) unter dem Begriff »Charisma« fasst. Charismatisch ist eine zu bestimmende Ablaufstruktur des krisenlösenden Prozesses autonomer Lebenspraxis, die aus zu unterscheidenden Phasen besteht. Sie beruht auf einem argumentativ gegenwärtig nicht zu begründenden Vorschlag, der gleichwohl einen Anspruch auf Begründbarkeit in der Zukunft erhebt. Dieser zunächst »imaginäre Lösungsentwurf« (Böhme 2001: 71) ist bei Oevermann der schon an anderer Stelle thematisierte (vgl. Kap. 2.2, S. 61ff.) ›Mythos der Bewährungsdynamik‹ (vgl. Oevermann 1995: 64). Durch den Bewährungsmythos »ist die Bewährungsdynamik zwar nicht stillgestellt, aber der Umgang mit ihr praktisch lebbar gemacht worden« (ebd.: 65). Für die Herstellung der Evidenz dieses akut nicht zu begründenden Mythos bedarf es nun der Charismatisierung dieses Lösungsentwurfes als eines suggestiven Verbürgt-Seins durch eine vergemeinschaftende Gefolgschaft zur Beruhigung der manifesten Krise der Bewährungsdynamik. Dieses Verbürgt-Sein gilt sowohl innerhalb einer konkreten Person als »Selbst-Charismatisierung« (ebd.) als auch für andere zu bestimmende Handlungseinheiten – z.B. als kollektive Bewährungsmythen innerhalb einer sich transformierenden Institution oder eines Milieus (vgl. dazu ausführlich Böhme 2001: 74f.).45 Die Strukturgesetzlichkeit der charismatischen Ab45 Die strukturell abstrahierte Aufspaltung in Führer und Gefolgschaft als »sozialer Diskurs« (Böhme 2001: 74) kann also auch innerhalb einer konkreten Person, sozusagen als Selbstverständigung, erfolgen. Böhme weist allerdings darauf hin, dass eine umfassende Selbst-Charismatisierung ohne den
3.1 Methodologische Grundbestimmungen der objektiven Hermeneutik
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laufgestalt zur Sicherung und Verbürgung eines Bewährungsmythos gliedert sich in die folgenden Phasen: erstens (1.) die Eröffnungsphase, in der eine Außeralltäglichkeit angezeigt wird. Bereits für die Herstellung dieser Differenz muss Gefolgschaft hergestellt werden, die sich in diese außeralltägliche Praxis einbinden lässt. Daraufhin wird (2.) durch einen Charismatiker auf eine wahrnehmbare Krise hingewiesen oder eine solche wird durch die Problematisierung des Bestehenden suggeriert. Es folgt (3.) die Formulierung eines Lösungsvorschlages und (4.) die Herstellung der Glaubwürdigkeit dieses Vorschlags durch eine konkrete Gefolgschaft, die sich allerdings von der Gefolgschaft unterscheidet, die »den charismatischen Ablaufprozess in jeder seiner Phasen als erfolgreiche Suggestivität ausweist« (Oevermann 1995: 50). In der fünften (5.) und letzten Phase wird dieser Vorschlag zur Krisenlösung der praktischen Bewährung ausgesetzt, der nun die Probe bestehen oder an der Praxis scheitern kann. Im Falle der Bewährung vollzieht sich die Veralltäglichung der Krisenlösung (ebd.). Obwohl im vorangegangenen Abschnitt von einem Bewusstsein über die Bewährungsproblematik innerhalb der manifesten Krisensituation gesprochen wurde, bleibt für die objektiv hermeneutische Sequenzanalyse die Differenz zwischen den latenten Sinnstrukturen einer Praxis und deren subjektiv intentionaler Repräsentanz ein konstitutiver Unterschied. Denn auch im Falle einer Transformation können sich die Subjekte nur im absoluten Grenzfall über den vollständigen Sinn ihrer Handlungen vergewissern (vgl. Oevermann u.a. 1979: 380). Methodisch kann insofern nicht von den Äußerungen des Subjekts auf dessen Handlungsdispositionen geschlossen, geschweige denn die Struktur dieses Handelns erschlossen werden. Allerdings kommt über den Grad, in dem für ein Subjekt oder eine Handlungseinheit die auf der Ebene der latenten Sinnstrukturen liegenden Optionen subjektiv intentional repräsentiert oder in Begriffen des Allgemeinen verfügbar gemacht worden sind, der »Grad der Individuierung« eines Subjekts oder eines sozialen Systems zum Vorschein (ebd.: 413). Aber auch eine solche geringe Differenz zwischen subjektivem Selbstbild und der davon zu unterscheidenden objektiven Bedeutung der latenten Sinnstrukturen kann nur über die Rekonstruktion der Fallstruktur sichtbar gemacht werden. Die methodische Aufmerksamkeit der objektiven Hermeneutik richtet sich also gemäß dieser Unterscheidung auf die Rekonstruktion latenter Sinnstrukturen. Methodisch geht sie entsprechend von einer »Nichtidentität« der Sinnebenen des subjektiv-intentionalen und des latenten objektiven Sinns aus, die Oevermann auch als zwei zu unterscheidende RealitätsRekurs bzw. die Regression auf kollektive inhaltliche Identifikationsangebote im Grunde nicht einlösbar ist. Insofern gründet sich die eigentliche Autonomie auch in diesem Fall auf die Reflexion von Einschränkungen im Bewusstsein der Illusion von Autonomie (vgl. Meyer-Drawe 2000).
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3. Methodologische Rahmung und methodische Anlage
ebenen bezeichnet46 (Wernet 2000: 18). Diese können in allen kulturellen Ausdrucksgestalten sprachlicher oder bildlicher Art sowie für unterschiedliche Handlungseinheiten bestimmt werden.
3.2 Das sequenzanalytische Verfahren der objektiven Hermeneutik In der objektiv-hermeneutischen Textinterpretation geht es also um die Rekonstruktion der Strukturiertheit der Selektivität einer protokollierten Lebenspraxis als einer dem Subjekt nicht zugänglichen und daher so genannten objektiven Bedeutungsebene der Handlungspraxis (vgl. Wernet 2000: 17). Der Gegenstand dieses methodisch kontrollierten Verstehensprozesses sind Protokolle von »realen, symbolisch vermittelten sozialen Handlungen oder Interaktionen, seien es verschriftete, akustische, visuelle, in verschiedenen Medien kombinierte oder anders archivierbare Fixierungen« (Oevermann u.a. 1979: 378). Das Material erster Wahl sind dementsprechend nicht standardisierte natürliche und am besten wörtliche Protokolle, des Ablaufs sozialer Interaktionen (vgl. Oevermann 1981: 46). Das bedeutet, dass ein methodischer Zugriff auf die unmittelbare Lebenspraxis nicht möglich ist, sondern immer nur über die Protokolle von Texten, oder über fixierte materiale Ausdrucksgestalten erfolgen kann.47 »Wirklichkeitswissenschaft ist Textwissenschaft« (Wernet 2000: 12). Ein adäquaterer Zugriff auf Wirklichkeit kann entsprechend nur durch ein besseres Protokoll hergestellt werden.48 Um dem Leser den Nachvollzug der nachfolgenden Analysen des empirischen Materials zu erleichtern, sollen im Folgenden die zentralen methodischen Prinzipien des Verfahrens kurz vorgestellt werden: Der erste Schritt besteht in der Beantwortung der Frage ›Was ist der Fall?‹ Da nämlich Protokolle Abbildungen von Interaktionen sind, kommen in ihnen bereits 46 Die Differenzierung der Realitätsebenen ist nicht im Sinne eines hierarchischen Verhältnisses zu deuten. Die Methode dient lediglich dem kontrollierten Verstehen der latenten oder auch objektiven (im Kontrast zu subjektiven) Sinnebene. 47 Wirklichkeit selbst ist dem Hier und Jetzt der Lebenspraxis vorbehalten (vgl. Oevermann 1993: 132). Neben dem Text gibt es für ein methodisch kontrolliertes Verstehen keinen unmittelbaren Zugang zur sozialen Lebenswelt. Impliziert ist darin die Annahme der Textförmigkeit sozialer Wirklichkeit. Denn die objektive Hermeneutik geht davon aus, dass sich die sinnstrukturierte Welt in Ausdrucksgestalten materialisiert, die als Texte behandelt werden können. Die soziale Wirklichkeit ist in diese Sinne textförmig. Protokolle repräsentieren als überdauernde Fixierungen die Textförmigkeit der Wirklichkeit (vgl. Oevermann 1986: 47; vgl. auch Oevermann 2004a: 426f.). 48 In der Objektiven Hermeneutik findet sich daher keine Logik von besonders ausgeklügelten Techniken der Datenerhebung. Alle Daten gelten als Texte und können in ihren Bedeutungsstrukturen rekonstruiert werden.
3.2 Das sequenzanalytische Verfahren der objektiven Hermeneutik
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mindestens drei Fallstrukturen gleichzeitig vor: die der beiden beteiligten Personen sowie die der jeweiligen Interaktion, die von ihnen konstituiert wird (vgl. Oevermann 1986: 61). Theoriesystematisch muss also zunächst die Bedeutung des Interpretationsvorhabens durch die Konkretisierung einer Fragestellung und die Fallbestimmung geklärt werden. Zum Zweiten soll durch die Thematisierung der Interaktionseinbettung die Besonderheit der protokollierten Praxisform kenntlich gemacht werden. In diesem Sinn ist es z.B. durchaus relevant, wo ein Interview stattfindet, oder wer beispielsweise als Interaktionspartner protokolliert wird (vgl. Wernet 2000: 54). Die konkrete Auswertung des Protokolls erfolgt nun als lückenlose Rekonstruktion der sequenziellen Erscheinungsweise der Lebenspraxis. So können an jeder Sequenzstelle die Optionen oder Möglichkeiten des weiteren Verlaufs einer Interaktion, die sich aufgrund der Regelgeleitetheit sozialen Handelns ergeben, über eine Auslegung aller objektiven Bedeutungsstrukturen bestimmt werden. Die darauf folgende tatsächliche Bewegung im Interaktionsablauf verdeutlicht, welche dieser Optionen realisiert werden und gibt Aufschluss über die objektive Bedeutung des Interaktionsablaufes (vgl. Oevermann 1981: 50f.). Eine Nicht-Bewegung ist gleichermaßen bedeutsam und erscheint (z.B. in Gestalt einer Pause) als unterlassene Handlung (ebd.: 51). Über die fortschreitende Sequenzanalyse, in der jeweils die Selektivität der Auswahl herausgearbeitet wird, liegt an einem bestimmten Punkt ein kumulatives Wissen über den interaktionsimmanenten Fortgang in Bezug auf die nächstfolgende Äußerung vor. Der dann bestimmbare Ausschluss von Optionen bildet die Reproduktionsgesetzlichkeit des Falles und damit die Fallstruktur ab (vgl. ebd.: 54). Vor dem Hintergrund der bestimmbar gewordenen Fallstruktur sind dann auch Transformationsprozesse ausweisbar. Praktisch erfolgt der Prozess der Interpretation in Gestalt einer von Oevermann so genannten »Kunstlehre« (Oevermann u.a. 1979: 391). Durch die Anwendung dieser Kunstlehre soll methodisch gesichert werden, dass die Interpretationsergebnisse, die aufseiten der Interpreten letztlich den Status von subjektiv-intentionalen Repräsentanzen nicht verlassen können, dennoch die latenten Sinnstrukturen in größtmöglicher Annäherung (vgl. Oevermann u.a. 1979: 390) erschließen. Empfohlen ist die gemeinsame Interpretation in der Forschergruppe, in der jeder Einzelne, so Oevermann in Rekurs auf die modernen Sprachtheorien Chomskys und Searles (vgl. ausführlich Sutter 1994: 26f.), über ein intuitives Wissen über die Angemessenheit von Äußerungen, Handlungen bzw. Bildern verfügt, das für die Interpretation in Anspruch genommen werden kann. In einem ersten Schritt werden Geschichten erzählt, in denen die zu analysierende Sequenz eine wohlgeformte Äußerung darstellt. Diese künstliche Explikation der sinnvollen Einbettung von »Interakten«, führt zu einer Datenbasis von »clear cases«. Das heißt, es werden in den Geschich-
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3. Methodologische Rahmung und methodische Anlage
ten aufgrund von Strukturgemeinsamkeiten Lesarten isoliert, in denen die Sequenz als wohlgeformte Äußerung erscheint. Schließlich werden die so gewonnenen Lesarten mit dem tatsächlichen Kontext konfrontiert.49 Dieser Vorgang bringt die Besonderheit der vorliegenden Fallstruktur hervor (vgl. zu der Isolierung dieser Vorgehensweise Wernet 2000: 40f.). Der Interpretationsprozess, der über das Erzählen von Geschichten beginnt und auf dieser Basis fortschreitet, unterscheidet sich somit erkenntnislogisch nicht von den Verfahren des Alltagswissens. Die weiteren Regeln der praktischen Interpretation als Kunstlehre intendieren nun jedoch, die Verschränkung von latentem und manifestem Sinn im Interpreten selbst methodisch zu kontrollieren, um die Wissenschaftlichkeit der objektiven Hermeneutik zu sichern (vgl. Oevermann u.a. 1979: 391). Übersichtlich sind die fünf Prinzipien der objektiv-hermeneutischen Textinterpretation bei Wernet (2000: 21ff.) erfasst und erläutert. Es sind dies (1) Kontextfreiheit, (2) Wörtlichkeit, (3) Sequenzialität, (4) Extensivität und (5) Sparsamkeit: (1) In der Interpretation wendet man sich dem Text in einer besonderen Haltung, der künstlichen Naivität, zu. Das bedeutet, dass eventuelles Wissen über den realen Kontext einer Handlung oder einer Äußerung bewusst ausgeblendet wird. Das ermöglicht die nicht durch Vorwissen eingeschränkte Explikation gedankenexperimenteller Kontexte, in denen die Äußerung als wohlgeformt und adäquat erscheint. Forschungsmethodisch geht es um die Vermeidung einer Zirkularität der Interpretation, die in der Gefahr steht, Vorverständnisse wieder zu entdecken. Diese Haltung gilt bis zum Zeitpunkt der Kontrastierung der so gefundenen Lesarten mit dem tatsächlichen Kontext und ist insofern vorläufig. Zentral ist dabei die Einhaltung des (2) Wörtlichkeitsprinzips, das mit dem methodologischen Postulat der Textförmigkeit sozialer Wirklichkeit korrespondiert. Der protokollierte Text muss sozusagen beim Wort genommen werden, auch und gerade dann, wenn innertextliche Widersprüche auftreten. Die Interpretation folgt dabei (3) dem sequenziellen Ablauf des Protokolls. Nur so kann die sequenzielle Entfaltung der Bedeutungs- bzw. Fallstruktur rekonstruiert werden. Die Interpretation kann dabei an jeder beliebigen Stelle des Protokolls einsetzen, denn auch in einer bereits eröffneten Praxis enthält jede Sequenzstelle eröffnende und beschließende Funktionen, sie muss im Anschluss aber wiederum dem Prinzip der Sequenzialität folgen. »Die tatsächlichen Eröffnungen sind nur besonders aufschlussreich« (Oevermann 1996a: 18). Das Prinzip der Extensivität (4) verweist schließlich auf ein doppeltes Vollständigkeitsprinzip. Zum einen fordert es eine extensive Feinanalyse des Protokolls, die kein Element unberücksichtigt lässt. 49 An welcher Stelle dieser Schritt erfolgt, ist nicht eindeutig festzulegen und kann sich auch an dem jeweiligen Material orientieren. Eine möglichst späte Konfrontation ermöglicht jedoch eine ausführliche kontextfreie Interpretation.
3.2 Das sequenzanalytische Verfahren der objektiven Hermeneutik
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Analog zum Prinzip der Wörtlichkeit verbietet sich so die Auswahl und Auslassung von Textelementen. Zum anderen ist dem Prinzip der Extensivität auf der Ebene der Lesartenbildung genüge zu tun. Die Interpretation muss hinsichtlich der gebildeten Lesarten sinnlogisch erschöpfend sein, was bedeutet, dass zuvor alle erdenklichen gedankenexperimentellen Kontexte vollständig expliziert wurden. Aufgrund dieser extensiven Feinanalyse kann die grundlegende strukturrekonstruktive Operation an geringen Datenmengen vollständig durchgeführt werden. »Geht der Interpret vor allem am Anfang genügend explizit und extensiv in der Auslegung von Möglichkeiten vor, und führt er die sequentielle Analyse streng und weit genug durch, so wird er in einer einzigen Interaktionsszene die spezifische Fallstruktur im Kontext der äußeren Thematik und der von ihr ausgehenden sachlogischen, allgemeinen Zwänge und Notwendigkeiten aufdecken können« (Oevermann u.a. 1979: 422). Von einer beständigen Struktur kann jedoch erst dann gesprochen werden, wenn mindestens eine Phase ihrer Reproduktion vollständig rekonstruiert und expliziert worden ist (vgl. Oevermann 1981: 8). Im Anschluss können Protokollstellen, die dieser Struktur augenscheinlich zu widersprechen scheinen, aufgesucht werden, um Transformationspotenziale auszuloten.50 Obgleich das Prinzip der Extensivität darauf abzielt, alle Bedeutungsmöglichkeiten eines Textes zu explizieren, kann sich diesem Ziel letztendlich nur angenähert werden. Empirisch kommt der Erkenntnisfortschritt nie an ein absolutes Ende, denn wenngleich die latenten Sinnstrukturen an sich zeitlos sind, ist der Prozess ihrer Interpretation in konkrete, historisch geltende Weltdeutungen und Normensysteme eingebunden.51 Ein Kriterium für den Abschluss einer Interpretation kann es demnach nicht geben, denn es können »immer noch neue mit dem Text konsistente Lesarten zur Geltung gebracht werden. Auch Lesarten, die eine zuvor nicht richtig erkannte Inkonsistenz vorausgehender Rekonstruktionen des latenten Sinns einer Äußerung erst aufdecken« (Oevermann u.a. 1979: 391). Hypothesen können demgemäß jederzeit über eine Kritik an der Vollständigkeit der Lesarten oder eine Kritik an den in Anspruch 50 Strukturen, die sich ausschließlich reproduzieren und nicht transformieren, bilden einen Grenzfall. Sie sind mit der Idee von individuierenden Bildungsprozessen nicht vereinbar (vgl. Oevermann 1981: 42). 51 Innerhalb der »Kunstlehre« müssen jedoch Vorkehrungen getroffen werden, um eine »möglichst geringe Trübung von Urteilen der Angemessenheit« zu sichern: Der Sozialisationsprozess der Interpreten muss abgeschlossen sein, sie sollten mit der Lebenswelt, aus der das Datenmaterial stammt, möglichst gut vertraut sein. Ferner sollten die Interpreten selbst nicht ausgeprägt neurotisch sein, worunter ihre intuitive Primärerfassung stark leiden könnte. Überdies sollten explizite theoretische Ansätze zur Verfügung stehen, die als Heuristiken dienen, allerdings nicht deduktiv zum Einsatz kommen dürfen (vgl. Oevermann u.a. 1979: 392).
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3. Methodologische Rahmung und methodische Anlage
genommenen Urteilen der Angemessenheit falsifiziert werden (vgl. Sutter 1994: 37). »Der Interpretationsprozess ist also offen und seine Ergebnisse sind jederzeit revidierbar« (Oevermann u.a. 1979: 391). Das letzte Prinzip objektiv hermeneutischer Textinterpretation ist die (5) Sparsamkeitsregel, die besagt, dass nur solche Lesarten zulässig sind, die textlich überprüfbar sind. Verhindert werden soll hierdurch eine vorschnelle Unterstellung von »Unvernünftigkeit«, »Regelverletzung« oder »Pathologie« (Wernet 2000: 37). Theoriebildung in der objektiven Hermeneutik bewegt sich zunächst »in der Sprache des Falles« (Oevermann 1981: 5). Die zugrunde liegende Annahme besteht in der Verallgemeinerungsfähigkeit der Ergebnisse von einzelnen Fallanalysen. Ein konkreter Fall bildet in seiner inneren Gesetzlichkeit, die Ausdruck einer spezifischen strukturellen Ausformung ist, immer einen Typus ab (vgl. Kramer 2002: 61). Ein einzelner Fall ist insofern immer zugleich allgemein und besonders. »Denn in jedem Protokoll sozialer Wirklichkeit ist das Allgemeine ebenso mitprotokolliert wie das Besondere im Sinne der Besonderheit des Falles« (Wernet 2000: 19). Eine Generalisierung der Ergebnisse stützt sich also zum einen auf die der Fallstruktur zukommende Allgemeinheit, weil sie sich aus allgemein geltenden Regeln konstituiert hat, und zum anderen ist diese fallspezifische Selektivität allgemein, weil sie in Bezug auf ein konkretes Handlungsproblem oder eine Handlungskonstellation den Anspruch auf allgemeine Geltung und Begründbarkeit erhebt (vgl. ebd.). Diese Fassung des Begriffs der Allgemeinheit, der Grundlage der Fallstrukturgeneralisierungen ist, steht einer Orientierung an der statistischen Häufigkeit vorkommender Merkmalsausprägungen gegenüber (vgl. ebd.: 20). Die rekonstruierte Fallstruktur kann schließlich mit an anderen Fällen rekonstruierten Strukturhypothesen, nach der Maßgabe des minimalen und maximalen Kontrastes, zusammengeführt werden. »In der Fallreihenuntersuchung lassen sich rekonstruierte Handlungstypen bzw. Identitätsformationen von Lebenspraxen weiter differenzieren und Aussagen über die Geltungsreichweite der rekonstruierten Strukturierungsprinzipen prüfen« (Sutter 1994: 55). 3.3 Zugang und Erhebung Die Auswahl der Schule gründete sich zum einen auf die lange Dauer ihrer Arbeit an und mit einem kunstbetonten Schulprogramm (zum Zeitpunkt der Erhebung 15 Jahre) und dementsprechend auf den Pionierstatus dieser Schule, die in den Grundzügen ihrer organisatorischen und pädagogischen Rahmung bereits vielfach nachgeahmt worden ist. Darüber hinaus waren ihr nationales Renommee im Kontext
3.3 Zugang und Erhebung
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von Schulentwicklungsprozessen und kunstpädagogischer Arbeit sowie die besondere Lage in einem bekannten sozialen Brennpunktgebiet und die auf diese Einbettung bezogenen pädagogischen Zielsetzungen des kunstbetonten Arbeitens entscheidende Auswahlkriterien. Der Feldzugang (vgl. Wolff 2000: 335) ist in drei fünf- bis zehntägigen Feldphasen sowie einer Forschungsexkursion mit Studierenden zunächst in Anlehnung an die Methoden ethnografischer Forschung gesucht worden. Diese zeichnen sich insbesondere dadurch aus, dass der Forscher oder die Forscherin sich in ein fremdes oder zum Teil vertrautes kulturelles Feld begibt und über einen bestimmten Zeitraum am alltäglichen Leben teilnimmt, um einen Einblick in bzw. einen neuen Blick auf die sozialen Welten der Erforschten zu gewinnen (vgl. Friebertshäuser 1997a: 503). Der ethnografische Zugang wurde in der vorliegenden Studie jedoch nicht auf Dauer im Sinne einer spezifischen Haltung gegenüber dem zu beforschenden Feld umgesetzt, sondern diente vielmehr dazu, sich einen ersten Überblick über das Feld zu verschaffen sowie eine gewisse Nähe zu den einzelnen Akteuren aus der Gruppe der Lehrer und den beobachteten Schulklassen herzustellen (vgl. Wolff 2000; Lamnek 1995: 243), um begründet möglichst kontrastierende Fälle für die Befragungen auswählen zu können. Aufgrund der Differenz zwischen den zu beforschenden Gruppen (Ebene der institutionellen Repräsentanz/Lehrer/Schüler) konnte nicht, wie in ethnografischen Forschungsansätzen üblich, eine »gelebte Teilnahme« in einer der Gruppen (Lüders 2000: 392) angestrebt werden, sondern es wurde eine Form der geringen Beteiligung mit passiv-teilnehmender Beobachtung (vgl. Helsper u.a. 2001: 627; Lamnek 1995: 254) umgesetzt. Für die Auswertung des Datenmaterials, das letztendlich aus Lehrer- und Schülerinterviews sowie unterschiedlichen Institutionentexten bestand, wurden dann hermeneutisch-rekonstruktive und inhaltsanalytische Verfahren angewendet (vgl. dazu Helsper u.a. 2001: 623f.). In einem ersten Schritt wurden für die Ebene der Institution folgende Texte dokumentiert: die Eröffnungsfeier zur Einschulung, eine Dienstbesprechung und eine Gesamtkonferenz. Des Weiteren besteht das Materialkorpus auf dieser Ebene aus der schriftlichen Fassung des Schulprofils der Schule, einem Experteninterview (vgl. Meuser/Nagel 1997) mit der Schulleitung sowie einem Interview mit der Leiterin des Quartiersmanagements im Stadtbezirk. Im Anschluss wurden insgesamt vier Lehrerinterviews geführt, deren Auswahl sich in diesem Stadium an »äußeren Kontrastkriterien«52 (Hildenbrand 2005: 67f.)
52 Als »äußere Kontrastkriterien« werden die Kriterien bezeichnet, die vor den Fallanalysen die Fallauswahl und die Fallerhebung bestimmen. Davon zu unterscheiden sind die »inneren Kontrastkriterien«, die sich erst nach den detaillierten Fallrekonstruktionen erschließen, und die für die Generalisierung bzw. Typenbildung entscheidend sind (vgl. Maiwald 2004: 74f.).
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3. Methodologische Rahmung und methodische Anlage
orientierte. Intendiert war, möglichst profilnahe und profilferne Lehrer, Angehörige unterschiedlicher Generationen, unterschiedlichen Geschlechts, mit verschiedenen Fächerkombinationen sowie Schulerfahrungen und der jeweiligen Verweildauer an der Schule zu befragen. Die Auswahl der Interviewpartner aus der Gruppe der Schüler war hingegen an der Unterscheidung von leistungsstarken und leistungsschwachen Kindern, einer Affinität zum Kunstunterricht sowie, zu diesem Zeitpunkt der Studie, an den vermuteten bzw. antizipierten milieu- und kulturspezifischen Herkünften orientiert. Dabei sollten besonders Kinder aus ›Wahl-Familien‹ (Familien, die sich bewusst für eine Einschulung an der kunstbetonten Grundschule entschieden haben) mit Kindern aus dem offiziellen Einzugsgebiet kontrastiert werden. Als Interviewpartner wurden schließlich zwei Kinder aus der ersten Klasse, zwei aus der dritten und zwei aus der sechsten Klasse ausgewählt. Mit jedem Schüler fanden zwei Gespräche statt. Das erste bestand zu Beginn aus einer Art ›autobiografischer Stegreiferzählung‹ (vgl. Jakob 1997) (soweit bei Kindern davon gesprochen werden kann) und einem leitfadengestützten Nachfrageteil (vgl. Friebertshäuser 1997b: 375f.), der sich auf das Erleben der Schule (Leistungsanforderungen, Lehrer-Schüler-Beziehungen, pädagogische Orientierungen der Lehrer, Schuleintritts-Erfahrungen, etc.) konzentrierte. Das zweite Gespräch fand jeweils im Anschluss an den Kunstunterricht statt und fokussierte auf die Erlebnisse der Stunde. Dabei wurde insbesondere auf die im Unterricht entstandene Arbeit eingegangen. Bei den Interviews mit den Kindern aus den ersten Klassen wurden diese beiden Thematiken zusammengezogen. Da dort in der Zeit kurz nach Schulbeginn, in der die Gespräche stattfanden, noch kein fachbezogener Kunstunterricht stattgefunden hatte, wurde das biografische Interview insgesamt um einige Themenkomplexe verkürzt und dafür Gespräche über in der Schule bereits entstandene bildliche Ausdruckmaterialien (z.B. Selbstbildnis als Schulanfänger) an den entsprechenden Stellen integriert.
3.4 Analytische Perspektiven und Wege der Rekonstruktion 3.4.1 Analyse der Schulkultur Der empirische Fortgang der Untersuchungen besteht, wie beschrieben, aus drei zu unterscheidenden Analyseschritten und ist dementsprechend als ein mehrebenenanalytischer Zugang zu der Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen einer Verbindung von Kunst und Regelschule angelegt. Der erste Teil bewegt sich auf der Ebene der Institution und intendiert, die schulkulturelle Ausdrucksgestalt der kunstbetonten Schule, ausdifferenziert für die Ebenen des Realen, des Symbolischen und des Imaginären zu erschließen. Parallel dazu wird danach gefragt, in
3.4 Analytische Perspektiven und Wege der Rekonstruktion
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welchem Verhältnis die schriftlichen schulprogrammatischen Ausführungen – das ›Schulprogramm‹ sozusagen als das ›Manifest‹ der kunstbetonten Schule – zu dieser konkreten Schulkultur stehen: Welche Elemente und Aspekte des Programms gehen tatsächlich in die symbolische Ordnung der Schule ein – oder zeigen sich spezifische Brechungen und Variationen dieser schriftlichen Fixierungen? Den empirischen Analysen ist eine recht ausführliche ethnografische Beschreibung des Einzugsgebiets der Schule, der Geschichte des Schulhauses, der organisatorischen Rahmung und des Schulgebäudes vorangestellt (Kap. 4.1, S. 125ff.). Die Darstellungen dieses einführenden Teils verbleiben bewusst weitestgehend auf einer rein deskriptiven Ebene und dienen in erster Linie dazu, dem Leser im Vorfeld der sequenzanalytischen Rekonstruktionen zur Schulkultur, in denen vergleichsweise wenig Material präsentiert wird (vgl. Wernet 2000: 32; s.o., S. 102), eine Vorstellung von der Schule zu vermitteln, welche Gegenstand der Untersuchungen ist. Die vorrangig deskriptive Perspektive wird nur selten durch Ansätze analytischer Reflexionen der Beobachtungen unterbrochen und aus diesen werden keinerlei eigenständige Hypothesen abgeleitet.53 Anschließend folgt eine zusammenfassende Darstellung des schriftlichen Schulprogramms der kunstbetonten Schule (Kap. 4.1.5). Ergänzt werden die dort enthaltenen Anspruchshaltungen um die Aussagen der Schulleitung im Experteninterview zu den Gründen und Zielen des kunstbetonten Arbeitens an dieser Schule. Sowohl das Schulprogramm als auch das Experteninterview mit dem Rektor interessieren an diesem Punkt der Analysen ausschließlich auf der Ebene des subjektiv gemeinten Sinns. Die Darstellungen folgen dementsprechend einem deskriptiv systematisierenden Vorgehen (vgl. Idel 1999). Obwohl auch Schulprogramme und Experteninterviews auf ihre latenten Sinnstrukturen hin untersucht werden können (vgl. dazu Idel 1999a; Gruschka u.a. 2003; dazu auch die Ausführungen in Kap. 1.3), soll durch diese Reduzierung zunächst der präsentierbare und präsentierte Sinn des meist facettenreichen und durch das Schulprogramm mutmaßlich gesteigerten imaginären Horizonts (vgl. Helsper u.a. 2001: 86f.; Kap. 1.3) der Schulkultur im Datenmaterial abgebildet werden. Die eigentlichen Rekonstruktionen der schulkulturellen Ausdrucksgestalt, im Anschluss an die in Kapitel 1 erarbeiteten Bestimmungen bei Helsper u.a. (2001), konzentrieren sich danach auf das Protokoll der Eröffnungsfeier der Einschulung (Kap. 4.2 und 4.3). Die Einschulungsfeier markiert den Übergang von einer soziali-
53 Teile der Beobachtungen werden im Nachhinein ergänzend in die Ergebnisse der Sequenzanalysen eingebunden.
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3. Methodologische Rahmung und methodische Anlage
satorischen Institution (Familie) in die andere (Schule) (vgl. Zirfas 2004a: 24). Zirfas bezeichnet Einschulungsfeiern im Anschluss an Turner (1989) deshalb als ›liminale Zonen‹, in denen »die wesentlichen Ablösungen von der Familie und die Umwandlungen in Form von Einsetzungen und Grenzziehungen der neuen Identität als Schüler stattfinden« (Zirfas 2004a: 24). Diese Schnittstelle ist für die in das Schulische zu integrierenden Individuen zugleich die in der Regel erste direkte Konfrontation zwischen Schule und Selbst – und darüber hinaus mit der konkreten einzelschulspezifischen Sinnstruktur (vgl. Kramer 2002: 231). Es ist gleichsam der Einstieg und die Präformation des schulbiografischen Passungsverhältnisses (vgl. ebd.: 235f.), in dessen Folge die notwendig zu erbringenden »gegenseitigen Anpassungsleistungen« (Zirfas 2004a: 25) gelingen oder langfristig misslingen können. Der Einschulungsfeier kommt daher in neueren Arbeiten zur Schulforschung eine gesteigerte Aufmerksamkeit zu (vgl. Combe/Helsper 1994; im Kontext der Ritualforschung Zirfas 2004a; kulturvergleichend Rademacher 2006). Die im vorliegenden Forschungskontext protokollierte Eröffnungsfeier zur Einschulung bietet sich als zentraler Text für die Schulkulturanalyse darüber hinaus deshalb an, weil in diesem sowohl die einleitende Rede des Schulleiters als auch längere Interaktionsszenen mit den Schülern sowie mit den Eltern enthalten sind. Diese Interaktionssequenzen machen es möglich, neben der Ebene des Imaginären und dem zentralen Schulmythos auch die Differenzen zwischen dem imaginären Horizont und der konkreten Umsetzung in Handlungen auf der Ebene des Symbolischen anhand dieses Protokolls in den Blick zu bekommen. Da die Schule als Institution zum einen aufgrund ihrer prekären Situierung in den strukturellen Antinomien schulpädagogischer Praxis (vgl. Kap. 2.5) und zum anderen aufgrund der in der Moderne sich zunehmend steigernden potenziellen Autonomie der Lebenspraxis (vgl. Kap. 1.3) einer gesteigerten Bewährungsdynamik ausgesetzt ist, kann auch für diesen Fall einer Grundschule in einem sozialen Brennpunktgebiet vermutet werden, dass in Momenten der Herausgehobenheit, »diese prekäre, ungewisse, und von ständigem Scheitern bedrohte professionelle Praxis als erfolgreiche entworfen« (Böhme 2001: 81) werden muss. Die objektiv hermeneutische Rekonstruktion der Eröffnungsfeier zur Einschulung zielt also darauf ab, das zentrale Strukturproblem der Schule, den darauf bezogenen Krisenlösungsentwurf, die entsprechenden Charismatisierungsstrategien sowie für die Ebene des Imaginären den dominanten Schulmythos herauszuarbeiten (vgl. Helsper u.a. 2001: 624). Darüber hinaus kann anhand der Rekonstruktion der Interaktionsszenen mit den Kindern und den Eltern die spezifische Umsetzung dieses Krisenlösungsversprechens auf der Ebene des Symbolischen und damit die latente Sinnebene als ›Fallstrukturgesetzlichkeit‹ der Schule bestimmt werden.
3.4 Analytische Perspektiven und Wege der Rekonstruktion
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Vor dem Hintergrund der so erschlossenen symbolischen Ordnung der Schule wird die Bestimmung des Verhältnisses zwischen der programmatischen Ausgestaltung und der konkreten schulkulturellen Verbürgung der Kunstbetonung möglich (Kap. 4.4). Erkenntnisleitend bleibt hier die Frage, ob es einer Regelschule gelingen kann, sich schulkulturell auf die Kunst und die dieser zugeordnete Erfahrungsform, die ästhetische Erfahrung, zu beziehen – bzw. ob die programmatisch mit der Kunstbetonung verknüpften Krisenlösungsentwürfe symbolisch umsetzbar sind oder ob mit dem Kunstbezug spezifisch gesteigerte Krisenproblematiken und Scheiternsrisiken einhergehen (vgl. Kap. 1). Im Anschluss (Kap. 4.5) wird über die Auswertung der vier kontrastiven Lehrerpositionen dieses Portraitgerüst weiter angereichert (vgl. Helsper u.a. 2001: 643). Die Lehrerinterviews interessieren dabei weniger als einzelne Fälle in ihrer biografischen oder berufsbiografischen Dimension sowie in ihrer Wechselwirkung mit den rekonstruierten schulischen Sinnstrukturen (vgl. ebd.). Ergänzend zu der aufgrund der Analyse der Einschulungsfeier vorgenommenen personellen Konzentration auf den Schulleiter werden durch die Auswertung der Lehrerinterviews vielmehr unterschiedliche Positionierungen im schulkulturellen Feld eingeholt. Denn dieses fungiert für die individuellen institutionellen Akteure wiederum wie ein Parameter erster Ordnung, sodass über die Lehrerpositionen unterschiedliche Strukturvarianten des Umgangs mit diesen Rahmensetzungen abgebildet werden können, die zugleich ein spezifisch ausgeformtes Anerkennungsfeld bilden (vgl. ebd.: 25). Unter diesen Voraussetzungen werden zunächst die Lehrerpositionen im Feld vor dem Hintergrund der Frage nach ihrer Profilnähe und Profilferne bestimmt (4.5.1). Die anschließende Auswertung sieht ein an der »qualitativen Inhaltsanalyse« (Mayring 2003) orientiertes Verfahren vor. Das Material wird dabei über eine »induktive Kategorienbildung« (ebd.: 75), bei der die Kategorien direkt aus dem Material abgeleitet werden, in eine übergreifende Ordnung überführt (vgl. ebd.: 22). Einzelne Aussagen aus den vier Interviews können dann den so entstandenen Themenkomplexen zugeordnet werden (vgl. Helsper u.a. 2001: 643). Vor dem Hintergrund der leitenden Fragestellungen der Studie werden schließlich zwei Kategorien vorgestellt. Diese bilden den institutionellen Krisenlösungsprozess für die Seite der Akteure zum einen als »integrative Kraft der Schulkultur« (Kap 4.5.2) ab, zum anderen zeigen sich insbesondere an den Lehrpersonen die Grenzen dieses institutionellen Lösungsversprechens, die aus den rekonstruierten Strukturproblematiken resultieren (vgl. Kap. 4.5.3). Neben der schulkulturellen Momentaufnahme, die in der synchronen Perspektive der Analyse der Eröffnungsfeier der Einschulung zum Ausdruck kommt, können durch den Einbezug der Lehrerpositionen insbesondere Richtungen zukünftiger schulkultureller Transformation (vgl. Helsper u.a. 1998a)
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3. Methodologische Rahmung und methodische Anlage
aufgezeigt werden. Die Auswertung einzelner Lehreraussagen erfolgt dabei in Form eines zum Teil abgekürzten sequenzanalytischen Verfahrens (vgl. Kramer 2002: 95).54 Abbildung 1 stellt die empirischen Analysen im Überblick dar. 1. Ethnografische Beschreibung der Schule (4.1)
2. Darlegung des imaginären Horizonts (4.1.5) Analyse der manifesten Sinngehalte der schriftlichen Fassung des Schulprogramms und des Experteninterviews mit dem Schulleiter
3. Rekonstruktion der symbolischen Ordnung der kunstbetonten Grundschule (4.2-4.3) -
Krisenproblematik Krisenlösungsversprechen Charismatisierung Bewährung Schulmythos
Objektiv hermeneutische Rekonstruktion der Einschulungsfeier
4. Bestimmung des Verhältnisses zwischen Schulprogramm und schulkultureller Ausdrucksgestalt (4.4)
5. Auffächerung des institutionellen Anerkennungsraums: Möglichkeiten zukünftiger Transformation (4.5) Inhaltsanalytische Auswertung der Lehrerinterviews
Abbildung 1:
Methodische Anlage der Analysen zur Schulkultur
54 In den zu analysierenden Textpassagen wurde sequenziell vorgegangen und zwischen latenten und subjektiv-intentionalen Sinnebenen unterschieden.
3.4 Analytische Perspektiven und Wege der Rekonstruktion
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3.4.2 Rekonstruktion der Schülerpositionen Im Anschluss an die Bestimmung der schulkulturellen Ausdrucksgestalt der kunstbetonten Grundschule erfolgt auf einer zweiten Ebene die Rekonstruktion von möglichst kontrastierenden Schülerpositionen. Aus den sechs vorliegenden Interviews wurden drei für diese vertiefenden Analysen ausgewählt. Die Auswahl der Fälle richtete sich nach den Kategorien Geschlecht, Nationalität, Leistungsstärke/ Leistungsschwäche sowie Profilnähe/Profilferne. Entgegen der ursprünglichen Konzeption wurde schließlich kein Interview mit einem Schüler der ersten Klasse in diese Darstellung mit aufgenommen, wodurch die Kategorien des Alters und der Klassenstufe als Kontrastkriterien in den Hintergrund rückten. Diese Entscheidung beruhte, neben der Qualität und der vermuteten Aussagekraft der Interviews, auf dem hinreichenden »inneren« (Hildenbrand 2005: 67f.) analytischen Kontrast, der mit jenen drei Fällen erzeugt werden konnte. Dementsprechend besteht die Fallauswahl aus einem Jungen thailändischer Herkunft (Lek, 13 J.) und einem Mädchen türkischer Abstammung (Majda, 12 J.) aus der sechsten Klasse sowie einem deutschen Jungen aus der dritten Klasse, der die Schule aufgrund des besonderen Profils besucht (Claudio, 9 J.). Mit jedem Schüler wurden während der Feldphasen, wie bereits erwähnt, zwei Gespräche geführt. Trotz des Vorhandenseins detaillierter Leitfäden waren die Interviews als offene Interviews angelegt, die sich dem Charakter eines Gesprächs annähern sollten. Die Kinder wurden zunächst in Anlehnung an biografische Interviews über einen Eingangsstimulus zu einem narrativen Interview (vgl. Krüger/ Grunert 2001: 134; Jakob 1997) gebeten, sich an ihr Leben zurückzuerinnern und dieses von ganz klein bis zum Interviewzeitpunkt zu erzählen. Dabei erfolgte bereits innerhalb dieses Eingangsstimulus eine leichte Fokussierung auf den institutionellen Verlauf der Lebensgeschichte. Die dann folgenden Fragen können den Themengebieten familiäre Rahmung, Kindergarten, Einschulung, Erleben der Schule, der Lehrer und des Unterrichts, Verhältnis zum Kunstunterricht, Konfliktverhalten und schulische Leistungen zugeordnet werden. Alle Interviews fanden in der Schule, in der Regel während einer Unterrichtsstunde, in den den Klassen zur Verfügung stehenden und den Schülern von daher vertrauten ›Teilungsräumen‹55 statt. Die Dauer der biografisch-orientierten Interviews reichte von 30 min bis 60 min. Zur Überwindung einer allzu großen Distanz zwischen Forscherin und Interview-
55 Das sind im Vergleich zum Klassenraum kleinere Räume, die den Lehrern für die Arbeit mit Kleingruppen zur Verfügung stehen. In dieser Schule gehört zu fast jedem Klassenraum ein solcher Teilungsraum.
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3. Methodologische Rahmung und methodische Anlage
partnern (vgl. Hülst 2000: 51) ging den Interviews jeweils eine mehrtägige bis einwöchige Hospitation im Unterricht der Klassen voraus. Da der Haltung und dem Verhalten der Interviewerin bei Kinderinterviews eine zentrale Bedeutung für die Motivation der Kinder zukommt, wurde in der Interviewsituation im Wesentlichen versucht, die Kinder als »Experten« ihrer Lebenssituation (Heinzel 2000a: 28; Krüger/Grunert 2001) anzusprechen und darüber hinaus, soweit dies möglich war, sowohl die Sprache den Interviewpartnern anzugleichen als auch sich auf ihre Perspektiven einzulassen, um möglichst wenig »symbolische Gewalt« auszuüben (Hülst 2000: 50). Der anzunehmenden hohen »Suggestibilität« der Kinder (Fuhs 2000: 91), insbesondere im Kontext der schulischen Rahmung, in der die Gespräche stattfanden, wurde durch den Versuch begegnet, so oft wie möglich durch offene Fragen, erzählende Passagen zu generieren. Zudem wurde in Bereichen, in denen eine Gesprächsbereitschaft der Kinder offensichtlich nicht vorhanden war – so z.B. immer wieder deutlich bezüglich der grundsätzlich vorhandenen Loyalität gegenüber den Eltern (vgl. Heinzel 1997: 409) –, auf insistierende Nachfragen verzichtet. Zusätzlich lagen Bilder des Schulgebäudes sowie der Einschulungsfeier des beginnenden Schuljahres als Erzählanreize vor. Angeregt durch die neuere Kindheitsforschung wurden die Kinder so ganz gezielt als Subjekte und Akteure in den Forschungsprozess eingebunden, die begründet über ihre lebensweltlichen und damit auch schulbezogenen Wahrnehmungen und Erfahrungen berichten und erzählen können. Über die biografisch orientierten Interviews mit den Kindern hinaus wurden auf dieser Ebene keine die Perspektive der Kinder ergänzenden Befragungen mit Lehrern oder Eltern durchgeführt. Die zunächst durchaus riskante forschungsleitende Annahme bestand hier darin, dass, wenn es tatsächlich so etwas gibt wie eine einzelschulspezifische Schulkultur, sich diese auch in den Erzählungen der Kinder über die Schule in bestimmter Weise zeigen müsste, ohne dass zusätzliche Quellen genutzt werden. Bezüglich der Möglichkeiten von Kindern, über ihr Leben zu erzählen, wurde aufgrund vorliegender Studien davon ausgegangen, dass Kinder im Alter von 5-7 Jahren ein autobiografisches Gedächtnis entwickeln (vgl. Köhler 2001: 78f.). Erlebnisse können ab diesem Zeitraum mit der Relevanz, die das Geschehnis für das Selbst hat, gespeichert werden (vgl. ebd.: 69).56 Allerdings zeigten sich auch bei altersgleichen Kindern deutliche Unterschiede in der Erzählkompetenz sowie in der
56 Das autobiografische Gedächtnis stellt nach Köhler (2001) die höchst entwickelte Stufe der Gedächtnisorganisation dar. »Es enthält Erinnerungen, die in einer engen Beziehung zum Selbst stehen. Sie ist erreicht, wenn man sich an vergangene Ereignisse als Teil der eigenen Vergangenheit erinnern, wenn man sie als ›selbst erlebt‹ repräsentieren kann« (ebd.: 69).
3.4 Analytische Perspektiven und Wege der Rekonstruktion
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jeweiligen Erzählbereitschaft.57 Darüber hinaus war es, wenn man die Kinder nicht unnötig mit vielen konkreten und strapaziösen Fragen konfrontieren wollte, kaum möglich, einen lückenlosen Verlauf der individuellen Lebensgeschichte abzubilden. Vorsicht bezüglich der kindlichen Angaben war ebenfalls angebracht, wenn es z.B. um Zeit- oder Altersangaben etc. ging, denn Kinder haben insbesondere in Bezug auf abstrakte Daten wie Zeit, Zeiträume und geografische Entfernungen eine von Erwachsenen differierende Wahrnehmung bzw. ein differentes Verständnis (vgl. Heinzel 1997: 408). Es wird deutlich, dass die an die unterstellte Normalität erwachsener Kommunikationsgewohnheiten angelehnte Kompetenz, den gesamten eigenen biografischen Verlauf sinnhaft zu strukturieren bzw. eine »globale zeitliche Kohärenz« in Lebensgeschichten herzustellen (Habermas/Paha 2001: 90), noch gering ausgebildet ist.58 Darstellungen und Erzählungen generieren sich vielmehr bezüglich einzelner Erlebnisse, mit denen die Kinder oft »biografische Schlüsselszenen« und »Wendepunkte« schildern (Heinritz 2001: 114). Diese können in einer extensiven Sequenzanalyse in ihrer Bedeutung für das Selbst zugänglich gemacht werden. Aufgrund der besonderen Beschaffenheit der Kinderinterviews wurde schließlich von anfänglich in Erwägung gezogenen Biografieanalytischen Auswertungsverfahren Abstand genommen und auch für die Analyse der Schülerpositionen auf das Verfahren der objektiven Hermeneutik zurückgegriffen. Die Auswahl einer Auswertungsmethode bedingt nunmehr eine bestimmte Sicht auf die Schülerpositionen, denn »Methoden konstituieren ihren Gegenstand« (Oswald 2000: 9). Böhme (2003) spricht für die objektive Hermeneutik diesbezüglich von »sozialisationstheoretischen Implikationen«, denen ein bestimmter Selektionsmodus eingeschrieben sei, der gerade in Bezug auf die Möglichkeiten und Grenzen der Methode im Rahmen der Kindheitsforschung noch wenig expliziert wurde (ebd.: 164). Konkret zielt Böhmes Kritik auf das Verfahren der »Kunstlehre«, in dem für die Erschließung von Protokollen auf ein Regelwissen zurückgegriffen wird, über das Erwachsene, aber insbesondere Kinder scheinbar noch nicht verfügen. In solchen auf Angemessenheitsurteilen basierenden Rekonstruktionen werde Kindern von daher in einer sozialisationstheoretischen Perspektive immer, vor dem Hintergrund des sozialisationstheoretisch finalen Entwurfs den autonomen, mit sich selbst identischen Subjekts, ein defizitärer Status, eben jenes »Noch-Nicht« zugewiesen (Böhme 57 Darin können bereits kognitive und sprachliche Fähigkeiten zum Ausdruck kommen, die nicht nur individuell unterschiedlich sind, sondern in denen sich darüber hinaus Milieuzugehörigkeiten und Geschlechtsspezifika niederschlagen (vgl. Fuhs 2000: 90; Heinzel 1997: 401). 58 Nach Habermas/Paha (2001) werden erst in der mittleren Adoleszenz vor dem Hintergrund der Herausbildung eines biografischen Verständnisses für die Entwicklung von Personen vollständige lebensgeschichtliche Erzählungen möglich (ebd.: 90).
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3. Methodologische Rahmung und methodische Anlage
2003: 164, 171). Dieser Einschätzung Böhmes kann meiner Ansicht nach zunächst soweit zugestimmt werden, dass die Methode und die methodologischen Bestimmungen der objektiven Hermeneutik den normativen Horizont des autonomen, mit sich selbst identischen Subjekts mit sich führen, der unhintergehbar bleibt. Diese Normativität scheint mir aber gerade im Kontext pädagogischer Forschung ebenso konstitutiv und insofern unproblematisch, wenn ihre lebenspraktische Begrenzung mit reflektiert wird. So gilt nicht nur für Kinder, sondern auch für Erwachsene, dass dieses Ideal der Autonomie letztlich unerreichbar bleibt. Die Idee oder die Illusion der Autonomie fungiert, wie in Kap. 2.4 bereits erwähnt, lediglich als Antrieb bzw. Bildungsgrund, um sich gegen reale Verstrickungen zu wenden, die nicht gänzlich aufhebbar sind (vgl. Meyer-Drawe 2000: 12). Diese Begrenzung findet meiner Ansicht nach ihre Entsprechung bei Oevermann in der grundlegenden Annahme, dass auch bei einem erwachsenen Subjekt nur im idealen Grenzfall die Koinzidenz von latenter Sinnstruktur und subjektiv repräsentiertem Sinn vorstellbar ist (vgl. Oevermann u.a. 1979: 383f.). Methodisch muss dieses Ideal aber aufrechterhalten werden, um die fallspezifischen Begrenzungen und Problematiken auf diesem Weg hin zu zunehmender Autonomie beschreibbar zu machen. Daraus folgt gleichsam, dass ein Urteil über Defizite weder in Bezug auf Erwachsene noch in Bezug auf Kinder ›angemessen‹ sein kann, sondern stattdessen der einzelne Fall mit seinen spezifischen Ver- und Bearbeitungsstrategien der prinzipiell autonomen Lebenspraxis und der dieser inhärenten Bewährungsdynamik zu rekonstruieren ist. In Bezug auf Kinder gilt jedoch: je früher das Entwicklungsalter, desto eingeschränkter erscheinen die Voraussetzungen für die Realisierung latenter Sinnstrukturen. Diese »entwicklungsstandspezifischen Verkürzungen« können – aber müssen nicht – verzerrende Wirkungen haben, sondern bedingen hauptsächlich Vereinfachungen. »Im frühen Entwicklungsalter nehmen Kinder die Bedeutungen der sozialisatorischen Interaktion naturgemäß nur sehr reduziert wahr, weil Ihnen für eine differenzierte Rekonstruktion die auf Sozialisation zurückgehenden Interpretationsvoraussetzungen fehlen. Aber sie perzipieren den Sinn der Interaktionen noch naturwüchsig unverzerrt, gewissermaßen ›affektiv wahrheitsgemäß‹. Verzerrungen in der Wahrnehmung treten erst später potentiell als Folge der Übernahme restringierter, ideologischer oder neurotoider sozialer Normen und Deutungen auf und bilden den Ansatzpunkt für mögliche pathologische Entwicklungen« (Oevermann u.a. 1979: 384).
3.4 Analytische Perspektiven und Wege der Rekonstruktion
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Darüber hinaus kann für die sinnhafte Erschließung von Kindheits- bzw. Kinderprotokollen, davon ausgegangen werden, dass nur vor dem Hintergrund eines möglichst extensiv explizierten Regelwissens, das in diesem Stadium auch bereits zur Verfügung stehende Kenntnisse über die kindliche Lebenswelt und Weltzuwendung mit einbezieht, die von diesem Wissen möglicherweise auch divergierenden Varianten kindlicher Weltzuwendung offenbar werden können. Diese müssen dann wiederum als solche ernst genommen werden und können als spezifische Strukturgesetzlichkeiten bestimmt werden. Dennoch geht es in der vorliegenden Untersuchung entsprechend der Anlage der Studie weniger darum, die Perspektive der Kinder einzunehmen, um z.B. eine spezifische Kinderkultur in einer kunstbetonten Schule zu ermitteln, sondern wie gesagt darum, die Perspektive der Kinder ernst zu nehmen, um die Auswirkungen und Bearbeitungsformen der schulkulturellen Rahmung auf der Schülerebene zu rekonstruieren. So können mit dem Verfahren der objektiven Hermeneutik sowohl die Einbettung des Selbst in die habituellen Orientierungen der Eltern und der Familie, die individuelle Fallstruktur mit der spezifischen Selbstkrise, resultierend aus den antinomischen Selbstspannungen im familialen Sozialisationsraum, die fallspezifischen Bearbeitungsstrategien dieser Problematiken sowie das Selbstbild rekonstruiert werden. Diese individuelle Fallstruktur wird spätestens zum Schuleintritt mit den einzelschulspezifischen Sinnstrukturen konfrontiert, woraus sich die spezifischen Passungsverhältnisse generieren (vgl. Kramer 2002: 227). Die konkrete Rekonstruktion der einzelnen Schülerpositionen wurde daher folgendermaßen aufgebaut: 1. In einem ersten Schritt erfolgt eine extensive Rekonstruktion der Eröffnung59 des Interviews, sodass im Anschluss eine Fallstrukturhypothese in Bezug auf die Interaktionsstruktur sowie in Bezug auf die individuelle Habitusformation formuliert werden konnte.60 An diesem Punkt der Rekonstruktion interessierte sowohl die Interaktionsstruktur als auch die individuelle Habitusformation, da zunächst der Einfluss der besonderen Rahmung der Interviewsituation und des 59 Die Auswahl der Eröffnungssequenz ergibt sich aus den methodologischen Rahmungen der objektiven Hermeneutik, in denen diesen eine besondere Ergiebigkeit zugewiesen wird (Oevermann u.a. 1979: 422). 60 Da im Rahmen der Studie, als eigentlich zu bestimmende Fallstruktur, das schulkulturelle Passungsverhältnis im Zentrum des Interesses steht, wird hier in Bezug auf die Fallstruktur des einzelnen Schülers auch von der ›individuellen Habitusformation‹ gesprochen, denn die routinierten Handlungs- und Deutungsmuster, die bei Oevermann als Fallstruktur in den Blick kommen, decken sich strukturell mit den Bestimmungen des Habitus bei Bourdieu. Beide Begriffe bezeichnen unbewusste generative Grammatiken im Kontext von historisch-kulturellen Tiefenstrukturen, die als Erzeugungsprinzipien praktischen Handelns fungieren (vgl. Liebau 1987: 134f.; ebenso Kramer 2002: 89).
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3. Methodologische Rahmung und methodische Anlage
Frageverhaltens der Interviewerin bestimmt werden musste, um im Folgenden, vor dem Hintergrund der Spannungsfelder der Interaktionsstruktur, die individuelle Habitusformation differenzieren zu können. Die Rekonstruktion der Eröffnungssequenz wurde dementsprechend so weit ausgedehnt, bis eine erste riskante Strukturhypothese in Bezug auf die individuelle Habitusformation aufgestellt werden konnte, die sowohl eine These zur dominanten Strukturproblematik als auch der dominanten Bearbeitungsformen enthält (vgl. Kramer 2002: 94). Entsprechend den Ausführungen bei Kramer (2002) wurde für den weiteren Verlauf davon ausgegangen, dass die »strukturierende Kraft der Interviewsituation« im Fortgang der Präsentationen immer stärker in den Hintergrund rückt (ebd.: 93). 2. Im Anschluss wurde die Auswertung zunächst noch entlang des Verlaufs des Protokolls der durch den Erzählstimulus generierten Anfangsnarration fortgesetzt, sodass abschließend jeweils eine Fallstrukturhypothese bezüglich der individuellen Fallstruktur bzw. Habitusformation, der spezifischen Selbstkrise im Kontext des familiären Milieus und der Übertragung bzw. Brechung elterlicher Habitusformation formuliert sowie die fallspezifischen Bewältigungsstrategien und das Selbstbild herausgearbeitet werden konnten. Die Chronologie des Protokolls wird dabei an einigen Stellen bereits verlassen. Dadurch können ›Schlüsselstellen‹ (vgl. Kramer 2002: 53) herangezogen werden. 3. Schließlich wird die Fallstruktur der schulbiografischen Positionierung rekonstruiert. Die Auswertungen folgen auch in diesem Abschnitt für jeden Fall einer einheitlichen Schrittfolge: Zu Beginn wird die erste Konfrontation mit der Schule über das Einschulungserlebnis in den Blick genommen. Im Anschluss geht es, unter der ebenfalls bei Bourdieu entlehnten Begrifflichkeit der Einstellung zur Bildung (vgl. Kap. 1.5) um die Frage, wie die Kinder den spezifischen institutionellen Rahmungen begegnen: Entwickelt sich vor dem Hintergrund der individuellen Habitusformation ein gelingendes oder ein konfligierendes Passungsverhältnis?61 Welche schulbezogenen Bewältigungsstrategien werden von den Kindern entfaltet? 4. Die zuvor generierten Ergebnisse werden in einer synchronen Zwischenzusammenfassung zu der zuvor rekonstruierten schulkulturellen Ausdrucksgestalt auf den Ebenen des Realen, des Symbolischen und des Imaginären vermittelt (vgl. dazu ausführlich Abschnitt 2.4).
61 Der Begriff des »Passungsverhältnisses« ist, entsprechend der Verwendung bei Kramer (2002) noch wertfrei. Eine »Passung« kann daher zwischen den Extremen »harmonisch« oder »konfligierend« bzw. »antagonistisch« eingeordnet werden.
3.4 Analytische Perspektiven und Wege der Rekonstruktion
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1. a) Interaktionsstruktur b) Erste Strukturhypothese bezüglich der individuellen Habitusformation
2. Individuelle Fallstruktur - Selbstkrise/Selbstproblematik - Spannungen im familialen Sozialisationsraum - Bearbeitungsstrategien - Selbstbild
3. Schulbiografische Positionierung - Konfrontation von Schule und Selbst (Einschulung) - Bearbeitung der Konfrontation – Ausbildung schulbezogener Bewältigungsstrategien (Einstellung zur Bildung)
4. Schulkulturelle Passung Zusammenführung der symbolischen Ordnungen von Schule und Selbst auf den Ebenen des Realen, Symbolischen und Imaginären (vgl. Abschnitt 2.4)
Abbildung 2:
Methodische Anlage der Rekonstruktion der Schülerpositionen
Den einzelnen Analysen wird jeweils eine »Biografische Notiz« vorangestellt. Dort werden wesentliche Daten zum Fall angeführt, die innerhalb der einzelnen Auswertungsschritte dann nicht mehr eigens als Bestandteil der Rekonstruktionen erscheinen. Diese kontextuelle Rahmung ermöglicht eine sinnvolle Kürzung der Darstellungen der Rekonstruktion und soll dem Leser so den Nachvollzug der Fallanalysen erleichtern.62 Das rekonstruktive Vorgehen bezüglich der einzelnen Auswertungsschritte wird am ersten Fall (›Majda‹) exemplarisch vorgeführt. Hier findet sich insbesondere zu Beginn eine ausführliche schriftliche Darstellung der Sequenzanalyse. Um zum 62 In der eigentlichen Rekonstruktion der Fälle wurde solches Kontextwissen selbstverständlich nicht vorausgesetzt, sondern über die einzelnen Sequenzen erfasst.
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3. Methodologische Rahmung und methodische Anlage
einen den Nachvollzug der Auswertung zu gewährleisten, aber zum anderen auch die Lesbarkeit der einzelnen Abschnitte zu sichern, werden auch bei ›Majda‹ mit dem Fortschreiten der Sequenzanalyse längere – erweiternde, modifizierende, oder widerlegende – Protokollabschnitte präsentiert und ausgewertet sowie gezielt einzelne Sequenzpositionen aufgesucht. In den Fällen ›Lek‹ und ›Claudio‹ werden dagegen die Ergebnisse der Sequenzanalysen in einer zusammenfassenden Falldarstellung präsentiert.
3.4.3 Rekonstruktion der bildlichen Ausdrucksgestalten und der Kunstinterviews Das zweite Interview mit den Schülern widmete sich den Erlebnissen und Erfahrungen im Kunstunterricht. Damit wurde – neben den schulkulturellen Analysen, die vorrangig und gezielt keine außeralltäglichen Projekte oder herausgehobene Lehrer- und Schülerpositionen fokussierten – auch der Kernbereich des kunstbetonten Profils der Schule in die Rekonstruktionen der Schülerpositionen miteinbezogen. So sollte der anzunehmenden Möglichkeit nachgegangen werden, dass es der Schule in diesen, sich der Kunst annähernden Feldern, möglicherweise besonders gut gelingt, ästhetischen Erfahrungen in der Institution den Weg zu ebnen sowie ihre eigentümlichen Wirkungen in die schulische Wirklichkeit zu integrieren, um diese für individuelle sowie schulbezogene Bildungsprozesse nutzbar zu machen. Die Gespräche fanden im Anschluss an den Kunstunterricht statt, wobei jeweils die in der unmittelbar stattgefundenen Stunde entstandenen Arbeiten oder die gesamten Werke der Unterrichtseinheit vorlagen. Entgegen der Anlage der biografisch orientierten Interviews gab es beim zweiten Gespräch keinen Erzählstimulus, der auf die Generierung einer Anfangsnarration zielte. Das auch in diesem Fall offene Interview orientierte sich an folgenden Themenbereichen: Bildbeschreibung, Einschätzung der Arbeit, Veränderungsvorschläge, Differenzen zwischen künstlerischer Tätigkeit in der Schule und zu Hause.63 Die künstlerischen Arbeiten der Kinder dienten also zum einen als Erzählanreize während des Gesprächs, zum anderen wurden sie als eigenständige Ausdrucksmaterialien in den Auswertungsprozess mit einbezogen. Die Auswertung der künstlerischen Arbeiten wurde ebenfalls mit dem Verfahren der objektiven Hermeneutik durchgeführt. Aufgrund der Anschlussfähigkeit von Oevermanns Bestimmung der ästhetischen Erfahrung als Krise durch Muße an ästhetiktheoretische Überlegungen (vgl. Kap. 2), wurde angenommen, dass die 63 Vergleichend dazu Mollenhauer 1996: 36f., 269.
3.4 Analytische Perspektiven und Wege der Rekonstruktion
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empirische Rekonstruktion ästhetischer Erfahrungen mittels der objektiven Hermeneutik möglich ist. Diese Erfahrungen müssten im Material – als Krisen, die sich im Modus einer Handlungs- bzw. Realitätsentlastetheit vollziehen –, darstellbar werden. Der Zugriff auf die Erfahrung selbst bleibt dabei nach wie vor dem erfahrenden Subjekt vorbehalten, der sprachliche sowie mimetische Ausdruck der Krise durch Muße, der der eigentlichen Erfahrung gleichermaßen nah bzw. fern ist (vgl. Mollenhauer 1996: 37), müsste jedoch am Material nachzuweisen sein. »[…] die sinnlich bestimmten Lebensereignisse und die mit ihnen verbundene Rede [sind] derart aufeinander bezogen, dass empirisch kaum das eine vom anderen getrennt werden kann […]. Ein ästhetisches Ereignis verstehen heißt demnach immer auch: die Worte und Sätze verstehen, mit denen es kommentiert wird oder in denen eine ästhetische Erfahrung ausgedrückt wird« (ebd.). Aufgrund des bereits explizierten weiten Textbegriffs der objektiven Hermeneutik ist die Anwendung des Verfahrens auf Bilder oder bildliche Dokumente, z.B. Fotografien, ein bereits erprobtes Vorgehen (Peez 2006; Loer 1994; Ackermann 1994; Oevermann 1997). In der Regel werden in den vorliegenden Arbeiten dafür die Vorgehensweisen der objektiv hermeneutischen Analyse verbalsprachlicher Texte auf die Bilddokumente übertragen. So können – wie für Texte – auch für Bilder Kontexte bzw. Lesarten angegeben werden, in denen diese als wohlgeformt erscheinen. Die Konsequenz daraus ist, dass auch in Bezug auf die Rekonstruktion von Bildern subjektive von objektiven Bedeutungsgehalten unterscheidbar werden. Diese Gehalte können durch eine systematische Analyse zugänglich gemacht werden. Infolge dessen wird in der objektiven Hermeneutik die an verbalsprachlichen Texten entwickelte Prämisse der sequenziellen Interpretation auf Bilder übertragen (vgl. Ackermann 1994: 200f.). Diese Sequenzialität ist nicht von vornherein im Bild angelegt, sondern ergibt sich aus der ›Übersetzung‹ (vgl. ebd.: 198) der im ersten Eindruck erscheinenden zeitlichen Simultanität des Bildes in einen verbalsprachlichen Text. Dieses Vorgehen wird durch die methodologische Annahme einer so genannten ›inneren Zeitlichkeit‹ bildlicher Dokumente legitimiert, die sowohl bei der Produktion des Bildes, bei der verschiedene Zeit-Horizonte miteinander verschmolzen werden, als auch bei der Rezeption des Bildes, in der diese Simultanität sozusagen wieder aufgehoben wird,64 eine zentrale Rolle spielen.
64 Gemeint ist hier allerdings nicht der Nachvollzug des Produktionsprozesses.
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3. Methodologische Rahmung und methodische Anlage
»Grundsätzlich scheint eine Bildhermeneutik an eine Texthermeneutik durchaus anschlussfähig zu sein, da ihre jeweiligen Gegenstandsbereiche trotz aller Unterschiede hinsichtlich der symbolischen Präsentationsmittel eines gemeinsam haben: Sowohl Texte wie Bilder sind Bedeutungs- und Sinngebilde, die von Sprach- und Handlungsfähigen Subjekten nachvollzogen werden können« (Ackermann 1994: 200, zit. nach Müller-Doohm 1990: 210). Die konkrete Interpretation folgt dann den von Loer so bezeichneten ›ikonischen Pfaden‹ (vgl. Loer 1994: 349), die die Blickbewegungen des Interpreten beschreiben, und aus denen sich die Sequenzialität des Bildes ergibt. Innerhalb eines Bildes eröffnen sich vielfältige solcher ikonischen Pfade, denn »überall, wo die Bewegung angehalten wird, gibt es sofort mehrere Möglichkeiten des Weiterschreitens« (ebd.: 351). An diesen Sequenzstellen kann dementsprechend die Konstitution des Pfades als Regel und Routine der Entscheidung bzw. als wiederkehrende Krise (vgl. Oevermann 1997: 29) bestimmt werden. Zu beachten bleiben ferner die Prinzipien der Kontextfreiheit, der Extensivität, der Sparsamkeit und der Wörtlichkeit in dem Sinne, dass keine Bildelemente unberücksichtigt bleiben bzw. ausgeblendet werden dürfen. Konkret erfolgte die Annäherung an die künstlerischen Arbeiten der Kinder also zunächst über eine ausführliche Bildbeschreibung, bei der entsprechend der ausgeführten methodischen Hinweise die Wege des beschreibenden Nachvollzugs als ikonische Pfade ausgewiesen wurden. Auf diese Weise konnten tatsächlich gestalterische Sequenzstellen bestimmt werden, an denen von den Produzenten spezifische Entscheidungen getroffen werden mussten. Über die extensive Rekonstruktion solcher Sequenzstellen konnte dann eine wieder erkennbare Entscheidungsform bestimmt werden, die die latente Sinnstruktur des künstlerischen Ausdrucks offenbarte. Eine objektiv hermeneutische Bildanalyse folgt dabei, ebenso wie die Textanalysen, einem »strukturanalytischen Ganzheitsbegriff« (Wernet 2000: 33), wo es immer darum geht, die Strukturprinzipien eines wie auch immer gearteten Gebildes zu rekonstruieren. So wird mit den im Folgenden vorgenommenen Analysen von im Kunstunterricht entstandenen Schülerarbeiten nicht das Ziel verfolgt oder der Anspruch erhoben, der Vielfalt der Erscheinungsformen der Kunst in der Schule und in entsprechenden Einzelprojekten deskriptiv Rechnung zu tragen. Im Zentrum steht die Frage, wie sich die im künstlerischen Bereich zu rekonstruierenden Strukturprinzipien zu den anhand der biografisch-orientierten Interviews bestimmten individuellen Habitusformationen und dem sich daraus ergebenden schulkulturellen Passungsverhältnis verhalten.
3.4 Analytische Perspektiven und Wege der Rekonstruktion
121
Im Anschluss an die Rekonstruktion der Schülerpositionen, ausgehend von den biografisch orientierten Interviews, wurde für jeden Fall zunächst das im Kunstunterricht angefertigte Werk oder die dort entstandene Werkfolge analysiert und in einem zweiten Schritt unter Einbezug einzelner Passagen aus dem Gespräch über die Arbeit mit den zuvor erfolgten schulbiografischen Rekonstruktionen in Beziehung gesetzt. Gleichwohl scheint mir eine Verknüpfung einer Bildanalyse mit verbalsprachlichen Dokumenten nicht grundsätzlich vonnöten zu sein. Diese Kombination ist nur dann sinnvoll und geboten, wenn sich dass Interesse auf den Produzenten des Werks als Subjekt richtet (konträr Peez 2006: 121; exemplarisch Loer 1994; werkimmanent Ackermann 1994).65 Insofern muss auch der Analyse von Bildern eine Fallbestimmung vorausgehen. Je nachdem rückt dann das Werk selbst, der Produzent oder die Erfahrungen des Rezipienten in den Aufmerksamkeitsfokus. Entsprechend stand in den vorliegenden Studien nicht die Frage im Vordergrund, was das einzelne Werk oder die Arbeit als solche als ›künstlerisch‹ auszeichnet, sondern vielmehr, ob die Kinder im Kunstunterricht ästhetische Erfahrungen machen und ob eine Transformation dieser Erfahrung in ästhetische Bildungsprozesse als Transformation der rekonstruierten individuellen Fallstruktur und/oder der Fallstruktur der schulkulturellen Passung aufzeigbar ist, die möglicherweise Lernprozesse fördert, die anzubahnen und zu vertiefen die Aufgabe der Grundschule ist (vgl. Mattenklott 1998: 32; entfaltet in Kap. 2.5). Die Verknüpfung der Bildanalyse mit verbalsprachlichem Material ist durch dieses Erkenntnisinteresse motiviert, denn Bildungsprozesse müssten sich im Sinne jener »handelnden Kraft« (Marotzki 1999: 61f.) insbesondere in den Äußerungen der Kinder über ihre Arbeiten und Erfahrungen als ausdrückliche Bestätigung oder Veränderung der Fallstrukturen nachweisen lassen. Analog zu den Analysen der Schülerpositionen wurde den Rekonstruktionen zum Kunstunterricht eine Notiz zur Unterrichtseinheit vorangestellt, die den Nachvollzug der Darstellungen erleichtert sowie eine Kürzung der Darstellungen der Sequenzanalysen erlaubt.
65 Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass »eine Entschlüsselung des Werks über die Beantwortung der Frage nach den Absichten des Künstlers kategorial in die Irre« (Oevermann 2005: 202) führt. Eine Werkanalyse muss dementsprechend die Autonomie der künstlerischen Arbeit bewahren. Erst im Anschluss an die Rekonstruktion der Eigenlogik des Werks kann es von Interesse sein, die Biografie des Künstlers hinzuzuziehen.
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3. Methodologische Rahmung und methodische Anlage
1. Werkimmanente Analyse
2. Vermittlung der Ergebnisse der Werkanalyse mit der rekonstruierten Fallstruktur und der Fallstruktur des schulkulturellen Passungsverhältnisses Einbezug von Rekonstruktionen zu den Gesprächen zum Kunstunterricht
Abbildung 3:
Methodische Anlage der Rekonstruktion der bildlichen Ausdrucksgestalten und des Kunstinterviews
3.5 Vermittlung von Schulkultur und Schülerpositionen Im Anschluss an diese zweiseitig angelegten Untersuchungen, in denen zum einen die Schulkultur der kunstbetonten Schule und zum anderen einzelne Schülerpositionen bestimmt wurden, erfolgt über die Vermittlung der symbolischen Ordnungen von Schule und Selbst die Bestimmung des schulkulturellen Anerkennungsraums mit seiner Bedeutung für die individuellen Lern- und Bildungsgeschichten der Schüler. Diese sich auf verschiedenen Sinnebenen vollziehende Vermittlung entspricht den bei Kramer (2002) entwickelten Bestimmungen zum schulbiografischen Passungsverhältnis. So können, analog zur Differenzierung der schulkulturellen Ausdrucksgestalt, über die Ebenen des Realen, des Symbolischen und des Imaginären für das Subjekt die Ebenen der Selbstproblematik in Bezug auf die familiäre Primärsozialisation und die dort dominanten – vermutlich auch milieuspezifischen – habituellen Orientierungen (Reales), die fallspezifischen Bearbeitungsstrategien und die daraus resultierenden individuellen habituellen Orientierungen (Symbolisches) sowie die idealen Selbstkonzeptionen mit den impliziten Anspruchshaltungen bzw. Selbstbildern (Imaginäres) unterschieden werden (vgl. Kramer 2002: 239). Entsprechend werden in Kramers Modell der schulbiografischen Passung diese Sinnebenen von Selbst und Schule über das kultursoziologische Modell von Realem, Symbolischem und Imaginärem zueinander in Beziehung gesetzt. Die Ausgestaltung dieses Passungsverhältnisses verändert sich dabei im Verlauf einer Biografie in Bezug auf die jeweils besuchten Schulen mit ihren wiederum fallspezifischen schulkulturellen Ausdrucksgestalten. Für jede dieser biografischen Sequenzstellen kann wiederum zwischen den Phasen der Voraussetzung als vorschulische »latente lebensgeschichtliche Grund-
3.5 Vermittlung von Schulkultur und Schülerpositionen
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legung« (ebd.: 275), des Einstiegs in die jeweilige Schule als erste Konfrontation zwischen Schulkultur und Selbst sowie der Phase der Bearbeitung der sich daraus entwickelnden Passung unterschieden werden. Das Strukturmodell des schulbiografischen Passungsverhältnisses ist also zum einen synchron, als Vermittlung zwischen den analogen Sinnebenen von Schule und Selbst und zum anderen diachron als Verlauf einer sich zwischen Einzelfall und Einzelschule entfaltenden Passung angelegt. So kann für jeden ›Passungstyp‹ die Passung zwischen den Polen harmonisch und konfligierend bestimmt werden (synchron) und es wird die Veränderung bzw. Bearbeitung dieser Passung durch die beteiligten Akteure im zeitlichen Verlauf (diachron) abbildbar (ebd.). Die Rekonstruktionen der einzelnen Fälle werden dabei zunächst in einem Zwischenresümee in einer synchronen Perspektive mit der spezifischen schulkulturellen Ausdrucksgestalt der kunstbetonten Grundschule zusammengeführt. Die diachrone Perspektive, die verstärkt den Verlauf der Passung herausarbeitet, wird erst bei der abschließenden Kontrastierung der Fälle über die zu unterscheidenden Phasen hinweg eingenommen. Daran anschließend können dann unterschiedliche Passungstypen in Bezug auf die Schulkultur der kunstbetonten Regelgrundschule generalisiert werden. In Differenz zu dem Modellentwurf bei Kramer kommt in der vorliegenden Studie nur das Passungsverhältnis zur Grundschule in den Blick. Aufgrund des daraus resultierenden Alters der befragten Schülerinnen und Schüler sowie der sich hierdurch ergebenden altersabhängigen spezifischen Form des biografischen Erzählens wird nicht das Ziel verfolgt, vor dem Hintergrund biografischer Präsentation der Schülerlebensgeschichte umfassende fallspezifische schulbiografische Analysen vorzunehmen. Die Kinder befinden sich noch am Beginn ihrer Schulkarriere, wodurch eine Betrachtung der Lebensgeschichte als Schüler noch nicht vollständig in ihrem Gesamtverlauf, sondern nur bis zu jenem frühen Zeitpunkt – und auch dies nur episodenhaft – eingeholt werden kann. Der im Folgenden interessierende ›Fall‹ ist also nicht ein abzubildender schulbiografischer Verlauf, sondern vielmehr geht es in dieser Untersuchung um die Frage, welche Elemente der Zurückweisung bzw. Anerkennung jene schulkulturelle Ausdrucksgestalt mit ihrem Bezug auf die Kunst und die ästhetische Erfahrung für die unterschiedlichen Schüler mit ihren habituellen Formationen sowie den Präfigurationen, die aus der Herkunftsfamilie resultieren, enthält. Aufgrund dieser Anlage der Studie wird in Bezug auf die sich ergebenden strukturell bestimmten Anerkennungsverhältnisse nicht von schulbiografischen, sondern von schulkulturellen Passungsverhältnissen gesprochen. Dabei kommt der Grundschule eine zentrale Bedeutung für die Grundlegung des institutionellen Passungsverhältnisses zu (vgl. ebd.), die, insbesondere durch die dort auszusprechenden Empfehlungen
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3. Methodologische Rahmung und methodische Anlage
für die weiterführenden Schulen, eine prospektive Relevanz für die weitere Schulkarriere enthält. Gleichwohl können sich durch den Übergang auf weiterführende Schulen Veränderungen des in der Grundschule angelegten Passungsverhältnisses ergeben. Die Vermittlung der Sinnebenen zwischen Schule und Selbst wird in Abbildung 4 zusammenfassend dargestellt:
SELBST I Voraussetzungen - Familiäre habituelle Orientierungen - Familiäre Lagerung Individuelle Fallstruktur (dominante Selbstkrise)
- Fallspezifische Bearbeitungsstrategien - Individueller Habitus
SCHULE Einsteig Reales
SELBST I´ Bearbeitung Schulbezogene Krisenproblematiken des Selbst
Konfrontation mit der Grundschule und der einzelschulspezifischen schulkulturellen Ausdrucksgestalt
Symbolisches
- Schulische Bewältigungsstrategien - Schulbezogene habituelle Ausprägungen
Herausbildung der Fallstruktur des schulkulturellen Passungsverhältnisses - Ideale Selbstkonzeption (Selbstbild) - Implizite Anspruchshaltungen
Abbildung 4:
Imaginäres
Diachrone und synchrone Vermittlung der Sinnebenen
Schulbezogene Selbstimagination
4. »unser sonnenlicht hat viele farben weil die kinder unserer sonnenlicht-grundschule auch viele farben haben« – Analyse der Schulkultur 4.1 Schulbeschreibung 4.1.1 Einzugsgebiet Das Einzugsgebiet der Schule liegt im Norden eines Stadtteils, der heute als Innenstadtbezirk zu einer der größten Städte des Landes gehört. Im Zuge der Industrialisierung und der damit einsetzenden Entwicklung der damals nahe gelegenen Stadt zu einer Industriemetropole endet in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Geschichte des Bezirks als ländliche Vorortgemeinde. Für die rasant steigende Zahl an zuziehenden Industriearbeitern entstehen insbesondere in dem Gebiet, das heute den Kern des Einzugsbereiches der Schule bildet, vier- bis fünfstöckige Mietskasernen. Diese Häuser bedecken fast Zweidrittel der Grundstücksfläche und werden, zur Unterbringung möglichst vieler Arbeiter, mit einfachster Bausubstanz auf niedrigstem Ausstattungsniveau errichtet. Die Maximalausnutzung der Grundstücke erlaubt weder Grünflächen noch Kinderspielmöglichkeiten: »Die katastrophale sanitäre Ausstattung, die ständige Überbelegung der Wohnungen sowie eine fehlende Belüftung und Besonnung der Grundstücke hatten weitreichende negative Auswirkungen auf die Lebensbedingungen der Bewohner. Krankheiten breiteten sich schnell aus. Die Säuglings- und Kindersterblichkeit war erheblich höher als in anderen Wohnvierteln. Gewalt und Kriminalität waren an der Tagesordnung. Heruntergekommene Häuser, schlechte Wohnverhältnisse, die Konzentration armer Familien brachten dem Viertel bald einen schlechten Ruf ein, der ihm über die folgenden Jahrzehnte erhalten blieb«.66
66 Aus Gründen der Anonymisierung kann die Quelle des Zitats nicht angeführt werden.
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4. »unser sonnenlicht hat viele farben …«
Den Zweiten Weltkrieg übersteht das Viertel beinahe unbeschadet. An dem Zustand der Häuser, der bereits vor dem Krieg Anlass zu Unmut und Protesten der Bewohner gewesen war, ändert sich vorläufig nichts. Erst zu Beginn der 1960erJahre wird das Viertel, als eines der ersten innerstädtischen Quartiere, zum Sanierungsgebiet erklärt. Zwischen 1967 und 1982 entstehen schließlich, nach dem fast vollständigen Abriss der alten Bebauung, 2.360 Wohneinheiten. Im Zentrum der Neubauanlage werden vier- bis sechsstöckige »Ringhäuser« und ansonsten werden bis zu neunstöckige »Mäanderhäuser« errichtet. Das Neubaugebiet liegt heute nahe am Subzentrum des Stadtteils und wird ansonsten umrandet von gründerzeitlichen Wohnquartieren. Bei den neu geschaffenen Wohnungen handelt es sich überwiegend um mietpreisgebundene Sozialwohnungen. Die Gebäude tragen seit seiner Fertigstellung wesentlich zu der sozialen Wohnraumversorgung des Bezirks bei. Diese Art der Flächensanierung wird heute kritisch bewertet. Die Neubauten sind zum einen städtebaulich nicht integriert, zum anderen ist die Integration der Bewohner problematisch. Die Arbeitslosenquote liegt bei 20 Prozent, der Ausländeranteil bei 37 Prozent und der Anteil der Schüler nichtdeutscher Herkunftssprache bei 57 Prozent. Das Neubaugebiet ist heute einer der bekanntesten und deshalb bereits fast schon ›populären‹ sozialen Brennpunkte des umliegenden Ballungsraumes. Erst seit 2001 wird hier versucht, eine sensible Belegungspolitik umzusetzen, um eine ausgewogene Sozialstruktur zu erreichen. Als »Gebiet mit besonderem Entwicklungsbedarf« ist das Viertel seit 1999 Teil des Bund-LänderProgramms »Soziale Stadt«. Den Kern dieses Programms macht die standortbezogene Arbeit von professionellen Quartiersmanagement-Teams an einer auf mehreren Ebenen und an unterschiedlichen Problemfeldern ansetzenden Entwicklung und Stabilisierung der ausgewählten Stadtteile aus. Das Einzugsgebiet der Schule ist aufgrund der Besiedlungsdichte in diesem Teil der Stadt eher klein. Es besteht aus nur wenigen Straßen, aus eben jenem Neubaugebiet und einigen angrenzenden Straßenzügen mit zum Teil noch unsanierten Altbauten. Weitere sechs Schulen sind problemlos zu Fuß zu erreichen. Die Grundschule selbst liegt zwischen zwei der drei Hauptverkehrsadern des Bezirks. Die etwas näher gelegene Straße bietet neben den öffentlich-städtischen Einrichtungen wie z.B. dem Rathaus insbesondere innenstadtähnliche Einkaufsmöglichkeiten allerdings multikulturell durchsetzt mit Juwelieren, Pfandhäusern, Ein-EuroShops, Elektro-Läden und kulturell mannigfaltigen Imbissen und Bäckereien. An der anderen Durchfahrtsstraße reihen sich ergänzend die Gemüse- und Lebensmittelhändler aneinander, die die unterschiedlichen Landesküchen versorgen. Betrachtet man den Nahraum der Schule, dann wird dieser südlich durch einen größeren Friedhof begrenzt. Direkt westlich hinter der Schule gibt es zwei weitere
4.1 Schulbeschreibung
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Schulen, deren Höfe direkt an den der Grundschule angrenzen. Im Osten und damit auf der anderen Straßenseite gegenüber dem Haupteingang befindet sich ein sehr großer Spielplatz, der u.a. von einer anliegenden Kinderhorteinrichtung genutzt wird. Außerdem gibt es dort ein Jugendhaus. Der Spielplatz selbst grenzt wiederum an einen kleinen Park, dem allerdings der Ruf, ›gefährlich‹ zu sein vorauseilt. Nur im Norden erscheint schließlich der urbane Raum nach dem Durchgang durch ein, die Straße großzügig überführendes Wohngebäude, in Gestalt einiger mehrstöckiger Hochhäuser. Insgesamt ist das direkte Umfeld der Schule damit in Bezug auf die Verkehrs- und Lärmbelastung eher ruhig. Auch Einzelhändler finden sich hier kaum. Nur unmittelbar neben der Schule gibt es eine kleine Bäckerei, die im Grunde zu jeder Tageszeit von Grundschülern ›bevölkert‹ ist. Es ist ein eher familiärer Raum, in dem man sich selbst mehr als Besucher denn als Kunde vorkommt. Das Zentrum des Neubaugebiets muss man ausgehend von der Schule fast suchen; mehrere kleine Fußgängerwege führen dort hinein. Im Gegensatz zu den medial geprägten Bildern, unter deren Beeinflussung man das Gebiet betritt, machen die Straßen und Gebäude einen sehr sauberen Eindruck. Die Arbeit der Quartiersmanager war hinsichtlich der durchgeführten Maßnahmen gegen die Verwahrlosung der Wohngebäude und der Außenanlagen offensichtlich erfolgreich. Allerdings ist alles ›verschlossen‹. Dicke Stahltüren versperren den Eingang zu den Häusern. Und der Kindergarten, der innerhalb des Viertels liegt, ist wie ein städtischer Fußballplatz durch hohe Metallgitter eingefasst. Wenn man durch diese Gitter versucht, das Spiel der Kinder zu beobachten, hat man schnell den Eindruck, etwas »Verbotenes« zu tun. Einer studentischen Besucherin, die sich gezielt auf Erkundung begeben hatte, fiel auf, dass das Gebiet zwar einen aufgeräumten Eindruck macht, dass jedoch die wenigen »frischen« Zerstörungen, die noch nicht beseitigt waren, mit einer großen Kraft und Gewalteinwirkung entstanden sein müssen. In dem gesamten Bezirk findet sich eine steigende geografische Verdichtung benachteiligter Gruppen. Mit 22 Prozent weist der Stadtteil die zweithöchste Arbeitslosenquote innerhalb der gesamten Stadt sowie die höchste Anzahl an Empfängern laufender Hilfe zum Lebensunterhalt auf. Der Ausländeranteil liegt mit 21,3 Prozent im oberen Bereich. Darüber hinaus weist die Bevölkerungsprognose bis 2010 einen Anstieg der nichtdeutschen Bevölkerung auf 27 Prozent aus. Diese Gesamtsituation hat zur Folge, dass immer mehr Menschen, die sozial und finanziell dazu in der Lage sind, in benachbarte Stadtteile oder in das städtische Umland abwandern. Im Rahmen eines Projektes, in dem von Kindern die Straßen, in denen sie wohnen, beschrieben werden, findet sich zu der Straße, in der auch die Schule liegt die folgende kleine Geschichte eines Jungen:
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4. »unser sonnenlicht hat viele farben …«
»Mein Haus und draußen. In meinem Haus drin ist es schrecklich. Die da drinnen wohnen, sind Psychopathen. Fast jede Nacht schreit einer herum. Und draußen ist es schlimm, es ist jeden Tag was los. Die Polizei kommt oft her. Bei uns, das ist ein armes, kleines Ghetto. Jedes Mal sind Scheiben eingeschlagen und Schlägereien. Und die von Stadt und Land und Bezirk wollen aus dem [Bezeichnung des Neubaugebietes] ein Viertel machen, was es mal früher war. Aber ich sage ›ihr könnt es nie zu einer ruhigen Gegend machen‹. Was ich euch da erzähle, ist die Wahrheit«.67
4.1.2 Geschichte des Schulhauses Der alte Teil des Schulgebäudes wurde im Jahr 1899 fertiggestellt. Interessanterweise war die damalige Eberswaldschule von 1920 bis 1933 eine der ersten drei weltlichen Schulen im Bezirk. Die Stadtverwaltung reagierte hier auf die steigenden Abmeldungen von Kindern vom Religionsunterricht, die mit dem hohen Anteil an Arbeiterfamilien im Stadtteil und deren politischer Orientierung zusammenhing. Insbesondere diese weltlichen Schulen nahmen bis zur ›Machtergreifung‹ der nationalsozialistischen Partei reformpädagogische Ideen und Methoden auf und veränderten damit den Unterrichtsalltag nachhaltig. Nach dem Zweiten Weltkrieg und der Umstellung auf die Dreigliedrigkeit des Schulsystems beherbergte das Schulhaus zunächst die »Wilhelm-Adler-Oberschule«. Bedingt durch den Bau der Gesamtschulen in den 1970er-Jahren gingen die Schülerzahlen an dieser Schule stetig zurück, sodass schließlich die Zusammenlegung mit einer anderen Hauptschule beschlossen wurde. Im Gegenzug stiegen allerdings die Schülerzahlen an den Grundschulen, insbesondere durch den Zuzug vornehmlich ausländischer Schüler, in den 1980er-Jahren stark an. An den bestehenden Schulstandorten gab es kaum Erweiterungsmöglichkeiten, sodass 1988 in der WilhelmAdler-Oberschule zunächst eine Filiale der Friedrich-Wörner-Grundschule eröffnet wurde, in der zunächst nur sechs Klassen unterrichtet wurden. Die offizielle Gründung der neuen Grundschule, und damit der Auszug der Hauptschule, erfolgte im Schuljahr 1989/90. Seither ist die Schule stetig gewachsen. Dies geschah zum einen durch die zunächst sukzessiv aufgenommenen Klassenstufen, zum anderen aufgrund der hohen Besiedlungsdichte des Einzugsgebiets. Bis heute steigt die Schülerzahl kontinuierlich an. Die derzeit 650 Schülerinnen und Schüler, davon ca.
67 Aus Gründen der Anonymisierung kann die Quelle des Zitats nicht angeführt werden.
4.1 Schulbeschreibung
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70 Prozent mit Migrationshintergrund aus ca. 30 verschiedenen Nationen, werden von 45 Lehrerinnen und Lehrern unterrichtet. Die Schule arbeitet seit ihrer Gründung mit und an ihrem kunstbetonten Schulprofil. Als eine der ersten folgte sie damit zu Beginn der 1990er-Jahre dem Aufruf ihrer Schulverwaltung zur »Profilbildung«. Mitte der 1990er-Jahre erhält sie für diese besondere Profilierung einen international anerkannten und beachteten Preis. Daraufhin kann sie sich, nach zuvor mehrfacher erfolgloser Beantragung der Anerkennung eines »besonderen organisatorischen Profils« bei der zuständigen Schulbehörde, offiziell »kunstbetonte Grundschule« nennen. Die öffentlichen Reaktionen auf die besondere Konzeption und die konkrete Arbeit der Schule sind durchweg positiv. Immer wieder wird sie in unterschiedlichen Veröffentlichungen als gelingendes Beispiel für innovative schulpädagogische Arbeit in einem sozialen Brennpunkt beschrieben. Es existieren zahlreiche auch überregionale Zeitungs- und Zeitschriftenartikel und ein Dokumentarfilm über die Arbeit sowie einzelne Projekte der Schule. Darüber hinaus nehmen immer wieder Schülergruppen sehr erfolgreich an Wettbewerben und Ausschreibungen im künstlerisch-ästhetischen Bereich teil. Die Schule konnte inzwischen aufgrund des kunstbetonten Profils eine gewisse ›Magnetwirkung‹ entfalten. ›Wahlfamilien‹, die ihre Kinder aus anderen Einzugsgebieten gezielt an der Schule anmelden, rekrutieren sich jedoch mit einzelnen Ausnahmen aus dem alternativen Milieu und wohnen im näheren Umkreis der Schule.68 Zumeist so nah, dass die Grundschulkinder noch zur Schule laufen können. Nach Aussage des Rektors finden sich an der Schule damit kaum Kinder aus ›bürgerlichen Verhältnissen‹. Die geringe Ausstrahlung des sozial äußerst schwachen Einzugsgebiets der Schule verhindert anscheinend eine hohe Mobilitätsbereitschaft der Eltern benachbarter Stadtteile. Die in den Blick genommene Grundschule ist aus diesen Gründen keine Schule, die aufgrund ihres besonderen Profils zu »Segmentierungsprozessen« (vgl. Schroeder 2002) beiträgt, also in der Lage wäre, im Übermaß leistungsstarke Schüler anzuziehen.
4.1.3 Organisatorischer Rahmen Organisatorisch hat die Schule zunächst experimentiert. Für die Neuorganisation und den Aufbau des neuen Schulstandorts standen zu Beginn ca. zehn extra Lehrerstunden zur Verfügung. Diese wurden unmittelbar in der kunstbezogenen Projekt-
68 Hierzu gehören z.B. Künstler mit ihrem Wohnsitz in diesem Bezirk, in dem Mieten für Atelierwohnungen noch bezahlbar sind.
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4. »unser sonnenlicht hat viele farben …«
arbeit eingesetzt. Zunächst wenige Lehrer gingen von Klasse zu Klasse und führten Kunstprojekte mit den Kindern durch. Von der sich so ergebenden Zusammenarbeit zwischen Projektleiter und Klassenlehrer wurde schließlich die Idee der Doppelbesetzung im Kunstunterricht abgeleitet, die bis heute einen wesentlichen organisatorischen Kern des Gesamtkonzepts bildet. Dies eröffnet den Kunstlehrern sowohl die Chance, intensiver und z.B. auch mit anspruchsvolleren Materialien mit den Klassen zu arbeiten, gibt aber auch die Möglichkeit zur Teilung der Klasse. Je nach Anlage des Unterrichts oder auch der Struktur der Klasse können die Lehrer diese Möglichkeit der Teilung flexibel einsetzen. Darüber hinaus trägt dieses Modell des Teilungsunterrichts nach Angaben der Beteiligten zur Teambildung unter den Lehrern bei, und neue Kollegen können schnell eingeführt werden. Funktionierende Teams bleiben mitunter über Jahre zusammen, übernehmen gegebenenfalls auch den Teilungsunterricht in anderen Fächern oder leiten zusammen eine erste Klasse. Zudem konnte die Schule durch günstige Umstände bereits zu Beginn des Profilierungsprozesses einen großen Raum als zusätzlichen Kunstraum einrichten und entsprechend mit ausreichend Material ausstatten. Dieser steht im Kunstunterricht für jede Klasse als Teilungsraum zur Verfügung. Obwohl die Situation zwischenzeitlich finanziell schwierig wurde, sprachen sich 1993 noch einmal alle Mitglieder des Kollegiums für die Beibehaltung der begonnenen Profilierung aus. Erst nach der Auszeichnung des Konzepts der Schule mit dem schon benannten Sonderpreis entspannte sich auch die finanzielle Lage, denn in der Folge wurde dem zuvor bereits mehrfach abgelehnten Antrag der Schule auf eine »besondere Organisationsform« stattgegeben. Damit standen der Schule eine extra Lehrerstelle sowie finanzielle Unterstützung zu, die sie seitdem kontinuierlich vom Stadtbezirk erhält. Dem Rektor gelingt es darüber hinaus immer wieder, projektbezogene Drittmittel einzuwerben. Es kommt hinzu, dass die spezifische Entwicklung der Schule von einem heute pensionierten Schulrat sehr begrüßt und unterstützt worden ist. Die Schule hatte durch diesen Umstand insbesondere in der langen Anfangsphase des sukzessiven Aufbaus die Möglichkeit, die Personalentwicklung mitzugestalten und die Lehrer passend zum Profil auszuwählen. Der Rektor betont, dass bis zum Zeitpunkt der Erhebungen alle Lehrer freiwillig und die meisten sogar auf persönlichen Wunsch an die Schule gekommen sind. Die Personalführung gestaltet er laut eigenen Angaben nach dem »Utopie-Prinzip«. Damit diejenigen Kollegen, die nicht Kunst unterrichten, nicht an den Rand des Schullebens gedrängt werden, ist es ihm wichtig, dass jeder die Chance bekommt, seine eigenen Ideen und Ansätze in der Schule umzusetzen: »und ich sehe das so jeder, der eine besondere idee hat der will ja auch was besonderes arbeiten . mit den schülern, der will sich besonders anstren-
4.1 Schulbeschreibung
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gen und was besonderes tun, und der soll auch unterstützt werden . und ich hab das bis jetzt immer geschafft denjenigen oder diejenige auch finanziell zu unterstützen« (EI Z19-22/6).69 Das kunstbetonte Profil wurde zum Zeitpunkt der Erhebungen durch folgende organisatorischen Elemente gefüllt: Aufgrund des ermöglichten profilorientierten Personalmanagements waren derzeit 25 ausgebildete Kunstpädagogen an der Schule. Das entspricht fast der Hälfte des Kollegiums und ist insbesondere im Kontrast zu anderen Grundschulkollegien bemerkenswert, in denen es, wenn überhaupt, meist nur wenige Kunstlehrer gibt. In dem Fach Kunst selbst wird, wie schon erwähnt, ausschließlich in Teilungsstunden unterrichtet. Allerdings ist die Kunststundenzahl an sich nicht erhöht. Zu einer solchen Modifikation des Stundenplans ist die Regelschule rechtlich nicht in der Lage. Jede Klasse hat zwei Stunden Kunst in der Woche, die aber in der Regel als Doppelstunden angelegt sind. Die Kunsträume, von denen es inzwischen zwei gibt, sind mit qualitativ hochwertigen und vielfältigen Materialien ausgestattet. Einmal im Monat findet eine Fachkonferenz Kunst statt, an der ein Großteil der Kunstpädagogen regelmäßig teilnimmt. Die Teilnahme an diesen Konferenzen war die ersten zehn Jahre für alle Kunstlehrer verpflichtend. Aufgrund der steigenden Anzahl der Kunstpädagogen an der Schule wurde der Kunstbereich im Jahr 2002 allerdings auf 16 Personen reduziert, die nun schwerpunktmäßig dieses Feld ausfüllen. Darüber hinaus verfügt die Schule über ein internes Curriculum für das Fach Kunst und es wurde am Anfang des profilbezogenen Arbeitens insbesondere mit verschiedenen Organisationsmodellen für die Teilungsstunden experimentiert. So gibt es eine Variante, in der mit kleineren Gruppen Exkursionen in den städtischen Kulturraum durchgeführt werden können (»Exkursionsmodell«). Es gibt ein »Intensivmodell«, bei dem es im Wesentlichen darum geht, die Qualität der Schülerarbeiten zu verbessern. Dabei arbeiten beide Lehrer in der Klasse. Einer widmet sich der Weiterentwicklung einzelner Schülerarbeiten, während der andere mit der Großgruppe z.B. die nächste Technik oder einen möglichen nächsten Bildinhalt erarbeitet. Zudem gibt es die Möglichkeit, innerhalb des Kunstunterrichts an offenen Projekten zu arbeiten, für die bezeichnend ist, dass es keine engen formalen Regularien gibt (»Projektmodell«). So ist z.B. auch eine Verlegung des Unterrichts in den Nachmittagsbereich möglich. Dieses Modell sollte ursprünglich auch dazu dienen, weitere Organisationsmuster für den Kunstunterricht zu entwickeln und zu gestalten. Eine strenge Umsetzung dieser Organisationsmodelle findet sich im Unterrichtsalltag des Untersuchungszeitraumes jedoch nicht. Am häufigsten wird der Kunst69 Die Darstellung der Transkriptionsregeln für alle in dieser Arbeit dargestellten Interviewsequenzen findet sich im Anhang (S. 383). Die Abkürzung EI steht für das Experteninterview mit dem Schulleiter.
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unterricht mit zwei Lehrern in der gesamten Klasse gestaltet. Während der eine den Teil der theoretischen Erarbeitung des Themas übernimmt, sorgt der andere für die Disziplin in der Klasse oder kümmert sich schon einmal um die Bereitstellung der Materialien. Die Qualität des Unterrichts sowie die Qualität und künstlerische Ausdrucksstärke der Produkte der Kinder sind aber für eine Grundschule immer wieder erstaunlich und werden in vielen Fällen ergänzt durch eine gute konzeptionelle und materielle Vorbereitung der einzelnen Unterrichtseinheiten. Neben den in allen Klassenstufen angebotenen Arbeitsgemeinschaften gibt es zudem den Wahlpflichtunterricht für die 5. und 6. Klassen. Dieser wird seit seiner behördlichen Einführung an der Schule ausschließlich im künstlerischen Bereich angeboten. Dieser Zusatzunterricht ist nicht verpflichtend. Kinder mit einem besonderen künstlerischen Interesse können hier am Nachmittag aus einem jedes Schuljahr wechselnden Angebot auswählen.70 Dies ist auch der Bereich, in dem die Schule regelmäßig mit freischaffenden Künstlern kooperiert. Der Schulleiter engagiert sich diesbezüglich sehr intensiv, baut Kontakte zu Künstlern auf und schöpft mögliche finanzielle Mittel aus. Die Zusammenarbeit mit den Künstlern wurde interessanterweise im Zuge des bekannt werdenden Profils über die Eltern in das Konzept hineingetragen. Eltern, die selbst als Künstler arbeiteten und in dem Bezirk wohnten, in dem die Mieten für größere Atelier-Wohnungen noch bezahlbar sind, meldeten verstärkt ihre Kinder an der kunstbetonten Schule an. Und diese begann, zunächst insbesondere die ›Künstler-Mütter‹ in den Unterricht und in die Projektwochen mit einzubinden. Diese Zusammenarbeit wurde mit der Zeit ausgebaut. Immer wieder gibt es auch Künstler, die ihre gemeinnützige Arbeit an der Schule ableisten oder im Rahmen von Ein-Euro-Jobs dort für einen gewissen Zeitraum beschäftigt sind. So ist seit längerem mit wechselnden finanziellen Mitteln eine Stelle eingerichtet, deren Inhaber sich insbesondere um die Archivierung der Arbeiten, die Materialbestände im Kunstraum und um die Gestaltung des Schulhauses kümmert. Der letzte Studientag der Lehrer im Jahr sowie die jährliche Projektwoche werden außerdem ausschließlich mit künstlerischen Inhalten und Projekten gefüllt. Der Rektor bemerkt diesbezüglich: »das bringt uns immer wieder zusammen und orientiert uns auf unser profil« (EI Z 36/6). Die Schule kooperiert regelmäßig mit außerschulischen Trägern. So wurden z.B. in Zusammenarbeit mit einem regionalen Künstler und Schülern der Schule einige Häuserwände des Neubaugebietes künstlerisch gestaltet.
70 Im Schuljahr 2004/2005 waren dies Tiffany-Kunst, Malen, Zeichnen, Töpfern und das Fotolabor. Im Schuljahr 2005/2006 fand dagegen ein großes Projekt unter der Leitung einer brasilianischen Künstlerin statt, das mit einer Ausstellung der Schülerarbeiten abschloss.
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4.1.4 Das Schulgebäude Die steigenden Schülerzahlen machten 1992 eine Erweiterung der Kapazitäten der Grundschulen des Bezirks notwendig, und auf dem Gelände der SonnenlichtGrundschule war dazu genug Platz. So begann in diesem Jahr die Planung für einen Erweiterungsbau, der 1997 der Nutzung übergeben wurde. Die Planung und Umsetzung des Neubaus entstand in einem engen Dialog zwischen dem beauftragten Architekten und der Schule und wurde speziell auf die Anforderungen und Wünsche der Schule und damit auf ihr Profil abgestimmt. Der Architekt schrieb in einer Veröffentlichung zur Geschichte des Schulhauses: »Ich bin sicher, dass nur der spezielle Schwerpunkt dieser Schule und das Engagement, mit dem diese Besonderheit der […] Grundschule vertreten und durchgesetzt wurde, den Bau in der nun realisierten Form in einer Zeit immer knapperer Investitionsmittel in Abweichung von der Norm entstehen ließ«.71 Das Schulgebäude besteht heute aus einem alten und einem damit verbundenen neuen Teil. Das alte Schulgebäude ist ein vierstöckiger, teilweise mit Efeu berankter, rechteckiger Backsteinbau mit hohen Decken und zwei großen Treppenaufgängen am jeweiligen Ende des Hauses. Die vier Stockwerke sind geprägt durch vier Flure, die die Etage auf ihrer ganzen Länge durchziehen, und von denen die Klassenräume abgehen. Fast jeder Klassenraum hat wiederum einen kleinen Nebenraum, der unterschiedlich, auch von anderen Kleingruppen als Teilungsraum (z.B. für Religionsunterricht) genutzt wird. Die Flure sind jeweils in einer anderen Farbe gestaltet. Die Elemente, die den Altbau architektonisch mit dem Neubau verbinden, sind gläserne Türen mit grauem Rahmen, die sich auf jedem Stockwerk zwischen Treppenhaus und Flur befinden. Im obersten Stock des Altbaus liegen die beiden Kunsträume, zwei Materialräume, der Computerraum und darüber hinaus noch zwei Klassenräume. Die Kunst- und die Materialräume sind durch einen parallel zum Flur verlaufenden Gang miteinander verbunden, die Materialräume liegen zwischen den beiden Kunsträumen. Der eine dient dabei ausschließlich der Archivierung und Lagerung und der andere ist eine Art Arbeitsraum, in dem insbesondere die zusätzlichen Kräfte arbeiten, die die Schule über bestimmte Maßnahmen derzeit im Kunstbereich beschäftigen kann. Die Ausstattung der Kunstetage ist höchst professionell und erinnert in Einrichtung und Gestaltung an die Ateliers in Kunsthochschulen. Im Materialraum werden auf zwei Ebenen Bilder um Rahmen gelagert. Schränke mit vielen akribisch beschrifteten Fächern beherbergen unterschiedliche Farben, Blätter, Naturmaterialien etc. Ein Kunstraum wird ausschließ71 Die Quelle des Zitats wird aus Gründen der Anonymisierung nicht genannt.
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lich als Zeichenraum genutzt, in dem anderen werden die Techniken angewendet, die zu stärkeren Verunreinigungen führen können. Beide Räume sind mit Tischen ausgestattet. An den Wänden hängen, für Jungen und Mädchen getrennt, alte Hemden, die die Kinder zum Schutz ihrer Kleidung überziehen können. Die Kunsträume sowie der sehr gut ausgestattete und betreute Computerraum werden regelmäßig und intensiv von Kindern und Lehrern benutzt. Im Souterrain des Altbaus befindet sich zudem ein Raum, der für Tonarbeiten genutzt wird. Ein funktionierender Brennofen ist vorhanden. Nebenan liegt die Cafeteria, bestehend aus einem kleinen Verkaufsraum mit Tischen, an denen gegessen werden kann, und einer relativ großen angrenzenden Küche, in der das Essen frisch zubereitet wird. Die Cafeteria wird in einer Form selbstständiger Tätigkeit von Eltern geleitet. Morgens gibt es hier Frühstück und mittags einen wechselnden Mittagstisch. Meistens stehen zwei Gerichte zur Auswahl, von denen eines speziell auf die Vorlieben und Geschmäcker der Kinder zugeschnitten ist (Milchreis, Spaghetti, Fischstäbchen etc.). Neben den Kindern essen hier auch viele der Lehrer, die z.B. am Nachmittag noch weitere Stunden oder Termine haben. Der Haupteingang der Schule befindet sich mittig zwischen Alt- und Neubau. Man geht zunächst einige Stufen nach unten und betritt eine größere, helle Eingangshalle. Hier steht eine große Litfaßsäule, die, hauptsächlich für die Eltern, mit den neuesten Nachrichten aus dem Viertel bestückt ist. An den Wänden sind die diversen Urkunden und Preise ausgestellt, die die Schule in ihrer jüngeren Geschichte bekommen hat. Geradeaus geht es, wieder ein paar Stufen nach oben, zum Verwaltungsbereich. Auf diesem Weg durchquert man sozusagen auf unterster Ebene das Treppenhaus, das Alt- und Neubau verbindet und von dem aus die vier Stockwerke erreicht werden können. Der Verwaltungsbereich ist Teil des Neubaus und besteht aus den Zimmern der Rektoren mit angeschlossenem Sekretariat, dem großen Lehrerzimmer und einem separaten Besprechungsraum. Von den Fenstern des Lehrerzimmers und den Fenstern der Zimmer des Rektors und der Konrektorin blickt man über den Schulhof. Der Neubau selbst ist zur Straßenseite hin gerade und zur Hofseite leicht gewölbt. Er ist ebenfalls vierstöckig. Nur die ersten drei Stockwerke sind mit Schulklassen belegt, denn im vierten Stock befindet sich der Vorschulbereich. Diese vierte Ebene des Gebäudes ist nur zur Hälfte räumlich ausgestaltet. Die andere Hälfte des Stockwerks ist offen und bildet eine große Dachterrasse, die ausschließlich von den Vorschülern genutzt wird. Der gesamte, sehr moderne Bau ist in Weiß- und Grautönen gehalten. Auffällig ist, dass es im Grunde keine »langen Flure« gibt, wie sie noch im Altbau, aber auch sonst an den meisten Schulen anzutreffen sind: Die Mitte des Neubaus bildet eine Aula, die nach oben, bis zur Decke des Gebäudes, welche wiederum mit Glas verkleidet wurde,
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offen ist, sodass man direkt in den Himmel sieht. An der Glasdecke hängen wiederum gläserne Prismen, die das Sonnenlicht in seine Spektralfarben brechen. Die Aula selbst ist angelegt wie ein kleines Amphitheater. Gegenüber der fest installierten Bühne kann man, auf aufsteigenden Treppenstufen sitzend, dem Geschehen folgen. Über diesem Treppenbereich gibt es schließlich drei galerieartige Übergänge – eine Form von ›Rängen‹, wie man sie im Theater findet –, die die Klassenräume miteinander verbinden, die auf dem jeweiligen Stockwerk liegen. Von diesen ›Rängen‹ aus kann ebenso gut die Bühne eingesehen werden. Die Klassenräume des Neubaus sind auch über zwei Treppenhäuser erreichbar. Dabei ist das eine Treppenhaus mit dem Treppenhaus verwoben, über das auch die Klassen im Altbau erreichbar sind. Am äußeren Ende des Neubaus befindet sich die Turnhalle. Wahrscheinlich wird schon an der Beschreibung deutlich, dass es ein sehr großes Schulgebäude ist, dessen Schnitt und Aufbau sich nicht unmittelbar erschließt, sodass es eine Weile braucht, bis man in der Lage ist, über die jeweiligen Raumbezeichnungen auch die dazugehörigen Räume zu finden. Der Altbau selbst ist ein klassisches Schulgebäude. Der Neubau entlehnt Momente aus dem Aufbau eines Theaters. Insgesamt ist jedoch klar, dass es ein Gebäude ist, das speziell auf eine spezifische Nutzung hin abgestimmt wurde, nämlich auf eine Schule mit einem kunstbetonten Profil. Die gesamte Schule ist sauber und aufgeräumt und der Neubau insgesamt wirklich hell und mit viel Licht durchflutet. Der Altbau, dessen Flure viel dunkler und dadurch tunnelartiger sind, profitiert von diesem Eindruck, da man zu ihm nur durch den Neubau gelangt. Dafür birgt der Altbau den Charme eines mehr als hundert Jahre alten Schulgebäudes. Die Klassenräume sind in einer erwartbaren Weise mit Tischen und Stühlen bestückt. Viele sind farblich gestaltet. Es findet sich aber kein Klassenraum, in dem nicht Arbeiten der Kinder aus verschiedenen Unterrichtsfächern an den Wänden dargeboten werden. Im gesamten Gebäude sind an den Wänden oder in entsprechend eingerichteten Vitrinen die künstlerischen Arbeiten der Kinder ausgestellt. An dieser Präsentation ist sehr auffällig, dass sie angelehnt an museale Ausstellungspraktiken erfolgt. Die Wände sind weiß und die Bilder hängen sehr geordnet an wiederum weiß gestrichenen und mit Holz gerahmten Pinnwänden. Neben der Präsentation mehrerer Arbeiten z.B. aus einem Klassenverband findet sich auch ziemlich häufig die Ausstellung eines Einzelstücks. Ganz selten stößt man hingegen auf 25 Bilder, die sich weder hinsichtlich des Motivs noch bezüglich der Farbigkeit oder spezifischer Ausführungsmerkmale unterscheiden. Derartige Qualitätskriterien einer möglichen »richtigen« Ausführung einer Aufgabe im Kunstunterricht, die zwangsläufig zu einer
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möglichst großen Annäherung an ein Idealbild und damit der Bilder untereinander führt, scheinen an dieser Schule nicht zu dominieren: »es ist eben bei uns nicht so wir malen alle einen baum oder ein haus, sondern das thema ist mit der zeit so weit gefasst, oder fasst sich mit der zeit so weit . dass jeder wirklich nach seinen bedürfnissen und nach seinen fähigkeiten das ausfüllen kann und sich eben künstlerisch ausdrücken kann« (EI Z 1-4/7). Als Gesamteindruck bezüglich der Gestaltung der Schule fällt auf, dass sie sich in ihrer architektonischen und gestalterischen Außenpräsentation an die professionellen Felder des Kunstbetriebs (Museen, Galerien, Theater, etc.)72 anlehnt. Dies könnte durchaus ein Grund dafür sein, dass Besucher und Beobachter, die sich für Kunst interessieren bzw. oft z.B. in Studienzusammenhängen mit Kunst zu tun hatten, durchweg einen positiven Eindruck von der Atmosphäre der Schule haben. Ihnen begegnet hier Vertrautes. Von einer bunten Kinderkultur ist sie dementsprechend weit entfernt. Die Schule setzt dagegen auf eine bereinigte, eher museale Ausstrahlung der Räumlichkeiten, die im Kontrast zu dem belebten und abwechslungsreichen Außenraum des Viertels steht. Insofern ist die Befreiung von den Gefährdungen des modernen Stadtlebens, wie sie sich Grundschüler laut den Studien von C. Rittelmeyer von einer Schule wünschen, hier durchaus angelegt (Rittelmeyer 1994: 101). Jedoch setzt die Schule weniger auf Empfindungen wie Heimatlichkeit oder Orientierungssicherheit. Es gibt keine Sofas, Leseecken, Zimmerpflanzenbereiche oder Kleintierhaltung im Gebäude. Hier dominiert die Kunst und die Ausstellung einzelner Werke. Die dargebotene äußere Gestalt der Räume ist damit nicht eine, die dazu einlädt, es sich im sicheren Raum gemütlich zu machen, sondern eine Art gereinigte Präsentation neuer Anregungen. Der Schulhof ist nicht besonders groß und in den Pausen aufgrund der hohen Schülerzahl dementsprechend voll. Er wirkt sauber und aufgeräumt. Besonderes Merkmal ist ein Bauwagen, der gemeinsam von Kindern und einem Künstler gestaltet worden ist. Ansonsten befinden sich auf dem Schulhof sehr wenige Spielgeräte. Diesbezüglich und auch hinsichtlich einer möglichen Begrünung wirkt er sehr karg. Bis vor wenigen Jahren gab es allerdings einen Bewegungsparcours auf dem Hof, der in aufwendiger Zusammenarbeit von Lehrern, Eltern und Schülern gestaltet worden war, aber relativ früh wegen zunehmender Sicherheitsmängel wieder entfernt werden musste. Am markantesten ist deshalb derzeit ein großes, aus Seilen bestehendes Klettergerüst, das von den Kindern auch viel genutzt wird. Hierbei ist sehr interessant, dass sich ein ähnliches Klettergerät auf dem zentralen Spielplatz in jenem besagten Neubaugebiet befindet, das von den Kindern sym72 Eine solche Form der Präsentation steht im Gegensatz zu einer möglichen subkulturellen Buntheit und Vielheit der Darstellung.
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bolisch »Spinne« genannt wird. »Spinne 44« ist nun ein Slogan oder ein Schriftzug, der sich in der Schule ab und an findet, auf Tischen, Stühlen oder an den Wänden des Flurs. Es ist die Bezeichnung einer Art ›Gang‹, von der die Schüler behaupten, es gebe sie, aber alle befragten Lehrer bezeichneten solche Informationen als Erfindungen. »Spinne 44« charakterisiert zum einen eben jenes Klettergerät des Viertels und fasst mit der Zahl 44 eine alte Bezeichnung des Stadtteils als 44. Bezirk.
4.1.5 Pädagogisches Profil Als Kern des Gesamtkonzeptes enthält das Schulprofil zudem weitreichende pädagogische Zielsetzungen, die nun im Folgenden dargestellt werden sollen. Entsprechend der methodischen Anlage der Studie ist diese nachstehende Beschreibung zunächst deskriptiv als eine systematisierte Darstellung des subjektiv gemeinten Sinns der Profilentwicklung zu verstehen. Diesbezüglich wird zum einen auf eine vorliegende schriftliche Fassung des Schulprogramms aus dem Jahr 1995 zurückgegriffen. Zum anderen werden daran anschließend die dort gewonnenen Informationen über den Einbezug eines als Expertengesprächs geführten Interviews mit dem Rektor der Schule konkretisiert und spezifisch gewichtet. Wie bereits erläutert (vgl. Kap 3.4.1, S. 106ff.), wird auch das Experteninterview ausschließlich auf einer manifesten Sinnebene ausgewertet. Die auf diese Weise isolierten pädagogischen Ziele und Sinngehalte des Schulprogramms sind von daher Teile des Selbstbildes der Schule und entsprechend der Ebene des Imaginären zuzuordnen. Erst durch die in Abschnitt 4.2 anschließende hermeneutisch-rekonstruktive Analyse der Einschulungsfeier wird es möglich sein, die eigentlich interessante Frage danach zu beantworten, inwiefern und in welchen Bereichen die Schule das kunstbetonte Profil auch auf einer symbolischen Ebene verbürgt bzw. welche zusätzlichen imaginären Dimensionen dieses profilbezogenen Arbeitens zum Tragen kommen, die möglicherweise über die programmatischen Fixierungen hinausgehen oder diese spezifisch gewichten. Die programmatische schriftliche Darstellung der pädagogischen Zielsetzungen kann systematisch in sechs verschiedene Wirkungsdimensionen unterteilt werden (vgl. das Schulprogramm von 1995: 4-5).73 1. Es finden sich zum einen Erwartungen an die speziellen künstlerischen Fähigkeiten und Kompetenzen, die im Sinne einer künstlerisch-ästhetischen Alphabetisierung verstanden werden können. Dementsprechend heißt es, dass allgemein 73 Die Quelle wird aus Gründen der Anonymisierung nicht differenziert angegeben.
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die »Fähigkeiten in bildnerischen und darstellerischen Bereichen« gefördert werden sollen. Darüber hinaus sollen die Kinder durch die Beschäftigung mit zeitgenössischer Kunst an »aktuelle Ausdrucksformen« herangeführt und dadurch bei der Entwicklung eines »zeitgemäßen Weltverständnisses« unterstützt werden. Als Kompetenzbereiche zu identifizieren sind damit zum einen spezifische handwerkliche Fähigkeiten und Kenntnisse, die sowohl dem eigenen bildnerischen Ausdrucksvermögen zugutekommen als auch dabei helfen, die symbolischen Ausdrucksformationen der modernen Kunst zu entschlüsseln und zu verstehen. Die Beschäftigung mit zeitgenössischer Kunst soll in diesem Zusammenhang dazu dienen, ein »zeitgemäßes Weltverständnis« zu entwickeln. Diese Zielperspektive könnte auf die Kompetenz zugespitzt werden, Individuen heranzubilden, die kulturellen Ereignissen und Symboliken einer zunehmend globalisierten Welt nicht passiv gegenüberstehen, sondern im Umgang mit ungewohnten Ausdruckgestalten und Ästhetisierungen geübt und sicher sind und somit zu kritischen und produktiven Verarbeitern ihrer Lebenswelt werden. 2. Als erwartete »Transfereffekte« (Bastian 2000) sind der Aufbau von »Motivation zum Lernen«, Förderung des »sozialen Handelns« und der »Zusammenarbeit« sowie der »Toleranz« im Hinblick auf »Völkerverständigung« und Integration und dem »Verständnis zwischen Jungen und Mädchen« und den »verschiedenen Altersgruppen« genannt. Durch die gemeinsame künstlerische Gestaltung der Schule und der Klassenräume soll die »Identifikation mit der Schule« aufgebaut werden, »was zu einem Abbau von Aggressionen und einem anderen Umgang mit Haus und Hof und schuleigenen Dingen und zu weniger Zerstörungen führt«. 3. Die Ermöglichung ästhetischer Erfahrung oder Bildung kommt innerhalb des Konzeptes als unabhängiges Zielkriterium nicht vor. Sie erscheint vielmehr eingebettet in eine Theorie der Bestätigung und Anerkennung des individuellen Ausdrucks in ästhetischen Tätigkeiten. So heißt es, dass den Schülern über das künstlerische Arbeiten zunächst einmal die Möglichkeit gegeben wird, sich »selbst darzustellen«. Dabei wird anscheinend davon ausgegangen, dass der ästhetische Ausdruck nicht den sonstigen schulischen Bewertungs- und Klassifizierungsprozessen unterliegt, sondern als Ausdruck an sich Anerkennungswürdigkeit birgt. Daraus ergibt sich die pädagogische Erwartung, dass die Kinder »im kreativen Bereich Erfolgserlebnisse haben«, wodurch schließlich »Hemmungen und Mangel an Selbstbewusstsein« bei den Schülern abgebaut werden sollen. »Es soll eine Atmosphäre geschaffen werden, in der Lernen Spaß macht«, sodass die Lehrer einen besseren »Zugang zu den Kindern« finden, um »positive Beziehungen zwischen Lehrern, Schülern und auch Eltern aufzubauen«.
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4. Als vierte Dimension kann die Aussage bestimmt werden: »Die Schüler sollen über Angebote im nicht sprachlichen Bereich sprachlich gefördert werden und zu Sprechanlässen kommen«. Hier kann jene theoretische Spur vermutet werden, die die Eigentümlichkeit ästhetischer Erfahrungen als Zwischenbereich zwischen innerer und äußerer Realität, zwischen Vorbegrifflichem und Begrifflichem fasst (Mollenhauer 1996: 260f.; Mattenklott 1998: 32), um vermittelt über den ästhetischen Ausdruck zur Entwicklung der Sprachkompetenz insbesondere der Schüler nichtdeutscher Herkunft beizutragen. 5. Interessanterweise findet sich nur ein Aspekt, der sich in reformpädagogischer Tradition kritisch gegen die gegenwärtigen Bedingungen des Aufwachsens von Kindern richtet: »Das eigene Schaffen soll der Medienwelt etwas entgegensetzen; Ideen für die Freizeitgestaltung sollen entstehen«. Impliziert ist hier eine Kritik an der zunehmenden Medialisierung der Lebenswelt und einer damit zusammenhängenden Entfremdung der Subjekte von sich selbst, die als Verarmung der Spiel- und Ausdrucksmöglichkeiten wahrgenommen wird. Der sinnlich unmittelbare Schaffensprozess soll dem entgegenwirken. 6. Zu guter Letzt wird noch der Anspruch formuliert: »Bei Verhaltensstörungen soll die profilbezogene Arbeit therapeutisch eingesetzt werden« Die Kunsttherapie ist ein erfolgreiches therapeutisches Feld. Ihre Ausübung erfordert jedoch eine entsprechende Ausbildung. Es arbeitete jedoch zum Zeitpunkt der Erhebungen kein ausgebildeter Kunsttherapeut an der Schule. Diese Auflistung macht mehr als deutlich, dass es zum einen im Rahmen einer wissenschaftlichen Arbeit nicht möglich ist, die gesamte heterogene Palette dieser mit dem kunstbetonten Schulprofil verknüpften Wirkungserwartungen gehaltvoll auf ihre Verbürgung zu überprüfen.74 Zum anderen erscheint es unwahrscheinlich, dass die Schule als Institution in ihrer Abhängigkeit von den Fähigkeiten und Kompetenzen der einzelnen Lehrkräfte in der Lage ist, diese hohen, umfänglichen und weit gestreuten Anforderungen in der schulischen Arbeit umzusetzen. Sie sind von daher zunächst als »Leitideen« zu verstehen (Oser/Oelkers 2001: 72). Die Einordnung der Schulprogramme durch Helsper u.a. auf der Ebene des Imaginären wird hier nachvollziehbar. Unter Einbezug der Ergebnisse des Experteninterviews mit dem Schulleiter können diese Aspekte nun im Folgenden zum Teil in einen inneren Zusammenhang
74 Fast jede Wirkungserwartung würde ein eigenes methodisches Design notwendig machen. Allerdings zeigt diese Heterogenität, dass, wie bereits angeführt, an eine Verbindung von Kunst und Pädagogik solche pädagogischen Erwartungen geknüpft werden können, weil kaum empirische Forschungsergebnisse zu diesen »Versprechungen« (Ehrenspeck 1998) vorliegen.
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gebracht werden, wodurch sich zunächst die intentionalen Schwerpunkte herauskristallisieren:75 Die grundsätzliche Annahme, auf der das pädagogische Konzept der Schule nach den Aussagen des Rektors aufbaut, ist, dass Kunst etwas ist, »das alle kinder gerne tun . und auch alle kinder gleich gut können« (EI Z 11/10). In diesem Bereich gibt es nach Aussage des Rektors keine Kompetenzunterschiede zwischen den einzelnen Kindern, denn der sprachliche Ausdruck – als eigentlich schulisch zentral bedeutsame Grundkompetenz – spielt bei dieser Herangehensweise erst in zweiter Linie eine Rolle. Kinder aus bildungsnahen und Kinder aus bildungsfernen Milieus unterscheiden sich angeblich nicht im Bereich künstlerischen Tätigseins. Eine Inwertsetzung ästhetisch praktischer Tätigkeiten wäre demnach milieuübergreifend zu verstehen. Das ist insbesondere angesichts des kulturell divergenten Einzugsgebiets bedeutsam und legitimiert den Sinn des Schulprofils für die Schülerschaft: »also als erstes ein integratives, eine integrative idee . kinder eben aller nationen in der schule zu integrieren über ein nicht sprachliches konzept, wo sprache erst in zweiter linie eine rolle spielt die aber die sprache ermöglicht . über eine sache über einen aspekt der schön und positiv ist . wir können uns mit dem kind austauschen über etwas das es kann« (EI Z 28-32/11). Die mit dem Kunstprofil zentral verknüpfte pädagogische Leitidee ist demnach nicht die Annahme einer besonderen Form der Bildung durch ästhetische Tätigkeit, sondern ein Konzept der Anerkennung allgemeiner kindlicher Potenziale. Die Kinder sollen die Möglichkeit bekommen, sich in einem Bereich auszudrücken, der nicht den üblichen schulischen Bewertungsmaßstäben unterliegt. Denn, so die zweite Prämisse des Rektors, »worauf es uns ankommt mit den kindern ist der individuelle ausdruck« (EI Z 44/6). Der wiederum im Medium der Kunst »schön und positiv« (EI Z31/11) ist, und für ihn aus diesem Grund grundsätzlich anerkennungswürdig. Die Kunst bringt demnach nicht nur die Lehrer mit den Kindern zusammen, weil im künstlerischen Ausdruck Milieuunterschiede und Kompetenzunterschiede verschwimmen, sondern sie soll die Kinder zum Lernen in der Schule überhaupt erst befähigen: »also in anbetracht von pisa warum macht ihr da kunst mit den kindern . wo wir eben sagen können, das befähigt sie erst zu lernen, das befähigt sie überhaupt erst lesen schreiben und rechnen zu lernen weil sie sich öffnen lernen,
75 Der Schulleiter wird hier zur zentralen Figur der Vertretung der imaginären Ebene. Das entspricht den Verhältnissen an der Schule, in der der Schulleiter eine zentrale Rolle bei der Etablierung und Sicherung der Kunstbetonung einnimmt. Die unterschiedlichen Sichtweisen der einzelnen Lehrer werden erst im Anschluss an die Rekonstruktion der Einschulungsfeier mit einbezogen, wo sie dann nicht nur für die intentionale Ebene bedeutsam bleiben, sondern gleich auf ihren symbolischen Gehalt hin überprüft werden können.
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weil sie sich bestätigt fühlen . ein kind was immer nur bestätigt kriegt dass es nicht kann das kann nicht« (EI Z 24-27/12). Die intendierte Wirkungsrichtung des kunstbetonten Schulprofils wäre demnach die Folgende: Die künstlerischen Produkte der Kinder erscheinen grundsätzlich als anerkennungswürdig. Sie unterliegen nicht einer herkömmlichen schulischen Leistungsbewertung und auch die Lehrer können sich hiervon freimachen. Indem angenommen wird, dass die Kinder in ihren Produkten prinzipiell etwas von sich selbst zum Ausdruck bringen, wird nicht nur ihr Produkt, sondern ihre individuelle Persönlichkeit anerkannt. Da diese Anerkennung jedoch innerhalb der Institution Schule stattfindet, wird sie von den Kindern als schulische Anerkennung ihrer Person und Leistung wahrgenommen. Daraus ergibt sich nach Aussage des Rektors eine positive Erfahrungswelt, die mit der Schule in Zusammenhang gebracht wird, wodurch sich eine prinzipielle schulische Leistungsbereitschaft auch in anderen Fächern entwickelt: »und unsere kinder kriegen bestätigt dass sie wenigstens etwas können, dass sie das können was bei uns das wichtigste ist, nämlich kunst . und dieses selbstbewusstsein erweitert die motivation zum lernen ganz erheblich, ich denke dass wir das auch feststellen können wir sind, was unser niveau betrifft, liegen wir sehr hoch im vergleich .. kinder die in andere bezirke die in bürgerliche bezirke wechseln haben kein problem in dortige schulen zu wechseln, und umgekehrt ist es so dass wenn wir aus anderen arbeitergegenden kinder kriegen wir die häufig eine klasse tiefer einstufen müssen weil die häufig sehr rudern müssen um bei uns schritt zu halten . also leistung ist sehr gefragt aber leistung ist auch möglich weil kinder sich ganz anders öffnen können zur leistung« (EI Z: 28-36/12). Entsprechend den weiter gefassten Aspekten im schriftlichen Schulprogramm bezeichnet der Rektor darüber hinaus die Anerkennung des individuellen Ausdrucks und damit auch die Notwendigkeit der Anerkennung der Produkte von Mitschülern als ausgesprochene »toleranzerziehung«. »also dein bild kann genauso schön sein wie mein bild obwohl sie ganz unterschiedlich aussehen« (EI Z 36-37/10). Diese ›pädagogische Utopie‹ soll innerhalb des Profils ihre Entsprechung in der Auseinandersetzung mit moderner Kunst finden. Die Verschiedenartigkeit moderner Kunst spiegle die individuelle Mannigfaltigkeit. Der Schule ist daran gelegen, den Schülern »zu zeigen wie vieles alles kunst ist was alles kunst sein kann und das künstlerische schaffen eines jeden anzuerkennen . das was er tut und damit auch die
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persönlichkeit eines jeden anzuerkennen die individuell unterschiedlich ist« (EI Z: 36-38/11). Darüber hinaus soll der Zugang zu Kunst und Kultur innerhalb der Stadt geöffnet werden: »denn die kinder aus dieser herkunft aus diesem viertel würden den zugang sonst wahrscheinlich nie finden . und so sind sie eben schon in der grundschulzeit in der nationalgalerie gewesen in der gemäldegalerie gewesen in einzelnen privaten galerien gewesen, haben künstler kennen gelernt . und das ist für sie in ihrem späteren leben einfach eine möglichkeit daran anzuknüpfen . kunst und kultur wird nicht etwas bleiben was nur den höhergebildeten vorbehalten ist deswegen ist es so wichtig dies an diesem ort zu tun« (EI Z: 42-47/11). Auf die Frage nach im Alltag beobachtbaren Auswirkungen des kunstbetonten Schulprofils betont der Rektor neben der Steigerung des Leistungsniveaus insbesondere einen deutlichen Abbau von Aggressionen, eine friedliche Atmosphäre in Haus und Hof und ein ausgesprochenes Interesse an künstlerischen Dingen. Darüber hinaus seien die Fähigkeiten der Kinder im künstlerischen Bereich mitunter erstaunlich. Festzustellende besondere Fähigkeiten der Kinder im künstlerischen Bereich werden mit unterschiedlichen Maßnahmen gezielt gefördert. Dem kunstbetonten Arbeiten kommt dabei eine doppelte Bedeutsamkeit zu. Denn nicht nur die Schüler, sondern auch die Lehrer sollen eine positive Einstellung zu ihrer Tätigkeit mit den Schülern gewinnen. Das Schöne und Positive der Kunst soll etwas sein, was auch auf die Haltung der Lehrer Einfluss nimmt und ihnen den »Spaß« an der Arbeit mit den Kindern in diesem schwierigen Einzugsgebiet erhält: »und wir alle die erfahrung gemacht hatten dass der kunstunterricht uns mit den kindern auch am meisten spaß gemacht hat . wir haben auch gesagt, also nicht nur wie kann man die aggressivität niedrig halten sondern was machen wir damit wir selber nicht die freude am unterrichten verlieren, damit wir weiterhin bestehen . und wie finden wir irgendwo einen aspekt eine besonderheit der schule was uns mit den kindern zusammenbringt was uns weiterhin spaß macht« (EI Z: 18-22). Aufgrund des Prinzips des Rektors, jedem Lehrer die Möglichkeit zu geben, seine eigenen Ideen umzusetzen, gibt es an der Schule neben den künstlerischen Aktivitäten und den mit diesen verknüpften pädagogischen Ideen noch vielfältige andere Projekte und Aktionen in anderen Bereichen. Es gibt einen großen Computerraum, vielfältige sportliche Angebote, Frühradfahren, Lesepatenschaften, Lehrer mit Montessoriausbildung, etc. Seit kurzem ist die Schule zudem Europaschule und bietet in einer Klasse Französisch als erste Fremdsprache an. Auf die Frage, wie es denn möglich ist, bei einer solchen Vielfalt das Profil zu fokussieren, antwortet der Rektor: »es ist eigentlich schön wenn man einen kern hat . die kunst ist der kern unseres gesamtkonzepts und die anderen dinge gehören dazu […] es ist gut wenn man sich auf einen kern
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immer wieder beziehen kann um eben nicht so auseinanderzulaufen, sodass jeder nur seine utopie verwirklicht sondern wir einen kern haben« (EI Z 27-32/6).
4.2 Die symbolische Ordnung der kunstbetonten Regelgrundschule – Rekonstruktion der Einschulungsfeier Im Anschluss an die vorherigen Abschnitte, in denen zum einen beschreibend die Bedingungen der Arbeit an der kunstbetonten vorgestellt wurden und zum anderen das pädagogische Profil als Teil der imaginären Ebene der Schulkultur systematisch erläutert wurde, sollen nun mit der folgenden sequenzanalytischen Rekonstruktion der Einschulungsfeier die auf der Ebene des Symbolischen anzusiedelnden latenten Sinnstrukturen mit den spezifischen Strukturproblemen, den angestrebten Lösungsmöglichkeiten und Charismatisierungsformen und schließlich der die bisherigen Ausführungen möglicherweise ergänzende imaginäre Horizont mit dem zu konkretisierenden dominanten Schulmythos herausgearbeitet werden. Auf dieser Grundlage wird es möglich sein, die Frage nach der spezifischen symbolischen Verbürgung des Schulprofils innerhalb der Schulkultur zu beantworten. Die sich durch die Analyse der unterschiedlichen Lehrerpositionen ergebenden Strukturvarianten vervollständigen am Schluss die Analyse. Aus Gründen der Lesbarkeit ist die folgende Darstellung der Rekonstruktion der Einschulungsfeier verdichtet. Entsprechend der angewandten Methode wird die Position einer künstlichen Naivität eingenommen sowie der sequenziellen Struktur des Protokolls gefolgt. Dieses beginnt nun wie folgt: (rauschen, stimmen, kinderrufe) Die Klammern weisen diese erste Sequenz des vorliegenden Protokolls als eine Kommentierung der Beobachterin aus. Der Kontext wird damit eingeführt über eine kurze, stakkato-artige Beschreibung von für die Beobachterin wahrnehmbaren Geräuschen. Konkrete Interaktionsbeiträge werden nicht hervorgehoben. Allerdings ist in der Beschreibungsabfolge eine Fokussierungsbewegung feststellbar. Das Rauschen ist noch relativ unbestimmt, es kann sowohl technischen als auch natürlichen Ursprungs sein, es wird aber spezifiziert durch die Unterscheidung von Stimmen und Kinderrufen. Die Beschreibung von Stimmen verweist bereits auf einen humanen Kontext, wenngleich auch Tierstimmen gemeint sein könnten. Diese Variante ist jedoch durch die nun folgende Benennung von Kinderrufen eher unwahrscheinlich, denn hier ist der ›humane Sender‹ eindeutig zu bestimmen. Wir
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haben es also wahrscheinlich mit einer heterogenen Gruppe von Menschen zu tun, zu der unter anderem auch Kinder gehören. Die Fokussierungsbewegung könnte zumindest aufseiten der Beobachterin auf eine Aufmerksamkeit in Bezug auf Kinder verweisen oder auch eine besondere Rolle von Kindern in dem vorliegenden Zusammenhang abbilden. Die Art der Geräuschkulisse findet sich vermutlich in offenen, unzentrierten Interaktionskontexten. Zum Beispiel eine Szenerie am Strand, auf dem Schulhof, einer Betriebsfeier, zu der die Familien mit eingeladen wurden, bei einem Ausflug einer größeren Gruppe, evtl. auch in einer Halle, in der das Rauschen im Hintergrund technischen Ursprungs ist. Unwahrscheinlicher sind dagegen hoch formalisierte Settings wie z.B. ein Gottesdienst oder eine Tagung, in denen Kinder, wenn sie anwesend sind, höchstwahrscheinlich nicht laut rufen, oder es wäre zu erwarten, dass sie im Folgenden gedämpft werden. Die Form der Kommentierung erinnert darüber hinaus an eine Regieanweisung und damit an den Beginn eines Drehbuchs. Es wird eine Rahmung vorgegeben, in die alle kommenden Handlungen, Geräusche oder Interaktionen eingebettet sind. Der unformalisierte Beginn, der als Vorspann das nun Folgende spannungsvoll rahmt, könnte dann in zwei Varianten entwickelt werden. Entweder es folgt eine Fokussierungsbewegung, die Vordergrund und Hintergrund auseinander treten lässt und beispielsweise auf eine bestimmte Geräuschkulisse oder Interaktion zusteuert und diese deutlicher werden lässt, oder es folgt eine Transformation, in der die Situation über einen Markierer, der die Aufmerksamkeit auf eine spezifische Interaktion lenkt, eine klare Veränderung erfährt. Darüber hinaus besteht auch die Möglichkeit, dass die Protokollierung und Kommentierung von Geräuschen fortgesetzt wird. R: so, ich denke dass jetzt alle da sind (über mikrofon gesprochen – im folgenden wird das ausgewiesen was nicht in das mikrofon hineingesprochen wird) Die Beschreibung von Geräuschen wird im Protokoll abgelöst von einer in ein Mikrofon gesprochenen Sequenz eines einzelnen Redners. Aus dem Vorhandensein eines Mikrofons lässt sich ableiten, dass es sich durchaus um eine in gewissem Maß vorbereitete Situation handeln muss. Zudem kann angenommen werden, dass zu einer großen Gruppe gesprochen wird, deren Erreichbarkeit über die Verwendung eines Schallverstärkers sichergestellt werden muss. Die Rede selbst beginnt mit einem formalen Markierer (»so«), was die Vermutung bestärkt, dass es sich insgesamt um eine Transformationsfigur handelt, in der es im Folgenden darum geht, ›Etwas zu beginnen‹. Darüber hinaus gibt es jemanden, der die Position für sich in
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Anspruch nimmt, die zunächst als offen und unformalisiert beschriebene Rahmung zu strukturieren. Die Art der Strukturierung selbst erscheint allerdings eher wenig formal. Es handelt sich um eine Variante der Selbstkommentierung (»ich denke dass«), in der quasi laut nachdenkend die Frage nach der Legitimation eines Beginns kommuniziert wird. In hoch formalisierten Kontexten würde eine solche Thematisierung der Bedingungen eines Geschehens wahrscheinlich eher stillschweigend mitgeführt, da sie die Aufmerksamkeit auf die Erfüllung der Rahmenbedingungen lenkt und damit auf die organisatorische Arbeit und die Personen, die diese ausgeführt haben. Gleichzeitig wird dadurch, dass sich derjenige, der hier strukturierend handelt, über die Legitimation des Beginns öffentlich kommunikativ versichert, eine auffällige Unsicherheit und Ungewissheit bezüglich des Akts des Anfangens transportiert. Denn der offenbar angestrebte Beginn von etwas wird nicht unmittelbar (z.B. mit einer Begrüßung ›Herzlich willkommen meine Damen und Herren, liebe Kinder‹) umgesetzt. Stattdessen findet sich hier nur eine Vergewisserung darüber, ob es nun tatsächlich losgehen kann. Der Anfang der Sequenz ist also bereits spannungsvoll in Bezug auf die anscheinend vorhandene Zuständigkeit des Redners und die hiermit verbundene Ungewissheit. Welches ist nun das Kriterium, das für den Beginn des Übergangs ausschlaggebend ist? Anscheinend geht es darum, »dass […] alle da sind«. Es ist also anzunehmen, dass es eine Gruppe von Menschen gibt, zu der höchstwahrscheinlich auch oder nur Kinder gehören, deren vollzählige Anwesenheit für den Beginn des Geschehens wichtig ist. Darüber hinaus wird mit der Formulierung, »dass jetzt alle da sind« darauf verwiesen, dass es einen vorangegangenen Zeitraum gegeben haben muss, zu dem noch nicht davon ausgegangen werden konnte, dass alle da waren. Aber jetzt scheinen alle da zu sein. Der Sprecher selbst muss den vorangegangenen Prozess beobachtet haben, um nun die Bilanz zu ziehen: Es sind alle da. Dieser Vorspann bzw. Vorlauf ist auch ausgedrückt in der vorangegangenen Kommentierung des Protokollanten. Nun ist das hier öffentlich kommunizierte Kriterium für die Legitimation des Anfangens die Bedingung, dass tatsächlich alle da sind. Diese Voraussetzung wird aber dadurch relativiert, dass es nur ›gedacht‹ wird. Der Redner weiß nicht, ob wirklich alle da sind, denn dann hätte er entweder sicher davon ausgehen können, dass nun alle, die da sein sollen, auch da sind, oder er hätte z.B. formuliert ›so, jetzt sind alle da‹, um z.B. eine eventuelle Verzögerung des Beginns zu legitimieren. Wenn aber faktisch nicht davon ausgegangen werden kann, dass man, z.B. qua Liste, weiß, dass alle da sind, dann kann das angelegte Kriterium der ›Anwesenheit aller‹ nicht der tatsächliche Grund für den Beginn sein, sondern es muss dafür, dass es gerade jetzt losgeht, eine andere Voraussetzung erfüllt sein, die hier nicht ausdrücklich benannt wurde (z.B. die fortgeschrittene Zeit oder die
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Tatsache, dass eine überschaubare Anzahl wichtiger Personen da ist etc.). Sollte es also im Folgenden nicht zu einer Überprüfung der Vollzähligkeit kommen, dann wird hier ein Kriterium für den Beginn in den Vordergrund gerückt, welches eigentlich gar keines ist. Es wird also nur so getan, als ob die Anwesenheit aller von Bedeutung sei. Da durchaus die Möglichkeit bestünde, sich auf andere überprüfbare Kriterien, z.B. die Zeit, zu beziehen, handelt es sich hierbei um eine Form von ›Ideologisierung‹, die den Anwesenden gegenüber ein bestimmtes Bild des Zusammenhangs vermittelt. Der Redner weist sich auf diese Weise öffentlich als jemand aus, dem die Anwesenheit aller und damit die Anwesenheit jedes Einzelnen für das, was kommt, wichtig ist, und obwohl die Anwesenheit aller anscheinend faktisch uneinlösbar und unüberprüfbar ist, wird an diesem Anspruch festgehalten. Man orientiert sich vermeintlich nicht an bestimmten Formalien, Programmpunkten oder festen Ritualen, sondern an den anwesenden Individuen. Die Anrede transportiert so die homogene Bedeutsamkeit aller und wirkt gemeinschaftsstiftend. Zu einem »alle« vergemeinschaftet werden allerdings nur diejenigen, die auch da sind (es sei denn es folgt der Einwand ›XY fehlt noch‹). Diejenigen, die nicht da sind, werden im Falle des Nichtüberprüfens aus dieser Gemeinschaft ausgeschlossen. Die an die Anwesenden gerichtete Frage, ob alle da sind, ist also wenig hilfreich in Bezug auf die, die nicht anwesend sind, und in diesem Fall eine tautologische Umgehung der faktischen Uneinlösbarkeit des Kriteriums. Die getätigte Aussage ist noch in vielen Kontexten vorstellbar, einer größeren Familien- oder Betriebsfeier, einer animierten Veranstaltung am Urlaubsort oder allgemein im Rahmen einer Rede. Weitgehend auszuschließen sind dagegen bereits ganz unformalisierte Settings, z.B. eine Szene am Strand, es sei denn, auch dort beginnt mit der Sequenz eine strukturierte Veranstaltung, oder im Gegensatz dazu hochgradig formalisierte Anlässe wie z.B. eine öffentliche Preisverleihung. Angenommen werden kann weiter, dass sich die Anwesenden aufgrund einer Einladung, einer Anmeldung, eines festen Termins oder eines wiederkehrenden Rituals zusammengefunden haben, denn im Fall einer rein kontingenten Anwesenheit wäre die vorgenommene Vergemeinschaftung der Gruppe unangemessen. Unwahrscheinlich ist auch ein Kontext, in dem tatsächlich die Anwesenheit jedes Einzelnen unabdingbar ist (z.B. die Rückkehr einer größeren Gruppe von einem Ausflug: ›so, ich denke, dass jetzt alle da sind. Bitte tragen Sie sich hier vorne in die Listen ein‹). Darüber hinaus könnten Kontexte angenommen werden, in denen das Ideal besteht, alle zu erreichen, z.B. gesinnungsorientierte oder auch pädagogische Zusammenhänge. Die Wichtigkeit der Anwesenheit aller bleibt allerdings auf dieser ideologischen Ebene, wenn nicht im Folgenden Mechanismen entwickelt werden, diese zu überprüfen: entweder formal oder verhandlungsorientiert, wenn z.B. der Raum
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für Hinweise geöffnet wird wie ›Kathrin kommt gleich‹. Ferner ist es möglich, dass mit diesem Einstieg die Situation ausreichend legitimiert ist, sodass im Folgenden angefangen wird. Oder die Unsicherheit des Anfangs setzt sich fort und verweist dann deutlich auf eine instabile Sicherung und Legitimierung des Kommenden. R: und bitte, alle, platz zu nehmen . Auch diese Sequenz ist spannungsvoll. Zum einen ergeht die höfliche Bitte an alle Anwesenden, sich hinzusetzen. Höflichkeit in dieser Form der Anrede ist üblich in der Kommunikation unter Erwachsenen. Ihnen gegenüber wird mit der Bitte »platz zu nehmen« zwar ausgedrückt, wie man sich vorstellt, was sie im Folgenden tun sollen. Diese mögliche direkte Weisung ist jedoch höflich abgeschwächt durch die Zuweisung der Aktivität an diejenigen, die sich hinsetzen sollen. Sie werden darum gebeten, sich selbst einen Platz zu »nehmen«. An sich wäre diese Wendung eine förmliche Geste, wie sie z.B. in Gastgeber-Gast-Kontexten anzutreffen ist. In diesem Fall wäre auch dem oder den Eingeladenen Höflichkeit dahin gehend zuzusprechen, dass sie sich ohne Aufforderung nicht hinsetzen. Kommt allein diese Bedeutungsspur zum Tragen, dann liegt eine maximale Transformationsfigur von einem sehr unstrukturierten Setting hin zu einem nun an strengeren Höflichkeitsformalien orientierten Ablauf vor, der die Situation zu einer bedeutungsvollen stilisiert. Die installierte Förmlichkeit und Getragenheit wird aber kontrastiert durch die Verwendung des Pronomens »alle«. Eine konsequente Einhaltung von Höflichkeitsregeln müsste in einem solchen Fall die Anrede ›Sie‹ verwenden, sollte es sich nicht um eine größere Gruppe von Menschen handeln, mit denen man ›per du‹ ist. Dann könnte es wiederum heißen ›und bitte Euch alle, Platz zu nehmen‹. Die alleinige Verwendung des »alle« vermeidet eine solche Differenzierung von Bekanntem und Unbekanntem und darüber hinaus auch von Erwachsenen und Kindern. Die Gruppe verbleibt weiter im Diffusen. Alle sind da, es kann aber nicht genau festgestellt werden, wer »alle« sind, und »alle« sollen sich nun hinsetzen. Diese vorgenommene Entdifferenzierung setzt jedoch voraus, dass es eine deutliche Differenz und Heterogenität in diesen hier erneut vergemeinschafteten ›allen‹ gibt, die zu einer Unbestimmtheit bezüglich der passenden Ansprache führt. Die bereits geäußerte Vermutung, es könnten Kinder anwesend sein, denen eine besondere Aufmerksamkeit zukommt, deutet auf eine gleichzeitige und eventuell konkurrierende Präsenz von Erwachsenen und Kindern. Denn ginge es zentral um Erwachsene, hätte der Redner wahrscheinlich nicht so große Schwierigkeiten, die Gruppe mit ›Sie‹ anzusprechen, auch wenn einige Kinder anwesend wären. Der in der Formulierung angelegte Widerspruch verweist damit auf widersprüchliche Konzepte von
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Kindheit und Erwachsensein, Kindern und Erwachsenen, die nicht sinnvoll zueinander vermittelt werden können. Anscheinend ist es an diesem Punkt aber auch nicht legitim, ausschließlich die Kinder anzusprechen. Zumindest ist festzuhalten, dass mit dieser Anrede keine der Gruppen zurückgesetzt wird – aber man wird auch keiner gerecht. Die Brechung der Ebene formaler Höflichkeit führt nun dazu, dass der Weisungscharakter der Sequenz an Bedeutung gewinnt. Damit handelt es sich um eine weitere Arbeit an der Herstellung der Bedingungen, etwas zu beginnen, was den Eindruck der Unsicherheit und Instabilität bestärkt. Außerdem wird deutlich, dass den Anwesenden ›allen‹ der Verlauf des Geschehens unklar und unvertraut ist. Bekannte Markierer, Rituale und Routinen, die die notwendige Strukturierung herstellen könnten, stehen anscheinend nicht zur Verfügung und bislang lehnt sich der Redner auch nicht an bekannte Rituale an (z.B. Löschen des Lichts wie im Kino oder Theater, einspielen von Musik etc.). Eine gemeinsame Sinnstiftung und Ritualisierung könnte demnach noch stattfinden. Zumindest wäre nach der großen Mühe an Vorbereitungsarbeit, die bislang aufgewendet wurde, um eine entsprechende Rahmung herzustellen, nun zu erwarten, dass der eigentliche Beginn folgt, der den Sinn und Zweck des Zusammenkommens erschließt. Zu den bisher annehmbaren Kontexten kommt hinzu, dass es eine Gruppe und ein Anlass sein muss, der/dem es an bestehenden Rahmungen mangelt. Vorstellbar wäre also z.B. eine Versammlung bezüglich der Neugründung eines betrieblichen Kindergartens, zu der Eltern und Kinder eingeladen wurden, die Gründung eines Vereins oder einer Bürgerinitiative. R: die/die größeren kinder- ((unverständlich 2 Sek)) In der Gesamtgestalt handelt sich um eine Sequenz, die nicht zu Ende geführt wird. So bleibt die Aussage des Satzes im Unklaren. Es ist relativ unwahrscheinlich, dass es sich um den Beginn einer Begrüßung und damit um den Auftakt einer Veranstaltung handelt. Ist es aber keine Begrüßung, dann ist es ein weiterer Bestandteil der Arbeit an der Herstellung der Bedingungen, etwas zu beginnen. Dieser Beginn erscheint umso schwieriger und ungesicherter, je länger er sich verzögert. Die konkrete Arbeit oder Absicht ist aus der Sequenz allerdings nicht zu erschließen. Diese Unklarheit und starke Diffusität, die insbesondere darin zum Ausdruck kommt, dass die Sequenz abgebrochen wird und danach noch etwas für die Zuhörenden Unverständliches gesagt wird, passt nicht zu dem vorangegangenen, zwar gebrochenen, aber dennoch vorhandenen Versuch der Strukturierung und Formalisierung
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der Situation. Vielmehr zeigt sich daran eine Regression der Transformationsfigur als wieder einsetzende Informalisierung. Selbst wenn den Angesprochenen der Sinn der Aussage klar sein sollte, weil sie aufgrund einer Absprache, Handbewegung etc. wissen, dass sie z.B. nach vorne kommen sollen, wäre es im Anschluss an eine höfliche Ansprache eine abrupte Divergenz. Sollte der Redner aber unterbrochen worden sein, weil z.B. jemand hereingekommen ist, dann müsste der unverständliche Teil der Sequenz im Folgenden nachgebessert werden, z.B. durch die Wiederholung der Aussage, eine Entschuldigung etc. Wenngleich die Gesamtaussage des Satzes unklar bleibt, wird zumindest die relevante Information transportiert, dass es innerhalb des »alle« eine Personengruppe gibt, die mit »größere[n] Kinder« angesprochen wird. Höchstwahrscheinlich sind also Kinder da, die in große und größere Kinder differenziert werden können. Das »größere[n]« kann sich dabei strukturierend oder klassifizierend auf Altersstruktur, Körpergröße oder Statuspassagen beziehen. Sinnvoll ist die Verwendung eines derartigen Kriteriensystems in einer solchen Situation allerdings nur, wenn dieses den Angesprochenen hinreichend bekannt ist, sodass sie in der Lage sind, darauf bezogene Informationen und Anweisungen zu verstehen und umzusetzen. Ansonsten würde an dieser Stelle ein komplizierter Aushandlungsprozess unter den Anwesenden einsetzen, welche Kinder denn nun die »größeren« sind, indem man z.B. beginnt, nach Alter oder Größe zu sortieren. Den Versuch, eine Rahmung herzustellen, würde eine solche Entwicklung dann endgültig unterlaufen. Insofern wäre ein solcher Vorgang eher unwahrscheinlich. Die verwendete Differenzierung von »größeren Kindern« setzt also wahrscheinlich voraus, dass es innerhalb des Kontextes durchaus eine gemeinsame Praxis in Bezug auf Kinder gibt. Die schnelle Wiederholung des Artikels (»die/die«) verweist interessanterweise aber genau an dieser Stelle auf eine minimale Anschlusskrise. Daraus kann gefolgert werden, dass die Verwendung des Kriteriensystems in der konkreten Situation nicht gesichert zu sein scheint. Das heißt, dass es durchaus gewisse Regeln und Routinen geben muss, über die zumindest der Sprecher und ein Teil der anwesenden Kinder verfügen, diese können aber in der aktuellen, dieser Praxis enthobenen Situation, nicht als verbürgt vorausgesetzt werden. Die Annahme, dass es sich um eine strukturelle Neuschöpfung handelt, könnte in diesem Falle weiter differenziert werden. Anscheinend gibt es bestimmte kontexteigene Strukturen sowie Wissensformen, die allerdings in der vorliegenden Situation nicht problemlos zur Anwendung kommen können. Es ist also entweder eine partielle Neukonstituierung, z.B. anlässlich der Einführung von Novizen, oder es werden durch andere Veränderungen der Rahmenbedingungen die sonst gültigen Angemessenheitsurteile in Frage gestellt.
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(2min) (rauschen, stimmen, kinderrufe) In einer ersten Lesart erscheint die eintretende Pause zu lang, um ein kurzes Absetzen im Interaktionsfluss zu sein. Die Kommentierung des Beobachters ist dieselbe wie zu Beginn des Protokolls, sodass für die Dauer der Pause wieder der anfängliche unformalisierte Kontext angenommen werden kann. Das würde bedeuten, dass die vorgenommenen Strukturierungsversuche des bis dato zentralen Akteurs an dieser Stelle aufgelöst sind. Die Transformation mündet wieder in Informalität. In einer zweiten Lesart wäre vorstellbar, dass die Angesprochenen nun tatsächlich diese zwei Minuten benötigen, um die Einteilung der Gruppe der »größeren Kinder« vorzunehmen. Die Wiederholung des unstrukturierten Beginns könnte dann darauf hindeuten, dass es sich um einen Kontext handelt, in dem Kinder in zentraler Position legitimiert anwesend sind, weshalb neben punktuellen Strukturierungsmaßnahmen in der Regel Aktivitätspotenzial zugelassen wird. Diese Lesart ist jedoch, gerade auch aufgrund des Abbruchs der vorangegangenen Sequenz, schwach zu halten. Kommt die erste Lesart zum Tragen, dann haben wir es an dieser Stelle mit dem Vollzug eines Wechsels und damit auch mit einer Widersprüchlichkeit und Spannung zwischen Informalität und Formalität zu tun. Der informelle Zusammenhang des Anfangs, transportiert über die Kommentierung des Beobachters, taucht an dieser Stelle nach einer Phase der Strukturierung und Transformation quasi unverändert wieder auf. Dabei ist nicht nur die grobe Struktur von diesem Wechselspiel gekennzeichnet, sondern auch die einzelnen Sequenzen sind geprägt durch ein andauerndes Hin und Her zwischen Formalisierung und Entformalisierung sowie Differenzierung und Entdifferenzierung. Da in den vorangegangenen Sequenzen herausgearbeitet werden konnte, dass die Anwesenden wahrscheinlich aufgrund einer Einladung oder eines festen Termins zusammengekommen sind und dass zumindest einige über bestimmte Regeln und Routinen der stattfindenden Lebenspraxis verfügen, könnte an dieser Stelle darauf geschlossen werden, dass nicht der Sinn der Situation selbst oder der Grund des Zusammenkommens unbestimmt ist, sondern dass der Grund für die Unbestimmtheit, Widersprüchlichkeit und Unsicherheit, die in dem permanenten Wechsel des Formates zum Ausdruck kommt, auf einen Mangel an verbürgtem Wissen zurückzuführen ist, welche Urteile der Angemessenheit in dieser Situation Geltung beanspruchen können. Eine andere Möglichkeit bestünde nur darin, dass man sich prinzipiell bestimmten Konventionen verwehren will. Der Mangel an Angemessenheitsurteilen käme in den Schwankungen und dem Wechsel der Formate durch den Sprecher selbst zum Ausdruck.
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Darüber hinaus muss die Frage mitgeführt werden, ob die Widersprüchlichkeit zwischen Strukturierung und Zurücknahme der Struktur eine Fallstruktur des Sprechers ist, dem es in diesem Fall nicht gelingt, die Transformation zu vollziehen, und der damit an der Situation und den mit dieser einhergehenden Anforderungen scheitert. Dann handelt es sich weiter um eine Passungsproblematik zwischen Person und Organisation. Oder das Hin und Her ist der Struktur des Zusammenhangs selbst eingeschrieben. Dann ist es die Fallstruktur des Interaktionskontextes, in die der Sprecher eingebettet ist und die er reproduziert. An dieser Stelle lässt sich eine erste riskante Strukturhypothese ableiten: Für den Fall, dass die eintretende Pause nicht dazu dient, die entsprechenden Plätze einzunehmen, und dass außerdem nicht die Fallstruktur des Sprechers dominiert, handelt es sich hier höchstwahrscheinlich um einen Zusammenhang, eine Institution oder Organisation, für die – aus welchem Grund ist noch nicht klar – Schwierigkeiten bestehen, sich auf eine bestimmte Form oder Struktur (sei es eine rein formelle oder eine informelle Rahmung) zu beziehen und damit normative Rahmungen und Sinnhorizonte vorzugeben, die natürlich immer auch Ausdruck und Inszenierung von Macht, Hierarchie und Differenz sein können. An die Stelle einer klaren und differenzierten Ansprache der Anwesenden sowie einer transparenten und stringenten Organisation des Ablaufs tritt zumindest an einem Punkt das Ideal, alle zu erreichen. Klar wird aber auch, dass dieses Ideal nicht eingelöst wird bzw. höchstwahrscheinlich in der Realität gar nicht eingelöst werden kann. Ja, die strukturelle Unentschiedenheit bezüglich eindeutiger informeller oder formeller Bezugsformate, die letztlich zu einer Verunklarung der eigentlichen Handlungsnormen führt, könnte sogar darauf zurückzuführen sein, dass es hier eigentlich um einen Zusammenhang geht, der besonders stark von Differenzen (z.B. zwischen Erwachsenen und Kindern) und Differenzierungsprozessen geprägt ist, und in dem somit eigentlich Formalisierungs- und Informalisierungsaspekte ausbalanciert werden müssten. An die Stelle eines reflexiven Umgangs mit der Differenzierungsproblematik tritt stattdessen der diffuse Versuch, die Differenzen vergemeinschaftend aufzuheben. (ein gong wird geschlagen) Ein handgeschlagener Gong ist zunächst ein akustischer Aufmerksamkeitsfokussierer, der als Meditationsgong ursprünglich einem asiatischen Kontext zuzuordnen ist. Seine spezifische sinnlich-ästhetische Eigenschaft besteht darin, dass es möglich ist, der körpereigenen Resonanz der Schwingungen nachzuspüren. Auf diese Art
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und Weise kann eine Phase der Selbstkonzentration eingeleitet werden, die intendiert, äußere Impulse zurückzuhalten. Bleibt man in dieser unmittelbaren Deutungsspur, dann wäre es durchaus möglich, dass nun mit dem Anschlagen des Gongs eine Meditation eingeleitet wird. In Anbetracht des Mikrofons und der anzunehmenden großen Gruppe müsste es sich um eine Art Massenmeditation handeln, die von einer speziell befugten Person angeleitet wird. Jedoch wäre, auch wenn die Meditation oder das Gebet mit dem Anschlagen des Gongs nun tatsächlich unmittelbar beginnt, die Eröffnung nicht gelungen. Handelt es sich nicht um einen solcherart eng begrenzten Kontext, dann besteht die Möglichkeit, dass der Gong als akustisches Zeichen durch einen anderen Kontext entliehen wird. Da ein Gong nicht allein durch Zuschreibung eine bestimmte Bedeutung hat, sondern in seiner sinnlich-ästethischen Präsenz die Wirkung des ›inneren zur Ruhe Kommens‹ sozusagen in sich trägt, kann davon ausgegangen werden, dass diese auch in anderen Kontexten zum Tragen kommt, wenn nicht diskursiv erweiternde Bedeutungszuschreibungen vorgenommen worden sind. So werden z.B. in der Schule oft akustische Zeichen verwendet, um Abläufe zu strukturieren. Dabei kann es sein, dass eine Lehrerin mit den Kindern spezifische Handlungen abgesprochen und eingeübt hat, die nach dem Ertönen eines solchen Zeichens auszuführen sind (den Stift hinlegen, gerade sitzen, Reden einstellen etc.). Das Anschlagen des Gongs wäre dann in dieser Situation nur ein weiterer Schritt zu dem Ziel, etwas zu überführen, zu eröffnen und zu beginnen. Die bislang angewandten Maßnahmen, die nötigen Bedingungen für den Beginn herzustellen, wären damit nur um eine weitere Strategie erweitert. Insgesamt handelte es sich dann um einen Zusammenhang, der zwecks des Beginns einer eigenen Außeralltäglichkeit auf vielfältige nicht kontexteigene Markierer zurückgreift. Diese Gemengelage könnte darauf zurückzuführen sein, dass es dem hier vorgestellten Zusammenhang grundsätzlich an eigenen Formaten fehlt, oder sie könnte der Intention entspringen, sich nicht festlegen zu wollen, um möglichst offen zu bleiben und unterschiedliche Menschen und Kulturkreise anzusprechen. Strukturell führt es jedoch zu einer in sich widersprüchlichen Abfolge, die an dieser Stelle nur ein weiteres Format bedient, nachdem die anderen bislang anscheinend nicht die intendierte Wirkung bzw. Transformation veranlassen konnten. In der Gesamtfigur verfestigt sich durch den beständigen Wechsel zwischen möglichen Formaten der Eindruck einer strukturellen Krise. Der an dieser Stelle im starken Kontrast zu der vorherigen Sequenz stehende, formal starke akustische Markierer lässt nun allerdings doch vermuten, dass es im Folgenden tatsächlich mit etwas losgeht. Eingeschränkt wird diese Erwartung dadurch, dass in dem bislang als möglich angenommenen Fall einer zumindest
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partiellen Neukonstituierung nicht vorausgesetzt werden könnte, dass alle eine evtl. spezifische Bedeutung des Zeichens kennen. Die riskante Strukturhypothese wird damit bestätigt und kann wie folgt erweitert werden: Es handelt sich bei dieser Eröffnungssequenz um die Manifestation der Krise der Herausgehobenheit und Außeralltäglichkeit eines bestimmten Zusammenhangs, in deren Verlauf der hier zentral handelnde Akteur bzw. gegebenenfalls die Institution oder Organisation, die er vertritt, in jener hier statthabenden Situation nicht in der Lage ist, auf Formen routinierter Selbstvergewisserung zurückzugreifen. Stattdessen werden differente kulturelle und habituelle Anleihen aneinandergereiht, die zwar durchaus einer intentionalen Offenheit zugerechnet werden können, worüber evtl. versucht wird, möglichst ›allen‹ gerecht zu werden, die aber strukturell einen losen widersprüchlichen und dadurch undurchschaubaren Zusammenhang bilden. (17 sek) sch-sch-rufe (es wird leiser) Tatsächlich scheint es sich nun einem Zustand zu nähern, in dem etwas begonnen werden kann (»es wird leiser«). Es bestätigt sich an dieser Stelle zudem die Annahme, dass es der Redner mit einer Gruppe von Menschen zu tun hat, die dem statthabenden Zusammenhang unterschiedlich nah bzw. fern stehen. Denn einige scheinen den Gong wissentlich als Ruhemarkierer zu deuten, was über einen bloß leiblichen Nachvollzug der sinnlich-ästhetischen Wirkung desselben nicht gedeckt gewesen wäre, denn es besteht durchaus die Möglichkeit, sich geräuschvoll der Meditation zu widmen. Hier aber wird durch das »sch-sch« die Bedeutung des Gongs übersetzt und die Aufforderung, ruhig zu werden, wird durchgesetzt. Es handelt sich damit um das erste spezifische Ritual und um die Einweihung der ›Neuen‹ in seine zugehörige Bedeutung, die auch unmittelbar wirksam wird. R: soo guten morgen liebe kinder An dieser Stelle erfolgt die strukturell schon lange erwartete Begrüßung, die sich vermutlich aber nicht auf alle Anwesenden bezieht, sondern zunächst an eine Teilgruppe wendet, die anwesenden Kinder. Diesen wird dadurch eine herausgehobene Bedeutung verliehen und sie werden als wesentliche Adressaten des Kommenden angesprochen. Die Form der Begrüßung ist dabei durchaus üblich. Kinder werden eigentlich nicht mit ›sehr verehrte‹, oder ›geehrte‹ angesprochen. Dennoch werden die Kinder über das »liebe« zum einen in eine emotionale und fürsorgliche Nähe
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gerückt, zum anderen ist die Anrede aller anwesenden Kinder, zu der ja zumindest Größere und Kleinere gehören, ein Akt der Vergemeinschaftung der Gruppe der Kinder. Es muss also etwas geben, das die Stiftung einer solchen Kindergruppe an dieser Stelle legitimiert, und das ist auf einer ersten Ebene die Zuschreibung eines kindlichen Selbst- und Weltverhältnisses. Damit wird auch transportiert, dass die statthabende Lebenspraxis sich anscheinend in besonderer Weise mit Kindern und Kindsein beschäftigt. Insgesamt passt die Begrüßungsform am ehesten zu Kontexten der Aufführung. Allerdings kann es keine hoch professionelle ›Show‹ sein, denn dafür wäre sowohl der unstrukturierte Einstieg unpassend als auch die anscheinend hier stattfindende Begrüßung durch den Aufführenden selbst. Gängig ist diese Form des Publikumskontakts auf jeden Fall im Kasperletheater. Dort ist es üblich, die Kinder über Frage-Antwort-Konstellationen aktiv am Geschehen zu beteiligen, aber es sind auch andere unformalisierte Aufführungskontexte, z.B. ein Straßentheater oder ein Kindergeburtstag vorstellbar. Zu einem solchen halb improvisierten Theaterkontext würde auch der hier handgeschlagene Gong passen, der ja auch in größeren Theaterhäusern eingesetzt wird – dort allerdings elektrisch oder mechanisch. Es besteht nun also tatsächlich die Möglichkeit, dass es im Folgenden mit einem Kindertheaterstück losgeht. Dann wäre auch nicht mehr unbedingt zu erwarten, dass die evtl. anwesenden Erwachsenen begrüßt werden, denn an diese richtet sich das Geschehen nicht. Strukturell und bei den Kindern wird die Erwartung auf eine ästhetische Form der Unterhaltung, auf Spaß und Spannung geweckt, die meistens mit Bildungsansprüchen bzw. Belehrungsaspekten gepaart ist. Außerdem dürfen die Kinder höchstwahrscheinlich sogar mitspielen. Bleibt man in dieser Lesart, dann ist zu erwarten, dass die Kinder im Folgenden wie im Kasperletheater auf die Begrüßung antworten. Eine zweite Lesart, die an die bislang entwickelte Strukturhypothese anschließt, lässt vermuten, dass der vorliegende Kontext auch dieses Format der Theateraufführung nur entleiht. Dann wäre es wichtig zu fragen, was es für den Kontext bedeutet, dass er ein ästhetisches Format der Unterhaltung bedient, das Spaß, Spannung, aber auch spielerische (ästhetische?) Bildung und Belehrung verspricht. In dem Fall kann man erwarten, dass sich dieses neue Format nicht sehr lange hält, sondern bald wieder durch ein neues ersetzt wird. Hält es sich doch, dann kann davon ausgegangen werden, dass das Dilemma der Umsetzung der Herausgehobenheit nachhaltig durch den Bezug auf Kindertheaterformate gelöst wird. Deshalb wäre auch in dieser Variante eine Antwort der Kinder erwartbar. Aufgrund des Übertrags des Formates in einen formatfremden Kontext könnten aber diesbezüglich auch Schwierigkeiten auftreten.
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K: .guten morgen (lang gezogen) (es antworten nicht alle aber viele der anwesenden kinder ziemlich zeitgleich) Die ›gestiftete‹ Gemeinschaft der Kinder setzt die Begrüßungszeremonie des Redners an sich wie erwartet fort. Die lang gezogene Art und Weise zu antworten weist aber daraufhin, dass es sich hier, bezüglich der Intensität, nicht um eine Reaktion handelt, die dem kurz zuvor eingeführten Format von Spiel, Spannung und Unterhaltung gerecht zu werden scheint. Dass die Reaktion emotional gemäßigt ausfällt, kann durchaus dem bisher durchgehend diffusen Strukturierungsversuch zugerechnet werden, der auch bei den anwesenden Kindern schon eine Unsicherheit bezüglich der gültigen Angemessenheitsurteile zur Folge hat. Zudem verweist die verhaltene Antwort darauf, dass der Redner sich während der längeren Pause nicht als Kasperle verkleidet hat, was womöglich eine passendere Reaktion zur Folge gehabt hätte, sondern, dass hier, zum Zweck der Begrüßung, das Format der Aufführung tatsächlich nur entliehen wird. Das lang gezogene »guten morgen« ist dementsprechend auch eher in Kontexten üblich, in denen eine Begrüßung ritualisiert abverlangt wird, wodurch die Worte wie ›zu langsam abgespult‹ wirken. Der Fokus liegt dabei nicht auf einem, z.B. freudigen, Akt der Begrüßung selbst, sondern auf der hinreichend korrekten Ausführung sozialer Kommunikationsnormen. Das Ganze erinnert damit verstärkt an institutionalisierte pädagogische Kontexte, wie z.B. die Schule oder den Kindergarten, wo z.B. zur Begrüßung von neuen Kindern oder Schülern eine Feierlichkeit stattfindet. Die Kinder greifen also entweder, bezüglich der Diffusität der Ansprache in der Situation, auf ihnen bekannte Begrüßungsmuster zurück, die sie damit aus einer anderen Lebenspraxis in den vorliegenden Zusammenhang übertragen, oder es handelt sich um diese ›andere‹ wahrscheinlich institutionalisierte, wenn nicht sogar pädagogisierte Lebenspraxis selbst. Dann reagieren die Kinder sozusagen in dem Format der Routine pädagogischer Alltäglichkeit. Warum aber wird hier die Anlehnung an ein Kindertheaterformat gewählt? Beim Kasperletheater, als Grundform des Mitmach-Theaters, ist der Kasper im Grunde nicht richtig Kind, aber auch nicht erwachsen. Durch die kindlichen Wesenszüge wird schnell eine Ebenengleichheit zwischen Figur und Zuschauer etabliert, die Distanz überbrückt. Aber Kasper kann aufgrund einiger besonderer Fähigkeiten auch bereits Situationen, Probleme und Konflikte der Erwachsenenwelt ausagieren, was ihn zu einem Stellvertreter bzw. zu einer Übergangsfigur zwischen Kindheit und Erwachsensein macht. Dass die Kinder meist schon zu Beginn der Stücke über eine direkte Ansprache (Guten morgen liebe Kinder, seid Ihr auch alle da?) aktiv in das Geschehen mit einbezogen werden, ermöglicht eine unmittelbare, sich ausagie-
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rende Integration ins Geschehen, was dazu führt, dass die Kinder quasi zum Teil der Geschichte werden. Die Schwierigkeiten, die Kasper dann überwinden muss, werden gleichzeitig durch das ästhetische Format auf Distanz gehalten. Ein Erwachsener, der die Rolle des Kaspers übernimmt, kann also reale Distanzen zwischen Erwachsenem und Kind und ferner zwischen Geschichte und Realität spielerisch überbrücken und so eine glaubwürdige Nähe zu den Kindern herstellen. Handelt es sich um einen pädagogisch institutionellen Kontext, dann ist es an dieser Stelle der Versuch, die Distanz zwischen der Institution und den Kindern zu überbrücken und diese in eine gemeinsame Interaktionsfolge einzubinden. Die Anleihe bei einer Urgestalt/Figur des kindlichen Erfahrungsraumes könnte darüber hinaus der Intention entspringen, an Elementen kindlicher Lebenswelt anzuknüpfen. Allerdings erinnert die spielerische Frage-Antwort-Form des Kasperletheaters auch hier wieder an Abläufe aus spezifisch ritualisierten, insbesondere pädagogischen Interaktionen. In diesem Fall dient das spielerisch-ästhetische Format auch der Einführung und Eingewöhnung in institutionelle Rituale. An dieser Stelle ist jedoch nicht zu klären, welche Kinder überhaupt antworten. Es könnte auch hier wieder sein, dass die größeren unter ihnen bereits mit Begrüßungsritualen vertraut sind und deshalb antworten. Dafür spricht, dass nicht alle Kinder den Gruß erwidern. Das bedeutet, dass zumindest die größeren Kinder den anderen vorführen ›wie es geht‹. Erwartet werden könnte nun, dass eine explizite Integration eventuell anwesender ›Neuer‹ folgt, wenn nicht zunächst, was auch wahrscheinlich ist, die anderen Anwesenden noch begrüßt werden. R: ach das hab ich ja gar nich’ gehört, guten morgen K: guten morgen (laut schreiend und kreischend) In dieser Sequenz wird der Gegengruß der Kinder erneut eingefordert und von diesen in modifizierter Form erwidert. Daran zeigt sich, dass die erste Reaktion nicht die durch den Redner erwartete gewesen sein muss. Allerdings ist klar, dass nicht die sprachliche Formulierung an sich abgelehnt wird, sondern die Art und Weise, wie diese vorgebracht worden ist. Implizit handelt es sich damit bereits in der Eröffnungssituation um eine Anerkennungsverweigerung bezüglich der unmittelbaren Reaktion der Kinder. Die Gestaltung ihres Ausdrucks wird von den Erwartungen des Sprechers bestimmt. Die Kinder werden jedoch nicht direkt wertend oder moralisierend auf die Unangemessenheit ihrer Antwort hingewiesen. Stattdessen gibt der Redner vor, er hätte nichts gehört. Diese Kritik beurteilt die Antwort vordergründig als zu leise, obwohl für alle an dieser Situation beteiligten die
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vorherige Antwort der Kinder wahrnehmbar gewesen sein muss. Die Realität der eher emotional gemäßigten Antwort Handlung (das lang gezogene »guten morgen«) kann damit übergangen werden ohne einen direkten Verweis darauf, dass die Reaktion so nicht ›richtig‹ bzw. unpassend gewesen ist. Der Hinweis »das hab ich ja gar nich’ gehört« transportiert hinsichtlich des zu erwartenden Fortganges die implizite Aufforderung, lauter zu werden.76 Insgesamt geht die Strategie hinter dieser Vorgehensweise auf. Tatsächlich leisten die Kinder diese akustische Steigerung, die auch dadurch zustande kommt, dass sich nun anscheinend mehr Kinder als vorher an dem ›Guten-Morgen-Sagen‹ beteiligen. Die Kinder erwidern aber nicht nur in einer größeren Anzahl den Gruß, sondern sie schreien und kreischen das »guten morgen« in dem Raum. Sie versuchen also, so laut zu werden wie möglich, was dazu führt, dass das Sprechen zum Schreien wird oder die Stimme sich überschlägt. Strukturell kann festgehalten werden, dass der Redner über den erneuten Einbezug der Kinder nicht nur weiterhin eine formale Anlehnung an das Kasperletheater vollzieht, sondern darüber hinaus auch dieselbe emotionale und habituelle Beteiligung von den Kindern einfordert. Durch den in Szene gesetzten Vollzug eines spielerischen ›voll bei der Sache seins‹ wird mit den Kindern die entsprechende Haltung quasi eingeübt und eine spezifische Stimmung inszeniert. Damit wird deutlich, dass die vorliegende Lebenspraxis aktiv gegen AlltagsRoutinisierungen angeht. Es wird vermittelt, dass eine gelangweilte Routine hier nicht gewollt ist, sondern eine Gemeinschaft der Kinder, denen Spiel, Spaß und Unterhaltung geboten wird, angesiedelt im Horizont eines Bildungsversprechens. Ebenso wird aber auch von den Kindern eingefordert, dass sie der Institution mit einer entsprechenden Haltung begegnen. Strukturell scheint der Redner im Anschluss an den schwierigen und krisenhaften Anfang das Kasperletheater als Format quasi auch gegen abweichende Reaktionen durchzusetzen. Mit dem Beginn der Interaktion mit den Kindern hören die starken Schwankungen zwischen Informalisierung und Formalisierung vorerst auf. Insofern kann an dieser Stelle ausgeschlossen werden, dass die Fallstruktur des Sprechers den Ablauf dominiert. Und das, was durchgesetzt wird, ist quasi eine Inszenierung von Außeralltäglichkeit (der Krise) in der ästhetischen Erfahrung des Kasperletheaters. Die erste Antwort der Kinder lässt aber vermuten, dass die Routine doch Teil des Kontextes selbst ist und es sich bei der Inszenierung der Herausgehobenheit/Krise um 76 Dagegen hätte z.B. die Aussage ›das hab’ ich ja gar nicht verstanden‹ impliziert, deutlicher zu sprechen.
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den Versuch handelt, eine anscheinend durchaus routinisierte Alltagspraxis zu verdecken. Dadurch wird nachhaltig über die Realität hinweggegangen, die dann nicht nur durch Differenzierungen, sondern auch durch eine erhebliche alltägliche Organisationsroutine bestimmt ist. Ergänzend zu den bisherigen Kontextvermutungen kann festgehalten werden, dass das gewählte ästhetische Format durch die Frage-Antwort-Form nachhaltig an pädagogische Interaktionen erinnert, die damit parallel spielerisch eingeführt und eingeübt werden. Im Protokoll schließt nun die folgende Sequenz an: R: . guten morgen liebe eltern, und freunde, der kinder (stimme angehoben) E: . ((guten)) morgen R: . guten morgen, Auch bei der Fortsetzung der Begrüßung wird die zentrale Bedeutung der Kinder herausgestellt. Denn die anderen Anwesenden, hier unterschieden in Eltern und Freunde, werden nur über ihre Beziehung zu den Kindern in die Begrüßung eingebunden. Sie sind damit als Begleiter und Unterstützer der Bildungs- und Entwicklungsprozesse ihrer Kinder quasi in zweiter Reihe an das Geschehen angebunden, aber nicht in die Gemeinschaft der Kinder und deren Nähe zu dem statthabenden Zusammenhang integriert. Diese Ausgrenzung ist insofern spannungsvoll, als bezüglich der Art der Ansprache nicht zwischen Kindern und Erwachsenen unterschieden wird. Es wird keine zweite Ebene neben der inszenierten unmittelbaren Begegnung mit den Kindern eingeführt, die dem Verhältnis unter den Erwachsenen eine andere und eigene (evtl. höflich distanzierte) Qualität geben könnte. Die Unsicherheit der Anrede wird an dieser Stelle zugunsten einer informellen Interaktion mit Kindern entschieden. Das bedeutet aber auch, dass hier Erwachsene wie Kinder behandelt werden. Für den weiteren Fortgang der Begrüßung ist damit die Erwartung impliziert, dass sich die Eltern und Freunde auch wie die Kinder verhalten und zurückgrüßen, es sei denn, sie verweigerten sich der Form kindähnlicher Interaktion. Der weitere Verlauf zeigt, dass die Erwachsenen in den angelegten Abläufen der Begrüßung mitmachen, aber sie antworten nicht mit derselben Intensität und Stimmung wie zuvor die Kinder. Denn das »guten« ist kaum verständlich, sodass im Wesentlichen nur das »morgen« klar artikuliert wird. Ein Verweis auf die eher pflichtgemäße Ausführung des Grußes. Diese Distanzierung ist allerdings strukturell in der losen Anbindung an den Zusammenhang in der Begrüßung des Redners
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bereits angelegt. Entsprechend wird von den Eltern und Freunden auch nicht ein erneutes, lauteres, Zurückgrüßen als Verpflichtung auf die Inszenierung der Krise verlangt, sondern es reicht, wenn sie die Strukturen des Zusammenhangs als für die Kinder, aber nicht für die Institution/Organisation bedeutungsvolle Andere ohne Störung mitvollziehen. Warum grüßt der Redner nun aber noch einmal zurück? Unter den Bedingungen einer an Reziprozitätsannahmen orientierten Begrüßungsabfolge wäre ein solcher Gegengruß nicht notwendig und würde an sich ein erneutes Grüßen der Begrüßten einfordern. Es könnte sich eine endlose Begrüßungs-Schleife entwickeln. Zumindest mit den Eltern würde die Institution dann nicht über das Begrüßungsszenario hinaus zu einer inhaltlichen Beziehung gelangen. Abgesehen von dieser Wiederholungs-Struktur könnte als eine erste Lesart in dem nochmaligen Grüßen auch eine Kritik an der Antwort der Eltern angelegt sein, die jedoch nur undeutlich als Spiegelung angelegt wird. Der Redner führt, indem er den Gruß wiederholt, dessen korrekten Vollzug vor. Ein solches Verhalten findet sich beispielsweise beim Spracherwerb von Kleinkindern. Diese machen eine Aussage, z.B. ›Hund baun‹ und die Mutter spiegelt korrigierend ›ja, der Hund ist braun‹. Die Analogie zu kindgemäßen Kommunikationsformen würde zeigen, dass die Eltern hier nicht als autonome Akteure akzeptiert werden. In einer zweiten Lesart könnte es sich um eine Art der Gestaltschließung der Begrüßungssequenz handeln, in der der Redner sich noch einmal als Begrüßter inszeniert und damit die Begrüßungsformen der Kinder sowie der Eltern und Freunde als erfolgreich und wie erwartet vollzogen anerkennt. Handelt es sich nun tatsächlich um das Ende der Begrüßungsabfolge, dann ist es von Bedeutung, dass alle Anwesenden, die nicht Kinder sind, in »eltern, und freunde, der kinder« unterschieden werden. »freunde« ist in diesem Fall die unspezifische Rest-Kategorie, unter die die übrigen Erwachsenen subsumiert werden. Das ist konsequenzenreich für evtl. anwesende Verwandte und Gäste, denn es bedeutet, dass diese nicht bereits über ihre sozial-biologische Anbindung an die Kinder als deren Bezugspersonen akzeptiert werden, sondern nur, wenn sie zu diesen auch in einem beidseitig selbst gewählten und damit freundschaftlichen Verhältnis stehen. Damit wird den Kindern eine autonome Aktivität bezüglich der Auswahl ihrer Bindungspersonen neben den Eltern zugestanden. Es könnte darin aber auch eine Nichtachtung von weitläufigen Verwandtschaftsbeziehungen und damit zusammenhängenden Milieubindungen zum Ausdruck kommen, aus denen die Kinder sich durch die selbstständige Wahl ihrer Freunde emanzipieren sollen. Damit wird der Raum für eine freundschaftliche Anwahl nicht-biologischer Bezugspersonen geöffnet, möglicherweise aus dem statthabenden Zusammenhang selbst.
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Erweiterung der Hypothese: Im Anschluss an die Verpflichtung der Kinder auf die Sinngebung der Institution wird den Herkunftsfamilien bedeutet, dass ihre Kinder sich nun aus dieser neu etablierten Bindung heraus und mit deren Unterstützung zugunsten neuer Bildungs- und Identitätsentwürfe als autonom werdende Akteure ihrer Bindungs- und Bildungsprozesse aus sozial und biologisch gegebenen Zugehörigkeiten lösen können. Vonseiten der Institution wird lediglich die biologische Eltern-Kind-Bindung als gegeben anerkannt. Aber auch die Eltern und Freunde werden in den statthabenden Zusammenhang nicht als eigenständige Akteure integriert. Die ihnen zugeschriebene Aufgabe besteht lediglich in einem solidarischen Mitvollzug der Vorgänge zwischen Kind und Institution. Das bedeutet, dass die Institution die Ansprüchlichkeiten und die Reichweite der Eltern begrenzt. Gleichzeitig wird den Eltern aber auch nicht dieselbe Chance einer Angleichung an den erwünschten Habitus eingeräumt wie den Kindern. Deren Zurückweisung wird gekoppelt an eine pädagogische Aufforderung, wodurch gleichsam Erwartungshaltungen der Institution transparent werden. Die Kritik an den Eltern erscheint dagegen final. R: heute, ist ein ganz besonderer tag, und ihr habt schon so lange dadrauf gewartet nicht wahr (stimme angehoben) k: . jaaaa r: den . den ganzen sommer lang und jetzt die letzten tage, noch drei mal schlafen, noch zwei mal schlafen, noch ein mal schlafen, und habt gestern euer bestes kleid anprobiert (stimme angehoben) ja (stimme angehoben) k: jaaa! Im Anschluss an die Phase der Begrüßung beginnt mit dieser Sequenz die Thematisierung des Anlasses der Zusammenkunft. Es ist nun ersichtlich, dass es sich höchstwahrscheinlich um ein Übergangsereignis von biografischer Bedeutung handelt. Denn der Redner spricht nicht von einem besonderen Fest, bei dem der Festakt selbst von Bedeutung ist oder z.B. einem besonderen Datum, bei dem sich die Tragweite der Besonderheit aus einem zeitlich-historischen Kontext ergäbe. Ein einzelner »tag« kann dagegen nur im Horizont eines individuell gelebten Lebens zu einem ›besonderen‹ werden, und er scheidet dieses Leben in ein Vorher und ein Nachher. Das Ereignis muss also wahrscheinlich vor allem für die Kinder eine wichtige biografische Zäsur darstellen. Die Aussage »heute, ist ein ganz besonderer tag« ist allerdings im Anschluss an den Abschluss der Begrüßungssequenz noch an die Gesamtheit der Anwesenden gerichtet. Erst im Folgenden werden die Kinder wieder direkt angesprochen. So wird dieser Tag durch seine Bedeutung für die
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Kinder auch für deren Eltern und ihre Freunde zu einem besonderen und einschneidenden. Damit werden auch die Erwachsenen zu Betroffenen des Übergangs. Die Institution übernimmt die biografische Strukturierungsmacht nicht nur für die Kinder, sondern für die gesamte Kernfamilie plus weitere emotional angebundene Personen (Freunde). Im Folgenden thematisiert der Redner zunächst scheinbar empathisch die Zeit vor der Initiation. Er bedeutet den Kindern, dass er annimmt, sie hätten den ganzen Sommer ausschließlich damit verbracht, auf diesen Tag zu warten. Damit wird verschiedenes ausgedrückt: Zunächst wird die Gewichtigkeit des Tages betont. Er bestimmt nicht nur die unmittelbare Gegenwart und die Zukunft der Kinder, sondern gab auch schon den vergangenen Tagen ihre Bedeutung als Wartezeit. Das heißt auch, dass andere Dinge, die diese Tage gefüllt haben könnten, gegenüber der übergreifenden Deutung als ›Tage des Wartens‹ zurücktreten. Die vorangegangene Lebenszeit wird zur Wartezeit. Emotional wird diese Zeit über die Anlehnung an Formen des kindlichen Erwartens besonderer Ereignisse (»noch drei mal schlafen, noch zwei mal schlafen, noch ein mal schlafen«) wie z.B. Weihnachten, die Fahrt in den Urlaub oder den Geburtstag als eine freudige und spannungsvolle ausgewiesen. Der Redner erschafft damit, indem er sich höchstwahrscheinlich wieder kontextfremder bedeutungsvoller Ereignisse bedient, ungeachtet eventuell abweichender Empfindungen (Angst, Gleichgültigkeit) der Kinder ein sehr starkes normatives Szenario eines wichtigen, mit Freude und Spannung erwarteten Ereignisses. Die Interaktion mit den Kindern, bei der es bei der Begrüßung um ein Einlassen auf die Abläufe ging, dient nun wiederum dazu, die Kinder in dieses Bild zu integrieren bzw. sie auf dieses zu verpflichten. Die eingeholte Antwort eröffnet den Kindern auf der anderen Seite aber auch die Möglichkeit, sich scheinbar von sich aus und aktiv der institutionellen Deutung zu fügen. Geht man an dieser Stelle davon aus, dass es sich bei dem statthabenden Übergangsritual um eine kulturelle biografische Zäsur handelt, die zwangsläufig eintritt und jedes Kind betrifft, dann wird hier Autonomie in einem eigentlich heteronomen Kontext suggeriert. Und das Ganze funktioniert sogar an höchst spannungsvollen Stellen wie der Frage, ob denn alle ihr bestes Kleid angezogen hätten. Dabei ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die Gruppe der Kinder nicht ausschließlich aus Mädchen besteht. Die Normativität besteht an dieser Stelle in der Gewichtung einer äußerlichen Ästhetisierung. Das beste Kleid wird angezogen, um der Herausgehobenheit Rechnung zu tragen, innere Werte und subjektive Orientierungen treten in den Hintergrund.
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Handelt es sich also um eine biografische Zäsur, ist diese Thematisierung der Vergangenheit im Grunde die Frage nach der Erfüllung der Voraussetzungen für die nun folgende Initiation: ›Habt Ihr denn alle gewartet?‹. Nur derjenige, der an dieser Stelle riskieren will, aus der gestifteten Gemeinschaft und damit aus der gelingenden Initiation ausgeschlossen zu werden, würde an dieser Stelle nicht mit »ja« antworten. Die Struktur wiederholt sich schließlich auch an der folgenden Frage nach einer vorbereitenden Ästhetisierung. Das heißt, die erfolgreiche Bewährung besteht nur darin, sich in einem Duktus der Spontaneität und Freiheit den normativen Sinngebungen der Institution anzuschließen. Das heißt aber auch, dass die Kinder für einen erfolgreichen Übergang auf die Führung der Institution angewiesen sind. Diese Führung selbst wird über die Anlehnung an spielerische und ästhetisch-fiktive Erfahrungsräume sehr kindgemäß angelegt und umgesetzt. r:
.. und heute isses so weit . heute ist euer erster, schultag . ganz aufregend wird die nächste zeit und ganz aufregend ist heute der erste tag .
Mit dieser Sequenz kann der angenommene pädagogisch-institutionelle Zusammenhang konkretisiert werden. Es handelt sich höchstwahrscheinlich um eine Feierlichkeit zur Einschulung von Erstklässlern, denn es ist tatsächlich der allererste Schultag. Dieser Wandel vom Kind zum Schulkind wird von dem Redner in eine Thematisierung der Vergangenheit (eine Zeit des Wartens), und nun der Gegenwart und der Zukunft der Kinder eingebettet. Der erste Schultag bedeutet also zum einen das Ende von etwas, ja, er bekommt im Kontrast zu der beschriebenen Zeit des Wartens sogar den Charakter einer Erlösung: ›Heute ist es endlich soweit, das fast nicht auszuhaltende, spannungsgeladene Warten hat ein Ende‹. Aber dieses Innehalten, die Erlösung, sozusagen das Aussetzen der Bewährungsdynamik ist nur von kurzer Dauer, denn es ist gleichzeitig der Beginn der Zukunft, deren Kennzeichnung als »aufregend« erneut auf eine Bewährungsdynamik verweist. Darüber hinaus wird im weiteren Verlauf der Sequenz diese, zunächst wenigstens auf den nächsten Morgen verschobene Zukunft (»ganz aufregend wird die nächste zeit«), auch Teil der Erlösung selbst. Denn auch bereits heute der erste Tag ist »aufregend«. Der Redner nimmt damit der Einschulungsfeier gleich wieder den zuvor kurz eingeführten Charakter einer mußevollen Selbstvergewisserung. Diese Lesart ließe sich dahingehend zuspitzen, dass die Kinder diesen Moment des Innehaltens gar nicht benötigen, denn der Redner übernimmt für sie ab dem Moment der Initiation die Gestaltung des Kommenden.77 Er weist sich damit einerseits als jemand aus, dem diese Zukunft bekannt ist, und der damit auch in der Position ist, 77 Er übernimmt auch die Umdeutung und Gestaltung von Vergangenheit und Gegenwart.
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sie stellvertretend emotional für die Kinder zu deuten. Für diese Lesart spricht, dass es nicht so aussieht, als würde im Anschluss an diese Weissagung noch die interaktive Zustimmung der Kinder eingeholt. Um diese Lesart zu konkretisieren, muss nun allerdings andererseits noch die – wiederum normative – inhaltliche Ausdeutung dieser Zukunft rekonstruierend hinzugezogen werden. Was bedeutet es, dass der Redner die kommende Zeit als »aufregend« beschreibt? Eine aufregende Zeit ist keine eindeutig und ausnahmslos positive bzw. freudige Zeit. Der sicheren Erwartung positiver Erfahrungen würde man eher über Kennzeichnungen wie, das wird eine ›schöne‹ oder ›tolle‹ Zeit Ausdruck verleihen. Eine aufregende Zeit ist demgegenüber ambivalent: Es kann Positives und Negatives, Erhebendes und Unheilvolles, Schwieriges und Müheloses geschehen. Demjenigen, der gleichgültig und gelassen der Zukunft entgegen sieht, wird damit bedeutet: Es wird nicht langweilig, aber es kann auch beschwerlich und unangenehm werden. Und für denjenigen, der hauptsächlich furchtsam und besorgt in die Zukunft blickt, heißt es: Es wird nicht nur unerfreulich, denn eine aufregende Zeit ist auch – und darin steckt an dieser Stelle die Ideologie – eine prinzipiell zu bewältigende Zeit, eine Aufgabe, an der man wächst – ein ›Lerngeschenk‹. Man könnte noch weiter gehen und anmerken, dass der Redner die kommende Schulzeit als Abenteuergeschichte entwirft. Ebenso wie die Helden in solchen Narrationen haben die neuen Schulkinder kognitive und emotionale Herausforderungen zu bestehen, aber ebenso wie in den kindgerechten Abenteuerromanen werden sie gestärkt und gefestigt, wenn nicht sogar ruhmreich aus diesen hervorgehen. Die Schulzeit wird über diese narrative Figur zur fiktiven Geschichte. Sie wird von einer bedrohlichen Realität damit scheinbar entlastet. Niemand wird wirklich leiden, auch nicht an Langeweile, und niemand kann endgültig scheitern. Der Redner wird in dieser Variante zum auktorialen Erzähler, der die Figuren durch die Geschichte navigiert, damit aber auch ihr Schicksal in den Händen hält. Diese Lesart kann in dieser Klarheit allerdings nur aufrecht gehalten werden, wenn die kommende Zeit im Fortgang der Rede nicht noch anderweitig inhaltlich gefüllt wird. An dieser Stelle bestätigt sich die bislang hypothetisch rekonstruierte Sinnstruktur. Die vorherigen Ergebnisse können nun im Hinblick auf den tatsächlichen Kontext der ›Einschulungsfeier‹ folgendermaßen zusammengeführt und konkretisiert werden: Mit dem Vollzug der Initiation sind die Kinder endgültig Teil der großen Erzählung der Institution und die gesamte Schulzeit wird zum aufregenden und
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spannenden Abenteuer: Es ist zwar durchaus mit ambivalenten Erfahrungen zu rechnen, aber den Kindern wird eine Bewährung in Aussicht gestellt, solange sie sich in der Obhut des Redners bzw. der Institution befinden, die er vertritt. Die Schule selber wird als der sichere Ort entworfen, in den die damit dem schulischen Außen zugewiesenen Krisen, die an diesem besonderen Tag über die Anwesenheit vieler Erwachsener als Vertreter des Umfeldes zu Beginn der Einschulungsfeier als Krise der Institution manifest geworden zu sein scheinen, nicht mehr hineindringen können. Und die Kinder bewähren sich, indem sie sich auf diese Fiktion, diesen Entwurf einer anderen Welt oder auch Gegenwelt einlassen. Das heißt aber auch, dass erst das umfassende Ausblenden der Realität, hier vermittelt über eine normative Umdeutung der Gegenwart und Vergangenheit, die nicht durch Schule bestimmt waren, den Weg in eine Zukunft möglich macht. Der Lösungsentwurf, den die Schule den Schülern gegenüber einem für die Schule und das Schulische krisenhaften Außen anbietet, das höchstwahrscheinlich durch ein problematisches Einzugsgebiet mit bildungsdistanzierten Milieuverhältnissen und einer mangelnden Wertschätzung des Schulischen geprägt ist, ist also das umfassende Einlassen auf das Angebot der Schule. Im Gegenzug verspricht diese Realitätsentlastetheit und die Bewährung aller. Dennoch geht der Redner nicht so weit, die gesamte Schulzeit als eine von Negativerfahrungen befreite darzustellen. Er entwirft die Schule vielmehr als einen imaginären Raum, der für existenzbedrohende reale Krisen nicht zugänglich ist. Die Krisen, die dort statthaben, sind lediglich Krisen durch Muße. Aber auch die Schule selbst sieht allein in dem strukturellen Ausblenden der für sie krisenhaften Realität, in Form der Verlagerung der Sinnkrise der Institution in das soziale Umfeld, die Möglichkeit, überhaupt noch in der herkömmlichen Weise als Schule zu funktionieren. Und nur dadurch kann an pädagogischen Idealen festgehalten werden, nämlich der umfassenden schulischen Integration und damit der Bildung aller. Auf ihre krisenbelastete Einbettung reagiert diese Schule nicht mit Resignation, nicht mit Transformation, sondern mit einem Gegenentwurf. Dieser richtet sich nicht gegen das System der modernen Regelschule, indem er etwa deren Angemessenheit und Wirksamkeit angesichts der Schwierigkeiten, mit denen die Schule umgehen muss, in Frage stellt, sondern die Schule wendet sich als starke Institution, die tatsächlich noch in Lage ist, eine große Erzählung zu generieren, gegen das, was – wie sie annimmt – sie in ihrer Existenz bedroht: das Umfeld. Das Lösungsversprechen wird dabei mit normativer Vehemenz charismatisiert, bleibt aber inhaltlich heterogen.
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Entgegen dem Wechsel auf der inhaltlichen Ebene findet sich jedoch als Form suggestiver Charismatisierung die durchgehende, in der Schule oft als Grundform des Unterrichtens praktizierte formale Figur einer Interaktion, die auf Frage- und Antwortverhalten aufbaut, das allerdings auch spielerisch verpackt im Ästhetischfiktiven erscheint. Den Eltern gegenüber lässt die Schule ihre konkreten Absichten allerdings nicht erkennen, denn höchstwahrscheinlich vermutet sie hier Widerstand gegen ihren umfassenden Anspruch auf die Kinder. Sie setzt dagegen darauf, dass die Kinder langfristig, durch die in der Schule erfahrene Erziehung und Bildung, beginnen, ihre Bezugspersonen selber auszuwählen, um dann in einem scheinbar autonomen Akt ihre Herkunftsgrenzen zu überschreiten. Allerdings findet sich auch keine Schuldzuweisung an die Eltern. Von ihnen wird verlangt, dass sie im Interesse ihrer Kinder die Schule in ihren umfassenden Intentionen unterstützen. Tun sie dies nicht, haben sie möglicherweise mit Sanktionen oder einer fortschreitenden strukturellen Ausgrenzung zu rechnen. Dass dieser hohe Anspruch eventuell nicht von allen schulischen Akteuren verbürgt wird, zeigt sich in dem ersten »guten morgen« der Kinder, in dem beispielhaft die schulische Alltagsroutine durchbricht. Das Protokoll geht nun folgendermaßen weiter: R: und wer weiß denn . in welche schule ihr heute kommt, wie heißt denn unsere schule, (rufe der kinder) du weißt das? K: sonnenlicht-grundschule (nicht ins mikrofon) k 1:.. sonnenlicht-grundschule (laut ins mikrofon gesprochen). r: oh, prima, können das alle schon sagen k: . sonnenlicht-grundschule (mehrfaches versetztes rufen) r: prima, in die sonnenlicht-grundschule kommt ihr heute als erste (betont), klassen, und, wie ist denn das mit dem sonnenlicht das hat ja so viele farben was hat das denn für farben wer weiß denn das (stimme angehoben) k 2:blau k 3:.. rot r: und dann dürfen die anderen mal sagen, ne, wer weiß noch welche farben k 4: gelb k 5: gelb k 6: gelb (nicht ins mikrofon) k 7:rosa r: . rosa sind manchmal die wolken , ne (stimme angehoben)
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k 8:lila k 9:. blau r: prima, und (stimme angehoben) k 10: grün r: jaa, und da hinten auch noch jemand k 11:.. gold k 12: nickel (ruf von hinten nicht ins mikrofon) r: oh (lacht) k 13: ich, ich, ich, ich, ich, ich, ich, ich, ich, ich (ruf von hinten nicht ins mikrofon) k 14: grün k 15: gelb k 16: orange r: orange, genau (leise) k 17: silber (nicht ins mikrofon) r: ja (leise), also vielleicht sehen wir auch manchmal ein bisschen silber und gold aber eigentlich is’ ja rot orange gelb, grün blau und lila, unser sonnenlicht hat viele farben, weil die kinder unserer sonnenlichtgrundschule auch viele farben haben, ganz bunt sind und aus vielen ländern . (die kinder rufen immer noch farbenbezeichnungen in den raum ((sepia)) ((ocker))) und aus vielen ländern kommen, und außerdem machen wir auch mit den farben ganz viel, die sonnenlicht-grundschule ist eine kunstbetonte (betont) grundschule, 78 Die Thematisierung der Initiation ist offensichtlich abgeschlossen. Der Redner verweilt nun nicht intensiv bei der Umschreibung der sich vollziehenden Zäsur, sondern wendet sich rasch der Institution selbst, insbesondere der Bedeutung ihres Namens zu. Die kommende Zeit in der Schule wird von dem Redner also nicht weiter inhaltlich oder emotional gefüllt. In den Vordergrund rückt dagegen die einzelne Schule, die, soviel konnte schon herausgearbeitet werden, das Leben der Kinder nun spezifisch bestimmen wird. Die an die Kinder gerichtete Frage, ob sie denn wüssten, in welche Schule sie heute kommen, ist dabei in mehrfacher Hinsicht interessant. Zum einen ist es ein 78 Aufgrund der datenschutzrechtlichen Bestimmungen musste auch an dieser zentralen Stelle der eigentliche Name der Schule anonymisiert werden. Die folgende Darstellung des Protokolls und der dazugehörigen Rekonstruktion operiert daher mit einer Analogiebildung zum faktischen Schulnamen. Die ausführliche objektiv hermeneutische Rekonstruktion, die natürlich mit dem tatsächlichen Namen der Schule durchgeführt wurde, kann aus diesem Grund nur über diese hermeneutische Analogie in ihrem zentralen Sinngehalt zusammenfassend dargestellt werden.
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kindgerechtes Einüben wichtiger biografischer Eckdaten. So wie man Kindern auch früh beibringt, in welcher Straße und in welcher Stadt sie wohnen. Es ist eine Art Identitätsbildung im ›auswendig lernen‹ der biografischen Daten, wodurch nochmals die Bedeutung, die die Schule für sich in Anspruch nimmt, erkennbar wird. Zum anderen ist die Frage nach dem Wissen über den Namen der Schule aber auch ein indirekter Vorwurf an diejenigen, die anscheinend die Aufgabe gehabt hätten, den Kindern diese wichtige Information zu vermitteln, denn sie transportiert, dass nicht sicher davon ausgegangen werden kann, dass diese ihrer Informationspflicht, die hier schon fast zur Fürsorgeverpflichtung wird, auch nachgekommen sind. Dadurch wird noch einmal deutlich, dass allen Personen außerhalb der engen Verbindung von Kindern und Institution unterstellt wird, dass sie deren spezifische Bedeutung anscheinend nicht in dem Maße verbürgen, wie die Institution es sich wünscht bzw. es als angemessen empfindet. Man kann damit von einem empfundenen Anerkennungsdefizit der Leistungen der Schule vonseiten der Herkunftsmilieus der Kinder sprechen. Darüber hinaus kann riskant vermutet werden, dass der Redner nicht Anerkennungsverweigerung seitens der Familien vermutet, sondern vielmehr ein schlichtweg fehlendes Urteilsvermögen hinsichtlich der biografischen Relevanz der Schulzeit respektive der diesbezüglichen Bedeutung der Einzelschule unterstellt. Über die gemeinsame Nennung des Schulnamens werden diesbezüglich alle Kinder auf denselben ›Stand‹ gebracht. Was die Schule nun zu einer bedeutungsvollen macht, scheint in ihrem Namen ausgedrückt zu sein. Und diese Bedeutung wird, ganz didaktisch, gemeinsam mit den Kindern erarbeitet. Dabei soll zunächst einmal die intentionale Ebene dieser nun folgenden Interaktion bestimmt werden: Offensichtlich ist der Name der Schule symbolisch besetzt. Das Sonnenlicht steht für das Lichtfarbenspektrum und die jeweiligen Mischfarben ersten Grades. Die Vielfalt der Farben des Sonnenlichts steht wiederum metaphorisch für die individuellen, in diesem Fall wahrscheinlich auch kulturellen, Unterschiede zwischen den Kindern. Diese im Einzelnen ganz divergenten Farben ergeben jedoch in der Gesamtgestalt des Lichts der Sonne ein harmonisches Ganzes. Der didaktische Kniff innerhalb der Sequenz besteht nun darin, die Kinder einzelne Farben benennen zu lassen, um diese dann im Bild des Sonnenlichts symbolisch zu vermitteln. Dieses Selbstbildnis drückt aus, dass in dieser Schule alle Kinder willkommen und anerkannt sind, ja, dass es sogar diese Heterogenität ist, die das Besondere der Schule ausmacht. Es ist nun offensichtlich, dass dieser didaktische Akt verunglückt. Die Frage, ›was hat denn das Sonnenlicht für Farben‹ ist im Grunde eine ganz naturwissenschaftliche Wissensfrage, die eindeutig zu beantworten ist. Die intendierte Offenheit
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ist also schon bereits in der Frage nicht mehr enthalten. Die Szene wird damit zum zentralen Ausdruck des institutionellen Dilemmas, denn die Integrationsabsicht gegenüber den Kindern stößt da an ihre Grenzen, wo die Schule letztendlich den Normen, Werten und Wissensbeständen der gesellschaftlichen Moderne verpflichtet ist. Das Farbenspektrum des Lichts wird nicht geöffnet für individuelle, kreative Entwürfe, sondern der Redner bleibt bis zum Ende dabei, dass dessen Farben eindeutig bestimmbar sind. Daher kann im Grunde auch der an zwei Stellen vorhandene Versuch, die unpassenden Äußerungen der Kinder zu integrieren, nur misslingen. Wenn nämlich »rosa« an die Wolken verwiesen wird, dann ist klar, dass diese Farbe nicht Bestandteil des Lichtfarbenspektrums ist. Insofern ist die Antwort falsch. Allerdings gelingt es dem Redner an dieser Stelle noch, die Farbe in ein Bild zu integrieren, das unterstützend ein mögliches Umfeld des Sonnenlichts mit einbezieht. Dagegen führt die Nennung der Farben Gold und Nickel zu einer deutlichen Irritation (»oh«). Anscheinend kann sich der Redner an dieser Stelle kein Bild mehr vorstellen, das tatsächlich Gold, Nickel und Silber enthält. Der Integrationsversuch findet deshalb auf andere Weise statt. Er versucht es mit dem Zugeständnis »also vielleicht sehen wir auch manchmal ein bisschen silber und gold aber eigentlich is’ ja rot orange gelb, grün blau und lila«. Im Grunde ist damit gesagt, dass es sich, bei einem silberfarbenen Lichtanteil um eine optische Täuschung handeln muss, denn dieser ist ja eigentlich rot, orange, grün, blau, gelb und lila. Man könnte schlussfolgern, dass hier ein täuschender erster Sinneseindruck über den von der Schule vermittelten Wissensbestand korrigiert werden kann. Aufschlussreich und an dieser Stelle weiterführend ist es aber auch, wenn man die akzeptierten und die abgewiesenen Farben noch einmal näher betrachtet: Bei den akzeptierten Farben (rot, orange, grün, blau, gelb und lila) handelt es sich um die Primärfarben und um deren jeweilige Mischfarben ersten Grades. Aus diesem Grundbestand kann fast jede in der Natur vorkommende Farbe ermischt werden. Sie sind das Ausgangsmaterial bildnerisch künstlerischen Gestaltens. Rosa hingegen ist eine Mischung aus Rot und Weiß. Weiß ist das Licht in seiner Gesamtheit und die Nennung »rosa« insofern noch lose anzubinden. Gold, Nickel und Silber dagegen sind aufgrund der Metallbestandteile keine Farben im eigentlichen Sinn. Darüber hinaus sind es statische Farben, die nur dann sinnvoll einsetzbar sind, wenn die Metalle Gold, Nickel oder Silber dargestellt werden sollen. Sie illustrieren nur sich selbst und sind nicht mit anderen Farben mischbar. Das heißt, aus diesen Farben kann man im eigentlichen Sinne nichts »machen« in ihnen steckt kein Entwicklungspotenzial. Insofern passt diese Lesart zu der folgenden Äußerung des Redners »und außerdem machen wir auch mit den farben ganz viel«. Die Farben, hier symbolisch
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ersetzbar durch die unterschiedlichen Kinder, sind das Ausgangsmaterial aus denen die Schule etwas ›macht‹, und dazu ist sie dann auch im Besonderen legitimiert und fähig, denn sie ist ja eine kunstbetonte Grundschule. Das heißt aber auch, sie entwickelt und verändert das Ausgangsmaterial. Aus rot orange gelb grün blau und lila kann Kunst werden. Einer solchen entwicklungsorientierten Intention sperren sich metaphorisch tendenziell die statischen Farben Gold Nickel und Silber. Mit der Rekonstruktion dieser Sequenz könnte auch an die anfangs einmal geäußerte Lesart angeknüpft werden, dass wir es hier mit konkurrierenden Konzepten von Kindsein und Erwachsensein zu tun haben: In den Kindern wird Entwicklungspotenzial vermutet, sie sind durch die familiäre und milieuspezifische (außerschulische) Sozialisation noch nicht determiniert, wogegen die Eltern in dieses spezifische Bildungs- und Entwicklungskonzept nicht integriert werden. Die Interaktion mit den Kindern, die hier wieder aufgegriffen wird, entfernt sich nach der erfolgreichen Initiation nun von dem Charakter des Mitmach-Theaters und nähert sich eindeutiger den Formen des Fragen-entwickelnden Unterrichts. Die Kinder werden jetzt einzeln ›drangenommen‹, wobei jede(r) die Chance bekommen soll, sich einzubringen. Dies geschieht zum einen der Gerechtigkeit willen, kritisch gewendet könnte man aber hinzufügen, dass nur so die Leistung des Einzelnen auch beurteilt werden kann. Die Szene ist Ausdruck des institutionellen Dilemmas. Zum einen intendiert die Schule, allen Kindern ein ›Lerngeschenk‹ zu machen, zum anderen bleibt sie im symbolischen Niederschlag dieses Ideals bestimmten Werten und Normen der traditionellen europäischen Moderne verpflichtet. Insofern kann das Integrations- und Bildungsversprechen für die Ebene des Symbolischen konkretisiert werden. Es geht nicht um ein pluralistisches Zulassen und nicht Einschränken individueller oder kulturell heterogener Ausdrucks- und Lebensformen, sondern es ist eine Integration in die kanonisierten Bestände der Institutionen des gesellschaftlichen Berechtigungswesens. Der Redner gibt das Versprechen, das schon fast als Ermahnung erscheint, dass die Kinder nur mit der Hilfe der Institution sowie einem umfassenden Einlassen auf die von dieser angebotenen normativen Entwürfe zu einer gelingenden Lebensführung in der aufnehmenden Gesellschaft kommen können. Der krisenentlastete Raum, den die Schule versucht entstehen zu lassen, dient diesbezüglich der gemeinsamen ›künstlerischen‹ Neuschöpfung zwischen Schülern und Schule. Diese Stärkung des individuellen Ausdrucks zielt jedoch nicht auf einen umfassenden Autonomiegewinn, sondern zunächst nur im Sinne und im Rahmen der Sicherung der Institution gegen die das Schulische in Frage stellenden Herkunftsbedingungen der Kinder.
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Die Szene offenbart aber auch das dem Ausblenden der krisenhaften Realität innewohnende Konfliktpotenzial. Denn dort, wo die Realität hereinbricht, kommt die Institution schnell an das Ende ihrer Handlungsoptionen und zieht sich verstärkt auf traditionell gesellschaftlich verbürgte und kanonisierte Werte und Normen zurück, was zu einer strukturellen Ausgrenzung der nicht passenden Farben, bzw. derjenigen Kinder führt, die die ›falschen‹ Antworten geben. Daran zeigt sich zudem die breite Kluft zwischen dem Selbstbild der Schule und der Realität, in der sie agiert. Darüber hinaus stellt sich die Frage, wie die Schule mit Eltern umgeht, die nicht bereitwillig ihre Zuständigkeiten an die Schule abgeben, und wie sie auf Kinder reagiert, die, aus welchem Grund auch immer, nicht ›gerettet‹ werden wollen. Auf der anderen Seite besteht aber auch die Gefahr, dass Kinder, die mit einer harten schulischen Realität (z.B. Sitzenbleiben) konfrontiert werden, dies, wenn sie sich vorher im Grunde gänzlich auf deren Versprechen und Hilfestellungen eingelassen haben, als einen Vertrauensbruch empfinden und von der Institution enttäuscht sind. Eine solche Entwicklung wäre durchaus konsequenzenreich für die schulische Laufbahn Einzelner. Außerdem wird dadurch deutlich, dass sich die Kinder, die tatsächlich beginnen, sich aus ihren familiären Herkunftsmilieus zu lösen, möglicherweise in ein riskantes Abhängigkeitsverhältnis mit der Institution begeben.
4.3 Fallstruktur und Strukturprobleme 4.3.1 Die Krise der Institution Schule Der rekonstruierte schulische Zusammenhang ist prekär in einem Umfeld situiert, das, zunächst aus der Sicht des Redners, in seinen milieuspezifischen Werthaltungen als schuldistanziert, wenn nicht sogar als schuloppositionell eingestuft werden konnte. Diesem gegenüber scheint es der Schule unmöglich zu sein, auf bewährte schulische Regeln und Routinen zurückzugreifen, insbesondere bei der Umsetzung einer herausgehobenen Situation, in der es wesentlich um Selbstvergewisserung und Identitätsbildung gehen müsste. Diese Einbettung führt nun zu einer krisenhaften Situation der Institution selbst, denn sie wird dadurch in ihrer Funktion als moderne Schule überhaupt, mit ihren spezifisch kulturellen und traditionellen Ritualen, Methodiken, Didaktiken und kanonisierten Wissensbeständen, restlos in Frage gestellt. Sie ist als herkömmliche Regelschule gegenüber dem Umfeld, in dem sie versuchen muss, den ihr von der Gesellschaft übergebenen Bildungsauftrag zu
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erfüllen, im Grunde nicht mehr handlungsfähig. Diese Sinnstruktur findet ihren Ausdruck in der unsicheren und strukturell widersprüchlichen Eröffnung der Einschulungsfeier, mit der erst einmal mühevoll versucht werden muss, die Rahmenbedingungen für den Beginn der Einschulungsfeier überhaupt herzustellen. Insgesamt misslingt gegenüber der gesamten Gruppe der Anwesenden der eröffnende Strukturierungsversuch und der Redner findet erst in jenem Teil der Rede und der Interaktion zu einer beständigen Struktur, der sich ausschließlich an die Kinder wendet. Der potenziellen Bedrohung durch die anderen anwesenden Erwachsenen wird nachfolgend dadurch ausgewichen, dass diese für den Rest der Rede wie die Kinder angesprochen werden.
4.3.2 Krisenlösung durch Muße Auf das sie in Frage stellende soziale Umfeld reagiert die Schule strukturell mit einer Überblendung dieser Realität in Form der Verlagerung der Sinnkrise der Institution in das soziale Umfeld. Dadurch gelingt die Überwindung der Manifestation der Krise im Imaginären. Der Redner entwirft eine offene Schule, die Spaß und Freude macht, die die Schüler als Kinder ernst nimmt und jeden mit seinen individuellen Unterschieden akzeptiert und integriert. Das in Aussicht gestellte Ergebnis ist die gelingende Bewährung aller, die allerdings zur Voraussetzung hat, dass sich die Kinder dieser ›großen Erzählung‹ der Schule gänzlich hingeben. Den Kindern, die in diesen fiktiven Raum integriert werden, bietet die Institution die Möglichkeit zu einer von gesellschaftlicher Praxis als konsequenzenreich krisenhafter Lebenspraxis entlasteten Erfahrung – der Krise durch Muße. Ähnlich einer gelingenden Mutter-Kind Beziehung gewährt die Institution hier den Schutz vor dem ›Ernst des Lebens‹, der in dem vermeintlich krisenbelasteten Außen nicht mehr gewährleistet zu sein scheint – der aber ein kindgerechtes Lernen überhaupt erst ermöglicht.
4.3.3 Suggestiv-ästhetisierte Charismatisierung Die Schule richtet sich mit ihrem Bildungs- und Bewährungsversprechen also ausschließlich an die Kinder. Sie sieht die Möglichkeit, sie vor den problematischen Einflüssen des familiären und sozialen Umfeldes zu bewahren bzw. zu retten. Somit werden auch ausschließlich die Kinder als Gefolgschaft in das Krisenlösungsversprechen eingebunden. Dazu werden überzeugend emotionalisierende suggestive Techniken benutzt, die der kindlichen Erfahrungswelt angehören. So z.B. die Anlehnung an interaktive Formen des Kinder- bzw. Kasperletheaters. Die Krise des
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Zusammenhangs selbst wird in der Rede nicht ausdrücklich thematisiert. Sie ist, zumindest aus der Sicht des Redners, nicht innerhalb der Institution zu verorten, sondern entspringt den schwierigen Bedingungen des Umfeldes. Ein Ansprechen derselben würde zwangsläufig mit einer persönlichen Problematisierung und Entwertung der anwesenden Erwachsenen einhergehen oder eine solche wenigstens implizieren. Eine derartige Klarstellung der Differenz sowie der angestrebten Einflussnahme könnte dann die Intention der Schule erschweren, zumindest die Kinder in ihre Konzeption zu integrieren. Dann wäre durchaus mit dem Widerstand der Erwachsenen zu rechnen. Insofern haben wir es im Folgenden mit einer Charismatisierung zu tun, die nicht versucht, in einem argumentativen Modus gegenüber einer vorangehend aufgezeigten Krise für das Lösungsversprechen Glaubwürdigkeit herzustellen. Stattdessen charismatisiert der Redner gegenüber den Kindern seine Lösung bzw. seinen lebenspraktischen Gegenentwurf von Schule. Er tut dies durch eine Mischung von spezifisch besetzten figürlich fiktiven Anleihen, die er geschickt in die Rede einbindet. Diese Charismatisierung erscheint als umfassend erfolgreich, denn die Kinder schließen sich sogar dann den Deutungen des Schulleiters an, wenn dieser offensichtlich, wenn auch nicht absichtlich, die gesamte Gruppe der anwesenden Kinder als Mädchen definiert (»und habt gestern euer bestes kleid anprobiert«). Die Kinder weisen so die Glaubwürdigkeit des Lösungsvorschlags im gesamten Ablauf der Rede als erfolgreiche Suggestivität aus.79 Ihre Gefolgschaft wurde mit der Einforderung der Wiederholung des ersten Grußes gleich zu Beginn umfassend eingefordert und sichergestellt. Die gewählte Form der Charismatisierung passt darüber hinaus strukturell zum Lösungsentwurf. Die Auswahl von fiktionalen, ästhetischen Figuren und Geschichten und Narrativen entspricht dem Schulentwurf von Realitätsentlastetheit, den der Redner entwickelt.
4.3.4 Problematische Realitätsentlastetheit Mit dieser rekonstruierten schulischen Sinnstruktur gehen spezifische Strukturprobleme einher, auf die zum Teil bereits hingewiesen wurde. Insbesondere das Ausblenden der Realität führt in doppelter Hinsicht zu einer strukturellen Problemlage: Auf der einen Seite wird die eigentliche Realität des Umfeldes mit ihren spezifischen Anforderungen sozusagen überblendet. Die Herkunft der Kinder ist für das, was in der Schule passiert, nicht mehr relevant. Das Vorschulische wird um79 Siehe dazu Oevermann (1995: 50; Kap. 3.1).
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gedeutet und zu einer Zeit des Wartens auf die Schule. Damit verbunden ist ein pädagogisches Integrations-, Gleichheits- und Chancengleichheitsversprechen. Das ist grundsätzlich positiv zu bewerten. Es sollen durch schulische Bildungsangebote Milieugrenzen überwunden werden, indem die Kinder innerhalb des Möglichkeitsraums, den die Schule ihnen bietet, zu individuellen und autonomen Identitäts- und Bildungsentwürfen gelangen. Die Voraussetzung ist zunächst aber, dass die Kinder sich auf die Erzählungen bzw. das Angebot der Schule umfassend einlassen. Hier zeigt sich die grundsätzliche Spannung von Autonomie und Heteronomie, in die die Schule die Kinder riskant verstrickt. Denn die Annahme des schulischen Angebots scheint nur möglich unter der Voraussetzung der Ablösung vom Herkunftsmilieu. Autonomie ist demnach für die Kinder nur zu erreichen, wenn sie sich in ein familienähnliches Abhängigkeitsverhältnis von der Schule begeben. Insofern muss zum einen gefragt werden, ob die Schule, indem sie die lebensweltlichen Strukturen der Herkunft der Kinder missachtet, nicht auch den Kindern, von denen angenommen werden kann, dass sie dort eine nachhaltige Sozialisations- und Persönlichkeitsprägung erfahren haben, bereits zu ihnen gehörende Eigenschaften und Kompetenzen aberkennt. Die Schulkultur wäre dann vom Ausschluss des »Nichtidentischen« (vgl. Helsper 1990) geprägt. Für diese Vermutung spricht das in der Metapher vom Sonnenlicht aufkommende Bild von Kindheit als etwas Entwicklungsfähigem und schöpferisch Gestaltbarem. Die Reinheit und Potenzialität des Kindes erscheint tendenziell überbewertet. Allerdings gelingt es der Institution so, an der Bildungsidee der Höherentwicklung festzuhalten und ihre Rolle als Schule und damit auch die Bedeutung des Berechtigungswesens zu sichern. Über den institutionellen Gegenentwurf wird jedoch nicht nur die äußere Situierung überblendet, sondern auch ein großer Teil des Schulisch-Realen. Konkret nachweisbar ist erstens die einseitige Auflösung der Differenzierungsantinomie (vgl. Kap. 2.5, S. 92f.) in dem Versprechen der Integration und der erfolgreichen Bewährung ›aller‹. Diese Einseitigkeit bricht allerdings gleich in der Eröffnungssequenz spannungsvoll auf, in der nachgewiesen werden konnte, dass die Orientierung an dem einzelnen Individuum mit seinen fallspezifischen Besonderheiten nur im Bereich des Imaginären aufrechterhalten werden kann, symbolisch aber nicht eingelöst wird. Insbesondere der mit der Differenzierungsantinomie eng gekoppelte institutionelle Widerspruch von Fördern und Auslesen, der immer Bestandteil schulischen Handelns ist, wird so imaginär überbrückt. Suggeriert wird die schöpferische Förderung aller, die aber in eine strukturelle Ausgrenzung derjenigen mündet, die nicht den ›Grundfarben‹ bzw. dem Bild des entwicklungsfähigen und entwicklungswilligen Kindes entsprechen. Zweitens werden zumindest gegenüber den Kin-
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dern, die als Novizen in den Zusammenhang eingeführt werden sollen, die Gefahren der Routinisierung und Standardisierung des pädagogisch alltäglichen Handelns verborgen. Stattdessen wird Offenheit, Spontaneität und Unmittelbarkeit inszeniert und sogar gegen den Widerstand einiger Akteure durchgesetzt. Was hier als Struktur und Standard inszeniert wird, ist die nur am Fall und an der konkreten Situation orientierte spannende und unterhaltsame pädagogisch professionelle Praxis. Und drittens verschleiert die Schule die Antinomie zwischen Autonomie und Heteronomie, indem sie die zwar notwendigen schulinhärenten heteronomen Strukturen nicht offen legt, womit Entscheidungs- und Emanzipationsprozesse ermöglicht werden könnten. Insbesondere in dem Prozess der Gefolgschaftsbildung wird durch die Anwendung emotional suggestiver Techniken Autonomie suggeriert, wo Heteronomie stattfindet. Die Kinder schließen sich dadurch scheinbar freiwillig den Deutungen und Entwürfen des Redners an.
4.3.5 Stabilisierung durch Homogenisierung: Die kreativ mythische Imagination der Einheit trotz Differenz Folgt man den theoretischen Bestimmungen zum Schulmythos von Helsper u.a. (2001), dann kommt ein solcher tatsächlich auch in dieser Schulleiterrede zum Ausdruck: Mythische Texte oder Textelemente sind dadurch gekennzeichnet, dass neben die Beziehung von Begriff und Bild, die sich im Grunde schon selbst genügen könnte, eine mythische Bedeutung tritt, die sich des Zeichens (z.B. des Wortes) bemächtigt, es allerdings nicht auslöscht. Der Mythos als narratives System ist demnach eine metaphorische Konstruktion, in der zwei Bedeutungsebenen nachweisbar sind: der unmittelbare Sinn der Sprache selbst und die Bedeutung der Sprache des Mythos als Metasprache.80 Ein solches mythisches Textelement, das insbesondere dazu dient, das herausgearbeitete Krisenlösungsversprechen zu bestätigen, ist in dem vorliegenden Protokoll Teil des Namens der Schule selbst: das ›Sonnenlicht‹. Was das Sonnenlicht ist, ist unmittelbar klar. In der gemeinsamen didaktischen Explikation des Namens der Schule zwischen Schulleiter und Schülern bekommt der Name »sonnenlicht-grundschule« nun eine andere Bedeutung. Denn »unser sonnenlicht hat viele farben, weil die kinder unserer sonnenlicht-grundschule auch viele farben haben, ganz bunt sind und aus vielen ländern […] kommen«. Es geht hier nicht allgemein um das Sonnenlicht als Naturerscheinung, sondern um ein spezifisches Sonnenlicht, nämlich unseres. Dieses eine Sonnenlicht bekommt dadurch eine einzigartige Bedeutung. Denn unser Sonnenlicht hat nur deshalb viele Farben, »weil 80 Vergleiche Böhme (2001: 70) in Anlehnung an Barthes’ Bestimmung mythischer Texte (1964).
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die kinder unserer schule auch viele farben haben«. Das Farbenspektrum des Sonnenlichts wird hier also zum Resultat der unterschiedlichen Farbigkeiten der Kinder. Die ›Farben der Kinder‹ stehen dabei wiederum symbolisch für ihre ›kunterbunten‹ kulturellen und nationalen Herkünfte. Das heißt aber auch, dass diese Grundschule nur deshalb eine Sonnenlicht-Grundschule sein kann, weil die Schüler, die sie besuchen, diese besonderen Eigenschaften mitbringen. Die mythische Konstruktion ist somit speziell auf das Einzugsgebiet abgestimmt und intendiert, diesem gerecht zu werden. Demzufolge kann vermutet werden, dass der Name der Schule selbst gewählt ist. Die Stellung des Mythos als konstitutiver Bestandteil des Schulnamens könnte als Hinweis für die enorme Dimension der imaginativen Bewältigung der Bedrohung und Verunsicherung der Institution durch das soziale Umfeld gewertet werden. Das Sonnenlicht ist emotional positiv besetzt. Sinnbildlich ist jedes einzelne Kind aufgrund seiner besonderen Farbigkeit Teil dieser schönen Erscheinung. Gleichzeitig werden so die einzelnen Farben zusammengeführt, die nun wieder das gesamte Lichtspektrum abbilden. Die Idee scheint die Vereinigung des fragmentarisch Differenten zu einem durch die Schule zusammengeführten harmonischen Ganzen zu sein. Dadurch wird wiederum die Differenz dessen betont, was die Kinder in der Schule sein können und was sie im Alltag sind, nämlich potenzielle Vervollkommnung versus fragmentarische Endstation. Darüber hinaus verbindet sich im Bild des Sonnenlichts die der Schule zugrunde liegende Profilierung als kunstbetonte Schule mit der Integrationsabsicht. Die multikulturellen Unterschiede zwischen den Kindern werden zu Farbunterschieden umgedeutet. Damit wird auch eine Gemeinsamkeit betont: alle sind Farben, bzw. alle sind Menschen und insbesondere alle sind Kinder, die sich nur in ihren farblichen Ausprägungen unterscheiden. Diese Allegorie funktioniert aufgrund der gängigen Möglichkeit der Differenzierung verschiedener Farbigkeiten der Haut. Durch diese geschickte Transformation der Multikulturalität in das Farbenspektrum des Lichts gelingt es der Schule, über den Mythos des Sonnenlichts gleichzeitig ihre besondere Kompetenz als kunstbetonte Grundschule gegenüber dem Einzugsgebiet zu legitimieren. Allerdings liegt auch genau an dem Punkt der Gleichsetzung von Kulturen und Farben die kreative mythische Konstruktion. So wird interessanterweise gerade diese Stelle, in der der Lösungsentwurf des Redners in einem mythisch imaginären Entwurf kulminiert, zum Einfallstor für reale Krisen. Wie herausgearbeitet werden konnte, kommt der Schulleiter insbesondere bei dem Versuch die ›Farben‹ Nickel, Silber und Gold entsprechend seiner eigentlichen Absicht in ein Bild von Sonne, Licht und Umfeld zu integrieren, an seine konstruktiven und imaginativen Grenzen. Obwohl er durchaus auch, wie er es
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nach der Nennung von »rosa« getan hatte, z.B. einen mit Gold und Silber beladenen Wagen durchs Bild hätte fahren lassen können, etc. Der Mythos ist jedoch in dem Bild des Sonnenlichts so festgezurrt, dass im Grunde keine derartige Öffnung mehr möglich ist. Folglich zeigen sich an dieser Stelle strukturelle Schwierigkeiten und Inkonsistenzen bezüglich der mythischen Überbrückung der Differenzen zwischen den schuloppositionellen Bedingungen des Umfeldes und der Imagination der Einheit trotz Differenz. Der Konflikt, der dadurch für die Schule entsteht, wird durch einen Rückbezug auf in der traditionellen Moderne verbürgte und kanonisierte Wissensbestände gelöst, wodurch die Schule auf der symbolischen Ebene ganz deutlich zeigt, welcher dominanten gesellschaftlichen und kulturellen Realität sie verpflichtet ist. Der Mythos soll die Kluft zwischen den Milieus der sozialen Umwelt und dem Milieu der Schule in einem gemeinsamen imaginären Entwurf überbrücken, aber diese Kluft bricht an den Stellen umso härter auf, an denen sich die einzelnen Akteure nicht auf die Fiktion einlassen – oder einlassen können –, obwohl sie es wollen. Damit zeigen sich an dieser Stelle institutionelle Schließmechanismen für diejenigen, die über das ›Grundfarbenspektrum‹ hinausreichen oder sich aus anderen Gründen einer solchen Einordnung sperren. Diese lassen sich nicht in den von der Schule, auf der Grundlage kindlicher Gestalt- und Formbarkeit aufruhenden schöpferischen Entwurf eines erfolgreichen Schülers integrieren.
4.3.6 Die strukturelle Ausgrenzung der Familien Während die Institution die Kinder in ihren Krisenlösungsentwurf einbindet, bleiben die Eltern, die Freunde und die Familien Teil der für die Institution krisenhaften äußeren Realität. Das wird insbesondere in den Anfangssequenzen deutlich, in denen die zahlreiche Anwesenheit von Erwachsenen Freunden und Familienmitgliedern als Repräsentanten des Umfeldes zu einer manifesten Krise der Institution selbst führt, die erst später durch den ausschließlichen Bezug auf Kinder aufgelöst werden kann. Die strukturelle Ausgrenzung zeigt sich indessen konkret an der Begrüßung der Eltern und Freunde. Die ihnen zugewiesene Rolle und Aufgabe besteht ausschließlich darin, die Vorgänge zwischen Kind und Institution nicht zu stören, sondern bestenfalls die Absichten und Ziele der Schule solidarisch zu unterstützen. Das heißt aber auch, dass von ihnen erwartet wird, dass sie die von der Schule intendierten umfassenden Ablösungs- und Emanzipationsprozesse der Kinder aus den Herkunftsmilieus zulassen. Diese Rolle ist durchaus eine Bedrohung für die Eltern, denn sie bedeutet im Fall des Gelingens wenigstens eine Entfremdung, wenn nicht gar den Verlust der Familienbeziehung. Insofern wird die Kluft zwischen Schule und Umfeld zu einer potenziellen Kluft zwischen Erwachsenen
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und Kindern innerhalb der Familien. In dieser Rollenzuweisung steckt sehr viel Konfliktpotenzial, wenn die Eltern, wie bereits vermutet wurde, aufgrund ihrer lebensweltlichen Orientierung eine solche umfassende Bedeutung und Kompetenz von Schule und Schulbildung nicht teilen. Da es sich nun bei dem Umfeld der Schule offenbar um ein multikulturelles handelt, ist ferner zu vermuten, dass die Schule hier in eine starke Konkurrenz zu bedeutenden kulturell-familiären Identitätskonzeptionen und Wissensbeständen tritt, die nicht nur zwischen denjenigen zum Konfliktpotenzial werden können, die um die Erziehungs- und Bildungshoheit über die Kinder ringen, sondern in der Folge möglicherweise auch zu einem Entscheidungskonflikt innerhalb des einzelnen Kindes. Gegen die hier vorgestellte Deutungsspur könnte bislang noch eingewendet werden, dass lediglich allgemein das natürliche in der Zukunft liegende Ende der Erziehungs- und Fürsorgebeziehung zwischen Erwachsenen und Kindern thematisiert wird, die pädagogisch die Möglichkeit der Höherbildung in sich trägt, deren Anwaltschaft sich die Schule zueigen macht. Um den demgegenüber sehr viel umfassenderen Anspruch der Schule noch deutlicher zu machen, werden im Folgenden zwei weitere Sequenzen herangezogen. Die Stellen entstammen dem Abschnitt der Eröffnungsfeier, in dem die inzwischen in Klassen eingeteilten Kinder mit den ihnen zugewiesenen Lehrern die große Gruppe verlassen und in die Klassenräume gehen. Der Rektor hatte aufgrund ›der Schwere der Schultüten‹ vorher entschieden, dass diese bei den Eltern verbleiben: R: … die eltern mit den schultüten bleiben bitte sitzen. An dieser Sequenz ist zunächst auffällig, dass die Eltern, auch wenn sie direkt angesprochen sind, weiterhin wie Kinder behandelt werden. Tauscht man das Subjekt, dann kann der Satz so wie er ist zu Kindern gesagt werden: ›Die Kinder mit den Schultüten bleiben bitte sitzen‹. In diesem Fall passt auch das Attribut der Schultüte zu der Person, die sie trägt. Die reale Situation sieht nun allerdings so aus, dass die Kinder ohne Schultüte mit den Lehrern in die Klassenräume gehen und die Eltern mit Schultüte auf den Bänken sitzen bleiben. Damit lassen die Kinder das zurück, was ihnen sozusagen für diesen besonderen Tag von den Eltern symbolisch mit auf den Weg gegeben wurde. Die Schultüte und ihr individuell zusammengestellter Inhalt, der meistens dazu dient, den Übergang von der Familienkindheit zur Schulkindheit zu erleichtern und durch die Beigabe von Leckereien zu versüßen. Die Tatsache, dass dieses Übergangsobjekt bei den Eltern verbleibt, deckt die Struktur auf: Das, was die Eltern den Kindern mit auf den Weg geben können und wollen, wird zurückgelassen, bzw. von der Institution zurückgewiesen. Damit wird
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sozusagen symbolisch jegliche Verbindung und Einmengung zwischen Schulkind und Familienkind abgewendet. Dass die Schule nun die völlige Zuständigkeit über die Kinder beansprucht, wird noch deutlicher in der Sequenz, die den Abschied zwischen Kindern und Eltern thematisiert:81 R: so, ihr dürft noch mal winken zu mama und papa . tschüss .. viel spaß, ihr habt jetzt eure erste, schulstunde Offensichtlich ist es an dieser Stelle bereits der Redner, der den Kindern sagt, was sie dürfen und was sie nicht dürfen. Die Szene würde ganz anders wirken, wenn z.B. gesagt worden wäre: ›Winkt doch noch mal eurer Mama und eurem Papa‹. Dann hätte der Redner die Kinder sozusagen zu einem angemessenen Abschied von ihren Eltern angehalten und damit auf deren besondere Bedeutung verwiesen. In dem hier vorliegenden Fall erlaubt er aber den Kindern den Abschied. Das heißt im Umkehrschluss, dass sich die Kinder nun nicht einmal mehr ohne sein ausdrückliches Einverständnis von ihren Eltern verabschieden dürfen. Das, was die Schule für sich beansprucht, ist demnach nicht eine Begleitung des stetigen Emanzipationsprozesses des Erwachsenwerdens, sondern die vollständige Übernahme der erzieherischen Autorität, die eigentlich den Eltern obliegt. Insofern ist der vollzogene Abschied nicht nur ein Abschied für eine bestimmte Zeit, sondern ein Abschied von dem, was bisher das Leben bestimmte. Was nun in der Schule mit den Kindern geschieht, die erste Schulstunde – propädeutisch für die kommende Schulzeit – entzieht sich dem Zugriff der Eltern.
4.3.7 Die Erscheinung der Kunst in der Schulkultur Ohne explizit thematisiert worden zu sein, spielt die Kunstbetonung der Schule in der Bestimmung der Schulkultur auf mehreren Ebenen eine bedeutsame Rolle. Anhand der Rekonstruktion der Einschulungsfeier konnte herausgearbeitet werden, dass das Krisenlösungsversprechen nicht nur auf die Kunst, z.B. als Mittel zum Zweck zurückgreift, sondern in sich bereits ästhetisch strukturiert ist. Das zeigt sich gestaltschließend insbesondere in der Passage, die die kommende Schulzeit als 81 Man könnte vermuten, dass nun auch die Eltern zu Schülern werden und über diese Rolle auch in die Institution integriert werden. Das entspricht jedoch nicht dem Fortgang des Protokolls, in dem im Folgenden, nach der Verabschiedung der Kinder, die Krise in Form starker Lautstärke und Unaufmerksamkeit der verleibenden Eltern wieder aufbricht. Der Rektor fleht zum Schluss wiederholt gleichsam um Ruhe, um mit seinen Erläuterungen für die Eltern beginnen zu können.
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»aufregend« beschreibt. Der Redner entwirft an dieser Stelle als auktorialer Erzähler eine Abenteuergeschichte. Die Schulzeit wird zur realitätsentlasteten Fiktion und die Schule zu einem Schonraum vor dem Ernst des Lebens. Reale existenzbedrohende Krisen finden dort nicht statt, denn die Figuren in kindgemäßen Abenteuergeschichten bestehen in der Regel die auf sie zu kommenden kognitiven und emotionalen Herausforderungen. Das bedeutet, dass zwar Krisen stattfinden und durchlebt werden, jedoch in einem ästhetisch unabhängigen Modus der Krise durch Muße. Im Gegensatz zu dem real bedrohlichen Umfeld befinden sich die Kinder in der Obhut der Schule also in Sicherheit. Aufgrund der integrativen Kraft des Redners, die zu einer umfassend erfolgreichen Charismatisierung dieses Krisenlösungsversprechens führt, nähert sich diese Beziehung strukturell der symbiotischen Mutter-Kind bzw. Eltern-Kind Beziehung. Damit kann in Anlehnung an Oevermann (2004: 168f.) festgehalten werden, dass die Form der Krisenbewältigung, die die Schule gemeinsam mit den Kindern anstrebt, dem Modus der ästhetischen Erfahrung zuzurechnen ist. Die Krise durch Muße und damit die ästhetische Erfahrung sind zwar ein Teil von Praxis, aber als mußevolle, aus dem dominanten Strom der praktischen Tätigkeiten herausgelöste, der Routine enthobene und damit handlungsentlastete Praxen (ebd.: 167). Oevermann bezeichnet die ästhetische Erfahrung gar als die Urform von Erkenntnis, »die Erkenntnis in vollem Sinne nur sein kann, weil sie sich um ihrer selbst willen vollzieht« (ebd.). Gerade Kinder, je jünger sie sind, eignen sich nun im Idealfall die Welt um sie herum im Modus der ästhetischen Erfahrung an, denn sie befinden sich durch den symbiotischen Schutz der Eltern, vor allem der Mutter, »ständig und ganz wie von selbst« in diesem Zustand der Muße. Sie bewältigen in ihrer frühen Sozialisation zwar durchaus Krisen, aber gleichsam in einem Verhältnis der Entlastetheit von realen Verstrickungen. Wird diese Selbstverständlichkeit aufgrund »mütterlicher Pathologie, mangelnder Selbstverständlichkeit der Symbiose oder materiell einschränkender bzw. destruktiver Bedingungen« beeinträchtigt, kann später die »souveräne Basis« für einen »strukturellen Optimismus« fehlen (ebd.: 169; vgl. Kap. 2.2). Die Schule greift also angesichts des vermeintlich stark krisenhaften sozialen Umfelds, in dem sie sich befindet und aus dem die Kinder zu ihr kommen, gleichsam intuitiv auf eine Profilierung zu, die eine Realitätsentlastetheit wieder herstellen soll, die den Kindern in ihren Herkunftsfamilien mutmaßlich fehlt. Interessanterweise soll die Schule damit zu dem Schonraum werden, der den Kindern unnötige traumatische Krisen erspart und dessen Errichtung und Aufrechterhaltung eigentlich die Aufgabe der Eltern ist. Darin liegt auch die umfassende Ansprüchlichkeit der Schule auf die Kinder und die strukturelle Ausgrenzung der Eltern begründet. Der strukturelle Aufbau von Vertrauen in die Lebenswelt – mit dem
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Glauben daran, dass es im Zweifelsfall gut geht, und dem sich daraus bis zur Adoleszenz entwickelnden Selbstvertrauen – wird in die Schule hineinverlagert, wodurch hypothetisch vermutet werden kann, dass im gelingenden Fall auch Vertrauen in die Schule entsteht. Die Profilierung birgt daher ein starkes kompensatorisches Moment, sozusagen ein Nachholen der Grundvoraussetzungen für einen dadurch erst möglich werdenden Lern- und Erkenntnisprozess. Im gelingenden Fall kommt die Schule damit ihrer ursprünglichen Bedeutung als Ort der Erkenntnis und des Lernens um seiner selbst willen ausgesprochen nahe (vgl. Kap. 2.5). Darüber hinaus verbürgt die Schule in der Einschulungsfeier ihre Kunstbetonung und ihre ästhetische Struktur in der Auswahl der Charismatisierungsformen. Anhand von Figuren (Kasper), Geschichten (Weihnachten, Geburtstag) und Narrativen (Abenteuererzählung) werden ästhetische Übergangsmomente erschaffen, die den Weg in die Schulkultur der Krise durch Muße ebnen. Die gewählten Formate knüpfen geschickt an kindliche Erfahrungsräume an. Mit der damit nachgewiesenen ästhetischen Struktur des Krisenlösungsversprechens kann außerdem die in Abschnitt 4.3.4 (S. 172f.) rekonstruierte Strukturproblematik der Überblendung des Schulisch-Realen exakter begründet werden. Wenn die Schule zu einem kindgerechten Schonraum der Krise in Muße wird, dann bedingt dieser kulturelle Charakter gleichsam die Ausblendung der potenziell krisenhaften Antinomien des pädagogischen Handelns, um den Aufbau des strukturellen Vertrauens und damit den Glauben an das gute Gelingen nicht zu gefährden. Innerhalb der Rede des Schulleiters findet sich bestimmbar die einseitige Auflösung und Ausdeutung (a) der Differenzierungsantinomie, (b) der Routineparadoxie und (c) der Antinomie zwischen Autonomie und Heteronomie. (a) Die Schule verspricht nachweislich die Integration und die erfolgreiche Bewährung aller. Als ein Ort, an dem Erkenntnis um ihrer selbst willen und unter symbiotischem Schutz stattfindet, ist die Bedingung für diese Bewährung, wie herausgearbeitet werden konnte, bereits dann erfüllt, wenn die Kinder sich auf die enge Beziehung mit der Schule einlassen. Denn in diesem Fall ist ein reales Scheitern nicht mehr möglich. Das Lernen selbst unterliegt dann anscheinend nicht mehr der Bewertung, sondern vollzieht sich in einem beurteilungsfreien Raum im Rahmen der prinzipiellen Anerkennung (und Liebe?) der institutionellen Akteure. Eine solche Schulkultur blendet zwangsläufig das Moment des Auslesens als Teil der Differenzierungsantinomie aus. Hypothetisch kann vermutet werden, dass eine ausgeprägte Leistungsorientierung bei Lehrern und Schülern mit dieser Schulkultur in Konflikt geraten muss.
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(b) Als Fürsorgebeziehung, die die Bindung zwischen Eltern, Familie und Kind ersetzt, muss die Schule darüber hinaus eine enge persönliche Zuwendung versprechen, die institutionelle Routinen nicht zulässt. Diese enge persönliche Bindung birgt die Gefahr eines riskanten Abhängigkeitsverhältnisses zwischen Schüler und Schule sowie ein vergrößertes Potenzial für persönliche Enttäuschungserfahrungen auf Schüler- und auf Lehrerseite. (c) Gleichsam wird unproblematisch eine heteronome Beziehung zu den Kindern etabliert, denn diese ist quasi die Grundvoraussetzung für das Gelingen der ästhetisch strukturierten Schulkultur als Krise durch Muße. Die unnötigen traumatischen Krisen des Außen sollen so weit gemildert werden, wie es geht. Darin liegt zwar der Ermöglichungsgrund von Lernen auf der Basis einer positiven Weltzuwendung überhaupt, gleichzeitig besteht aber die bereits erwähnte Gefahr, dass die Genese von Autonomie durch die Behinderung einer selbsttätigen Auseinandersetzung mit Widerständigkeiten und damit der selbstständigen Krisenbewältigung erstickt wird (vgl. ebd.: 170). Der dominante Schulmythos, der in dem Begriff des Sonnenlichts kulminiert, legitimiert nun diese schulkulturelle Ausformung in Anbetracht der Aufgaben und Probleme, mit denen die Schule an ihrem besonderen Standort konfrontiert ist. Die Problematik, aber auch die besondere Chance der Schule, als »kunstbetonte« zu bestehen, liegt nach der mythischen Konstruktion insbesondere in der großen Fülle und Heterogenität der Nationalitäten und Herkunftskulturen begründet, aus denen die Kinder des Einzugsgebiets stammen. Der dominante Schulmythos führt, wie herausgearbeitet wurde, nun quasi den Beweis dafür, dass die Schule aufgrund ihres kunstbetonten Schulprofils in besonderer Weise in der Lage ist, ihr Krisenlösungsversprechen einzulösen, da sie über ein spezifisches Expertentum für die sich ihr stellenden Aufgaben verfügt. Denn sie kann nur deshalb aus den Farben, die hier die individuellen Herkünfte der Kinder symbolisieren, ›ganz viel machen‹, weil sie eine »kunstbetonte« Grundschule ist und dadurch, entsprechend dem bereits rekonstruierten Krisenlösungsversprechen in der Lage, Lernprozesse zu ermöglichen. Das spezifische Expertentum besteht dabei in einer Art ›schöpferischer Kompetenz‹: »und außerdem machen wir mit den farben ganz viel, die sonnenlichtgrundschule ist eine kunstbetonte (betont) grundschule, und wir malen ganz viel, wir basteln ganz viel, aber wir lernen auch . lesen, rechnen und schreiben, machen musik und sport .«
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Damit wird die Schule zum Gestalter, Schöpfer und Künstler, und die Kinder werden zum Material, mit dem die Schule sich innerhalb des ästhetischen Schonraums in einen gestalterischen Prozess begibt, aus dem potenziell etwas »Neues« entstehen kann. An dieser Stelle wird somit auch im Kontext des Schulmythos der Ablösungsprozess als Überwindung der vermeintlichen Krise thematisiert, der in jedem Fall eine Bedingung der Neuschöpfung zwischen Schule und Schüler ist. Mit den Kindern ›macht‹ die Schule vieles, was diese einerseits in die Nähe der ›Farben‹ rückt und sie andererseits diese Farben verwenden lässt, nämlich »malen« und »basteln«. Unmittelbar im Anschluss folgt mit dem »aber« jedoch eine Einschränkung, die sich interessanterweise auch auf Musik und Sport ausdehnt, wodurch wiederum die profilnahen und die profilfernen Fächer ausgewiesen werden. Ansonsten betrifft diese Einschränkung die zentralen Kompetenzen, deren Erwerb eigentlich mit dem Eintritt in die Grundschule beginnt: Lesen, Rechnen und Schreiben und damit den Erwerb des vermittelten Ausdrucks, der die in der familiären Erziehung erlernte Muttersprache um die künstlichen Formen der Schriftsprache erweitert (vgl. Benner 2002: 73). Neben dem Angenehmen des ästhetischen Ausdrucks, der als den Anlagen, Möglichkeiten und Bedürfnissen der Kinder nah ausgewiesen wird, findet demnach auch noch das schulische ›Pflichtprogramm‹ statt, nämlich Lesen, Rechnen und Schreiben lernen. Damit enthält diese Sequenz eine Wertung von angenehm und unangenehm. Das Angenehme wird aber nicht mit dem Unangenehmen verbunden, sondern die institutionellen gesellschaftlichen Pflichtübungen schränken, das ›Schöne‹ ein, das die Schule mit den Kindern ›macht‹. Dennoch ist es an dieser Stelle keine Verlagerung der Beeinträchtigung in ein gesellschaftliches Außen, das die Schule zwingt, den Kindern Lesen, Rechnen und Schreiben beizubringen, sondern der Hinweis auf das eigentliche Ziel, das die Schule mit ihrem Konzept verfolgt. Dass diese Zielbestimmung als Einschränkung vorgebracht wird, verweist auf außerhalb des ästhetischen Schonraums doch statthabende krisenhafte Bewältigungsprozesse und damit auf Schwierigkeiten in der Vermittlung zwischen der Kunstbetonung als Krise durch Muße und dem gesellschaftlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule. Als Ausdruck dieses Dilemmas konnte bereits die Sequenz ausgewiesen werden, in der die Farben des Sonnenlichts genannt werden sollen. Trotz der vordergründigen Integrationsabsicht auch der falschen Farben, die natürlich wiederum symbolisch für die einzelnen Kinder stehen, weicht der Rektor nicht, z.B. im Sinne eines pluralistischen Zulassens unterschiedlicher Weltdeutungen im künstlerischen Ausdruck, von dem kanonisierten Wissensbestand ab, dass das Sonnenlicht nur aus ganz bestimmten Farben besteht, die auch eindeutig zu benennen sind. An dieser Stelle setzt sich das naturwissenschaftliche Wissen gegenüber einer individuellen
4.4 Das Verhältnis zwischen Schulprogramm und Schulkultur
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künstlerisch-kreativen Ausdrucks- und Herangehensweise durch. Hieran zeigt sich zum einen die dilemmahafte Zuspitzung, die in solchen Situationen aus der Kunstbetonung einer Regelschule resultiert. Es zeigt sich aber auch deutlich, dass der Rektor in einer solchen Situation klar an seinem gesellschaftlichen Bildungsauftrag festhält. Die Integrationsabsicht richtet sich damit in ihrer Zielperspektive auf die Ermöglichung des erfolgreichen Durchlaufs durch das schulische Berechtigungswesen. Eine prinzipiell mögliche, grundlegend kritische Ausrichtung einer Schulprofilierung, deren Kern die Kunst ist, ist damit nicht Teil der Schulkultur. Die Kritik bzw. Emanzipationsabsicht richtet sich, wie bereits herausgearbeitet, vielmehr selbstbewusst gegen die wahrscheinlich schulbildungsfernen und aus diesem Grund als defizitär gedeuteten Herkunftsbedingungen der Kinder. Die Leistung wird darin gesehen, mithilfe der kompensatorischen Herstellung eines das Lernen in Muße ermöglichenden symbiotischen Verhältnisses den Kindern die Möglichkeit zu geben »die Grenzen ihrer Herkunftsmilieus« (Benner/Tenorth 1996: 13) zu überschreiten und ihnen gegen die »Zumutungen ihrer sozialen Herkunft« (ebd.) den Zugang zu Lern- und Bildungsprozessen zu ermöglichen, dies allerdings nicht im Horizont einer individuellen kreativen Selbstverwirklichung, sondern im Sinne einer durch die Schule vorbereiteten Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Allerdings geht diese bildungstheoretisch richtige und zu unterstützende Absicht an dieser Schule mit einem sehr umfassenden Zugriff auf die Kinder einher. Diese müssen jedoch auch gegen die Präokkupationen der Schule selbst in die Lage versetzt werden, ihre eigenen Lebensformen zu wählen. Ästhetiktheoretisch ließe sich hier noch einwenden, dass die ästhetische Erfahrung immer ein reflexives Moment in sich birgt und insofern eine Profilierung, die diese ermöglicht, von vornherein der Gefahr einer Einschränkung von Autonomie entgeht. Diese Vermutung kann jedoch erst nach der Rekonstruktion der Schülerpositionen in ihrem Gehalt bekräftigt oder widerlegt werden.
4.4 Das Verhältnis zwischen Schulprogramm und Schulkultur Das Schulprogramm der Sonnenlicht-Grundschule besteht seit dem Ende der 1980er-Jahre als kunstbetontes Konzept. Auch aufgrund des frühen Zeitpunkts dieses Profilierungsprozesses, zu dem ausgearbeitete Arbeitsanweisungen zur Erstellung von Schulprogrammen behördlicherseits noch nicht vorliegen konnten, sind die sechs zu vollziehenden »Arbeitsschritte«, die von Gruschka u.a. (2003) für die Erstellung eines Schulprogramms herausgearbeitet wurden (s.o., S. 45f.), in der Profilierung nicht explizit repräsentiert. Allerdings kann festgehalten werden, dass
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die Schule die kunstbetonte Profilierung als Reaktion auf ihre spezifischen Ressourcen und speziellen Bedingungslagen versteht. Auf die besonderen Anforderungen ihres sozialen Umfeldes als ausgesprochenem Brennpunktgebiet mit einem hohen und stetig steigenden Ausländeranteil regiert sie mit der Intention, für die Schüler, denen laut ihren Angaben wesentliche Voraussetzungen für eine gelingende Schullaufbahn fehlen, über einen Aspekt, der schön und positiv ist, ein Lernen in der Schule überhaupt erst zu ermöglichen. Und auch für die Schule selbst wird dieser Weg vom Rektor beschrieben als einer, der eine positive Einstellung zur Arbeit als Lehrer an diesem Schulstandort überhaupt erst ermöglicht. Als eine besondere Ressource, die sie zu nutzen verstand, verfügte die Schule bereits bei ihrer Gründung über einen hohen Anteil an ausgebildeten Kunstlehrern. Dieser hohe Prozentsatz an Kunstpädagogen ist der Schule auch während ihres kontinuierlichen Wachstumsprozesses erhalten geblieben. Als weitere Ressource kann der die Schule umgebende urbane Raum angesehen werden, der kulturell vielfältige Möglichkeiten bietet. In einem gewissen Rahmen hat demnach durchaus eine Ist-Analyse stattgefunden, aufgrund deren die Schule angesichts ihres schulischen Umfelds bestimmte Maßnahmen zur Entwicklung eines kunstbetonten Schulprogramms getroffen hat. Neben der Ausarbeitung eines pädagogischen Konzepts wurden entsprechende Formen der sozialen Organisation erarbeitet und umgesetzt. Wesentliche Aspekte, die die Kunstbetonung ausmachen, sind dabei über die Jahre beibehalten worden. Daneben findet sich jedoch auch ein stetiger Wandlungsprozess der Schule, die zum einen konstant an der Umsetzung des Profils arbeitet zum anderen aber auch gezwungen ist, sich mit immer neuen Veränderungen, insbesondere im bildungsorganisatorischen Bereich, auseinanderzusetzen. Kann in Bezug auf die Sonnenlicht-Grundschule nun aber tatsächlich davon gesprochen werden, dass es sich um eine »Problemlöseschule« (s.o., S. 46), handelt, die eine reflexive Entwicklung von Schulkultur leistet, oder führt die anspruchsvolle Profilierung entsprechend den Prognosen von Helsper u.a. (2001) nur zu einer Steigerung der Bewährungsdynamik und einem damit zusammenhängenden gesteigerten Risiko des Scheiterns an den erhöhten Ansprüchlichkeiten, die in diesem Fall wiederum einen starken Schulmythos notwendig machen würden? Als ein erstes Ergebnis kann festgehalten werden, dass in dem vorliegenden Fall der Schulprogrammentwicklung die besondere inhaltliche Profilierung auch spezifisch in den drei zu unterscheidenden Ebenen der Schulkultur nachweisbar ist. Das Schulprogramm verbleibt nicht allein auf der Ebene des Imaginären. Insofern kann an dieser Stelle aufgrund der Anlage der Untersuchung zwar kein Transformationsprozess als Ergebnis einer durchgeführten Schulprogrammentwicklung nachgewiesen werden, da die Schule seit ihrer Gründung mit einer kunstbetonten Profilierung
4.4 Das Verhältnis zwischen Schulprogramm und Schulkultur
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arbeitet, aber eine anscheinend nachhaltige Prägung der Schulkultur als einer Kultur der strukturellen Ermöglichung von Krisen durch Muße.
4.4.1 Reale Ausgestaltung der kunstbetonten Schulkultur Neben den nationalen Strukturen des Schulsystems, die der Ebene des Realen zuzuordnen sind, sowie den regionalen und landesspezifischen Ausformungen übergreifender Strukturvarianten, die in der vorliegenden Studie rekonstruktiv nicht berücksichtigt werden konnten, ist die Ebene des Realen der Schulkultur der kunstbetonten Grundschule durch Strukturierungen geprägt, die ehemals auf der Ebene des Symbolischen durch das Handeln einzelschulischer Akteure entstanden sind. Die Aushandlungsprozesse, die in der Auseinandersetzung mit den rahmenden gesellschaftlichen Strukturierungen profilorientiert stattgefunden haben, sind nun wiederum als konkret ausgestalteter Rahmen für das Handeln der schulischen Akteure konstitutive und zumindest auf Zeit institutionalisierte Regeln übergreifender Ordnung. Als reale Ausgestaltung der kunstbetonten Schulkultur werden demnach alle Strukturmomente gefasst, die die konkrete curriculare und schulorganisatorische Ausgestaltung des Schulprogramms ausmachen. Das sind beispielsweise der Kunstunterricht in Doppelstunden, der ausschließlich mit zwei Kunstlehrern stattfindet, der im künstlerischen Bereich stattfindende Wahlpflichtunterricht, die Zusammenarbeit mit Künstlern, die monatliche Fachkonferenz im Fach Kunst, die jährliche Projektwoche sowie die architektonische und die künstlerische Gestaltung des Schulhauses etc. Alle diese Elemente gehören zu einer einzelschulspezifischen Konstituierung von Strukturvarianten in Bezug auf das kunstbetonte Schulprofil und weisen dieses als konstitutiv in die Ebene des Realen der Schulkultur eingegangenes aus.
4.4.2 Imaginärer Horizont und symbolische Verbürgung Die imaginäre Ebene der Schulkultur, die als Selbstverhältnis der Institution bzw. der kollektiven Akteure zu sich selbst zu fassen ist, wurde im Rahmen der Analysen über unterschiedliche ›Selbstbilder‹ und damit in differenten Facetten eingeholt. Durch den Einbezug der schriftlichen Fixierung des Schulprogramms sowie des Experteninterviews mit dem Rektor kann nun an dieser Stelle auch das Verhältnis zwischen diesen Selbstbildern der Institution und dem Symbolischen als Ausdruck der Strukturmomente und der latenten Sinnstrukturen der Schulkultur bestimmt werden.
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Anhand der Analyse lässt sich zeigen, dass eine scharfe Trennung zwischen Imagination und Symbolik empirisch nicht umfassend haltbar ist. Vielmehr wird der imaginäre Horizont in dem Fall dieser Grundschule auf der Ebene des Symbolischen spezifisch gebrochen. Damit ergibt sich eine latente Sinnstruktur der Schulkultur, die die Selbstbilder der Institution, die in schriftlicher Form und in dem Experteninterview mit dem Rektor vorlagen, zwar enthält, aber gegenüber diesen wirksamen Außendarstellungen den darüber hinaus subjektiv nicht präsenten Sinn der Kunstbetonung weiterführend enthüllt: Die schriftliche Fassung des Schulprogramms enthält in der vorliegenden Form einen sehr weit gesteckten Rahmen an pädagogischen Zielen und Wirkungserwartungen. Neben Vorstellungen zu einer künstlerisch-ästhetischen Alphabetisierung treten Ideen möglicher Transfereffekte einer verstärkten künstlerischen Tätigkeit. Es findet sich eine kritische Haltung gegenüber der zunehmenden Medialisierung, der mit der Aufwertung der unmittelbar praktischen Tätigkeiten der Kinder in der Schule begegnet werden soll, und damit eine Kritik an der zunehmenden Rationalisierung und der Entfremdung des Subjekts von sich selbst und seiner unmittelbaren Umgebung in der fortschreitenden Moderne. Die Möglichkeiten von Kunsttherapie sind angesprochen und es zeigt sich aber auch eben jene Spur, die im Folgenden als in die Schulkultur und den dominanten Schulmythos der Schule eingegangene nachzuweisen sein wird: die Vorstellung, dass die Kinder sich im Kunstunterricht selbst darstellen, dass diese Selbstdarstellungen anerkennungswürdig sind und dass dadurch sowohl die Kinder zur Schule als auch die Lehrer zu den Kindern ein positives Verhältnis aufbauen, das Lernen erst ermöglicht. In der schriftlichen Fixierung stehen allerdings alle Punkte gleichberechtigt und relativ unverbunden nebeneinander. Erst in einer Betrachtung, die die Ergebnisse der Rekonstruktion der Einschulungsfeier mit einbezieht, wird deutlich, welche Aspekte des Imaginären Teil der dominanten Schulkultur der kunstbetonten Grundschule geworden sind bzw. welche Ideen und Imaginationen nicht weiter auftauchen. In die schriftliche Fassung des Schulprogramms sind demnach als Folge eines Aushandlungsprozesses noch vielfältige pädagogische Vorstellungen und Ideale eingegangen, die die unterschiedlichen an diesem Aushandlungsprozess beteiligten schulischen Akteure mit einer kunstbetonten Schule verknüpften.82 Dieser heterogene imaginäre Horizont wird in der dominanten Schulkultur der Schule nicht verbürgt. Dies zeigt, dass auch eine engagierte Einzelschule nicht in der Lage ist, eine solche Vielfalt an pädagogischen Zielperspektiven und damit verknüpften Wir82 Die schriftliche Aufnahme der Kunsttherapie zeigt beispielsweise, dass wahrscheinlich eine oder mehrere LehrerInnen mit dieser Form des künstlerischen Arbeitens vertraut gewesen sind. Aus bestimmten Gründen, z.B. Schulwechsel der Lehrer, wurde dieser Aspekt nicht weiter verfolgt.
4.4 Das Verhältnis zwischen Schulprogramm und Schulkultur
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kungserwartungen schulkulturell umzusetzen. Stattdessen setzen sich einzelne Aspekte nachhaltig durch. Die in der Ausformulierung eines Schulprogramms sich entwickelnde Absicht, all diesen Aspekten gerecht zu werden, führt vermutlich vielmehr zu Konflikten zwischen den einzelnen schulischen Akteuren, deren individuelle Interessen und Ideen in der dominanten Schulkultur mehr oder weniger gut repräsentiert sind. In dem Experteninterview mit dem Schulleiter zeigt sich der imaginäre Horizont bereits sehr viel konkreter, obwohl auch hier noch versucht wird, die imaginären Ränder des Profils teilweise einzuholen (vgl. Abschnitt 4.1.5, S. 137ff.). So beschreibt der Rektor die wesentlichen Züge des kunstbetonten Arbeitens an der Regelgrundschule als einen Prozess der Bestätigung und Anerkennung, der, da er in der Schule stattfindet, die Kinder erst zu einem schulischen Lernen hinführt und darüber hinaus schließlich eine besondere Leistungsmotivation, Leistungsbereitschaft sowie auch tatsächliche schulische Leistungen ermöglicht. Der ästhetische Gehalt des Profils erscheint allerdings noch eher diffus. Der Rektor baut im Wesentlichen darauf auf, dass die künstlerische Kompetenz nicht von einer entwickelten Sprachkompetenz abhängt, die er bei den Schülern seiner Schule aufgrund der sozialen Lage und der Migrationshintergründe als eher defizitär einschätzt, und dass die Kunst als Ausdruck des ›Schönen‹, das nicht einer rationalisierten Leistungsbewertung unterliegen kann, eine Anerkennung des individuellen Ausdrucks der Kinder unabhängig von ihrer Herkunft ermöglicht. Die Rekonstruktion der latenten Sinnstrukturen der Schulkultur zeigt nun jedoch die spezifische Verbürgung und damit die besondere Funktion und den Sinn dieser imaginären Entwürfe: Die Existenz der Schule als moderne staatliche Regelschule wird durch das überaus schwierige Umfeld, das die Schule im Grunde strukturell in eine Krise der Sinnbestimmung stürzt, in Frage gestellt und gefährdet. Darauf reagiert die Schule mit einem ästhetisch strukturierten Lösungsentwurf, der sich ausschließlich an die Kinder richtet. Für sie soll die Schule zu einem Ort werden, der ihnen ermöglicht, die in ihnen als Kinder potenziell angelegten Entwicklungsmöglichkeiten und Lernfähigkeiten zu entfalten. In diesem Sinne sollen mutmaßlich fehlende familiäre Primärerfahrungen im Rahmen der Schulkultur der Krise durch Muße kompensatorisch ermöglicht werden. Das, was der Rektor in seinen individuellen Repräsentanzen als milieuunabhängige Anerkennung und Bestätigung des individuellen Ausdrucks fasst, zeigt sich in der konkreten Verbürgung deutlich als ein quasi mütterlicher Schutz durch die Schule, der als Ersatz für familiäre Bindung eine bedingungslose Liebe und Zuwendung enthält. Die Schule will quasi nachträglich diesen elterlichen Schonraum errichten, der zum einen Gelingenserfahrungen ermöglicht, um ein strukturelles Vertrauen in die Lebenswelt entstehen zu lassen, das
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nun aber dadurch, dass es in der Schule entwickelt wurde, bei den Kindern zu einem Vertrauen in ihre schulische Leistungsfähigkeit wird. Indem sie so die Grundvoraussetzungen für einen – dadurch erst möglich werdenden – schulischen Lernprozess der Kinder schafft, sichert die Schule gleichzeitig ihre eigene institutionelle Existenz. Was die Schule von ihrem breiten Programm in der dominanten Schulkultur verbürgt, ist damit im Wesentlichen tatsächlich der Modus der ästhetischen Erfahrung. Es geht nicht darum, dass die Kinder in möglichst vielen Einzelprojekten ästhetische Erfahrungen machen. Hingegen wird durch die Kultur der Schule, die stellvertretend für die Eltern einen Raum der Muße erschafft, jegliches schulisches Erleben und damit jede Erfahrung zu einer potenziell ästhetischen Erfahrung. Diese schulkulturelle Ausgestaltung zeigt sich auch in der Gestaltung und dem Aufbau des Schulhauses, das, wie beschrieben, an moderne museale Räume erinnert, die gleichermaßen zu einer kontemplativen, zweckentlasteten Wahrnehmung und Erkenntnis auffordern. Mittels dieser Kultur der Muße verbürgt die Schule die konzeptionelle Idee eines Schonraums, in dem die Kinder sozusagen zunächst zu sich selbst – als Kinder – kommen sollen, indem die Erfahrungen, die sie machen, nicht unmittelbaren Wertungen bzw. Entwertungen unterliegen, da sie zunächst auf Distanz zu möglichen Kriteriensystemen und Maßstäben bleiben und damit als Erfahrungen in Muße selbstgenügsam sind.
4.4.3 Der Schulmythos als ambivalente Legitimation der Realitätsentlastetheit Tatsächlich werden, entsprechend den Prognosen von Helsper u.a. (2001), in der symbolischen Ordnung der Schule deren reale Bedingungslagen und Krisen stark überblendet sowie mit einem starken Schulmythos überbrückt. Die Krise der Institution selbst wird nicht thematisiert. Stattdessen erscheint die prekäre Situation der Schule in dem Mythos des Sonnenlichts, der als Bestandteil des Namens der Schule das Ausmaß der Notwendigkeit imaginärer Überbrückung von Anspruch und Möglichkeit enthält, als prinzipiell bewältigt und diese Bewältigung darüber hinaus sogar als besonders gelungen. Das Ausblenden der Realität zeigt sich ferner in einer spezifisch einseitigen Bearbeitung einzelner schulischer Antinomien. Aus einer solchen kritischen Perspektive wäre zu schlussfolgern, dass auch diese Schule nicht in der Lage ist, ihre realen Krisen zu bewältigen und sich stattdessen in eine Steigerung der imaginären Bewältigung der Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit flüchtet. Dagegen ist jedoch eine weitere Deutungsspur anlegbar, über die der vorliegende dominante Schulmythos im Sinne einer kreativen institutionellen Imagination (vgl. Hels-
4.5 Kunstorientierung als konstruktive Krisenbewältigung?
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per u.a. 2001: 618) begriffen werden könnte. Die Entscheidung der Schule, angesichts ihrer sozialen Einbettung und der spezifischen Problemlagen ihrer Schüler mit einem kunstbetonten Schulprofil zu arbeiten, wurde bereits als intuitive Reaktion auf dieses Bedingungsfeld schulischen Arbeitens bezeichnet. Die Schule greift auf eine Profilierung zu, die das notwendige Überblenden des krisenhaften Umfeldes strukturell legitimiert, weil es als ästhetisches Profil nur verbürgt werden kann, wenn es jene Realitätsentlastung als Schonraum für Krisen durch Muße erschafft. Erst dadurch wird es ihr überhaupt möglich, an ihrem Bildungsauftrag festzuhalten, der in der modernen Gesellschaft im Horizont einer Höherbildung des Menschen und einer potenziellen Überschreitung der Bedingungen der Herkunftsmilieus angelegt ist. Das kunstbetonte Schulprofil legitimiert demnach das, was bei Helsper u.a. (2001) als prinzipiell problematisch angesehen wird: den Entwurf einer Gegenwelt, in der das außerschulisch Reale durch Imaginäres ersetzt wird (ebd.: 555) – nämlich den realitätsentlasteten Raum der strukturellen Ermöglichung von Krisen durch Muße. Erst dadurch ist diese Grundschule in jenem sozialen Brennpunkt in der Lage, überhaupt als Regelschule zu bestehen und ihren schulischen Auftrag zu erfüllen. Auf der anderen Seite gehen damit jene Probleme einher, die bereits mehrfach diskutiert worden sind: der Ausschluss des Nichtidentischen in Form der Ausgrenzung der Eltern und der Familien sowie die Notwendigkeit, dass die Kinder sich vollständig auf den Entwurf der Schule einlassen mit der Gefahr eines sich entwickelnden Abhängigkeitsverhältnisses.
4.5 Kunstorientierung als konstruktive Krisenbewältigung? Durch die bisherigen Analysen konnte die dominante Grundstruktur der symbolischen Ordnung der kunstbetonten Grundschule abgebildet werden. Der folgende Einbezug der Lehrerinterviews dient nun der Füllung dieses »Portraitgerüstes« (vgl. Helsper u.a. 2001: 643). Einzelne Perspektiven und Positionen aus dem Lehrerkollegium werden, in möglichst kontrastiver Anordnung, zunächst hinsichtlich ihrer individuellen Haltung zur Kunstorientierung der Schule abgebildet. Es zeigt sich dabei insbesondere die große Nähe, aber auch die große Ferne einzelner Mitglieder des Kollegiums zu dem bestehenden Schulprogramm. Die These, dass Schulkultur- und Schulprogrammentwicklungen keine konsensuellen Übereinkünfte in dem komplexen Gefüge der Einzelschule ermöglichen, ist hier eindrucksvoll zu zeigen und zu belegen.
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Neben dieser Ausdifferenzierung des Feldes wird der Fokus im Anschluss auf zwei zentrale, im Auswertungsprozess isolierte Kategorien bzw. ›Themenbereiche‹ gelenkt, die es ermöglichen, einen die bisherigen Rekonstruktionen weiterführenden Zusammenhang zwischen den Lehrerinterviews und der Fallstruktur der kunstbetonten Regelschule herzustellen, um so den schulkulturellen Möglichkeitsraum weiter zu erschließen (vgl. Helsper u.a. 2001: 646).
4.5.1 Varianten personeller Verbürgung des Profils – Lehrerpositionen im Feld Als eine offen profilferne Position ist die Haltung von Herrn Menck einzustufen. Auf die Frage, ob sich sein Selbstverständnis als Lehrer durch den Kontakt mit dem Profil gewandelt habe, antwortet er: »nein, gar nicht, überhaupt nicht, also ich grenz mich da relativ davon ab .. von der kunstsache«. Herr Menck hatte noch in der Vorwendezeit die Fächer Sport und Erdkunde studiert. Um als Lehrer in den neuen Bundesländern eingestellt zu werden, musste er nach der Wende sein zweites Staatsexamen nachholen und tat dies aufgrund eines persönlichen Kontaktes an der Sonnenlicht-Grundschule. Zum Zeitpunkt der Erhebungen arbeitet er seit 14 Jahren an der Schule. Kurz nach dem Ende seiner Ausbildung war er ein Jahr an einer anderen Grundschule angestellt, wurde aber auf eigenen Wunsch wieder zurückversetzt. Da er eigentlich für die Sekundarstufe I ausgebildet ist, vermutet er, dass er möglicherweise im Zuge kommender Umstrukturierungen wieder an eine andere Schule versetzt werden könnte. In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass er mit seiner momentanen Situation nicht zufrieden ist, »wobei ich es so sehe, dass es mich .. ja .. dann ist es halt so, dann wird einem so’n bisschen die entscheidung die man vielleicht im kopf hat, man könnte mal, ja, irgendwo abgenommen«. Insbesondere leidet er unter der Größe der Schule »mit diesem neubau und dieser riesenschule, vierzügig . also für mich ist das eigentlich so’n gewisser moloch der auf mich wirkt«. Er selbst engagiert sich intensiv im Sport-Bereich, aber weil »der kunstbereich doch aufgrund der ausrichtung des rektors doch so’n bisschen eben ’n steckenpferd darstellt«, beklagt er die unzureichende Anerkennung und Würdigung seiner Arbeit. Diese wird »schon mal als aushängeschild benutzt«, läuft aber »eben hier so vonseiten der schulleitung so’n bisschen am rande«. Diese deutliche Kritik wird dadurch eingeschränkt, dass neben der ihm fehlenden persönlichen Anerkennung seiner Leistung eine ausreichende materielle und organisatorische Unterstützung gegeben zu sein scheint: »aber es legt uns auch keiner steine in dem weg, also wir bekommen unsere mittel und so etwas läuft schon«. Das, was Herrn Menck nach eigenen Angaben an der Schule hält, ist zudem der gewisse »status«, den er sich über die Jahre erworben hat: »man arrangiert sich man kennt sich aus
4.5 Kunstorientierung als konstruktive Krisenbewältigung?
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man hat ’nen gewissen status, also was sport betrifft . man hat alle schlüssel man kennt den hausmeister man hat dies man hat jenes . das hält mich auch manchmal ab, äh, davon, vielleicht, sich woanders zu bewerben oder an ’ne andere schule zu gehen, weil das ist eben doch immer damit verbunden dass man irgendwo wieder .. neu anfängt«. Dieses Bedürfnis nach Anerkennung, Status, damit einhergehenden Befugnissen sowie der damit verbundenen Macht ist für ihn jedoch inzwischen aufgrund der Größe der Schule, in der er nicht einmal mehr alle Kollegen kennt, in einem befriedigenden Maße nicht zu erreichen: »also und damit ist auch, auch denke ich die stellung nicht mehr, nicht so, man ist dann nur noch ..doch .. ein sandkorn von vielen irgendwo im getriebe«. Einerseits will er das Risiko nicht eingehen, die erworbene Stellung zu verlieren, andererseits entspricht die Position, die er hat, nicht seinem ausgeprägten Bedürfnis nach Bedeutung. Dies zeigt sich auch an seinem Unterrichtsstil, der als konservativ-autoritär beschrieben werden kann. Das Leistungsniveau an der Schule betrachtet er als »relativ gering«, was hauptsächlich an dem »schülermaterial« liegt. Auf schwächere Schüler geht er allerdings kaum ein, sondern erwartet von ihnen, dass sie, wenn sie Schwierigkeiten haben, diese nach der Stunde äußern. Dann setzt er »sich auch noch mal in der pause hin«. Eine mögliche schulische Leistungssteigerung ist seiner Meinung nach aber hauptsächlich von dem Engagement der Eltern abhängig: »meistens funktioniert es immer dann, wenn die eltern dahinter stehen, wenn durch kontrolle eben auch aufgaben und zusatzaufgaben gelöst werden«. Herr Menck hält sich also weitgehend aus profilbezogenen Aktivitäten heraus, trägt aber mit seinem sportlichen Engagement doch zur Schulkultur bei. Darauf verweisen auch die vielen sportbezogenen Urkunden und Preise, die in der Einganghalle des Schulgebäudes ausgestellt sind. Dass er sich als ›Sandkorn im Getriebe‹ bezeichnet, macht deutlich, dass hier die dominante Schulkultur (das Getriebe) mit seinem individuellen Berufshabitus nicht harmoniert. Das wird insbesondere an der starken, die Eltern mit einbeziehenden Leistungsorientierung deutlich, die in dieser Ausrichtung mit dem herkunftsunabhängigen Integrationsversprechen der Schule kollidieren muss. Allerdings handelt es sich nicht um eine offene Opposition, die riskant gekoppelt sein könnte mit einem Verlust des bislang erreichten Status innerhalb des Kollegiums. Im Gegensatz zu Herrn Menck ist Frau Karl erst seit einem Jahr an der Schule beschäftigt und insgesamt, seit ihrer schon länger zurückliegenden Ausbildung, erst seit drei Jahren im Schuldienst. Frau Karl hat vor kurzem auf eigene Initiative die Schule gewechselt, denn sie wollte »sehr gerne mmh .. ’ne schule haben .. die sich pädagogisch gedanken macht«. Allerdings wollte sie auch nicht an eine »extreme
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schule, die es auch gibt, wo man nur sitzungen hat«. An ihrem vorherigen Kollegium kritisiert sie ein grundsätzlich fehlendes pädagogisches Engagement sowie fehlendes Interesse an aktuellen Entwicklungen wie z.B. den Ergebnissen der PISAStudie: »und die grundtendenz war da schon so, na ja, irgendwie, ach die schüler werden immer blöder und .. […] also die haltung war einfach so, wir interessieren uns für nix, so ungefähr, es könnte ja arbeit machen«. Bezüglich der Frage, ob sie nun an der Sonnenlicht-Grundschule bessere Bedingungen habe, äußert sie sich noch unentschieden. Auf jeden Fall wird ihr hier ermöglicht, ihre Ideen und Projekte anzugehen, aber auch sie macht die Erfahrung, dass ihr eigenes »ding«, der Bereich »deutsch als zielsprache […] also das wird auch nicht von der ganzen schule wichtig genommen . so ’ne schule habe ich leider noch nicht getroffen«. Dennoch erwartet sie sich von ihrer Zukunft an der Schule, dass es ihr gelingen wird, sich stärker in ihrem Bereich zu engagieren und dessen Bedeutung damit auch in das Bewusstsein anderer zu rücken. Dem Kunstprofil gegenüber äußert sie sich distanziert »äh .. hab damit eher wenig zu tun«, aber wertschätzend. Auf gezielte Nachfragen hin wird deutlich, dass ihr wesentliche Aspekte sowie die organisatorischen Elemente der Profilierung bekannt sind. Insbesondere stellt sie heraus, dass das Profil die »kreativität« fördere. Damit benutzt sie einen Begriff, der in den Selbstbeschreibungen der Schule eher randständig ist, merkt dies anscheinend und fügt hinzu: »oder überhaupt selbstausdruck auf jeden fall ähm .. ja hilft der entwicklung der persönlichkeit, und äh halt über’n andern bereich als den kopf jetzt nur«. An dieser Aussage wird deutlich, dass sie ausdrücklich bereit ist, die Sinnhaftigkeit der Kunstbetonung anzuerkennen, dass sie aber nur die inhaltlichen Eckpunkte relativ unvermittelt wiedergeben kann. Darüber hinaus verleiht sie dem Profil eine eigene Deutung, indem sie betont: »und dann eben schon besonders wichtig finde ich, wenn die sich da selber wieder finden . das ist auch für alles wichtig . wenn sie sich selber nicht wieder finden dann äh .. lehnen sie halt die schule ab im extremfall.« Insofern geht es nicht darum, mithilfe der Schule zu sich selbst zu finden, sondern das Selbst wieder zu finden, das potenziell durch den Einstieg in die Schule verloren geht. Frau Karl verbürgt damit, obwohl sie ihre Ferne zu dem schulischen Profil betont und die schulprogrammatischen Inhalte nur ansatzweise wiedergeben kann, die Kultur der Schule in einer leicht variierten Version. Zwar finden die Kinder auch in dieser Deutung durch die profilierte Institution wieder zu ihrem eigentlichen Selbst, das ihnen ein Lernen in der Schule für ein späteres gelingendes Leben ermöglicht, aber im Gegensatz zu der anhand der Einschulungsfeier rekonstruierten Sinnstruktur wird dieses nicht erst durch die Schule aufgebaut, sondern es ist ein wiedergefundenes Selbst. Hier entsteht durchaus eine Parallele zwischen dem, was sie an der Ausrichtung der Schule für die Schüler
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als positiv herausstellt, und dem, was sie sich selbst als Lehrerin von der neuen beruflichen Situation erwartet. Nämlich ›sich selbst wieder zu finden‹, sich sozusagen auch beruflich in einem Gebiet einbringen zu können, das der eigenen Persönlichkeit und den eigenen Interessenlagen entspricht, um einen positiven Zugang zu der Institution, in diesem Fall als Arbeitsfeld, zu entwickeln. Auch ihr Unterrichtsstil passt zum Profil und steht damit dem von Herrn Menck diametral gegenüber. Sie betont, die Leistungsanforderungen seien nicht hoch, aber so hoch wie es geht. »ich trieze sie (lacht) . ja, schon, ich forder sie ziemlich«. Aber auch sie selbst fühlt sich durch die Zusammensetzung der Schülerschaft, mit der sie zu tun hat, herausgefordert, sodass sie sich beständig auf der Suche nach neuen Formen und Möglichkeiten befindet, den Lernstoff zu vermitteln: »ja, also, das ist schon ’ne ziemliche herausforderung . also ich kann halt da nicht lustig unterrichten . und dann werden die das äh schon verstehen . so läuft es eben überhaupt nicht«. Im Gegensatz zu dieser eher individuell variierten inoffiziellen Verbürgung des kunstbetonten Profils, die allerdings innerhalb des Kollegiums noch als randständige Stellung bezeichnet werden kann, sind die beiden nun folgenden Lehrerinnen in ihren Haltungen offen profilnah. Frau Hartstock ist Gründungsmitglied der Schule und war maßgeblich an der Entwicklung des Schulprogramms beteiligt. Sie steht allerdings zum Zeitpunkt des Interviews, zumindest in ihrer subjektiven Wahrnehmung, kurz vor ihrer Pensionierung, die in zwei Jahren erfolgen soll. Obwohl Frau Hartstock im Verweis auf das baldige Ende ihrer beruflichen Tätigkeit immer wieder betont, dass sie sich nicht mehr stark einbringen wolle und ja nun die Kollegen zu entscheiden hätten, die noch an der Schule blieben, wird deutlich, dass sie sich über Jahre relativ intensiv auch bezüglich des Profils engagiert hat: »also ich denke schon dass ich dass meine stimme äh auch äh .. durchaus gehört wird .. also ich hab’ mich ja auch über jahrzehnte, denke ich weitgehend engagiert eingebracht und äh . wenn ich etwas sage, äh ist es . zumindest wird es zur kenntnis genommen und und erst mal beachtet«. Wie Herr Menck, der auch die Anfänge der kunstbetonten Grundschule miterlebt hat, bedauert sie, dass die Schule inzwischen so groß ist: »also wenn ich mir was hätte wünschen dürfen dann wär’s höchstens dreizügig am liebsten nur zweizügig«, denn das »kollegium und die stimmung im kollegium hat sich verändert mit der größe«. Früher »in diesem kleinen kollegium hat man auch häufiger äh themen äh oder projekte gemacht, klassenübergreifend . und in diesem anwachsen und diesem, dass auch die organisation immer komplizierter wurde äh . ist das aus meiner sicht weniger geworden«.
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Besonders auffällig an der Position von Frau Hartstock ist, dass sie, obwohl sie das Schulprogramm mit entwickelt, über die Jahre begleitet hat und einen engen Kontakt zur Schulleitung pflegte, dessen ausgeprägte imaginäre Seite anscheinend fast überhaupt nicht verbürgt. Für sie ist, und das betont sie an mehreren Stellen des Interviews, das kunstbetonte Arbeiten »mittel zum zweck«. Denn die Schule verfolge ihrer Ansicht nach »keine anderen pädagogischen schul- äh ziele als an jeder anderen schule auch«. Auch die kunstbetonte Schule muss damit den ihr institutionell zugewiesenen Erziehungs- und Bildungsauftrag erfüllen, »wertvorstellungen« und »bestimmtes abfragbares wissen« vermitteln. Der künstlerische Zugang wird von Frau Hartstock in diesem Sinne gezielt hinsichtlich der jeweiligen Lernziele auch in anderen Fächern eingesetzt: »selbst wenn ich jetzt äh, in sachkunde stadterkundung mache, klar ein blick ich weiß, das ist der funk äh der fernsehturm . wenn ich denen aber fünf oder zehn minuten zeit gebe und sage, fertigt ’ne skizze an . dann haben sie zumindest ’ne idee wie es konstruiert wurde . oder wenn sie das rote rathaus ’ne skizze anfertigen, dann wissen sie nachher wirklich dass es ein backsteinbau ist und wie viel fenster ungef- also es viele fenster waren und in etwa ja . also es weiß jeder ›das was ich zeichne prägt sich mir besser ein und ich gucke genauer‹ . und das ist ja etwas was ja nicht nur für die kunst sinnvoll ist, sondern .. für jeden beruf sinnvoll ist ne, für’s ganze leben . genaues hingucken ist einfach wichtig«. Sie verfügt über ein umfangreiches Wissen über einzelne Techniken, kunsthistorische Fragestellungen sowie ein entwicklungspsychologisches und ästhetisches Verständnis: »kann ich also bäume jetzt tuschen lassen und wirklich vom ganzen körper also wachsen lassen von den wurzeln hoch, und wenn ich also bei mit jedem pinselstrich also immer über den stamm gehe und dann es verzweigen lasse, dann ergibt sich ganz harmonisch dieser übergang vom/vom stamm äh zu den zwei äh ästen und zweigen . während sonst die kinder ja ein rechteck zeichnen und dann daran irgendwelche äste befestigen . (I: mhm) aber wenn ich das mit dem pinsel mache ne, dann/dann habe ich also sowohl das was sie/was sie an fachbegriffen lernen also wie wurzeln stamm rinde ast zweig, (I: mhm) und gleichzeitig in der kunst also zu gucken wie wächst es und auch jetzt sag ich mal so, ganzkörpererlebnis . wenn ich also wirklich mit/mit schwung und so weiter und das großflächig mit dicken pinseln auf/auf papier, (I: mhm) tusche dann ne«. Als Konsequenz daraus, dass sie die imaginäre Überbrückung der schulischen Krise nicht teilt, ergibt sich für sie die realistische Schlussfolgerung, die entsprechend der realen Krise der Schule deren gegenwärtige Existenz und Form als Regelschule ablehnt: »für die kinder in dieser komplizierten welt ähm .. ist auch diese form von schule nicht richtig . also wenn müsste man wirklich äh ’ne ganz andere form von schule machen«. Es kann aber vermutet werden, dass Frau Hartstock diese
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realistische Haltung bezüglich des Kunstprofils nicht von vornherein hatte und sie damit die Gesamtsituation immer wieder als unbefriedigend empfindet. Denn einerseits engagiert sie sich sehr stark für die individuellen Lernzuwächse der Kinder, dies ist aber andererseits an dieser Schule mit wiederkehrenden Scheiternsbzw. Enttäuschungserfahrungen verknüpft: »ich habe an, bei mir persönlich festgestellt wenn ein kind, äh sich bemüht dass es etwas lernen will habe ich eigentlich auch eine .. ja ziemlich viel geduld . kann ich dann auch auf die dritte art und weise erklären, kann ich trösten kann ich sagen das schaffst du schon . und und . also ich persönlich und das ist vielleicht auch ’ne schwäche wenn ich mich da abstrample und mir noch vielleicht noch ’ne übungsmöglichkeit ausgedacht habe und ich stelle dann fest, das kind äh guckt aus’m fenster oder kaspert mit ’nem andern kind rum (I: mhm) .. ich glaube das nehme ich als persönliche kränkung und bin sauer«. Die ›abgeklärte‹ Haltung von Frau Hartstock kann deshalb auch als eine Strategie zur Vermeidung weiterer persönlicher Enttäuschung gedeutet werden. Die verstärkte Möglichkeit potenzieller Enttäuschungserfahrungen liegt, wie herausgearbeitet wurde, in der dominanten Schulkultur der Schule begründet, denn dort wird die Nähe zu dem entwicklungswilligen und -fähigen Kind gesucht. Eine Zurückweisung dieser Bemühungen führt, wie im von Frau Hartstock geschilderten Beispiel, zu einer persönlichen und damit auch professionellen Frustration und langfristig möglicherweise zu einer Abwendung von den pädagogischen Idealen. Die Position von Frau Rietzler ist schließlich in mehrerlei Hinsicht interessant, denn sie ist sowohl Mutter zweier Kinder, die beide die Sonnenlicht-Grundschule besuchen, ausgebildete Künstlerin und hat als solche über viele Jahre an der Schule Kunstprojekte betreut und initiiert. Schließlich hat sie sich, auch aufgrund der positiven Erfahrungen in der Schule und ihrer beruflichen und vor allem finanziellen Situation als alleinerziehende Mutter, zu einem aufbauenden Lehramtsstudium als Kunstpädagogin entschlossen. Der Zeitpunkt des Interviews fiel mit dem Beginn ihres Referendariats an der Sonnenlicht-Grundschule zusammen. Als die Einschulung ihres ältesten Sohns anstand, hatte sie die SonnenlichtGrundschule unter mehreren anderen Schulen ausgewählt, denn diese »galt damals schon als sehr . moderne schule, zeitgemäße schule die, durchaus ihre, probleme hat, aber eben auch probleme die/die einfach äh, zu unserer gesellschaft zu unserer wirklichkeit gehören«. Im Gegensatz zu anderen Schulen, die sie als »starr militärisch veraltet« oder »weltfremd« beschreibt, erlebt sie diese Schule als eine »grundsätzlich offene« Schule, in der die Dinge nicht unter den Teppich gekehrt, sondern aufgegriffen und behandelt werden. Insgesamt wird deutlich, dass sie die zentralen pädagogischen und organisatorischen Inhalte des Schulprofils sehr genau
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kennt und inhaltlich teilt. Die Formulierungen, die sie wählt, gleichen dabei teilweise sehr stark denen des Schulleiters aus dem Experteninterview: »dass sie die möglichkeit haben sich über kunst auszudrücken, individuell auszudrücken . ja das ist der hauptinhalt . dass sie das begreifen lernen, also sie müssen nicht all stereotypen malen sondern sie haben die möglichkeit sich zu entfalten«. Frau Rietzler bewegt sich also im engeren Kreis der dominanten Schulkultur. Diese überzeugt sie aber nicht nur in den spezifischen inhaltlichen und pädagogischen Orientierungen; vielmehr findet auch sie selbst sich als Künstlerin in diesem besonderen schulkulturellen Milieu wieder: »also malerei ist für mich nach wie vor ganz wichtig . sehr wichtig (leicht betont) und das ist ein, lebensgefühl (betont) was da ’rüberkommt und dieses lebensgefühl finde ich in der schule wieder (I: mhm), weil die halt, das konzept hat also dieses kunstprofil hat . und ich freu mich dass meine kinder dort auch sind«. Dieses Lebensgefühl, diese Art und Weise, mit Menschen und Dingen umzugehen, möchte sie an ihre Kinder weitergeben und empfindet dementsprechend eine derartige institutionelle Ausrichtung überzeugend. Auch bei ihr wird darüber hinaus die Verbürgung der latenten Sinnstrukturen des Profils deutlich. Denn obwohl sie einerseits öfters betont, dass sie die Schule als eine Institution erlebt, die ihre »konflikte behandelt«, ist die Schule »wie eine oase« für sie, die die »gewaltgeschichten«, die immer wieder herein »schwappen«, »aufhält«. Ihre Verbürgung ist dabei allerdings nicht affirmativ ungebrochen, sondern insbesondere bezüglich des starken imaginären Anspruchs der Schulkultur teilweise auch reflexiv: »ob das jetzt nun so alles hinkommt das äh muss man sich im einzelnen dann immer betrachten, aber das ist so der/die devise dieser schule . ja«. Sie scheint sich also zum einen der Problematik einer realen Verbürgung der mit dem kunstbetonten Profil verknüpften Ansprüchlichkeiten bewusst zu sein, zum anderen scheint sie aber nach der Annahme zu handeln, dass die Schule – und sie selbst als Akteur innerhalb der Institution – nur durch eine große imaginäre Kraft in der Lage ist, ihre institutionelle Arbeit aufrechtzuerhalten: »ich bin da sehr optimistisch, und idealistisch«. Ihr eigener Unterrichtsstil befindet sich noch in der Entwicklung. Im Moment versucht sie allerdings insbesondere, »die arbeitsbögen so zu gestalten, dass sie es auch selber erfassen«, denn »etwas den kindern vorsagen hat keinen sinn«. Auch hier findet sich wieder die Orientierung an den individuellen Möglichkeiten und Lernzuwächsen der Kinder, die anscheinend auch den Referendaren vermittelt wird. Diese Grundhaltung führt, wie Frau Rietzler bemerkt, notwendigerweise zu Modifikationen in den Leistungsanforderungen: »also ich lerne ja gerade so (leicht lachend) , dass man immer den schuler/den schüler da abholen muss (betont) wo er steht, also muss man auch die leistung ähm, so . relativieren dass der schüler da was lernen
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(betont) kann ja . also wenn man jetzt die leistung von oben heraufpfropfen würde auf jeden schüler und sagen würde da (betont) musst du hinkommen, das ist gar nicht einzuhalten, also weil man muss (betont) von der schülerklientel ausgehen und auch das ist flexibel zu handhaben . und äh die leistungsanforderung jeder lehrer hat äh . ne vorstellung dass die leistung natürlich so/so gut wie möglich sein sollte und so hoch wie möglich äh, da sein sollte also die ergebnisse sollten schon sehr gut sein, die ergebnisse können aber auch sehr gut (betont) sein für’n schüler der ’ne schwache, auffassungsgabe hat . und wenn der dann ’ne leistung hat die/die muss ja immer angeglichen werden an jeden schüler . ne, also ich finde dass jeder versucht die leistung so gut wie möglich, ähm zu erbringen so, und die anforderungen sollten schon sehr hoch sein und die sind an der schule auch, schon hoch«. In einem ersten Zugang wurden die vier Lehrerpositionen aufgrund ihrer fachlichen Ausrichtung und ihrer Stellung im Kollegium in profilnahe und profilferne Typen unterschieden. Die nähere Betrachtung macht es nun jedoch notwendig, innerhalb dieser Kategorien der ›Kunst-Nähe‹ und der ›Kunst-Ferne‹ eine Unterscheidung bezüglich der individuellen Verbürgung der dominanten Schulkultur anzulegen. Herr Menck und Frau Karl geben sich beide in einer offenen Haltung inhaltlich von dem Kern des Schulprogramms – der Kunst – distanziert. Dennoch verbürgt Frau Karl in Teilen den imaginären Gehalt des Profils sowie die latenten Sinnstrukturen der Schulkultur, während Herr Menck diesen Bewältigungsmythen ausgesprochen kritisch gegenübersteht, wenngleich auch nicht in einer oppositionellen Haltung. Ebenso wenig verbürgt Frau Hartstock den dominanten Schulmythos, sondern arbeitet sehr viel gezielter und gerne mithilfe entsprechender Verfahren und Methoden aus der Kunsterziehung an konkreten Problemen, die sich ihr in Rahmen ihrer Lehrtätigkeit stellen. Nur Frau Rietzler vereinigt letztendlich die beiden Merkmale der inhaltlichen Nähe zur Kunst sowie eine Nähe zur dominanten schulkulturellen Ausdrucksgestalt auf sich, wenngleich gepaart mit einer reflexiven Brechung. Die individuelle Affinität zur Kunst entscheidet damit nicht über die Nähe zur dominanten Schulkultur dieser Schule. Darüber hinaus ist auffällig, dass in den vorliegenden Fällen diejenigen Lehrer die Schulkultur verbürgen, die sich sozusagen in Bezug auf ihre zwischenmenschliche Einbindung und ihre Verweildauer an der Schule noch am Rande der Institution bewegen.
4.5.2 Die integrative Kraft der Schulkultur In Anbetracht der großen Varianz zwischen den einzelnen Lehrerpositionen, die sich bezüglich der individuellen Verbürgung des kunstbetonten Schulprofils nach
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der Analyse der Interviews zeigt, läge es nahe, auf erhebliche Konfliktpotenziale im Lehrerkollegium zu schließen, die sich, zum einen bedingt durch den fachlichen Schwerpunkt ›Kunst‹ und zum anderen bedingt durch die unterschiedlichen Haltungen bezüglich der dominanten Schulkultur, aus einer unausgewogenen Repräsentanz bzw. Dominanz einzelner Interessen ergeben könnten. Doch obwohl sich manche Lehrer durchaus kritisch äußern, zeigen sich, sowohl in den Interviews als auch während der Beobachtungen, keine z.B. lange andauernden oder unüberwindbaren Spannungen mit nachhaltigen Disharmonien oder Spaltungen des Kollegiums. Die Auswertung der Lehrerinterviews veranschaulicht einheitlich, dass dieser Ausgleich eines durchaus vorhandenen Konfliktpotenzials zu einem erheblichen Anteil auf den ›Führungsstil‹ des Schulleiters zurückgeführt werden kann: »die rolle der schulleitung . das ist sehr spannend .. ja er ist ein ungewöhnlicher schulleiter . ähm .. also .. die hat auf jeden fall ’ne integrative .. funktion . weil nach meinem eindruck beziehen sich alle positiv auf ihn .. ähm .. und das ist sicher ’ne ganz große fähigkeit von ihm, ähm .. ja er hat ’ne integrative fähigkeit« (Karl). Diese ›integrative Fähigkeit‹ ist nun gerade nicht darauf zurückzuführen, dass es dem Schulleiter gelingt, jeden einzelnen Lehrer möglichst weitgehend mit dem Profil vertraut zu machen und ihn auf dieses zu verpflichten. Vielmehr ist es das Zulassen von Heterogenität und das Gewähren von Möglichkeiten, das zu einer nicht an das Kunstprofil gebundenen und damit über dieses hinausführenden Identifikation der einzelnen Lehrer mit der Schule führt: »also herr (name des schulleiters) denke ich so habe ich das bisher verstanden, wenn jemand sagt ich möchte das und das unbedingt machen, (I: mhm) dass/dass er das halt fördert wenn es denn irgendwie möglich ist ne . (I: mhm) das finde ich sehr wichtig weil das ja irgendwie, erstens sind die lehrer zufriedener zweitens äh kommt es irgendwie wieder zurück, (I: mhm) ja . das ist schon wichtig« (Karl). Dieses in dem Zitat treffend zum Ausdruck kommende Prinzip der Personalführung und der Angebotsgestaltung führt bei den Lehrern einheitlich dazu, dass sie individuelle Möglichkeiten sehen, sich an der Ausformung der Schulkultur zu beteiligen, auch wenn sie sich nicht im Kunstbereich engagieren: »ne was ich immer geschätzt habe, äh, die freiheiten, die man hat, und die bei uns, denke ich, jeder hat, der ne idee hat […] das was man so als vision hat, äh dass man das wenigstens ansatzweise verwirklichen kann« (Hartstock). Nicht nur Lehrer, die wie Frau Rietzler ihre individuelle Lebensweltorientierung in dem Konzept und der Gestaltung der Schule wiederfinden, empfinden diese Kultur als positiv, sondern auch diejenigen, die dem Profil kritisch gegenüberstehen oder sich davon abgrenzen. Das zeigt sich beispielhaft an Herrn Menck, der seine Überlegungen bezüglich eines Stellenwechsels nicht umsetzt, da auch er seine Interessen und Kompetenzen verwirklichen kann und dafür die nötige materielle und organisatorische Unterstüt-
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zung erhält. Es wird aber auch deutlich, woher seine Unzufriedenheit resultiert, denn die Formen des hierarchieorientierten Statuserwerbs, abhängig von der Dauer der Beschäftigung, die Herr Menck falltypisch repräsentiert, spielen an dieser Schule nur eine marginale Rolle. Anerkennung wird hier demjenigen zuteil, der eine »idee« oder eine »vision« hat. Diese Anerkennung findet ihren Ausdruck darin, dass zur Verwirklichung von Ideen die nötigen Freiräume mit den materiellen und organisatorischen Grundvoraussetzungen geschaffen werden. Die Umsetzung und das längerfristige Verfolgen der Idee, die man in der Praxis »wenigstens ansatzweise« verwirklichen kann, obliegen daraufhin allerdings dem Visionär. Prestige und Aufmerksamkeit erfährt in dieser Schulkultur demnach derjenige, der viele Ideen hat, diesbezügliche Projekte durchführt und damit dem Mythos der spezifisch schöpferischen Kompetenz der kunstbetonten Grundschule entspricht. Der Fokus liegt damit nicht auf einer Stabilisierung und Absicherung des Status quo, sondern auf einer Fortschreibung der Struktur der unaufhörlichen Neuschöpfung. Das hat z.B. zur Folge, dass ein kollektives kommunikatives Abarbeiten an internen Gefügen und Hierarchien kaum stattfindet. Denn Bestände werden vom Schulleiter kaum ›kontrolliert‹. Im Vertrauen auf die Leistungsfähigkeit der Lehrer entstehen stattdessen Freiräume, die diese ›nur noch‹ konstruktiv zu füllen brauchen. Diese Thesen werden durch den Umstand gestützt, dass an der Sonnenlicht-Grundschule das Lehrerzimmer, das an vielen Schulen zum Austragungsort der Auseinandersetzungen um die dominante Schulkultur wird, kaum besetzt ist. Morgens sieht man einige Lehrer an den Kopierern, und in den Pausen sind höchstens vier Kollegen tatsächlich im Lehrerzimmer anwesend. Stattdessen bleiben viele in ihren Klassenräumen oder treffen sich in kleineren Gruppen: »und zwar weil die kollegen im großen .. ähm .. großen für sich arbeiten in den klassen und im kunstbereich, (I: mhm) und das kann durchaus sein dass ich da kollegen äh zwei wochen gar nicht sehe (I: mhm) . und es ist ja nicht ’ne schule wo die sich im lehrerzimmer zusammenlaufen in den pausen oder so . das ist glaube ich ’n kleiner teil das ist so ein teil […] das kommt mir in einer weise entgegen weil ich jemand bin, ich arbeite auch gerne alleine, (I: mhm) und ähm .. was dadurch wegfällt gegenüber meiner andern schule ist das regelmäßige gemeinsame jaulen (I: mhm). und das ist für mich im vorteil, weil/weil .. das überhaupt nichts bringt und weil das ja .. das ist in vielen schulen so, (I: mhm) und das fällt hier weg« (Karl). Das Leiden an den schwierigen Arbeitsbedingungen als mögliche Reaktionsweise und als Form der Erringung von Anerkennung83 weicht zugunsten eines konstruktiven Möglichkeitsraums, in dem sich
83 Das »gemeinsame Jaulen« als Form des Ringens um Anerkennung und Aufmerksamkeit ist dementsprechend ein gemeinsames Beklagen und Leiden an den Umständen, wonach derjenige, der am
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die einzelnen Akteure entsprechend ihren individuellen Vorlieben und Interessen einbringen können. Durch diese Kultur entwickelt sich, trotz der schwierigen Umfeldbedingungen, eine größtmögliche Passung zwischen einzelnen Lehrertypen und der Institution. Die Gefahr der Ausgrenzung besteht nur für diejenigen, die ein solch schöpferisches Identitätskonzept nicht teilen.
4.5.3 Die Grenze der Imagination als Grenze der Idee einer allgemeinen Schulbildung Diese Form der Integration in die symbolische Ordnung und die kulturelle Ausdrucksgestalt der Schule führt jedoch bei allen interviewten Lehrern zu einer überraschend einheitlichen dominanten Problematik, die in einen Zusammenhang mit dem zentralen Strukturkonflikt der Schule gebracht werden kann. Zunächst bedingt die Öffnung für Ideen und Visionen einzelner, dass von einer weitgehenden Reglementierung in vielen Bereichen Abstand genommen werden muss. Diese Regellosigkeit führt dazu, dass sich im Schulalltag die Aufmerksamkeit zum einen nicht auf Regelübertretungen fokussiert. Zum anderen entstehen dadurch des Öfteren ungeordnete und unübersichtliche Situationen, die wiederum den einzelnen Lehrkräften Stress bereiten. Frau Karl beschreibt diesen inneren Zusammenhang in dem folgenden Zitat aufgrund ihrer vermeintlichen Nähe zu der dominanten Schulkultur zunächst positiv: »aber vom grundprinzip her denke ich ist an dieser schule nicht die haltung fehlverhalten bestrafen, (I: mhm) äh, und oh hier grenzüberschreitung . und da habe ich das gefühl also es ist nicht so auf dieser formalen schiene so doll .. ähm und das ist ’n vorteil (I: mhm) . weil durch wenn/wenn es, an meinen schulen lief das eher so dieses gängige .. äh das darf man nicht und darauf gibt’s die konsequenz und so weiter, da ist eigentlich das mehr gefördert, (I: mhm) das so ’n fokus eben da drauf ist ne . und das ist hier nicht so äh . bis dahin dass es manchmal ’n bisschen chaotisch tatsächlich äh wirkt, dass so freiräume sind wo man sagt ja, gibt’s hier eigentlich ’ne regel oder gibt’s keine, (I: mhm) also auf’m schulhof eben, das ist ’ne hohe auch chaostoleranz an der schule« (Karl). Der Fokus liegt an dieser Grundschule, wie vorher bereits entfaltet, nicht auf dem, was nicht gelingt, sondern auf Ideen und Visionen sowie auf deren Umsetzung. Stellt man nun den Zusammenhang zu der bereits erarbeiteten symbolischen Ordnung her, dann kann geschlussfolgert werden, dass der Bereich des Imaginären als Impuls für die Praxis unterstützt wird, dagegen über reale Schwiemeisten leidet (klagt), vorgeblich die schwierigsten Aufgaben zu bewältigen hat und demzufolge mehr arbeitet als die anderen.
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rigkeiten und Konflikte eher in einem Modus der Toleranz und des Gewährenlassens, bis hin zu der Akzeptanz von ›Chaos‹ hinweggegangen wird: »aber es gibt eben auch tage wo ich manchmal denke das ist ist anarchie, wenn eben dann keiner erreichbar ist (I: mhm), und es ist einfach so . man brauch’ manchmal die schulleitung um irgendwelche entscheidungen zu treffen, und es gibt eben tage wo so was eben schwierig ist weil eben aus-, gut dann kommt natürlich auch mal klar, es wird auch jeder, auch mal einer krank noch dazu (I: mhm), und dann ist wie gesagt manchmal ’n gewisses gewisses chaos da« (Menk). Die einheitliche Problematik, die diesem schulkulturellen Ausblenden der Realität entspringt, ist, dass in allen Lehrerinterviews eine mangelnde Unterstützung insbesondere hinsichtlich Disziplinschwierigkeiten mit einzelnen Schülern beklagt wird. Die Lehrer fühlen sich von der Schulleitung in solchen krisenhaften Situationen mit den immensen sozialen und psychischen Problemen, die sie in der Schule pädagogisch nicht mehr bewältigen können, alleingelassen. Sie wünschen sich demnach gerade in schwierigen Situationen Direktiven von der Schulleitung, an denen sie ihr Handeln ausrichten können. Allerdings scheint hinsichtlich dieser drängenden Problematik ein Wandel stattzufinden, was sich auffällig darin zeigt, dass wiederum alle Lehrer sich ausgesprochen positiv und hoffnungsvoll auf eine kurz vor dem Befragungszeitraum umgesetzte Maßnahme beziehen, durch die in der Schule der Gebrauch bestimmter Schimpfwörter untersagt wurde. Frau Rietzler beschreibt diese Entwicklung treffend als den Versuch, die Lösungen der Schwierigkeiten alltagsnäher und damit realitätsnäher zu gestalten: »also es hat sich natürlich jetzt so verändert dass das kunstprofil . es ist da (betont), aber äh es sind die schwerpunkte jetzt doch eher . auf äh . ähm, so alltagslösungen zu finden so also, oder es geht darum, mmh .. konflikte zu lösen (I: mhm), und auch ähm, sowas wie/wie, moral . (I: mhm) oder normen regeln wieder zu kultivieren (betont) . oder zu behalten (I: mhm), und da, das ist jetzt auch das hat sich schon dahin verändert dass die schule da mehr, mehr so’n schwerpunkt drauf legt (I: mhm mhm, mhm) in den, im umgang miteinander (I: mhm), erst mal«. Damit ist der Trend einer möglichen Transformation als Lösung einer drängenden Strukturproblematik angezeigt. Die Schule reagiert hier auf die Zuspitzung der Schwierigkeiten mit der Schülerklientel mit einem »mehr« an eigenen institutionellen Regeln. Es ist eine Art der Selbstvergewisserung der Institution, die sich dadurch ihre eigenen, ganz spezifischen Routinen schafft. Weg von einem Gewährenlassen hin zu deutlichen Grenzziehungen zwischen Erwünschtem und Unerwünschtem. Der Schule »im absoluten sozialen brennpunkt .. die stark .. auch unter diesen äußerlichen bedingungen zu leiden« hat, könnte es dadurch gelingen
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»den schulbetrieb aufrecht zu erhalten« (Menk). Ein Aufrechterhalten des Schulbetriebs, wie es in diesem Zitat ausgedrückt wird, fokussiert dann jedoch deutlich auf das ›Betreiben‹ im Sinne eines ›in Gang Haltens‹, unabhängig von evtl. möglichen und wünschenswerten pädagogischen Erfolgen und Misserfolgen. Die Bewegung weg von einer starken imaginären Kraft, die es der Schule und den Lehrern angesichts des problematischen Umfeldes ermöglicht, an genuin pädagogischen Begründungen ihres Handelns festzuhalten und den Glauben an die Möglichkeit gelingender Bildungsprozesse aufseiten der Individuen nicht zu verlieren, hin zu einer klaren institutionellen Form, zielt letztendlich sehr viel stärker auf die Sicherung der institutionellen Bestände, also auf einen Erhalt des Staus quo. Die Institution Schule tritt dann den milieuspezifischen Lebenswelten entgegen ohne den Versuch, diese zu integrieren. Sie wäre dann nicht mehr in der Lage, zu einer umfassenden Reflexivierung im Sinne einer allgemeinen Menschenbildung in der Schule beizutragen. Diese institutionelle Distinktion – und das ist auch ein beachtenswertes Ergebnis – scheint über die Kunstbetonung nicht in ausreichendem Maß herstellbar zu sein, da in den Prozess der mußevollen Distanzfindung als strukturelle Ermöglichung ästhetischer Erfahrung notwendigerweise die Schule selbst miteinbezogen werden muss. Die Grenze des Imaginären als Schulkultur der Krise durch Muße markiert damit die Grenze der modernen aufklärerischen Idee einer allgemeinen Schulbildung. ».. mh ich kann das äh, also ich bin erschrocken wie viel, gewalt trotzdem vorherrscht an der (I: mhm) schule, und, es gibt sehr sehr viele (betont) kinder die aufeinander losgehen (I: mhm), die äh sich provozieren gegenseitig . hm, die aufeinander liegen und dann trotzdem noch auf den andern einschlagen (leicht lachend) obwohl der andere am boden liegt … das ist erschreckend und ... das greift natürlich meine/meinen optimismus an in richtung, darauf dass der, dass dieses kunstprofil und das kunst überhaupt das noch auffangen kann, (I: mhm) und das verändern (betont) kann, (I: mhm) weil . wenn die eltern da nix machen und wenn die lehrer da auch . verzweifelt sind (leicht lachend) und kein/keine möglichkeit mehr sehen ja, (I: mhm) dann nü/nützt das schönste kunstprofil auch nix« (Rietzler). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Schulkultur der Krise durch Muße auch für die Lehrer eine Form der konstruktiven Krisenbewältigung darstellt, da sie ihnen einen Möglichkeitsraum bietet, der die Freiheit gewährt, zu eigenen Ausdrucksformen zu kommen, wodurch trotz der belastenden Standortbedingungen ein positives Verhältnis zwischen den einzelnen Akteuren und der Insti-
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tution entsteht. In der Analyse der Lehrerpositionen zeigt sich aber wiederum das Konfliktpotenzial, das diesem Entwurf eines schulischen Entfaltungsraums innewohnt, der versucht, die Realität ›draußen zu halten‹. In den Lehrerinterviews zeigt sich diesbezüglich ein Trend möglicher Transformation, der angesichts einer Entwicklung, in der die krisenauslösende Realität immer stärker in den Schonraum Schule einzudringen scheint, sich hin zu einer Wahrnehmung und Bearbeitung dieser immer präsenter werdenden Konflikte bewegt, allerdings als Rückzug, der lediglich verstärkt auf das Bewahren der Institution selbst zielt.
4.6 Zusammenfassung: Die schulkulturelle ›Schöpfung des Schülers‹ Über die Rekonstruktion der Schulkultur der kunstbetonten Grundschule im Zusammenhang mit der Betrachtung ihrer programmatischen Ausrichtung sowie der Analyse der Lehrerinterviews konnten im vorangegangenen Abschnitt empirische Ergebnisse bezüglich einer Verbindung von Kunst und Schule im Kontext von Schulprogrammentwicklung generiert werden, die nachfolgend differenziert für die zu unterscheidenden theoretischen Bezugslinien zusammenfassend dargestellt werden sollen.
4.6.1 Schulkulturentwicklung durch Schulprogrammarbeit Die Schulkulturstudie zeigt, dass inhaltlich spezifizierte Schulprogramme nachhaltig in die dominante Kultur einer Schule eingehen und deren Ausdrucksgestalt auf den verschiedenen Ebenen der symbolischen Ordnung der Einzelschule entsprechend der angestrebten Profilierung beeinflussen. Von vielen und in sich heterogenen schulprogrammatischen Zielentwürfen, die durchaus alle in der schriftlichen Fassung eines Schulprogramms festgehalten sein können, setzten sich allerdings nur einzelne Aspekte dominant in der symbolischen Ordnung der Einzelschule durch. Im Rahmen einer Schulprogrammentwicklung ist in Bezug auf die Gestaltung von Schulkultur eine Vielfalt an pädagogischen Zielperspektiven und damit verknüpften Wirkungserwartungen auch an der engagierten Einzelschule nicht verbürgbar. Ein reichhaltiges und heterogenes Schulprogramm erscheint aus diesem Grund für einen Schulentwicklungsprozess nicht von Vorteil. Vielmehr besteht die Gefahr, dass die sich durchsetzende dominante schulkulturelle Ausdrucksgestalt mit dieser Vielfalt und den diesen unterschiedlichen Aspekten unterschiedlich nahe stehenden Akteuren in Konflikt gerät. Der dominanten Schulkultur stehen schließlich nicht unbedingt die Lehrer nahe, die einen besonderen Bezug zu den inhaltlichen Schwerpunkten aufweisen. Spezi-
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fizierte inhaltliche Schulprogrammarbeit, die wenige zentrale Momente in den Blick nimmt, kann daher durchaus für unterschiedliche, auch vordergründig profilferne, schulische Akteure (positiv) bedeutsam werden. Arbeitet eine Einzelschule wie im vorliegenden Fall gelingend mit einem spezifischen Schulprogramm, dann kommt es zu dem von Gruschka u.a. (2003) so genannten »qualitativen Wandel« der Institution. In der Folge können die Ebenen des Imaginären und des Symbolischen als Teile des kultursoziologischen Modells der Schulkultur bei Helsper u.a. (2001) in der Einzelfallanalyse nicht mehr trennscharf unterschieden werden, denn die schulprogrammatischen Ausarbeitungen, die dort im Wesentlichen auf der Ebene des Imaginären verortet werden, gehen, wenngleich spezifisch gebrochen und konkretisiert, handlungsleitend in die symbolischen Auseinandersetzungen um die dominante Schulkultur ein. Die rekonstruierte symbolische Ordnung der kunstbetonten Grundschule kann deshalb auch als »visionäre Anspruchskultur« bezeichnet werden, der es gelingt ihre Ressourcen und professionellen Rahmungen so einzusetzen, dass es zumindest in Teilen zu einer symbolischen Umsetzung des Imaginären kommt (vgl. ebd.: 558).
4.6.2 Zur Erscheinungsform der Kunst in der Schulkultur Das kunstbetonte Schulprofil ist in die kulturelle Ausprägung der Institution eingegangen. Als Schulkultur der strukturellen Ermöglichung von Krisen durch Muße kann diese als ästhetische Erfahrungen prinzipiell ermöglichende beschrieben werden. Trotz aller ästhetiktheoretischen Skepsis ist an diesem Fall damit durchaus eine schulkulturelle Verbindung von Kunst und Schule nachweisbar, die jedoch mit der institutionellen Realität wiederholt in Konflikt gerät. Die notwendigen Rahmungen, die zur Ermöglichung mußevoller Erfahrung notwendig sind – so eine Realitätsentlastetheit und die nicht Zweckgerichtetheit der praktischen Handlungen, die zu einer mußevollen Selbstvergewisserung führen kann –, scheinen mit den allgemeinen schulischen Bedingungen, ihrer Verpflichtung auf die Wissensbestände der europäischen Moderne sowie ihrem Auftrag zur Qualifikation, Selektion und gesellschaftlichen Integration (Fend 1980: 17) auf der Ebene des Symbolischen nur bedingt vereinbar zu sein, und ein schulkultureller Kunstbezug von daher nicht konsequent einlösbar. So beeinflusst eine solche Ausprägung einer kunstbetonten Schulprofilierung, die in ihrer zu bestimmenden Fallstruktur durchaus dem nahe kommt, was zuvor als die Struktureigenschaften ästhetischer Erfahrung ausgewiesen wurde, wie vermutet, spezifisch die Antinomien professionellen pädagogischen Handelns (vgl. Kap. 2.5). Die Kultur der strukturellen Ermöglichung von Krisen durch Muße hat nämlich
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eine Form der Realitätsentlastetheit zur Voraussetzung, wodurch die Schule, um die Ausbildung eines strukturellen Optimismus auf der Grundlage von scheinbaren Krisen zu ermöglichen, zu einem fiktiven Schonraum wird, in dem die eigentlich widersprüchliche Grundstruktur schulpädagogischen Handelns ausgeblendet werden muss. Die konkreten Versprechungen einer Integration und Bewährung aller, die durch eine familienähnliche schulische Kultur eingelöst werden sollen, führen darüber hinaus zu einer unreflektierten Etablierung stark normativ geprägter und damit heteronomer Verhältnisse zwischen der Ebene der Institution und den einzelnen Schülern. Aufgrund der Unhintergehbarkeit der Antinomien pädagogischen Handelns entstehen schulkulturell jedoch wiederholt Brüche in der Verwirklichung bzw. Bewährung dieser Ansprüche auf der Ebene des Symbolischen. Das zeigt sich im vorliegenden Fall beispielhaft an dem Mythos des Sonnenlichts. Dieses, angelegt als Symbol der Integration und Vervollkommnung des Differenten, in dem Versuch der symbolischen Verbürgung zu einem Sinnbild struktureller Ausgrenzung für diejenigen wird, die sich jenem ›guten Willen der Institution‹ nicht zuordnen lassen. Aus diesem Grund kann andererseits vermutet werden, dass die Schule die Kinder, die sich auf dieses schulische Näheangebot und die damit zusammenhängende heteronome Grundstruktur einlassen, in Anhängigkeitsverhältnisse verstrickt werden, die hochgradig riskant sein können, weil die Schule diese schulkulturelle Familienähnlichkeit nicht ungebrochen aufrechterhalten kann. Der Sinn eines schulkulturellen Kunstbezugs, in dem tatsächlich die Struktureigenschaften ästhetischer Erfahrung einen Einfluss auf die symbolische Ordnung der Einzelschule bekommen, liegt damit weniger, wie in verschiedenen theoretischen Ansätzen vermutet, in einer unmittelbaren Vorbereitung und Förderung schulischen und curricularen Lernens, sondern in einem gegenüber den – in diesem Fall als defizitär gedeuteten – Herkunftsbedingungen kompensatorischen Aufbau der kindlichen Persönlichkeit, wodurch erst die Grundvoraussetzungen für einen schulischen Lernprozess geschaffen werden sollen. Da die Institution aufgrund ihrer antinomischen Grundstruktur sowie ihrer unhintergehbaren gesellschaftlichen Einbettung und Funktion eine solche Kultur diffuser familiärer Annahme jedoch nicht umfassend einlösen kann, tritt eine andere Funktion der kompensatorischen Kunstbetonung dominant in den Vordergrund: Dadurch, dass die Schule die Kinder in einem schöpferischen Akt zu lernfähigen Schülern ›macht‹, wird letztendlich die institutionelle Existenz der Regelschule im Horizont moderner aufklärerischer Pädagogik84 gesichert. Die Kunstbetonung wird tendenziell zur Schöpfung des Schülers. 84 Hier wird auf die neuzeitliche Pädagogik Bezug genommen die, seit der Ablösung einer Gesellschaftsordnung, die den Individuen per Geburt ihren Platz und ihre Stellung innerhalb der Ständehierarchie zuwies, durch die Aufhebung dieser Standesschranken eine Gleichheit aller Menschen
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Für die auf der Ebene der Institution handelnden Akteure konnte daher über die Analyse der Lehrerpositionen ein durchaus positiver der Sinn der Kunstbetonung nachgewiesen werden, der die individuellen Krisen mildert, die aus den Schwierigkeiten resultieren, die Existenz der Regelschule in diesem Einzugsgebiet zu sichern. Denn die Idee der ›Schöpfung des Schülers‹ schließt gleichsam die Lehrer als ›Schöpfende‹ mit ein und verleiht bei entsprechender Nutzung der ›schöpferischen Freiheiten‹ dem pädagogischen Handeln einen genuinen Sinn. Dennoch muss an dieser Stelle festgehalten werden, dass die Schule mit ihrer ästhetischen Kultur versucht, das aufklärerische Bildungsprojekt der Moderne zu verbürgen, in dessen Horizont die allgemeinbildende Schule steht. Dazu ist jedoch eine immense Steigerung der imaginären Anteile der Schulkultur notwendig, wodurch die Schule, insbesondere angesichts drängender werdender Problematiken aus dem Außenbereich, immer wieder in Krisen gerät, da die realen Schwierigkeiten im Dienste des Bildungsideals und des stark reformpädagogisch geprägten Bildes vom Kind inner- und außerschulisch ausgeblendet werden müssen. Die Schulprogrammarbeit von Regelschulen eignet sich im fortschreitenden Modernisierungsprozess also durchaus zur Entwicklung der Institution. So gelingt es der Sonnenlicht-Grundschule nur auf diesem Weg, ihre Existenz als moderne Regelschule, die sich aufklärerischen Bildungsidealen verpflichtet sieht, in diesem sozialen Brennpunkt zu sichern. Sie löst damit aber nicht die sozialen und kulturellen Krisen der modernen Gesellschaft, sondern in erster Linie die Krisen der Institution. Die Schule ist dennoch schulkulturell sozusagen noch einen Schritt weiter als die von Helsper u.a. (2001) analysierten gymnasialen Kulturen, die dort durchweg als »imaginäre Anspruchs- und Verkennungskulturen« bezeichnet werden, da sie das Reale der Schule zum gesellschaftlich Realen verschieben und innerschulisch durch das Imaginäre ersetzen. Die kunstbetonte Schule legitimiert dagegen dieses Ausblenden der krisenhaften Anteile der schulischen und außerschulischen Realität strukturell durch ihre Kultur der Krise durch Muße, denn für diese ist die Entlastetheit von realen Krisen konstitutiv. Einerseits könnte man darin nun eine gesteigerte Variante des Ausschlusses des Nichtidentischen sehen, andererseits ist durchaus auch noch möglich, dass die Schule aufgrund jener prinzipiell in der ästhetischen Erfahrung angelegten reflexiven Spur der spielerischen Selbstverständigung für den Fall, dass es ihr in weiten Bereichen tatsächlich gelingt, ästhetische Erfahrungen der Schüler zu ermöglichen, zu einer zeitgemäßen Form der Selbstvergewisserung des Individuums im Modus ohne Ansehen ihrer Herkunft anstrebt. Dieses Gleichheitspostulat, seine Möglichkeiten und Grenzen wurden insbesondere zum »pädagogischen Problem« (Benner 2001: 63).
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der ästhetischen Reflexivität (vgl. Alheit/Brandt 2006: 418) beiträgt. Denn es geht nicht um eine Vermeidung von Krisen, sondern gerade um die Ermöglichung von solchen – in Muße. In dieser Deutungsspur könnte man ebenso eine Herausforderung der Schüler durch die (Schul-)Kultur annehmen (vgl. Mollenhauer 1994: 83), die durchaus eine Aufkündigung harmonischer Generationenbeziehungen implizieren kann (vgl. Mollenhauer 1997: 223). Eine solche Offerte birgt dann wie im vorliegenden Fall die Gefahr einer strukturellen Enteignung der elterlichen Würde in sich (vgl. Cloer 2005: 162), kann aber ebenso die Chance zu einer Bereicherung der Elterngeneration eröffnen. Eine letztendliche Bewertung dieser noch durchaus unterschiedlichen Deutungsrichtungen ist an diesem Punkt der Analysen aufgrund der Grundstruktur ästhetischer Erfahrung noch nicht möglich und wird erst über die Rekonstruktion und Analyse der Schülerpositionen in Angriff genommen werden.
5. Rekonstruktion der Schülerpositionen 5.1 »die wollen dass ich was schaffe«. Majda: Organisierte Imagination und Bildungserfolg 5.1.1 Biografische Notiz Majda ist zum Zeitpunkt des Interviews 11 Jahre alt und besucht die sechste Klasse. Die Familie wohnte zunächst im unmittelbaren Einzugsgebiet der Schule. Vor einigen Jahren erfolgte allerdings ein Umzug in den südlichen Rand des Stadtbezirks in eine Eigentumswohnung mit Garten. Trotz der nun größeren Entfernung wurde auch Majdas kleiner Bruder in die Sonnenlicht-Grundschule eingeschult. Er besucht zum Zeitpunkt des Interviews die zweite Klasse. Majdas Vater hat einen Hauptschulabschluss und arbeitet als Bauleiter. Dem Protokoll ist nicht sicher zu entnehmen, ob er auch Inhaber dieser Firma ist, aber es deutet vieles auf eine Selbstständigkeit hin. Majda formuliert, der Vater sei »der boss von da und sagt dann was die anderen machen sollen und so«. Die Mutter hat die Schule mit einem Realschulabschluss beendet, ist ausgebildete Krankenschwester und arbeitete lange in einem »laden«, aber »jetzt arbeitet/arbeitet sie in dem büro von mei’m vater also zusammen im geschäft«. Die Familie ist türkischer Abstammung und Majda gehört zumindest mütterlicherseits zu der ersten Generation, die in Deutschland geboren wurde und auch hier aufwächst. Die Mutter kam erst mit 11 Jahren aus der Türkei. Obwohl Majda selbst nur einen Bruder hat, kann angenommen werden, dass die gesamte Familie relativ groß ist. In einer Passage des Interviews zählt Majda Teile ihrer Verwandtschaft auf und kommt dabei auf insgesamt zehn Cousins und Cousinen, die alle in demselben Stadtteil leben und zum Teil auch die kunstbetonte Grundschule besuchen. Darüber hinaus berichtet sie von zwei Cousinen aus Bayern, die zur Familie des Vaters gehören. Bei der väterlichen Linie kann der Zeitpunkt der Migration nicht bestimmt werden. Die große Familie ist beruflich und privat eng miteinander verbunden. Die Büros liegen teilweise in demselben Gebäude, Freizeitaktivitäten sowie Urlaube werden gemeinsam begangen.
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5. Rekonstruktion der Schülerpositionen
Majda ist Mitglied in einer Basketball-Mannschaft und berichtet von gemeinsamen Unternehmungen mit der Familie. Sie gehen ins Museum, ins Spielland, zum Schwimmen, oder spielen bei gutem Wetter im neuen Garten.
5.1.2 Interaktionsstruktur und individuelle Habitusformation Obwohl durch die biografische Notiz bereits Kontextwissen eingeführt wurde, erfolgt die Darstellung der Rekonstruktion des Interviewanfangs entsprechend dem methodischen Vorgehen der objektiven Hermeneutik zunächst ohne den Rückgriff auf diese Informationen. Im Verlauf werden allerdings insbesondere die Rekonstruktionen bezüglich des Interviewortes und der am Interview beteiligten Personen stark verkürzt dargestellt. Um den Nachvollzug der Analysen für den Leser zu erleichtern, werden in der Regel längere Interviewpassagen präsentiert, auch wenn die Darstellung der Rekonstruktion zunächst noch sequenzanalytisch erfolgt. I: so, und zwar geht es jetzt so los dass ich ganz gerne, ähm, so am anfang, äh wär toll wenn du so’n bisschen erzählen würdest, und zwar interessiere ich mich so, also jetzt nicht nur für die schule, sondern auch so’n bisschen für das leben von, so, kindern aus […] (Name des Stadtteils), Am Beginn der Sequenz wird durch einen Sprecher (I) die Interaktion über das »so« sprachlich strukturiert. Dieser ist somit höchstwahrscheinlich in einer Position, die eine solche Strukturierungsmacht legitimiert. Das »und zwar« verweist nun darauf, dass mit der Sequenz an einen bereits zuvor eröffneten Interaktionsraum angeschlossen wird, der entweder unstrukturiert oder weniger strukturiert gewesen sein muss oder nicht von I selbst strukturiert worden ist. Es folgt die Ankündigung eines Beginns, die in sich eine zeitliche Inkonsistenz birgt. Denn entweder etwas (»es«) geht jetzt los. Dann liegt der Zeitpunkt des Beginns in dem Moment des Sprechaktes selbst, wodurch es im Grunde nicht mehr möglich ist, diesen Beginn im Folgenden zu beschreiben, wie es in dem »so« ausgedrückt ist. Oder der Beginn liegt in der Zukunft, dann hätte der Sprecher jedoch passend formulieren müssen, dass es jetzt gleich losgeht. Insofern kann gefolgert werden, dass etwas losgeht, das aber gleichzeitig von I kommentiert wird. Darin kommt eine Distanz des Sprechers zu der Sache, die losgeht, zum Vorschein. Des Weiteren kann angenommen werden, dass es eine oder mehrere Personen gibt, für die I diesen Beginn kommentiert. Aus welchem Grund könnte eine solche Beschreibung eines Ablaufes notwendig werden? Sollte (1) denjenigen, für die der Kommentar stattfindet »es« unbekannt oder fremd sein, dann handelt I in ihrem
5.1 Organisierte Imagination und Bildungserfolg: Majda
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Interesse, indem er einen Nachvollzug der Situation unterstützt. Der Ablauf könnte jedoch (2) schon bekannt sein, dann handelte es sich um den Versuch der Absicherung des reibungslosen Vollzugs, wodurch allerdings eine Bedrohung des Gelingens unterstellt wird, der durch eine nochmalige Erklärung entgegengewirkt werden soll. Daraus könnte auf Inkompetenzen, Unaufmerksamkeiten oder aktives Störungspotenzial bei den oder dem Beteiligten geschlossen werden. Eine wiederholte Klärung des Ablaufes könnte (3) jedoch auch in der Sache selbst begründet liegen, wenn es sich z.B. um den Nachvollzug oder die Beteiligung an einem stark abstrakten Geschehen handeln würde. Die bislang entfalteten Lesarten werden durch die folgende Sequenz gebrochen. Konnte zuvor noch angenommen werden, dass es sich um die Kommentierung eines von I relativ unbeeinflussbaren Ablaufes handelt, wird nun über das Personalpronomen »ich« eine weitere Dimension eingeführt, die deutlich macht, dass es sich bei »es« im Grunde um etwas handelt, das »ich« gerne hätte. Die zunächst klare Setzung des Ablaufs von »es« wird damit verhandelbar. Denn nun hängt der gelingende Beginn davon ab, ob die oder der angesprochene dieser Bitte bzw. dem Wunsch von I nachkommen wird. Es ist also möglicherweise anzunehmen, dass es sich bei der Form der distanzierten Kommentierung um den Versuch gehandelt hat, die eigenen Absichten und Wünsche, deren Erfüllung anscheinend von der Beteiligung der Angesprochenen abhängt, als Anforderungen eines scheinbar natürlichsachgemäßen Ablaufes erscheinen zu lassen, um eine mögliche Verweigerung der Interaktion auszuschließen. Diese Transparenz zurücknehmend, folgt nun der dritte Ansatz der Interviewerin, die Interaktionssituation zu rahmen.85 Dabei wird nun insbesondere die Anforderung konkretisiert. Es soll also am Anfang darum gehen, dass jemand etwas erzählt. Das heißt, es kann angenommen werden, dass es zwar einerseits einen gewissen Plan des Ablaufs gibt, der zumindest einen spezifischen Anfang vorsieht, dass dieser Plan aber zwingend von der gelingenden Interaktion mit »du« abhängt. Die Interviewerin scheint allerdings entweder Schwierigkeiten damit zu haben, diesen Plan umfassend als eigene Strukturierung zu verbürgen, oder sie versucht, sich bewusst von diesem zu distanzieren, um sich unterstützend auf die Seite desjenigen zustellen, der nun die Anforderungen dieses abstrakten Plans erfüllen muss. In der Formulierung »am anfang, äh wär toll« kommt diese riskante und von Scheitern bedrohte Beziehung zwischen Plan und Erfüllung wiederholt zum Vor85 Die Fallstruktur der Interviewerin ist für die Rekonstruktionen nur im Hinblick auf die durch diese beeinflusste Interaktionsstruktur von Interesse und wird darüber hinaus nicht in die Analysen miteinbezogen. Aus diesem Grund werden auch im weiteren Verlauf die Fragen der Interviewerin nur reduziert rekonstruiert und es wird von nun an aus Lesbarkeitsgründen das Geschlecht von I als weiblich ausgewiesen.
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5. Rekonstruktion der Schülerpositionen
schein. Gleichzeitig wird dem Angesprochenen gegenüber die Gefahr einer möglichen Verfehlung relativiert. Denn eine Nichterfüllung führt nicht zu einer emotionalen Enttäuschung. Es wäre »toll«, wenn es gelingt, eine Verfehlung hätte allerdings zumindest für den, der erzählen soll, keine weiteren Konsequenzen. Die Anforderung besteht nun anscheinend hauptsächlich im Erzählen, denn worüber erzählt werden soll wird erst im Folgenden expliziert. Damit liegt auch in der Form des Erzählens selbst ein Scheiternsrisiko begründet. Das erklärt zum Teil die Unsicherheiten und zurückgenommenen Strukturierungsversuche der Interviewerin, die in dem ›holprigen‹ Beginn dieser Erzählaufforderung zum Ausdruck kommen, denn die Interaktion muss dem Anderen einen Raum offen halten bzw. zur Verfügung stellen, der erzählend gefüllt werden kann. Der Wunsch, dass etwas erzählt wird, ist für Prozess des Erzählens selbst, der auf eine autonome Entfaltung des Erzählenden angewiesen ist, prinzipiell behindernd. Diese Grundsituation scheint aber für eine Begründung der Unsicherheiten noch nicht hinreichend. Es stellt sich also die Frage, wer darüber hinaus an der Aufgabe »ein bisschen zu erzählen« begründet scheitern kann? Es besteht erstens die Möglichkeit, dass der Erzählende Träger einer wie auch immer als belastend erfahrenen Biografie ist, was ein Erzählen, das immer mit aktiver Erinnerungsarbeit verbunden ist, erschwert. Eine zweite Variante ist die Einschränkung der geistigen und/oder körperlichen Kompetenz, die ein mündliches Vortragen bzw. den Zusammenhang von Erinnern und Erzählen beeinträchtigt. Des weitern wären auch äußere Rahmenbedingungen neben der Interviewsituation selbst vorstellbar, die ein Erzählen erschweren (unruhiges Umfeld, Anwesenheit anderer Personen). Da der oder die Interviewte nun aber mit »du« angesprochen wird, kann vermutet werden, dass es sich um ein Kind handelt, dem evtl. aufgrund seines Alters eine noch nicht ausreichend vorhandene Erzählkompetenz unterstellt wird.86 Im Protokoll folgt nun die weitere Explikation der Interaktionsrahmung. In erster Linie soll also etwas erzählt werden, wofür die Interviewerin sich interessiert. Insofern wird auch inhaltlich von der Erzählenden verlangt, dass sie den Vorgaben folgt. Ein Scheitern ist nun in zweifacher Hinsicht möglich, zum einen durch eine unzureichende Form, zum anderen dadurch, dass nicht das erzählt wird, wofür die Interviewerin sich interessiert. Wenn man davon ausgeht, dass keine fiktiven Geschichten intendiert sind, sondern Erfahrungen, Ansichten und die Persönlichkeits-
86 Aufgrund der vorangestellten biografischen Notiz wird an dieser Stelle und auch im Folgenden insbesondere der Rekonstruktionsvorgang bezüglich der Identität des Interviewten stark verkürzt dargestellt. Entsprechend wird nachfolgend auch das Geschlecht des Interviewten als weiblich ausgewiesen.
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struktur der Erzählenden thematisch werden sollen, dann ist diese Rahmung gerade vor dem Hintergrund einer möglicherweise eingeschränkten Kompetenz der Interviewpartnerin spannungsvoll in Bezug auf eine darin liegende Anerkennungsdynamik, in der die Interessen der Erzählenden zurückgewiesen werden könnten. Insgesamt werden die Spannungsmomente jedoch (auch im Folgenden) durch Zusätze wie »ein bisschen« und »so« immer wieder aufgeweicht und verschleiert. Dadurch wird die strukturierende Macht zurückgenommen, um das Gegenüber nicht zu sehr einzuengen und dadurch zurückzuweisen bzw. zu entmutigen. Die inhaltliche Ausrichtung der Erzählung wird interessanterweise zuerst durch eine Negation bestimmt. Damit kann angenommen werden, dass die Schule in dem Setting eine besondere Rolle spielt, denn die Interviewerin geht davon aus, dass ihre Gesprächspartnerin annimmt, sie interessiere sich ausschließlich für die Schule. Es muss sich also um eine Person handeln, die in engem biografischen Kontakt zur Schule steht, dort arbeitet, über Schule arbeitet oder als Schülerin eine Schule besucht. Darüber hinaus kann angenommen werden, dass es sich um eine bestimmte Schule handelt, die zunächst nicht thematisch werden soll. Diese Neuausrichtung des Interesses ist für die Interviewte (Majda) höchstwahrscheinlich irritierend. Entgegen ihren Erwartungen, über ein begrenztes, rollenförmig darstellbares Erfahrungsfeld zu berichten, wird sie nun offensichtlich auf unbekanntes Terrain gelockt. Ferner kann sogar unterstellt werden, dass die Interviewerin diese für die Angesprochene vermutlich beunruhigende thematische Erweiterung absichtlich erst in der Situation selbst vornimmt. Implizit transportiert diese Ausweitung des Interesses die Annahme der Interviewerin, dass Majda auch über ihr Leben in einem bestimmten Stadtteil begründet erzählen kann und dass das Leben unterschiedlicher Kinder ähnlich von den spezifischen Strukturen eines Stadtteils, also von Straßenzügen, Einkaufsmöglichkeiten, kulturellen Angeboten, Bevölkerungsstruktur, Erreichbarkeit und Nähe von Freunden und Verwandten, Spielplätze, Schulen, Kindergärten etc. geprägt wird. M: ach so Diese erste Reaktion Majdas ist Ausdruck der kognitiven Verarbeitung einer Information, die spontan ein Vorverständnis korrigiert bzw. erweitert. Das heißt, entweder wurden vorherige Zeichen missverstanden oder die Zeichen selbst waren irreführend bzw. nicht ausreichend, was zu einem unzureichenden Verständnis geführt hat. Es handelt sich also nicht um das Eingeständnis eines Irrtums, das passenderweise mit »oh« hätte eingeleitet werden können, oder um ein bruchloses Einverständnis mit der Interaktion wie z.B. bei den Reaktionen »o.k.« oder »mhm«.
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Inhaltlich kann angenommen werden, dass Majda die erweiterte Anforderung irritiert, nicht nur über die Schule, sondern auch über das Leben von Kindern aus einem bestimmten Stadtteil zu erzählen. Gleichzeitig wird mit diesem Einschub der Interviewerin gegenüber das differente Vorverständnis artikuliert. Diesbezüglich sind verschiedene motivische Lesarten konstruierbar: 1. Die Reaktion zeugt von einem aufmerksamen Nachvollzug der an Majda gerichteten Anforderungen. Sie ist also sehr darum bemüht, diese umfassend und richtig zu verstehen, um wiederum adäquat reagieren zu können. 2. Majda könnte ferner daran gelegen sein, diesen Verständnisprozess der Interviewerin gegenüber transparent zu machen, um dadurch bereits auf ihre kognitive Aktivität, ihre Motivation und Leistungsfähigkeit hinzuweisen. 3. Liest man die Sequenz primär als Ausdruck der Überraschung, dann kann es auch darum gehen, I deutlich darauf hinzuweisen, dass sie sich auf die Interviewsituation unter anderen Voraussetzungen eingelassen hat, als sie nun in der Eröffnung der Frage zum Vorschein kommen. Dann handelt es sich um eine Strategie der aktiven Absicherung gegenüber einem möglichen Scheitern, denn ein solches läge in der unzureichenden Klärung der Aufgabe durch die Interviewerin begründet. Diese wäre herausgefordert, sich auf einen erneuten bzw. erweiternden Aushandlungsprozess einzulassen, um eine gemeinsame Basis für den Fortgang der Interaktion zu schaffen. 4. Zusätzlich ist es gewiss möglich, dass Majda, aus welchem Grund auch immer, tatsächlich nicht in der Lage ist, über das Leben von Kindern aus dem besagten Stadtteil zu erzählen. In diesem Fall könnte sogar der Abbruch des Interviews folgen. I: und du wohnst ja hier oder in der nähe ne Die Interviewerin reagiert nun zwar auf die Differenzbekundung von Majda. Dies geschieht jedoch mit einer Frage, die mit dem nachgeschobenen »ne« zum einen der Annahme Ausdruck verleiht, sie würde hier oder in der Nähe wohnen, und zum anderen deutlich die Bestätigung dieser Vorannahme einfordert, die Voraussetzung für eine gelingende Interaktion zu sein scheint. Damit wird versucht, einen erneuten Aushandlungsprozess, an dessen Ende ein möglicher Abbruch des Gesprächs stehen könnte, gar nicht erst aufkommen zu lassen. Der Interviewerin scheint also mehr daran gelegen zu sein, dass das Gespräch überhaupt stattfindet, als dass es
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wichtig wäre, dass die interviewte Person genaue Kriterien erfüllt. Zu dieser Lesart passt, dass die Aussage »hier oder in der nähe« im Grunde sehr unkonkret ist und letztendlich von einer subjektiven Einschätzung von Nähe und Ferne abhängt. Implizit wird signalisiert, dass Majda unabhängig von ihrem tatsächlichen Wohnort als Gesprächspartnerin in Frage kommt. Sie hat nun also die Möglichkeit, dieser eingeforderten Voraussetzung zuzustimmen und sich dabei unproblematisch auf die angebotene Deutung von »in der nähe« einzulassen. Sie würde es dann auf ein mögliches Scheitern im Verlauf des Gesprächs ankommen lassen, wenn es evtl. doch dazu kommt, dass die subjektiven Verständnisse von »in der nähe« miteinander abgeglichen werden müssen. Sie könnte sich aber auch weigern, auf diese angebotene Lösung der Differenz einzugehen. Allerdings bräuchte es dazu einiges an Widerspruchskraft. M: m m (verneinend) Geht man davon aus, dass es für ein Zustandekommen des Interviews wesentlich ist, dass Majda in jenem Stadtteil wohnt, dann wäre objektiv an dieser Stelle ein Abbruch des Gesprächs notwendig. Allerdings konnte auch schon herausgearbeitet werden, dass es der Interviewerin anscheinend nicht hauptsächlich um die Erfüllung spezifischer Kriterien geht, sondern um die Fortführung des Gesprächs überhaupt. In Anbetracht der suggestiven Kraft, die die Interviewerin aufgewendet hat, um von Majda eine Einwilligung zur gemeinsamen Fortsetzung der Interaktion zu erlangen, ist es interessant, und wenn es sich tatsächlich um ein Kind handelt, erstaunlich, dass mit dieser Sequenz die angebotene Deutung ›hier oder in der Nähe zu wohnen‹ nicht angenommen, sondern klar verneint wird. Es ist also (1) möglich, dass es für Majda sehr bedeutsam ist, nicht hier oder in der Nähe zu wohnen. In diesem Fall würde sie sich zudem von den spezifischen Einflussfaktoren abgrenzen, die dem besagten Stadtteil von der Interviewerin bereits zugeschrieben wurden. Es könnte sich damit um die Artikulation von Distinktion handeln. Es können (2) jedoch auch subjektive Entfernungsempfindungen eine große Rolle spielen. Majda könnte den Eindruck haben, tatsächlich ›sehr weit weg von hier‹ zu wohnen. Die besondere Form der Verneinung (»m m«) könnte dann z.B. auch als Ausdruck des Bedauerns gelesen werden. Zudem müsste es einen Grund geben, warum sie dennoch »hier« ist, z.B. hier zur Schule geht oder ein Freizeitangebot wahrnimmt. Die Ablehnung der Zuschreibung, sie würde hier oder in der Nähe wohnen, wird nun jedoch in einer besonderen Form vorgebracht, die sich konträr zu der Wi-
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derspruchkraft als solcher verhält. Das »m-m« ist in seiner Wirkung auf ein Gegenüber im Gegensatz zum klar artikulierten ›Nein‹ abgeschwächt, da es nur im vorbegrifflichen Bereich legitim verwendet werden kann. Majda bedient sich hier also einer kleinkindlichen Ausdruckweise, über die sie bezüglich ihrer sprachlichen Entwicklung schon lange hinweg sein muss, und greift damit auf ein ›KindchenSchema‹ zu, wodurch sie sich als nicht-gleichwertigen, schutzbedürftigen Partner inszeniert und bei Beteiligten auf die Einnahme einer fürsorgenden Haltung dringt. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Majda der Konfrontation nicht ausweicht, was von einem stabilen und starken Selbstbild zeugt, dass sie darüber hinaus aber eine Form wählt, die die möglicherweise negativen Folgen dieses Handelns abwenden soll. I: kannst du M: listringen I: ah ja, na kannst du ja gleich erzählen (M: lacht) genau und dann . äh es wär’ toll wenn du dich so erinnern würdest an die zeit als du klein warst . so von da an wo du geboren worden bist, ich weiß gar nicht ob du hier geboren worden bist oder so M: doch, hier, ja Die Interviewerin versucht unmittelbar im Anschluss, die Strukturierung des Gesprächs wieder zu übernehmen, wird daraufhin erneut unterbrochen, woraufhin sie die begonnene Sequenz zunächst nicht zu Ende führt, den Faden dann aber wieder aufnimmt. Bei dem Eigennamen, den Majda sozusagen noch hinter die Negation ›hier zu wohnen‹ anhängt, handelt es sich um die konkrete Bezeichnung eines an den besagten Stadtteil angrenzenden Bezirks. Die Abweichung von der Annahme der Interviewerin wird darüber konkretisiert. Zudem wird die Lesart gestärkt, dass diese Abweichung und damit der spezifische Wohnort für sie von besonderer biografischer Bedeutung ist. Jedoch könnte die Konkretisierung auch auf eine weitere Aushandlung zielen, die sich nun darum drehen müsste, ob Listringen noch in der Nähe liegt oder nicht. Die Interviewerin versucht jedoch erneut, die Unterbrechungen und damit den Aushandlungsprozess zu stoppen und verweist jegliche Informationen an die noch kommende Erzählung. Damit nimmt sie auch dem bisherigen Ablauf der Interaktion die Brisanz, dass Majda als Interviewpartnerin möglicherweise nicht in Frage kommen könnte. Denn jegliche Information wird nun als Teil der eingeforderten Erzählung ausgewiesen und ist damit, eingebettet in
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eine solche, auch als Abweichung von den Erwartungen interessant. Dabei wird erneut versucht, die Gefahr eines möglichen Scheiterns zu verdecken. Die nun konkretisierte Erzählaufforderung wird zunächst auf die Zeit des Kleinkindalters, also die Zeit der ersten eigenen Erinnerungen, fokussiert. Durch den nachfolgenden Verweis auf den Zeitpunkt der eigenen Geburt, der sich in der Regel den eigenen Erinnerungen entzieht und nur über die Erinnerungen und Aufzeichnungen Anderer eingeholt werden kann, wird die eigentlich geforderte biografische Erzählung riskant zugunsten einer Rekapitulation des Lebenslaufs als Aneinanderreihung biografischer Daten eingeschränkt. Das explizite Interesse der Interviewerin an Majdas Geburtsort unterstellt dabei potenzielle Fremdheitserfahrungen. Wiederum bleibt die Ortsbezeichnung mit »hier« sehr unbestimmt. Es kann sich um jenen besagten Stadtteil handeln, die Stadt an sich oder um ein spezifisches Land – in diesem Fall würde ein Migrationshintergrund angenommen werden. Schließlich wird sie von Majda erneut unterbrochen, die unmittelbar auf die Thematisierung ihres Geburtsortes antwortet. Dieses schnelle Reagieren auf Fragen, die zum einen noch nicht zu Ende geführt wurden und zum anderen gar nicht als sofort zu beantwortende angelegt sind, deutet bei Majda auf ein stark ausgeprägtes Bemühen, den an sie gerichteten Anforderungen unmittelbar nachzukommen. Darüber hinaus scheint sie in besonderer Weise in der Lage zu sein, solche Anforderungen sowie implizite Bedeutungen zu antizipieren. Denn sie reagiert mit dem »doch« direkt auf die angelegte Unterstellung, sie könne, aus welchem Grund auch immer, ortsbezogene und damit höchstwahrscheinlich kulturelle Fremdheitserfahrungen gemacht haben, weist diese inhaltlich aber zurück. Da die Unterstellung an sich nicht zurückgewiesen wird, müssen Gründe vorliegen, die die Annahme der Interviewerin rechtfertigen, ihr Gegenüber könnte möglicherweise nicht »hier« geboren worden sein (z.B. ein bestimmtes Äußeres, ein Akzent, etc.). I: genau, kannst du dann ja erzählen, und dann so die/wie des alles so verlaufen ist, wo du gewohnt hast, wie deine familie so war oder is . kindergartenzeit und schule, kannst ja einfach erstmal anfangen, ich frag’ dann nach Majdas erzählerische Aktivität wird mit dieser Textpassage erneut an die kommende Erzählung verwiesen, deren Beginn die Interviewerin im Moment noch vorbereitet. Mit dem »genau« wird allerdings der anweisende Charakter wiederum abgeschwächt, denn es bringt eine grundsätzliche Anerkennung für ihre Aktivitäten zum Ausdruck. Im Folgenden werden nun noch weitere Lebensbereiche und -stationen vorgestellt, für die sie sich interessiert. Dadurch werden gleichzeitig Orientierungskriterien für
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die Erinnerungsarbeit vorgegeben, die chronologisch geordnet sind. Die Interviewerin ist also offensichtlich an einer persönlichen Darstellung des Verlaufs einer individuellen Lebensgeschichte interessiert. Diese »große Geschichte« wird aber in kleine Portionen untergliedert, an denen die Darstellung sich orientieren kann. Damit wird die Lesart gestärkt, dass der Interviewpartnerin unterstellt wird, sie könne an der Gesamtaufgabe, ihre bisherige Lebensgeschichte zu erzählen, scheitern, oder sie könne mit der Formulierung ›erzähl mir bitte Deine Lebensgeschichte‹ nichts anfangen. Deshalb wird die Aufgabe als solche umschrieben. Das führt in diesem Fall zu einer Konkretisierung, die den biografischen Erzählprozess möglicherweise stark fokussiert, sowie zu einer Häufung von Fragen und Aufmerksamkeitsrichtungen, die an die Erzählkompetenz von Majda dennoch hohe Anforderungen stellen oder sie möglicherweise verwirren könnten. Dabei ist die Interviewerin nachhaltig darum bemüht, der Situation den Charakter einer Bewährung zu nehmen. Denn Majda soll einfach anfangen, ohne sich durch die Sorge um ein mögliches Gelingen oder Misslingen zu belasten. Durch das »erstmal« wird allerdings klar, dass diesem Anfang etwas folgen wird, nämlich ein Nachfrageteil, in dem die Interviewerin wahrscheinlich strukturierend eingreift, um mögliche Lücken oder offene Interessenlagen zu schließen. Das heißt auch, dass sie für das Gelingen der Situation selbst mit Sorge tragen wird. Diese Hilfestellung verweist zum einen auf ein abgeschwächtes Scheiternsrisiko, zum anderen ist eine solche zuteil werdende Hilfe als Reaktion auf unterstellte Defizite zunächst autonomie-einschränkend. In diesem Fall behält die Interviewerin sozusagen das Recht, die Erzählung zu unterbrechen und über Fragen zu leiten. M: ach so einfach so lebenslauf erzählen I: genau einfach M: oh gott . I: genau (langgezogen) einfach so ein biss-chen erzählen, ich hör zu M:das habe ich noch nie gemacht Obwohl die Interviewerin ihre Aufforderung anscheinend zu Ende formuliert hat, folgt immer noch nicht der erwartete Erzählbeginn. Stattdessen wird von Majda erneut eine Auseinandersetzung mit der Aufgabe und damit den Erwartungen die Interviewerin in den Mittelpunkt gestellt. Sie weist sich an dieser Stelle allerdings als jemand aus, der verstanden hat, worum es geht, und sogar in der Lage ist, diese Anforderung unter einem ihr zur Verfügung stehenden Begriff zu subsumieren. Darüber hinaus scheint sie im Folgenden in der Lage zu sein, diese Aufgabe
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»einfach« zu bewältigen. Diese Sequenz steht damit in einem starken Kontrast zu dem ihr unterstellten Kompetenz- und Verständnisdefizit. Gleichzeitig wird durch diese Reformulierung der Aufgabe aber auch eine Stellungnahme der Interviewerin eingefordert, ob diese nun tatsächlich korrekt verstanden wurde. Diese könnte nun mit dem Begriff des ›Lebenslaufs‹, der sehr stark auf eine Aneinanderreihung biografischer Daten zielt, und in schriftlicher Form möglicherweise in der Schule oder in anderen Lebensbereichen bereits teilweise geübt und damit in einer bestimmten Form routinisiert wurde, Schwierigkeiten haben, obwohl diese Lesart durch die Formulierung des Erzählstimulus angelegt wurde. Die Interviewerin, die offensichtlich auf einen Beginn der Erzählung hinarbeitet, weist nun mit ihrer Reaktion die Reformulierung der Aufgabe nicht zurück und kritisiert auch nicht den einschränkenden Begriff des ›Lebenslaufs‹. Stattdessen wird Majda in der Annahme bestätigt, es nun verstanden zu haben und damit die Aufgabe zu einer »einfachen«, also sicher gelingend zu bewältigenden gemacht zu haben. Gleichzeitig platziert die Interviewerin sich am Ende der Sequenz in einer passiven Gestaltungsposition (»ich hör zu«) und versucht damit, die Strukturierung stärker an Majda abzugeben. Dadurch wird die ausgeprägte Form der Hilfestellung ein Stück zurückgenommen. Dem zunächst scheinbar klaren Verständnis dessen, was sie tun soll, folgt bei Majda in ihrer nächsten Redesequenz die symbolische Anrufung von Gott. Sie unterbricht damit die Interviewerin schon nach deren erstem »genau einfach«. Insofern ist der Ausruf keine Reaktion auf ihre passiver werdende Haltung, sondern eine, die an dem von der Interviewerin bestätigten Klärungsprozess anschließt, den Lebenslauf zu erzählen. Sie scheint von ihrem eigenen Erkenntnisprozess so überrascht, dass sie angesichts der nun von ihr erfassten Größe der Aufgabe um göttlichen Beistand bittet. Die folgende Aussage »das habe ich noch nie gemacht« ist dagegen zunächst eine rein sachliche Feststellung, die eine andere Person darauf hinweist, dass man herausgefordert ist, etwas zu tun, worin man keinerlei Übung und damit keine Routine hat. Es ist die Beschreibung und damit gleichzeitig die Erkenntnis der kommenden krisenhaften Situation: Sie könnte an dieser Aufgabe scheitern. Denn obwohl sie die Aufgabe nun offenbar verstanden hat, kann sie den Verlauf und die konkreten Anforderungen nur antizipieren. Ein gutes Gelingen ist nicht gesichert, nicht abhängig von oder kalkulierbar über einen rationalen Zugriff, sondern im Augenblick höchst ungewiss und kontingent. Entsprechend dieser Ungewissheit der Situation richtet Majda ihren Ruf um Beistand auch nicht an die Interviewerin. An dieser Stelle im Protokoll wird ganz deutlich, dass es sich bei Majda um eine Person handelt, die in höchstem Maße versucht, mögliche Scheiternserfahrungen
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auszuschließen, weil ein habitueller Glaube an das gute Gelingen bei ihr nicht verankert zu sein scheint. Stattdessen versucht sie über detaillierte Klärungs- und Verständnisprozesse, die auf entsprechende kognitive Möglichkeiten schließen lassen, die an sie gerichteten Anforderungen genau zu erschließen, um sie adäquat umzusetzen. Nachdem in dieser Situation nun aber klar ist, dass niemand das Gelingen garantieren kann, wendet sie sich an die letztmögliche, in dieser Situation eventuell noch handlungsmächtige Instanz – Gott. Damit wäre diese Sequenz als solche rekonstruiert. Im Kontext des bisherigen Protokolls ergeben sich allerdings noch weiterführende Lesarten, die nun im Folgenden expliziert werden sollen. Dabei ist von besonderer Bedeutung, dass Majda die Thematisierung der Krise, des damit zusammenhängenden möglichen Scheiterns sowie den ›religiösen Hilferuf‹ im Anschluss an eine Interaktion ausführt, in der sie sich eigentlich als sichere Interviewpartnerin dargestellt hatte, die weiß, was von ihr erwartet wird, und die in der Lage ist, diese Aufgabe ohne große Bemühungen (einfach) zu bewältigen. Daraus ergibt sich ein Widerspruch, zu dem folgende Varianten konstruierbar sind. 1. Es besteht die Möglichkeit, dass sie tatsächlich erst in dem Moment, in dem sie begreift, was sie im Folgenden tun soll, auch die Dimension und die krisenhafte Herausforderung ihrer Person durch die Aufgabe erkennt. Dann könnte es sein, dass die Aufgabe, die eigene Lebensgeschichte zu erzählen, im Augenblick des ersten Verständnisses einfach erscheint, weil sich sozusagen die Aufgabe selbst erschlossen hat, die Risiken jedoch erst im nächsten Moment realisiert werden. 2. Die konsequente Unterstellung von Defiziten sowohl bezüglich der Erzählkompetenz als auch des Verständnisses der komplexen Aufgabe könnte dazu geführt haben, dass Majda über die Erkenntnis des hohen Scheiternsrisikos nun diese Zuschreibungen rollenspezifisch übernimmt, um sich eventuell die Unterstützung die Interviewerin zu sichern. Die Strategie des Selbst, die zu Erfolg in Bewährungssituationen führt, wäre dann das habituelle Angleichen an Fremdbilder. In diesem Fall hätten wir es mit einem sehr instabilen Selbstkonzept zu tun, das sich schnell in Abhängigkeitsverhältnisse begibt. Diese Lesart wird durch die vorherigen Rekonstruktionen allerdings nicht gedeckt. Der Wandel käme an dieser Stelle äußerst unvermittelt und müsste sich am Fortgang des Protokolls erst bestätigen. 3. Die dritte Variante ergibt sich aus einem weiteren der letzten Sequenz inhärenten Widerspruch. Warum weist Majda die Interviewerin überhaupt darauf hin, dass sie noch nie ihren »Lebenslauf« erzählt hat? Die Interviewerin kann in kei-
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nem Fall annehmen, dass sie bezüglich einer biografischen Erzählung bereits auf routinierte Praktiken zurückgreifen kann. Ein Hinweis auf ein mögliches Scheitern ist im Grunde aber nur dann nötig, wenn der Andere nach Meinung des zur Handlung herausgeforderten zu hohe Erwartungen an einen möglichen Erfolg hat, die ausgeräumt werden sollen. Erst unter dieser Voraussetzung, wird einerseits das potenzielle Gelingen wieder besonders anerkennungswürdig, während andererseits im Falle des Scheiterns die Erwartungen des Anderen nicht enttäuscht werden, was möglicherweise negative Reaktionen hervorrufen könnte. Die Interviewerin hatte jedoch mehrfach versucht, solche Befürchtungen auszuräumen. In zwei Untervarianten könnte es nun erstens (3a) sein, dass es ihr nicht gelungen ist, die Bewährungssituation zu mindern, sodass Majda unter großem Leistungsdruck in die Erzählung einsteigt, was nachhaltig dazu führen könnte, dass eine persönlich motivierte Lebensdarstellung misslingt, weil sie beständig darum bemüht bleibt, antizipierten Anforderungen zu genügen. Zweitens (3b) ist es möglich, dass Majda generell und damit habituell versucht, im Fall des ungesicherten Erfolgs, hohe Erwartungen abzuwehren, auch dann, wenn sie nicht vorhanden sind. Dann ist sie es möglicherweise gewohnt, mit hohen Erwartungen konfrontiert zu werden, die sie aufgrund ihrer kognitiven Kompetenz und eines gut konturierten Selbstbildes selbst mit hervorbringt. Weiter könnte es sich dann um eine insbesondere in Risikosituationen, in denen ein Gelingen nicht mehr gewährt ist, zum Einsatz kommende ›Strategie‹ handeln, mit der sie sich kleiner macht, bzw. schwächer und hilfloser präsentiert, als sie eigentlich ist. Das sichert im Fall des Gelingens wieder den besonderen Erfolg und gewährt ihr einen kindlichen Schutz vor negativen Reaktionen. Zudem werden Andere auf diese Weise wieder in Hilfepositionen gebracht. I: is schwierig, genau aber du kannst ja mal anfangen, son bisschen erzählen, und wenn so frage ich mal dazwischen oder so oder frag noch mal was nach, ok M: ja, hoffe ich, also viele fragen bitte (lacht) I: alles klar Die Interviewerin bestätigt nun die Deutung der Situation als krisenhafte (»is schwierig, genau«) und darüber hinaus ihre eigene lediglich unterstützende Rolle, die den Ausgang der Situation nicht beeinflussen kann. Sowohl ein Scheitern als auch der mögliche Erfolg bleiben damit an die Aktionen der Interviewten gebunden. Die Interviewerin lässt sich jedoch mit dieser Sequenz nachhaltig auf die ihr zugewiesene Rolle der Helfenden ein und wird darin von Majda noch einmal bestätigt (»ja,
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hoffe ich, also viele Fragen bitte«). Das heißt aber auch, dass sich die Interviewerin nun nicht zurücklehnen darf um zu sehen, was Majda aus der Situation macht. Vielmehr ist ihre angespannte Aufmerksamkeit eingefordert, um zum Gelingen des Interviews beizutragen. Damit wird strukturell die Lesart 3b gestärkt. Interessanterweise ist es nun die Interviewerin, die am wahrscheinlichen Ende der Aushandlungssequenz mit einem »alles klar« der ausgehandelten Interaktionsstruktur zustimmt. Das heißt im Grunde, dass sie nun verstanden hat, was Majda von ihr will. Majda übernimmt gleichsam die Strukturierungsmacht innerhalb des Gesprächs, wenn sich die Interviewerin weiterhin nachhaltig auf die ihr zugewiesene unterstützende Rolle einlässt. Zusammenfassung der Fallstrukturhypothese bezüglich der Interaktionsstruktur und der individuellen Habitusformation: Die Interaktionsstruktur des Interviewanfangs ist von dem starken Bemühen Majdas gekennzeichnet, ein mögliches Scheitern an Anforderungen auszuschließen. Der Angst vor dem Scheitern und dem fehlenden Glauben an das gute Gelingen begegnet sie durch große kognitive Anstrengungen, die darauf gerichtet sind, die an sie gestellten Aufgaben und Anforderungen möglichst genau und richtig, entsprechend den Vorstellungen desjenigen, der die Aufgaben stellt, zu erfassen. Sie scheint es somit entweder generell oder aufgrund dieser aufmerksamen Art gewohnt zu sein, mit hohen Anforderungen, insbesondere bezüglich ihrer kognitiven Kompetenzen konfrontiert zu werden. Diesen Fremdannahmen begegnet sie in dieser tatsächlichen Krisensituation, die sie aufgrund ihrer angespannten Aufmerksamkeit in besonderer Weise erkennen kann, mit einer besonderen Form der doppelten Absicherung. Sie übernimmt zum einen, über die Reformulierung und aktive Konkretisierung der an sie gestellten Anforderungen, die Strukturierung der Interaktion, fordert in dieser Rolle nun jedoch gleichzeitig die Unterstützung des Anderen ein, indem sie Unsicherheit und stellenweise Schwäche vorgibt. Die gewährte Hilfe kann ihre eigene Leistung jedoch nicht schmälern, da ja auch der Helfende, im Gegensatz zu Gott, ein gutes Gelingen nicht sicher beeinflussen kann. Allerdings kann im Falle des Scheiterns die Verantwortung (die Schuld) zumindest auf zwei Schultern verteilt werden. Diese habitualisierte ›Strategie‹ sichert den individuellen Erfolg, schützt aber gleichzeitig vor individuellem Versagen. Handelt es sich bei Majda um ein Kind, das prinzipiell mit hohen Leistungserwartungen konfrontiert wird, dann kann sie auf diese Weise ein solches Fremdbild auch im Falle des Scheiterns bewahren. Das wird dann individuell wichtig, wenn Leistungserwartungen eng mit emotionaler Zuwendung bzw. familiärer Anerkennung verknüpft sind.
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5.1.3 Individuelle Fallstruktur im Kontext elterlicher Habitusformation M: okay, fängt’s an (I: mhm) eh , ähm na ja, damals war es so . Nach der Beendigung des Aushandlungsprozesses ist Majda nun offensichtlich bereit, mit der Erzählung zu beginnen. Dennoch ist der Beginn der Sequenz eine nochmalige Rückversicherung. Dabei fragt sie nicht, ob ›sie‹ beginnen soll, sondern, ob ein abstraktes »es« anfängt. Diese Nachfrage könnte sich zum einen sinnvoll darauf beziehen, ob das Aufnahmegerät eingeschaltet ist. In einer zweiten Lesart deutet das «es« auf einen außerhalb der konkreten Situation liegenden natürlichen Ablauf von etwas. Das Interview erscheint dann als eine normativ gerahmte abstrakte Anforderung, die Majda im Folgenden zu erfüllen versucht, und nicht als eine Gesprächsinteraktion, die z.B. auf persönlichem Interesse beruht. Die zweite Lesart liegt dabei latent in der Fragestellung der Interviewerin begründet. Es folgt eine kurze Phase des Überlegens (»eh, ähm na ja,«), die allerdings keine Form der Verzögerung mehr darstellt, und dann schließlich der Einstieg in die Erzählung. Die Form des Einstiegs ist dabei in einem ersten Zugang ungewöhnlich für ein Kind. »damals war es so« verweist auf einen einschneidenden Wandel in der Qualität der lebensweltlichen Erfahrung zwischen möglicherweise der frühen Kindheit und dem heutigen Erleben. Es ist ein Einstieg in eine Erzählung, die man eher von älteren Menschen erwartet, die von etwas für den Zuhörenden Fremdem berichten. Die Erinnerung erscheint als Rückblende und impliziert, dass sich zwischen damals und heute einschneidende individuelle, familiäre, gesellschaftliche räumliche oder kulturelle Veränderungen ergeben haben. Angesichts der Tatsache, dass es sich bei Majda um ein Kind handelt, erstaunt die große Distanz bzw. die aufscheinende Länge des Lebens insgesamt. Daran zeigt sich, neben dem Verweis auf die biografische Zäsur, die biografische Kompetenz, das Leben als ein von unterschiedlichen Phasen geprägtes darzustellen. Diese Phasen können dann in der kindlichen Erinnerung anscheinend mitunter weit auseinander liegen, erscheinen aber dennoch hier nicht unverbunden oder desintegriert. Dabei bedient sie sich vermutlich Textelementen, die ihr aus Erzählungen, Geschichten oder schulischen Kontexten vertraut sind (»damals«). Diese ›Bausteine‹ sind ihr eine Hilfe bei der angestrebten Darstellung, bringen sie selbst aber in eine seltsam künstliche Distanz zur eigenen Biografie. M: wenn man, also unser kindergarten war gleich um die ecke wir sind immer gerade gelaufen, flughafenstraße, und dann gleich um die ecke war das . na ja, und hier, also, da wohnte, rechts wohnte meine oma, gleich neben dem schul-
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also kindergarten, und da wohn-, also links wohnten wir, an der seite . und da konnten wir immer gleich, also ganz schnell zu meiner oma und so, na ja, und da bin ich immer von der schule (langgezogen), also sie kennen doch woolworth, von dort bin ich immer vorbeigelaufen und da zum laden und so, und dann bin ich ab und zu mal zu meiner oma gegangen, und so, bis auf dann da als meine oma umgezogen ist . Majda gelingt es in ihrer Einstiegserzählung exakt, die im Grunde schwer zu vereinbarenden Anforderungen zu erfüllen, die aus den Fragehäufungen im Erzählstimulus resultieren. Es entsteht eine Darstellung, die Biografie und sozialräumliches Erleben verschränkt. Darin offenbart sich erneut das Ausmaß ihrer Kompetenzen und Fähigkeiten sowie der ausgeprägte Wille, diese zur korrekten Erfüllung von Aufgaben einzusetzen. Überdies lässt sich an der Passage Folgendes aufzeigen: Das kindliche Erleben war, bis in die Grundschulzeit hinein, von der Erfahrung räumlicher Nähe zwischen den einzelnen Bereichen und Stationen geprägt, in denen sich das Leben abspielte. Die elterliche Wohnung, der Kindergarten und die Schule, die Wohnung der Großmutter sowie der Arbeitsplatz eines oder beider Elternteile und der »laden«, in dem sich die Kinder anscheinend auch aufhielten. Der Kindergarten war gleich um die Ecke, rechts wohnte die Oma, links die Familie und alles war schnell zu erreichen. Offensichtlich wohnte Majda damals noch in dem Stadtteil, in dem die Schule liegt, denn auch der Schulweg konnte, sollte nicht ein Schulwechsel stattgefunden haben, zu Fuß zurückgelegt werden.87 Die einzelnen Orte bilden eine intakte und funktionierende Einheit, inmitten derer sich ihr Leben abspielt und zwischen denen sie sich anscheinend auch frei und kompetent selbstständig bewegen kann. Da es sich um ein städtisches Umfeld handelt, ist diese gewährte Freiheit bedeutsam und vermutlich in einen Zusammenhang mit der Berufstätigkeit beider Eltern zu bringen. Diese macht eventuell dieses dichte Netzwerk, das die Versorgung und Betreuung der Kinder gewährleistet, notwendig. Gleichzeitig gibt es nicht einen zentralen Punkt, an dem sich das kindliche Leben abspielt und der sozusagen die Bedeutung eines Ortes des sicheren Eingebundenseins repräsentiert. Die Beheimatung liegt vielmehr in dem Netzwerk selbst, das sich aus der anscheinend notwendigen Vereinbarkeit von Familie und Beruf ergibt. Majdas Erleben ist von daher durch diese enge Verschränkung von Arbeits- und Privatleben sowie die arbeitsteilige Betreuung durch Institutionen und Familie gekennzeichnet. Interessanterweise wird diese organisatorische Rahmung, die es 87 Hier wird Kontextwissen bezüglich des Interviewortes hinzugezogen: Das Gespräch fand in der Schule statt.
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dazu braucht, Kinder großzuziehen und berufstätig zu sein, für Majda zur Grundstruktur ihrer biografische Erzählung. Die eigene Biografie wird damit zu einem Teil der übergeordneten Organisation der familiären Existenz und gleichzeitig eine den Notwendigkeiten und Möglichkeiten von Berufstätigkeit unterworfene. Dieses damalige Netzwerk war intakt, »bis auf dann da als meine oma umgezogen ist«. Jener Umzug erscheint als erstes oder entscheidendes Ereignis, das die umfassende soziale und räumliche Einbettung krisenhaft aufbricht. Daran zeigt sich gleichzeitig die Anfälligkeit des Netzwerkes, das offenbar auf das Funktionieren jedes Einzelteils angewiesen war. M: sie ist dann- also in so’n anderes gebäude gezogen, dann, war ja nur noch mein kindergarten, und ich, sozusagen da . und dann wurde ich schon älter, wurde ich abgemeldet, und dann habe ich, bin ich zum anderen hort gegangen, und das war hier . nicht dieses morus-hort, sondern (I: mhm) ähm . kita sankt klara I: kenne ich nicht so, aber egal, mhm Der Umzug der Oma bedeutet für Majda einen Verlust. Sie bleibt mit ihrem Kindergarten alleine zurück. Die Eltern fangen diesen Mangel offensichtlich nicht auf, sondern erscheinen in erster Linie unpersonifiziert als diejenigen, die Majdas Lebensgeschichte quasi aus dem Hintergrund beherrschen und leiten. Die entstandene Betreuungslücke wird wahrscheinlich durch den Kindergarten geschlossen. Dieser kann jedoch die emotionale Bindung an die Oma nicht ersetzen. Majda fühlt sich trotz der Institution, in der sie Kontakt zu anderen Kindern und Erzieherinnen haben müsste, verlassen. Das Gefühl des sorglosen kindlichen Erlebens im sicheren Eingebundensein des funktionierenden Netzwerkes löst sich auf. Majda muss diese neue Situation bewältigen. Wie sie dies tut wird, im Folgenden nicht expliziert. Die Situation löst sich bzw. fängt an der Vergangenheit anzugehören, weil Majda nun »schon älter« wird. Es beginnt ein neuer Abschnitt in der Lebensgeschichte, der nun durch andere Erfahrungsräume und -qualitäten gekennzeichnet ist. Die Trennungs- bzw. die Verlusterfahrung und damit der Zusammenbruch des Netzwerkes der frühkindlichen Einbettung kann also in erster Linie durch einen individuellen Reifeprozess kompensiert werden, der quasi von selbst fortschreitet, und in dem die sozialräumliche Geborgenheit an Relevanz verliert. In dem »schon älter« deutet sich darüber hinaus jedoch eine weiterreichende Lesart an, die diesen Entwicklungsprozess, aufgrund der sich plötzlich verändernden Rahmenbedingungen, als stark beschleunigten deutet. Die kindgemäße Geborgenheit und Sicherheit geht zu früh verloren, und
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dies zwingt Majda entgegen ihren eigenen Bedürfnissen dazu, ›auf eigenen Beinen zu stehen‹. Die Auflösung des Netzwerkes schreitet nun dadurch fort, dass Majda irgendwann anscheinend einen Hort in Nähe der Schule besucht. Dies könnte notwendig geworden sein, weil die Oma als nachmittägliche Betreuung nicht mehr zur Verfügung stand und der Kindergarten auch organisatorisch diesen Verlust nicht auffangen konnte. Die Zusammenhänge dieser Entscheidungen werden von Majda aber nicht weiter hinterfragt oder problematisiert. Sie wird abgemeldet und geht von nun an in einen anderen Hort. Verluste in Bezug auf Freundschaftsbeziehungen werden nicht thematisch. Der Wechsel erscheint ihr gerechtfertigt und in der Rückblende eben als der Gang ihrer Institutionen- und damit Lebensgeschichte. Dieses ungebrochene In-Eins gehen könnte durchaus dem Alter von Majda und einer unzureichenden individuellen Autonomie zugerechnet werden. Dennoch fällt auf, dass sie keinerlei Anfragen an diese Form der organisierten Biografie stellt. Das könnte darauf hinweisen, dass auch die Eltern ungebrochen zu dieser Lebensform stehen und damit die Berufstätigkeit als sehr bedeutsam erleben. Majda wird so zum Teil des ›Familienbetriebs‹. M: na ja da bin ich dann hingegangen, uund, immer nach der schule dort hin, meine eltern haben mich abgeholt, au/auch manchmal verwandte und so . uund, na ja, und danne halt . paar jahre später, ähm, war ich wohl wieder älter (lacht) . na ja, da sind wir halt in, ne eigentumswohnung umgezogen . und jetzt müssen wir immer . also, wenn wir um acht uhr zehn schule haben um sieben uhr dreißig auf- um sieben uhr aufstehen (I: mhm) eigentlich sechs Uhr, dreißig weil wir immer so spät uns anziehen und so . (I: lacht) und dann ne halbe stunde hin und so, also es ist anstrengender, (I: mhm) aber es ist auch schön, wir haben jetzt einen garten, uund wir haben son vordergarten da haben wir mal mit meinen cousinen zusammen son großen schneemann gebaut . also, es ist voll schön wenn man nen garten hat für spaß und so . Den Weg von dem neuen Hort nach Hause kann Majda nun nicht mehr alleine zurücklegen. Sie wird von ihren Eltern oder Verwandten abgeholt. Insofern bedeutet der Wechsel des Hortes einen weiteren Schritt zur Auflösung der flexiblen Nahraumerfahrung und auch eine Einschränkung ihrer Freiheiten. Denn je älter sie wird, desto mehr ist sie den Notwendigkeiten zunehmend auseinander liegender Orte des Lebens unterworfen. Dabei fungieren Verwandtschaftsbeziehungen weiterhin als Unterstützungssystem.
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Über die biografische Strukturierung des ›älter Werdens‹ wird in diesem Abschnitt erneut das Ende einer Lebensphase markiert. Allerdings war Majda nun nicht »schon wieder älter« sondern »wohl wieder älter« Das Älterwerden vollzieht sich hier nicht mehr so bewusst bzw. im Kontrast zu dem gefühlten Alter. Vielmehr finden der innere Reifeprozess und die Veränderungen des Lebens ihren adäquaten Ausdruck in der steigenden Anzahl der Lebensjahre. Vermutlich greift Majda an dieser Stelle nur deshalb ironisierend auf diese Strukturierungshilfe zurück, weil sie sie zuvor selbst eingeführt hatte. Die sozialräumliche biografische Erzählung wird nun auf ihren Höhepunkt zugeführt: Die Familie zieht weg aus der näheren Umgebung der Schule in eine »eigentumswohnung«. Dieser Umstand wird von Majda einerseits stark betont. Hier ist für sie nicht von Bedeutung, dass die Wohnung vielleicht größer, schöner oder neuer ist, bzw. in welchem Stadtteil sie liegt. Wichtig ist, dass es eine »eigentumswohnung« ist. Eine Wohnung, die nun der Familie gehört. Damit verweist die Betonung der »eigentumswohnung« zunächst auf eine Verbesserung der materiellen Situation der Familie. Der finanzielle Aufstieg, der sich in bestimmten Gütern und damit auch im Lebensstil ausdrückt, wird von Majda mit der Formulierung »halt umgezogen« jedoch abgeschwächt. Das heißt, einerseits betont sie die spezielle Art der neuen Wohnung, andererseits distanziert sie sich von den damit zusammenhängenden Besonderheiten und Distinktionen. Es könnte also sein, dass sie sich selbst von dem Lebensentwurf »eigentumswohnung« distanziert oder dass sie nur gegenüber Anderen die Bedeutung dieses materiellen und sozialen Aufstiegs abmildert, um nicht zu sehr als an materiellen Werten orientiert zu erscheinen oder um dem Eindruck entgegenzuwirken, die neue Wohnung als Distinktionsmerkmal zu nutzen. Da es sich bei einer Eigentumswohnung nicht um einen unverhältnismäßigen Besitz handelt, der an sich in den Verdacht des Unmoralischen oder Unmäßigen geraten könnte, wäre in dieser Variante anzunehmen, dass es in der Umgebung, in der sie sich befindet, nicht üblich ist, eine Eigentumswohnung zu besitzen. Bei einer zu starken Betonung dieser Besonderheit wäre dann unter Umständen mit sozialen Ausschlussmechanismen zu rechnen. Dagegen wird deutlich, dass die Familie für den materiellen und evtl. auch sozialen Aufstieg Einschränkungen des täglichen Lebens in Kauf nimmt. Es ist in erster Linie »anstrengender, aber es ist auch schön«, denn die Entwicklung der Lebensführung der Familie ist nun gekennzeichnet durch eine zunehmende Distanz zwischen den Stätten der Arbeit, der Schule und auch wahrscheinlich der Verwandtschaft. Gleichzeitig scheint die neue Situation eine gemeinsame Organisation zumindest des morgendlichen Beginns des Familienlebens notwendig zu machen.
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5. Rekonstruktion der Schülerpositionen
Der entscheidende Gewinn durch den Umzug besteht, neben dem neuen Besitz, hauptsächlich in der Wohnortumgebung. Die Familie zieht von einer sehr städtischen bis innerstädtischen Umgebung in ein vorstädtisches Wohnumfeld. Dabei bleibt unklar, ob es Majda gelingt, diese vermutlich auch von den Eltern gegenüber den Kindern vertretenen Vorzüge der neuen Umgebung gelingend durch eigene Erfahrungen zu füllen (»also, es ist voll schön wenn man nen garten hat für spaß und so«). Den Gewinn des Umzugs kann sie nämlich nur durch ein Heraustreten aus dem Ich (»wenn man«) verbürgen. Insbesondere der Interviewerin gegenüber hält sie so das Bild des glücklichen Vorstadtkindes aufrecht. Eine persönliche Integrität wird hier jedoch der Außendarstellung untergeordnet, die sich wahrscheinlich aus elterlichen Deutungen speist. I: mhm, ja klasse, und deine oma die wohnt noch da M: ja sie wohnt in diesem anderen gebäude, na ja bei uns ist jetze wir müssen immer hin und her fahren, also mit der u-bahn und m- mit dem auto, wenn mein vater mal nicht arbeitet (I: mhm) na ja aber sonstigen ist es eigentlich ganz gut, find ich (betont) . und, in unserer eigentumswohnung wir haben die, vergrößert (betont), und .. na ja wie gesagt wir haben die vergrößert und jetzt sind wir überall fertig, jetzt müssen noch möbel rein .. I: aber ihr wohnt schon drin M: ja, (I: mhm) ja, bloß wir haben noch ne hälfte dazu gebaut I: ach so, ach so, da müssen noch die möbel rein, mhm M: ja I: na super M: auch angestrichen und so, gefällt mir sehr. (I: mhm) jetzt ist mein bruder aus meinem zimmer raus (lacht) . bin ich ihn los . kommt nicht immer mit mir, spiel mit mir, spiel mit mir (hohe verstellte Stimme) (beide lachen) Die zurückzulegenden Entfernungen, die sich durch den neuen Wohnort ergeben, scheinen innerhalb der Familie durchaus thematisch geworden zu sein. Möglicherweise wurde in gemeinsamen Gesprächen abgewogen, inwiefern die Vorteile des Erwerbs und des Bezugs einer Eigentumswohnung bzw. dieser Eigentumswohnung die größeren Entfernungen rechtfertigen. Interessant ist nun, dass Majda anscheinend für sich selbst diesbezüglich ein Urteil gefällt hat (»aber sonstigen ist es eigentlich ganz gut, find ich (betont)«), das resümierend positiv ausfällt. Eine solche Positionierung scheint aber nur notwendig, wenn davon ausgegangen wird, dass es in ihrem Umfeld Auffassungen gab oder gibt, die die Veränderung der Lebens-
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umstände im Wesentlichen kritisch bewerten (denen dann z.B. Erreichbarkeit und familiäre Nähe wichtiger wären wie z.B. der Oma, den Verwandten oder den Peers). Majda stellt sich in diesem Fall aber eindeutig auf die Seite der Umzugsbefürworter und damit wahrscheinlich auf die Seite der Eltern oder zumindest des Elternteils, der sich bezüglich des Umzugs durchsetzen konnte. Es kann also vermutet werden, dass die Familie mit dem Umzug durchaus bewusst gegenüber der Verwandtschaft aus einer bestimmten Form familiärer Nähe und Eingebundenheit ausgeschert ist. In diesem Sinne kann die zunehmende Distanz durchaus als ein Gewinn von Autonomie und Selbstständigkeit der Kernfamilie gewertet werden, die durch eine Verbesserung der beruflichen Situation und damit der materiellen Basis möglich geworden ist. Die Eigentumswohnung wird dann zum zentralen Ausdruck dieser Autonomie. Gleichzeitig scheint der Aufstieg nicht beendet, denn in der Folge wird die Wohnung auch noch vergrößert. Dies geschieht durch die Familie selbst, also mit einem großen Anteil an Eigenleistung. Die Verbesserungen in der Lebenshaltung sind demnach ausdrücklich selbst erarbeitet. Darüber hinaus kann Majda sich mit dem Geschmack ihrer Eltern identifizieren. Denn der Anstrich »gefällt mir sehr«, obwohl an dieser Stelle durchaus Formen der Abgrenzung oder zumindest Desinteresse mögliche Reaktionen wären. Die Eltern tun da aber etwas, womit Majda bezüglich der Statusverbesserung und auch bezüglich der konkreten Gestaltung und Ausgestaltung im Grunde einverstanden ist. Sie bestärkt diese sogar gegen mögliche Anfeindungen von außen in ihren Handlungen. Darin zeigen sich Respekt und Anerkennung für die Leistung der Eltern. Majdas Selbst konturiert sich nun nicht mehr in der emotional leiblichen Einbindung in ein funktionierendes Ganzes sozialräumliches Netzwerk, sondern durch die Unterstützung und Identifikation mit dem familiären Lebensentwurf, der seinerseits eine zunehmende Autonomisierung durch Statusverbesserung zum Thema hat. Diese Entwicklung findet ihren Ausdruck darin, dass sie in der neuen Wohnung ein eigenes Zimmer bezieht. Gleichzeitig wird wieder deutlich, dass die emotionalen Bindungen nicht ersetzt werden und Majda diese Entwicklung, die in dem Auszug des Bruders aus dem gemeinsamen Zimmer kulminiert, als ambivalent erlebt. Sie scheint also zunehmend ihre spezifische Rolle im Familiensystem zu übernehmen. I: und was machst- machst du so wenn du aus der schule kommst M: ich ähm, wir fahren manchmal nach hause, manchmal zu meiner oma, dann erledige ich erstmal- also esse ich erstmal schön was, erledige ich meine hausaufgaben, und dann spiele ich irgendetwas (I: mhm) oder so I: was spielst ’n so
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M: ähm, mit meinem bruder vielleicht irgendwas, (I: mhm) oder, ähm, ich (langgezogen) diese skubidubänder, die mache ich auch manchmal (I: mhm) und ich nehm-, ich denk mir irgendwas aus (I: ja) oder male oder irgend sowas, aber ich find immer eine gute beschäftigung, Majdas Leben scheint in geregelten Bahnen zu verlaufen. Die Dinge haben ihren Platz. Der gesamte Tag erscheint sinnvoll gegliedert und der Ablauf der Beschäftigungen in Maßen vorherbestimmt. Dabei bleibt die Zeit, um sich ›etwas auszudenken‹, also angesichts eines Beschäftigungs-Vakuums auf neue Ideen, Gedanken und Spielmöglichkeiten zu kommen. Geht man davon aus, dass das kindliche Erleben stark situativ orientiert ist, ist es nicht ungewöhnlich, dass Majda hier nicht so genau ihre einzelnen Aktivitäten ›auflisten‹ kann. Majda selbst scheint die Schilderung ihrer Aktivitäten am Nachmittag jedoch nicht hinreichend zu sein, einschränkend formuliert sie »aber ich find’ immer eine gute Beschäftigung«. Das bedeutet, auch wenn sie es im Moment nicht so konkret darstellen kann, ist es ihr wichtig, dass sie keine Langeweile hat und ihre Zeit nicht mit evtl. nicht so guten Beschäftigungen verschwendet. Denn eine Beschäftigung als solche ist immer sinnhaft und zweckgebunden (man kann z.B., außer in Ausnahmefällen, nicht sagen: ›ich bin beschäftigt, ich schaue Fernsehen‹). Damit weist sie aber auch die kindlichen Anteile ihrer Weltzuwendung zurück, die sich in der ersten Erzählsequenz deutlich zeigen. Was eine »gute« Beschäftigung ist, ist allerdings nur normativ zu bestimmen (in diesem Sinne kann auch das kindliche Spiel, eine »gute beschäftigung« sein). Das bedeutet, dass Majda sich innerhalb eines dominanten Werte- und Normensystems bewegt, anhand dessen sie ihr Handeln zumindest im Falle der Außendarstellung gegenüber anderen bewertet. Die Bewertungsmaßstäbe werden dabei nicht ganz transparent. Wichtig scheint allein die Sinnhaftigkeit der Tätigkeit zu sein. Darin zeigt sich ein Deutungsmuster von Kindheit, das diese z.B. nicht als Freiraum, sondern als eine Vorstufe für eine gesamte teleologisch ausgerichtete Entwicklung betrachtet. Diese Haltung passt (1) zu der bisherigen Deutung der aufstiegsorientierten, durchorganisierten Familie, deren lebenspraktische Grundstrukturen sich hier an Majdas Bewertung ihrer Aktivitäten in der Freizeit zeigen. Andererseits (2) ist es möglich, dass sie diese Haltung wiederum ausschließlich gegenüber der Interviewerin einnimmt, um das Bild von einem zielstrebigen und leistungsorientierten Kind zu vermitteln. In diesem Fall würde sie die Interviewerin nach wie vor als Vertreter des Bildungssystems betrachten, dessen Meinung evtl. Eingang in ihre schulischen Bewertungen haben könnte.
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Diese beiden Lesarten können folgendermaßen zu einer ersten Fallstrukturhypothese verdichtet werden: Majda scheint eingebunden in eine Familie, deren Familienthema in der Gestaltung und Organisation des sozialen und materiellen Aufstiegs gesehen werden kann. Dieser Aufstieg geht wahrscheinlich einher mit einer zunehmenden Lösung und Distanzierung aus dem weiteren familiären Milieu und verwandtschaftlichen Nähebeziehungen. Die Familie gewinnt dadurch zunehmend an Autonomie als Kernfamilie. In diesem Modell der organisierten Familie haben auch die Kinder von früh an ihren spezifischen ›Platz‹, wodurch sie zu dem Gelingen des familiären Entwurfs beitragen. Bei Majda selbst zeigt sich diese familiäre Grundstruktur in Form der Übernahme eines Wertesystems von Sinn- und Zielorientiertheit, mit dem sie in der Lage ist, Handlungen und Einstellungen reflexiv zu bewerten, was mitunter dazu führt, dass sie ihre persönliche Integrität preisgibt. Ein spezifischer Ausdruck dieser Reflexivität ist vermutlich die Antizipation eines nicht an materiellen Werten, sondern an ›guten Beschäftigungen‹ orientierten Habitus, mit dem sie versucht, sich als bildungsnah auszuweisen, um insbesondere das Bildungssystem erfolgreich zu durchlaufen. Auf diese Weise trägt sie ihren Teil zu einer langfristigen Sicherung des Statusgewinns über die nachfolgende Generation bei. Im Protokoll schließt nun die folgende Stelle an: M: I: M: I: M:
I: M: I: M: I: M: I:
oder ich helfe mein vater beim bauen das machst du auch anstr- , angestrichen habe ich auch echt das macht voll spaß, ich liebe sowas (I: lacht: toll) bloß leider sind’s so schwere arbeiten da, kann ich nich mitmachen also, aber einmal, es gibt doch diese wände wo mit man beton so drüber streicht das mhm habe ich auch gemacht echt ja super (betont) (M: lacht) und dein vater, freut der sich ja was sagt der so
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M: ja also ich-, ich bin mir, also ich kanns nicht so (betont) gut aber, bei mir kamen manchmal so kleine hückel raus und dann er so, also dann sag ich immer mach du das mal lieber jetzt und so, und er so nein mach ruhig, is nicht so schlimm und so Majda führt nun außerdem eine konkrete, nicht lange zurückliegende Aktivität an. Sie hilft ihrem Vater beim Bauen. Was ihr demnach als »gute Beschäftigung« noch einfällt, ist wiederum ein persönlicher Beitrag zu einem zentralen Statusgewinn der Familie – der Eigentumswohnung. Es zeigt erneut, dass sie den Familienentwurf mitträgt, dass sie in der Lage ist, ihren Teil dazu beizusteuern und dieser entsprechend gewürdigt wird. Denn sie darf nicht nur mitmachen, sie ist dem Vater sogar eine ›Hilfe‹. Die daraufhin erneute Nachfrage der Interviewerin ist sozusagen die Forderung nach einem Beleg für die geleistete Hilfe, der Majda mit einer Konkretisierung ihrer Tätigkeiten begegnet. Mit dem anschließenden »echt« veranlasst die Interviewerin dann eine Belegerzählung, die diese anscheinend an außergewöhnliche nicht echte Fähigkeiten grenzende Tätigkeit Majdas weiter erklärt. In der Folge wird Majdas Arbeit noch als exzeptionell bestätigt. Am Schluss der Sequenz fragt die Interviewerin schließlich nach dem konkreten verbalen Ausdruck der Freude des Vaters über die Hilfe von Majda (»was sagt der so«). Man erwartet dementsprechend eine Wiederholung seiner Aussagen. Stattdessen antwortet Majda aus ihrer Perspektive. Insofern steht nicht eine emotionale Zuwendung des Vaters im Mittelpunkt der Ausführungen, sondern die Reflexion über die Qualität der erbrachten Leistung – ein deutlicher Hinweis auf die zentrale Anerkennungsdimension innerhalb der Familie, die eine emotionale Zuwendung substituiert. Majda stellt also fest, dass sie ›es‹ (»wo mit man Beton so drüber streicht«) »nicht so gut« kann. Das ist angesichts der vorher herausgestellten Schwere der Arbeit nicht weiter verwunderlich. Insofern kann dieser Hinweis Majdas wiederum als gesteigerte kritische Selbstaufmerksamkeit bewertet werden, denn es kamen ja nur »manchmal«, noch dazu »kleine«, also wahrscheinlich kaum auffallende »hückel raus«. Vor dem Hintergrund dieser ›Verfehlung‹, also der nicht korrekten Ausführung der Arbeit, greift sie nun auf ein bewährtes Interaktionsmuster zurück (»dann sag ich immer mach du das mal lieber jetzt«). Sie nimmt sich zurück und fordert auf diese Weise die Unterstützung des Vaters ein. Diese Unterstützung bezieht sich jedoch nicht auf die Übernahme der Tätigkeit als solcher, sondern nur auf die ›Segnung‹ der von ihr erbringbaren Leistungen. Der Vater erteilt ihr schließlich diese Absolution: Es ist in Ordnung, was Du tust und es wird kein negatives Urteil über die Ausfüh-
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rung gefällt werden. Denn es ist »nicht so schlimm«. An dieser Aussage kann zudem die implizite Bewertung ihrer Tätigkeiten abgelesen werden. Es ist ›nicht schlimm‹ würde tatsächlich bedeuten, dass es nichts irgendwie Schlechtes oder Tragisches ist, wenn kleine Hückel rauskommen. Es ist »nicht so schlimm«, meint nun jedoch, dass es zwar schon schlimm ist, aber eben nicht so sehr. Über die Verfehlung an sich kann also nicht hinweggegangen werden. Majda ist insofern auf die Gnade – die unverdiente Anerkennung – des Vaters angewiesen. Es zeigt sich, dass auch für den Vater – zumindest in der Wahrnehmung Majdas – nur das Optimum als Erfolg gilt. Zwar werden Abweichungen auch verziehen, aber sie können nicht mehr als gute Leistungen gewertet werden. An der Sequenz zeigt sich darüber hinaus eine strukturelle Nähe zu der Interaktion mit der Interviewerin in der Gesprächseröffnung. Majda nimmt eine Herausforderung an, zeigt sich interessiert und kompetent (es macht »voll spaß« und sie »liebt so was«), um sich dann angesichts erster Unwägbarkeiten zurückzunehmen. Diese Habitusstruktur mit der inhärenten ausgeprägten Angst vor Scheiternserfahrungen scheint also ihren Grund in einer familiären Anerkennungsstruktur zu haben, die in erster Linie an individuelle Leistung geknüpft ist. Die Rekonstruktion der biografischen Formung, die bislang im Wesentlichen dem Verlauf des Gesprächsprotokolls folgte, wird nun am Ende des Interviews fortgesetzt. Dort wird die Haltung der Eltern bezüglich der Schule und schulischen Leistungen thematisch: I: ähm, ist deinen eltern die schule wichtig M: ja und wie, (I: ja) die wollen dass ich was schaffe Den Eltern von Majda sind ihre Schulleistungen besonders wichtig. Sie wollen, dass sie etwas ›schafft‹. Diese Intention weist damit bereits über gute schulische Leistungen im engeren Sinne hinaus und zielt darauf, dass Majda in ihrem Leben etwas erreicht. Dieser individuelle Erfolg ist nun in dieser Familie eng mit der Schule und zufriedenstellenden Schulleistungen gekoppelt. Möglichst gute Schulleistungen erscheinen also in enger Korrelation mit individuellem, insbesondere beruflichem Erfolg. Das Bildungswesen wird zum Vehikel des Aufstiegs, das den Zugang zu den entsprechenden Berufen ermöglicht. Die Vorstellungen davon, wann man etwas geschafft hat, bleiben jedoch an dieser Stelle unklar und verbinden sich ausschließlich mit möglichst hohen Leistungen. »die wollen dass ich« ist dabei eine Formulierung, die deutlich zeigt, dass ein starker Wille der Eltern hinter dem Erfolg von Majda steckt (im Gegensatz zu: ›die würden sich wünschen‹, ›die hoffen‹, ›die möchten‹, ›die hätten gern‹), der ihr
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gegenüber offensichtlich auch kommuniziert wird. Majda weiß also ganz genau über die Entschlossenheit ihrer Eltern Bescheid. Darüber hinaus steckt in dieser Formulierung deutlich Majdas Fremdbestimmung durch den Willen ihrer Eltern, zunächst ihre schulischen Leistungen betreffend und schließlich auch in Bezug auf ihre Lebensplanung nach der Schule. Dieser von ihr sehr stark empfundene Elternwille verstrickt sie darüber hinaus in eine schwierige Situation, denn wenn sie dem Willen der Eltern nicht nachkommt, bedeutet das gleichsam, dass sie selbst nichts schaffen will. Damit wird ein Versagen in der Schule in den Augen der Eltern zu einem generell individuellen Versagen und bricht darüber hinaus die Folgsamkeit gegenüber den Eltern. Die Anerkennung durch die Eltern ist damit durch Abweichungen von höchsten Leistungen und ebenso durch einen fehlenden Leistungswillen gefährdet. I: mhm, was sagen die so M: die sagen, komm streng dich an das is das is dieses sechste halbjahr und wenn ich mal sag mama, ich hab jetzt kein bock französisch zu lernen oder sowas so wie gestern, sagen sie komm schon dieses halbjahr ist wichtig und so, ähm wir wollen nicht dass du so viel ackern musst und so, Die Eltern halten Majda bezüglich ihrer schulischen Leistungen dazu an, sich anzustrengen. Vergleichbar mit einem Trainer, der den Sportler auf der Zielgeraden – dem wichtigen Halbjahr vor den Empfehlungen für die weiterführenden Schulen – noch einmal richtig antreibt und anfeuert. Gefordert ist die anhaltende Anspannung der Kräfte. Entsprechend scheint der schulische Erfolg von Majda mit hohen Anstrengungen verbunden zu sein. Es wird nicht darauf vertraut, dass sie es schon schaffen wird bzw. dass sie es von alleine schafft. So wird Majda, auch wenn sie Unlust und Erschöpfung artikuliert (»mama, ich hab jetzt kein bock französisch zu lernen«), von den Eltern noch vorangetrieben. Die Notwendigkeit für diese großen Anstrengungen wird dabei folgendermaßen legitimiert: Sie wollen nicht, dass Majda einmal so viel »ackern« muss wie sie selbst. Dass sie also in eher niederen, körperbetonten Erwerbstätigkeiten hart arbeiten muss, um sich ihre Existenz zu sichern bzw. langsam aufzubauen. Für die Familie ist demnach der Erwerb von Bildungsabschlüssen ein zentrales Mittel, um den gesellschaftlichen Aufstieg zu sichern bzw. bestimmte Aufstiegsanforderungen von vornherein zu umgehen. Majda soll sich einmal nicht so hocharbeiten müssen, wie sie selbst es getan haben. Die Schule wird Mittel zum Zweck. Nicht die individuellen Entwicklungen im Rahmen von Bildungserfahrungen sind den Eltern von Bedeutung, sondern die formalen Nach-
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weise für gute Leistungen, die einen entsprechend erfolgreichen Weg durch das Bildungssystem und einen hohen Einstieg in der Berufstätigkeit ermöglichen. Majda selbst muss ihre Empfindungen, Wünsche und auch ihre kindlichen Tätigkeiten hinter dieses in der Zukunft liegende Ziel zurückstellen. Sie lernt, ihre unmittelbaren Bedürfnisse einem abstrakten Erfolg unterzuordnen. Entsprechend kann sie, wenn sie einmal »keinen bock« hat, diesem Gefühl nicht selbstständig nachgeben. Sie braucht für das Aussetzen der Anstrengungen sozusagen die Erlaubnis und das Zugeständnis von Schuldfreiheit von ihrer Mutter bzw. von ihren Eltern (alternative Reaktion: Dann mach doch erst mal eine Pause). Sonst würde sie Kritik riskieren. Indem sie sich so der Haltung ihrer Eltern versichert, denn sie weiß, dass die sagen, »komm, streng dich an«, nutzt sie deren Reaktion außerdem, um sich am Arbeiten zu halten. Der Wille der Eltern und ihr Wille, diesem Elternwillen zu entsprechen, scheinen die grundlegende Leistungsmotivation zu sein. M: weil es ist ja schwer ne arbeit zu finden wenn man diese schule nicht gut fertig macht und wir waren mal auch so in der kkh . die versicherung, oder inner bank keine ahnung, na ja jedenfalls da waren so’ne leute im fahrstuhl die reden so das waren so jugendliche, und die haben keinen so guten, ähm abschluss gemacht glaube ich, na ja sie meinten so es gibt für uns noch ähm, für eine stunde ein euro, zu verdienen . und meine mutter meinte gleich so und hast du gehört, es gibt es gibt für manche leute die nicht gut studieren, eine stunde ein euro . (I: mhm) da meinte sie da kannst du fast einen tag nur paar cents ausgeben, wie willst du da noch was zusammenkriegen und dir was leisten können . na ja uund .. tja da meinten die, also meine mutter hat’s im fahrstuhl gesagt und die äh jugendlichen jungs meinten so, ja du musst die schule da jetzt gut weiterbringen und so, also da haben die auch gleich zugestanden dass sie nicht gut gemacht haben und sie meinten dann gleich so ja du musst viel lernen und so Majda führt im Folgenden als Argument für ihre Einstellung zur Schulbildung die aktuelle Arbeitsmarktsituation an. Für sie ergibt sich ein enger innerer Zusammenhang. Wenn man die Schule nicht gut fertig macht, dann wird es schwer, auf dem hart umkämpften Arbeitsmarkt überhaupt eine Stelle zu finden. Im Grunde ist diese Kausalität korrekt. Die starke Unbestimmtheit der Definition des »die schule da jetzt gut weiter bringen« zeigt jedoch, dass Majda nicht wirklich einschätzen kann, welche Zugänge zu welchen Bereichen und Einkommensverhältnissen ihr die einzelnen Schulabschlüsse ermöglichen, und dass es gegebenenfalls als Steuerberaterin mit Realschulabschluss leichter wird, eine lukrative Anstellung zu finden, als z.B.
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als Architektin oder Literaturwissenschaftlerin. Durch diese Unschärfe, zumindest in ihrer Wahrnehmung, ergibt sich eine alleinige Konzentration auf höchste Schulleistungen. Jegliche Abweichung von diesem Pfad bedroht dann eine spätere gelingende Lebensgestaltung. Es gibt sozusagen gar keine Alternativen. Die Geschichte, die Majda nun erzählt, dient der Legitimation ihrer Argumentation gegenüber der Interviewerin (»und wir waren auch so«). Die Bedeutung guter Schulbildung wird neben ihrer abstrakten Begründung über die Arbeitsmarktsituation – vermittelt über die Hervorhebungen der Mutter – insbesondere auch für Majda selbst direkt erfahrbar. Interessanterweise spielt die Szene in einer für sie sehr komplexen und auch schwierig zu durchschauenden arbeitsweltlichen Umgebung, einer Versicherung oder einer Bank, allerdings in einer Art ›Off‹, einem Nebenschauplatz, dem Fahrstuhl, als modernisierter Metapher der Leiter des Erfolgs. In diesem Fahrstuhl treffen Majda und ihre Mutter nun auf »so jugendliche«, die über ihre Beschäftigungssituation sprechen. Es wird deutlich, dass Majda selbst zu der Jugendphase noch wenig Nähe verspürt. Die Jugendlichen sind für sie lediglich »so ’ne leute«. Diese zeichnen sich nun dadurch aus, dass sie genau das nicht gemacht haben, was Majda anstrebt, einen ›guten Abschluss‹. Allerdings ist sich Majda diesbezüglich nicht ganz sicher, sie zögert (»keinen so guten, ähm abschluss«) und relativiert schließlich (»glaube ich«). Das heißt, sie kann nur annehmen, dass es sich um eine Verfehlung bezüglich eines Schulabschlusses handelt. Sicher ist sie lediglich, dass die Jugendlichen irgendetwas nicht in besonderer Weise »gut« gemacht haben. Aus diesem Grund befinden sie sich in materieller Not und einer persönlichen Entwertungssituation, denn es gibt »für uns noch ähm, für eine stunde ein euro, zu verdienen«. Nicht alle verdienen einen Euro die Stunde, sondern nur diejenigen mit einem nicht so guten Abschluss. Dieser innere Zusammenhang wird jedoch im Wesentlichen von der Mutter herausgestellt, die mit den Jugendlichen ein Gespräch beginnt. Für manche Leute, eben die, die nicht »gut studieren«, gibt es in der Stunde nur einen Euro zu verdienen. Der kausale Zusammenhang ist für sie eindeutig. Es existieren keine strukturellen Umstände, die Zugangsmöglichkeiten und damit Chancengleichheit behindern. Der individuelle Erfolg liegt allein in der individuellen Leistungsbereitschaft begründet. Mit der Aussage »da kannst du fast einen tag nur paar cents ausgeben, wie willst du da noch was zusammenkriegen und dir was leisten können« wird nun deutlich, dass Schulbildung in der Wahrnehmung der Mutter in erster Linie zur Sicherung und Steigerung der materiellen Versorgung dient. Die Bedrohung liegt für sie in der Armut und dem Leiden an den materiellen Bedingungen, nämlich dann, wenn man sich nichts leisten kann. Das heißt, man ist nicht in der
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Lage, etwas für sich zu tun oder zu kaufen, das einem direkten Nutzen oder Zweck enthoben ist. Der Gewinn von Lebensqualität als individuelle Autonomie scheint nun im Wesentlichen an die Vermehrung ökonomischen Kapitals gebunden. Darin spiegelt sich vermutlich ihre eigene biografische Erfahrung. Denn nur durch den materiellen Aufstieg konnte die Familie für sich, wahrscheinlich gegenüber dem Herkunftsmilieu und den starken Verwandtschaftsbeziehungen, zunehmende Autonomie erreichen. Es folgt der, anscheinend von der Mutter eingefädelte, Schulterschluss mit der Jugend, die, eigentlich Sinnbild von Rebellion und Gegenentwürfen, nun die Deutungen der Mutter verbürgt. Im übertragenen Sinn erledigt sich damit für Majda eine eigenständige Befragung der elterlichen Pläne und Deutungen. Denn angesichts der Auslegungen der Mutter ›gestehen‹ die Jugendlichen sofort ihre ›Schuld‹ (»also da haben die auch gleich zugestanden dass sie nicht gut gemacht haben«). Die Notwendigkeit eines ausgeprägten Leistungswillens wird damit belegt, es geht nicht darum, ob dieser wichtig ist oder nicht, sondern nur darum, ob man diese Prämisse befolgt oder ob man sich durch das Einschlagen eines anderen Weges mit individueller Schuld belädt. Die ganze Szene erscheint als sehr gelungen, um Majda die Geltung der elterlichen Ansichten über den familiären Kontext hinaus deutlich zu machen, und die Mutter hat einen wesentlichen Anteil an der Gestaltung des Ablaufes des Gesprächs. Darüber hinaus wird sichtbar, dass sie nicht auf die Anlagen und Kompetenzen ihrer Tochter vertraut, denn sie nutzt diese Gelegenheit, ihr die Konsequenzen eigenen ›Versagens‹ deutlich vor Augen zu führen. Majda selbst wird zur Protagonistin einer Zukunft der Entbehrungen: »da meinte sie da kannst du fast einen tag nur paar cents ausgeben, wie willst du da noch was zusammenkriegen und dir was leisten können«. Die Wendung »und hast du gehört«, mit der diese Geschichte eingeleitet wird, reagiert dabei auf die Unterstellung, Majda könnte in dieser Hinsicht anderer Meinung sein oder vielleicht sogar mit dem Gedanken spielen, einen solchen ›falschen‹ Weg einzuschlagen. An zwei Stellen der Erzählsequenz wird nun aber auch tatsächlich deutlich, dass Majda die Geschichte nicht gänzlich ungebrochen erzählt. Zum einen ist sie sich nicht sicher bezüglich des nicht so guten Abschlusses. Darin ist eine reflexive Spur erkennbar, die durchaus andere Gründe für die Arbeitssituation der Jugendlichen in Erwägung zieht. Zum anderen zeigt sich an der Formulierung »und meine mutter meinte gleich so«, dass Majda zumindest eine Ahnung davon hat, an welchen Strukturen sich die Handlungen und Deutungen der Mutter ausrichten. Die Bewusstwerdung solcher Muster könnte als Prozess einer Distanzierung gedeutet werden, eine Voraussetzung für die Entwicklung eigener Standpunkte.
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I: M: I: M:
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was sagen die eltern, deine eltern wenn du gute noten nach hause bringst super . küsschen, fern an, nein nein, was ich will machen die dann mhm . und wenn’s mal nicht so gut war na ja, also dann sagen die na ja musst du mal ein bisschen besser lernen und so . aber bei mir ist ja so ich/ich krieg ja nicht so oft schlechte noten, also in dieses halbjahr hab ich ja gar nicht so .. mathe, uund wenn ich dann mal so’n ausrutscher oder irgend etwas is, dann, und wenn ich dann so, zum beispiel so wie es in französisch war, also ich hatte, ich hatte, also meine lehrerin meinte zu mir lern die seite vom bu/also ich meinte soll ich lieber die vokabeln vom ähm vom blatt lernen oder vom buch vom buch waren es vier seiten, na und dann meinte sie lern lieber vom buch da habe ich vom buch alle gelernt . (I: ach so) und da kamen die vom blatt vor . und das war sehr ärgerlich, (I: mhm) und da habe ich viele fehler gehabt, und dann bin ich zu meiner mutter gegangen heulend, aber es ich hatte noch keine note gekriegt nur die hatte nur rot und so und da habe ich voll vieles rotes gesehen, und ne/also weil ich hatte in französisch vokabeltest immer ne eins oder ne zwei plus, und nach auf einmal also so viele fehler und dann war ich voll traurig und so da hab ich geweint und dann als meine mutter mich abgeholt hat habe ich geweint und hab ihr alles erzählt und sie meinte, nein das is nicht schlimm schatz und so, sie meinte die vokabeln wirst du irendw-/eh wieso irgendwann gebrauchen und so, also sie war nicht so direkt so sauer ja warum hast du jetzt nicht geschafft (verstellte stimme) und so, aber sie hat mich’s auch selber kontrolliert ich hatte null fehler von vier seiten voller vokabeln . und sie hat auch gesagt das kann ja wohl nicht sein dass du auf einmal so viele fehler hast du hast es alles gelernt da meinte ich na ja, das war vom blatt und ich dachte die vom blatt stehen auch in dem b/buch aber die standen da nicht I: ach so, das ist ja dann .. ach das ist ja blöd na ja M: ja es war voll ärgerlich nach so viel arbeit weil ich hatt die ganze zeit gelernt und da nach so viele fehler da war ich echt sauer . (I: mhm) aber meine mutter hat’s auch verstanden oder mein vater hat’s auch gut verstanden, aber manche dann so na wärst du zu deiner lehrerin gegangen und hättest ihr gleich gesagt na ja ich hab die nicht gelernt und so, und dann meinte ich so na ja, in dem moment war ich so geschockt da konnte ich gar nichts sagen dann kamen ähm kamen erst mal paar tränen raus und so, und dann wollte ich einfach nicht mehr darüber reden ich wollte es vergessen.
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Bei guten Noten erfährt Majda jegliche Form elterlicher Anerkennung. Lob (»super«), emotionale Zuwendung (»küsschen«), sowie die Gewährung von Annehmlichkeiten (»fern an«), bis hin zu einer vorübergehenden Unterordnung des elterlichen Willens unter die Wünsche des Kindes (»was ich will, machen die dann«). Was sie will, kann sie also ausleben, wenn sie den Willen der Eltern erfüllt. Hier zeigt sich wieder die Verstrickung von Majdas Selbst in die Vorstellung der Eltern und die Bindung der Gewährung von (scheinbarer) Autonomie an die Erfüllung der elterlichen Erwartungen. Die Eltern werden dadurch zu der Instanz, die allein über Bewährung oder Scheitern urteilen kann. Das offenbart auch der Fortgang der Szene: So hat Majda große Schwierigkeiten, geringere schulische Leistungen in ihr Selbstbild zu integrieren. Diese können nur als ›Ausrutscher‹ verarbeitet werden, also als Ausnahmeerscheinungen, die nicht zu dem passen, wie es normalerweise läuft. Das ist aber, da es sich offensichtlich lediglich um einen Vokabeltest handelt, sehr erstaunlich. Schon minimale Abweichungen von der Regel führen also dazu, dass Majda rot sieht und an die Grenzen ihrer Verarbeitungsmöglichkeiten gerät. Am liebsten würde sie deshalb solche Erfahrungen »vergessen« (»und dann wollte ich einfach nicht mehr darüber reden ich wollte es vergessen«), also gänzlich aus ihrem Erinnerungsvermögen tilgen, aber das kann nicht vollständig gelingen. Daraus entwickelt sich anscheinend nur deshalb keine weiterreichende Problematik, weil Majda in der Regel keinerlei Schwierigkeiten hat, die erwarteten Höchstleistungen auch zu erbringen. Um überhaupt solche Fehlleistungen, auch als Ausrutscher, verarbeiten zu können, braucht sie aber die Vergebung ihrer Mutter. Diese erscheint auch hier wieder als die richtende Instanz, die nach der ›Beichte‹ (»als meine mutter mich abgeholt hat habe ich geweint und hab ihr alles erzählt«) Majda aus der verzweifelten Situation erlöst, indem sie nach einer Fehleranalyse ›versteht‹, wie es zu dem schlechten Ergebnis kommen konnte und feststellt, dass der Fehler letztendlich aus der falschen Angabe der Lehrerin resultiert. Demnach trifft Majda keine individuelle Schuld und es ist auch nicht ihrem Unvermögen zuzuschreiben.88 Auch an dieser Szene zeigt sich allerdings, wie in der Anfangssequenz, das Verhaltensmuster Majdas, mit dem sie versucht, die Reaktionen zu dämpfen, die von Dritten auf Fehlleistungen ihrerseits folgen könnten. Sie kommt angesichts des nicht so guten Vokabeltests (!!) schon weinend und verzweifelt zu ihrer Mutter. Diese muss nun also nicht mehr Majda dazu bringen, dieses schlechte Ergebnis ernst zu nehmen oder sie gar dazu anhalten, sich in Zukunft mehr anzustrengen, denn Majda selbst zeigt durch die emotionale Reaktion, dass sie diese Anforde88 Das ist sozusagen noch eine Vorstufe der Gnade, die nötig gewesen wäre, wenn Majda ein Beitrag zu dem Versagen hätte nachgewiesen werden können.
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rungen schon tief verinnerlicht hat. Sie ist ja offensichtlich sehr traurig, nun den Erwartungen ihrer Eltern und ihren Erwartungen an sich selbst nicht entsprochen zu haben. So begegnet sie der potenziellen Unterstellung fehlender Leistungsbereitschaft, die als Widerstand gegen die elterlichen Deutungsmuster verstanden werden könnte. Mehr noch, sie sichert sich sogar die weitere Unterstützung und Anerkennung der Mutter (»nein das is nicht schlimm schatz«). Eine Aussprache mir ihrer Lehrerin scheut Majda dagegen gänzlich. Es wird deutlich, dass sie insbesondere gegenüber der Schule schlechte Leistungen zu verdecken versucht, um das Bild der guten Schülerin nicht zu stören. I: mhm . auf welche schule willst denn gehen nach der sechsten M: gymnasium (I: mhm) nee ich will haupt (lacht) Die Interviewerin fragt Majda am Schluss des Gesprächs noch nach ihren nahen und ferneren Zukunftsvorstellungen. Dabei unterstellt die erste Frage, dass Übergangsentscheidungen in die Sek. II aufgrund von freien Willensentscheidungen getroffen werden können. Das ist zwar im Grunde korrekt, wird aber selten praktiziert, weil die Übergangsempfehlungen der Grundschullehrer in der Regel ernst genommen werden. Insofern ist die Schulwahl de facto keine reine Willensentscheidung. Die Interviewerin fragt insofern also unabhängig von den Rahmenbedingungen danach, was Majda will. Die Antwort auf diese Frage ist für Majda unmittelbar klar. Sie will auf das Gymnasium. Die darauf folgende Aussage »nee ich will haupt«, bricht jedoch mit der ersten Antwort. Dazu sind im Folgenden zwei Lesarten konstruierbar: 1. Majda könnte mit der Antwort »nee ich will haupt« auf die für sie potenzielle Absurdität der Frage verweisen. Denn wenn sie es sich aussuchen könnte, würde sie auf das Gymnasium gehen. Das ist das Ziel, worauf sie im Moment hinarbeitet, und das müsste auch der Interviewerin in dem vorangegangenen Gespräch klar geworden sein. Gleichzeitig wird deutlich: Es geht nicht um den individuellen Willen, sondern um den richtigen Weg. 2. Andererseits könnte es als Witz angelegt sein, der die der Frage inhärente Wollenskategorie ernst nimmt und nun mit dieser spielt. ›ach, wenn ich es mir aussuchen kann dann will ich haupt‹. Der Witz funktioniert dann, weil normalerweise angenommen wird, dass sich der, der die freie Wahl hat, das Beste aussucht. Dann zeigt sich an dieser Stelle ein spielerischer Umgang mit dem im Grunde vorgezeichneten Weg – als Lust, andere Optionen zu testen: Was passiert, wenn ich einen anderen Weg wähle? Wie reagieren die Anderen?
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Es könnte angenommen werden, dass Majda auf diese Art und Weise vorsichtig und spielerisch versucht, die Grenzen des elterlichen Entwurfs zu befragen sowie über die Reaktionen des Gesprächspartners die Konsequenzen eines möglichen Ausscherens zu erfahren. Durch das Lachen wird diese Intention jedoch deutlich als unernst ausgewiesen. I: und hast du schon so ideen was was mal so kommt nach der schule was du so werden willst M: ähm, rechtsanwältin verdient man viel geld (I: mhm) oder ärztin ä, genau, ärztin will ich sein I: mhm warum willst du ärztin . auch weil du so was ka/was was ist daran toll M: es is einfach schön menschen zu helfen. (I: mhm) ich will augenärztin werden (I mhm), wenn ich es so weit schaffe I: ja, ich wünsch dir alles gute, das wars M: danke Majda wählt ihre Berufsvorstellungen aus sehr angesehenen Professionen, die seitens des staatlichen Berechtigungswesens an höchste Bedingungen geknüpft sind. Wiederum wird deutlich, wie hoch ihre Ziele sind und wie unabdinglich zu deren Erreichung eine Habitusangleichung bzw. -transformation sein wird. Auffällig ist erneut Majdas Bewusstsein über den weiten Weg, der vor ihr liegt, sowie über das potenziell hohe Scheiternsrisiko angesichts der anspruchsvollen Ziele (»wenn ich es so weit schaffe«). Dabei erweitert sie jedoch ihre zunächst materielle Motivation durch einen ideellen und sozialen Aspekt. Auch an diesen Punkt geht sie damit über die grundsätzlichen Vorstellungen ihrer Eltern hinaus. Darin könnte sich wiederum die habituelle Übernahme anderer Wertorientierungen andeuteten, die sich durch Majdas Engagement im Bildungssystem ergibt. Das Ende des Gesprächs ist gestaltschließend. Majda hat die Interviewerin von ihrer Leistungsfähigkeit überzeugt bzw. ihren Lebensentwurf charismatisiert. Insofern kann diese ihr nur noch alles Gute wünschen. Majda bedankt sich daraufhin und bestätigt damit selbstbewusst noch einmal die Glaubhaftigkeit ihres Plans. Zusammenfassung der Ergebnisse und Formulierung der individuellen Fallstruktur Majdas frühe Kindheit ist geprägt durch die Einbettung in ein sozialräumliches Netzwerk, das gleichermaßen aus Kernfamilie, Verwandten und Institutionen besteht. Dabei stellt das Netzwerk als solches den Ort kindlicher Geborgenheit dar, den in der Regel die Familie bietet. Die ausgreifende Rolle des Netzwerkes
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ergibt sich aus der in der Familie bestehenden Notwendigkeit, die Versorgung und Erziehung der Kinder mit der Berufstätigkeit beider Elternteile zu vereinbaren. Durch die Übernahme dieser eigentlich organisatorischen Rahmung als Grundstruktur für ihre biografische Einstiegserzählung erweist sich die enge Verwobenheit von Majdas Biografie mit der Organisation der familiären Existenz, deren Thema wiederum der materielle und soziale Aufstieg ist. Majda ist Teil dieses Familienprojekts, hat demnach einen bedeutenden Anteil daran und eine individuelle Verantwortung für dessen Gelingen. Die Aufstiegsorientierung der Familie, die für Majda ihren zentralen Ausdruck in dem Erwerb und dem Ausbau einer Eigentumswohnung findet, geht im Wesentlichen mit einer räumlichen Distanzierung einher, die wahrscheinlich gleichzeitig eine Lösung aus engen verwandtschaftlichen Beziehungen bedeutet. Es kann angenommen werden, dass die Familie dadurch an Autarkie und Autonomie gewinnt und in erster Linie aufgrund der nun notwendig werdenden gemeinsamen Organisation der Überbrückung der größer gewordenen Entfernungen näher zusammenrückt. Entgegen der emotionalen Sicherheit des kindlichen Netzwerkes ist die neue Einbindung in die Kernfamilie mit ihren inhärenten Anerkennungsstrukturen gekennzeichnet von der Erfüllung einer bestimmten Rolle im Kontext der aufstiegsorientierten Familie, die sich hier mit der Erwartung höchster schulischer Leistungen verbindet. Majda übernimmt zunehmend diese Rollenzuweisung und versucht, die an sie gerichteten Anforderungen umfassend zu erfüllen. Damit unterstützt sie die Veränderungen und den Lebensentwurf ihrer Eltern. Der Aufstieg der Familie ist frisch und ungefestigt. Es zeigen sich Befürchtungen vor einem erneuten Statusverlust insbesondere durch die nachfolgenden Generationen, die zudem noch schwierigeren gesellschaftlichen Bedingungen ausgesetzt sind. Aus diesem Grund konzentriert sich der elterliche Wille nach Statusverbesserung und Statuserhalt in Majdas Fall auf eine möglichst erfolgreiche Bewährung im Bildungssystem. Die Schule erscheint als Mittel zum Zweck, um den Statusgewinn nachhaltig zu sichern. Die ausgeprägte Angst vor Regression wird Majda gegenüber in Forderungen nach höchsten schulischen Leistungen sowie einem möglichst hohen Leistungswillen umgesetzt und eng mit Anerkennung und emotionaler Zuwendung verbunden. Indem die Eltern von ihr nicht nur höchste Leistungen, sondern auch den individuellen Willen zur Leistung fordern, ist Majdas Selbstbild eng mit diesen elterlichen Vorstellungen verstrickt. Das zeigt sich in der Fallstruktur der organisierten Biografie und in der damit zusammenhängenden Übernahme eines spezifischen Wertesystems von Sinn und Zielorientiertheit. Die Kindheit erscheint als eine von Sublimierung geprägte Vorstufe späteren Erfolgs. Der Nachdruck, mit dem die elterlichen Absichten vorgetragen werden, sowie die weit-
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reichende Substituierung von emotionaler Anerkennung durch Anerkennung für Leistung führen bei Majda schließlich zu der im ersten Abschnitt herausgearbeiteten individuellen Habitusstruktur der Scheiternsvermeidung. Das Besondere an der biografischen Fallstruktur Majdas ist nun, dass sie anscheinend durch ihre ausgeprägten kognitiven Kompetenzen (bislang) in der Lage ist, diese höchsten Leistungserwartungen auch zu erfüllen. Dadurch gelingt es ihr, in Übereinstimmung mit dem familiären Fremdbild ein positives Selbstbild aufzubauen, das sich im Wesentlichen auf ihre besonderen Leistungen stützt. Der in aller Regel sichere Erfolg führt dazu, dass Majda sich selbstverständlich in verschiedensten Bereichen Herausforderungen stellt, um den elterlichen Erwartungen an ihren Leistungswillen zu entsprechen. Auf der anderen Seite ist sie allerdings kaum in der Lage, Misserfolgserlebnisse zu integrieren, da schon kleinste Abweichungen von Höchstleistungen dieses auf Perfektion aufgebaute Selbstbild in eine Krise führen. Dabei kann vermutlich zwischen einer nach innen und einer nach außen gerichteten Struktur der Bewältigung von Krisensituationen unterschieden werden, die sich innerhalb des Interviews immer wieder vermischen. Die Interviewsituation führt in diesem Fall zu einer Passungsproblematik. I
Gegenüber der Schule ist sie darum bemüht, die Fiktion der sehr guten Schülerin aufrechtzuerhalten, sie antizipiert dazu einen bildungsnäheren Habitus. Die schulischen Leistungen sind demnach für Majda weniger mit individueller oder zwischenmenschlicher Anerkennung verknüpft. Diesbezüglich geht es in erster Linie um das Erreichen formaler Leistungsnachweise. II Dagegen hat sie durch ihre Eltern, die zur über Erfolg und Scheitern richtenden Instanz werden, im Falle einer negativen Leistungsabweichung eine umfassende Infragestellung ihrer »guten Absichten« als Person zu befürchten. Aufgrund der engen Verknüpfung des Fremdbildes der Eltern mit ihrem Selbstbild kann Majda hier nicht an einer imaginären Entsprechung arbeiten, sondern benötigt zur Verarbeitung eines Fehlschlags das Verständnis und die Gnade der Eltern, die sie durch eine kindliche Unterwerfung unter die elterlichen Deutungen erhält. Da es den Eltern schwer fällt, an das gute Gelingen der Entwicklung ihrer Tochter zu glauben, versuchen sie (in diesem Fall die Mutter), Majda in dieser umfassenden Abhängigkeit von ihren Urteilen und Deutungen zu halten. Die Regressionsängste der Eltern übertragen sich so auf Majda und führen zu jenem fehlenden strukturellen Optimismus, der wiederum Teil der Habitusformation ist. Majdas Integrität als Person erscheint also zum einen als mehrdimensional eingeschränkt. Zum
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anderen zeigen sich Potenziale einer Befragung, Distanzierung und eventuell Überschreitung elterlicher Muster.
5.1.4 Fallstruktur der schulbiografischen Passung 5.1.4.1 Einschulung I: weißt du noch wie deine einschulung war kannst du dich noch dran erinnern M: ja meine cousins kamen zur überraschung, ich hab mich voll gefreut und so, sie kamen um etwas bescheid zu sagen und dann sehen wir da standen sie vor uns und so und na ja ich erinner mich doch, was ich anhatte (lachend) I: ja, erzähl mal M: ja (kichert) ich hatte ein ein grünes kleid was ich damals sehr mochte an (lachend) (I: aha) zwar unwichtig, aber ich hab’s noch so im kopf, von den fotos . Ohne zu zögern kann Majda bezüglich der Frage, wie ihre »einschulung war«, auf eine Erinnerung zugreifen. Ihre Cousins kamen zur Überraschung. Die Formulierung »zur überraschung« birgt dabei im Gegensatz zu ›überraschend‹ ein Moment der Intentionalität. Jemand hat bewusst die Überraschung vorbereitet und eingefädelt. Majda erfährt durch diese Form der Zuwendung eine individuelle Ehrung an einem besonderen Tag. Die Einschulung rückt in die Nähe einer GeburtstagsÜberraschungsparty und Majda wird zum Ehrengast. Sie freut sich sehr über diese besondere Aufmerksamkeit, die ihr durch Angehörige der Familie zu Teil wird. Man könnte vermuten, dass solche individuellen Ehrungen in der organisierten und funktionsorientierten Familie eher selten sind. Dann bedeutet der Schuleintritt für Majda eine besondere Aufmerksamkeit und Aufwertung ihrer individuellen Identität. Die Cousins kamen jedoch, »um etwas bescheid zu sagen«. Es bleibt ungeklärt, ob sie nur aufgrund der zu überbringenden Nachricht in die Schule kamen oder ob sie ihren Auftrag zum Anlass nahmen, Majda zu überraschen. Deutlich wird allein, dass Majda diese organisatorische Rahmung der Überraschung nicht als vermindernden Umstand ihrer individuellen Würdigung deutet. Für sie entsteht daraus kein Widerspruch und es könnte geschlussfolgert werden, dass für sie kein Unterschied zwischen einer »organisatorischen« und einer affektiven Zuwendung besteht. Die Cousins kommen quasi aus dem Nichts. Sie stehen plötzlich vor Majda und ihren Begleitern. Durch die Formulierung »und dann sehen wir« wird jedoch deutlich, dass es zwischen Majda und ihren Begleitern zu einem kommunikativen Aus-
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tausch über diese Szene gekommen sein muss. Ansonsten könnte Majda hier nicht von einem gemeinsamen Sinneseindruck sprechen. Eventuell ist diese Form der Verständigung über eine spezifische Begebenheit, die darüber Eingang in das familiäre Gedächtnis findet, auch der Grund, warum Majda von dieser zuerst berichtet. An dem folgenden Protokollausschnitt wird zum einen die bereits rekonstruierte Fallstruktur der Interaktion offenbar:89 Majda kommt darauf zu sprechen, was sie anhatte, signalisiert jedoch, dass sie die Bestätigung der Angemessenheit dieser Informationen vonseiten der Interviewerin erwartet. Trotz deren Unterstützung (»ja erzähl mal«) stellt sie im Folgenden die Relevanz der Schilderung in Frage (»zwar unwichtig«) und verortet den Grund für die aufkommende Erinnerung in den vorhandenen Fotos. Das ist zwar grundsätzlich möglich, erscheint im Zusammenhang mit der erwähnten persönlichen Vorliebe für dieses Kleid aber als nachträgliche Rechtfertigung dieser ›unwichtigen Erinnerung‹. Es zeigt sich Majdas nachhaltiges Bemühen, antizipierten Werte- und Normensystemen zu genügen. Zum anderen wird durch die Erwähnung des Kleides noch einmal die Bedeutung des Tages herausgehoben. Sie hatte etwas Besonderes an. Hier entsteht keine Unstimmigkeit zwischen dem Körpergefühl und der Kleidung. Anscheinend hat sich Majda in dieser wohlgefühlt. Sie kommt also in einem Kleid in die Schule, das sie zu jener Zeit sehr mochte und das nicht unbedingt extra für den besonderen Anlass gekauft worden sein muss, und wird dort zunächst von ihren Cousins überrascht. Damit beschreibt sie zunächst eine Kontinuität des Erlebens zwischen dem vorschulischen und dem schulischen Erfahrungsraum. Die Frage ist nun, ob diese auch im weiteren Verlauf des Protokolls beibehalten werden kann. M: (I: mhm) na ja uund . na also ich erinnere mich doch dran wies/also ich hatte so’n komisches kribbeln im bauch, das war für mich was ganz neues, mir kämen fast die tränen raus (lacht) das war so ne freude und so weil es is ja was ganz neues wenn du mal in der schule bist also das kennen zu lernen erstmal . na ja und danach habe ich mich langsam befreundet und so Die Interviewerin geht nicht weiter mit Fragen auf die Kleidung von Majda ein. Insofern ist anzunehmen, dass sie das »mhm« der Interviewerin auch als Bestätigung der Zuschreibung der Unwichtigkeit aufgefasst hat. Möglicherweise geht sie deshalb gleich zum nächsten Punkt über. Doch nun zögert sie und macht eine längere Pause. Sie muss über das Gefühl, an das sie sich nun erinnert, zunächst einmal nachdenken, um es in Worte fassen zu können. Es ist nichts, was ihr durch 89 Da die Interaktionsstruktur im Wesentlichen über das gesamte Interview hinweg strukturell gleich bleibt, wird sie in noch folgenden Analysen nicht mehr thematisiert.
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familiäre Überlieferung als geteilte Erinnerung oder durch Fotografien zur Verfügung steht. Im familiären Gedächtnis scheint diese Erinnerung keinen Platz gefunden zu haben. Majda hatte so ein »komisches kribbeln« im Bauch. Während das Kribbeln im Bauch noch wertfrei ist und sich bei vielerlei positiven und auch negativen Emotionen einstellen kann, ist das »komische« Kribbeln ein Verweis darauf, dass für Majda selbst diese Empfindung relativ neu ist. Sie kann es noch nicht auf einen Begriff bringen, sondern beschreibt zunächst das Gefühl – ein Kribbeln – es gerät etwas in Bewegung, denn es geschieht etwas ganz Neues. Eine Lebenspraxis, für die keine Routinen zur Verfügung stehen. Majda weint fast. Sie scheint überwältigt durch das Neue. Und sie lacht im Gespräch. Damit distanziert sie sich nun von dieser Erinnerung, die bis hierhin eine Beschreibung eines affektiven Zustandes bleibt, und durchaus noch positiv und negativ konnotiert werden kann. Nur das ›Komische‹ verweist darauf, dass Majda die Situation und die Empfindung zumindest unvertraut, wenn nicht sogar unheimlich waren. Insofern erscheint der Begriff der »Freude« als Beschreibung dieser Emotionen unzutreffend. Ein »komisches kribbeln« kann man z.B. positiv beim Verliebtsein empfinden, wenn diese Gefühlslage unbekannt und neu ist. Das Gefühl der »freude« müsste einem elfjährigen Kind jedoch hinreichend vertraut sein. Darüber hinaus ist uneingeschränkte Freude angesichts der Konfrontation mit einer neuen Form der Lebenspraxis eher unwahrscheinlich. Folgt man dieser Deutung, dann ist der Schulbeginn für Majda zum einen mit einer Aufwertung ihrer individuellen Identität und zum anderen aber mit einer unbestimmten Angst und Unsicherheit gegenüber dem ›Neuen‹ verknüpft, das nun auf sie zukommt. Sie allein ist nun herausgefordert, dieses zu bewältigen und kann dazu nicht auf in der Familie erworbene Routinen zurückgreifen. Dabei ist nicht nur die Schulerfahrung neu, sondern die gesamte Lebensgestaltung verändert sich – denn wenn du mal in der Schule bist, ist »es« »ja was ganz neues«. Dabei gelingt es Majda nicht, der Situation mit dem familial angelegten Bewältigungsverhalten zu begegnen. Die Umdeutung der Krise zu einer mit Freude angenommenen Herausforderung misslingt. Die starke Verunsicherung kann Majda nur überwinden, indem sie sich mit der Zeit die Strukturen des schulischen Erfahrungsraums erschließt. Eine nachhaltige Stabilisierung der Krise gelingt letztendlich durch die Einbindung in Freundschaftsbeziehungen. I: mhm .. und hatt’st de bevor de/bevor dieser tag war warste da wie hast dich da so gefühlt so im vorfeld von von schulbeginn (betont) M: ach so, ichich glaub ich hatte freude und so also es is es is so aufregend und so
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I: mhm haben deine eltern mit dir dadrüber gesprochen über schule und was dann so da passiert M: ich erinner mich zwar nicht mehr daran aber . ich glaub schon dass sie gesagt haben warte mal da warte da pass auf und geh lieber nicht da (lacht leicht) ja, weil jeder macht sich hier sorgen. (I: mhm) die meisten schon Erneut versucht Majda nun, ihre Gefühlslage bezüglich des Schulbeginns in Worte zu fassen. Sie glaubt, sie »hatte freude«. Das heißt, sie kann sich nicht mehr an das Gefühl der Freude erinnern, aber sie nimmt an, dass sie sich gefreut hat. Es ist also auch möglich, dass sie sich angesichts ihres momentanen Erlebens der Schule nur noch schwer vorstellen kann, dass sie mit stark gemischten Gefühlen dem Schulbeginn entgegen gesehen hat. Die nachfolgende Formulierung (»es is so aufregend«) zeigt deutlicher diese affektive Ambivalenz. Die Interviewerin will nun wissen, ob und wie Majda von ihren Eltern auf die Schule vorbereitet worden ist. Der Neubeginn könnte durch Erzählungen der Eltern vorstrukturiert worden sein. Es ist vorstellbar, dass Majda schon genau erklärt wurde, was auf sie zukommt, dass sie sich keine Sorgen zu machen braucht etc. An Majdas Antwort wird nun aber ersichtlich, dass die Eltern auch in der Vorbereitung auf die Schulzeit nicht beruhigend oder zuversichtlich gewirkt haben. Majda erinnert sich zwar nicht mehr an die konkreten Handlungen und Aussagen der Eltern, sie nimmt aber aufgrund ihrer bisherigen Erfahrungen an, dass ihr vielfältige Anweisungen und Warnungen mit auf den Weg gegeben wurden. Die Aufregung vor der beginnenden Schulzeit verbindet sich dadurch mit einer Besorgnis über mögliche Gefahren in der Schule und auf dem Weg zur Schule. Majda wird mit genauen Verhaltensanweisungen konfrontiert, um diese potenziellen Risiken möglichst gering zu halten. Für die Eltern bedeutet der Schulbesuch Majdas also eine Steigerung des Gefahrenrisikos. Entsprechend könnte angenommen werden, dass Majda nicht nur mit einer gesteigerten Angst den Schulanfang begeht, sondern darüber hinaus durch die grenzüberschreitende Sorge der Eltern nachhaltig an einer individuellen Entfaltung und sicheren Einbettung auch in der Schule behindert wird. Diese These bestätigt sich jedoch im Fortgang der Textpassage nicht. Das Verhalten der Eltern wird von Majda dadurch legitimiert, dass sich ›hier jeder‹ Sorgen macht, mit einigen wenigen Ausnahmen von der Regel. Trotz des leichten Lachens schließt sich Majda zum einen nicht aus dieser allgemeinen Sorge aus. Sie wird vielmehr zum Sprachrohr einer Befindlichkeit. Dabei wird der Umgang mit der beständigen Sorge für Majda andererseits zur routinierten Lebenspraxis, die sie zumindest in der Schule nicht als akute Bedrohung empfindet.
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Etwas später im Interview kommt Majda bezüglich der Frage, ob sie sich an der Schule auch einmal nicht so wohl gefühlt hat, nochmals auf ihre Einschulung zu sprechen: M: .. ähm .. ich glaub ich weiß es aber nich das is an meim ersten tag weil da war ich/hab ich mich glaube ich nicht so wohl/ich weiß nicht das war aber glaube ich nicht soo nicht wohl fühlen sondern, es war glaube ich so vor aufregung (betont) so . aber ich glaub nicht dass es jetzt hier mit der schule was zu tun hätte I: mhm, was hast du da gefühlt weißt du noch so was so unwohl war M: so’n kribbeln so was könnte nun passieren was machen wir jetzt und so . also ich wusste nicht genau was nun geschieht Mit dieser Textpassage kann im nochmaligen Rekurs auf ihre aufkommenden Erinnerungen die bislang rekonstruierte latente Sinnstruktur der Einschulungserfahrung bestätigt werden. Interessant ist nun Majdas Formulierung, die besagt, dass sie nicht glaubt, dass ihre Aufgeregtheit »hier mit der schule zu tun hätte«. Wie bereits thematisiert, kann Majda die konkreter werdende Erinnerung anscheinend nicht mehr mit ihrem momentanen Empfinden in der Schule in Einklang bringen. Das spricht dafür, dass sie durch einen Gewöhnungsprozess diese anfänglichen Gefühle gegenüber der Schule überwinden konnte und dass somit auch die habituelle Sorge der ›meisten‹ in der Schule nicht verstärkt, sondern eventuell sogar eingedämmt wird. Zusammenfassung: Für Majda bedeutet die Einschulung zunächst eine scheinbare Aufwertung ihrer individuellen Identität. Sie steht für kurze Zeit im Zentrum der familiären Aufmerksamkeit, die jedoch in keiner Weise ihre übergeordneten Orientierungen zurückstellt. Die Einschulung wird ferner zum gesteigerten Ausdruck des familiären Aufstiegsprojektes, zu dem die Kinder insbesondere auch durch den Schulbesuch ihren spezifischen Beitrag leisten. Der Tag wird durch Fotos und Erzählungen in das familiäre Gedächtnis eingefügt. Diese Rahmung erfährt Majda zunächst positiv als Kontinuität zwischen dam familiären und schulischen Erfahrungsraum. Auf der Ebene der latenten Sinnstruktur zeigt sich im Fortgang des Einschulungserlebnisses jedoch, dass Majda diese dann auch emotional ambivalent erlebt. Sie ist konfrontiert mit einer genuinen Krisensituation, die in ihr eine starke Unsicherheit und Instabilität auslöst. Es wird deutlich, dass mit dem Übergang in die Grundschule Majdas im familialen Milieu erworbene Bewältigungsstrategien nicht mehr wirksam sind. Sie ist herausgefordert, eine spezifische Bearbeitungsstrategie bezüglich der schulischen Problematik zu entwickeln, die, wie bereits rekonstruiert
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werden konnte, in differente habituelle Orientierungen mündet. Familie und Schule werden zu sich stark unterscheidenden Lebenswelten und Erfahrungsräumen. Dabei kann riskant vermutet werden, dass der schulische Erfahrungsraum im Kontrast zu der organisierten aufstiegsorientierten Familie zumindest in den Freundschaftsbeziehungen eine diffuse Einbettung bietet. Bezüglich der schulbiografischen Passung kann hypothetisch gefolgert werden, dass Majda trotz der intensiven Ausprägung einer erfolgssichernden Habitusstruktur in der Schule nicht langfristig unter zusätzlichen Druck gerät. Vielmehr gelingt es ihr, sich anscheinend nach relativ kurzer Zeit in die schulische Gemeinschaft einzugewöhnen, die sie auf dieser Ebene hauptsächlich als Beziehungen unter Gleichaltrigen erlebt. Daraus entwickelt sich ein positives Grundgefühl gegenüber der Schule, vor dessen Hintergrund selbst die aufkommenden ›Schrecken‹ der Einschulung verblassen. Auch die beständige Sorge der Eltern wird für Majda in der Schule zur routinierten Lebenspraxis. Sie weiß um die Gefahren und geht auch nicht nachlässig mit der Sorge bzw. ihrer Sorgfaltspflicht um. Dennoch scheint sie selbst in der Schule keinen akuten Bedrohungen ausgesetzt zu sein. Die Bedrohung des Außen ist für Majda damit in der Schule zwar präsent, aber nicht erfahrbar. Darüber hinaus zeigt sich an dem Verlauf des Gesprächs über die Einschulung eine interessante begriffliche und inhaltliche Analogie zu der Rede des Rektors anlässlich der Einschulungsfeier. Kontextuell ist dabei von Bedeutung, dass Majda kurz vor dem Zeitpunkt des Interviews der Einschulungsfeier der neuen Erstklässler beigewohnt hat. Die Einschulung hat für Majda entsprechend den schulkulturellen Sinnstrukturen (1) eine besondere biografische Bedeutung. Sie berichtet ferner (2), entsprechend der Annahme des Rektors, alle hätten ihr bestes Kleid anprobiert, von ihrer Kleidung, und es wird deutlich, dass Majda eine besondere Beziehung zu ihrer Kleidung hatte, von der sie, entgegen der vorgeschobenen Zurücknahme solch äußerlicher Orientierungen, gerne erzählt. Schließlich ist (3) der Begriff, den sie anstatt des Etiketts der Freude für ihre Emotionen bezüglich der Einschulung wählt, entsprechend der Rede zur Einschulungsfeier derjenige der ›Aufregung‹ (»ganz aufregend ist heute der erste Tag«). Entgegen ihren familial erworbenen Habitusstrategien und sogar entgegen der schulbezogenen Strategie der Annäherung an ein Bildungsmilieu stellt die Eröffnungsrede des Rektors also Begriffe und Kategorien zu Verfügung, die Majdas latenten Vorlieben und Emotionen entsprechen. Es könnte also vermutet werden, dass die Schulkultur der kunstbetonten Grundschule Majda zur Ausagierung durch die starke biografische Imagination ungebrochener Leistungsstärke, tendenziell unterdrückter Selbstanteile verhilft. Durch diese ausgleichende Wirkung findet sie zu der entlastenden Form der routinierten Sorge innerhalb der Schule.
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5.1.4.2 Einstellung zur Bildung I: ja .. okaay, ehm was meinst du worauf legen die lehrer an dieser schule besonderen wert M: dass die schüler klug sind uund etwas lernen und nich einmal, also sagen wir mal, einmal so tun als ob sies wissen und dann, plupp, sagen wir mal beim test Die Lehrer legen Wert auf Klugheit und darauf, dass die Schüler etwas lernen. Die Klugheit verweist dabei auf die versierte Verbindung von kognitiven und sozialen Kompetenzen, denn der Begriff transportiert, dass Fähigkeiten geschickt und gelingend zum Erreichen eines Ziels eingesetzt werden. Darüber hinaus ist Klugheit etwas, was die Schüler nicht in der Schule erwerben, sondern etwas, über das sie bereits verfügen (»dass die schüler klug sind«). Die Frage, die sich anschließt, ist, ob es für Majda überhaupt Schüler gibt, die nicht klug sind. Andererseits könnte geschlussfolgert werden, dass es den Lehrern in Majdas Wahrnehmung nicht um eine Entwicklungsaufgabe geht, sondern dass die Potenziale des Einzelnen bereits bekannt sind und vorausgesetzt werden. Darüber hinaus sollen die Schüler etwas lernen, also sich in der Schule bestimmte Sachverhalte aneignen. Ob dies gelingt, beweist sich letztendlich in einem Test. Deshalb darf man nicht nur so tun, als ob man es wüsste, weil dieses Bild in einem Test wie eine Seifenblase zerplatzt. Die Sequenz zeigt, dass Majda davon ausgeht, dass es bis zu einem gewissen Punkt durchaus möglich ist, die Lehrer zu täuschen. Ob ein solches Bild der Realität entspricht, zeigt sich dagegen nur in einem Test. Dort sind die Leistungen zu erbringen, die letztendlich in Noten übersetzt werden. I: . mhm . glaubst du dass äh gute noten wichtig sind für eure lehrer M: ja glaub schon , (I: mhm) also die sind auch zufrieden, weil einmal ist das diktat sehr schlecht ausgefallen aber das war nur ein vergleichsdiktat und dann kam unsere lehrerin mit schlechter l-/rau-/ähm, laune rein und, da hat man gemerkt dass es nichts gutes war, nein also ich find’s gut dass sie wenigstens nicht toll findet bei manchen lehrern also ich kenne hier gar keinen aber, es könnte ja sein dass es manchen lehrern ganz egal ist wenn denn ich hab’s ihnen erzählt, wenn sie es nicht verstehen, pech I: mhm, mhm . und das ist hier nicht so, ((2 sek)) M: nee also ff/also hier finde ich is überhaupt nicht so I: . soo . ähm, wie reagieren denn lehrer dadrauf, oder du kannst ja auch wenn dir ne bestimmte einfällt oder ne bestimmte situation vielleicht einfällt wo das mal
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so war (schnell gesprochen), wenn schüler etwas nicht wissen wenn sie was nicht können nicht wissen oder wenn sie, immer wieder schlechte zensuren bekommen wie sind die lehrer oder wie sind lehrer dann zu solchen schülern M: also manchmal sagen sie na ja du musst auch ein bisschen lernen oder, also is nicht so extrem das finde ich, nicht dass sie so sagen ja du musst doch lernen was machst du denn für’n zeug hier und so, also, ich finds gut hier Die Interviewerin fragt nun speziell danach, ob Majda der Meinung ist, dass der Nachweis von guten Noten für ihre Lehrer wichtig ist. In ihrer Antwort erscheint eine Analogie. Lehrer und Schüler sind demnach zufrieden, wenn die Leistungen stimmen. Das heißt, die Lehrer sind persönlich mit dem Erfolg ihrer Schüler verwoben. Entsprechend wirken sich gute und schlechte Ergebnisse auch auf das subjektive Befinden der Lehrer aus. Das zeigt Majda anhand der Geschichte von dem Vergleichsdiktat. Denn die Lehrerin reagiert angesichts des nicht so guten Abschneidens der Klasse mit »schlechter […] laune«. Die Lehrer sind in Majdas Wahrnehmung also mit ihrer ganzen Person in den Unterrichtsprozess involviert. Entsprechend hoch ist in diesem Fall aber auch die Gefahr, sie persönlich zu enttäuschen. Die Kinder merken schließlich auch an der Gestimmtheit der Lehrerin, »dass es nichts gutes war«. An der Bezeichnung einer schlechten Leistung als »nichts gutes« zeigt sich andererseits, dass in dieser tendenziell diffus anmutenden Beziehung zwischen Lehrern und Schülern der Blick auf das Gute gelenkt wird. Hier wird nicht, wie Majda es von zu Hause gewohnt ist, die Leistungsbereitschaft und das gute Gelingen schlechthin in Frage gestellt, sondern der Unmut wird punktuell an einen spezifischen Auslöser geknüpft. Das persönliche Engagement der Lehrer, die ihre Schüler nicht einem individuellen Schicksal überlassen, findet bei Majda interessanterweise ausdrückliche Anerkennung. Entsprechend findet sie es gut, dass bei schlechten Leistungen einzelner Schüler anscheinend vonseiten der Lehrer keine persönlichen Entwertungsreaktionen im Sinne von Demütigungen folgen. Die persönliche Integrität der Schüler scheint in der Regel geachtet zu werden. Der Umstand, dass extreme Reaktionen eher Ausnahmen sind, trägt dazu bei, dass Majda nicht nur das Verhalten der Lehrer im Großen und Ganzen akzeptieren kann, sondern es darüber hinaus an der Schule gut findet. Die emotionale Entsprechung wird hier durch eine rationale Zustimmung ergänzt. Für Majda bedeutet es, dass sie sich in der Schule in der Regel nicht vor einer Dekonstruktion ihrer guten Absichten fürchten muss. Das trägt vermutlich dazu
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bei, dass sie es in der Schule leicht hat, das Bild der leistungsstarken Schülerin aufrechtzuerhalten. I: mhm mhm, dir gefäll/jaa das is schön, freut mich . ähm, kommt es bei dir du bist ja jetzt wirklich ne sehr gute schülerin kommt es manchmal auch vor dass du sachen nicht verstehst M: sachen nicht verstehen ja natürlich, aber mein also sagen wir mal wenn ich in ma-/also in deutsch versteh ich alles äh in deutsch bin ich sehr gut finde ich (betont) jedenfalls also die grammatik und so verstehe ich, aber in mathe da gab es mal das war glaube ich in der fünften weiß ich nicht, da gibt es manchmal sachen die ich nicht verstehe und mein vater er kann sehr sehr (betont) gut mathe, (I: mhm) also der der weiß alles ich komm jeden tag mit was neues an, (I:. lacht) papa, ich wette mit dir das weißt du nicht (lacht) äher, er guckt sich an liest es sich sich durch doch ich weiß es . (lacht) und dann kam immer das richtige raus ich hab’s noch nie geschafft in diesen sechs jahren . (beide lachen) der kann alles sss is so erstaunt er ist jetzt schon so alt und weiß noch alles wie’s geht und so, und der erklärt mir mal was wenn er, also wenn er, also wenn ich was nicht verstehe und so I: mhm und dann gehst du auch am liebsten zu deinem vater wenn du was so nicht verstanden hast M: ja, am liebsten I: mhm, und frag-/kannst du auch hier fragen M: ja kann ich aber, ich mach das nicht so oft … und meine mutter da gehe ich in deutsch, aber in deutsch habe ich nicht so oft probleme also I: mhm warum magst du hier so nicht so fragen dann M: ich weiß nicht, es ist so also . ich, ich hab’ manchmal so’ne vermutung dass sie meckern würde weil sie’s paar mal erklärt hat oder sowas, und dann sag ich einfach na ja mein vater der ist doch genauso gut und so dann lasse ich mich von ihm erklären es sei denn, also es is besser als ne schlecht note zu kriegen nur weil ich mal nich was verstanden hab oder so, (I: mhm) also falls paar lehrer so reagieren zur sicherheit jedenfalls Das Spannende an dieser Stelle des Interviews ist, dass Majda, obwohl sie vorher die gute und tendenziell persönliche Beziehung zwischen den Lehrern und den Schülern herausstellt und zudem betont, dass sie keine extremen Reaktionen befürchten muss, sich anscheinend in Situationen, in denen sie Hilfe oder Unterstützung benötigen würde, nicht an die Lehrer wendet, weil diese »meckern« könn-
5.1 Organisierte Imagination und Bildungserfolg: Majda
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ten. In solchen Fällen geht sie in der Regel zu ihrem Vater oder ihrer Mutter, da diese »genau so gut« sind. Warum also findet das Verhalten der Lehrer ihre Zustimmung, obwohl sie offensichtlich Schwierigkeiten hat, sich vertrauensvoll an sie zu wenden? Zunächst wird deutlich, dass Majda darum bemüht ist, nicht ›angemeckert‹ zu werden. Ferner befürchtet sie durch die Offenlegung ihres fehlenden Verständnisses eine Konsequenz bezüglich ihrer Benotung. Diese Befürchtung erscheint jedoch zunächst unangemessen, denn die jeweilige Note setzt sich aus vielerlei Komponenten zusammen und auch Nachfragen können als aktive Beteiligung gewertet werden. Es geht also Majda in erster Linie darum, nicht das Bild, bzw. die Imagination der sehr leistungsstarken (perfekten) Schülerin in der Vorstellung der Lehrer zu zerstören. Sie vermutet, dass solche Fremdbilder eng mit der letztendlichen Note zusammenhängen könnten, und will deshalb jedes Risiko vermeiden. Damit vermeidet sie anscheinend jene persönliche Involviertheit, die doch den Umgang der Lehrer mit den Schülern zu kennzeichnen scheint. I: M: I: M:
und warum schimpfen die lehrer manchmal manchmal . keine ahnung weißt nicht warum was se dann so geärgert hat ich glaub schon also, ich würde eigentlich auch, deshalb gehe ja auch nich zu den schülern wenn ich der lehrer wäre und es schon ein paar mal erklärt habe, dann wieder die ganze zeit ein paar schüler ankommen und sagen, ich versteh das nicht ich versteh das nicht (verstellte stimme) na dann würde ich doch auch sauer sein und meckern also . (I: mhm) deshalb denke ich so dann frag ich lieber meinen vater der hat verständnis und so
Diese Stelle zeigt, dass Majda sich ganz bewusst nicht in die Reihe derjenigen begibt, die die Lehrer mit Problemen ihres Verständnis- und Lernprozesses konfrontieren. Da diese tendenziell als ganze Person in den Unterrichtsprozess involviert sind, ärgert sie ein solches Verhalten der Schüler, weil es im Grunde ihre Vermittlungsfähigkeiten und Kompetenzen in Frage stellt. Denn das Ziel der Lehrer ist selbstverständlich, dass die Schüler die Sachverhalte im Wesentlichen während des Unterrichts verstehen und sich aneignen. Es zeigt sich hier offensichtlich ein verstecktes Bündnis zwischen Majda und ihren Lehrern. Sie konfrontiert diese nicht mit Defiziten ihrer täglichen Arbeit und diese akzeptieren die von Majda dadurch erzeugte Fiktion der sehr guten Schülerin, die gleichsam zu der Fiktion des gelungenen Vermittlungsprozesses wird. Damit sichert sich Majda wiederum eine konstant positive Zuwendung.
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5. Rekonstruktion der Schülerpositionen
An der nun folgenden Stelle des Protokolls soll abschließend noch eine weitere Dimension des schulischen Passungsverhältnisses nachgewiesen werden: M:
I: M: I: M:
I: M: I: M: I: M:
aber ich will dieses- also, ich mach erstmal, also ich will dieses jahr was kommt, also in den sommerferien kann noch lang dauern (schnell) äh ich will jedenfalls nach ägypten nach kairo . (I: ah) kann ich den nil besichtigen und so (I: mhm) das ist bestimmt voll cool (langgezogen) . da ist es heiß (leise, langsam) . mhm . ja da soll es ziemlich heiß sein (leise, langsam) ja (lacht leicht) wie bist du da drauf gekommen ich weiß nich ich interessier mich für die, ähm hieroglyphen und, für die pharaonen und so mein bruder der will immer dass ich ihm geschichten erzähle und so, weil wir hatten- haben wir ja jetzt grad thema ägypten und dann, lerne ich halt und dann gehe ich zu meinem bruder erzähl mir’n paar geschichten und dann erzähle ich es ihm mhm ja super und der hat auch spaß dran er fragt mich immer und was nun und dann dann (beide lachen) und was sagen deine eltern dazu meine eltern die findens schön dass wir uns gegenseitig etwas erzählen mhm und wollen se auch nach ägypten . ((1 sek)) ach so nee ich habe eigentlich nich gefragt aber meine cousinen die wollen auch nach ägypten und da habe ich gedacht vielleicht könnten wir die ja überreden weil wir diese sommerferien auch mit meinen anderen (betont) cousins, ähm in die türkei geflogen sind
Das Thema einer Unterrichtseinheit weckt bei Majda ein spezifisches Interesse. Sie lernt nicht nur die geforderten Inhalte, sondern will sich darüber hinaus mit dem Gegenstand auseinandersetzen, bis hin zu dem Bestreben, den formalen Lernprozess durch eigene Erfahrungen an Ort und Stelle anzureichern. Darüber hinaus führt dieses Interesse zunächst zu einer Bereicherung innerhalb der Familie, denn auch der Bruder wird von der Begeisterung seiner Schwester angesteckt. Es vollziehen sich durch die Schule angeregte innerfamiliäre Lern- und Bildungsprozesse unter den Kindern, die jedoch gerade in dieser Hinsicht von den Eltern noch nicht wahrgenommen werden. Entsprechend vermutet Majda bezüglich ihrer Reisepläne Widerstand bei ihren Eltern, die anscheinend einer gewohnten Routine folgend mit ihren Kindern in die
5.1 Organisierte Imagination und Bildungserfolg: Majda
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Türkei fahren. Diese sind noch nicht in Majdas Vorhaben eingeweiht und sollen nun durch einen Zusammenschluss unter den Cousinen, von dem sich Majda eine Stärkung ihres Anliegens erhofft, überredet werden. Dennoch wird deutlich, dass Majda die Umstimmung ihrer Eltern nicht für aussichtslos hält und es ihr Freude bereitet, solche Pläne zu schmieden sowie an ihrer Realisierung zu arbeiten. Es bleibt offen, ob die Eltern diesen Wunsch Majdas letztendlich unterstützen (können).90 Es wird aber deutlich, dass es zumindest bei Majda durch die intensive Auseinandersetzung mit den schulischen Anforderungen zu einem individuellen Lernund Bildungsprozess kommt, der sich über die Schule hinaus quasi rückwirkend auf das familiäre Leben erstreckt. Dabei ist die Intention erkennbar, den Bruder und auch die Eltern durch das Teilen von Wissen und Erfahrungen auf diesem Weg mitzunehmen. Zum einen ist es möglich, dass Majda dies gelingt, genauso wahrscheinlich ist allerdings auch eine konflikthafte oder unterschwellige Entfremdung zwischen den Generationen sowie eine langfristige Unterdrückung des Bildungsbedürfnisses bei Majda, um die Beziehung zu den Eltern und der Familie nicht zu gefährden. Zudem besteht die Möglichkeit, dass die Eltern diese bei ihrer Tochter durch die Schule ausgelösten Bildungsprozesse nicht ernst nehmen, weil ihr Fokus im Wesentlichen auf den formalen Leistungsnachweisen liegt. In der Folge könnte es durch die strikten elterlichen Deutungsmuster im Hinblick auf die Persönlichkeitsbildung Majdas zu einer Einschränkung ihres sich noch entwickelnden Selbst kommen. Zusammenfassung: Obwohl Majda wiederholt herausstellt, dass sie sich an der Schule wohlfühlt sowie spezifischen Formen des Schullebens bzw. der Schulkultur positiv gegenübersteht und diese symbolische Passung auf der Ebene der latenten Sinnstrukturen nachweisbar wird, vermeidet sie ein ganzheitliches persönliches Involvement. Dadurch wird die Fiktion der sehr guten Schülerin sowie die Fiktion des zumindest bei ihr gelingenden Vermittlungsprozesses aufrechterhalten. Es stabilisiert sich ein positives Verhältnis zu den Lehrern, das aber nur aufgrund der Unterstützungsleistungen der Eltern aufrechterhalten werden kann. Aufgrund der insgesamt positiven, persönlich getönten Beziehung zwischen Schülern und Lehrern muss sich Majda allerdings nicht vor einer Infragestellung ihrer Integrität fürchten und kann die Imagination, die auch ein subjektiver Idealentwurf ist, in der Schule aufrechterhalten. Majdas Einstellung zur Bildung erschöpft sich allerdings nicht in der Sicherung einer Imagination. Darüber hinaus kommt es durch die Annäherung an Bildung und die vordergründige Annahme eines bildungsnahen Habitus zu einer partiellen Überschreitung der Herkunftsgrenzen durch Bildung. 90 So könnten z.B. auch ökonomische Gründe vorliegen, Majda diesen Wunsch abzuschlagen.
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5. Rekonstruktion der Schülerpositionen
5.1.5 Fallstruktur des schulkulturellen Passungsverhältnisses 5.1.5.1 Konfrontation von Leistungsorientierung und Kunstbetonung auf der Ebene des Realen Ausgehend von der Ebene des Realen deutet sich bei Majda zunächst eine antagonistische Passung zur Sonnenlicht-Grundschule an, denn die Rekonstruktion der biografischen Struktur im Kontext familiärer Habitusformation ergibt eine ausgeprägt leistungsorientierte Einstellung. Für die Familie bedeutet der Besuch der Schule und der Gang durch das Bildungssystem in erster Linie die potenzielle Sicherung des gesellschaftlichen Aufstiegsprozesses über die Nachfolgegeneration. Die Schule wird zum Mittel zum Zweck und die Aufmerksamkeit konzentriert sich auf den Erwerb möglichst hochgradiger Leistungsnachweise, die die Bewährung im Bildungssystem gewährleisten sollen. Majdas Kindheit erscheint dementsprechend in einer Struktur der organisierten Biografie, als Vorstufe eines an einer möglichen Zukunft orientierten materiell gewichteten beruflichen Erfolgs. Von der Schule wird dementsprechend keine emotionale Einbettung erwartet, sondern die Vermittlung zentraler Lerninhalte zur Gewährleistung eines hohen Abschneidens in den Leistungsnachweisen, wodurch ein Übertritt in das Gymnasium ermöglicht werden soll. Die innerhalb des Transformationsprozesses der Familie angelegte Individualisierung geht dabei mit einer Standardisierung der Deutungsmuster gelingenden Aufstiegs einher. Da die familiäre Anerkennung eng an die individuelle Leistung und den Leistungswillen gekoppelt ist, ergibt sich für Majda die Problematik, dass die Stabilität ihres Selbstkonzeptes von höchsten Leistungserfolgen und damit implizit von der gelingenden Rollenübernahme innerhalb des familiären Milieus abhängig ist. Für dieses an Leistungsperfektion orientierte Selbst bedeutet jede Abweichung eine krisenhafte Bedrohung der Stabilität, die Majda aufgrund der Verstrickungen mit den elterlichen Erwartungen und Befürchtungen selbst nicht ausbalancieren kann. Mit dieser dominanten Selbstproblematik trifft Majda nun auf eine schulische Sinnstruktur, in deren Zentrum nicht die Leistung, sondern eine sozialästhetische Orientierung steht, die über die schulische Profilierung im Bezug auf Kunst versucht, insbesondere die Krise der Institution zu bewältigen. Die Zuschreibung von Bildungsferne, Bildungsopposition und Krisenbelastung an das schulische Umfeld hat Majdas individuelle Problematik nicht im Blick. Schulkulturell soll ein realitätsentlasteter Raum entstehen, der Unmittelbarkeit und die Bewährung aller verspricht sowie vordergründig gerade nicht die Herausgehobenheit individueller Leistungserfolge und die Vermittlung universeller Wissensbestände in das Zentrum des Curriculums rückt. Insofern könnte vermutet werden, dass Majda in dieser Schule nicht eine adäquate Förderung erhält, die sie sinnvoll auf eine Karriere im höheren
5.1 Organisierte Imagination und Bildungserfolg: Majda
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Bildungswesen vorbereitet, und dass sie darüber hinaus aufgrund einer ausgeprägten formalen Bildungsorientierung mit der dominanten Schulkultur in Konflikt gerät. 5.1.5.2 Kompensatorische Einbettung auf der Ebene des Symbolischen Auf der Ebene des Symbolischen, die nun die konkrete Ausformung des individuellen und institutionellen Habitus fasst, ergibt sich jedoch eine Passungsvarianz, die in letzter Konsequenz als harmonische Passung rekonstruiert werden konnte. Der erste Schultag ist für Majda zunächst tatsächlich mit einer Krisenerfahrung verknüpft, denn sie wird mit einer Situation konfrontiert, in der eine Bewährung nicht sichergestellt ist. Sie ist von daher herausgefordert, ihre habituellen Strategien der Scheiternsvermeidung der neuen Situation anzupassen. Der Schuleintritt führt damit zunächst unabhängig von der spezifischen Kultur der kunstbetonten Grundschule zu einer Verschärfung der Selbstproblematik, weil nun die Leistungserbringung zunehmend in das Zentrum der Lebenspraxis rückt. In der weiterführenden Rekonstruktion zeigt sich jedoch, dass Majda durch den Schulbeginn langfristig nicht unter zusätzlichen Druck gerät. Auf der Ebene der latenten Sinnstruktur konnte herausgearbeitet werden, dass sie innerhalb der Schulkultur zu einer Form der routinierten Sorge findet. Die Bedrohung durch das Außen, die nicht nur im städtischen Raum verortet wird, sondern bei Majda insbesondere in den hohen Leistungsanforderungen und ausgeprägten Ängsten der Eltern, die hochgesteckten Ziele aufgrund ungünstiger Umstände eventuell zu verfehlen, noch zugespitzt wird, kann in der Schule auf Distanz gehalten werden. Tatsächlich scheint die spezifische Kultur der Schule diesbezüglich die Etablierung eines realitätsentlasteten Schonraumes zu leisten, der diese Bedrohung des schulischen und individuellen Erfolgs mildert. Das Ausblenden der Realität als spezifisches Strukturmerkmal der Schulkultur wird für Majda somit zu einem sekundären Gewinn an innerer Stabilität. Dadurch scheint eine Auseinandersetzung mit den Bildungsangeboten der Schule möglich zu werden, die wiederum zu einer Festigung von Individualität und Autonomie beiträgt. Gleichzeitig deutet sich hier eine distanzierte Positionierung gegenüber dem Herkunftsmilieu als Aufkündigung überlieferter Standardisierungen an. Darüber hinaus ist auf der Ebene des Symbolischen ein umfassendes Abstoßungsverhältnis insofern ausgeschlossen, als auch die in den Blick genommene kunstbetonte Schule als Regelschule letztendlich ihren institutionellen Rahmungen verbunden bleibt.91
91 Das heißt, die Schule kann ihre Bindung an die Vermittlung kanonisierter Wissensbestände sowie den Auftrag zur Qualifikation, Selektion und gesellschaftlichen Integration (Fend 1980:17) nicht vollständig aufgeben. Insofern kann sie einen leistungsorientierten Schülerhabitus nicht umfassend zurückweisen.
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5. Rekonstruktion der Schülerpositionen
Im besonderen Fall Majdas scheint die Schulerfahrung außerdem an das Erlebnis sozialräumlicher Einbettung in der frühen Kindheit anzuknüpfen. Vermittelt über die Peers, über geschätzte und als bedeutsam erfahrene Lehrer sowie über eine kulturelle Ausdruckgestalt, die mit der Selbstwahrnehmung Majdas korrespondiert, gelingt der Aufbau einer positiven Bindung an die Schule, die die fehlende bedingungslose Zuwendung des Elternhauses kompensiert. Der dieser diffusen Beziehung inhärenten Problematik eines sich entwickelnden riskanten Abhängigkeitsverhältnisses begegnet Majda mit der Ausbildung eines schulbezogenen Bewältigungsmusters, das eng auf die Erhaltung der idealen Selbstkonzeption bezogen ist. 5.1.5.3 Die Etablierung einer doppelten Fiktion auf der Ebene des Imaginären Obwohl Majda auf der Ebene des Symbolischen eine kompensatorische Einbettung und Stabilisierung des Selbst erfährt, begibt sie sich nicht gänzlich in diesen schulkulturell offerierten, auf diffusen Beziehungen aufbauenden Schonraum hinein. Stattdessen entwickelt sie gegenüber der Schule eine habituelle Orientierung, die es ihr ermöglicht, eine Fiktion der leistungsstarken Schülerin aufzubauen und aufrechtzuerhalten. Diese Strategie zur Sicherung des individuellen imaginären Entwurfs gelingt dabei insbesondere im Zusammenspiel mit der imaginären Ebene der Schulkultur. Die Institution ist, wie herausgearbeitet wurde (S. 171), bemüht, über die Etablierung eines strukturell an der Mutter-Kind Bindung orientierten Schonraumes eine milieuunabhängige Bestätigung des individuellen Ausdrucks zu leisten. Das führt dazu, dass der Umgang zwischen Lehrern und Schülern unter der Bedingung der persönlichen Involviertheit erfolgt, und selbstverständlich scheinen die Lehrer bemüht, eine positive Beziehung zu den Schülern aufzubauen. Gleichzeitig birgt dieses Involvement das Risiko potenzieller persönlicher Anerkennungsverweigerungen bzw. Enttäuschungserfahrungen auf beiden Seiten. Obwohl Majda nun also die Schule in der Regel als sehr positiv erlebt, vermeidet sie insbesondere den Aufbau einer persönlichen, ganzheitlich-diffusen Beziehung zu ihren Lehrern. Dadurch gelingt die Etablierung einer doppelten Fiktion: Majda kann sich als konstant leistungsstarke Schülerin inszenieren, da sie sich bei Schwierigkeiten den Lehrern gegenüber nicht öffnet, sondern auf die Unterstützung ihrer Eltern zurückgreift. Vonseiten der Lehrer wird diese Fiktion nicht in Frage gestellt, weil sie die Integrität des kindlichen Ausdrucks nicht in Zweifel ziehen, sondern sich in Form eines Gewährenlassens verhalten. So entsteht eine in der Regel positive Beziehung zwischen Majda und ihren Lehrern. Sie bestätigt deren Imagination des gelingenden persönlich geprägten positiven Lehrer-Schüler-Verhältnisses und die Lehrer stellen wiederum ihren Entwurf der durchweg leistungsstarken Schülerin
5.1 Organisierte Imagination und Bildungserfolg: Majda
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nicht in Frage, da der Vermittlungsprozess aufgrund der positiven Beziehung als gelungen erscheint.
5.1.6 Kunstunterricht: Entlastung vom Bewährungsdruck in der ästhetischen Erfahrung Die Auswertung von im Kunstunterricht entstandenen künstlerischen Arbeiten Majdas bildet in der Zusammenschau mit dem zum Kunstunterricht geführten Interview den letzten Teil der Fallanalyse. Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht die Frage, ob sich im Kunstunterricht als dem Kern des Profils der Schule Variationen oder Kulminationen der Fallstruktur des zuvor rekonstruierten Passungsverhältnisses zwischen Majda und der Schulkultur der Schule ergeben. Kommt es hier möglicherweise aufgrund einer veränderten Rahmung sowie einer Variation des Mediums zu differenten Ausdrucksformen des Selbst? Dazu werden zunächst ohne Berücksichtigung des Kontextes die künstlerischen Produkte analysiert. Erst in einem nächsten Schritt erfolgt die Einbettung in den Unterrichtsprozess sowie die Kontrastierung der Rekonstruktionen zum Kunstunterricht mit der bislang herausgearbeiteten Fallstruktur, erweitert und ergänzt durch Ausschnitte aus dem Interview zum Kunstunterricht. In diesem Abschnitt wird bezüglich der Auswertung des Interviews zum Kunstunterricht allerdings bereits auf eine Feindarstellung der Sequenzanalyse verzichtet. Dieses Vorgehen ist vorteilhaft für die Lesbarkeit der Analyse und aufgrund der bereits entfalteten Ergebnisse und Ergebnissicherungen stellt es einen gangbaren Weg dar. 5.1.6.1 Notiz zur Unterrichtseinheit Die Arbeiten entstammen einer Einheit mit dem Thema ›Körperbemalungen‹. Die Stunden standen im Zeichen der Vorbereitungen für das Sommerfest der Schule. Dort sollten die Kinder einen ›Tattoo-Stand‹ bilden, an dem sich andere Schüler von ihnen tätowieren lassen konnten. Die Klasse setzte sich zunächst mit Körperbemalungen unterschiedlicher Kulturen und Epochen auseinander. Schließlich wurden in einem abgestuften Verfahren unterschiedliche Techniken erprobt. Im Endergebnis wurden aus Moospapier angefertigte Vorlagen auf Bauklötze aufgebracht, mit denen die Tattoos leicht auf der Haut abgebildet werden konnten.
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5. Rekonstruktion der Schülerpositionen
5.1.6.2 Werkanalyse a)
Abbildung 5:
Majda 2004a
Das Bild ist auf ein Blatt im Format DIN A4 aufgebracht und stellt mehrfach in unterschiedlichen Variationen dasselbe Motiv dar. Die Wiederholung sowie die besondere Weise des Farbauftrags lassen vermuten, dass es sich bei dem verwendeten Verfahren um eine Drucktechnik handelt. Dabei kommen zwei technische Umsetzungsmöglichkeiten in Frage. Entweder es ist eine Art Hochdruck oder das Motiv entsteht – angelehnt an die Serigrafie – mittels einer Schablone, durch die der Farbauftrag erfolgt. Für diese Vermutung sprechen die teilweise stark verwischten Konturen der Form, die entweder ihren Grund in der Verwendung von zu viel Wasser, das dann zwischen der Schablone und dem Papier hindurchfließen kann,
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oder in einem Hindurchgleiten des Pinsels zwischen Schablone und Trägermaterial haben könnten. Das Ergebnis eines solchen bilderzeugenden Verfahrens ist also deutlich von der Bearbeitung und Vorbereitung der Druckvorlage abhängig und kann entsprechend variieren. Außerdem zeigt sich in der Abbildung, dass mit der Vorlage experimentiert wurde. Das Motiv erscheint im Hoch- und im Querformat, sowie um 180 Grad gedreht. Im Gegensatz dazu wurde die Farbe nicht variiert. Diese scheint für die Autorin also in einer nicht zu hinterfragenden Verbindung mit dem Motiv zu stehen und verändert sich lediglich aufgrund der Pastosität des Farbauftrags. Die Farbe selbst erinnert in einer sich aufdrängenden Lesart an die Gestaltung griechischer Restaurants. In der Zusammenschau mit dem Motiv könnte also vermutet werden, dass Majda hier auf ein tendenziell stilisiertes Symbol, bzw. Ornament der griechischen Geschichte zurückgreift und es weiterverarbeitet. Zunächst soll jedoch die Gestaltung des Drucks im Mittelpunkt der Analyse stehen: Betrachtet man ein einzelnes Motiv der oberen Reihe, das dem betrachtenden Blick als »richtig herum« erscheint, können zwei Aspekte unterschieden werden. Zum einen wird das Motiv oben und unten durch eine durchgezogene Linie begrenzt, die in ihrer Stärke den Linien im mittleren Bereich entspricht. Diese rahmen ein Element, das wiederum aus zwei Teilen bestehet, die zunächst kongruent erscheinen wie ein potenziell fortlaufendes Muster. Bei näherer Betrachtung wird dieser Eindruck jedoch gebrochen. So entsteht der erste orthogonale Bogen aus einer nicht unterbrochenen Linie, die, würde man sie weiterführen, die ununterbrochene Wiederholung des ersten Bogens ermöglichen würde. Hier deutet sich ein Wiederholungspotenzial mit einer sich reproduzierenden Struktur an, das im folgenden Bogen/Teil allerdings nicht eingelöst wird. Es ist sehr interessant, dass sich dieser Bruch dem Betrachter erst bei genauerem Hinsehen erschließt. Eine flüchtige Anschauung wird durch die starken Begrenzungslinien sowie die Ähnlichkeit der orthogonalen Bögen getäuscht. Folgt man nun also dem Linienverlauf nach der ersten Figur, dann führt dieser zwischen den beiden Teilen des Elements zunächst wieder gerade nach oben. Die Linie endet am höchsten Punkt, ohne einen weiteren Bogen zu vollziehen. Dadurch spaltet sie die Figur, denn um den zweiten Teil nachvollziehen zu können, muss wieder am unteren Rand angesetzt werden. Die zweite Figur ist insgesamt ähnlich angelegt wie die erste, anstatt jedoch aus dem erreichten Zentrum wieder zurück nach außen zu verlaufen, gibt es hier eine schneckenförmige Bewegung weiter zur Mitte hin. Die Betrachtungserwartung eines sich wiederholenden Elements wird hier erneut gebrochen, denn diese Linie endet dort. Die mögliche Aneinanderreihung der Drucke als ein fortlaufendes Ornament und potenzielle Endlosigkeit bleibt demnach im Wesentlichen an die beiden äußeren Linien gebunden, die die Brüchigkeit des Inneren quasi verdecken.
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Der Einbezug ikonografischen Kontextwissens bestätigt diese Lesart. Die Gestaltung des Drucks ähnelt einem konkreten Ornament aus der griechischen Antike, dem Mäander. Dieser steht dort für »die Erlangung der Ewigkeit als Dauer in der Zeit durch Reproduktion. Ein alterndes Wesen setzt ein Junges an seine Stelle und erlangt so Unsterblichkeit. Das ältere Wesen rollt sich zusammen, während sich ein junges entfaltet. Es ist eine Anspielung auf den uralten und ewig jungen Gott Eros und die sich ewig erneuernde Energie des Kosmos« (Wikipedia 2007). Majda greift also auf ein Motiv zu, das den Fortbestand des Lebens als Reproduktion der jüngeren durch die ältere Generation symbolisiert, um genau diese Form der Ewigkeit durch Wiederholung in ihrer Ausführung nicht einzulösen. In Majdas Variante verweigert sich das ›junge Wesen‹ der Herstellung von Dauer in der Verpflichtung gegenüber dem Alten und endet in einer Art schließender Bewegung in sich selbst. Der Vergleich mit der mäandrischen Form verdeutlicht außerdem, dass die Abweichung des zweiten Teils nicht auf einen eventuellen Fehler in der Ausführung zurückgeführt werden kann. Denn Majda gelingt der orthogonale Bogenverlauf unmittelbar beim ersten Versuch. Die Struktur wird also nicht versehentlich aufgegeben. Dennoch verführt die Anlehnung an ein bestehendes Muster dazu, Majdas Darstellung als defizitär zu beurteilen, da sich die feststehende Form der individuellen Ausgestaltung sperrt. Insofern kann die zweite Arbeit Majdas, die im Kontext der ausgewählten Unterrichtseinheit entstanden ist, als eine Fortführung des Themas angesehen werden, die nicht die Enge der Vorlage als Problematik mitführt. Das Papier hat das gleiche Format wie die erste Abbildung und auch auf diesem sind mehrere Drucke zu sehen. Aufgrund der schärferen Konturen sowie der geringeren Verwischungsspuren wurde hier jedoch anscheinend die Drucktechnik weiterentwickelt. Vermutlich handelt es sich nun um ein Hochdruckverfahren, da der zweite Abdruck auf eine Verringerung der Farbe auf dem Druckträger verweist. Die Druckfarbe ist einheitlich schwarz, was zu einer Intensivierung des Kontrastes führt. Mit der Entwicklung der Technik geht gleichzeitig die Wahl und Gestaltung eines neuen Motivs einher, das insofern an das vorherige anknüpft, weil es ebenfalls einen ornamentalen Charakter aufweist. Eine wiederholende Aneinanderreihung, z.B. zur Umrundung eines Raums, wäre mit dem diesem Druck sehr gut möglich. Dennoch scheint die potenzielle Endlosigkeit im Gegensatz zu dem Mäander nicht das wesentliche Thema dieser Figur zu sein. Ihr Schwerpunkt liegt eindeutig im mittleren Bereich. Die Thematik der Generationenfolge wurde vermutlich aufgegriffen und weiterentwickelt.
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b) Im Gegensatz zu der vorigen orthogonalen Ornamentik besteht dieses Motiv aus organischen Linienverläufen. Im Wesentlichen handelt es sich um Kreisbewegungen, die ineinander übergehen und sich kreuzen.
Abbildung 6:
Majda 2004b
Richtet man die Aufmerksamkeit zunächst auf mögliche einzelne Bereiche, dann wird deutlich, dass drei gleiche Formen unterschieden werden können, die z.B. an reduzierte Baumdarstellungen erinnern: ein Stamm mit zwei Ästen oder ein sich gabelnder Ast. Ferner könnte man sich auch eine Figur vorstellen, die die Arme in die Höhe hebt. Diese Form findet sich nun, gespiegelt an einer imaginären Mitte des Motivs, jeweils rechts und links von dem im Zentrum liegenden Kreis, in dessen Mitte wiederum eine solche Form eingebettet ist. Die innere Figur steht aufrecht, ist jedoch wesentlich kleiner als die beiden Äußeren. Dem Kreis kommt dabei eine tragende Rolle in dem Ensemble zu, denn ohne ihn wäre die kleinere Figur nicht von den beiden quer liegenden zu unterscheiden und diese würden als zwei
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5. Rekonstruktion der Schülerpositionen
aneinander stoßende Schlingen erscheinen. Durch den Kreis werden zum einen alle drei Figuren als ähnliche konstituiert, zum anderen die beiden äußeren Schlingen miteinander verbunden. Die Raffinesse dieser Anlage ist äußerst erstaunlich. Im Gegensatz zu dem unteren Rand des Kreises, der sozusagen mit den beiden unteren Ästen der quer verlaufenden Bäume und dem Stamm des inneren Baums eine Linie bildet, ergibt sich oben allerdings eine wellenförmige Linienführung. Der Kreis überragt dort die äußeren Grenzen des Figuren-Ensembles. Dennoch bleiben die Äste/Arme der äußeren Figur fest mit denen der inneren verbunden. Diese scheinen die innere Figur zu konstituieren, sie aber gleichzeitig zu begrenzen. Eine Bewegung in die Richtung des emporragenden Kreises wird verhindert. Gäbe es diese ineinander übergehende Linienführung nicht, würde die innere Figur oben den Kontakt einbüßen, zum einen isoliert, aber auch herausragend wirken. Es liegt nun nahe, die bisherige Analyse mit einer familiären Triade in Verbindung zu bringen. Die beiden großen Figuren entsprechen der Mutter und dem Vater, aus deren Verbindung das Kind, die kleine Figur entsteht. Das Kind ist damit zum einen konstituierendes Element der Eltern als Mutter und Vater, wie es zugleich eng mit diesen äußeren Rahmenbedingungen als Grundlage seiner Entstehung verwurzelt zu sein scheint (unterer Teil des Motivs). Es ist Teil dieser Dreiheit, die es aber gleichzeitig an einer weiteren Entwicklung und Entfaltung hindert, wie sie in dem aufstrebenden Kreis angedeutet ist. Dieser ist es auch, der das Kind quasi aus der Mutter-Vater Dyade entstehen lässt und gleichzeitig herauslöst. Wenn man ihn als das Selbst des Kindes deutet, dann dringt dieses hier deutlich auf die Überschreitung der Herkunftsgrenzen und somit auf die Loslösung von den Eltern. Verfolgt man gedanklich diese autonomisierende Spur, dann wird deutlich, wie unnachgiebig die äußeren Äste die Inneren fixieren. Es entsteht der Eindruck einer »Patt-Situation« – eines Dilemmas: Gelingt die Loslösung, reißt der Kontakt zu den Eltern ab und damit auch zu dem Außen an sich. Das Neue wäre dann aus dem Kind selbst zu begründen. Ein Verbleib erscheint aber als ebenso unbefriedigend, weil das Kind dann gegen seine aufsteigende und nach vorn dringende Kraft angehen, ja diese unterdrücken und disziplinieren muss. Beide von Majda gestalteten Motive spielen also mit dem Moment einer Reproduktion zwischen den Generationen, und in beiden wird die Reproduktionserwartung des Betrachters latent getäuscht. Die potenziell unendliche Bewegung kommt bei der ersten Ausführung einfach zu einem in sich geschlossenen Ende. Die junge Generation verweigert sich sozusagen der weiteren Fortführung der Generationenfolge. Das neue Wesen bezieht sich nun auf sich selbst und setzt diesen variierenden Selbstentwurf an die Stelle der Reproduktionsaufgabe. Dennoch wird in dieser Figur die Fassade der Passung, in Gestalt der rahmenden Linien, aufrechterhalten.
5.1 Organisierte Imagination und Bildungserfolg: Majda
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Mit der zweiten Arbeit löst sich Majda schließlich aus der Anlehnung an ein bestehendes Ornament und es ist gut nachzuvollziehen, wie es ihr gelingt, ein Motiv zu erschaffen, das das Thema der Reproduktion in einer individuellen Gestaltung aufnimmt. In diesem Druck gibt es eine äußere und eine innere Wiederholung. Zum einen erscheinen die Eltern eingebettet in ein potenziell unendliches Fries und zum anderen findet sich im Inneren der Figur eine Art Entstehungsstätte der jüngeren Generation als Ebenbild der Älteren. Im Gegensatz zu der ersten Darstellung, in der die Problematik des Selbst, das auf Eigenständigkeit und Autonomie dringt, im Inneren gelöst wird, während nach außen die Fiktion der Erfüllung des Reproduktionsauftrags aufrechterhalten wird, zeigt die zweite Arbeit sehr viel deutlicher das innere Dilemma Majdas. Eine Entfaltung des Selbst scheint mit der Gefahr der Aufkündigung des Generationenverhältnisses einherzugehen. Eben dieser Schritt deutet sich in der Darstellung an, wird aber (noch) nicht vollzogen. Dennoch ist die potenziell mögliche Höherentwicklung in der Figur deutlich angelegt. Ein solches Überschreiten der Herkunftsgrenzen müsste in letzter Konsequenz die Fiktion der Passung – hier verstanden als Wiederholung – aufgeben. 5.1.6.3 Zusammenfassung: »des hat man so . glückliches gefühl« Ein Vergleich dieser ästhetischen Ausdrucksgestalten mit der über das Interview rekonstruierten biografischen Fallstruktur zeigt, dass im Gegensatz zu der Textanalyse, in der nur vermutet werden konnte, dass Majda auf eine Entwicklung durch Bildung dringt – was zu einem Konflikt mit den Eltern führen könnte –, in den Drucken dieses innere Dilemma sehr viel deutlicher zum Ausdruck kommt. Insbesondere das Moment einer möglichen Aufkündigung des Generationenverhältnisses als Überschreitung bzw. Höherentwicklung ist hier klarer zu erkennen als in der sprachlichen Darstellung. Gleichzeitig kann Majda in dem Gespräch über ihre Arbeiten deren individuelle Relevanz kaum begrifflich fassen. Bezüglich des ersten Motivs beschreibt sie ihre Bezugnahme auf ein Muster, das sie im Sommer in einem Hotel gesehen hat, in dem sie ihre Ferien verbracht hat: M: das hat mich, mir ist das so eingefallen, wir waren in einem hotel (betont), in den sommerferien, und da gab es halt so ganz viele römische muster und statuen , […] und ich fand es halt sehr schön das war so in den w- in wänden reingeritzt und so das war voll schön, und es hat mir halt gefallen und dann kam ich auf die idee Wie in der Rekonstruktion herausgearbeitet, verbindet sich das erste Motiv also mit einer konkreten Vorlage, die entsprechend einem bestimmten Kontext zugeordnet
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ist und dadurch die individuelle Gestaltung einschränkt. Die zweite Arbeit entsteht dagegen ganz anders: M: dieses hier, erstmal als wir halt so beredet haben kam mir irgendwie so’n muster in meinen kopf, ich weiß nicht, und dann bin ich auf die idee gekommen. […] das kam mir einfach so ins gedächtnis, eine kugel in der mitte und auch so zwei zweige, sowas ähnliches Hier gibt es keine Vorlage, sondern das Muster ist etwas, was Majda sozusagen ›überfällt‹. Es kommt ihr einfach so in den »kopf« bzw. ins »gedächtnis«. Während die Formulierung »in meinen kopf« noch darauf verweist, dass auch dieses Muster irgendwie von außen in den Kopf hineingekommen ist, wird mit »ins gedächtnis« eine andere Spur gelegt. Dort verbindet sich eine (sinnliche) Anregung von außen, nämlich das Unterrichtsgespräch (»als wir halt so beredet haben«) mit der im Gedächtnis gespeicherten und verallgemeinerten Lebenspraxis. In ihrer Vorstellung entsteht daraus etwas, das sie erst in einem zweiten Schritt als konkrete »idee« bezeichnet (»und dann bin ich auf die Idee gekommen«). Diese Protokollstelle kann damit eindeutig als sprachlicher Ausdruck einer ästhetischen Erfahrung verstanden werden, in der sich sinnlich besondere Eindrücke und Wissensbestände, gepaart mit einem Moment der Reflexion, in der etwas thematisch wird, zu einer ästhetischen Erfahrung verdichten, die jedoch nicht in einer eindeutigen inhaltlichen Bestimmung der »idee« aufgeht (»ich weiß nicht«). Die Aufmerksamkeit richtet sich insofern nicht auf die Bedeutung der Idee für das Subjekt, sondern zunächst auf die Idee selbst und ihre Gestalt (»eine kugel in der mitte und auch so zwei zweige«). Aber auch dieser Versuch einer begrifflichen Subsumtion scheint nicht genau das eigentliche Wesen der Idee zu treffen (»so was ähnliches«), es bleiben letztendlich Beschreibungsversuche des Musters, in dem sich die ästhetische Erfahrung ausdrückt. Der eigentliche Fokus liegt damit auf der Idee selbst als zunächst einer Versicherung der Erkenntnisfähigkeit überhaupt. Innerhalb des Kunstunterrichts kommt es hier also zu einer ästhetischen Erfahrung, die, zumindest in diesem Fall, im Zusammenhang mit der zuvor rekonstruierten Fallstruktur als Ausdruck einer auf die individuelle biografische Problematik bezogenen Krise durch Muße rekonstruierbar ist. Dabei ermöglichen beide Zugänge, die Analyse der künstlerischen Arbeit wie auch die Rekonstruktion des sprachlichen Textes über die ästhetische Tätigkeit, einen Nachweis dieser besonderen Erfahrungsform. Der materiale Ausdruck birgt jedoch für den Fall, dass der eigentliche
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Gehalt der Erfahrung begrifflich (noch) nicht zur Verfügung steht, ein weitergehendes Verständnis dessen, was Inhalt dieser Erfahrung ist. So thematisiert Majda in dieser ästhetischen Erfahrung die Verstrickung ihres Selbst zwischen familiärer Funktionsübernahme und dem aufsteigenden Willen zur Überschreitung dieser Rollenzuweisung. Dieser konkrete Inhalt der Erfahrung selbst ist Majda in seiner biografischen Bedeutung jedoch nicht bewusst und geht auch nicht in eine Transformation der Fallstruktur über. Insofern kann in Bezug auf die konkret zu bestimmende Krise durch Muße geschlussfolgert werden, dass es dort bei der ästhetischen Erfahrung bleibt, die nicht in einen ästhetischen Bildungsprozess mündet. Allerdings ist es Majda in Bezug auf Kunst und den dazugehörigen Kunstunterricht durchaus reflexiv zugänglich, dass dort die Kriterien, die zu einem Gelingen beitragen, nicht die Bewertungen der Anderen sind, sondern das eigene Empfinden, das man gegenüber seiner Arbeit, bzw. seinen Ausdrucksformen entwickelt. Auf die Frage, warum ihr das Bild gefällt, antwortet sie: M: hier finde ich mal das ist mal was ganz anderes irgendwie, deshalb gefällt’s mir. Das Faszinierende an ihrem Motiv ist für Majda selbst demnach die vollständige Abweichung vom Normalen. Das Bestreben, einem antizipierten Wertesystem zu entsprechen oder spezifische Rahmenerwartungen zu erfüllen, scheint in diesem Fall die praktische Tätigkeit Majdas im Kunstunterricht nicht zu beeinflussen oder sogar zu beeinträchtigen.92 Im Kunstunterricht, bzw. im künstlerischen Arbeiten scheint sich hier also eine Entlastung von der stetigen Sinnorientierung, Zielgerichtetheit, und Bewertung des Alltäglichen einzustellen. Der Unterricht wird zum schützenden Rahmen für eine Krise durch Muße. Das ist angesichts der ansonsten überstarken Habitusstruktur der Scheiternsvermeidung bemerkenswert. Diese Lesart wird durch die folgenden Textpassagen unterstützt, mit denen Majda auf die Nachfrage der Interviewerin antwortet, worauf sie versucht, im Kunstunterricht besonders zu achten. M: na, dass es schön aussieht (beide lachen) dass es mir selber gefällt. (I: mhm) uund . na ich muss selber stolz auf meine arbeit sein I: und wann bist du stolz (fragend) wenn was, wenn/wenn was passiert is, wann bist du dann stolz M: na ja, natürlich ist man mal stolz wenn der lehrer einen belobt, oder so irgendwas, aber man ist auch stolz wenn man so ein schönes bild vor sich hat, dann ist
92 Da zeigt sich auch noch einmal die Differenz zu dem ersten Druck.
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5. Rekonstruktion der Schülerpositionen
man zufrieden, na kann ich schön malen, und . des hat man so . glückliches gefühl (lacht leicht) Im Kunstunterricht ist die ausgeprägte Leistungsorientierung Majdas nicht bestimmend. Es ergibt sich eine Veränderung der Anspruchshaltung, sodass Majda nicht mehr die Erwartungen der Lehrer oder den Erwerb von möglichst guten Noten in den Mittelpunkt stellt. In erster Linie ist ihr wichtig, dass etwas »schön« aussieht. In dieser Formulierung könnte durchaus noch ein äußerer Anspruch – als möglicherweise fremdbestimmte Vorstellung von Schönheit – enthalten sein, aber die Frage, wann etwas schön ist, wird von Majda im Folgenden weiter spezifiziert: nämlich, wenn es ihr »selber gefällt« und sie »selber stolz« auf ihre Arbeit ist. Im Mittelpunkt steht hier nun nicht mehr die Erfüllung schulischer Leistungsanforderungen, sondern eine authentische Entsprechung zwischen dem Selbst des Schaffenden und dem entstehenden Werk. Das dabei aufkommende ›glückliche Gefühl‹ ist, wie die folgende Passage zeigt, sogar dem Lob der Lehrer übergeordnet, aus dem Majda ansonsten wesentliche Anerkennungserfahrungen gewinnt. Aufgrund des gelungenen Selbstausdrucks stellt sich ein positives Selbstverhältnis ein, das in diesem Fall nicht mehr von einem an fremden Kriterien orientierten Erfolgsstreben und von dem Lob Anderer bestimmt wird. Der Bildungsprozess liegt hier insofern in der Erkenntnis, dass es zum einen differente Erfahrungsmodi gibt, die nicht der in Majdas Leben ansonsten dominierenden nicht stillstellbaren Bewährungsdynamik unterliegen, in denen sogar – entgegen der ansonsten Überrepräsentanz elterlicher Wertmaßstäbe und Lebensentwürfe – ihre subjektiven Empfindungen ausschlaggebend sind. Das bedeutet aber gleichzeitig, dass Majda sich der Differenz der Erfahrungsmodi bewusst ist und demnach in den anderen schulischen Bereichen ihre Leistungsorientierung nicht zugunsten einer ästhetischen Orientierung aufgibt.
5.2 »ich bin alles durcheinander gekommen«. Lek: Schulkulturelle Verstrickung und bereichsspezifische Bewältigung 5.2.1 Biografische Notiz Lek ist zum Interviewzeitpunkt zwölf Jahre alt und ebenfalls in der sechsten Jahrgangsstufe. Er wohnt mit seiner Mutter, seinem Vater und seiner Schwester in einer Wohnung am nördlichen Rand des Stadtteils. Der Vater, ein gelernter Industriekaufmann, ist bei einer großen Heizungsfirma angestellt, die Mutter arbeitet als Friseurin. Beide Eltern sind den ganzen Tag beschäftigt, sodass Lek nach der Schule
5.2 Schulkulturelle Verstrickung und bereichsspezifische Bewältigung: Lek
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zunächst den Laden der Mutter aufsucht, um dort seine Hausaufgaben zu erledigen. Anschließend geht er nach Hause und verbringt dort in der Regel den Rest des Nachmittags alleine mit fernsehen, malen und essen. Er besucht selten Freunde und geht auch ansonsten keinen geregelten Freizeitaktivitäten nach. Ab und zu spielt er nachmittags mit seinem Cousin Fußball. Auch gemeinsame Aktivitäten mit der Familie finden anscheinend kaum statt, nur von »früher« berichtet Lek über gemeinsame Ausflüge in die Natur. Lek, seine Mutter und seine Schwester sind thailändischer Herkunft. Die Mutter reist zunächst ohne ihre Kinder nach Deutschland. Anlaufstelle ist eine Tante von Lek, die zu dem Zeitpunkt anscheinend schon in der Stadt lebt. Sie lernt einen deutschen Mann kennen, den sie vermutlich heiratet, woraufhin die beiden Kinder ihrer Mutter nach Deutschland folgen. Lek, der in Thailand von seiner Großmutter betreut wird, kommt laut eigenen Angaben mit dreieinhalb Jahren nach Deutschland. Dabei ist nicht genau nachzuvollziehen, wie viel Zeit er tatsächlich ohne die Mutter in Thailand verbracht hat.93 Das Verhältnis zu seiner Schwester scheint deutlich konflikthaft zu sein, allerdings finden sich in dem gesamten Interview kaum Informationen, die die Gründe für diese schwierige Beziehung klären könnten. Die Schwester kommt mit neun Jahren nach Deutschland. Sie ist wesentlich älter als Lek, wohnt noch zu Hause und arbeitet derzeit in einer Bäckerei.94 In der Klasse sitzt Lek an einem Einzeltisch in der ersten Reihe. Seine Pausen verbringt er mit Fußball spielen und manchmal, wenn die Jungen ›keinen Ball‹ haben, dann spielen sie auch mit den Mädchen. Lek wird zusammen mit einem anderen Schüler während der Beobachtungen wiederholt als einer der ›Künstler‹ der Klasse bezeichnet. Seine Lieblingsfächer sind Sport und Kunst. Dementsprechend äußert er wiederholt den Wunsch, Fußballspieler zu werden oder auch Künstler.
93 Lek selbst berichtet, dass er auch die gesamten ersten dreieinhalb Jahre seines Lebens alleine in Thailand verbracht habe. Diese Angabe ist überraschend, denn dann müsste die Mutter unmittelbar nach seiner Geburt ausgewandert sein, oder Lek verwechselt hier den Zeitpunkt der Ausreise mit der Gesamtdauer des Aufenthalts (»I: ah ja, wie lang warst du noch alleine in thailand weißt du das . thailand ne; L: ääh . ja, ääh dreieinhalb jahre war ich alleine (I: ja) und dann bin ich ja hergekommen«). 94 Verlässt man sich auf die zeitlichen Angaben im Interview bezüglich des Alters der Geschwister zum Zeitpunkt der Einreise, dann kommt die Schwester zwei Jahre vor Lek nach Deutschland, was durchaus als ein Grund für den Konflikt geltend gemacht werden könnte.
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5. Rekonstruktion der Schülerpositionen
5.2.2 Interaktionsstruktur und individuelle Habitusformation Das biografisch orientierte Interview beginnt mit der folgenden Interaktion: I: soo, jetzt dauert’s n bisschen länger das dauert jetzt bestimmt die ganze unterrichtsstunde, L: ooa (übersteigert überraschtes stöhnen). I: (lacht) also stell dich so’n bisschen drauf ein, sind jetzt so’n paar fragen und es geht jetzt so’n bisschen, also um dich auch gestern ging’s ja mehr um kunstunterricht heute geht’s mehr (L: mhm) so um dich und um dein leben, (L: mhm) und zwar, ähm, interessier ich mich so für das leben auch von kindern aus […] (Stadt) jetzt auch aus […] (Stadtteil), und was mich jetzt besonders interessieren würde ist, ob du mir so erzählen kannst ob du dich mal zurückerinnern kannst so a/an die zeit als du klein warst, also vielleicht ruhig von da an als du geboren worden bist, (L: mhm) ähm, und dass du mir vielleicht so’n bisschen erzählen kannst wie dein leben so verlaufen ist, so bis heute, und ich hör’ dir erst mal zu, kannst ja so’n bisschen anfangen, vielleicht kannst du so’n bisschen überlegen als ich eins war zwei drei vier als ich in die schule gekommen bin oder L: wo ich drei- , Mit dem Intervieweinstieg wird zunächst deutlich, dass dies bereits mindestens das zweite Gespräch ist, das die Interviewerin und Lek gemeinsam führen. Insofern wird hier wahrscheinlich an eine bereits in Teilen etablierte Interaktionsstruktur angeknüpft, wenn die Interviewerin gleich zu Beginn Lek im Wesentlichen auf die besondere Länge des nun folgenden Gesprächs vorbereitet. Mit dieser Ankündigung wird zum einen korrigierend auf eventuelle Erwartungen Leks an das nun folgende Gespräch eingewirkt, zum anderen ist die Annahme ausgedrückt, dass in erster Linie die Dauer des Interviews für Lek eine besondere Belastung darstellen könnte. So wird durch diese spezielle Vorbereitung zum einen klargestellt, dass es zum Gelingen der Interaktion notwendig ist, dass Lek bis zum Ende durchhält, weshalb mit dieser Aussage gleichzeitig eine feste Rahmung etabliert wird, die sich an den mit Verbindlichkeit versehenen schulischen Strukturen orientiert, und damit wird zum anderen der unterstellten Absicht eines frühzeitigen Entzugs aus der Interaktion entgegengewirkt. In der darauf folgenden Äußerung Leks kommen verschiedene Bedeutungsebenen zum Tragen, sodass das Spezifische der Sequenz gerade in dieser Diffusität des Ausdrucks liegt. Zunächst ist es eine Reaktion, die zeigt, dass Lek sich nicht kommentarlos einer solchen Rahmung unterordnet. Dadurch wird zum einen die schon von der Interviewerin unterstellte widerständige Tendenz belegt, die hier
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jedoch gleichzeitig Momente eventuell tatsächlichen Leidens an der Situation transportiert. Durch die in dem Kommentar ausgedrückte Übersteigerung des Ausdrucks ist jedoch eine Distanzierung von beiden inhärenten Bedeutungsebenen angelegt. Dadurch ist zum einen der angelegte Widerstand nur eine Weigerung auf Probe und keine manifeste Opposition, und zum anderen wird die mögliche Belastung, die für Lek aus der Situation entsteht, überspielt. Durch diese changierenden Bedeutungsebenen wird die Reaktion der Interviewerin besonders interessant: Sie nimmt das angedeutete Leid nicht auf und verwehrt an dieser Stelle damit eine empathische Haltung. Stattdessen wird Lek darauf hingewiesen, dass er sich nun mit der Situation arrangieren müsse. Daraufhin scheint Lek den latenten Widerstand aufzugeben, was in seinen zustimmenden Äußerungen (»mhm«) bezüglich der nun folgenden Erzählaufforderung zum Ausdruck kommt. Schließlich steigt er spontan in eine Erzählung ein. Strukturell wird damit die Lesart einer durchweg oppositionellen Haltung nicht weiter gestützt, sodass bezüglich der Interaktionsstruktur vermutet werden kann, dass Lek tatsächlich unter einer solch engen formalen Rahmung leidet, zumal diese über einen längeren Zeitraum andauert. Seine Bewältigungsstrategie besteht nun in einer Form des Widerstandes, die dieses Leid nur latent zum Ausdruck bringt und damit auch nur schwach an das Einfühlungsvermögen der Interviewerin appelliert, die andernfalls eigentlich gefordert wäre, in einer stellvertretenden Deutung auf ein möglicherweise tatsächliches Leid zu schließen und entsprechend zu reagieren.95 Die in der Übersteigerung angelegte Distanzierung von den eigenen Emotionen verstellt aber für das Gegenüber diese Deutungsspur, wodurch die oppositionelle Tendenz an sich als Lesart in den Vordergrund rückt. Da Lek damit vermutlich seine realen Befindlichkeiten nur latent zum Ausdruck bringt, wird das angelegte Leid im vorliegenden Fall von der Interviewerin anscheinend als vorgeschoben interpretiert, um sich der besonderen Anforderung der Situation zu entziehen. Um Lek in eine aktive, hier erzählende Position zu bringen, wird deshalb eine enge Rahmung etabliert, die die schulische Einbettung nutzt. Möglich ist jedoch auch, dass andere, eventuell besonders empathische Personen, auf diese Strategie mit der Einnahme der Position einer stellvertretenden Deutung und schließlich im Sinne einer stellvertretenden Krisenbewältigung reagiert hätten. Diesbezüglich kann vermutet werden, dass Lek sich auch in einem solchen Fall nicht nachhaltig in eine aktive Position bringen lässt, sondern durch die gewährte Hilfe die selbstständige Bewältigung der als belastend erfahrenen Situation verstärkt vermeidet. 95 Dies könnte dann zum Beispiel mit dem Einräumen einer Pause, der Aufteilung des Gesprächs auf zwei Tage etc. geschehen.
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5. Rekonstruktion der Schülerpositionen
Für das folgende Gespräch kann nun vermutet werden, dass Lek Schwierigkeiten hat, die Anforderungen eines auf sein individuelles Erleben ausgerichteten Interviews zu erfüllen und deshalb wiederkehrend versuchen wird, sich dieser besonderen Herausforderung zu entziehen. Tatsächlich kommt es während des gesamten Gesprächs nur zu wenigen Erzählungen lebensgeschichtlichen Erlebens, was eine umfassende Rekonstruktion dieses Falles erschwert. Zu einigen Aspekten können deshalb im Folgenden nur Hypothesen formuliert werden, die sich auf einzelne Aussagen stützen, aber nicht durch weitere Passagen im Interview bestätigt werden konnten. Darüber hinaus schweift Lek während des gesamten Gesprächs immer wieder ab und ist unaufmerksam, sodass Fragen oft mehrfach wiederholt werden mussten. Der anfängliche Versuch des Entzugs aus der Interviewsituation wird damit zu einer Art passivem Widerstand, in dem er sich immer wieder der Anforderung biografischen Erzählens verweigert.
5.2.3 Individuelle Fallstruktur im Kontext elterlicher Habitusformation Die biografische Präsentation zeichnet sich signifikant dadurch aus, dass gerade personale und familiäre Bindungen kaum zur Sprache kommen, wenn man nicht sogar davon sprechen kann, dass sie ausgeblendet werden. Aus diesem Grund konnte auch die elterliche Habitusformation nur in Ansätzen bestimmt werden. Die bisherige biografische Erfahrung Leks wird dabei vor allem durch den starken Bruch nachhaltig geprägt oder sogar überschattet, dass er erst mit dreieinhalb Jahren seiner Mutter nach Deutschland gefolgt ist. Da in der gesamten, wenn auch kurzen Einstiegserzählung überhaupt keine Personen außer ihm selbst vorkommen, konnte zunächst auch ein Adoptions- oder Pflegeverhältnis angenommen werden. So werden weder Bindungen zum Herkunftsland und dort lebenden Personen noch personale Bindungen zum gegenwärtigen Aufenthaltsort thematisch: »wo ich drei- , ich, bin ja nich hier geboren, in thailand bin ich ja geboren, ich bin erst hergekommen wo ich, dreieinhalb jahre war, ja und da bin ich ((hier)) erst mal in kinder-, zum kindergarten gegangen, (I: mhm) und da habe ich ja deutsch gelernt . ja, soo auch abgehört was die geredet haben (I: mhm) da haben die auch gesagt was es heißt, uund ja, und ich bin ein jahr zu spät eingeschult (lachend) jetzt muss ich eigentlich inner siebente sein, jaa, deswegen bin ich ja jetzt in der sechste hier, (I: mhm) ich glaub bin, mit acht eingeschult worden, (I: mhm) na, w/war eigentlich alles okay, ((so)) (I: mhm) in mein leben«
5.2 Schulkulturelle Verstrickung und bereichsspezifische Bewältigung: Lek
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Erst mit den Aussagen, die bezüglich der familiären Lagerung auf die Nachfragen der Interviewerin folgen, kann zum einen die Familienstruktur und das sich auf diese gründende Ausblenden personaler Bindungen näher rekonstruiert werden. So präsentiert Lek seine Einreise nach Deutschland als einen Akt des ›Nachkommens‹. Er scheint der Mutter, die ihn – aus welchen Gründen wird nicht deutlich – nicht sofort nach Deutschland mitnimmt, sozusagen ohne deren Unterstützung nachfolgen zu müssen, was wahrscheinlich Ausdruck eines Vertrauensverlustes in die Verlässlichkeit der Beziehung zur Mutter ist. Diese fehlende Sicherheit kommt weiter in der latenten Befürchtung zum Ausdruck, die Mutter könne, wie eine besagte Tante, wieder zurück nach Thailand gehen und ihn dann unter Umständen erneut zurücklassen. So findet sich in der folgenden Passage eine latente Analogisierung der Geschichte der Tante und der Mutter, die u.a. darin zum Ausdruck kommt, dass man die Aussagen grammatikalisch auch auf die Mutter beziehen könnte: »I: und, w/warum, weißt du noch warum ihr nach äh deutschland gekommen seid; L: ja weil meine mutter, ähm ((hier))her gekommen is, so (schnieft), so zu meine tante, weil sie lebt ja jetzt, weil sie lebt ja hier, jetzt is sie wieder zurückgezogen, meine tante«. Diesem für ihn unberechenbaren Hin und Her zwischen den Welten scheint Lek hilflos ausgeliefert zu sein. Auch in der Beziehung zu dem neuen Mann seiner Mutter, den er zwar als wieder gefundenen Vater und damit als leiblichen Vater markiert, findet er keine diffuse persönliche Beziehung. Das familiäre Gefüge und die Bindung an seinen Vater scheinen statt dessen durch die latente Sinnstruktur der Paarbeziehung der Eltern überlagert und wiederum bedroht zu werden. Diese scheint ursprünglich nicht als Liebesbeziehung entstanden zu sein, sondern wurde durch einen gezielten Suchprozess der Mutter nach einem Mann bzw. Vater gestiftet, was die Sinnstruktur eines Zweckbündnisses nahe legt: »ja, da hat, und hier hat sie dann mein vater gef/sehen«.96 Eine gewisse Sicherheit findet Lek stattdessen im Wesentlichen über einen Gewöhnungsprozess an seinen gegenwärtigen Aufenthaltsort und die dort vorherrschenden Lebensbedingungen. Dieser Gewinn einer Stabilität des Selbst durch Gewöhnung kann als ein Grund angeführt werden, warum es Lek schwer fällt, Herausforderungen anzunehmen, die mit Reflexionsprozessen und möglicherweise darauf folgenden Veränderungen der Haltung und auch der Umwelt einhergehen könnten. Dies trägt vermutlich zu jenem noch zu thematisierenden Rückzug in sich selbst und einer Unterdrückung von Außenorientierungen bei. Insofern scheint Leks gegenwärtige Situa96 Die Rekonstruktion stützt sich hier im Wesentlichen auf die Differenz zwischen den Begriffen »gefunden« und »gesehen« die in »gef/sehen« beide angelegt sind. Der Suchprozess wird zum Begegnungsmoment umgedeutet. Dennoch beinhaltet auch der Begriff »gesehen« nur in Ansätzen die Entstehung einer Liebesbeziehung. Der passende Ausdruck wäre an dieser Stelle eigentlich ›kennengelernt‹.
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5. Rekonstruktion der Schülerpositionen
tion von einer konstanten Bedrohung der nur fragilen Stabilität der Lebenssituation gekennzeichnet zu sein. Im weiteren Verlauf des Interviews wird deutlich, dass die bislang nur latent nachzuweisende Bedrohung von Leks Lebenssituation, insbesondere durch eine mögliche Rückkehr nach Thailand, die mit dem Verlust der mühsam durch Gewöhnung aufgebauten Bindung einhergehen würde, in der familiären Interaktion tatsächlich auch thematisch wird. Die Reaktion seiner Eltern auf schlechte Leistungen in der Schule wird von Lek mit der folgenden Äußerung wiedergegeben: »wenn du schlecht bist, dann schicken wir dich wieder zurück nach thailand (lacht) . und das möcht ich ja nich«. Auffällig ist, dass sich Lek von dieser weitreichenden Konsequenz nicht ironisch distanziert, sondern die Drohung, zurückgeschickt zu werden, offensichtlich ernst nimmt und eine Haltung entwickelt, die zeigt, dass er bemüht ist, durch eine Anpassung seines Verhaltens an die Vorstellungen seiner Eltern eine Rückkehr nach Thailand auszuschließen. Das Lachen ist in diesem Fall wiederum nur eine Verschleierung der inhärenten existenziellen Bedrohung. Die familiäre Beziehung wird in dieser Sequenz zu einer warenähnlichen Austauschbeziehung. Wenn Lek nicht den besonderen Erwartungen entspricht, dann kann er unproblematisch zurückgegeben werden – offensichtlich kommen hier keine weiteren Bindungen zum Tragen, die die Wahrnehmung eines solchen ›Rückgaberechts‹ einschränken würden oder die Eltern davon abhalten könnten, eine solche Drohung überhaupt auszusprechen. Bewähren kann sich Lek nur, indem er nicht »schlecht« ist. Die Formulierung, »wenn du schlecht bist« zeigt hier, dass nicht nur die schulischen Leistungen in diese Bleiberegelung eingeschlossen werden, sondern es darüber hinaus darum geht, kein ›schlechter Junge‹ zu sein. Da hier eine bestimmte normative elterliche Rahmung dessen, was als gutes und schlechtes Verhalten anerkannt wird, zugrunde liegen muss, ist diese ›Rückgabedrohung‹ eine erhebliche Einschränkung von Leks Handlungsspielraum sowie seiner emotionalen Ausdrucksmöglichkeiten. So muss er insbesondere bei einer kritischen Haltung gegenüber seinen Eltern und seinen Lebensbedingungen mit einer Aufkündigung der ohnehin instabilen Familienbeziehung rechnen. Die normative Rahmung wird dabei von einer Orientierung an dem fiktiven Normalverlauf einer Biografie geprägt. Das zeigt sich insbesondere an der Relevanz, die Leks schulische Leistungen für die Eltern besitzen. Es geht hier keineswegs um eine Herausgehobenheit individueller Erfolge, sondern im Wesentlichen, im Rahmen eines Weiterkommens von einer Klassenstufe zur nächsten, darum, ein Herausfallen aus diesem in der schulischen Struktur angelegten Normalverlauf zu verhindern: »er hat gesagt du musst dich ähm kon- gut konzentrieren, anstrengen dass du weiter kommst, nicht sitzen bleiben«. Das heißt, dass Lek erst in dem Moment, in dem seine Versetzung gefährdet ist, damit rechnen muss, dass auch die
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Eltern seine Leistungen als nicht mehr annehmbar bewerten. Hier zeigt sich eine Konformität mit dem schulischen Bewertungssystem. Lek muss für ein ›Weiterkommen‹, also für die Versetzung, ausreichende Leistungen erbringen, dann gerät er zumindest bezüglich seiner Schulleistungen nicht mit den elterlichen Erwartungen in Konflikt.97 Das bedeutet gleichzeitig, dass er aus den elterlichen Rahmungen aber auch keine Anerkennung und keinen Anreiz für besondere Leistungen gewinnt. Eine ausgeprägte Bildungsorientierung des familiären Milieus kann in diesem Fall eher ausgeschlossen werden. Stattdessen scheint es wichtig zu sein, dass Lek nicht auffällt, sondern Leistungen erbringt, die Kontinuität gewährleisten. Insofern geht es innerhalb dieser Familie vermutlich darum, einen Abstieg in soziale Milieus zu vermeiden, die sich in vertikaler Struktur betrachtet unterhalb der mittleren gesellschaftlichen Milieus (vgl. Vester u.a. 2001: 27) befinden, und die von gescheiterten Bildungsverläufen, nicht wahrgenommenen Bildungschancen und in der Folge anzunehmenden materiell und moralisch prekären Lebenssituationen gekennzeichnet sind (ebd.: 522). Die familiäre Orientierung, die sich hier auf die Schule überträgt, liegt dementsprechend auf einer Verhinderung des »schlecht« Seins, verstanden als Abweichung von einem fiktiven Normalen, die aber immer latent als Bedrohung der sozialen Stellung und für Lek auch der familiären Bindungen überhaupt angelegt ist. Diese familiäre Lagerung bildet nun den Ausgangspunkt für Leks individuelle Fallstruktur, welche durch eine paradoxe Grundstruktur bestimmt wird. Denn zum einen ist Lek nachhaltig bemüht, seine biografischen Präsentationen an jene fiktive Norm anzunähern, was auf der anderen Seite dazu führt, dass beständig Brüche und Abweichungen als Differenzerfahrungen von dieser vermeintlichen Normalität thematisch werden. Paradigmatisch zeigt sich das in der bereits dargestellten kurzen Einstiegserzählung, in der sowohl die einschneidende Erfahrung der Auswanderung als auch das Stigma der späten Einschulung eine Rolle spielen. Durch das raffinierte Muster, Informationen als bekannt zu markieren, um auf diese Weise ein ›Mitwisser-Bündnis‹ mit der Interviewerin zu etablieren (»in thailand bin ich ja geboren«), versucht Lek, diese Abweichungen als allgemein geteiltes Wissen zu kennzeichnen und auf diese Weise zu normalisieren. Das Resümee der Einstiegserzählung bringt die Fallstruktur symptomatisch zum Ausdruck. Die Erzählung von biografischen Brüchen und nachhaltig wirkenden Stigmata wird mit einem »na, w/war eigentlich alles okay, ((so)) (I: mhm) in mein leben« abgeschlossen.
97 Hier wird deutlich, warum die späte Einschulung, die bereits in der Einstiegserzählung zur Sprache kommt, für Lek ein solches Dilemma darstellt. Denn dadurch ist der diesem Normalverlauf schon grundlegend enthoben und es kommt bei ihm zu der Angst vor einer Manifestation dieses »zu spät« seins.
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5. Rekonstruktion der Schülerpositionen
Diese Fallstruktur kann nun als Grund für die kaum vorhandenen lebensgeschichtlichen Erzählungen – weder bezüglich der Familie noch der Freizeitgestaltung oder der Schule – geltend gemacht werden, die eine Annäherung an die vermeintliche NormalBiografie nur gefährden würden. Erzählende Passagen werden in der Regel nur dann generiert, wenn durch die Fragen der Interviewerin bei Lek die Brüche zwischen seinen realen Lebensereignissen und dem imaginären Normalverlauf thematisch werden, die ihn dann spontan zu einer Erzählung veranlassen. An den Stellen, an denen die Interviewerin das ›Mitwisser-Bündnis‹ bricht und explizit nach Leks Empfindungen und Wahrnehmungen von spezifischen Ereignissen fragt, verweigert er in den meisten Fällen eine solche reflexive Betrachtung oder weicht einer direkten Antwort aus: »alle kinder sind spielen gegangen außer ich, ich war bei meinen eltern ..; I: die sind alle auf die klettergerüst/gerüste gegangen; L: ja, mhm; i: und warum bist du nicht mitgegangen; L: keine lust; I: mhm, und dann, wie ging’s weiter; L: äääh, keine ahnung (I: lacht) hab vergessen«. Insgesamt scheint Lek aufgrund dieser Vermeidungshaltung nicht in der Lage zu sein, seinen biografischen Verlauf als individuell besonderen reflexiv einzuholen und anzuerkennen. Die Orientierung an einer vermeintlichen Norm führt zu einer Entfremdung von der eigenen Geschichte, die nicht als für seinen Individuierungsprozess bedeutsame eingeholt werden kann und damit letztendlich zu einer Form der Entfremdung vom Selbst. Eine sich entwickelnde integrierende Identitätsbildung wird latent verhindert und der Aufbau ganzheitlicher sozialer Beziehungen tendenziell verstellt. Die spezifische Selbstkrise besteht in diesem Fall darin, dass diese Normalisierung als Bewährungsstrategie nicht funktioniert, sondern vielmehr die Brüche und Abweichungen hierdurch eine beständige Aufmerksamkeit erhalten, diese Spannungen gleichzeitig aber nicht reflexiv verarbeitet werden können. Eine Anpassung an das persönliche Ideal gelingt nicht. Diese Krisenproblematik bricht insbesondere in den Momenten akut und leidvoll auf, in denen Lek – wie in dem biografischen Interview – gezwungen ist zu handeln, und sich mit der Realität seiner Lebenswirklichkeit auseinanderzusetzen. Strukturell ähnlich belastende Rahmenbedingungen findet Lek auch in der Schule und z.B. in den täglich zu erledigenden Hausaufgaben vor. Eine kompensatorische Einbettung erfährt Lek interessanterweise im Spiel, im künstlerischen Ausdruck oder beim Fernsehen: »I: was machst’n, was machst’n total gerne; L: fußball spielen (I: mhm) . mhm mit meinem cousin fußball spielen, oder malen, (I: mhm) .. und zu hause, fernseher gucken (lacht)«; »I: äh was findest du gut hier an der schule; L: ääh, was ich gut finde .. m, mh wie soll ich sagen, das schähm hier so sch- auch schön is und so, und große sch mh dings fußballfeld haben und so’n spielplatz hier haben, ja«. Dort scheint er sich Felder zu erschließen, in denen er sein Selbst ausdrücken und seine Umwelt gestalten kann, ohne die Selbst-
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imagination des normalen Jungen, und damit auch die Beziehung zu seinen Eltern, zu gefährden. Die lange Zeit, die er alleine zu Hause verbringt, eröffnet ihm dafür anscheinend den nötigen Freiraum. Die Kunst und das Spiel weisen hier eine strukturelle Ähnlichkeit der Realitätsentlastetheit auf und werden von ihm offenbar als sichere Orte erfahren. Dort kann er vermutlich auf eine besondere Weise ohne die Last des Anpassungsdrucks zu sich selbst finden. Dennoch stellt sich hier die Frage, ob Lek diese Nischen entweder wird professionalisieren können, wie es sich in dem Wunsch ausdrückt, Fußballspieler oder Künstler zu werden, oder ob es ihm langfristig gelingt, einen dort möglich werdenden Selbstausdruck in andere Situationen zu transferieren, um zu einer reflexiven Individuierung und autonomeren Lebensgestaltung zu gelangen.
5.2.4 Fallstruktur der schulbiografischen Passung 5.2.4.1 Einschulung Der dominierende Erfahrungsraum, gegenüber dem in der biografischen Darstellung die familiäre Einbindung in den Hintergrund rückt, ist für Lek nach der Einwanderung nach Deutschland zunächst der Kindergarten. Auch dort fühlt er sich am Anfang als Eindringling aus einer anderen Welt. In einem stetigen Lernprozess, den er selbst auch aktiv voranzutreiben scheint, gelingt es ihm jedoch, im Kindergarten die deutsche Sprache zu lernen. Der voranschreitende Spracherwerb hat gleichzeitig eine zunehmende Integration in die Gruppe zur Folge. Die Kindergartenzeit erscheint damit im Wesentlichen als eine persönliche Erfolgsgeschichte, wenngleich sich das Gefühl, ›nicht richtig dazuzugehören‹, nicht vollständig auflöst. Der Übergang in die Grundschule wird nun von zwei Ereignissen gerahmt, die seine Beziehung zur Schule nachhaltig prägen. Zum einen gibt es vor Schulbeginn eine Suche der Familie nach einem Platz in einer ersten Klasse. Lek beschreibt das Vorgehen so, dass der Vater mit der Familie zunächst irgendeine Schule ansteuert. Dort und an einer zweiten Schule, zu der sie von der ersten geschickt werden, werden sie aufgrund eines Mangels an freien Plätzen abgewiesen. Schließlich bekommen sie auf dem Postweg die Nachricht, in welche Schule Lek »noch« eingeschult werden kann. Leks Erleben der Grundschule ist in der Folge dieses Geschehens eng mit dem Wissen verknüpft, dass er eigentlich nicht eindeutig in die Schule gehört, in die er letztendlich kommt: »L: am anfang sollte ich ja in eine andere schule sein aber da gab’s kein platz mehr deswegen bin ich hierher gekommen«. Hinzu kommt, dass die Einschulung selbst nach Leks Darstellung »zu
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spät« erfolgt. Diese Differenzerfahrungen verbinden Leks Schulkarriere bereits zu Beginn mit einer Zugehörigkeitsproblematik und weisen damit fallstrukturell ein hohes Krisenpotenzial auf, weil sie nicht dem ›normalen‹ Gang der schulischen Ereignisse entsprechen. Er kommt in eine ›andere‹ Schule und in eine ›unpassende‹ Klassenstufe. So wird eine gelingende Identifikation mit der Schulsituation und damit eine bruchlose Integration verstellt. Auch die Phase des Schulbeginns selbst ist ein Lebensabschnitt, in dem Leks individuelle Fallstruktur in einer für ihn wahrnehmbaren Selbstkrise kulminiert. Auch hier versucht er in der biografischen Präsentation, eine Erzählung zu umgehen, und resümiert zunächst den Tag der Einschulung als »schön«. Deutlich wird, dass die Einschulung für Lek keinen Statusgewinn mit sich führt und auch keinerlei positive Herausgehobenheit – weder seines Selbst noch besonderer Erlebnisse – beinhaltet. Erst nach wiederholtem Nachfragen gibt er hier die Orientierungen an einer anzunehmenden Norm des Einschulungserlebnisses zugunsten einiger erzählender Passagen auf. In diesen zeigt sich, dass Lek schon im Vorfeld des Schulbeginns unter einem zunehmenden Rationalisierungsdruck leidet, den er aufgrund seines nur wenig konturierten Selbst eigenständig98 nur unter großen Anstrengungen bewältigen kann: »I: weißt du noch, wie, wie das bei dir so war vormittags, das erste mal die lehrerin sehen und so; L: (lacht) . nervös (lachend) . und ja, und zwei tage vorm, richtig anfang, war schon etwas so nervös, und musste noch alles vorbereiten, ich bin alles durcheinander gekommen, (lacht leicht) . ja; I: was musstest du denn vorbereiten; L: schulsachen und sowas weiter .. (I: mhm) . ja«. Diese Diffusität des Selbst, die für die Zeit des Übergangs vom Kindergarten in die Grundschule auch als anhaltende Kindlichkeit in Form einer Präsubjektivität und Präobjektivität99 konkretisiert werden kann, wird mit dem Beginn der Schulzeit zu einer Belastung. Er scheint nun gezwungen, die Dinge von seinem Selbst, die Objekte vom Subjekt zu trennen und in eine überschaubare Ordnung zu bringen. Die familiäre Einbettung, die keine sicheren Bindungen breit hält und mit weitreichenden Sanktionen bei abweichendem Verhalten droht, behindert diese angesichts der schulischen Rationalisierungsanforderungen notwendige Entwicklung einer reflexiven Selbstaufmerksamkeit zusätzlich. So sieht er der Einschulung 98 Von seinen Eltern scheint er auch hier nicht unterstützt zu werden. 99 Diese Deutung stützt sich auf das vorangegangene Zitat, in dem zwei Aussagen miteinander vermischt werden. »Ich bin ganz durcheinander gekommen« oder »ich habe alles durcheinander gebracht«. Die Dinge und das Subjekt scheinen nicht getrennt voneinander behandelt werden zu können, sondern verbinden sich in der Aussage zu einer Einheit. Die Unordnung der Dinge führt zu einer Ungeordnetheit des Selbst oder die Ungeordnetheit des Selbst ist der Grund für die Schwierigkeit, die Dinge in eine überschaubare Ordnung zu bringen. Entsprechend der von Meyer-Drawe so genannten ›Koexistenz von Kindern mit Milieudingen‹ in der frühen Kindheit (vgl. Kap. 2.4) scheint hier die Trennung zwischen Subjekt und Objekt noch nicht vollständig vollzogen zu sein.
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»nervös« entgegen, weil ihm noch keine Bearbeitungsstrategie für die bereits deutlich gewordene Herausforderung zur Verfügung steht. Diese individuelle Problematik wird durch den Schuleintritt ferner dadurch zugespitzt, dass nun die Gruppe der Erstklässler als quasi homogene Vergleichsnorm deutlich erkennbar wird. Die strukturell angelegte Zugehörigkeitsproblematik, verstärkt durch ein noch stark diffuses und kindliches Selbstverhältnis, führt damit durch den Schuleintritt zunächst zu einer Ausgrenzungserfahrung. Dabei finden sich keine Hinweise auf einen aktiven Ausschluss Leks durch die anderen Kinder, vielmehr wird die Kindergruppe der ›anderen‹ für Lek zu einer nun überpräsenten fiktiven Norm, zu der er sich selbst in deutlicher Differenz erlebt. Dabei spielen schulbezogene Abweichungen kaum eine Rolle, es geht eher darum, ein solches Kind zu sein wie alle Kinder (»alle kinder sind spielen gegangen außer ich, ich war bei meinen eltern .. «). Trotz dieser erschwerenden Rahmenbedingungen kann Lek in der Schule mit der Zeit Freundschaftsbeziehungen aufbauen. Allerdings beschreibt er, dass es in der ersten Klasse häufig zu Konflikten und körperlichen Auseinandersetzungen mit anderen Kindern gekommen ist. Daraus resultiert auch eine Vertrautheit mit dem Ablauf von Disziplinarverfahren. Auslöser dieser Konflikte sind Zuschreibungen anderer Kinder, (du hast mich nicht gefunden, du hast nicht gewonnen), auf die Lek anscheinend schnell aggressiv reagiert. Auch hier wird deutlich, dass er solchen Zuschreibungen nicht mit der Sicherheit eines konturierten Selbstbildes begegnen kann. Interessanterweise löst Lek diese Problematik auch in diesem Fall durch eine Zunahme an spielerisch sportlicher Betätigung: »I: du hast auch nicht so streit mit anderen kindern; L: nur selten; I: ja, machst du nicht so; L: früher schon, ganz oft, in der erste (lacht); I: mhm, und dann warum jetzt nicht mehr; L: kein bock (lachend), da spiel ich lieber fußball; I: mhm, und wie habt ihr, was für streits waren das; L: hm ja .. am anfang haben wir so erst mal was gespielt, so, ja, und dann sagen die erst mal, sage ich oder die anderen so erst mal, du hast mich gar nicht und sowas gefunden und sowas ne, und da kam auch einmal so streit und sowas, wenn wir ((uns da)) verstecken oder fangen spielen, (I: mhm) ja; I: und wie läuft dann weiter; L: ja dann streiten wir uns, dann kommt’s zum kampf (lacht) .. » 5.2.4.2 Einstellung zur Bildung Die Schule ist für Lek zum einen ein Ort, der mit Enge- und Zwangserfahrungen verknüpft ist. Wahrscheinlich aufgrund der familiären Einbettung zeigt er zwar den Willen, ein ›guter Junge‹ zu sein, muss sich dazu jedoch selbst in eine spezifische Ordnung bringen. Diese Anpassungsleistung fällt ihm aufgrund der kindlichen Verfasstheit seines Selbst und einer diese verstärkende Verweigerung selbstreflexiver Aufmerksamkeit, die er durch eine Annäherung an eine vermeintliche Norm ersetzt,
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überaus schwer. Der Anpassungsdruck wird durch den Vergleich und die sich ergebende Konkurrenzsituation gegenüber anderen Kindern in der Schule nur zusätzlich erhöht: »I: okay, ähm stört dich was an der schule; L: ja, die gänge, (I: ja) zu eng irgendwie . I: hier dies; L: hier an deer ja, hier auch (I: mhm mhm) . und hier an der ei/eingang hier in diese tür, (I: mhm) und treppe, ((früher)) drängeln wir uns immer so durch, von unten auch (I: mhm) eingangs, wenn des klingelt, da gehen ja alle kinder auf einmal rein (lacht)«. Durch diese Fallstruktur und die inhärente Selbstproblematik kann Lek dem Unterrichtsgeschehen nur wenig Aufmerksamkeit entgegenbringen. Er hat deutliche Schwierigkeiten, sich auf die im Unterricht behandelten Dinge und Inhalte zu konzentrieren. So lässt er sich leicht ablenken oder schweift auch ohne äußeren Anlass immer wieder ab. Aufgrund der geringen Konturierung seines Selbst und der daraus resultierenden Diffusität scheint er nur schwer in der Lage, eine spezifische in der Schule geforderte Selbstdisziplin aufzubringen, die ein fokussiertes Arbeiten ermöglichen würde. Hinzu kommt, dass durch die Orientierung an jener vermeintlichen Norm Lek seine Aufmerksamkeit auch hier immer wieder auf den Vergleich mit anderen richtet. So ist er während des Unterrichts in der Regel damit beschäftigt festzustellen, dass er länger braucht als andere: »I: und wie findest du so den unterricht; L: wie, wie; I: oder ja des ist immer so schwierig ne, so du, ähm, wenn du so in/in der schule, wenn du so sitzt im unterricht, wie das so abläuft, wie findest du das, findest du dass/das ist okay; L: na ja, wenn die so lange reden dann ist mir langweilig, dann möchte-, dann möchte ich irgendwie anfangen, (I: mhm) eh (lacht) .. und we- und wenn wir arbeiten, uund es is irgendwie schwer dann, da muss ich irgendwie la/lange überlegen was so da reinkommt oder so . ja«. Sein Ziel besteht nun darin, möglichst schnell oder zumindest so schnell wie die anderen fertig zu werden, wodurch die Aufmerksamkeit gegenüber der Sache bzw. der gestellten Aufgabe weiter in den Hintergrund gerät. Die Dauer der Arbeitszeit wird für Lek somit zu einem persönlichen Dilemma (weshalb es ihm wichtig ist, sie irgendwie abzukürzen, aber dies geht auf Kosten des Verstehens der Inhalte): Von ihm wird Selbstständigkeit und Selbsttätigkeit zum Lösen und Erfüllen spezifischer, meist rationaler Aufgaben gefordert. Die Anforderung zunehmender Eigenleistungen als zentraler Bestandteil von Selbsttätigkeit bringt ihn aber in eine riskante Situation, sodass er fallstrukturell bemüht ist, solche individuellen Konturierungen zu vermeiden und durch eine Orientierung an der Norm zu ersetzen. Hinter dieser Norm bleibt er in der Schule aber gerade aufgrund seiner schwach entwickelten Selbstreflexivität zurück. Das schulische Arbeiten wird somit von einer Differenzerfahrung als Defiziterfahrung bestimmt. Welche Bewältigungsstrategien entwickelt Lek nun für dieses schulische Dilemma und was bedeuten diese für seine ›Einstellung zur Bildung‹?
5.2 Schulkulturelle Verstrickung und bereichsspezifische Bewältigung: Lek
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Als Grundvoraussetzung für Leks Bewältigungsmuster muss festgehalten werden, dass er auch gegenüber der Schule keine reflexive und damit keine rollenförmig distanzierte Haltung entwickelt. Er sieht sich selbst nicht als Schüler mit spezifisch zu erfüllenden Aufgaben und die Lehrer nicht als professionelle Vermittler. Im Gegensatz zu Majda, die bewusst eine persönliche Involviertheit vermeidet, kann Lek nur diffuse Beziehungen zu der Schule und den schulischen Akteuren eingehen. Das führt nun ferner dazu, dass sich sein Bewältigungsmuster an den unterschiedlichen Lehrerpersönlichkeiten bricht. Als zentrale schulische Bewältigungsstrategie konnte das ›Holen von Hilfe‹ rekonstruiert werden. Um die leidvoll erlebte Dauer der Arbeitszeit abzukürzen, ist Lek nachhaltig darum bemüht, die Lehrer in Hilfepositionen zu bringen. Das heißt, er fordert eine helfende Stellvertreterschaft und somit eine stellvertretende Krisenbewältigung durch den Lehrer: » I: ähm, kommt es vor, dass du bestimmte dinge im unterricht nicht verstehst; L: bei deutsch . da kapier ich meistens nix; I: mhm, und wie ist das dann, für dich; L: aaah, dann geh ich frau winter immer fragen, oder ich sag dann frau winter können sie mal kurz kommen (I: mhm) ja dann erklärt, ja dann, dann sag ich ähm, des und des kapier ich nicht, ja . dann hilft sie mir auch manchmal«. Fallspezifisch ist nun jedoch, dass er diese Hilfe nicht als Hilfe zur Selbsthilfe und damit im Hinblick auf ein mögliches Ende der stellvertretenden Krisenbewältigung einfordert, sondern versucht, andere auf Dauer in Hilfepositionen zu bringen. So wird der Lehrer zum Hüter der Norm, die nur erreicht werden kann, wenn dieser sein Wissen mit ihm teilt. Strukturell entwickelt sich daraus neues Konfliktpotenzial, wenn die Lehrer entsprechend einem professionellen Berufsverständnis auf eine Erlangung von Selbstständigkeit und Autonomie dringen, was wiederum von Lek aufgrund seiner diffusen Einbindung als Anerkennungsverweigerung gewertet wird. So richtet sich Leks Aufmerksamkeit, wenn ihm nicht geholfen wird, nicht, wie vom Lehrer beabsichtigt, auf die eigenständige Bewältigung einer Aufgabe, sondern er überprüft nun, wie oft ihm und wie oft den anderen Hilfe gewährt wird: »I: mhm, sagen sie das auch allen oder sind die manchmal auch unfair, dass sie irgendwie; L: na ja beim arbeit sind die irgendwie unfair . mh, zum beispiel heute haben wir ja englischarbeit geschrieben wo sie, mit majda hier reingekommen sind, (I: mhm) da haben wir grad englischarbeit, test geschrieben, (I: mhm) und bei die anderen sagt sie was ne, was das heißt und so, wenn ich mal frag dann sagt sie, keine ahnung (I: mhm) sie sagt mir nicht . sagt sie, öfters«. Wird ihm in ausreichendem Maß geholfen, dann fühlt er sich als gleichwertiges und chancengleiches Mitglied der Klasse angenommen. Entsprechend der strukturell diffusen Beziehung Leks zur Schule steht die soziale Annahme in Form der stellvertretenden Krisenbewältigung damit über anderen Momenten der Selektion.
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So wird z.B. eine konkrete Leistungsbewertung fast überhaupt nicht thematisch, weil sie ja letztendlich auch aus dem Umfang der gewährten Hilfe resultiert. Mit dieser Bewältigungsstrategie hat Lek nun bei den verschiedenen Lehrern unterschiedliche Erfolgschancen. Aus diesem Grund teilt er die Lehrerpersönlichkeiten in »nett«, »streng«, »geht« und »ganz streng« ein. Aus seiner Sicht kommt es im für ihn idealen Fall zu einer Arbeitsbeziehung mit einem ›netten‹ Lehrer, der empathisch und annehmend auf Lek reagiert und dementsprechend bereit ist, seinem Bedürfnis nach Hilfe nachzukommen. Dennoch macht Lek wiederholt die Erfahrung, dass auch die von ihm als »nett« eingestuften Lehrer nicht eine Hilfe auf Dauer gewähren, sondern ihn immer wieder zur Selbsttätigkeit herausfordern. Hier scheint es so, dass die sensiblen Lehrer eher Leks Gleichsetzung von Hilfe und Anerkennung wahrnehmen und deshalb auch Hilfe in einer Zuwendungsabsicht gewähren und nur wohldosiert Selbstständigkeit fordern. Gegenüber Lehrern, die eine solche stellvertretende Krisenbewältigung nicht in geeigneter Weise leisten können und dementsprechend nicht annehmend, sondern ablehnend und urteilend arbeiten, gleichzeitig aber auch nicht »streng« sind, nimmt Lek interessanterweise eine oppositionelle Haltung ein. Das Gefühl, abgelehnt zu werden, führt dazu, dass er auch den Lehrer und somit dessen Urteil über sich selbst ablehnt. Über eine Störung des Unterrichts versucht er, diese Entwertung und Entmachtung des Lehrers umzusetzen: »L: aber manchmal bin ich auch fr-/laut bei ihm (bestimmter Lehrer), (I: mhm) weil er mich ein-, auch ohne grund anschreit, dann bin ich ja saue-/da bin ich ja etwas sauer/dann mach ich/dann bin ich auch laut«. Bei den strengen und insbesondere bei den ›ganz strengen‹ Lehrern scheinen dagegen beide Bewältigungsmuster nicht zu funktionieren. Hier kann nur vermutet werden, dass diese Lehrer eng an der Sache orientiert arbeiten, dementsprechend strikt an Leistung orientiert sind und wenig auf die Schüler als Individuen eingehen. Das führt dazu, dass Lek die strengen Lehrer insgesamt nicht »mag«. Dort wird nämlich seine individuelle Fallstruktur zur akuten Krisenerfahrung. Er kann ein Erreichen der Norm weder über das Holen von Hilfe sicherstellen, noch das nicht Gewähren von Hilfe als Anerkennungsverweigerung durch eine oppositionelle Haltung abwerten. In Bezug auf Leks Einstellung zur Bildung kann daher gefolgert werden, dass er eine reflexiv entwickelte Haltung zu der spezifischen Bedeutung schulischer Bildung kaum besitzt. Seine diffuse Verstrickung mit der Schule führt dazu, dass er keine besonderen Strategien der Leistungssteigerung entwickelt, sondern sich im Wesentlichen auf die Gewährung von Hilfe verlässt, bzw. diese einfordert. Sein ›Bildungsziel‹ besteht darin, nicht aus einem Normalverlauf heraus zu fallen, um kein schlech-
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ter Junge zu sein. Die Lehrer, als schulische Vertreter dieser Norm, sollen ihm dazu verhelfen. Neben dieser schulischen Bewährungsproblematik bietet die Schule Lek aber gleichzeitig in besonderer Weise die Möglichkeit zur Kompensation und zum Ausgleich der krisenhaften Verstrickungen. Gegenüber der langen Zeit, die er zu Hause alleine verbringt, bedeutet die Schulzeit ein Zusammenkommen mit Freunden, und hier insbesondere ein gemeinschaftliches Ausleben im Fußballspiel. Der Sport, aber auch die Kunst und der Kunstunterricht werden immer wieder in kompensatorischen Zusammenhängen als bedeutsame Ausdrucksbereiche erwähnt. Hier scheint es Lek zu gelingen, zum einen die Diffusität seines Selbst in einem spielerischen Ausdruck als nicht defizitär zu erleben und zum anderen seine Unkonturiertheit als Offenheit gegenüber alternativen Ausdrucksformen schöpferisch zu wenden. Neben den Bewältigungsstrategien, die an einer fiktiven Norm orientiert bleiben, scheint Lek im Spiel und in der Kunst einen besonderen Ort zu finden, an dem es zu einer alternativen Krisenbewältigung kommt, die mit seinen Selbstanteilen in Einklang steht und an dem sich der Druck der Normerfüllung auflöst. Darin liegt die Erklärung für Leks Idealvorstellung einer Schule, in der nur gespielt wird. In dem Bedürfnis, den im weitesten Sinn ästhetisch selbstreflexiven Raum auf Dauer zu stellen, kommt aber auch die Schwierigkeit zum Ausdruck, wie diese im Spiel und in der Kunst konturierte Identität in Situationen transferiert werden kann, die andere Anforderungen an das Individuum stellen. Hier wurde bereits gesagt, dass der Weg zum einen über einen gelingenden Übertrag des Gewinns aus diesen Bereichen bestehen kann oder dass es Lek möglich wird, diese spezifischen Felder z.B. in eine darauf bezogene berufliche Tätigkeit auszudehnen und damit in besonderem Maß biografisch zu gewichten.
5.2.5 Fallstruktur des schulkulturellen Passungsverhältnisses 5.2.5.1 Die doppelte Realität der kunstbetonten Schule Für Lek scheint die Schule der Ort einer doppelten Realität zu sein. Zum einen erschweren seine auf der familiären Lagerung aufbauenden habituellen Orientierungen, die als Ausrichtung an einer fiktiven NormalBiografie rekonstruiert werden konnten – wodurch eine reflexive Selbstaufmerksamkeit verstellt wird und woraus die dominante Krisenproblematik der beständigen Abweichungserfahrung resultiert –, den Zugang zur Schule und den dort vorherrschenden Rationalisierungsanforderungen. Gerade der Einstieg in die Grundschule wird so von einer Passungsproblematik geprägt, die, neben dem gesteigerten Rationalisierungs- und Reflexivierungsdruck,
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von dem nun möglich werdenden und strukturell angelegten Vergleich mit der Gruppe der anderen Kinder ausgeht. Zum anderen werden in der kunstbetonten Grundschule aber gerade solche kompensatorischen Räume und Erfahrungsfelder verstärkt zur Verfügung gestellt, in denen Lek in Teilen eine Bewältigung seiner Individuierungsproblematik gelingt. Dadurch, dass er sich an einer kunstbetonten Grundschule wiederfindet, sind diese Orte der Bewältigung zudem mit einer größeren Bedeutung sowie die dort erbrachten Leistungen mit einer speziellen Anerkennung verknüpft. So bringen seine besonders im Kunstunterricht zum Ausdruck kommenden Kompetenzen ihm anscheinend den besonderen Ruf ein, ein ›Künstler‹ zu sein. Darüber hinaus kommt er mit einer Selbstproblematik an die Schule, die in den engeren Rahmen derjenigen schwierigen Einstiegsvoraussetzungen fällt, auf die die Schule mit ihrem besonders konturierten Schulprofil speziell eingehen möchte. Allerdings scheint diese Selbstkonturierung, die im Sport- und im Kunstunterricht erreicht wird, nicht in die anderen Bereiche schulischer Realität übertragbar zu sein. Seine in Ansätzen erkennbare Bewältigung der individuellen Krisenproblematik erscheint aus diesem Grund als bereichsspezifische, die nicht in ein konsistentes Selbstverhältnis integriert wird. Seine Absichten sind vielmehr darauf ausgerichtet, die kompensatorischen Anteile auszudehnen, um die krisenbelastete Lebenswirklichkeit zu ersetzen, die entsprechend als ein Prozess des Erleidens gekennzeichnet wird. Lek sucht sozusagen nach einem sicheren Raum der Selbstentfaltung, da auch er unter der latenten Entfremdung von seinem Selbst leidet. Da auch die Schule eine Krisenlösung in Muße anstrebt, stellt sie diese Räume auf der Ebene des Realen zwar verstärkt zur Verfügung, aber gleichzeitig stehen die Schule und Lek hier vor einer gemeinsamen Übertragungsproblematik. 5.2.5.2 Prekäre Verstrickung auf der Ebene des Symbolischen Leks zentrale schulbezogene Bewältigungsstrategie besteht in dem Aufbau einer Beziehung der stellvertretenden Krisenbewältigung zu den Lehrpersonen. Diese Option wird den Schülern dabei im Rahmen der besonderen kulturellen Ausprägung der Schule auch eröffnet. Sie entwirft sich im Kern ihrer dominanten Schulkultur als ›elterlicher‹ Schonraum, in dem die Anfänge eines individuellen Selbstausdrucks über die Ermöglichung von Erfahrungen in Muße generiert werden sollen. Die Vielfalt der schulischen Akteure, die speziell in profilferne und profilnahe unterteilt werden können, führt nun aber dazu, dass die von der dominanten Schulkultur unterstützte Bewältigungsstrategie sich an den unterschiedlichen Personen bricht. Insofern ist Lek gerade aufgrund seiner fallstrukturellen Angewiesenheit auf eine stellvertretende Krisenbewältigung besonders eng in die schulkulturel-
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len Problematiken verstrickt. Denn die Schule kann nicht gewährleisten, dass alle schulischen Akteure die dominanten Strukturmomente der Schulkultur gleichermaßen verbürgen. Daraus folgt, dass Lek wahrscheinlich die Lehrer als nett wahrnimmt, die aufgrund ihres professionellen Habitus als besonders profilnah eingestuft werden können, und dementsprechend die profilfernen, eher leistungsorientierten Lehrer als zu streng ablehnt. Die Grenzen der kunstbetonten Schulkultur werden dadurch zu den Grenzen von Leks Bewältigungsmustern, denn die Schule kann neben der personellen Schwierigkeit auch strukturell ihr Versprechen der Etablierung eines Schonraumes für Krisen durch Muße auf der Ebene des Symbolischen nicht umfassend einlösen. Dadurch, dass Lek im Grunde stark auf das der Schulkultur inhärente Krisenlösungsversprechen der Schule angewiesen ist, diese aber gleichzeitig Schwierigkeiten hat, ihre eigenen zentralen Anspruchshaltungen umfassend symbolisch zu verbürgen, führt diese schulkulturelle Verstrickung zu einer riskanten Abhängigkeit. Lek kann nämlich aufgrund seines nur gering konturierten Selbstverhältnisses nicht die professionelle Rahmung und damit die Grenzen der von ihm gesuchten und von der Schule potenziell in Aussicht gestellten Beziehung der stellvertretenden Krisenbewältigung erkennen. Strukturell wird er dadurch in eine Anerkennungsproblematik verstrickt, weil er versucht, das zwischen spezifischen und diffusen Beziehungsanteilen vermittelnde professionelle Arbeitsbündnis durch eine ausschließlich diffuse Beziehung zu ersetzen. Folglich wird er abhängig von der Gewährung von Hilfe als Anerkennung seiner Person durch einzelne Lehrer. Diese tendenziell diffuse Beziehungsqualität wird von der dominanten Schulkultur nun zusätzlich unterstützt, sodass Lek hier implizit eine Bestätigung seiner Bewältigungsmuster erhält. Da eine solche auf Dauer gestellte stellvertretende Krisenbewältigung in der Schule aber nicht möglich ist, kommt es bei Lek in der Folge immer wieder zu einem akuten Aufbrechen seiner individuellen Krisenproblematik in der Schule: »I: stört dich noch was anderes, noch was; L: .. äh, was ich so weiß ja, lehrer (lachend), wenn die streng oder so sind (I: mhm) de, und anschreien und so .. wenn wir mal nicht kapiert haben dann, und die soo erklärt haben und wir immer noch nicht kapiert haben dann schreien die ((trotz)) uns an, (I: mhm) sag les, mach mal selber und so, (I: mhm) les selber, ja das sin is auch irgendwie so was«.100
100 An dieser Textpassage zeigt sich, dass die Lehrer zum Teil selbst in die Problematiken der Schulkultur verstrickt sind. Sie lassen anscheinend viele Fragen zu und gehen über einen längeren Zeitraum helfend auf die Fragenden ein. Anstatt nun aber einen Selbsttätigkeitsprozess anzubahnen, findet hier (zumindest in Leks Wahrnehmung) aber anscheinend ein plötzliches Umschlagen der Haltung statt, was seinen Grund in einer vorangegangenen Überdehnung der Stellvertreterschaft haben könnte, die bei Misserfolg zu hohen Frustrationserfahrungen bei den Lehrern führt. Die Schüler werden angeschrieen und es wird unvermittelt jegliche Hilfe verweigert. Dieser zugespitzten
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Die fehlende Distanz zur Schule wird Lek zwar nicht zum Verhängnis, denn er scheint bislang nicht sein Ziel verfehlt zu haben, die Norm der schulischen Laufbahn einzuhalten. Außer in den Bereichen der Kunst und des Sports bleibt seine Selbstproblematik trotzdem ungelöst. Zwar scheint diese Form einer Stärkung der diffusen Beziehungsanteile, die er in der kunstbetonten Grundschule erfährt, grundsätzlich eine stärkere Ablehnung der schulischen Anforderungen abzuwenden. Leks fallstrukturelle Verweigerung gegenüber einer zunehmenden Selbsttätigkeit wird dadurch jedoch nicht bearbeitet. Insofern kann auf der Ebene des Symbolischen hier von einem Passungsverhältnis gesprochen werden, das immer wieder konflikthaft aufbrechen muss. Die Instabilität der Familienbeziehung setzt sich damit letztendlich in der Schule fort. Auch dort gelingt es Lek nicht, konsistente Bindungsverhältnisse aufzubauen. 5.2.5.3 Die Idee der Integration des Differenten auf der Ebene des Imaginären Auf der Ebene des Imaginären ist nun interessanterweise eine äußerst harmonische Passung rekonstruierbar. Das zeigt sich sinnbildlich daran, dass Lek die Prismen, die an der Decke der Schulaula hängen und die das Sonnenlicht an den Wänden der großen Halle in seinen Spektralfarben abbilden, als eines der zentralen Elemente bezeichnet, die er an der Schule gut findet.101 Der dominante Schulmythos, der im Bild des Sonnenlichts kulminiert und symbolisch das individuell und kulturell Differente in eine harmonische Ganzheit überführt, kann hier eng auf Leks Selbstimagination als normaler Junge, der sich nicht von den anderen unterscheidet, bezogen werden. Der Schulmythos drückt das aus, was Lek sich wünscht: die Integration in eine Gruppe, in der die individuellen Differenzen durch die Etablierung von Zugehörigkeit zu einer bestimmten, von autorisierter Stelle normierten Anordnung überbrückt werden, wodurch wiederum eine Bewährung in Aussicht gestellt wird. Es ist deutlich ablesbar, dass dieser dominante Schulmythos im Grunde Leks Ausblenden des individuell Differenten, worüber er versucht, selbstreflexive Prozesse zu vermeiden, unterstützt und damit die im Hinblick auf einen anzustrebenden Individuierungsprozess krisenbelastete Fallstruktur zunächst nicht verändern kann. Gleichzeitig wird aber auch deutlich, dass die profilnahen Lehrer die einzigen zu sein scheinen, mit denen Lek überhaupt eine bestimmte Art von einem ArbeitsAntinomie von Nähe und Distanz ist Lek, der grundsätzlich versucht, soviel Hilfe wie möglich zu bekommen, ausgeliefert. 101 Hier findet er interessanterweise entgegen der dominanten Fallstruktur zu einem eigenen Urteil: »I: äähm . gibt’s was besonderes an deiner schule hier, irgendwas was dir besonders gut gefällt oder was dir ganz besonders auffällt; L: lichtfarben (lacht) . da hinten, da ist ja so’n drei oder mehrere, was sie, fo- sie haben ja mal foto gemacht ne von dieser spiegeldings da, oben was oben hängt, was da (I: ja) so runterhängt, (I: ja) ja . und wenn da jetzt sonne reinscheint, dann kommt ja überall lichtfarben, das finde ich sch-/gut«.
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bündnis eingehen kann. Insofern kann festgehalten werden, dass es durch die Lehrer, die der dominanten Schulkultur besonders nahe stehen und durch die besonders gewichteten Felder der Kunst und des Spiels zumindest bereichsspezifisch gelingt, hier eine positive Beziehung zwischen Lek und der Schule aufzubauen. Inwiefern sich dort Räume etablieren, in denen es Lek gelingt, seine Selbstproblematik zu überwinden, und welche spezifischen Schwierigkeiten sich bei einer sich anschließenden Übertragung in ein diese Erfahrungen integrierendes Selbstkonzept ergeben, soll im Folgenden durch die auf den Kunstunterricht bezogene Fallanalyse ergänzend in den Blick genommen werden.
5.2.6 Kunstunterricht: Bereichsspezifische Individuierung als ästhetischer Bildungsprozess Die im Kunstunterricht entstandenen Arbeiten von Lek, die im Folgenden Gegenstand der Analyse werden, entstammen ebenfalls aus der bereits bei dem Fall Majda kurz beschriebenen Unterrichtseinheit zum Thema Körperbemalungen. Dabei lagen zum Zeitpunkt der Erhebungen von Lek noch keine ausgeführten Probedrucke vor, sodass in diesem Fall die unterschiedlichen Entwürfe zum Thema in den Blick genommen werden. Die einzelnen Arbeiten stehen dabei zum einen für sich, zum anderen werden sie, als aufeinander folgende Teile einer Aufgabenbearbeitung, sozusagen auch als Einzelsequenzen eines übergeordneten Arbeitsprozesses bedeutsam.102
5.2.6.1 Werkanalyse a) Bei dem ersten Entwurf, der zu dem Thema entsteht, handelt es sich um eine zweischichtige Papierarbeit, die insgesamt etwas größer ist als DIN A4. Aus dem einen Blatt wurde eine Figur herausgeschnitten und auf ein anderes Papier aufgeklebt. Beide Blätter sind weiß, nur auf dem oberen Papier kann man teilweise feine Bleistiftspuren erkennen, die wahrscheinlich die Linie bildeten, entlang der gearbeitet wurde. Die Ausführung der Arbeit erinnert dadurch an einen Scherenschnitt,
102 Wie in Kapitel 3 ausgeführt, wird im Folgenden bereits eine Zusammenfassung der Ergebnisse der objektiv-hermeneutischen Bildinterpretation präsentiert. Entsprechend werden die Kontextinformationen aus dem Interview zum Kunstunterricht und den dort entstandenen Arbeiten eingebunden, um den Nachvollzug zu erleichtern.
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Abbildung 7:
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Lek 2004a
da die Figur ausschließlich durch das Ausschneiden von Einzelelementen entsteht. Im Gegensatz dazu wird hier aber nicht mit einfallendem Licht gearbeitet, das die Kontraste zwischen Innen und Außen hervortreten lassen würde. Die Entscheidung, den Schnitt stattdessen auf ein weißes Blatt zu kleben, irritiert, lässt hier aber eine besondere ästhetische Qualität entstehen. Die kaum vorhandenen Kontraste führen dazu, dass der Betrachter im Wesentlichen aufgrund der Schatten, die das nicht an allen Stellen gleichmäßig aufgeklebte obere Papier auf das untere wirft, die Figur erkennen kann. So entsteht bei längerem Hinsehen ein dreidimensionaler Bildeindruck. Die ganze Arbeit wirkt damit bereits aufgrund ihrer materiellen Beschaffenheit sehr filigran und zerbrechlich. Man kann sich vorstellen, dass sie bei der Ausführung durch einen falschen Schnitt leicht hätte auseinanderfallen können. Diese Zartheit setzt sich in der Figur selbst fort, die aus einem sich wellenförmig bewegenden Band entsteht, das mit der Kurvenbewegung gleichzeitig eine kreisförmige Gestalt beschreibt: wie eine Stoffbahn, die im Wind flattert. Die Konturen der Form scheinen dem Betrachter damit zum einen aufgrund der nur schemen-
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haften Ränder und zum anderen aufgrund der inhärenten flatterhaften Bewegung immer wieder zu entgleiten. Dennoch gibt es innerhalb des sich schlängelnden Bandes sozusagen einen Schwerpunkt am unteren Rand der Gestalt, der als Körper bzw. Rumpf definiert werden kann. An diesem finden sich nun wiederum zwei Füße, die eher comichaft schematisch anmuten. Die Füße zeigen, dass die Figur insgesamt entweder fliegt oder sich in einer Sprungbewegung befindet. Dementsprechend kann man nun den an den Körper anschließenden Verlauf des Bandes als Schwanz identifizieren und das etwas kantigere Ende – mit den leichten Ausbeulungen für Augen, Ohren und evtl. die Nase – als Kopf. Die Figur erinnert damit insgesamt nicht an eine realistische Tierart, sondern eher an ein Fantasie- oder ein Fabelwesen – vermutlich einen Drachen. Da dieser aber keine erkennbaren Flügel hat, wird nun die Ausführung der Bewegung thematisch. Kann es zu einer solchen Bewegung im Raum allein durch einen Sprung, und das mithilfe derart unterentwickelter Füße kommen? Vermutlich handelt es sich also sowohl um eine Fantasie-Figur als auch um einen abstrahierten Raum, in dem nicht die üblichen Gesetze und Kräfte wirksam sind, die die Bewegung normalerweise vielfältig einschränken. Diese Form der Entbindung von jeglicher Kontur und Schranke wird gleichzeitig durch die nur schemenhaft angedeutete Figur und die materiale Ausführung der Arbeit unterstützt. So findet auch der Betrachter wenig Halt in dem Bild und wird über die nicht anhaltenden Bewegungen des Blicks in diese changierende Welt hineingezogen, in der herkömmliche Orientierungspunkte an Bedeutung verlieren. b) Auch bei dieser Darstellung handelt es sich um einen wellenförmigen Verlauf, der den Körper eines Tieres beschreibt, bei dem es sich vermutlich wiederum um einen Drachen handelt. Am einen Ende der welleförmigen Bewegung befindet sich der Kopf und an dem anderen Ende der Schwanz. Dabei geht der Kopf hier ohne die Andeutung eines Rumpfes fließend in den langen Schwanz über. Insgesamt ist Lek mit diesem Entwurf schon einen Arbeitsschritt weiter. Er hat seine Zeichnung auf Moosgummi übertragen und auf einen Bauklotz aufgeklebt, der als Druckträger dienen wird. Insofern kann angenommen werden, dass er sich gegen die erste Darstellung entschieden hat, und nun eine quasi reduzierte Form seines Drachenentwurfes für die Weiterbearbeitung der Aufgabe gewählt hat. Darüber hinaus wird hier einerseits durch die farbliche Gestaltung und die detailreichere Ausführung (Auge, Maul, Zunge) eine andere Dimension der Darstellung dominierend, nämlich die von einem Drachen latent ausgehende Bedrohung. Wird dieser Druck nun als Tattoo auf die Haut aufgetragen, kann in einer ersten Lesart da-
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Abbildung 8:
5. Rekonstruktion der Schülerpositionen
Lek 2004b
von ausgegangen werden, dass damit die Stärke und die Kraft des Trägers der Tätowierung symbolisch ausgedrückt wird. Andererseits ist aber auch möglich, dass der Drache den Träger vor Angriffen und damit potenziellen Anerkennungsverweigerungen durch Andere schützen soll. Die zunehmende Konturierung ginge dann mit einer aggressiv anmutenden Abgrenzung zwischen Innen und Außen einher. Dadurch aber, dass in dieser Darstellung sämtliche Gliedmaßen fehlen sowie eine Unterteilung in verschiedene Körperzonen, die eine Beweglichkeit gewährleisten würden, nicht angelegt ist, scheint der Drache einen tatsächlichen Angriff im Grunde nicht oder nur sehr schwerfällig ausführen zu können. Er erscheint für die sich nun konkretisierende Aufgabe als eingeschränkt handlungsfähig. c) Die dritte Arbeit ist ebenfalls aus Moosgummi ausgeschnitten, aber nicht – oder noch nicht – auf einen Druckträger aufgebracht. Lek verlässt mit dieser Arbeit das vorher dominierende Motiv des Drachen. Stattdessen scheint dies nun ein graffiti-ähnlicher Schriftzug zu sein, in dem die Buchstaben B, W, und M erkennbar sind. Da diese kein selbstständiges Wort ergeben, kann gefolgert werden, dass es sich dabei um eine Art Symbol oder das Logo einer Firma, einer Gesellschaft, eines privaten Zusammenschlusses oder eines Vereins etc. handelt, in dem die einzelnen Buchstaben eine bestimmte Bedeutung haben. Insofern wird hier anscheinend der Schritt von einem realitätsentlasteten
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Abbildung 9:
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Lek 2004c
Ausdruck, der sich Fantasie- und Fabelwesen bedient, zu einem in seiner Bedeutung bereits feststehenden Symbol als Identifikationsobjekt vollzogen. Es signalisiert Zugehörigkeit zu einer Vereinigung oder einer bestimmten Konsumentengruppe und damit zu einem bestimmten Lebensstil. Ein besonderes Stilelement ist in dieser Darstellung nun aber, dass die einzelnen Buchstaben miteinander verbunden sind und ineinander übergehen, was es schwer macht, sie zu unterscheiden. Das fließende und tendenzielle Verschwimmen der Konturen wurde hier also anscheinend von den Drachendarstellungen auf die Buchstaben übertragen. Ein Rückgriff auf Kontextwissen macht nun an dieser Stelle eine weiterführende Interpretation möglich. Dargestellt ist ein BMW-Zeichen. Also das Symbol einer Automarke, bei der Lek unbeabsichtigt die Reihenfolge der Buchstaben vertauscht hat. Geht man davon aus, dass es ein Versehen ist, wie Lek es im Interview äußert, dann handelt es sich dabei in letzter Konsequenz um ein Verfehlen der angestrebten Zugehörigkeit. Weiter kann gefolgert werden, dass Lek vermutlich dadurch, dass er versucht, den Schriftzug aus einem Stück herzustellen, im Arbeitsprozess durcheinander kommt. Das fließende der Konturen wird in diesem Fall durch den intentionalen Bezug auf eine bestimmte Realität nicht zum herausgehobenen Gestaltungselement, sondern vielmehr zum gestalterischen Verhängnis.
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5. Rekonstruktion der Schülerpositionen
5.2.6.2 Zusammenfassung: »wollt ich erst einmal nicht machen aber […] ich sollte« Bezieht man die Ergebnisse der Werkanalysen nun unter Berücksichtigung der Sequenzialität der aufeinander folgenden Arbeiten auf die biografische Fallstruktur, dann kann für den Verlauf des Arbeitsprozesses von einer zunehmenden Verengung und Reduktion des ästhetischen Ausdrucks gesprochen werden. Die erste Drachendarstellung thematisiert die Überschreitung der Grenzen der gewöhnlichen, durch vielfältige Gesetze und Rahmungen eingeschränkten Lebenswelt, sowohl in der Wahl des Motivs als auch in der gestalterischen Umsetzung. Bezieht man diese Arbeit auf Leks Fallstruktur, dann erschafft er sich hier, wie in der Rekonstruktion des biografisch orientierten Interviews bereits vermutet wurde, einen Raum der Realitätsentlastetheit. Der künstlerische Ausdruck bietet ihm hier die Möglichkeit, seine ansonsten stark dominierende Orientierung an einer vermeintlichen Norm des ›guten Jungen‹ zu überwinden, indem er einen Raum erschafft, der kaum noch bekannte Orientierungsmarken enthält. Besonders ist, dass die Darstellung diese Wirkung auch direkt auf den Betrachter hat. Hierin scheint das Bestreben ausgedrückt zu sein, die Anderen in seine Welt hineinzuholen, die Welt zu seiner Welt zu machen. Im Gegensatz zu der Imagination des ›normalen Jungen‹ kommt hier nun eine ganz andere Sinnstruktur zum Vorschein: die Erschaffung eigener individueller Ordnungen, wodurch die Dominanz der vermeintlichen Norm überwunden werden kann. Die Kunst erscheint als ein Ort, an dem Lek der Bezug auf sich selbst als Ausgangspunkt eines anzubahnenden Individuierungsprozesses möglich wird. Dennoch könnte man einwenden, dass dieser Möglichkeitsraum vollständig in eine Exterritorialität verlegt ist und es, wie vermutet, keine Anzeichen einer Übertragung in die anderen Bereiche der Lebenswirklichkeit gibt. Diese Vermutung kann nun tendenziell durch den Einbezug von Leks Aussagen über seine erste Arbeit revidiert werden. Im Gegensatz zu seinem ansonsten dominierenden Habitus kommt es hier tatsächlich zu einer deutlichen Selbstkonturierung: I: der gefällt dir, warum L: weil ich ma-/eigentlich drach-, weil ich drachen liebe, (I: mhm) ich mag drachen Die Aussage, »weil ich drachen liebe« ist im Kontext des restlichen Interviews überraschend. Insofern kann gefolgert werden, dass Lek durch die im ästhetischen Ausdruck möglich werdende Selbstwahrnehmung auch in seinen sprachlichen Selbstrepräsentanzen zu einer in Teilen veränderten Haltung findet. Er kann zumindest im Bereich der Kunst eigene Vorlieben und Präferenzen äußern. Dabei scheint ihm bei der Drachenthematik insbesondere sein hoher Fernsehkonsum (insbesondere:
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»gruselfime« und japanische Zeichentrickfilme) eine besondere Kompetenz zu verleihen. Im weiteren Verlauf des Arbeitsprozesses wird diese Form der ästhetischen Selbstreflexivität aber nun durch die Rahmung des Unterrichts zunehmend eingeschränkt. Lek ist nun quasi gezwungen, seine erste Drachendarstellung in ein Format zu bringen, das auf einen Bauklotz passt. Dadurch entsteht eine andere Gesamtwirkung, die an sich bereits die nun an bestimmten Normen orientierte eingeschränkte Handlungsfähigkeit ausrückt. Die Werkanalyse wird auch in diesem Fall von den Kommentaren Leks zu der zweiten Arbeit gestützt: »das hier sollte eigentlich ne drache werden, aber is irgendwie nich so gut gelungen, wollt ich erst einmal nicht machen aber frau gent hat gesagt ich sollte (I: lacht leicht), das sieht gut aus (I: mhm) habe ich dann doch gemacht« Es zeigt sich, wie die Aussagen der Lehrerin dazu führen, dass Lek zu einer Darstellung kommt, mit der er selbst nicht einverstanden ist, weil sie nicht seinen eigenen Vorstellungen entspricht. Obwohl diese Wahrnehmung der Differenz zwischen der ›Hilfe‹ der Lehrerin und seinen eigenen Gestaltungsideen bereits eine Form der Selbstwahrnehmung ist, setzt Lek sich nicht über diese Anweisungen hinweg, sondern orientiert sich hier letztendlich doch wieder an der vermeintlichen Lehrer-Norm. Unzufrieden mit seiner eigenen Arbeit, macht er sich schließlich an die Gestaltung eines dritten Motivs. Diesmal verlässt er sich allerdings gar nicht mehr auf sich selbst, sondern übernimmt eine Idee von einem Mitschüler: I:
wie kam das dass ihr euch da so’n bisschen, äh euch einig wart dass b m w schön aussieht L: (lacht) ähm wir haben das eigentlich ähm von ali abgehört I: ali hat angefangen L: ehe (zustimmend, lachend) . da haben wir dann gesagt, da hab ich dann gesagt ähm dings ähm, ja ich mach dann auch bmw und er dann gleich so, ach mach mir doch nicht gleich alle nach (I: lacht) Symptomatisch ist nun, dass Lek in dem Moment, in dem er, um eine misslingende Darstellung zu vermeiden, auch im Kunstunterricht sozusagen wieder zurück in seine Fallstruktur, der Orientierung an der Norm, fällt, letztendlich an dieser Intention scheitert. Denn die Umsetzung des feststehenden Symbols gelingt nicht. Insofern kann Lek auch im Kunstunterricht seine Fallstruktur nicht nachhaltig überwinden, aber es gibt insbesondere in den wenig verregelten Phasen des Kunst-
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unterrichts die gelingenden Momente, in denen er zu einer spezifischen Form der Selbstwahrnehmung und des Selbstausdrucks gelangt. Dabei werden diese Momente von ihm auch als positive Erfahrungen wahrgenommen und erinnert.103
5.3 »wir trinken keinen alkohol, wir nehmen keine drogen und so«. Claudio: Habituelle Verbürgung der Grenzen des Ästhetischen 5.3.1 Biografische Notiz Zum Zeitpunkt des Interviews ist Claudio neun Jahre alt und in der dritten Klasse der Sonnenlicht-Grundschule. Er lebt zusammen mit seiner Mutter, deren Lebensgefährten und einem Freund der Familie in einer Wohnung eines Mehrfamilienhauses. Claudio und Joe, der Freund, bewohnen je ein eigenes Zimmer. Die Mutter und ihr Lebensgefährte schlafen gemeinsam in der Küche der Wohnung in einem eingezogenen Hochbett. Bis zu seinem fünften Lebensjahr wächst Claudio in dem alternativen Lebensmilieu einer Wagenburg auf, welche die Mutter schließlich aufgrund von Konflikten mit ihrem damaligen Lebenspartner, dem vermutlichen Vater von Claudio, verlässt.104 Ein kontinuierlicher Kontakt zu seinem Vater ist in der Folge offensichtlich erschwert und wird nach wiederholt auftretenden Konflikten eingestellt. Die erste Hälfte des ersten Schuljahres verbringt Claudio zunächst in einer anderen Grundschule. Die Mutter und ihr neuer Lebenspartner sind mit dieser Schule jedoch sehr unzufrieden und arbeiten intensiv auf einen möglichen Schulwechsel hin. Als es sich schwer gestaltet, Claudio einfach abzumelden und woanders wieder anzumelden, nehmen sie ihn ohne Regelung der Formalitäten aus der Schule heraus. Der Kontakt des neuen Lebensgefährten seiner Mutter zu dem Schulleiter der Sonnenlicht-Grundschule ebnet der Familie schließlich den Weg, Claudio zum Halbjahr dort einzuschulen. Nach Schulschluss besucht Claudio einen nah an der Schule gelegenen Hort. An den Wochentagen hat er deshalb wenig Zeit, sich noch nachmittags mit anderen Kindern zu verabreden. Allerdings spielt er dann öfters mit den Kindern aus seinem Haus im Hof und im Garten oder hält sich bei seinen Eltern auf, die zu Hause 103 Das kann durch weitere Passagen des Kunstinterviews belegt werden, in denen Lek von persönlichen Erfolgserlebnissen berichtet. 104 Wer der leibliche Vater von Claudio ist, ist nicht bekannt. Laut seinen eigenen Angaben gibt es zwei »Papas«, die als leibliche Väter in Frage kommen. Mit einem von diesen hat die Mutter in den ersten fünf Jahren in der Wagenburg Claudio gemeinsam großgezogen. Hinzu kommt der derzeitige Lebensgefährte der Mutter als nun dritter »Papa«.
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arbeiten. An den Wochenenden verabredet er sich mit Freunden oder besucht, z.B. mit seiner Oma oder seinen Eltern, das Schwimmbad, das Theater, ein Museum, den Zoo etc. Claudios Eltern sind Mitglieder einer Künstlergruppe, zu der neben ihnen Joe, der Freund der Familie, und ein anderes befreundetes Paar gehören, das ebenfalls einen kleinen Sohn hat. Diese Familie wohnt direkt in der Nachbarwohnung, und auch das Atelier der Gruppe befindet sich im gleichen Haus. Das folgende Zitat entstammt einem frühen lokalen Zeitungsartikel über die Künstlergemeinschaft: »Es gibt keine klaren Grenzen, […] schon gar nicht zwischen Kunst und Wirklichkeit. In starren Systemen zu denken, bringt einen nicht weiter, meint das Künstler Kollektiv […]. Die äußerst unterschiedlichen Bilder […] fangen den Betrachter ein und verursachen Beklemmung. Manche Werke sind so real, dass es weh tut […]. Andere Bilder sind von alptraumartiger Schauerlichkeit, zeigen Menschen mit verzerrten Gesichtern und Kartoffelnasen, grüne Flüssigkeit im Mund. Was man den Werken zum Glück nicht anmerkt: Die fünf Künstler glauben an Gott, leben monogam, haben Kinder, konsumieren keinen Alkohol, keine Zigaretten und keine anderen Drogen. Das war mal anders. Aber alle fünf waren einsam, unzufrieden und bekamen künstlerisch nichts zustande. Weil sie von sich aus eher entscheidungsunfähig waren, klammerten sie sich dankbar an das weltweite Krisengefühl nach dem 11. September 2001 […]. Als die Welt dann doch stehen blieb, beschlossen die fünf, ihr Leben neu zu gestalten. Kunst und Gemeinschaft haben seitdem höchste Priorität. Was dem entgegensteht wird unterlassen. Noch die persönlichsten Entscheidungen werden gemeinsam getroffen. Jedes Kunstwerk aus der Kommune wird ausschließlich mit […]« dem Gruppennamen signiert.105 Mit ihren Arbeiten haben die Künstler inzwischen auch international zunehmenden Erfolg. Claudio interessiert sich während des gesamten Interviews sehr für das technische Equipment und führt damit wiederholt Experimente durch. Er schreit in das Mikrofon hinein, nimmt es teilweise wie in einer Fernsehsendung in die Hand und probiert verschiedene Positionen aus. Seine zahlreichen Erzählungen sind dabei in weiten Teilen sprachlich gestaltet. Er macht Pausen vor spannenden Stellen, redet mal langsam und betont traurig, mal schnell und aufgeregt.
105 Die Quelle dieses Zitats wird aufgrund der notwendigen Anonymisierung nicht angegeben.
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5.3.2 Interaktionsstruktur und individuelle Habitusformation Das Protokoll beginnt wie folgt: I: wie alt bist du eigentlich genau C: ich binn vor’n paar tagen neun geworden I: mh, herzlichen glückwunsch nachträglich C: danke I: (lacht). und claudio mit nachnamen, wie heißt du mit nachnamen C: Graf wie die Grafen I: (lacht) schön . so meine erste frage is so’n bisschen, äh da würde ich dich bitten ob du so’n bisschen erzählen kannst . und zwar erzählen erz-/interessier ich mich so für das leben von kindern aus […] (Stadtteil) . und es wär toll wenn du dich so’n bisschen erinnern könntest wie du, groß geworden bist wie du, also als du ganz klein warst, als du geboren wurdest, und wie dein leben dann, ähm, so, verlaufen ist eigentlich bis heute, was so passiert ist wenn du noch so ungefähr weißt was so war vorm kindergarten, kindergarten, und dann irgendwann schule . kannst du n bisschen so erzählen C: ja (lautes einatmen), also (schluckt) als ich geboren worden bin (lautes einatmen) ((ha)) Die unmittelbare Frage nach dem Alter macht es wahrscheinlich, dass auch hier eine Interaktion vorausgegangen ist. Darüber hinaus gibt es wahrscheinlich bestimmte Rahmenbedingungen, aus denen die Interviewerin das ungefähre Alter ihres Gesprächspartners entnehmen kann. Sie möchte es aber nun »genau« wissen. Da es sich in diesem Fall um ein Kind handelt,106 ist die Frage nach dem genauen Alter in der Regel keine Grenzüberschreitung, denn es ist wahrscheinlich, dass Kinder sich über jedes hinzugewonnene Lebensjahr freuen, bzw. die Geburtstagsfeier als solche als freudiges und spannungsvolles Ereignis der voranschreitenden Lebensgeschichte begrüßen, bei dem sie selber im Mittelpunkt stehen. Dennoch kann die Frage nach dem Alter auch für das Kind unangenehm sein, sollte dieses z.B. nicht zu den gegebenen Rahmenbedingungen passen – wenn das Kind z.B. zu jung ist für einen bestimmten Film oder in einem Kurs, der eigentlich für eine andere Altersgruppe angelegt ist. Claudio gibt auf die Frage jedoch eine sehr konkrete Antwort in der ersten Person. Er macht keine größeren Pausen und scheint auch darüber hinaus keine 106 Wie in den Ausführungen zur Forschungsmethode beschrieben (S. 118), wird auch in diesem Fall der Rekonstruktionsprozess stark verkürzt dargestellt.
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Vorbehalte gegenüber einer fortschreitenden und sogar vertiefenden Interaktion mit der Interviewerin zu haben. Da er ohne Umschweife mit der Aussage (»ich binn vor’n paar tagen neun geworden«) seinen erst kürzlich gewesenen Geburtstag thematisiert, muss er im Folgenden mit einer reziproken Reaktion, der Gratulation, der Interviewerin rechnen. So kann in einer ersten Lesart vermutet werden, dass er die Interviewerin durch die Aussage, dass sein Geburtstag »vor’n paar tagen« gewesen ist, selbst noch einmal auf die besondere biografische Bedeutung dieses Tages hinweisen möchte. Durch die implizite Thematisierung des Geburtstags als besonderen Tag würde er so zum einen zeigen, dass er keine Schwierigkeiten hat, die mit diesem Akt zusammenhängende besondere Aufmerksamkeit und Anerkennung seiner Person anzunehmen, ja, er würde diese sogar regelrecht von der Interviewerin einfordern. Eine solche individuelle Verbesonderung erschiene ihm dann in Korrespondenz mit seinem Selbstbild gerechtfertigt. Als zweite Lesart kann jedoch festgehalten werden, dass Claudio durch die sehr konkrete und informationsreiche Wendung »vor’n paar tagen« auch ausschließlich der Frage der Interviewerin nach dem ›genauen‹ Alter entsprechen könnte. Wie angenommen, erbringt die Interviewerin in der folgenden Sequenz die Gratulation und Claudio antwortet daraufhin mit einem schlichten »danke«. In dieser zweiten Sequenz Claudios ist nun zum einen eine sehr erwachsene und formale Haltung enthalten, die darin zum Ausdruck kommt, dass er mit dem Gratulationsritual in seiner Gegenseitigkeit vertraut zu sein scheint und es sicher und ohne Umschweife anwenden kann. Im Anschluss an Claudios erste, eher informationsreiche Reaktion, die in einer ersten Lesart auf eine kindliche Bereitschaft, über seinen Geburtstag sprechen zu wollen, schließen ließ, wirkt dieses schlichte »danke« eher formell und steht damit im Kontrast zu der Einforderung individueller Anerkennung. Im Anschluss an die zweite Lesart könnte sich dagegen eine Kohärenz in der korrekten Ausführung bezüglich der Fragen der Interviewerin und schließlich der Anforderungen der nun zum Teil ritualisierten Interaktion zeigen. Zu dieser zweiten Lesart steht im Folgenden jedoch das Lachen der Interviewerin im Kontrast. Denn wenn Claudio hier nur adäquat reagieren würde, dann gäbe es keinen Grund für das wahrscheinlich aus einer Irritation herrührende Lachen. Wodurch entsteht aber diese Irritation? (1.) Zum einen ist es möglich, dass der Wechsel innerhalb der Aussagen die Interviewerin überrascht. Sie wird zur anerkennenden Interaktion herausgefordert, dieser Raum wird dann aber durch das formale »danke« in der nächsten Sequenz gleich wieder geschlossen. Das Ritual ist beendet. Das Lachen könnte dann Ausdruck einer Unsicherheit bezüglich der nun angemessenen Reaktion sein: Ist es nun ein formaler Akt oder möchte Claudio weiter über seinen Geburtstag sprechen. (2.) Zweitens könnte es sich ausschließlich um eine besondere
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Form von Anerkennung, eine Sympathiekundgebung handeln damit würde die Interviewerin selbst deutlich in der ersten Lesart der Anerkennungseinforderung bleiben und die formale Schließung übergehen. Verfolgt man (3.) die Lesart der formalen Kohärenz, wäre auch dann das Lachen eine Reaktion auf den Kontrast zwischen dem neunjährigen Jungen und dem exakten und selbstsicheren Einhalten formaler Interaktions- und Höflichkeitsregeln. In diesem Fall würde das Lachen gleichzeitig auf die sich hier tendenziell auflösende Differenz zwischen Kind und Erwachsenem aufmerksam machen, die dadurch wiederum von der Interviewerin als nicht hintergehbare reetabliert würde. Allen Lesarten gemeinsam ist damit eine Unschärfe zwischen Formalisierung und diffuser Informalisierung. Die Interviewerin, die hier über gewisse Regeln zu verfügen scheint und diese auch zu etablieren versucht, scheint von den changierenden Aussagen Claudios irritiert. Die Antwort auf die Frage nach Claudios Nachnamen offenbart im Folgenden eine ähnliche Struktur. Diese ist ebenfalls überaus konkret und liefert zu der Nennung des Namens unaufgefordert eine Verständnishilfe, die insbesondere die genaue Schreibweise klärt. Die Genauigkeit könnte auch an dieser Stelle wieder mit der Eingansfrage der Interviewerin in Verbindung gebracht werden, dennoch zeigt Claudio hier eine reife formale Voraussicht, die vermutlich auch an dieser Stelle erwachsene Kommunikations- und Verhaltensmuster reproduziert. Die Interviewsituation nähert sich somit einer auf korrekte formale Angaben reduzierten Situation (einem Verwaltungsakt, einem Antrag bei einer Behörde etc.). Das folgende Lachen der Interviewerin changiert schließlich auch wieder zwischen Anerkennung und irritierender Belustigung über diese Inszenierung formaler erwachsener Verhaltensregeln. Es kann also vermutet werden, dass Claudio die Interviewsituation zunächst als eine Situation redefiniert, die von formaler Korrektheit geprägt ist und von ihm die Übernahme erwachsener Rollenmuster verlangt. So ist er bemüht, sein Verhalten dementsprechend zu modifizieren – trotz der Irritationen, die dieser Habitus bei der Interviewerin erst einmal auslöst. Im Gegensatz zu den beiden anderen Fällen wird die Interviewerin in ihrer nun folgenden Formulierung der Erzählaufforderung nicht unterbrochen. Aufgrund der vorangegangenen Auskunftsbereitschaft kann weder ein Desinteresse noch eine latente Verweigerung von Claudio angenommen werden. Stattdessen wartet er die abschließende Erzählaufforderung ab, um dann zunächst ganz deutlich zu machen, dass er dazu bereit und in der Lage ist, nun eine von der Interviewerin eingeforderte biografische Erzählung zu beginnen (»ja«). Daraufhin übernimmt er direkt eine aktive und autonom strukturierende Position (»also«).
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Die unproblematische Einnahme der erzählenden Haltung wird jedoch in dieser ersten Sequenz durch sozusagen leibliche Zeichen latent gebrochen: Claudio atmet zweimal laut hörbar ein und muss an einer Stelle erst einmal deutlich schlucken, bevor er weiterreden kann. Die Bewältigung des Körpers (Atmung, Lautsprache), die zu einer gelingenden sprachlichen Mitteilung des Selbst notwendig ist, tritt hier latent in den Vordergrund. Es scheint, als müsste Claudio diese Körperfunktionen zunächst unter Kontrolle bringen, um seine Intention umzusetzen, die biografische Erzählung zu beginnen. Diese hereindrängende Leiblichkeit könnte auf eine problematische Diskrepanz zwischen seinem vermutlich an Erwachsenen und den von diesen vermeintlich ausgehenden Rollenerwartungen orientierten individuellen Habitus und seiner leiblichen Reife verweisen. Die leiblichen Zeichen wären dann sozusagen eine körperliche Manifestation der Spannung oder sogar der Überforderung, die aus der Übernahme von hohen Rollenerwartungen resultiert, die im Kontrast zu seinem tatsächlichen Alter stehen. Dennoch hindern ihn diese leiblichen Gesten nicht an der Verfolgung seines Ziels. Er scheint nicht nachhaltig verunsichert, sondern setzt seine Erzählabsicht fort. Im weiteren Gespräch verliert sich diese latente Dominanz der hereindrängenden Leiblichkeit.
5.3.3 Individuelle Fallstruktur im Kontext elterlicher Habitusformation 5.3.3.1 Familiäres Milieu Gleich zu Beginn des Interviews mit Claudio wird schnell offensichtlich, dass er von Geburt an in einem alternativen Lebensmilieu aufwächst. Die ersten fünf Jahre seines Lebens verbringt er zusammen mit seiner Mutter und seinem ersten Vater zunächst in einer Wagenburg: »ja (lautes einatmen), also (schluckt) als ich geboren worden bin (lautes einatmen) ((ha)) lebte ich halt irgendwie am ende der stadt so an so’m land, stadt, und das war ne wagenburg«. Aber weder der Ort, an dem diese Wagenburg liegt, noch das Leben in derselben scheinen tatsächlich fassbar zu sein (»lebte ich halt irgendwie«). Die Wagenburg wird so in der Einstiegserzählung als ein mystisch fiktiver Ort markiert, konkrete Daten oder normalisierende Alltagserfahrungen werden auch im Folgenden kaum thematisiert. Es ist ein Leben »am ende der stadt«. Nicht in der Stadt und auch nicht auf dem Land, und somit kein einfacher Gegenentwurf zur dominierenden Gesellschaftsordnung, sondern ein Ort, der irgendwie dazwischen liegt. Ein Ort, der sich wahrscheinlich unterschiedlicher Anleihen bedient, aber letztendlich dadurch eigene Regeln, Gesetze und Begebenheiten hervorbringt. Die Lebensweise, in der sich Claudio dort wiederfindet, bedeutet für ihn jedoch eine maximal mögliche kindliche Freiheit in einem quasi
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immer zur Verfügung stehenden Raum für spielerische Abenteuer: »da kann man auf’m platz einfach rumrennen, (I: mhm) und da sind halt viele kinder mit denen kannst du sp- kann man spielen, (I: mhm) und, dann … es sind halt viele bäume da, und viel natur und so«. Entsprechend schwerwiegend ist der Verlust dieses in seiner Wahrnehmung vollendeten Lebensbereiches, der aus der Trennung seiner Mutter von ihrem damaligen Lebensgefährten resultiert. Dabei scheint für Claudio sein erster Vater mit jenem besonderen Ort des Aufwachsens eng verwoben zu sein. Die Trennung der Eltern wird so, über den Verlust eines kontinuierlichen Kontakts zum Vater hinaus, zu einem Verlust des Ortes und somit zu einem radikalen Wandel der Lebenswelt. Aufgrund der Konflikte unter den Erwachsenen, die eventuell ihren Grund in den darauf folgenden differenten alternativen Lebensentwürfen haben, gelingt es Claudio nach der Trennung nicht, einen stetigen Kontakt zu der Wagenburg und damit auch zu seinem ersten Vater zu halten. Dieser scheint sich wiederum nicht um einen regelmäßigen Kontakt zu Claudio – über dessen Besuche in der Wagenburg hinaus – zu bemühen. Die zum Zeitpunkt des Interviews aktuelle Situation, nicht in die Wagenburg zu können, bedeutet von daher zum einen den krisenhaften Verlust und Wandel einer für ihn idealen Lebenswelt und gleichzeitig eine krisenhafte Diskontinuitätserfahrung bezüglich der Vaterbeziehung. Die Besonderheit von Claudios familiärer Rahmung besteht gegenüber dieser Krisenkonstellation nun aber darin, dass die Künstlergemeinschaft, in der er aktuell mit seiner Mutter lebt, anscheinend alternative Werte und Normen bezüglich des Umgangs mit solchen Erfahrungen bereithält. Die Gruppe scheint dabei wie gesagt durch das Bestreben geprägt zu sein, das alltägliche Dasein einer von der Kunst dominierten Lebensform anzunähern, also das Leben zur Kunst zu machen. Die Mitglieder der Gruppe finden ihre alternativen Bewältigungsstrategien gegenüber den eigenen, krisenhaft besetzten herkömmlichen Lebensentwürfen in verstärkter künstlerischer Tätigkeit und stabilisierenden Gruppen- bzw. Freundschaftsbeziehungen. So lösen sich innerhalb der Künstlergruppe insbesondere familiäre Bindungen auf. Diese werden nicht mehr an verwandtschaftliche Verhältnisse gekoppelt und können folglich offenbar durch Freundschaftsbeziehungen ersetzt werden: »I: hast du noch geschwister; C: ähm, zwei aber das sind nich richtig meine geschwister, ähm die sind halt . also die wohnen jetzt bei mir, also nur der eine, und wir ham uns halt ausgesucht, dass wir brüder sind«. Diese im familiären Milieu angelegte Öffnung ›traditioneller‹ Familienstrukturen zeigt sich ferner daran, dass Claudio freimütig mit einer weiteren biografischen Besonderheit umgeht, dem Umstand, dass er nicht genau weiß, wer sein leiblicher Vater ist: »also wir wissen nich wer mein papa is, es gibt halt einen papa und noch einen (lächelt beim sprechen)«. Insgesamt spielen damit, wie in der biografischen Notiz bereits kurz
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erwähnt wurde, drei »Papas«, darunter zwei ›soziale‹ Väter, eine Rolle. Ein Papa, mit dem er die erste Zeit in der Wagenburg verbringt, und der nun neue Lebensgefährte der Mutter. Es kann geschlussfolgert werden, dass jener dritte Mann (»und noch einen«) ein zweiter möglicher leiblicher Vater Claudios ist, der aber in keiner sozialen Beziehung zu ihm steht.107 Es zeigt sich, dass auch Claudio bezüglich der Definition der Vaterbeziehung die alternativen Werte und Familienformen der Künstlergruppe in Teilen übernimmt. Denn in einer folgenden Sequenzstelle wird nun sein Verhältnis zu dem aktuellen Lebensgefährten der Mutter als austauschbare Partnerbeziehung markiert: »mit dem papa dem ich jetzt zusammen bin«. Indem er hier quasi die Perspektive der Mutter einnimmt, wird er zum Beziehungsakteur einer Vaterbeziehung, die sich strukturell einer modernen ›seriell monogamen‹ Paarbeziehung annähert. Auch dort kann man zu unterschiedlichen Zeitpunkten mit unterschiedlichen Personen ›zusammen sein‹. Die Beziehung zu seinem derzeitigen ›Papa‹ erscheint so als temporäre Nähe, die potenziell aufkündbar und ersetzbar bleibt und daher im Grunde die stetige Gefahr eines erneuten Endes der Beziehung in sich birgt. Dadurch, dass Claudio diese variierten Bindungsformen der Künstlergruppe als Ersatz für verwandtschaftliche Familienbeziehungen übernimmt, findet er jedoch einen von der Gemeinschaft angebotenen Weg, die krisenhafte Erfahrung der Diskontinuität in der Vaterbeziehung zu unterdrücken. Denn der eigentliche Papa ist immer derjenige, mit dem er im Moment zusammen ist. Gleichzeitig impliziert diese übergreifende Deutung der Gemeinschaft, dass Claudio den Verlust des ersten Papas offiziell nicht betrauern darf. Darin enthalten wäre dann nämlich eine Ablehnung der gemeinschaftlichen Werte und eine Zurückweisung der Person, die im Moment die Vaterrolle ausfüllt. So betont er die Vorzüge seines ›neuen‹ Vaters und beschreibt seine Geburtstagsfeier, die in der Einstiegserzählung einen großen Raum einnimmt, resümierend als »trotzdem schön«, obwohl das Mädchen aus der Wagenburg, das er eingeladen hatte, nicht gekommen ist: »mit dem papa dem ich jetzt zusammen bin, der spielt halt mit mit mir immer playmobil, (…) und, ich hatte halt letztens geburtstag, (spricht langsamer weiter, klingt traurig) und da . hab ich halt, n mädchen da auein-, auch eingeladen, und dann war da sommerfest und dann, is sie beim sommer/sommerfest geblieben . (I: ach so, mhm) und da is sie nicht gekommen, und ähm . war trotzdem schön, denn, es waren trotzdem viele kinder da auch aus der klasse«. Es bleibt die Frage, ob die alternativen Familienformen nachhaltig diese Brüche und impliziten Gefährdungen der engen sozialen Beziehungen überbrücken können. 107 Der Umstand, dass vonseiten der Mutter offenbar kein Interesse besteht, die Vaterschaft eindeutig zu klären, ist hier ein zusätzlicher Verweis auf die Akzeptanz nicht verwandtschaftlicher Verhältnisse als Familienbeziehungen.
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Gleichzeitig wird hier deutlich, dass durch eine mögliche Abwendung Claudios von den Werten und Normen der Gruppe die biografische Relevanz seiner Erlebnisse eine ganz andere Gestalt und Tragweite erhalten könnte, und dass darüber hinaus die Absonderung von der Gruppe die Trennung von den Personen, die dieser angehören, in sich birgt. Denn die Familie wird eben nicht über Verwandtschaftsverhältnisse zusammengehalten, sondern über Freundschaftsbeziehungen, die sich um eine spezifische Weltanschauung gruppieren. Entsprechend dem Versuch der Gemeinschaft, eine alternative Lebensform zu etablieren, in der dominante gesellschaftliche Rahmungen eine untergeordnete Rolle spielen, scheinen die Eltern insbesondere in Bezug auf die schulischen Leistungen, auf Claudio intentional keinen Druck ausüben zu wollen. Stattdessen möchten sie ihm zeigen, dass er ihnen unabhängig von seinen Leistungen eine ›Freude‹ ist: »I: äh wie wichtig ist denn deinen eltern die schule also äh sagen deine eltern dass es wichtig ist dass du zur schule gehst und so; C: ja; I: und, wie sagen die das so; C: die finden halt wichtig dass ich de dass ich was lerne, (I: mhm) und dass ich gut bin, (I: mhm) also mein papa hat gesagt entweder ich schreib im diktat ne eins, oder ne zehn, (I. lacht) oder ne sechs halt; I: und wie findest du das wenn er sowas sagt; C: wie, na ja ich find’s halt lustig, mein papa hat, war nämlich früher schlecht in der schule, (I: mhm) und deswegen ist er halt neidisch dass ich gut bin in der schule; I: ah das ist ja toll, und was würde dein papa sagen wenn du mal vielleicht auch mal ne schlechte note bekommst; C: mmmh, ah da er sagt immer dann würde er sich freuen; I: ach ja (lacht); C: aber das stimmt halt nich eigentlich, (I: mhm, mhm) das sagt er dann immer, weil er immer schlecht war in der schule, deswegen will er auch dass ich mal ne sechs schreibe oder ne fünf (I: lacht); I: aber den gefallen tust du ihm nicht, mhm . und wenn du gute noten bekommst was sagen dann deine eltern; C: ähm, die freuen sich«. Die familiäre Anerkennung scheint auf einer ersten Ebene damit nicht von schulischen Leistungen bestimmt, sondern stattdessen eher an eine individuelle Distanz zum schulischen Notensystem gebunden zu sein. Dieses kann entweder dadurch entkräftet bzw. ad absurdum geführt werden, wenn man sich ihm verweigert und dadurch dessen Relevanz vollkommen in Frage stellt, wie es sich in der Travestierung (»ne zehn«) der schulischen Notengebung durch den Vater ausdrückt, oder indem man sich ausschließlich an der obersten Leistungsgrenze bewegt, und dadurch ebenfalls zeigt, dass die angelegten Maßstäbe in dem speziellen Fall nicht greifen und damit keine individuelle Relevanz besitzen. Die Variante der Verweigerung des Schulischen führt dabei wie im Falle des Vaters zu schlechten Leistungen. Diese Option wird nun latent als nicht allzu erstrebenswert präsentiert, denn sie bedingt neidvolle Empfindungen gegenüber denjenigen, die das System unproblematisch und unbeschädigt durchlaufen. Insofern nimmt Claudio die For-
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derungen des Vaters nach schlechten Leistungen nicht ernst, denn implizit steckt in dieser vorgegebenen Freude über schlechte Leistungen eine besondere Anerkennung und Wertschätzung der guten Leistungen Claudios, indem der Vater ihm gegenüber eine untergeordnete (neidvolle) Position einnimmt. Claudio wird so auf der latenten Sinnebene in die Rolle des besonders anerkennungswürdigen schulischen Leistungsträgers der Familie überführt. Der diesbezüglich idealisierte Habitus ist jedoch eine distanzierte Leichtigkeit gegenüber den schulischen Anforderungen, der in ohne besondere Anstrengung zu erreichenden guten Noten seinen Ausdruck findet, dem damit aber eine latente Leistungsorientierung inhärent bleibt. Hier zeigen sich bereits die Grenzen der ästhetischen Orientierung des familiären Milieus. Denn eine mußevolle Distanz zum Ernst des Lebens scheint nicht in allen Lebensbereichen herstellbar und wünschenswert zu sein. So ist auch bezüglich der konkreten Lebensgestaltung der Künstlergemeinschaft auffällig, dass z.B. für die Kinder kindgerechte Lebensumgebungen geschaffen werden, die sich schon beinahe an den Idealen der Milieus der gesellschaftlichen Mitte orientieren: »C: ja, mit hof, und der hof war eigentlich n hundeklo am anfang, (I: lacht) und wir ham den dann mit rasen und so schön gemacht«. An solchen Stellen erscheinen die radikalen Neubewertungen der Gemeinschaft erneut tendenziell gebrochen, und es entsteht der Eindruck, dass die an einer Ausweitung künstlerischer Tätigkeit orientierte alternative Lebensform, die ihr Ziel in einer Verschmelzung von Kunst und Leben hat, in der alltäglichen, nicht realitätsentlasteten Lebenspraxis nicht umfassend umgesetzt wird bzw. umgesetzt werden kann. Die Lebensweise der Gruppe gerinnt damit in Claudios Beschreibungen teilweise zur Inszenierung des ›Anderen und Besonderen‹. Da die Grenzüberschreitung also strukturell nicht umfassend eingelöst wird, geht es nur darum, die ästhetischen Bereiche im realen Leben möglichst weit auszudehnen. Insofern kann in Bezug auf Claudio davon gesprochen werden, dass er in einem ästhetisierten Milieu aufwächst, das seine Kunstorientierung nicht umfassend verbürgt und deshalb, in bestimmten Lebensbereichen, wie z.B. der schulischen Leistungsorientierung und dem Umgang mit den Kindern, latent auf andere Bewältigungsstrategien und Erfahrungsmodi bezogen bleibt. 5.3.3.2 Individuelle Fallstruktur Claudio zeigt in dem gesamten Interview eine besondere Erzählbereitschaft und auch bereits ausgeprägte Erzählkompetenz. Dabei stellt er sich selbst in der Regel ins Zentrum der Darstellungen. Er ist Entscheidungsträger, der Akteur und oft auch der Held der Schilderungen. Seine bevorzugte Strukturierungsform ist das assoziative Erzählen. Er kommt von einer Geschichte zur anderen, wenn ihn eine Begebenheit oder ein Gegenstand an ein anderes Erlebnis erinnert. Die wiederholt
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vorkommenden Versuche der Interviewerin, diese Erzählungen zu unterbrechen bzw. abzukürzen, haben keinen nachhaltigen Erfolg, denn Claudio gerät immer wieder, insbesondere bezüglich seiner Erlebnisse im spielerischen Bereich, in einen solchen assoziativen Erzählfluss. Insgesamt zeichnen sich Claudios biografische Präsentationen dadurch aus, dass außer der Schwierigkeit des Kontakts zum Vater und zu der mystischen Welt der Wagenburg kaum problematische oder krisenhafte Erfahrungen thematisch werden. Claudio scheint vielmehr durch eine beständige Suche nach Spielen bzw. Abenteuern von seinen alltäglichen Lebensereignissen – in der Schule, im Hort und zu Hause – in den Bann gezogen zu werden. Er berichtet ausführlich und wiederholt über Erlebnisse beim Playmobil spielen, beim Graben im Garten, als Zuschauer und auch teilweise Mitgestalter der Arbeiten der Eltern etc. Auf der latenten Sinnebene zeigt sich jedoch, dass diese habituelle Spiel- und Abenteuerorientierung, in der Claudio sich als Held und zentraler Akteur imaginieren kann, durch jene Selbstspannung und Krisenproblematik motiviert ist, die sich aus den innerfamiliären Beziehungen ergibt. Denn Claudio kann aufgrund der veränderten familiären Beziehungsdefinitionen das brüchige Verhältnis zu seinem ersten Vater, und den leidvollen Verlust des Kontakts zur Wagenburg nicht betrauern, geschweige denn einfordern. Stattdessen ist er quasi beständig bemüht, diesen Verlust in seiner aktuellen Lebensumgebung durch eine stetige Suche nach Orten des Spiels und der Fiktion zu kompensieren, die für ihn anscheinend eine Annäherung an die kindliche Erfahrungswelt der Wagenburg darstellen, zu der er aber in der Realität keine ausreichende Kontinuität herstellen kann: »und dann habe ich letztens mit ner freundin, also mit marie, die wohnt auch im gleichen haus, […] und jetzt ham wir irgendwie was noch vom krieg . (I: echt?) vomm zweiten weltkrieg ähm, ausgegraben . (I: mhm) und wir wollen des nich ausgraben, weil sonst müssen wir steine, am, vor’m haus locker machen und wegnehmen, (I: ach so, mhm) damit wir’s rauskriegen, aber jetzt haben wir da weiter gegraben . und da haben wir ganz viel metall . (I: echt?) altes metall rausgeholt«. Jene Verlagerung der Lebenswelt Wagenburg ins Exterritoriale und Mystische hat ihren Grund wahrscheinlich gerade darin, dass Claudio eine Wiederherstellung von Nähe in der Realität nicht einfordern darf. In den spielerisch fiktiven Welten gelingt ihm jedoch diese Annäherung und somit in Teilen eine Bewältigung seiner zentralen Problematik, die innerhalb des familiären Milieus keine Anerkennung findet und deshalb dort auch kaum thematisiert bzw. bearbeitet werden kann. Aus dieser Lagerung erklärt sich dann auch Claudios Tendenz, sich in den Erzählungen über seine Abenteuer zu verlieren und die tatsächliche Lebensgeschichte eher am Rande und meist erst auf Aufforderung zu thematisieren.
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Interessanterweise kann Claudio in vielen Lebensbereichen diese spielerisch fiktiven Welten herstellen und damit jene notwendigen ausgleichenden Erfahrungen machen. Wenngleich die Mutter nun mit Claudio und ihrem neuen Lebensgefährten in der Stadt lebt, werden auch dort zwar andere, aber ebenso alternative Lebensweisen umgesetzt. Claudios besondere Existenz innerhalb der Künstlergemeinschaft kommt also seiner zentralen Bewältigungsstrategie entgegen. Er mag das Unerwartete, das Überraschende und das Ungewöhnliche, was ihm in seiner Lebenswelt wiederum regelmäßig begegnet, und er findet auch hier eine interessante und außergewöhnliche Umgebung vor, die ihren eigenen Normen und Werten verpflichtet ist. Die Arbeit seiner Eltern ist für ihn anregend, denn sie bricht mit eingespielten Sehgewohnheiten und Wahrnehmungserwartungen: »und, immer da malen die dann die pinsel an, damit es holzfarbend wird, malen sie die pinsel blau an, (I: ach so) damit’s holzfarbend wird, (I: mhm) und dann ham se ne kamera aufgestellt die negativ filmt, (I: mhm) aber die filmt das dann nich irgendwo rauf, die filmt da kann man sich dann selber in so’m fernseher sehen (I: mhm), und dann war ich da mit marie und .. das war rich- richtig lustig weil ähm, na dann konnten wir uns negativ sehen«. Darüber hinaus begeben sich seine Eltern und die Freunde unproblematisch mit ihm in seine Phantasiewelten hinein und lassen dort zusammen mit ihm die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verschwimmen: »I: und wie findest du das dass so viele leute dann bei euch wohnen und dass so viele leute kommen und so; C: das find ich schön weil ähm . mit dem kleenen kann ich immer spielen von der nachbar,wohnung und ähm . aber . die erwachsenen spielen halt auch mit mir, und joe spielt dann auch mit mir, meine mama spielt manchmal auch«. Innerhalb dieses Falles scheinen sich somit zwei Bewältigungsstrategien krisenhafter familiärer Diskontinuitätserfahrungen zu überschneiden: zum einen jene Abenteuerorientierung, die die Welt der Wagenburg in Claudios aktuellen Erfahrungen wieder zu beleben scheint, und zum anderen eine versuchte Übernahme der alternativen Werte und Regeln der erwachsenen Künstlergemeinschaft. Diese Gemeinschaft unterstützt durch ihre Lebensweise einerseits die Abenteuerlust und bietet andererseits spezifische Bewältigungsmuster für den Verlust des Vaters und das instabile familiäre Zugehörigkeits- und Verbundenheitsgefühl an. Durch die Orientierung an den Erwachsenen kann die Problematik, die sich aus dem Zugehörigkeitsgefühl zu zwei unterschiedlichen Lebenswelten ergibt, jedoch nicht grundständig bearbeitet werden, sondern sie wird lediglich durch die Anpassung an einen Lebensstil überdeckt. Aufgrund der ebenfalls grenzgängerischen bzw. ästhetisch orientierten Lebensweise der Eltern kommt es jedoch nicht zu einem eventuell zu vermutenden Widerspruch innerhalb der Bearbeitungsformen, sondern zu einer
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Vermischung zwischen Claudios habitueller Abenteuerlust und seiner Erwachsenen-Orientierung. Die spielerische Suche nach dem Unbekannten und die Bewältigung von Unerwartetem entsprechen strukturell der familiären Lagerung – dem Ausweiten realitätsentlasteter Räume durch eine verstärkte künstlerische Tätigkeit und einer korrespondierenden Variation der Lebensweise, durch die intendiert ist, die Grenzen zwischen Kunst und Leben verschwimmen zu lassen.108 Claudio übernimmt in seiner eigenen Suche nach Abenteuern damit die bereichsspezifische ästhetische Orientierung seiner Eltern, verbürgt vermutlich habituell aber gleichzeitig die Grenzen des Ästhetischen. Darüber, dass er in einem Milieu aufwächst, das sich insbesondere durch von einer anzunehmenden Norm differierende Ansichten, Werte und Regeln auszeichnet, scheint sich Claudio in Ansätzen bewusst zu sein. So versteht er es, aus den Irritationen, die die Erzählungen über seine Familie und seine Lebensumstände zum Teil auslösen, einen persönlichen Gewinn zu schlagen. Er geht souverän mit der Differenz um, »übersetzt« bestimmte Umstände und Haltungen, um sie für die Interviewerin verständlich zu machen, und macht sich auf diese Weise auch zu etwas Besonderem als Teil der verbesonderten alternativen Lebenswelt. Auch damit verbürgt er implizit die Lebensweise seiner Eltern. Entgegen dieser leicht reflexiven Differenz gegenüber der Lebensform der Gruppe kommt es teilweise aber auch zu einer problematischen Identifikation der Künstlergemeinschaft: »C: und dann hat Joe seine clean-münze vergessen, verloren; I: was ist das; C: ähm, also wir, wir trinken keinen alkohol, wir nehmen keine drogen und so, und dafür kriegt man halt bei einem a is son meeting, kennst du das, da geht man hin und erzählt, ähm immer wie es einem geht und so, (I: ah ja) und da kriegt man halt münzen, zum beispiel wenn man drei jahre clean is . (I: ach so) dann kriegt man irgendwie n chip oder ne münze (I: mhm) oder so«. Die starke Übernahme bzw. angestrebte Kongruenz mit dem von seinen Eltern erschaffenen alternativen Milieu führt also einerseits zu einer gelingenden Individuierung gegenüber denjenigen, die sich außerhalb der Gemeinschaft befinden, andererseits – und das zeigt der vorangestellte Protokollausschnitt deutlich – identifiziert sich Claudio hier mit einem Lebensstil, der auf Erfahrungen aufbaut und aus Erlebnissen hervorgegangen ist, die er mit seinen neun Jahren nicht teilen kann. Es erscheinen Lebensabschnitte 108 Da es Claudio auch in seiner aktuellen Lebenswelt so ausnahmslos gut gelingt, seine krisenhaften Lebensereignisse zu auszugleichen, kommt es, wie gesagt kaum zu einem Aufbrechen jener familiären Diskontinuität. Ein Hervordrängen der krisenhaften biografischen Erfahrungen kann für den Fall vermutet werden, in dem Claudio keine kompensatorischen Räume mehr zur Verfügung stehen, wenn er sich eventuell selbst aus den vorgegebenen Deutungen löst bzw. wenn er direkt mit Differenzerfahrungen gegenüber der Künstlergemeinschaft konfrontiert wird, wie es sich am Ende der Falldarstellung in den Auswertungen zum Kunstunterricht zeigen wird.
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und krisenhafte Lebensereignisse als bewältigt, die, wenn sie für ihn überhaupt biografische Relevanz erhalten, noch vor ihm liegen müssen. Hier wiederholt sich die habituelle Diffusität zwischen Kindheit und Erwachsensein, die bereits zu Beginn des Interviews rekonstruiert werden konnte. Die Auflösung der Familienstrukturen in der Künstlergruppe, insbesondere die latente Auflösung der Generationenbeziehungen, birgt hier die Gefahr einer strukturellen Überforderung des kindlichen Selbst. Dennoch scheint Claudio nur dann zu der Gruppe vollständig dazugehören zu können, wenn er deren Werte und Regeln entschlüsselt und übernimmt. Die habituelle Erwachsenenorientierung ist dann neben der dort angebotenen Lösung für eigene biografische Diskontinuitätserfahrungen zusätzlich eine notwendige und zentrale Bewältigungsstrategie gegenüber einer immer möglichen Aufkündigung der Gruppenbeziehungen, die nicht wie verwandtschaftliche Verhältnisse auf Dauer gestellt sind. Sie geht wahrscheinlich, wie sich in der Einstiegssequenz gezeigt hat, mit einer ausgeprägten Entschlüsselungsintention und -kompetenz gegenüber erwachsenen Rollenmustern und Rollenerwartungen einher. Indem Claudio diese Deutungen übernimmt, versucht er nämlich, sich die Anerkennung als gleichwertiges Mitglied innerhalb der Künstlergruppe zu sichern und so seine primären Beziehungen zu verstetigen. Das Abenteuerspiel wird dann über die konkrete Funktion, eine Nähe zu der Erfahrungswelt der Wagenburg herzustellen, zu einem Bereich, in dem diese habituell dominante Orientierung an den Erwachsenen zeitweise aufgegeben werden kann. Gleichzeitig entsteht dadurch jene strukturelle Analogie zu den ästhetischen Bewältigungsmustern der Künstlergruppe. Die Frage bleibt, ob die ausdefinierte gemeinschaftliche Rahmung ein individuelles Überschreiten der Entwürfe zulässt bzw. ermöglicht, wie sie im Grunde in Claudios Suche nach Abenteuern angelegt ist. Diese Differenz zwischen der Ideologie der Gruppe und potenziell möglichen differierenden individuellen Erfahrungen könnte in der Zukunft durchaus krisenhaft aufbrechen.
5.3.4 Fallstruktur der schulbiografischen Passung 5.3.4.1 Einschulung Bereits in den Erzählungen über seine Erlebnisse im Kindergarten wird deutlich, dass Claudio die Kompetenzen und Orientierungen, die er im familiären Milieu entwickelt, weitgehend gelingend in Gleichaltrigenbeziehungen und auch in seinem Verhältnis zu den Institutionen umsetzen kann. Aufgrund der hohen Bedeutung von Freundschaftsbeziehungen in der Künstlergemeinschaft gelingt es Claudio anscheinend mühelos, auch zu Gleichaltrigen enge Freundschaftsbeziehungen auf-
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zubauen, die jeweils über einen längeren Zeitraum anhalten, und deren ›Pflege‹ von den Eltern unterstützt wird. Dem Kindergarten wird rückblickend eine ähnliche Erfahrungsqualität zugeschrieben wie dem Hort, den er zum Zeitpunkt des Interviews nach der Schule regelmäßig besucht. Es faszinieren ihn auch dort die Übergänge und Grenzbereiche, z.B. zwischen den einzelnen Aufenthaltsräumen und zwischen den Gruppen, und er begibt sich dort ebenso bevorzugt in fiktive Erlebniswelten. Mit seinem besten Freund spielt er in der Regel »könig der löwen«. Darüber hinaus gehören zu seinem engen Freundeskreis noch ein Freund seines besten Freundes sowie ein kleinerer Junge. In dieser Beziehung zu diesem einige Jahre jüngeren Freund setzt Claudio nun seinen an Erwachsenen orientierten Habitus als Fürsorge-Orientierung um. Indem er hier wahrscheinlich die pädagogische Haltung der Erzieherinnen entschlüsselt, gelingt es ihm innerhalb der Institution, aus dieser leicht variierten Füllung seiner Erwachsenen-Orientierung einen positiven Anerkennungsgewinn zu ziehen sowie seine Bewältigungsstrategie weiterhin zu legitimieren und zu stärken. Die Verantwortung, die er übernimmt, wird zum einen von den Erwachsenen gewürdigt, zum anderen handelt es sich um einen Jungen, den ›alle Kinder gerne mochten‹, wobei es aber insbesondere ihm gelingt, eine besondere Beziehung zu ihm aufzubauen. Dies sichert ihm wiederum die Anerkennung der anderen Kinder: »C: und dann hat mich ’n kleiner, aus’m, kinderladen der war zwei als er in kinderladen gekommen is in unsere gruppe, und den mmochten alle kinder gerne, doch ähm, raavi des is mein freund aus’m kinder, laden gewesen wir, beide, ich und raavi wir ham immer mit dem gespielt, und deswegen hat der mich, der is jetzt vier geworden, (I: ach so) hat der mich eingeladen«. So deutet sich bereits in der Kindergartenzeit an, dass Claudio innerhalb der Institutionen vor allem seine Erwachsenen-Orientierung fortführen kann, was ihm wiederum eine besondere Anerkennung und Würdigung seiner Person einbringt. Bezüglich der Einschulung muss vorangestellt werden, dass Claudio diese, wie bereits beschrieben, in einer anderen Grundschule erlebt, in der er das erste Halbjahr der ersten Klasse verbringt. Im Gegensatz zu den Erfahrungswelten Kindergarten und Hort bleiben die Erlebnisse jener Einschulung jedoch sehr äußerlich. Dort scheint nichts stattgefunden zu haben, was Claudios Abenteuerorientierung entspricht und deshalb sein Interesse weckt. Stattdessen wird die Einschulung deutlich von dem familiären Erfahrungsraum dominiert: »C: ähm da habe ich halt ne schultüte bekommen, (I: mhm) da war so’n teil so’n rotes tuch drüber da konnte ich nich reingucken und die war so (betont) schwer, (I: lacht), konnt ich nich so lange halten, (I: mhm) und dann ham wir halt’n foto gemacht dann hab ich halt das
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klassenzimmer angeguckt und so (I: mhm) und dann bin ich wieder nach hause gegangen hab die schultüte aufgepackt und da war knete drin und die war so schwer«. Der von den Eltern gestaltete Inhalt der Schultüte beschäftigt ihn aufgrund seiner besonderen ›Schwere‹ während der gesamten Feierlichkeit und lässt die anderen Geschehnisse in den Hintergrund treten. Hier könnte die Hypothese abgeleitet werden, dass Claudios Suche nach Übergängen, Grenzbereichen und Überraschungen in der fachorientierten und an rationalisierten Leistungsanforderungen ausgerichteten Regelschule keine Entsprechung findet und es ihm daher schwer fallen muss, eine positive Haltung gegenüber den schulischen Aufgaben zu entwickeln bzw. sich über einen längeren Zeitraum auf diese einzulassen. Diese zu vermutenden Passungsschwierigkeiten sind jedoch nach Claudios Angaben nicht der Grund für den schnellen Schulwechsel. In der ersten Schule war es nämlich deshalb »doof«, weil sich dort die Kinder jeden Nachmittag »geprügelt« haben. Aber nicht das hohe Gewaltpotenzial an sich führt zu einer prinzipiellen Ablehnung dieser Schule, sondern die Haltung, die die ›zuständigen‹ Erwachsenen diesem gegenüber einnehmen: »C: da wars doof in der schule, weil da ähm . ham die sich halt fast jeden tag nur geprügelt irgendwie nach der schule, und dann sind wir zum hausmeister gegangen und haben ihm gesagt dass das so nich geht und dass er aufpassen soll und da hat er ge- hat der hausmeister gesagt das is ja nicht meine verantwortung, in der schule, (I: mhm) nach der, nach der, nach der schule in der (betont) schule, (I: ja) aber, haben die sich dann geprügelt (schnauft)«. Dass der Hausmeister die Verantwortung für die problematischen Geschehnisse zurückweist, obwohl sie in der Schule stattfinden, findet Claudio empörend. Diese eng auf Zuständigkeitsbereiche bezogene Bereitschaft, sich einzubringen und Verantwortung zu übernehmen, bricht zum einen deutlich mit den familiären Orientierungen, die er zu Hause gewinnt, denn dort in der gemeinschaftlichen Lebensweise scheint gleichsam jeder für jeden verantwortlich zu sein, und eine Anwesenheit in bestimmten Situationen verpflichtet auch zur Übernahme von Verantwortung und Handlungsbereitschaft. Auf der latenten Sinnebene zeigt sich darüber hinaus, dass an jener Schule Claudios Erwachsenen-Orientierung als Bereitschaft, sich auf die Seite der Erwachsenen zu schlagen und ebenso Verantwortung zu übernehmen, offenbar nicht unterstützt wird. Die Grenzen zwischen abgesteckten Zuständigkeitsbereichen, festen Rollenmustern und damit die Grenzen zwischen Kindern und Erwachsenen scheinen nicht hintergehbar. So wird Claudios Engagement bezüglich einer Eindämmung der Prügeleien nicht aufgegriffen und er findet dort damit nicht die Legitimation bzw. Annahme durch die Erwachsenen, die er für seine individuelle Bewältigungsstrategie benötigt. Die Geschehnisse zeigen aber auch, dass sich Claudio nicht uneingeschränkt den Ansichten von Erwachsenen anschließt, um
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deren Anerkennung zu bekommen, sondern dass er sich an bestimmten Werten und Normen orientiert, die er wahrscheinlich aus seinem familiären Milieu gewinnt. So lehnt er z.B. auch die Haltung seiner ersten Lehrerin ab: »C: weil die hat ziemlich oft gemeckert sofort, wenn jemand hausaufgaben nicht hatte hat der sofort n eintrag gekriegt«. Offensichtlich war auch dieser Unterricht von einer Orientierung an klaren Vorgaben und engen Maßstäben geprägt. Eine individuelle Anteilnahme bzw. eine individuelle Fürsorge für den Anderen, z.B. durch ein Befragen der Gründe für fehlende Hausaufgabe mit anschließenden individuellen Unterstützungsleistungen, gibt es dort nicht. Stattdessen sind die formalen schulischen Rahmungen dominierend. Claudio kann also seine Erwachsenen-Orientierung in den Institutionen des Bildungssystems nur dann gelingend einsetzen, wenn zum einen eine solche Rollenüberschreitung zugelassen wird und er zum anderen eine gewisse Passung zu den familiären Regeln und Werten herstellen kann. 5.3.4.2 Einstellung zur Bildung Bereits die Umstände von Claudios Schulwechsel versprechen ein deutlich harmonischeres Passungsverhältnis zu der neuen Schule. Denn obwohl die Eltern Claudio ohne Regelung der Formalitäten aus seiner ersten Schule herausnehmen, kann er nach einer Zeit der Verhandlungen recht kurzfristig dann doch noch die Schule offiziell wechseln. Die Familie und die neue Schule begehen hier offensichtlich einen fast gemeinsamen Akt des Hinwegsetzens über starre Regeln und Formalitäten zugunsten des Einzelfalls. Hier entsteht ein Bild von einer Schule, die auf Notwendigkeiten und Schwierigkeiten reagiert, die schnell und konsequent handelt und keine Angst hat, Verantwortung zu übernehmen. Die Normen und Werte, an denen dieses Handeln ausgerichtet ist, scheinen auch hier eine Haltung der ›geregelten Zuständigkeit‹ weit zu überschreiten. Obwohl die Schule in erster Linie kein Ort des Abenteuers ist, geht Claudio ausgesprochen gerne dorthin.109 Er findet die Schule sehr schön. Deutsch ist sein erklärtes Lieblingsfach. Dort hört er Geschichten und kann insbesondere im Schreiben von Aufsätzen sein erzählerisches Talent einbringen. Fachliches Pendant ist die Mathematik. Hier findet er wie vermutet (noch) wenig Anknüpfungspunkte für seine Abenteuerlust, allerdings scheinen ihn komplexere Rechenvorgänge dann in Teilen doch auch faszinieren zu können. Seine Schilderungen zeigen, dass er sich intensiv auf die Unterrichtsgegenstände einlassen kann. Er wird nicht von indivi109 Dies hat wohl auch den Grund, dass sich an die Schule die Zeit im Hort anschließt, in der er ungestört seine Abenteuer-Orientierung ausleben kann.
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duellen Problematiken oder einer ausgeprägten Aufmerksamkeit für seine Mitschüler abgelenkt. Hinzu kommt, dass er in dieser neuen Schule seine sozialen und habituellen Orientierungen ausleben kann und schulkulturell bestätigt findet. So findet er hier in der Regel jemanden, der seine fürsorgende Haltung unterstützt und so seine Angleichung an die Rolle der Erwachsenen in der Schule sichert, wodurch er auch auf die ihm als Schüler eigentlich verwehrten Zuständigkeitsbereiche Zugriff erhält: »C: da ist dann immer wenn ich einen brauche halt einer; I: ja . und brauchst du schon ab und zu mal jemanden; C: ja also nich nur für mich sondern auch für andere kinder, (I: mhm) zum beispiel selim einer aus meinem schülerladen, der geht auch in die zweite klasse jetzt, (I: mhm) der ähm . der hat halt so’n verstauchten arm gehabt, (I: oh je) und ist da und jemand hat ihn dann den berg runtergesch- schubst, so’n steinberg da, und dann ähm .. (I: mhm) und dann durfte ich nicht zu herrn … (schulleiter) rein; I: ach so ((zwei Wörter)); C: also ich konnte dann rein ich wollte dann hoch irgendwie nen lehrer holen weil auf’m hof keiner war da war halt keiner, und dann haben die mich wieder runtergeschickt; I: aha, und wie ging das dann weiter, C: und dann si- sind wir doch zu Herrn (schulleiter) gegangen«. Diese Angewiesenheit auf die Erwachsenen, sozusagen als ›Türöffner‹ für seine ErwachsenenOrientierung, führt dazu, dass Claudio auch in der Schule in der Regel die Ansichten und Haltungen der Lehrer verbürgt und entsprechend bemüht ist, die schulischen Anforderungen zu erfüllen. Dementsprechend sind diejenigen, die in der Schule aufgrund unangemessenen Verhaltens Ärger bekommen, in der Regel die ›Anderen‹. Auch in der Abwesenheit des Lehrers scheint er diese Orientierung an den geltenden schulischen Regeln nicht aufzugeben. Da er gleichzeitig in der Lage ist, enge Freundschaftsbeziehungen zu einzelnen Mitschülern aufzubauen und aufrechtzuerhalten, ist in dieser Bezogenheit auf die Lehrer bislang keine Gefährdung der Gleichaltrigenbeziehungen angelegt. Neben seiner Übernahme erwachsener institutioneller Rollenmuster nimmt Claudio aber auch die Schule als Vertreterin zentraler Orientierungen und Wertvorstellungen wahr, die er, wie gesagt, im familiären Milieu gewinnt und aufgrund seiner Angewiesenheit auf deren Bewältigungsmuster auch in der Schule nicht gänzlich außer Kraft setzen kann. So antwortet er auf die Frage, was er denn meint, was den Lehrern an der Schule wichtig ist, zwar damit, dass es zum einen darum geht, dass die Kinder etwas lernen, aber ebenso darum, dass es ihnen »gut geht« und sie nicht »so viele probleme« haben. In letzter Konsequenz gerät er über diese Orientierung interessanterweise nicht mit der institutionellen Schulbildung in Konflikt, denn trotz seines fürsorglichen Einsatzes für das Wohlergehen der Anderen, bleibt für ihn Schulbildung letzten Endes auf bestimmte abprüfbare Kompetenzen und Wissensbestände bezogen: »I: mhm, ähm .. kannst du dich so erinnern,
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vielleicht auch kannst du das beschreiben so oder vielleicht fällt dir auch ein beispiel ein aus der letzten zeit, wie die lehrer so dadrauf reagieren oder du kannst ja auch mal gucken ähm welcher lehrer wenn schüler etwas nicht wissen oder nicht können oder vielleicht gerade eine aufgabe nicht gelöst bekommen oder so wie reagieren die lehrer dann da so dadrauf; C: na ja, die wo- wollen halt erst mal versuchen dass sie’s doch hinkriegen des zu lösen, aber wenn sozusagen, ich nehm jetzt nur’n beispiel, zum beispiel ’n erstklässler weiß ei- eins plus eins nich, dann sagen die irgendwie, nd des musst du wissen, und dann, wenn dann kriegen die halt’n fehler, (I: mhm) weil sie’s nicht können, kriegen sie halt’n strich, machen sie sie selber, wenn sie die aufgabe nicht schaffen oder nich können, müssen se halt’n strich und gildet als fehler; I: ja, findest du das okay; C: .. weil so ein mal eins oder fünf mal eins, (I: mhm) is halt leicht«. An dieser Protokollstelle zeigt sich die harmonische Passung zwischen Claudios habituellen Orientierungen und der symbolischen Ordnung der kunstbetonten Schule. Auch dort findet sich neben der vordergründigen Ausrichtung am Einzelnen im Hinblick auf eine schulische Bewährung Aller der letztendliche Leistungsbezug. Die strukturelle Analogie besteht dabei in erster Linie zwischen der symbolischen Ordnung der Schule und der latenten Leistungsorientierung des familiären Milieus. Bei Claudio hingegen wird die bei seinen Eltern noch verdeckte Leistungsorientierung ein Stück weit freigelegt. Er entschlüsselt also die latente Sinnstruktur der Äußerungen seines Vaters über die Bedeutung und die Rolle schulischer Leistungen und fügt sich, indem er im Rahmen seiner Erwachsenen-Orientierung diese habituell übernimmt, harmonisch in die symbolische Ordnung der Schule ein, ohne sich in eine imaginäre Anspruchskultur zu verstricken.110 Aufgrund der hohen Passung zwischen seiner individuellen Habitusstruktur und der symbolischen Ordnung der neuen Schule besteht für Claudio nicht die Notwendigkeit, ein speziell schulisches Bewältigungsmuster auszubilden.
5.3.5 Fallstruktur der schulkulturellen Passung 5.3.5.1 Zwischen alternativem Lebensentwurf und den realen Rahmungen des Bildungssystems Claudios biografische Erfahrungen sind bis zu seinem Schuleintritt im Wesentlichen durch zwei alternative Lebensmilieus geprägt, wobei er an dem ersten Ort, der Wagenburg, eine maximal mögliche Freiheit und Autonomie erlebt hat, die er bemüht
110 Da er wahrscheinlich dennoch bemüht ist, jene Leichtigkeit der Leistungsstärke umzusetzen, wird er auf der anderen Seite auch nicht zu einem Schüler, der sich übermäßig der schulischen Notenmacht unterordnet.
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ist, in seinem aktuellen Lebensmilieu der Künstlergemeinschaft durch eine beständige Suche nach fiktiven Abenteuern als Erfahrungsraum wieder aufleben zu lassen. Dadurch scheint er gleichsam eine emotionale Nähe zu seinem ersten Vater herstellen zu können. In der Künstlergemeinschaft ist Claudio zudem mit einer veränderten Wertebasis konfrontiert. Dabei muss betont werden, dass er keine Auflösung von Orientierungen erlebt, sondern vielmehr andere Normen und Werte etabliert werden, die zum Teil gerade eine gesteigerte Verbindlichkeit beanspruchen. Claudio verbürgt diese Normen und Werte weitgehend in seiner eigenen habituellen Orientierung, weil sie ihm neben seiner Abenteuer-Orientierung zum einen als Bewältigungsmuster für familiäre Diskontinuitätserfahrungen dienen und er zum anderen nur durch die Entschlüsselung und Übernahme der zum Teil sehr speziell ausgeprägten familiären Orientierungen eine Anerkennung und Zugehörigkeit zu der Gemeinschaft auf Dauer sicherstellen kann. Für die Ebene des Realen kann unter diesen Voraussetzungen nur vermutet werden, dass eine solche stark individualistische Orientierung an Orten des Spiels und der Fiktion, die überdies in eine alternative Wertegemeinschaft eingebunden ist, mit dem staatlichen Schulsystem in Konflikt geraten muss, bzw. Claudio dort keine Anknüpfungspunkte für seine individuelle krisenbewältigende Abenteuer-Orientierung finden kann. So tritt die Schuleintrittserfahrung auch weit hinter die dominierenden familiären Angebote zurück und auch der Schulbesuch scheitert – zunächst. Die Familie findet dann jedoch in der kunstbetonten Schule fast einen Komplizen, mit dem sie in einem gemeinsamen Akt der Überschreitung formaler Rahmungen den forcierten Schulwechsel bewältigen kann. Im Gegensatz zu der ersten Schule wird hier die Verantwortung für den Einzelfall übernommen und die Lösung einer individuellen Problematik über die Einhaltung bestimmter Rahmenbedingungen gestellt. Den beiden Akteuren (Familie und Schule) ist damit die Suche nach alternativen Handlungs- und Kulturräumen gemeinsam. Darüber hinaus besteht zwischen der familiären Lagerung und der Orientierung des Schulprofils der neuen Schule auch in Bezug auf die angestrebte Ausdehnung der Räume für Krisenlösungen in Muße eine harmonische Passung, sodass Claudio in keinen Wertkonflikt gerät. 5.3.5.2 Zwischen Fürsorge- und Leistungsorientierung auf der Ebene des Symbolischen Zwischen Claudio selbst und seiner neuen Schule liegt die Passungsharmonie jedoch interessanterweise im Wesentlichen auf der Ebene des Symbolischen. Denn dass in der Schule in Bezug auf das Fach Kunst andere Rahmenbedingungen gelten sowie verstärkt Aktivitäten im künstlerischen Bereich umgesetzt werden, scheint Claudio nicht zu interessieren, und obwohl er sich der Arbeit seiner Eltern als Künstler und
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auch der besonderen Profilierung der Schule bewusst ist, wird diese Nähe in dem gesamten biografisch-orientierten Interview nicht thematisch. Stattdessen ist es für Claudio höchst bedeutsam, dass er in der neuen Schule einen Anerkennungsraum für sein Bewältigungsmuster der Erwachsenen-Orientierung findet, die innerhalb der Institutionen zu einer Fürsorge-Orientierung gerinnt. Im Gegensatz zu Lek wird Claudio somit nicht Adressat, sondern Träger und Akteur der symbolischen Ordnung der Schulkultur. Die strukturell analoge ästhetische Orientierung mit ihrem latenten Leistungsbezug zu Hause und in der Schule sowie Claudios hinzukommende Angleichung seiner habituellen Orientierungen an die Erwachsenen führen dazu, dass er in der Schule die dominanten Orientierungen der kunstbetonten Schulkultur verbürgt, und dies bis hinein in das zentrale schulkulturelle Dilemma zwischen der Fürsorge für den Einzelnen (Schonraum) und einer letztendlichen Verpflichtung der Regelschule auf die ihr gesellschaftlich zugewiesenen Funktionen als leistungsbezogener Bewährungsraum. Ebenso wie der Rektor in der Eröffnungsfeier der Einschulung versucht Claudio, die integrative FürsorgeOrientierung auch in Konfliktfällen aufrechtzuerhalten, entscheidet sich aber in letzter Konsequenz für eine Ausrichtung an der abstrakten Leistungserwartung, die auch durch die Schule nicht außer Kraft gesetzt werden kann. Für ihn entsteht daraus jedoch kein innerer Konflikt, da er diese Sinnstruktur aus dem familiären Milieu kennt und er damit eben jene Grenze der ästhetischen Orientierung habituell verbürgt. Da Claudio darüber hinaus letztlich nur auf die Anerkennung (und nicht die Unterstützung bzw. Hilfe) der Erwachsenen angewiesen ist, die seine habituellen Orientierungen legitimieren und unterstützen, verstrickt er sich nicht in die schulkulturellen Problematiken, sondern es gelingt ihm, die umfassende Sicherung der Anerkennung seiner Person durch die für ihn bedeutsamen Anderen zu erreichen. Das Ausleben seiner Abenteuerorientierung, für die er durchaus Räume für Krisen durch Muße benötigt, wird von ihm im Wesentlichen außerhalb der Schule umgesetzt. Sein habituelles Wissen über die Grenzen des Ästhetischen führt hier offensichtlich zu einer klaren Trennung. Während er sich also im familiären Milieu als kleiner Erwachsener bewähren muss und mit dieser Angleichung strukturell überfordert ist, rückt er innerhalb der Schulkultur an die Stelle des zentralen verbürgenden Akteurs, sowohl bezüglich seiner äußeren Einbettung in eine ästhetisierte Lebensform als auch, was für ihn bedeutsamer ist, hinsichtlich seiner zentralen habituellen Orientierungen und Werthaltungen, ohne sich in die schulkulturell inhärenten Dilemmata auf der Ebene des Symbolischen zu verstricken. Dadurch wird er gleichzeitig, wie es sich innerhalb des Interviews an mehreren Stellen andeutete, über die Schule zu einem öffentlichen Repräsentanten der Künstlergemeinschaft und kann auch dadurch wiederum
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in der Schule die Gleichheit bzw. die Zugehörigkeit zu einer an der Kunst orientierten Lebensform herstellen, die ihm familiär strukturell eigentlich verwehrt bleibt. 5.3.5.3 Der Held der Schulkultur? – Die Ebene des Imaginären Aufgrund der schulkulturellen Verschränkung der Ebenen des Symbolischen und des Imaginären besteht auch für Claudio – aufgrund seiner Passung zu den symbolischen Ausdrucksformen der Schulkultur – eine Nähe zu der dominanten mythischen Imagination der Schule als Ort der Integration des Differenten. Allerdings gehört Claudio auch hier nicht zu den Kindern, die integriert werden müssen, sondern er selbst ist derjenige, der sich um die anderen kümmert, die Hilfe benötigen – allerdings nur, wenn diese nicht aktiv gegen die Regeln verstoßen, die er verbürgt und versucht zum Wohle aller umzusetzen. In diesem Zusammenhang kann formuliert werden, dass Claudio so auch in der Schule ein wenig von seiner Selbstimagination als Abenteurer und Held umsetzen kann, der sich für andere und für die gute Sache in Gefahr begibt. Das Imaginäre der Schulkultur bleibt für Claudio jedoch eher hinter dem zurück, was er in anderen Feldern und insbesondere in seinem familiären Milieu an fiktiven Erfahrungsräumen und imaginär-idealistischem Lebensstil vorfindet und gewohnt ist, und gewinnt von daher kaum biografische Relevanz. Seine Faszination für Übergänge und Grenzbereiche kann er damit nur in Ansätzen in der Schule wieder finden. Hier bleiben die bevorzugten Felder außerschulisch: der Hort, das Spiel mit dem Vater sowie anderen Mitgliedern der Gemeinschaft und das Spiel mit Gleichaltrigen.
5.3.6 Kunstunterricht als krisenhafte Differenzerfahrung zum ästhetisierten Lebensmilieu 5.3.6.1 Notiz zur Unterrichtseinheit Die Arbeit von Claudio, die im Folgenden Gegenstand der Analyse wird, entsteht kurz nach dem Beginn des neuen Schuljahres in einer der ersten Kunstunterrichtsstunden nach den Sommerferien. Der Klasse steht zu diesem Zeitpunkt kein Kunstraum zur Verfügung, sodass der Unterricht im Klassenzimmer stattfindet. Inhaltlich schließt die Aufgabenstellung an ein Projekt an, das in dem vorangegangenen Schuljahr über einen längeren Zeitraum hinweg bearbeitet wurde. Angeregt durch eine Ausschreibung einer großen Schreibwarenfirma wurde eine zum Teil vorgegebene Geschichte weiterentwickelt. Der in dieser Geschichte eine tragende
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Rolle spielende Roboter bot den Anlass, eigene Roboter im Kunstunterricht zu gestalten. Die von diesem Arbeitsprozess existierenden Fotos bilden nun den Ausgangspunkt für die kleine Aufgabe, mit der das neue Schuljahr beginnt. Die Schüler konnten sich jeder ein Foto aussuchen und es auf ein DIN-A4-Blatt kleben. Auf dem so entstandenen weißen Rand sollte das Foto nun ›weitergemalt‹ werden. Die besondere Aufgabenstellung schränkt die individuellen Gestaltungsmöglichkeiten bereits von vornherein stark ein. Aufgrund der Vorgabe der Fotografie kann diese Aufgabe strukturell nur dann als gelungen gelten, wenn sich die ›Weitermalungen‹ dieser fotorealistischen Darstellung annähern. Aufgrund des Alters der Kinder, ihrer damit zusammenhängenden zeichnerischen Kompetenzen sowie ihrer materiellen Ausstattung scheint dieses inhärente Bearbeitungsziel von vornherein unerreichbar. Wie geht nun Claudio mit einer solchen ihn maximal einschränkenden Gestaltungsvarianz um? 5.3.6.2 Werkanalyse Das Foto, das den Ausgangspunkt der Bearbeitungen bildet, ist im Hochformat auf ein DIN-A4-Blatt geklebt. Die unteren zwei Drittel werden von der Abbildung eines Jungen gefüllt, der einen Pinsel in der Hand hält, mit dem er den am rechten Rand befindlichen Gegenstand bemalt. Vermutlich handelt es sich bei diesem um einen ›Roboter‹. Der Bildausschnitt zeigt den Oberkörper des Jungen und seine Oberschenkel. Rücken, Gesäß und der Rest der Beine sind nicht abgebildet. Der Junge trägt ein graues T-Shirt, das an verschiedenen Stellen Farbspuren aufweist, weshalb man davon ausgehen kann, dass es sich um ein Kleidungsstück handelt, das speziell für den Kunstunterricht übergezogen wurde, sowie eine dunkelblaue Hose mit einer hellblauen Naht – vermutlich eine Jogginghose. Der Junge befindet sich in hockender Position seitlich zu dem Gegenstand und ist dadurch kleiner als dieser. Auch seinen Körper sieht man von der Seite. Allerdings scheint er für die Aufnahme des Fotos seine Aufmerksamkeit dem Fotografen zuzuwenden. Der Kopf ist gedreht, sodass man ihn im Halbprofil sieht. Auch die Haltung der Hand und des Pinsels zeigen, dass der Fotograf ihn in einem Arbeitsprozess unterbricht. Die konzentrierte Arbeitshaltung wird zu jenem sozialen Akt des Lächelns für ein Foto. Der Gegenstand selbst ist recht groß. Oben mit Aluminiumfolie umkleidet und im unteren Teil pastos blau angemalt. In seiner Mitte befindet sich ein Loch, aus dem zwei Kinderfinger herausschauen. Der Roboter scheint also begehbar, bzw. könnte es sich bei dem Loch um eines für die Arme eines Kindes handeln, dann könnte er auch als Figur bespielbar sein. Claudio selbst ist auf dem Bild nicht abgebildet. Im oberen Drittel des Fotos und damit im Hintergrund befindet sich eine Gruppe von weiteren vier Jungen, die um einen Tisch herumstehen und in ihre Arbeit
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Abbildung 10: Claudio 2005
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vertieft sind. Zwei stehen vor dem Tisch, man sieht sie von hinten. Einer von ihnen hält eine rote Glühbirne in der Hand. Sie stehen hinter zwei Stühlen, die sie anscheinend nicht zur Seite geschoben haben. Die anderen beiden Jungen stehen hinter dem Tisch, sie werden zu weiten Teilen von den beiden vorderen verdeckt. Auf dem Tisch befinden sich noch weitere Gegenstände und Utensilien. Hinter ihnen an der Wand erkennt man eine Reihe von Haken, an denen Kleidungsstücke hängen. Ferner kann vermutet werde, dass am linken oberen Bildausschnitt ein Stück eines weiteren Armes von einem Kind abgebildet ist. Der Bildausschnitt zeigt demnach Kinder zwischen neun und zwölf Jahren, die intensiv und in direktem Bezug aufeinander mit etwas beschäftigt sind, wozu sie verschiedene Arbeitsformen umsetzen und vielfältige Materialien benutzen. Nur der Umstand, dass er fotografiert wird, lässt den Jungen vorne in seiner Tätigkeit innehalten. Sehr auffällig an Claudios Bearbeitung der Aufgabe ist die Dominanz der Ausführung des Fußbodens und der Wand. Beide sind bereits fertiggestellt und füllen den gesamten Bildraum. Die Wand ist in einem gleichmäßigen Gelb gestaltet. Beim Fußboden nimmt Claudio die Maserung des hellbraunen Holzfußbodens auf, wodurch das Bild eine starke Tiefe erhält. Dieser Eindruck wird aufgrund der Höhe des Übergangs zwischen Boden und Wand noch bestärkt, denn dieser erinnert an den Horizont in einer Landschaftsdarstellung. Darüber hinaus bleiben Claudios Ausführungen eher selektiv und sparsam. Fortgeführt werden der Körper des Jungen im vorderen Bildteil, der Rest des Roboters, ein Stuhl, ein Kleidungsstück, die Haare von zwei Jungen sowie eine Bemalung an der Wand. Da der Bildraum durch die Fortführung der Wand und des Fußbodens bereits vollkommen mit Buntstiften ausgemalt ist und es dadurch fast unmöglich ist, noch etwas darüber zu malen, kann davon ausgegangen werden, dass das Bild soweit fertig ist. Im Gegensatz zu dem Foto, das eine Arbeitssituation im Klassenzimmer mit vielen dafür notwendigen Materialien und Gesten zeigt, bleibt Claudios Weiterführung überaus karg. Kontrastreich entsteht um das Foto herum ein weiter, leerer Raum. Anstatt sich durch das Bild anregen zu lassen oder z.B. Kontextwissen über den Klassenraum (Bilder etc.) in die Gestaltung mit einzubeziehen, reduziert Claudio die Bildsprache. Die Aufgabe regt seine Gestaltungsbereitschaft und Freude offenbar nicht an. Dennoch scheinen Weitermalungen mit einer großen Anstrengung umgesetzt worden zu sein. So zeigt sich insbesondere an dem Fuß und der Hose des Jungen, dass mehrfach Korrekturen vorgenommen wurden. Ferner scheint auch die Aufgabenbearbeitung ernst genommen worden zu sein, denn es ist der Versuch erkennbar, die Dinge möglichst realitätsnah abzubilden. Nur der neongelbe Fuß des
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Jungen fällt aus diesem Konzept heraus, es sei denn, er trug zu diesem Zeitpunkt keine Schuhe, was durchaus möglich wäre. 5.3.6.3 Zusammenfassung: »also zu hause gibt’s halt bessere kunst« Claudios Bearbeitung der Kunstunterrichtsaufgabe scheint kontrastreich. Zum einen ist er bemüht, die Arbeitsanweisung möglichst korrekt auszuführen. Die Analyse der Aufgabe selbst legt in diesem Fall eine möglichst realistische Darstellungsweise nahe. So sind die weiterbearbeiteten Bildausschnitte von dem Versuch geprägt, ein hohes Maß an Detailgenauigkeit herzustellen, was an einigen Stellen mit einem wiederholten Korrekturprozess einhergeht. Claudio macht hier also in Bezug auf seine Ausführungsintention wiederholt Scheiternserfahrungen und versucht, diese wieder auszugleichen, um insgesamt seine Leistung zu verbessern. Aufgrund der der Aufgabe bereits inhärenten hohen Scheiternswahrscheinlichkeit gelingt zwar eine stetige Verbesserung, aber keine befriedigende ›Lösung‹ des Arbeitsauftrags. Zum anderen ist neben dieser Aufmerksamkeit fürs Detail eine stark reduzierte Bildsprache festzustellen, die deutlich hinter den in dem Foto angelegten möglichen Ausführungen zurückbleibt. Was dieses bietet, die Arbeitsszenerie im Klassenraum, wird von Claudio nicht aufgenommen. Der leere Bildraum verweist so auf die fehlende Relevanz der Anregungen durch die Schule und speziell der im Kunstunterricht stattfindenden Arbeiten. Auch die Protokollstellen, in denen Claudio über seine Arbeit spricht, belegen diese Distanz zu der Aufgabe sowie die ihr inhärente Belastung: »C: also . hier sieht man halt nen stuhl, den musste ich weitermalen, es war auch’n bisschen schwer weil man kann halt nicht genau die gleiche farbe treffen, und hier habe ich halt immer den fuß zu klein gemalt, drei mal, und ja war schon nen bisschen schwierig aber, zum beispiel die wand war einfacher«. Im Verlauf des Interviews wird zunehmend deutlicher, woraus diese fehlende Affinität zum Kunstunterricht resultiert, die auf den ersten Blick aufgrund seiner Herkunft aus einer Künstlerfamilie irritiert. Gerade diese familiäre Nähe zur Kunst ist es nun jedoch, die Claudio einen unbeschwerten Zugang verstellt. Die Kunst und speziell die Malerei sind für Claudio in erster Linie nicht die Schonräume, die Krisen in Muße ermöglichen, sondern das berufliche Betätigungsfeld der Eltern. Deren Professionalität führt ihm deutlich die Möglichkeiten, aber auch die Zwänge bzw. notwendigen handwerklichen und materialen Kenntnisse vor Augen: »C: weil ich kenn mich halt mit den farben nicht (I: mhm), aus es gibt ja irgendwie tausend brauntöne (I: mhm), fünftausend rottöne, und davon den richtigen zu finden ist halt auch ein bisschen schwer (I: ja), die haben da regale, und tische voll farben«. Hier wird nicht nur ein handwerkliches Niveau vorgegeben, das er selbst derzeit nicht
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nur nicht erreichen kann, sondern insbesondere kommen auch Techniken zum Einsatz, die er in der Schule nicht annähernd einsetzen kann: »C: also zu hause gibt’s halt bessere (betont) kunst also die machen halt richtige (betont) kunst, und nicht irgendwie so’n bisschen malen wie hier in der schule (I: mhm), die malen halt nicht so’n bisschen so’n kleines bild, sondern malen halt schon so irgendwie 1,58 hohe bilder/bilder, die sind schon richtig hoch; I: mhm, und du, würdest du sagen dein bild hier ist auch kunst; C: nö . das ist halt schon kunst also das ist halt schon gemalt, aber, man kann nicht sagen dass es richtig gute kunst ist«. Diese für ihn alltäglich in ihrer Größe (nicht nur des Bildformats) erfahrbare Kunst steht in deutlicher Differenz zu den Möglichkeiten des Kunstunterrichts in der Schule. Das scheint auch der Grund zu sein, warum er angibt, lieber zu Hause zu malen, denn dort können ihm seine Eltern mit anderen materiellen Voraussetzungen und intensiverem Rat zur Seite stehen und zudem auf seine individuellen Interessen eingehen. So erzählt er, dass er derzeit zu Hause ein »playmobil bild« malt: »I: was malst’n so zu hause; C: also zu hause male ich eigentlich nicht viel (betont) sondern, ich, habe halt’n bild was ich angefangen hab so’n playmobil bild (I: aha), hab ich halt angefangen zu malen und da jetzt muss ich mal gucken wann ich das weitermalen kann; I: und was ist da so drauf auf dem playmobil bild; C: mh die burg und die wikinger die angreifen, also so’ne burgfeste (I: mhm), wo die leute draufstehen, häuser, schafe und so, und die wikinger kommen halt, so; I: (lacht kurz auf) wow, und womit malst du das das bild; C: mit, acryl (I: ah), äh nicht acryl sondern, hier, ölfarbe; I: mit ölfarbe-; C: also normaler farbe«. Dennoch zeigt sich auch hier, dass Claudio im Gegensatz zu seiner im biografischen Interview aufscheinenden Aktivitätsbereitschaft und Begeisterungsfähigkeit diese gegenüber einer künstlerischen Tätigkeit auch zu Hause kaum entwickelt. So wechselt er im Verlauf des Interviews zum Kunstunterricht wiederholt das Thema (I: okay, gefällt dir dein bild jetzt hier eigentlich so-; C: ja; I: ja; C: wann kommt n der fokus raus; I: der fokus, die zeitschrift meinst du«), wobei er in solchen Passagen wieder in seine Erzählbereitschaft und seinen Akteursstatus aus dem biografischen Interview zurückfindet. In der Kunst und auch im Kunstunterricht scheint sich somit die Differenz zu seinen Eltern bzw. den Erwachsenen aus der Künstlergemeinschaft zu manifestieren, die er eigentlich habituell einzuebnen bemüht ist, um ›richtig dazuzugehören‹ und um die krisenhaften familiären Diskontinuitätserfahrungen zu bewältigen. Zum ersten Mal erscheint nun ein Bruch zwischen dem Willen der Eltern und seinen Interessen, der gleichzeitig mit einer Krise seiner Entfaltungsmöglichkeiten einher zu gehen scheint: »C: und so meine eltern wollen halt dass ich dann a, man, das hab ich schon wieder vergessen, ich soll meine eltern, ich soll, halt meine klassenlehrerin
5.3 Habituelle Verbürgung der Grenzen des Ästhetischen: Claudio
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fragen, wegen fußball ag’s, sport ag’s und sowas (I: mhm), und halt wegen, ob so ne extra kunststunden gibt, solche fragen, weil meine eltern finden halt dass ich, noch ne stunde länger kunst machen kann, oder zwei«. Künstlerische Tätigkeit wird somit für Claudio generell zur potenziellen Krisenerfahrung der Differenz zu den Eltern und der Gemeinschaft der Künstler. Das bedeutet wiederum nicht, dass er keine ästhetischen Erfahrungen macht. Solche zeigen sich sowohl in der Rezeption der Arbeiten seiner Eltern als auch in den anderen Übergangsfeldern zwischen Fiktion und Realität, die er sich sowohl in der Schule (Geschichten schreiben) als auch zu Hause mit Unterstützung seiner Eltern erschließt. In der eigenen bildnerisch-künstlerischen Tätigkeit scheint ihm dieses Erfahrungsfeld aufgrund der biografischen Lagerung aber tendenziell verstellt zu sein. Das besondere Profil der Schule birgt damit für Claudio gerade in seinem inhaltlichen und curricularen Kernbereich, der Kunst, ein biografisches Passungsproblem. Die Abwertung der in der Schule möglichen künstlerischen Tätigkeit und die räumlichen und inhaltlichen Ausweichbewegungen werden dann zur Bewältigungsstrategie gegenüber diesem dem Kunstunterricht inhärenten Krisenpotenzial.
6. Der Anerkennungsraum der kunstbetonten Schulkultur – vergleichende Zusammenführung der Fallanalysen Erst im Anschluss an die erfolgte Rekonstruktion der Schülerpositionen kann nun die Bedeutung der zuvor rekonstruierten schulkulturellen Ausdrucksgestalt der kunstbetonten Grundschule für die in sie integrierten und in ihr agierenden einzelnen Schüler aufgeschlüsselt werden. Welche Bedingungen für die Artikulation und Anerkennung ihres Selbst bietet dieses auf die Kunst bezogene schulkulturelle Feld für Schüler mit unterschiedlichen Selbstproblematiken, Habitusformationen und Selbstbildern, welche jeweils spezifischen Erfahrungen im familiären Milieu zugeordnet werden können? Gelingt es der Schule, ihre mit der Kunstbetonung verknüpften Ziele und Anspruchshaltungen in Bezug auf die schulischen Bewährungsund Bildungsverläufe so umzusetzen, dass tatsächlich eine Nähe zu den Kindern aus bildungsfernen Milieus hergestellt werden kann? Die Darstellung der Fallvergleiche orientiert sich, im Gegensatz zu den Zusammenfassungen der einzelnen Fälle (S. 265ff., 292f., 319f.), die im Wesentlichen als eine synchrone Zusammenführung der Ergebnisse über die drei schulkulturellen Ebenen des Realen, Symbolischen und Imaginären hinweg angelegt wurden, im Folgenden enger an dem von Kramer entwickelten strukturtheoretischen Modell der schulbiografischen Passung (Kramer 2002: 275). Wenngleich, wie bereits dargestellt (vgl. Kap. 3.4.2, S. 112), in der vorliegenden Studie aufgrund des Alters der Kinder keine sinnhaft strukturierten biografischen Verläufe der einzelnen Schüler eingeholt werden konnten, eignet sich die Strukturierung Kramers an diesem Punkt der Auswertungen sehr gut, um das komplexe Passungsverhältnis zwischen der schulkulturellen Ausdrucksgestalt und den einzelnen Schülerpositionen in einen tragfähigen Vergleich zu überführen. Zusammenfassend werden dazu zunächst noch einmal die Ergebnisse der Schulkulturanalyse dargestellt. Vor diesem Hintergrund werden dann die Schülerfallstudien bezüglich der einzelnen Sequenzstellen des schulbiografischen Passungsverhältnisses kontrastiert (Kramer 2002: 287f.): Als erste Sequenzstelle werden die (1) Voraussetzungen der sich ausformenden Fallstruktur als Wechselbeziehung zwischen
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6. Vergleichende Zusammenführung der Fallanalysen
Schüler und Schule abgebildet. Auf der Seite der Schule findet sich hier die grundlegende Sinnstruktur des Schulischen im Kontext der rahmenden gesellschaftlichen Strukturierungen und der damit einhergehenden Antinomien, insbesondere der spezifischen Rollenerwartungen, sowie gegenüber einem grundlegenden insbesondere in der Grundschule stark ausgeprägten Rationalisierungsdruck und einer unhintergehbaren Leistungsorientierung (ebd.: 239).111 Für die Seite des Schülers werden die in Bezug auf die familiäre Lagerung ausgeformte Selbstproblematik, die fallspezifische Habitusformation und die, soweit hier in den Einzelfällen eine Differenzierung möglich ist, vor Schuleintritt ausgeformten Bearbeitungsstrategien dieser Selbstproblematik abgebildet. Ferner spielen die in der Familie vorherrschenden Leistungsorientierungen eine gewichtige Rolle. Als vorbereitender Erfahrungsraum einer institutionellen Einbindung werden zusätzlich die Erfahrungen mit vorgängigen Einrichtungen, wie dem Kindergarten relevant. Es folgt die Sequenzstelle des (2) Einstiegs, in der nun eine erste Konfrontation dieser individuellen Fallstruktur mit der symbolischen Ordnung der Schule stattfindet. In der vorliegenden Studie ist diese Einstiegssequenz das Einschulungserlebnis, dem in jedem Gespräch und auch in der Rekonstruktion ein besonderes Gewicht zukam.112 Dort beginnt nun das spannungsvolle Zusammenspiel zwischen Schüler und Schule, ausdifferenziert auf den drei Sinnebenen, des Realen des Symbolischen und des Imaginären. Auf der Ebene des Realen können die grundlegenden Strukturprobleme der Biografie und der Schulkultur aufeinander bezogen werden, auf der Ebene des Symbolischen die 111 An dieser Stelle scheint mir der Zusammenhang zwischen den Ebenen des Realen, Symbolischen und Imaginären der symbolischen Ordnung der Einzelschule mit dem Strukturmodell der schulbiografischen Passung noch etwas unkonturiert. Während bei Helsper u.a. (2001) auf der Ebene des Realen die rahmenden gesellschaftlichen Strukturierungen und die zentralen Antinomien angesiedelt sind, findet sich bei Kramer (2002) die Differenzierung in die Ebenen erst mit der Sequenzstelle des Einstiegs. Dort erfolgt dann gleich ein Bezug auf die spezifischen Strukturproblematiken von Schülern und Schule, die dort auf der Ebene des Realen zueinander zu vermitteln sind. Das heißt, dass das ›Reale‹ unterschiedlich, bzw. weiter und enger bestimmt zu werden scheint, einmal als allgemein schulische Strukturen und zum anderen als Konfrontation konkreter Strukturproblematiken. Zur Bearbeitung dieses Unterschieds werden im Folgenden die Bestimmungen des Realen bei Helsper als grundlegende allgemeingültige Strukturierungen in das Feld der Voraussetzungen integriert; dort kommt noch nicht die einzelschulspezifische Ausformung bzw. Bearbeitung dieser Parameter erster Ordnung in den Blick. Unter der Sequenzstelle des Einstiegs werden dann im Bereich des Realen analog zu Kramer die spezifischen Strukturprobleme der Biografie und der Schulkultur in den Blick genommen. An dieser wird jedoch noch keine direkte Passungsbeziehung zwischen Schule und Schüler ausgebildet. Vielmehr werden nur die Spielräume für das Symbolische und das Imaginäre präformiert (vgl. Kramer 2002: 281). Das Zusammenspiel zwischen Schule und Schüler kann deshalb auch an jener Stelle noch nicht konkret bestimmt werden, sondern muss vor dem Hintergrund der rekonstruierten Strukturprobleme abstrakt zusammengefügt werden. 112 Bei Kramer wird hier stattdessen der Übergang in das Gymnasium thematisiert. Die Sequenzstelle kann jedoch generell dort markiert werden, »wo ein Schüler in die Schule kommt und auf die dort ausgeformte institutionelle Kultur trifft« (ebd.: 280).
6. Vergleichende Zusammenführung der Fallanalysen
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individuelle Habitusformation und die institutionellen latenten Sinnstrukturen des schulischen Handelns und auf der Ebene des Imaginären die idealen Selbstbilder und die mythische Konstruktion als zentraler Ausdruck des Imaginären der Schulkultur. Der Eintritt in die Grundschule – als Einstieg in das Passungsverhältnis zwischen Schüler und Schule – impliziert damit eine Präformation von Handlungsund Artikulationsspielräumen, durch die sich der Bezug zwischen den unterschiedlichen Ordnungen, als »Anerkennungsverhältnis zwischen ›Antagonismus‹ und umfassender Bestätigung (›Harmonie‹) ausformt« (vgl. ebd.: 281). Auf diese erste Konfrontation folgt als voranschreitende Gestaltung des Passungsverhältnisses die Phase der (3) Bearbeitung. Diese kann in Gestalt einer Transformation oder Reproduktion jener ersten Manifestation verlaufen. So ist es möglich, dass eine bereits zu Beginn harmonische Passung ungebrochen fortgesetzt wird und sich mit einer erfolgreichen Schülerkarriere verknüpft oder dass es zu einer zusätzlichen Zuspitzung einer ohnehin antagonistischen Passung kommt. Wahrscheinlich finden sich aber unterschiedliche Bearbeitungsformen von Passungsdifferenzen und -problemen über die verschiedenen Ebenen der symbolischen Ordnung der Schule hinweg. Dabei bleiben, wie auch die vorliegenden Rekonstruktionen zeigen, auf allen drei Ebenen umfassende antagonistische oder harmonische, also insgesamt homogene Passungsvarianten der idealtypische Grenzfall. Stattdessen zeigen sich in der Regel »Mischverhältnisse« von Affinitäten und Antagonismen zwischen den unterschiedlichen Ebenen (vgl. ebd.: 269). Gleichzeitig bleibt das Passungsverhältnis an sich natürlich zukunftsoffen, insbesondere, wenn weitere Sequenzstellen des ›Einstiegs‹, wie z.B. beim Übergang auf weiterführenden Schulen, hinzutreten. Zu Beginn sollen zur Erleichterung des Nachvollzugs der Fallkontrastierungen und des sich daraus ergebenden schulkulturellen Anerkennungsraums, die wesentlichen Ergebnisse der Schulkulturanalyse noch einmal bündig in Erinnerung gerufen werden: Die grundlegende Problematik der Sonnenlicht-Grundschule besteht darin, dass sie fundamentale Schwierigkeiten hat, auf bewährte schulische Regeln und Routinen zurückzugreifen. Diese prekäre Situierung führt zu einer Manifestation der Krise zu Beginn der Einschulungsfeier, womit die Funktion und Struktur der modernen Regelschule in diesem eigentlichen Moment einer feierlichen Herausgehobenheit und Besonderheit in Frage gestellt wird. Dieser Infragestellung begegnet die Schule nun, indem sie die Krise der Institution an ein krisenauslösendes Umfeld verweist und demgegenüber einen starken und normativen Entwurf einer Schule entwickelt, in der Lernen Spaß und Freude macht und in der die Schüler als Kinder und als Individuen wahr- und angenommen werden. Darüber hinaus wird allen in die Schulkultur integrierten Kindern die schulische Bewährung in Aussicht gestellt. Zur
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6. Vergleichende Zusammenführung der Fallanalysen
Gewährleistung dieses normativen Entwurfs wird die Schulzeit als Abenteuergeschichte und damit als ein realitätsentlasteter Schonraum entworfen, in dem reale existenzbedrohende Krisen nicht (mehr) stattfinden. Dadurch setzt die Schule auf das Durchleben von Krisen durch Muße und damit auf die Konstitution ästhetischer Erfahrung. So will sie innerhalb des Schulischen einen realitätsentlasteten Schonraum wiederherstellen, der den Kindern in ihren Herkunftsfamilien mutmaßlich fehlt. Die Generierung von Erfahrungen in der Sicherheit eines elterlichen Schutzes vor dem Ernst des Lebens und damit der strukturelle Aufbau von Vertrauen in die Lebenswelt und in die eigenen Erkenntniskräfte soll in die Schule hineinverlegt werden. Die Bedrohung des Schulischen, die sich in der krisenhaften Eröffnung der Einschulungsfeier zeigt, wird also jenem krisenauslösenden Außen zugeschrieben, das durch die Integration der Kinder in die Kultur der Schule auch ›draußen‹ gehalten werden soll. Der Schulmythos versinnbildlicht in der Metapher des ›Sonnenlichts‹ nun die besondere Kompetenz der Schule, in Absehung von den unterschiedlichen sozialen Lagen, kulturellen Herkünften und zugeschriebenen deprivierten familiären Verhältnissen der Kinder, in der Schule die Kinder als Gruppe, aber auch als Individuen wieder zu einem ›harmonischen Ganzen‹ werden zu lassen, und so zu der vollständigen Entfaltung der ihnen eigenen Kräfte beizutragen. Durch diesen Aufbau der kindlichen Persönlichkeit sollen erst die Grundvoraussetzungen für schulisch zu initiierende Lernprozesse geschaffen werden. Das Ziel der Kunstbetonung liegt demnach vielmehr in der ›Schöpfung des Schülers‹. Aus diesem imaginären Entwurf ergeben sich schließlich weitreichende strukturelle Problematiken, die dazu führen, dass auf der Ebene des Symbolischen diese schulische Anspruchshaltung nicht umfassend verbürgt werden kann: Die Krise der Institution wird überblendet und im Sinne einer pädagogischen Machbarkeitsrhetorik durch ein Integrations-, Gleichheits- und Chancengleichheitsversprechen in Bezug auf alle Kinder ersetzt. Darin ist zum einen der grundsätzlich positive Anspruch enthalten, in der Schule einen milieuunabhängigen Bildungsraum zu eröffnen, in dem es den Schülern ermöglicht werden soll, zu individuellen und autonomen Identitäts- und Bildungsentwürfen zu gelangen. Gleichzeitig geht dieses Bildungsideal aufgrund der Konkurrenz des schulkulturellen Raums mit der elterlichen Symbiose mit einer umfassenden Ansprüchlichkeit auf die Kinder und einer strukturellen und potenziell konflikthaften Ausgrenzung der Eltern und Familien einher. Die darin gleichsam massiv enthaltene Forderung nach einer Ablösung der Kinder vom Herkunftsmilieu birgt damit zum anderen die Gefahr ihrer Verstrickung in ein riskantes Abhängigkeitsverhältnis mit der Schule, die einen der familiären Primärsozialisation ebenbürtigen Anspruch erhebt.
6.1 Fallspezifische Voraussetzungen
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Diesen strukturell an die Eltern-Kind-Bindung angelehnten Anerkennungsraum und das Versprechen auf einen realitätsentlasteten mußevollen Erfahrungsraum kann die Schule schließlich auch nicht uneingeschränkt einlösen. Zwischen einer strukturellen Ermöglichung von ästhetischen Erfahrungen und dem gesellschaftlichen Erziehungs- und Bildungsauftrag werden Schwierigkeiten in der Vermittlung offensichtlich. Auf der Ebene des Symbolischen wird dieses Dilemma zwischen imaginären Anspruchshaltungen und den Notwendigkeiten der schulischen Realität durch einen Rückbezug auf in der traditionellen Moderne verbürgte und kanonisierte Wissensbestände gelöst. Trotz dieser weitreichenden Ergebnisse, die insbesondere die Bedeutung des kunstbetonten Schulprogramms für die institutionelle Existenz der Schule herausstellen konnten, musste am Ende der Schulkulturanalyse die wichtige Frage offen bleiben, wie sich nun die Schüler in dieser schulkulturellen Ausdrucksgestalt bewegen, die potenziell zwischen der Erzeugung von Abhängigkeit und der Beförderung von Höherbildung changiert. Wird die Schule tatsächlich in Teilen als Schonraum wahrgenommen und kann so die Kinder von drängenden Selbstproblematiken entlasten oder werden die Kinder durch diese institutionelle Kultur in ein Entscheidungsdilemma zwischen Schulkultur und Herkunftskultur verstrickt? Oder trägt die Schule vielleicht gerade in ihrem Kernbereich der Kunst sowie auch in ansonsten gelingenden Momenten, in denen Erfahrungen im Modus von Krisen durch Muße ermöglicht werden, zu einer Form der Selbstvergewisserung durch ästhetische Erfahrung bei? Und können die Schüler solche Momente gesteigerten Vertrauens in sich selbst gelingend in Selbstbildungsprozesse umsetzen, die sich wiederum positiv auf schulische Bewährungssituationen auswirken? In einem solchen Fall wäre die Aufkündigung harmonischer Generationenbeziehungen (Mollenhauer 1997: 223) in Kauf zu nehmen. Und entgehen die Schüler vielleicht gerade aufgrund solch einer gesteigerten Möglichkeit, ästhetische Erfahrungen in der Schule zu machen, die prinzipiell ein reflexives bzw. selbstreflexives Moment in sich bergen, der vergrößerten Gefahr, sich in ein Abhängigkeitsverhältnis mit der Schule zu verstricken?
6.1 Fallspezifische Voraussetzungen Majda wächst in einem familiären Milieu auf, das aufgrund des innerhalb der Familie angestrebten sozialen und materiellen Aufstiegs stark von der alltäglichen Notwendigkeit einer Vereinbarkeit von Familie und der Berufstätigkeit beider Elternteile geprägt ist. Kindliche Geborgenheit findet sie daher nicht in den primären Familienbeziehungen, sondern in einem Netzwerk, bestehend aus verschiedenen Familien-
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6. Vergleichende Zusammenführung der Fallanalysen
angehörigen, insbesondere auch der Großmutter, und den betreuenden Institutionen wie dem Kindergarten. Mit zunehmendem Alter Majdas löst sich jedoch diese Form der Einbettung auf. Die räumliche Trennung der Kernfamilie von der weiteren Verwandtschaft nach dem Umzug in die Eigentumswohnung bedeutet das Ende dieser sicheren kindlichen Einbettung und Majda übernimmt verstärkt ihre spezifische Rolle in der aufstiegsorientierten Familie. Ihre individuelle Lebensgeschichte erscheint zunehmend als Struktur der ›organisierten Biografie‹ (vgl. Kap 5.1.3, S. 242). Zusätzlich übertragen sich die aufgrund des frischen und ungefestigten Aufstiegs ausgeprägten Regressionsängste der Eltern auf Majda – ihr individueller Erfolg, der zur langfristigen Sicherung des familiären Aufstiegs beitragen soll, erscheint ihr in hohem Grad ungesichert. Majdas dominante Selbstproblematik resultiert schließlich aus der familiären Koppelung von emotionaler Anerkennung und der Anerkennung ihrer Person an höchste Leistungen sowie einen ungebrochenen Leistungswillen. Das führt dazu, dass auch Majdas Selbstbild eng an höchste Leistungserfolge geknüpft ist, wodurch sie bereits durch die kleinsten Misserfolge in grundlegende Krisen gerät. Fehlendes Zutrauen der Eltern bezüglich des guten Gelingens des erfolgreichen Lebensverlaufs ihrer Tochter führt auch bei Majda zu einer Beeinträchtigung des strukturellen Optimismus. Habituell ist sie insofern insbesondere darum bemüht, ein Scheitern an (schulischen) Anforderungen zu vermeiden. Im Hinblick auf die rahmenden gesellschaftlichen Strukturierungen der Schule,113 die dort sich einstellenden Rollenerwartungen sowie Rationalisierungs- und Leistungsanforderungen kann zum einen angenommen werden, dass in dieser hohen Leistungsorientierung eine harmonische Passung angelegt ist. Zum anderen könnte sich durch den Schuleintritt und die dort in zunehmenden Maß auftretenden Bewährungssituationen ein stark gesteigertes Scheiternsrisiko ergeben, das Majdas an höchste Leistungserfolge geknüpfte Selbststabilität nachhaltig gefährdet. Die biografische Struktur Leks, die aus einer insgesamt prekären familiären Lagerung resultiert, beruht im Wesentlichen auf einer auf Gewöhnung aufbauenden und damit fragilen Stabilität. Diese steht immer wieder – insbesondere durch die Aufkündigung persönlicher Bindungen – in der Gefahr, krisenhaft aufzubrechen. Diese unsichere Rahmung der Lebenssituation wird flankiert durch eine familiäre Orientierung an einer Verhinderung des ›schlecht Seins‹, also einer Abweichung von einer anzunehmenden normalen Lebenssituation – und damit einer fiktiven Normal113 Diese Überlegungen werden, wie gesagt, auf die allgemeinen Strukturbedingungen der Regelschule bezogen. Die spezifische Schulkultur der kunstbetonten Grundschule wird hier noch nicht berücksichtigt.
6.1 Fallspezifische Voraussetzungen
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Biografie. Bezüglich der schulischen Leistungen bedeutet dies, dass keine Herausgehobenheit individueller Erfolge, sondern nur das Weiterkommen im Rahmen der von der Institution vorgegebenen Verläufe zählt. Durch diese familiäre Orientierung und die bei Abweichung drohende Aufkündigung familiärer Bindungen wird Leks Individuierungsprozess stark beeinträchtigt sowie der Aufbau ganzheitlicher sozialer Beziehungen tendenziell verstellt, denn auch Lek orientiert sich fallstrukturell an einem solchen fiktiven Normalverlauf einer Biografie. Fallstrukturell führt dies zu einer dominanten Krisenproblematik, die darin besteht, dass diese Normalisierung als Bewältigungsstrategie nicht funktioniert, sondern dass gerade durch ihren Einsatz beständig Brüche und Abweichungen als krisenhafte Differenzerfahrungen von dieser vermeintlichen Norm thematisch werden. Zu der Fallstruktur der Orientierung an einer fiktiven NormalBiografie gehört dabei auch, dass Lek die reflexive Betrachtung seines individuell besonderen biografischen Verlaufs vermeidet. So kann er diesen nicht verarbeiten bzw. für einen sich entwickelnden Individuierungsprozess nutzbar machen. Das führt zu einer Form der Entfremdung von seiner eigenen Geschichte und damit zu einer latenten Entfremdung vom Selbst. Lek findet allerdings außerschulisch eine kompensatorische Einbettung im Spiel und im künstlerischen Ausdruck. In diesen Orten struktureller Realitätsentlastetheit scheint er sich Felder zu erschließen, in denen er sein Selbst ausdrücken und seine Umwelt gestalten kann, ohne die Selbstimagination des ›normalen Jungen‹ aufzugeben. Die ansonsten dominante Vermeidung einer reflexiven Selbstaufmerksamkeit führt dazu, dass Lek, obwohl er ein Jahr später eingeschult wird, vor Schulbeginn aufgrund einer noch gering entwickelten Distanzierungsfähigkeit, die auch als anhaltende Kindlichkeit beschrieben werden kann, unter einen starken Rationalisierungs- und Reflexivierungsdruck gerät, dem er bereits im Vorfeld des Schulischen nicht mehr ausweichen kann. Im Gegensatz zu Majda, die mit einer ›angespannten Aufmerksamkeit‹ den an sie gestellten Anforderungen begegnet, um ein Scheitern auszuschließen, ist Lek eher darum bemüht, alle Situationen und Herausforderungen zu umgehen, die seine auf Gewöhnung aufruhende Stabilität gefährden und ihn zu einer stärkeren Selbsttätigkeit herausfordern. Die Besonderheit des Falles Claudio besteht darin, dass er einem alternativen Lebensmilieu entstammt. Insbesondere die Künstlergruppe, in der er zum Zeitpunkt der Erhebungen mit seiner Mutter lebt, orientiert sich an verbesonderten Werten und Normen. Darin enthalten sind zum einen eine Ausdehnung des Ästhetischen auf alltägliche Lebensbereiche sowie eine Auflösung verwandtschaftlicher familiärer Bindungen in Freundschaftsbeziehungen, die sich um eben jene veränderten Wert-
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6. Vergleichende Zusammenführung der Fallanalysen
haltungen gruppieren. Claudios dominante Selbstproblematik besteht nun darin, dass er aufgrund dieser Modifikationen zum einen den leidvoll erfahrenen Verlust des Kontaktes zu seinem ersten Vater und dessen Lebensumgebung nicht betrauern darf und dass darüber hinaus, durch die enge Verbindung von familienähnlichen Bindungen an bestimmte Lebensweisen und ›quasi-religiöse Überzeugungen‹ eine Abwendung Claudios von diesen Werthaltungen die Gefahr einer Aufkündigung der für ihn nun primären Bindung an die Künstlergruppe in sich birgt. Diese doppelte Problematik führt bei Claudio zu einer Überlagerung von zwei habituellen Bewältigungsstrategien. Zum einen eine ausgeprägte Spiel- und Abenteuerorientierung, um die Nähe zu seinem ersten Vater im fiktiven Bereich wiederherzustellen, und zum anderen eine Orientierung an erwachsenen Deutungsmustern und Rollenerwartungen. Denn da die Künstlergemeinschaft als Familienersatz auftritt, kann Claudio eine Zugehörigkeit nur durch die Übernahme der dort spezifisch ausgebildeten Haltungen und Werte sichern. Der insgesamt auch als ästhetische Orientierung114 beschreibbare Habitus wird dabei durch das künstlerisch geprägte familiäre Milieu weitreichend unterstützt, wenngleich diesem Claudios individuelle Beweggründe für seine Suche nach spielerischen Abenteuern verstellt bleiben. In spezifischen Lebensbereichen bleibt das ästhetisierte familiäre Milieu interessanterweise jedoch auf andere Bewältigungsstrategien bezogen. Insbesondere wird latent eine Orientierung an individuellen Leistungen aufrechterhalten. Für Claudio bedeutet dies, dass er durchaus Anerkennung für gute schulische Leistungen erhält, dass diese Leistungen jedoch in einem Habitus der distanzierten Leichtigkeit erbracht werden müssen. In Bezug auf die Voraussetzungen für den Eintritt in die Regelschule konnte vermutet werden, dass Claudio entweder aufgrund seiner Abenteuer- und Spiel-Orientierung mit den schulischen Rationalisierungsanforderungen in Konflikt gerät bzw. dort ebenso wie Lek in Ausweichbewegungen verfällt. Dagegen bestand auch die Möglichkeit, dass die habituelle Verbürgung einer latenten Leistungsorientierung und die sich teilweise auch vollziehende Entschlüsselung der Grenzen einer ästhetisierten Lebensform in Kombination mit seiner Erwachsenen-Orientierung dazu führen, dass er in die Lage versetzt wird, sich gelingend den schulischen Anforderungen anzupassen. 114 Mit dem Begriff der ästhetischen Orientierung ist an dieser Stelle etwas anderes gekennzeichnet als bei Lek, für den der ästhetische Erfahrungsmodus hauptsächlich als Raum zur Bewältigung individueller Krisenproblematiken genutzt wird. Die habituelle ästhetische Orientierung bezeichnet demgegenüber eine in Teilen schon routinierte Orientierung an einer künstlerischen Lebensform. Der Begriff der »Ästhetisierung« (Welsch 1996: 9f.) bezeichnet in diesem Fall diese versuchte Ausweitung des ästhetischen Erfahrungsmodus auf Bereiche, die eigentlich nicht ästhetisch sind. Diese Form der Ästhetisierung zeigt sich z.B. in der latenten Leistungsorientierung, die jedoch manieriert auf Distanz gehalten wird.
6.2 Der Einstieg in die institutionelle Schulbildung als Konfrontation
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6.2 Der Einstieg in die institutionelle Schulbildung als Konfrontation zwischen Schule und Subjekt auf den Ebenen des Realen, Symbolischen und Imaginären Auf der Ebene des Realen zeigt sich bei allen drei Fällen, dass die Kinder unabhängig von der besonderen Profilierung bzw. den Strukturproblematiken der konkreten symbolischen Ordnung der kunstbetonten Grundschule zunächst mit einer allgemein schulischen Leistungsorientierung und Rationalisierung sowie spezifischen Rollenerwartungen konfrontiert werden. Die spezifische Krisenproblematik der Sonnenlicht-Grundschule, die in jener Infragestellung des Schulischen besteht, scheint für die Kinder nicht unmittelbar wahrnehmbar zu sein. Zu stark sind die differenten Rahmungen zwischen der Familie und den allgemeinen Strukturbedingungen der Institution. Im Bereich des Realen zeigt sich dementsprechend noch keine fallspezifische Beziehungsstruktur zwischen Schule und Schüler (Kramer 2002: 306):115 Für Majda wird die Einschulung zu einer krisenhaften Erfahrung, obwohl sie in der Schule wesentliche familiäre Orientierungen wiedererkennt. Die Bewährung im institutionellen Raum scheint nicht gesichert und Majda muss sozusagen erst herausfinden, welche Strategien auch in der Schule ein Scheitern vermeiden, denn hier kann sie nun nicht – wie im familiären Feld – durch die Einordnung in dominierende Ordnungen und Orientierungen eine individuelle Bewährung sichern, sondern muss zudem die entsprechenden schulischen Leistungen erbringen. Wie vermutet wurde, hat jedoch Lek die größten Schwierigkeiten mit dem Einstieg in die Institution. Neben dem bereits im Vorfeld wirksamen Rationalisierungsdruck, den er kaum bewältigen kann, wird nun durch die Gruppe der Mitschüler eine homogene ›Vergleichsnorm‹ überpräsent und Lek erlebt sich zu dieser fiktiven Norm in deutlicher Differenz. Dieses besonders in der ersten Klasse anscheinend stark ausgeprägte Gefühl, nicht richtig dazuzugehören, führt bei Lek zu einer erheblichen Aggressivitätsbereitschaft. Nur so scheint er in dieser Zeit sein Selbst noch konturieren zu können.
115 Das führt methodisch dazu, dass, wie bereits zuvor problematisiert, die Grenzen zwischen den Voraussetzungen und dem Einstieg auf der Ebene des Realen nicht ganz trennscharf gezogen werden können. Die Differenz kann nur folgendermaßen gefasst werden: Die Sequenzstelle der Voraussetzung befindet sich sozusagen konkret biografisch vor dem Schuleintritt, während mit dem Einstieg auf der Ebene des Realen die tatsächlich erste biografische Konfrontation zwischen Schule und Schüler in den Blick kommt. Methodisch bestünde nun die Möglichkeit, diese Präformation der Passung, die sich zu Beginn des Einstiegs ergibt, in Bezug auf die strukturellen Problematiken der Schule, auf mögliche Entwicklungen hin auszudeuten. Dieses sehr umfangreiche Vorgehen wird hier aber zugunsten der Darstellungen der sich nun anschließenden konkreten Ausformung der Passung unterlassen.
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6. Vergleichende Zusammenführung der Fallanalysen
Auch Claudio erfährt eine Passungsproblematik, allerdings an einer anderen Schule. Neben dem Umstand, dass das schulische Erleben weit hinter den aufregenden Erfahrungen zurückbleibt, die er von zu Hause und aus dem Kindergarten gewohnt ist, kann Claudio in jener ersten Schule insbesondere seine Erwachsenenorientierung nicht umsetzen. Die Grenzen zwischen Kindern und Erwachsenen scheinen hier klar gezogen. Da seine Eltern nun jedoch ebenso auf eine Auflösung solcher Strukturen dringen, arbeiten sie sozusagen letztendlich auch in seinem Sinne auf einen Schulwechsel hin. Sein Einstieg in die Sonnenlicht-Grundschule gestaltet sich dagegen harmonisch, die Schule und die Familie begegnen sich von Beginn an einvernehmlich im Habitus der Überwindung enger und konventioneller formaler Handlungsrahmungen. Darüber hinaus passt die ästhetisierte Lebensform zu der kunstbetonten Schulkultur, da beide an einer Ausweitung der Räume für Kunst und ästhetische Erfahrungen interessiert sind. In der neuen Schule kann Claudio also an seine ästhetische Orientierung anknüpfen sowie eine Kontinuität zu den im familiären Milieu etablierten besonderen Werten und Normen herstellen. Innerhalb der einzelnen Fallrekonstruktionen zeigen sich erst auf der Ebene des Symbolischen die schulspezifischen Passungsvarianten zu der latenten Sinnstruktur der kunstbetonten Grundschule. Interessanterweise führt Majdas ausgeprägte Leistungsorientierung nicht zu einer antagonistischen Passung mit dem eher sozialästhetischen Profil der Schule. Da diese auf der Ebene der latenten Sinnstrukturen die Leistungsorientierung und eine Ausrichtung an dem gesellschaftlichen Bildungs- und Bewährungsauftrag aufrechterhält, findet auch Majda hier ihre zentralen Orientierungen repräsentiert. Obendrein führt der anscheinend schulkulturell doch etwas entschärfte Bewährungsdruck dazu, dass Majdas innere Stabilität durch den Schuleintritt nicht nachhaltig, wie es im Anschluss an das Einschulungserlebnis zu vermuten war, unter Druck gerät. Vielmehr findet sie in der tendenziell realitätsentlasteten Schulkultur zu einer Form ›routinierter Sorge‹. Die Bedrohungen des Außen, bei Majda repräsentiert durch die ›Regressionsängste‹ der Eltern, scheinen für sie durch das Ausblenden der Realität als Strukturmerkmal der kunstbetonten Schulkultur zu einem sekundären Gewinn an innerer Stabilität zu werden. Dadurch gelingt es ihr, neben den zu erbringenden Leistungsnachweisen auch die Bildungsangebote der Schule als Anlässe zur Selbstbildung zu nutzen. Zudem kann sie in der Schule über den Aufbau von Peerbeziehungen an die Erfahrungen der diffusen Einbettung in der frühen Kindheit anknüpfen. Bei Lek ist die Passungsproblematik auf der symbolischen Ebene äußerst ambivalent. Zum einen fehlen in seinem Fall beim Eintritt in die Institution genau jene sicheren familiären Bindungen, deren Abwesenheit ein Einlassen auf die in der
6.2 Der Einstieg in die institutionelle Schulbildung als Konfrontation
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Schule anzubahnenden Lehr- und Lernprozesse behindert. Aus diesem Grund fällt er genau in den engeren Bereich der antizipierten Problematiken, auf die die Schule mit ihrem kunstbetonten Profil explizit eingehen möchte. Darüber hinaus zeigt sich bei Lek, dass er Momente gelingender Individuierung genau im Kernbereich des Profils macht – im künstlerischen Ausdruck und in ästhetischen Erfahrungen. Gerade weil Lek nun aber der optimale Adressat für den imaginären Entwurf des Schulprofils ist, verstrickt er sich auf der Ebene des Symbolischen stark in die Dilemmata der kunstbetonten Schulkultur. So wird die kunstbetonte Grundschule für Lek zum Ort einer doppelten Realität. Zum einen wird er dort durch den sich erhöhenden Rationalisierungsdruck und die von ihm geforderte Selbsttätigkeit mit einer gesteigerten Krisenproblematik konfrontiert. Zum anderen stellt die kunstbetonte Schule aber auch verstärkt die Räume zur Verfügung, in denen Lek die Überwindung seiner fallstrukturellen Problematik gelingt. Diese Felder sind zudem in der kunstbetonten Grundschule mit einer gesteigerten Anerkennung verknüpft. Die dort in Ansätzen entfaltete Bewältigung bleibt jedoch bereichsspezifisch. Die Schule und Lek stehen hier sozusagen vor einer gemeinsamen Übertragungsproblematik: Die Grenzen der kunstbetonten Schulkultur werden zu den Grenzen von Leks Bewältigungsmustern. Die Schule kann nämlich auf der symbolischen Ebene ihr Versprechen der Etablierung eines durch Stellvertreterschaft entlasteten Schonraums für Krisen durch Muße nicht umfassend einlösen. Dadurch wird Lek in eine Anerkennungsproblematik verstrickt. Das in den Feldern möglich werdenden ästhetischen Ausdrucks gelingende Passungsverhältnis bricht in den Bereichen, in denen diese ästhetische Orientierung in der Schule nicht aufrechterhalten werden kann, immer wieder krisenhaft auf. Die Instabilität der Familienbeziehung, die durch die an der elterlichen Symbiose ausgerichtete schulkulturelle Ausdrucksgestalt gemindert werden sollte, setzt sich damit letztendlich in der Schule fort. Bei Claudio ergibt sich im Kontrast dazu der besondere Fall einer harmonischen Passung nicht wie bei Majda zu der latenten Sinnstruktur der Schulkultur an sich, sondern zu dem dilemmatischen Verhältnis zwischen Anspruchshaltung und Umsetzungswirklichkeit und damit zwischen der Ästhetikorientierung und dem letztendlichem Leistungs- und Bewährungsbezug. Denn obwohl Claudio habituell ausgeprägt ästhetisch orientiert ist, verbürgt er ebenso habituell, wahrscheinlich aufgrund der im familiären Milieu gelebten ästhetisierten Lebensform, die in spezifischen Bereichen immer wieder nur scheinbar aufrechterhalten werden kann, implizit die Grenzen des Ästhetischen. Claudio wird so in Kombination mit seiner Erwachsenen-Orientierung nicht wie Lek zum Adressaten der besonderen Profilierung, sondern zum Träger und Akteur der symbolischen Ordnung der SonnenlichtGrundschule. Aufgrund seines habituellen Wissens über die Grenzen der Felder für
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6. Vergleichende Zusammenführung der Fallanalysen
Krisen durch Muße weicht er zum Ausleben seiner Abenteuer-Orientierung überdies auf außerschulische Felder aus, die ihm aufgrund seiner familiären Lagerung in reichhaltiger Form zur Verfügung stehen. Auch für die Ebene des Imaginären ergeben sich wiederum für jeden Fall sowie innerhalb der Fälle unterschiedliche Passungsvarianten. Während Majda eine harmonische Passung auf der Ebene des Symbolischen aufweist, entwickelt sie zu dem Imaginären der Schulkultur keine besondere Nähe. Im Gegenteil: Entgegen der Intention der Schule, zu ihren Schülern ein symbiotisches Verhältnis aufzubauen, begibt sich Majda an keinem Punkt in eine diffuse Beziehung mit der Schule bzw. mit einzelnen Lehrern. Durch diese durchgehend aufrechterhaltene distanzierte Haltung begegnet sie gelingend dem sich bei Lek zeigenden Risiko einer Verstrickung in eine schulische Anerkennungsproblematik. Im Gegensatz dazu führt die besondere Nähe Leks zu dem Imaginären der Schulkultur zu eben jenem krisenbelasteten Abhängigkeitsverhältnis. Der Mythos des Sonnenlichts, der die Integration des Differenten verspricht, korrespondiert mit Leks Selbstimagination des ›normalen Jungen‹. Der dominante Schulmythos unterstützt somit indirekt Leks Habitusstrategie des Ausblendens des individuell Besonderen, wodurch ein Prozess der Selbstreflexion, der allein zu einer Veränderung der krisenbelasteten Fallstruktur beitragen könnte, in der Schule nachhaltig verstellt wird. Gelingend kann diese Passung nur zu besonders profilnahen Lehrern und vermutlich in jenen Bereichen ungebrochener Ästhetikorientierung umgesetzt werden. Infolge der Nähe Claudios zu der dilemmatischen Struktur der Schulkultur auf der Ebene des Symbolischen, in die Teile des Imaginären der Schulkultur bereits eingegangen sind, weist auch er eine gewisse Nähe zu jenem dominanten Schulmythos auf. Seine bevorzugten Selbstimaginationen als Held und Abenteurer, in denen er die Grenzen der familiären Anerkennungsräume spielerisch überwindet, kann er in der Schule jedoch nur in Ansätzen ausleben. So wird er dadurch, dass er die symbolische Ausdrucksgestalt auf der Akteursebene verbürgt, ein wenig zum ›Held der Schulkultur‹, der sich für die anderen Kinder, aber auch für die Lehrer im Dienste der ›guten Sache‹, der Fürsorge für den Anderen und die Aufrechterhaltung der schulischen Ordnung einsetzt. Dadurch kann er sich gleichsam als vollwertiges Mitglied einer ästhetisierten Lebensform präsentieren und so über die Passung zur Sonnenlicht-Grundschule seine Zugehörigkeit zu der Künstlergemeinschaft sichern. Die gesteigerte individuelle Notwendigkeit, kompensatorische Räume des Spiels aufzusuchen, verlagert er jedoch in außerschulische Bereiche. So entgeht Claudio durch diese Distanz zum eigentlichen Ziel des Schulprofils ebenso wie Majda einem schulkulturellen Abhängigkeitsverhältnis.
6.3 Fallspezifische Bearbeitung der schulkulturellen Passung
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6.3 Fallspezifische Bearbeitung der schulkulturellen Passung an der kunstbetonten Regelgrundschule Wie entwickelt sich nun diese erste Manifestation des schulkulturellen Passungsverhältnisses bis zu dem Zeitpunkt der Erhebungen? Das geringe Alter der Schüler sowie die besondere Form der Interviews machen es an dieser Stelle besonders schwierig, einen Verlauf des Passungsverhältnisses abzubilden. Aus diesem Grund wird in den folgenden Kontrastierungen der Schwerpunkt auf die von den Schülern ausgebildeten schulbezogenen Bewältigungsstrategien gelegt, mit denen diese versuchen, die je fallspezifischen Passungsverhältnisse zu gestalten. Diese Bewältigungsmuster sollen schließlich auch nicht vorrangig danach beurteilt werden, ob sie nun antagonistische oder harmonische Passungsvarianten darstellen. Vielmehr geht es im Anschluss um die Fragestellung, in welchen Fall es gelingt, die im Rahmen der Schulkultur möglichen Handlungsspielräume und dominierenden Spannungen so zu nutzen und zu bearbeiten, dass eine erfolgreiche Schulkarriere möglich wird. Für Majda ist entscheidend, dass sie zum einen durch die als Schonraum angelegte schulkulturelle Ausdrucksgestalt eine Entlastung von den bedrängenden familiären Leistungserwartungen erlebt. Ihre Leistungsorientierung bleibt zwar ungebrochen, aber sie findet in der Schule, auch durch den Aufbau stabiler PeerBeziehungen, zu einer gewissen Distanz gegenüber den elterlichen Regressionsängsten. Dadurch kann sie sich neben dem Ziel, möglichst hohe Leistungsbewertungen zu erreichen, auch auf die in der Schule vermittelten Inhalte einlassen, was bei ihr schließlich zu einer partiellen Überschreitung der Herkunftsgrenzen durch Bildung führt. Diese in weiten Teilen innerschulische Stabilität eines eigentlich an höchsten Leistungsansprüchen ausgerichteten Selbstbildes kann nun jedoch auch deshalb aufrecht erhalten werden, weil Majda im Verlauf ihrer Schulkarriere in der Regel keine Schwierigkeiten hat, diesen Ansprüchen zu genügen. So bleiben auch in der Beziehung zu der Schule der Habitus der Scheiternsvermeidung und die Selbstimagination der überdurchschnittlichen Schülerin bestehen, Majda entwickelt jedoch ein spezifisches, auf die schulkulturellen Möglichkeiten abgestimmtes Bewältigungsmuster. Indem sie sich gerade nicht in die schulkulturell angebotenen diffusen Beziehungen der stellvertretenden Krisenbewältigung hineinbegibt, sondern insbesondere die Beziehungen zu den Lehrern als rollenförmige gestaltet, kann sie die Fiktion der stets leistungsstarken Schülerin etablieren und aufrechterhalten, denn sie erzeugt das Bild, dass sie eben jene angebotene Hilfe nicht benötigt, das sie aber nur aufrechterhalten kann, weil sie von ihren Eltern entsprechende Unterstützungsleistungen erhält. In der Schule kann sie diese Fiktion auch deshalb konstant bewahren, weil die Lehrer den Schülern in der Regel
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6. Vergleichende Zusammenführung der Fallanalysen
annehmend und krisenvermeidend begegnen und diese Selbstpräsentation Majdas nicht kritisch befragen. Dadurch gibt sie außerdem vor, das, was der Lehrer lehrt, verstanden zu haben und spiegelt so auch das Lehrerhandeln und den angestrebten Vermittlungsprozess als erfolgreich (vgl. Bourdieu/Passeron 1971: 107). Was hier passiert, ist also die zweiseitige Inszenierung eines gelungenen Vermittlungsprozesses. Nicht die biografische Passung zwischen Schule und Selbst scheint damit an dieser Stelle entscheidend für die erfolgreiche Schulkarriere, sondern die Kompetenz, diese auf dem Boden einer rollenförmigen Distanziertheit in Abhängigkeit von der jeweiligen Schulkultur herstellen zu können. Bei Lek ist es nun genau das Fehlen einer solchen Kompetenz, zu der Schule eine rollenförmige Beziehung einzugehen, die zu einem dauerhaft ambivalenten Passungsverhältnis führt. Sein schulbezogenes Bewältigungsmuster nutzt im Gegensatz zu Majda genau jene Angebote der stellvertretenden Krisenbewältigung. In dem Bemühen, sich selbst möglichst selten in eine aktiv selbsttätige Position zu bringen, versucht er in der Regel, wie gesagt ganz im Gegensatz zu Majda, von den Lehrern so viel Hilfe wie möglich einzufordern, um die an ihn gestellten Aufgaben zu bewältigen. Mit den profilnahen Lehrern kann er auf diese Weise durchaus pädagogische Beziehungen aufbauen, die sich der Kernstruktur eines Arbeitsbündnisses annähern. Jedoch ist er auch hier nicht in der Lage, die Grenzen der diffusen Beziehungsanteile zu erkennen. Sein Anspruch besteht in einer auf Dauer gestellten stellvertretenden Krisenbewältigung. Da die Schule tendenziell diesen Erwartungen entgegenkommt, erfährt Lek in Teilen durchaus eine Bestätigung dieses schulischen Bewältigungsmusters. Strukturell kann die Schule diese Nähe jedoch nicht umfassend einlösen. Leks Bewältigungsstrategie gerät daher sowohl in Bezug auf die profilfernen und die profilnahen Lehrer als auch innerhalb der partiell gelingenden Arbeitsbeziehungen, die ebenso durch spezifische Rahmungen strukturell begrenzt sind, immer wieder an ihre Grenzen. Lek kann also in Bezug auf die Schulkultur der kunstbetonten Grundschule keine durchgehend gelingenden Bearbeitungsformen seiner Passungsprobleme entwickeln. Aufgrund seiner fehlenden Kompetenz, die schulischen Erwartungen als rollenförmige wahrzunehmen, verstrickt er sich in die schulkulturellen Strukturproblematiken. Das in Bezug auf die Fragestellung der Studie besondere Ergebnis dieser Fallanalyse ist, dass Lek obzwar, oder gerade weil er mit einer Fallstruktur an die Schule kommt, die in den Fokus der Kunstbetonung fällt, sich in eben jene in der Schulkulturanalyse vermutete riskante Abhängigkeitsbeziehung verstrickt.116 Gerade bei 116 Dieses Ergebnis ist anschlussfähig an die Analysen von Böhme (2000). Danach birgt gerade eine Kongruenz zwischen biografisch-motiviertem und schulisch-verheißenem Entwurf eine große Enttäuschungsanfälligkeit in sich, wenn die Institution an der Verwirklichung des Imaginären scheitert.
6.4 Der Kunstunterricht als verbürgender Kern des Schulprofils?
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Lek, der mit dem am geringsten konturierten Selbst an die Schule kommt, gelingt es infolgedessen nicht, zum Aufbau eines strukturellen Optimismus beizutragen, der Grundvoraussetzung für die Entwicklung einer eigenständigen Bearbeitung von Krisenproblematiken und damit auch individueller Autonomie ist. Claudio ist hingegen der einzige Fall, der aufgrund seiner ganz besonderen Passung zu der symbolischen Ebene der Schulkultur im Verlauf seiner Schullaufbahn an der Sonnenlicht-Grundschule keine schulbezogenen Bewältigungsstrategien ausbilden muss. Insofern kann hier die These aufgestellt werden, dass es für ihn einer Bearbeitung des von vornherein harmonischen Passungsverhältnisses nicht bedarf. Zu benennen wäre allerdings die Auslagerung von Teilen seiner habituellen Bewältigungsmuster. Claudios habituelle Kompetenz, die Rollenerwartungen von Erwachsenen und somit auch Lehrern zu entschlüsseln, ist als Grund dafür anzunehmen, dass auch er sich nicht in diffuse Beziehungsmuster mit einzelnen Lehrern begibt, sondern darum bemüht ist, sich als gleichwertiges Mitglied in solche Zusammenhänge einzubringen. Sein Akteursstatus innerhalb der Schulkultur impliziert demgegenüber eine Annäherung an die Rollenmuster der professionellen schulischen Akteure. Claudios Schulkarriere verläuft demnach bis zum Zeitpunkt des Interviews an der Sonnenlicht-Grundschule harmonisch.117
6.4 Der Kunstunterricht als verbürgender Kern des Schulprofils? Im Zuge der Analysen der Schülerpositionen wurde das Passungsverhältnis zu der Schulkultur der kunstbetonten Grundschule ausschließlich über die sprachlichen Selbstauskünfte der Kinder rekonstruiert. Dieses Vorgehen konnte u.a. aufzeigen, dass, ohne eine methodische Vermittlung durch Eltern- oder Lehrerinterviews, in den Schülergesprächen Passungsvarianten zu der dominanten Schulkultur sowie fallspezifische Bewältigungsstrategien thematisch werden. Um jedoch mit einer solchen Anlage nicht die Elemente auszublenden, in denen eine kunstbetonte Schulprogrammarbeit ihrer intentionalen Anlage am Nächsten kommen müsste, wurde darüber hinaus ein zentraler Kern des Profils, die künstlerische Tätigkeit der Kinder Die Hoffnungen und von der Schule geweckten Erwartungen, in der Schule zu einer Kompensation und Stabilisierung zu finden, »kehren sich dann in eine bedrohliche Steigerung der fallspezifischen Krisenkonstellation um« (ebd.: 263f.). 117 Bei Claudio deuten sich wahrscheinlich aufgrund des Alters noch keine kritischen Haltungen gegenüber dem familiären Milieu an, wenngleich dort aufgrund der recht eng an bestimmten Werten orientierten Gemeinschaft für die Zukunft durchaus Konfliktpotenzial zu vermuten ist. Zum Zeitpunkt des Interviews erlebt Claudio diese unterschiedlichen Lebenswelten und Werthaltungen jedoch noch nicht als problematisch, sondern versucht noch, den differierenden Ansprüchen gerecht zu werden.
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6. Vergleichende Zusammenführung der Fallanalysen
im Kunstunterricht in die Einzelfallanalysen miteinbezogen. Für jeden Fall wurden zum einen im Kunstunterricht entstandene ästhetische Produkte analysiert und diese in einem zweiten Schritt mit den Aussagen der Kinder über ihre Arbeiten sowie mit den zuvor erstellten Fallanalysen vermittelt. In Bezug auf die eingangs entwickelte heuristische Rahmung zu ästhetischer Erfahrung und ästhetischer Bildung ergeben sich übergeordnet für alle Fälle folgende Ergebnisse: 1. Alle Produkte der Kinder können trotz der zum Teil stark reduzierten Bildsprache mit dem sequenzanalytischen Verfahren empirisch zugänglich gemacht werden. Wenn mehrere Arbeiten vorliegen, erleichtern es diese Serien, als sozusagen ›übergeordnete Sequenzen‹, die Erweiterung oder Verengung individueller Entwicklungs- und Handlungsspielräume im ästhetischen Ausdruck nachzuzeichnen. Sogar eine sich der Kunst in der Schule entziehende Haltung (Claudio) konnte bestimmt werden. Als ein sicheres Ergebnis der Werkanalysen kann darüber hinaus festgehalten werden, dass alle Kinder mit ihren Arbeiten etwas ausdrücken, das trotz der übergeordneten unterrichtlichen Rahmung in erster Linie in Verbindung mit ihrem Selbst steht. Diese Form des ästhetischen Selbstausdrucks konnte schließlich durch den Einbezug der zuvor erarbeiteten Fallanalysen auch bezüglich des je individuellen inhaltlichen Gehalts aufgeschlüsselt werden. In den Arbeiten der Kinder werden fallstrukturelle Besonderheiten thematisch, die in diesem besonderen Modus des Selbstausdrucks innere Dilemmata, Zukunftsentwürfe oder ideale Selbstkonstruktionen zum Teil viel prägnanter zum Ausdruck bringen, als es über die Rekonstruktionen der sprachlichen Darstellungen möglich geworden war. In diesen konnten an manchen Stellen aufgrund der besonderen Form der biografischen Berichte nur Vermutungen formuliert werden, die ausdifferenziert und modifiziert werden mussten. Das heißt auch, dass die Kinder in der Kunst zu einer Form des Selbstausdrucks finden, die ihnen selbst – und das trifft den Kernbereich der theoretischen Bestimmungen der ästhetischen Erfahrung als zunächst nicht begrifflich mitteilbare – sprachlich-reflexiv so (noch) nicht zugänglich ist. Gegen die kritische Position Parmentiers (2004; vgl. Kap 2.4) kann also schon an diesem Punkt eingewendet werden, dass Kinder zu einem ästhetischen Selbstausdruck in der Lage sind und dass dessen Grundstrukturen sich nicht von einer allgemeinen theoretischen Bestimmung der Strukturen ästhetischer Erfahrung absetzen. Allerdings ist auch offensichtlich, dass in einem solchen Modus im Wesentlichen Bezüge zum Ich und zu den Beständen des Selbst thematisch werden. Dass Kinder kaum in der Lage sind, ›Kunst‹ zu machen, weil sie eben noch wenig komplexe Beziehungen zu den kulturellen Beständen herstellen können, bestätigt sich dadurch.
6.4 Der Kunstunterricht als verbürgender Kern des Schulprofils?
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Ferner ist auffallend, dass all dies trotz der unterrichtlichen Rahmung, die zum Teil sehr enge Vorgaben aufweist (Claudio), zum Vorschein kommt. Eine Schlussfolgerung daraus ist, dass ästhetische Produkte, selbst wenn sie völlig leidenschaftslos ausgeführt werden, immer in einer besonderen Beziehung zum Subjekt stehen, selbst wenn – sollte nicht die Möglichkeit bestehen, Einzelfallanalysen unterstützend hinzuzuziehen – ausschließlich diese leidenschaftslose oder verweigernde Haltung offenbar wird. Durch die methodische Vermittlung von Einzelfallanalyse und Werkanalyse konnte nun aber auch der spezifische Inhalt der ästhetischen Erfahrung konkret bestimmt werden. Diese Kombination scheint daher vielversprechend für weitere Forschungsarbeiten zur individuellen Relevanz ästhetischer Erfahrungen im Kontext von erziehungswissenschaftlichen Fragestellungen. 2. Das sequenzanalytische Verfahren ermöglicht es außerdem, die theoretisch anzunehmende Differenz zwischen ästhetischer Erfahrung und ästhetischer Bildung am Material aufzuzeigen. Besonders deutlich wird bei Majda, dass sie mit der Aussage M: dieses hier, erstmal als wir halt so beredet haben kam mir irgendwie so’n muster in meinen kopf, ich weiß nicht, und dann bin ich auf die idee gekommen. […] das kam mir einfach so ins gedächtnis, eine kugel in der mitte und auch so zwei zweige, sowas ähnliches eine ästhetische Erfahrung beschreibt. Anregungen von außen – wie Sinneseindrücke aber auch Thematisierungen der Lehrerin – verbinden sich mit den im Gedächtnis aufgehobenen Beständen des Selbst zu einer vorher nicht da gewesenen Form, die bildlich dargestellt werden kann. Was von ihr nun jedoch in der Arbeit zum Ausdruck kommt, nämlich das innere Dilemma einer angestrebten Entwicklung durch Bildung, die die Gefahr einer Aufkündigung des familiär mit einer spezifischen Bedeutung besetzten Generationenverhältnisses enthält, ist Majda reflexiv nicht zugänglich, sodass diese dilemmatische Situation über das sprachliche Material nicht in solcher Eindeutigkeit rekonstruiert werden konnte. Lediglich die Annahme wurde festgehalten, dass Majda aufgrund der von ihr aufgenommenen Bildungsangebote mit den elterlichen Rahmungen oder dem familiären Milieu in Konflikt geraten könnte. Insofern verbleibt der Gehalt der künstlerischen Tätigkeit an dieser Stelle im Modus der ästhetischen Erfahrung, da fallstrukturell keine diesbezügliche Transformation rekonstruierbar ist.
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6. Vergleichende Zusammenführung der Fallanalysen
Es kann an dieser Stelle damit nicht von einem Bildungswert dieser Erfahrung gesprochen werden. Im Kontrast dazu konnten bei Lek Ansätze einer solchen Transformation der Fallstruktur nachgewiesen werden, denn er findet bei der Beschreibung seiner ersten Arbeit zu einer Äußerung, die eine Konturiertheit des Selbst zum Ausdruck bringt, die in dem biografisch orientierten Gespräch ausbleibt: »weil ich drachen liebe«. Diese leichte Transformation ist sozusagen der Bildungsgehalt der im Werk zum Ausdruck kommenden ästhetischen Erfahrung. Der hier sehr geringe Grad der Transformation zeigt jedoch an, dass es angebracht, ist von Bildungsprozessen zu sprechen. Die Bildungsbedeutung der ästhetischen Erfahrung entschlüsselt sich dem Subjekt also nur zum Teil, oder eben in einem fortschreitenden biografischen Prozess, der eventuell erst über eine konkrete Erinnerungsarbeit an den gemachten ästhetischen Erfahrungen (Mattenklott 2004a) eingeholt werden kann. An den Fällen Majda und Lek kann außerdem nachgewiesen werden, dass die Erfahrung und schließlich auch der Bildungsgehalt eine Bestätigung dessen in sich bergen, was mit Schiller als das eigene ›Wollen‹ oder auch als Bestätigung und Ausdruck eines autonomen Selbstentwurfs bestimmt werden konnte. Der Gewinn besteht entsprechend den heuristischen Bestimmungen in einer zunehmenden Nähe zu sich selbst, die auch mit den Begriffen »Selbstvergewisserung« (Alheit/Brandt 2006) sowie »Selbstvertrauen« (Bertram 2005) treffend abgebildet ist. Dieser Gewinn richtet sich jedoch, wie z.B. bei Lek deutlich wird, mehr oder weniger krisenhaft gegen bisherige habituelle Strukturen und Bewältigungsmuster. Diese Ergebnissicherung muss nun jedoch noch hinsichtlich der Frage nach der Bedeutung dieser im Kunstunterricht sich eröffnenden Räume für Krisen durch Muße für den schulkulturellen Bildungs- und Bewährungsraum erweitert werden. Diesbezüglich werden in einem ersten Schritt die drei Fälle kurz noch einmal kontrastiv gegenübergestellt: Gerade für Lek stellen die Räume für Krisen durch Muße fallstrukturell entlastende Erfahrungsfelder dar, in denen es ihm gelingt, die Selbstimagination des ›normalen Jungen‹ aufzugeben und zu einer besonderen Form des Selbstausdrucks und der Selbstgestaltung zu gelangen. Die diffuse Konturierung seines Selbst kann er hier sogar als Offenheit gegenüber künstlerischen Ausdrucksformen schöpferisch wenden. Diese kompensatorisch-ästhetische Orientierung wird nun durch die kunstbetonte Schule gestützt, und die im Kunstbereich gelingenden Ausdrucksgestalten werden mit einer besonderen Anerkennung und Wertschätzung versehen. So hat Lek den Ruf, ein ›Künstler‹ zu sein. Die Werkanalyse macht jedoch in der Zusammenschau mit Leks Selbstauskünften deutlich, dass gerade Lek, dessen Selbstbild sich auf den im Kunstunterricht und in der künstlerisch-spielerischen
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Tätigkeit generell möglich werdenden Selbstausdruck stützt, durch die Rahmungen des Unterrichts maximal eingeschränkt wird. So kann er in den wenig verregelten Phasen der Stunde zwar jenen bedeutsamen Selbstausdruck realisieren, wird aber durch die in der Aufgabe der Unterrichtseinheit liegenden Zielbestimmungen (der Bauklotzdruck) sowie die Anwesenheit der anderen Kinder und deren alternative Lösungsvarianten so stark verunsichert, dass er selbst im Kunstunterricht wieder in seine Fallstruktur der Orientierung an der fiktiven Norm zurückfällt. Die schulische Rahmung wirkt in diesem Fall in hohem Grad behindernd für die Etablierung eines realitätsentlasteten Schonraums. An Lek, der aus instabilen und krisenbelasteten Herkunftsbedingungen kommt und im Grunde genau jene Bedürfnisse nach einem das Selbst stärkenden handlungs- und realitätsentlasteten Erfahrungsfeld mit sich führt, auf die die Schule mit ihrem Profil reagieren möchte, zeigen sich damit auch hier wiederum die Grenzen der schulkulturellen Ausdrucksgestalt. Die in der Kunst und im Spiel in Teilen erlangte Konturierung des Selbst, die sich auch auf andere schulische Anforderungen positiv auswirken könnte, bleibt in diesem Fall bereichsspezifisch. Eine Übertragung auf die allgemein schulischen Anforderungen, die dem Muster der Bewährung folgen, gelingt nicht. Die künstlerische Tätigkeit kann, zunächst in Bezug auf Lek, in der Schule nicht im Sinne eines Übergangsmoments als eine sanfte Gestaltung des Blickwechsels hin zu einem zunehmend rational bestimmten, szientifischen und historischen Wissen und Können (Benner 2001: 74; vgl. Kap. 2.4) beitragen. Obwohl darüber hinaus Leks eher kindlich konturiertem Selbst, das bei Schuleintritt strukturell einem präobjektiven und präsubjektiven ZurWelt-Sein nahe ist (Meyer-Drawe 1988: 130f; vgl. Kap. 2.4), der symbolische Ausdruck in der ästhetischen Tätigkeit entgegenkommt, werden dadurch, dass er diesen Weltzugang in der Schule nur in Teilen bestätigt findet, die Grenzen dieses Bewältigungsmusters und das Unzureichende dieser Herangehensweise gegenüber den schulischen Leistungsanforderungen für Lek nun gesteigert erfahrbar und dadurch mit einem erhöhten Krisenpotenzial versehen. Wichtig bleibt jedoch auch, dass Lek mit dieser Orientierung schulkulturell nicht in eine durchgehend marginalisierte Anerkennungsposition gerät, sondern sich aufgrund der Schwierigkeiten der Schule, ihre Kunstbetonung umfassend zu verbürgen, in einem ambivalenten Passungsverhältnis befindet. Von einem Scheitern der Schulkarriere kann von daher an diesem Punkt nicht gesprochen werden, wohl aber von einem die fallstrukturellen Krisenproblematiken reproduzierenden Verlauf. Im Kontrast zu Lek zeigen sich bei Majda keinerlei Konflikte mit der unterrichtlichen Rahmung der künstlerischen Tätigkeit. Von allen drei Fällen kann Majda somit den im Kunstunterricht zur Verfügung stehenden Raum für Krisen durch Muße für sich selbst bestmöglich nutzen. Die habituell verankerte Angst vor einem
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6. Vergleichende Zusammenführung der Fallanalysen
möglichen Scheitern und die Fixierung auf das Lob der Lehrer kann sie dort suspendieren und durch eigene Wertmaßstäbe und Empfindungen ersetzen. Der bei Majda stark ausgeprägte leistungsbezogene Bewährungsdruck wird demnach im Kunstunterricht noch einmal besonders vermindert. Die ästhetische Erfahrung kann in diesem Fall anscheinend ganz besonders gut ihre spezifische Wirkkraft entfalten. Zurückzuführen ist dies darauf, dass die Konstitution ästhetischer Erfahrung für Majda keine kompensatorische Notwendigkeit in sich birgt. Eine ästhetische Orientierung ist bei Majda nicht habituell verankert, sondern bei ihr findet sich eben jene ausgeprägte Leitungsorientierung, die sich an Situationen der Bewährung ausrichtet. Der in der Schule entstehende Raum für Krisen durch Muße reicht angesichts dieser ansonsten äußerst dominant von Entscheidungskrisen geprägten Bewährungsdynamik (Oevermann 2004) aus, den ästhetischen Erfahrungsmodus auch in der Schule als Entlastung von einem unmittelbaren Handlungs- und Bewährungsdruck zu erleben. Das kunstbetonte Profil entfaltet seine besondere Wirkung hier gerade befreiend gegenüber der Dominanz anderer Krisentypen und Erfahrungsformen. Einen Sonderfall markiert wiederum Claudio, dem ebenfalls eine in Teilen sehr ausgeprägte Suche nach Räumen für Krisen durch Muße, insbesondere noch als kindliches Spiel, zugewiesen werden konnte. Die Werkanalyse bestätigte jedoch die im Rahmen der Schule vermeidende Haltung Claudios insbesondere gegenüber künstlerischer Tätigkeit sowie auch allgemein gegenüber einem Ausleben dieser ästhetischen Orientierung. Speziell in der Kunst und auch im Kunstunterricht manifestiert sich für Claudio die Differenz zu der Künstlergemeinschaft, die er eigentlich einzuebnen bemüht ist, um einem Ausschluss aus dieser alternativen Wertegemeinschaft zu entgehen. Da er darüber hinaus mit den Grenzen des ästhetischen Erfahrungsmodus habituell umzugehen weiß, gelingt es ihm, in der Schule eine gelingende Passung vorwiegend durch eine Orientierung an den zu erfüllenden Aufgaben und den impliziten Erwartungen der Lehrer zu ersetzen. Insofern begegnet er auch dem Kunstunterricht als einer Bewährungssituation. Das besondere Profil der Schule birgt damit in seinem Kernbereich, dem Kunstunterricht, für Claudio ein Krisenpotenzial und auch eine Passungsproblematik, der er aber durch eine besondere Gewichtung seiner Erwachsenen-Orientierung geschickt ausweichen kann. Aufgrund der auf der symbolischen Ebene inkonsistenten Verbürgung der Kunstbetonung entwickelt sich für Claudio daraus kein schulkulturelles Passungsproblem. Der Kunstunterricht ermöglicht also durchaus ästhetische Erfahrungen, die, wie zuvor gezeigt wurde, als ästhetische Selbstbegegnungen speziell eine biografische Relevanz in Form der Entlastung von einer ansonsten gerade in der Schule domi-
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nanten Bewährungsdynamik in sich bergen können (Bubner 1989). Diese ›Befreiung‹ können aber nur die Kinder (Majda) als gelingend erfahren, die nicht auf eine Ausdehnung dieses Erfahrungsmodus in andere Erfahrungsbereiche und damit auch auf das allgemein Schulische dringen oder hierauf angewiesen sind (Lek),und dadurch in ein riskantes institutionelles Abhängigkeitsverhältnis geraten können, sondern diese realitätsentlastete Gegenwelt im Sinne jenes von Bubner so genannten wohl trainierten Grenzgängertums (vgl. Bubner 1989: 101) auszuschöpfen in der Lage sind. Nur in diesem Fall geraten die verschiedenen Erfahrungsmodi nicht mit der schulischen Realität in Konflikt und können im Sinne der Überschreitung von Herkunftsgrenzen (Benner/Tenorth 1996: 13) biografische Bedeutung erlangen. Ästhetische Erfahrungen wirken sich somit auch bei Kindern als Formen der Selbstvergewisserung aus. Die Erfahrung bleibt aber sowohl auf institutioneller Ebene als auch auf der Ebene der Erfahrungen des Subjekts nicht mit den in der Schule vorherrschenden Anforderungen vermittelbar. Der Anspruch, ästhetische Erfahrung zum Kern von Schulkultur zu erheben, muss strukturell scheitern. Bleibt die Verschiedenheit der zu unterscheidenden Erfahrungen gewahrt, können die Räume für Krisen durch Muße aber auch in der Schule erweitert werden. Die Anerkennung dieser besonderen Form des Selbstausdrucks und der Selbstvergewisserung kann eine Entlastung von Bewährungsdynamiken bedeuten. Über die Wertschätzung ästhetischer Kompetenzen oder Interessen, die in anderen Lern- und Bildungsprozessen nur bedingt zum Vorschein kommen, kann ferner zu einer Stabilisierung von Individuationsprozessen beigetragen werden. Abbildung 11 (S. 344) stellt die unterschiedlichen Passungsverhältnisse und ihre Kontrastierung noch einmal im Überblick dar.
6.5 Die Platzierung der Schüler in einer schulkulturellen Diffundierung des Schulischen – Typisierung der Passungsverhältnisse Im Anschluss an die Gegenüberstellung der einzelnen Fälle im Kontext der Schulkultur können die differenzierten Strukturvarianten der Passungsverhältnisse im Sinne einer Typenbildung weiter generalisiert werden. Forschungsmethodisch ermöglicht der Anschluss an die methodologischen Bestimmungen der objektiven Hermeneutik eine solche Generalisierung, die sich auf die der jeweiligen Fallstruktur, der nach »inneren Kontrastkriterien« (Hildenbrand 2005: 67f.) ausgewählten Fälle, zukommende allgemeine Geltung stützt (vgl. Kap. 3.2). Eine solche Typisierung muss nun, aufgrund der in der Studie angelegten zweiseitigen Rekonstruktion des Anerkennungsraums der kunstbetonten Schulkultur,
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6. Vergleichende Zusammenführung der Fallanalysen SELBST Voraussetzungen
SCHULE Einstieg
SELBST’ Bearbeitung
Real Rahmende gesellschaftliche Strukturierungen. Antinomien. Krise der Struktur der modernen Regelschule in Anbetracht der Bedingungen des Einzugsgebietes.
Majda: Aufstiegs- und leistungsorientierte familiäre Lagerung. Knüpfung der Stabilität des Selbst an ›Höchstleistungen‹.
Majda: Zuspitzung der Selbstproblematik. Bewährung in Bezug auf schulische Leistung ungesichert.
Majda: Konstanz in der Leistungsorientierung. Differenz zwischen Leistungsorientierung und dem sozialästhetischen Profil.
Lek: Instabile familiäre Bindungen, Orientierung am fiktiv ›Normalen‹. Defizitäres Selbstverhältnis. Krisenauslösende Differenzerfahrungen zu dieser ›Normalbiografie‹.
Lek: Krisenerfahrung durch zunehmenden Rationalisierungsdruck sowie gesteigerte Differenzerfahrungen.
Lek: Ausweitung der Räume für Krisen durch Muße. Anerkennung als ›Künstler‹ .
Claudio: Alternative Familienbeziehungen und Werthaltungen. Diskontinuitätserfahrungen in den primären Bindungen, gepaart mit einem Trauerverbot.
Claudio: Harmonischer Einstieg in die Regenbogen-Grundschule.
Claudio: Passung zwischen Künstler-Milieu und Kunstbetonung.
Kunstunterricht
Symbolisch
Majda: Gesteigerte Entlastung von der Leistungsaskese aufgrund der Differenz der Erfahrungsmodi.
Unhintergehbare antinomische Grundstruktur des pädagogischen Handelns in der Schule behindert die Etablierung des Modus ästhetischer Erfahrung und führt zu einer unreflektierten Diffundierung des Schulischen. Leistungsbezogenheit und die Vermittlungsaufgabe kanonisierter Wissensbestände wird latent aufrechterhalten.
Lek: Majda: Habitualisierte Scheiternsvermeidung. Aufmerksamkeit für Bewährungsdynamiken.
Majda: Kompensatorische Einbettung. Latente Entlastung vom stetigen Bewährungsdruck.
Majda: Entwicklung durch Bildung.
Lek: Vermeidung reflexiver Selbstaufmerksamkeit und Vermeidung von Bewährungssituationen. Selbstausdruck im Spiel und in der Kunst.
Lek: Bereichsspezifische Entlastung von individueller Krisenproblematik führt an sich zu einer Fortsetzung instabiler Familienbeziehungen als riskante schulkulturelle Abhängigkeitsbeziehung.
Lek: Eine Bearbeitung der riskanten Abhängigkeitsbeziehung gelingt nicht. Verstrickung in die schulkulturellen Dilemmata. Diffundierung des Schulischen verhindert eine rein antagonistische Passung.
Claudio: Habituelle (ästhetische) Abenteuer- und Erwachsenenorientierung.
Claudio: Harmonische Passung zur latenten Sinnstruktur kunstbetonter Schulprogrammarbeit.
Claudio: Aufgrund gelingender habitueller Passung bedarf es für Claudio keiner Ausbildung schulischer Bewältigungsstrategien.
Imaginär Versprechen der schulischen Integration der kulturell und sozial differenten Kinder, mit der Aussicht einer schulischen Bewährung aller - die Kultur der strukturellen Ermöglichung von Krisen durch Muße verheißt diese ›Schöpfung des Schülers‹.
Majda: Selbstbild höchster Leistungsfähigkeit.
Majda: Große Distanz zu den imaginären Ansprüchen der Schulkultur. Aufrechterhaltung rollenförmiger Beziehungsstrukturen.
Majda: Gelingende Bearbeitung der imaginären Differenz durch die Inszenierung einer gelingenden schulpädagogischen Arbeitsbeziehung. Sicherung des Selbstbildes.
Lek: Ideal des ›normalen Jungen‹.
Lek: Harmonische Passung zum schulkulturellen Ideal der Integration des Differenten und einer daraus resultierenden Stillstellung individueller Bewährungsdynamiken.
Lek: Enttäuschungs- und Diskontinuitätserfahrungen.
Claudio: Ideal des Abenteurers als Besitzer und Verbreiter beglaubigter Werte und Normen.
Claudio: Wird zum verbürgenden Akteur der Profilierung.
Claudio: Ausweichbewegungen bezüglich individueller ästhetischer Erfahrungen. Kontinuität in der persönlichen Distanz.
Abbildung 11: Passungsvarianten im schulkulturellen Anerkennungsfeld
Künstlerische Tätigkeit als Selbstvergewisserung, enthält ästhetische Bildungsprozesse. Eine Übertragung der dort erlangten Stabilität gelingt nicht.
Claudio: Unterdrückung der ästhetischen Orientierung im künstlerischen Bereich. Passungsproblematik aufgrund der dort manifesten Differenzerfahrungen zum Künstler-Milieu.
6.5 Die Platzierung der Schüler in einer schulkulturellen Diffundierung des Schulischen
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sowohl die Bedeutung der einzelnen Schüler für die auf die strukturelle Ermöglichung von Krisen durch Muße ausgerichtete symbolische Ordnung der Schule, als auch die Bedeutung dieser Schulkultur für die in ihr agierenden Schüler berücksichtigen. Obwohl der zentrale Anspruch, die Kunst und die ihr zugeordnete Erfahrungsform zum Kern der Schulkultur zu erheben, im Anschluss an die Kontrastierung der Fallstudien bereits als nicht umfassend einlösbar ausgewiesen werden konnte, ergeben sich unabhängig von dieser zentralen Frage nach der Kompatibilität der Erfahrungsmodi mehr oder weniger gelingende Passungsvarianten zwischen der konkreten symbolischen Ordnung der Schule und den einzelnen Fällen. Die Kunstbetonung zielt darauf ab, angesichts des von der Schule so etikettierten krisenbelasteten und krisenauslösenden Umfeldes, die Schule als einen Ort für Krisen durch Muße entstehen zu lassen, um im Horizont persönlicher Entwicklung die zu ihr kommenden Kinder erst zu stabilen Persönlichkeiten zu gestalten, um anschließend ein schulisches Lernen zu ermöglichen. Aufgrund des Anschlusses an diesen bildenden und sozialisatorischen Wert ästhetischer Erfahrungen, der ein Vertrauen in die eigenen Erkenntniskräfte als Voraussetzung für eine autonome Weltzuwendung und Entscheidungskompetenz erst entstehen lassen soll, diffundiert das eigentlich auf den modernen ›religiösen Erfahrungsmodus‹ der individuellen Bewährung bezogene schulische Handeln zu einer Form stellvertretender elterlicher Fürsorge, die gleichsam die Bedeutung und Rolle der Eltern übernehmen will. Das bedeutet, dass das Profil der Schule intentional auf Kinder aus deprivierten Verhältnissen abgestimmt ist, die aufgrund familiärer Krisenerfahrungen mit instabilen Selbstbildern und äußersten, strukturell überfordernden Selbstproblematiken an die Schule kommen, sodass bislang der Aufbau von Selbstvertrauen, der (so Oevermann 2004) gerade in der frühen Kindheit im Modus der ästhetischen Erfahrung erfolgt, in der familiären Primärsozialisation nicht ausreichend stattgefunden haben kann. Diese Kinder sind nun aufgefordert, sich mit der Schule in eine familienähnliche Beziehungsstruktur zu begeben, um diese Defizite in der Schule nachzuholen. Dafür verspricht die Schule eine gelingende ›Schöpfung des Schülers‹ und damit die sichere Bewährung in Bezug auf die schulischen Anforderungen. Der Vergleich der einzelnen Fälle zeigt nun aber zum einen, dass durchaus bei Majda, Lek und Claudio Selbstproblematiken aufgezeigt werden konnten – so bei Majda die Orientierung an Höchstleistungen, die bei eintretenden Abweichungen zu starken Erschütterungen des Selbstbildes führt, bei Claudio die Diskontinuitätserfahrungen, insbesondere in den Vaterbeziehungen, die nicht betrauert werden dürfen, sowie bei Lek die brüchige Orientierung an einer ›fiktiven NormalBiografie‹, aus der immer wieder krisenhafte Abweichungserfahrungen und Zugehörigkeitskonflikte entstehen. Diese Krisenerfahrungen führen jedoch nicht zwangsläufig zu
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6. Vergleichende Zusammenführung der Fallanalysen
einem strukturellen Ersatz familiärer Bindungen durch die schulkulturell eröffneten Beziehungsstrukturen. Die von der Schule entwickelte Krisenlösung bricht sich vielmehr spezifisch in den je individuellen Fallstrukturen der Schüler. In Bezug auf die Defizitkonstruktion der Schule ist vor allem Lek ein Schüler, der tatsächlich mit einer starken Krisenproblematik an die Schule kommt. Diese kann in Anlehnung an die zuvor entwickelte heuristische Rahmung (Kap. 2) auch als fehlendes Vertrauen in die eigenen Erkenntniskräfte bezeichnet werden. Die zur Bearbeitung schulischer Anforderungen notwendige Selbstreflexivität und Selbsttätigkeit sowie die Aufmerksamkeit für im Unterricht behandelte Inhalte wird dadurch verstellt. Entsprechend den Struktureigenschaften ästhetischer Erfahrungen versucht Lek, dieser Selbstproblematik vor allem im ästhetischen und spielerischen Bereich zu begegnen. In diesem strukturell vom Handlungsdruck realer Schwierigkeiten entlasteten Raum kann er sozusagen gefahrlos Krisen erleben, um zunächst einen Zugang zu sich selbst und seinen eigenen Bedürfnissen, Empfindungen, Vorlieben etc. zu finden. Ein bei Lek fehlendes Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten und ›Erkenntniskräfte‹ wird kompensatorisch im ästhetischen Erfahrungsmodus eingeholt. Insofern müssten sich gerade an Lek die zentralen mythischen Konstruktionen der Schule in der Praxis des schulpädagogischen Handelns und dementsprechend auf der Ebene des Symbolischen bewähren. Die Kultur struktureller Ermöglichung von Krisen durch Muße sollte dann im Sinne einer übergeordneten Öffnung des Schulischen für ästhetische Erfahrungen und in den real erweiterten Feldern für künstlerische Tätigkeiten bei Lek zu einem zunehmenden Aufbau eines strukturellen Optimismus führen, sodass er mit einem so konturierten Selbstverhältnis in die Lage versetzt wird, sich den in der Schule stattfindenden Vermittlungsprozessen zuzuwenden, die jenseits einer Stärkung der Persönlichkeit liegen. Lek, der fallstrukturell harmonisch zu der Defizitkonstruktion passt, durch die die Schule intendiert, auch ihre eigene Existenz zu legitimieren, wird sozusagen als Typus der obligaten ästhetischen Selbstbegegnung zum zentralen Bewährungsschüler. Aufgrund dieses harmonischen Passungsverhältnisses auf der Ebene des Imaginären zeigen sich an dem Fall Lek aber auch am deutlichsten die strukturellen Inkonsistenzen, die in Bezug auf Krisenlösungen durch Muße im Kontext der Schule entstehen. Die grundlegenden antinomischen Strukturen von spezifischen und diffusen Handlungsmomenten, in die das schulpädagogische Handeln eingebettet ist und mit denen die in der Schule Handelnden nur über ein »reflexives Austarieren« (Helsper u.a. 2007: 500) professionell umgehen können, sind nicht einseitig zugunsten von diffusen bzw. im vorliegenden schulischen Kontext sogar im Hinblick auf die Etablierung familienähnlicher Beziehungsstrukturen in der Schule aufzulösen. Entsprechend konnten auf der Ebene des Symbolischen an jener
6.5 Die Platzierung der Schüler in einer schulkulturellen Diffundierung des Schulischen
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Schlüsselszene bzw. Entscheidungssituation der Einschulungsfeier, in der es darum geht, die Spektralfarben des Sonnenlichts zu benennen (S. 165ff.), die Grenzen der schulkulturellen Imagination aufgezeigt werden. Der finale Rekurs auf universell gültige Wissensbestände sowie die daran gekoppelte Möglichkeit der Leistungsbewertung verdeutlicht in diesem Fall die Unhintergehbarkeit der schulischen Bindung an die zu vermittelnde Sache im Horizont der gesellschaftlichen Funktionen der Schule. Diese Brüchigkeit bzw. Bereichsspezifität der symbolischen Verbürgung eines diffusen, stellvertretende Hilfe gewährenden Krisenlösungsversprechens als Schutz vor dem Ernst des Lebens führt nun bei Lek, der sich strukturell auf dieses Entlastungsversprechen einlässt, zu einer Fortsetzung des familiär und fallstrukturell bei ihm bereits verankerten Mangels an biografischer Stabilität. Die Kunstbetonung bedingt damit, ganz entgegen ihrer intentionalen Anlage, bei den Schülern, an denen sich ihre Krisenlösungsstrategie vorrangig bewähren müsste, nicht eine Stabilisierung des Selbst sondern eine Reproduktion von Instabilität (Abb. 12). An Lek als zentralem Bewährungsschüler manifestiert sich somit die Unvereinbarkeit des ästhetischen Erfahrungsmodus mit dem auf individuelle Bewährung bezogenen religiösen Erfahrungsmodus, der symbolisch dominant bleibt. Dennoch kann man in Bezug auf die schulkulturelle Passung nicht von einem rein antagonistischen Verhältnis sprechen. Der erfolgreiche Verlauf von Leks Schulkarriere scheint aufgrund des defizitären Selbstvertrauens, was zu einer Vermeidung von Selbsttätigkeit führt, durchaus auf eine persönliche Zuwendung und die Gewährung von Hilfe angewiesen zu sein. Insofern kann vermutet werden, dass ein Lehrerhandeln, das in einer ausschließlich »universalistisch-distanzierten Haltung« (Helsper u.a. 2007: 499) zu den Schülern verbleibt, bei Lek mit einer gesteigerten Lernhem mung sowie erhöhten Ausweich- und Abgrenzungsbewegungen einhergehen würde. Seine Schulkarriere würde dann wahrscheinlich prekärer verlaufen, als es an der kunstbetonten Grundschule der Fall ist. Für Leks individuelle Fallstruktur ist die ambivalente Passung jedoch ebenso – wenn nicht sogar gesteigert – verhängnisvoll. Die Verstrickung in die schulkulturellen Dilemmata verstellt nämlich eine Bearbeitung der Passung. So verbleibt Lek strukturell in einer Beziehung zur Schule, in der er keine Handlungsmächtigkeit erlangen kann. Die auf Leistung und höchste Bildungsabschlüsse orientierte Majda ist dagegen, wenn man so will, der kunstbetonten Schulkultur sowohl in Bezug auf diese zentrale biografische Ausrichtung als auch auf die Selbstproblematik, die sich aus dem erhöhten Leistungsdruck ergibt, fremd. An der kunstbetonten Schule soll Leistung überhaupt erst ermöglicht werden. Das sozial-ästhetische Profil zielt nicht auf die
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Typus der obligaten ästhetischen Selbstbegegnung
6. Vergleichende Zusammenführung der Fallanalysen
Bedeutung der Kunstbetonung für den Schüler
Bedeutung des Schülers für die Kunstbetonung
Zentraler Bewährungsschüler für die kunstbetonte Regelgrundschule
Passungsverhältnis
Reproduktion von Instabilität Ambivalente Passung
Abbildung 12: Kunstbetonung als Reproduktion von Instabilität
Hervorbringung oder Unterstützung exklusiver individueller Leistungsfähigkeit, sondern auf eine davor liegende Schaffung der gleichen Ausgangsbasis für alle, um ein angenommenes wahrscheinliches Scheitern der Kinder aus dem Einzugsgebiet an den schulischen Anforderungen auszuschließen. Gleichzeitig verdeutlicht sich am Fall Majda, dass diese Defizitkonstruktion der Schule gegenüber der Bevölkerung ihres Einzugsgebiets nicht umfassend aufrechterhalten werden kann. Die Zuschreibungen von Krisenbelastungen und Bildungsopposition an das schulische Außen, durch das die eigentliche Krise des Schulischen in das außerschulisch Reale verschoben und schließlich verdeckt wird, werden durch den Fall Majda, die mit einer hohen Bildungsaffinität und Bildungsaspiration an die Schule kommt, als Konstruktionen zur Legitimation der inneren Stabilität der Schule entlarvt. Als Typus der Konzentration auf individuelle Bewährung im Modus religiöser Erfahrung ist Majda genau genommen eine Bedrohung der mythischen Konstruktion der kunstbetonten Grundschule. Besonders interessant ist es deshalb aber, wie sich dieses antagonistische Passungsverhältnis nun in der konkreten alltäglichen Begegnung zwischen Majda und der Schule entwickelt. Aus der Distanz zu den imaginären Versprechungen der Schule ergibt sich eine gelingende Passung auf der Ebene des Symbolischen, denn obgleich die Schule den Typ der individuellen Bewährung im religiösen Erfahrungsmodus konzeptionell nicht vorsieht, passt Majda letztendlich zu dem, wofür die Schule latent steht, und zu dem, was sie ohne Brüche zu produzieren auch kann,
6.5 Die Platzierung der Schüler in einer schulkulturellen Diffundierung des Schulischen
349
nämlich eine professionelle Vermittlung von in der Moderne universell gültigen und fachsystematischen Wissensbeständen.118 Zusätzlich zu dieser habituellen Passung Majdas zu den latenten Sinnstrukturen des Schulischen wirkt die kunstbetonte Schulkultur für ihre dominante Orientierung an individueller Bewährung jedoch entlastend. Der omnipräsente Bewährungsdruck wird vor allem im Kunstunterricht tatsächlich vermindert. Majda findet dort zu einer Form ästhetischer Selbstvergewisserung, die zwar (noch) nicht als ästhetischer Bildungsprozess beschrieben werden konnte, aber aufgrund der dort möglichen Entspannung ausgleichend und stabilisierend wirkt. Die Kunstbetonung kommt demnach gerade in dem Fall, der aufgrund einer ausgeprägten Leistungsorientierung in der intentionalen Anlage der Schulkultur nicht vorgesehen ist, ja sogar bedrohlich erscheint, zu ihrer eigentlichen Bestimmung. Die Kunstbetonung wird zu einer Entlastung von der Bewährungsdynamik (Abb. 13).
Typus der Konzentration auf individuelle Bewährung
Bedeutung der Kunstbetonung für den Schüler
Bedeutung des Schülers für die Kunstbetonung
Bedrohung der mythischen Konstruktion der kunstbetonten Grundschule
Passungsverhältnis
Entlastung von der Bewährungsdynamik Harmonische Passung
Abbildung 13: Kunstbetonung als Entlastung von der Bewährungsdynamik
Zusätzlich entscheidend für die gelingende Bearbeitung der Passung scheint zu sein, dass Majda in der Lage ist, die Grenzen der zu unterscheidenden Erfahrungsmodi
118 Dies gilt allerdings unter »Berücksichtigung der lebensweltlich gültigen, biographisch bestimmten Sinnbezüge der unterrichtlich behandelten Gegenstände vor dem Hintergrund der konkreten Individualität von Schülern« (Helsper u.a. 2007: 501). Diese Vermittlungsaufgabe zwischen Sache und Person (bei Helsper u.a. 2001 die sogenannte Sachantinomie) ist der professionelle Kern jeglichen Lehrerhandelns überhaupt. Obwohl in der kunstbetonten Schulkultur vor dem Hintergrund der strukturellen Ermöglichung von Krisen durch Muße diese und weitere antinomische Strukturen imaginär ausgeblendet werden, bleiben sie, wie gesagt, auf der latenten Sinnebene bestehen.
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6. Vergleichende Zusammenführung der Fallanalysen
reflexiv einzuholen. Dadurch kann sie, je nach Anforderungsbereich, verschiedene Bewältigungsstrategien einsetzen. Entsprechend nimmt Majda das schulkulturelle Näheangebot nur scheinbar an. Während Majda und Lek im Verlauf ihres Schulbesuchs mehr oder weniger gelingende Anpassungsleistungen erst erbringen müssen, kommt mit Claudio ein Schüler an die Schule, der bereits eine Ausrichtung an einer ästhetischen Lebensform mit sich führt, in der versucht wird, die Räume für ästhetische Erfahrungen möglichst weit auszudehnen. Obwohl die Schule diese Besonderheit Claudios selbst nicht hervorgebracht hat, wird er damit zu einem zentralen Repräsentanten des Imaginären der Schulkultur. Bestätigt wird dieses Ergebnis dadurch, dass Claudio häufig für Befragungen von außen sowie für Berichte im Zusammenhang mit der Schule ausgewählt wird.119 Die Schule kann an Claudio demnach die praktische Bewährung ihres Profils nachweisen, ohne dass sie etwas zur Konturierung dieses Schülers beigetragen hätte. Trotz der besonderen inhaltlichen Profilierung der Grundschule werden am Fall Claudio damit erneut die zentralen Thesen von Bourdieu/Passeron (1971) in Bezug auf die Leistungen des Bildungssystems bestätigt. Auch die Sonnenlicht- Grundschule scheint die Schüler, die sie zu einem Nachweis ihrer Bewährung braucht, selbst nicht hervorbringen zu können. Während Lek, als eigentlicher Bewährungsschüler sich in die innerschulischen Dilemmata verstrickt, steht Majdas an formalen Bildungsabschlüssen orientierte Leistungsorientierung nach außen konträr zu der Intention, einen von Muße geprägten schulischen Schonraum entstehen zu lassen, in dem Bildungsprozesse angebahnt werden. Nur Claudio verfügt habituell bereits über die von der Schule favorisierte ›Einstellung zur Bildung‹: »Da das System nicht explizit liefert, was es verlangt, verlangt es implizit, dass seine Schüler bereits besitzen, was es nicht liefert: eine Sprache und Kultur, die außerhalb der Schule durch unmerkliche Familiarisierung gleichzeitig mit der entscheidenden Einstellung zur Sprache und Kultur ausschließlich auf diese Weise erworben werden kann. Da es eine Form des Lehrens und Lernens perpetuiert, die in der Pädagogik und teilweise auch in ihren Inhalten kaum von der Familienerziehung abweicht, bietet es eine Art der Bildung und des Wissens, die nur denen wirklich zugänglich ist, welche die implizit vorausgesetzte Bildung bereits besitzen […]. Unter allen möglichen Einstellungen wird gerade diejenige prämiert, die das Bildungswesen niemals allein hervorbringen kann« (ebd.: 126). 119 So z.B. für einen langen Zeitungsbericht über Ernährungsgewohnheiten oder eben auch im Rahmen der vorliegenden Studie.
6.5 Die Platzierung der Schüler in einer schulkulturellen Diffundierung des Schulischen
351
Konkret handelt es sich um eine Einstellung, die eine Orientierung an der persönlichen Nähe, Unversehrtheit und Stabilisierung des Einzelnen vorgibt, latent aber leistungsbezogen bleibt. Diese Leistungsorientierung wird jedoch als distanzierte Leichtigkeit gegenüber den schulischen Anforderungen umgesetzt, die darin ihren Ausdruck findet, dass gute Noten ohne besondere Anstrengungen erreicht werden können (vgl. Kap. 5.3.3). Damit wird die »Illusion des Lernens als Selbstzweck« aufrechterhalten und der Durchlauf durch das Bildungssystem als intellektuelles Abenteuer begriffen (Bourdieu/Passeron 1971: 73; vgl. Kap. 1.5). Die implizit harmonische Passung, die keinerlei Bearbeitung verlangt, ermöglicht es Claudio zudem, zu den eigentlichen mythischen Entwürfen der Schulkultur in Distanz zu bleiben. Da er als Typus einer habituell verankerten Ästhetikorientierung bereits mitbringt, was die Schule erreichen möchte, wird er nicht zum Adressaten, sondern eben zum Repräsentanten einer gelingenden schulkulturellen Kunstorientierung und entgeht so den strukturellen schulkulturellen Dilemmata. Dieser ›Verwendungszusammenhang‹ ist dabei nicht einseitig sondern gegenseitig. So kann auch Claudio über die Zentralstellung, die er als Repräsentant einer ästhetischen Lebensform in der kunstbetonten Schule bekommt, seine Selbstimagination, ein der Künstlergemeinschaft gleichberechtigt zugehöriges Mitglied zu sein, stabilisieren. Die Kunstbetonung wird zur gegenseitigen Bestätigung bestehender Imaginationen (Abb. 14).
Typus einer habituell verankerten Ästhetikorientierung
Bedeutung der Kunstbetonung für den Schüler
Bedeutung des Schülers für die Kunstbetonung Passungsverhältnis
Repräsentant einer gelingenden schulischen Kunstorientierung (Repräsentation des Imaginären)
Gegenseitige Bestätigung bestehender Imaginationen Implizit harmonische Passung
Abbildung 14: Kunstbetonung als gegenseitige Bestätigung bestehender Imaginationen
Die eigentliche Differenz zu der Künstlergemeinschaft bricht nur im Kunstunterricht auf. Da dort nicht nur habituelle Zugehörigkeit, sondern zudem künstlerisch
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6. Vergleichende Zusammenführung der Fallanalysen
gestalterische Fähigkeiten gefragt sind, wird zum einen für Claudio die fragile Mitgliedschaft im familiären Milieu krisenhaft erfahrbar, zum anderen schließt sich daran eine Gefährdung seiner Repräsentation des Künstlerischen innerhalb der Schule an. Die stärker abstrahierende Typenbildung kann zu folgendem Ergebnis resümierend zusammengeführt werden. Aufgrund der Intention, die Schule zu einem Ort für Krisen durch Muße zu machen, und der dazu notwendigen Diffundierung des Schulischen kann eine reflexive Bearbeitung der Antinomien pädagogischen Handelns und insbesondere eine reflexive Begrenzung der Nähe- und Bewährungsversprechungen nicht ausreichend geleistet werden. Diese Entgrenzungen haben zur Folge, dass nur die Fälle, denen es entweder gelingt, selbst eine reflexive Distanz aufzubauen (Majda), oder solche Fälle, die diese Distanz von vornherein mitbringen (Claudio), gelingende Schulkarrieren verwirklichen können. An den Fällen, an denen sich im Grunde der Mythos der Kunstbetonung symbolisch beweisen müsste, zeigen sich dagegen die strukturellen Dilemmata einer Erhebung des ästhetischen Erfahrungsmodus zum Kern pädagogischen Handelns in der Regelschule. Dennoch beinhaltet die Diffundierung des Schulischen auch für solche Fälle (Lek) durchaus positive und stützende Elemente. Die Grenzen dieser persönlichen Zuwendung werden jedoch aufgrund des starken Schulmythos nicht reflektiert, und die polaren Beziehungselemente zwischen spezifisch und diffus werden unzureichend austariert (vgl. Helsper u.a. 2007: 500). Die eigentliche Krisenproblematik solcher Schüler kann dadurch ebenso wenig bearbeitet werden.
7. Abschließende Betrachtungen Die durchgeführte Studie sollte einen spezifischen Beitrag an der Schnittstelle zwischen Kunst und Pädagogik leisten. Insbesondere stand die Frage im Mittelpunkt, ob eine Verbindung von Kunst und der Bildungsinstitution Schule möglich und sinnvoll ist. Die erkenntnisleitenden Fragen wurden zu Beginn (S. 19) folgendermaßen formuliert: Wie wird die Kunst in schulisches Handeln eingebunden? Was passiert dabei mit der Schule? Was passiert dabei mit der Kunst? Ergeben sich Zusammenhänge zwischen Kunstorientierung und der Erfüllung schulisch-institutioneller Lern- und Bildungsaufgaben? Zur Beantwortung der ersten drei Problemstellungen erfolgte eine differenzierte Schulkulturanalyse, ergänzt um die Auswertung von Lehrerinterviews. Die rekonstruierte schulkulturelle Ausdruckgestalt wurde schließlich mit der Analyse von drei möglichst kontrastierenden Schülerfallstudien in Beziehung gesetzt, um die übrigen zwei Punkte in den Blick zu nehmen, die nur auf der Ebene des einzelnen Subjekts erschlossen werden konnten. In den Blick rückt nun abschließend, unter zwei Aspekten fokussiert, die Bedeutung der Ausführungen für erziehungswissenschaftliche Reflexionen hinsichtlich der Möglichkeiten und Grenzen einer Verbindung von Kunst und Schule.
7.1 Die Schule als Ort für Krisen durch Muße? Entgegen den weitreichenden pädagogischen Hoffnungen, die an eine Stärkung der Kunst in der Schule geknüpft werden (vgl. Kap. 2) und die sich in Teilen als facettenreicher imaginärer Horizont in der schriftlichen Fassung des Schulprogramms der Sonnenlicht-Grundschule wieder finden (vgl. Kap. 4.1.5), zeigen sich auf der Ebene der latenten Sinnstrukturen sowohl in der symbolischen Ordnung der Schule als auch bezüglich der schulkulturellen Passungsverhältnisse strukturelle Grenzen einer solchen Einmengung. Tatsächlich bestätigen die Analysen in einem ersten Zugriff das bei Mollenhauer noch grob als »Sperrigkeit« gefasste Charakteristikum (Mollenhauer 1990: 484) der ästhetischen Weltzuwendung gegenüber den dominierenden Handlungs- und Erfahrungsmodi der Regelschule.
354
7. Abschließende Betrachtungen
Entgegen der räumlichen und architektonischen Gestaltung des Schulhauses, die einen direkten an die Erscheinungsformen des institutionalisierten Kunstbetriebs angelehnten Kunstbezug der Schule übermittelt (vgl. Kap. 4.1.4), kann die Institution diesen postulierten Bezug auf die Kunst und damit die Ermöglichung und Erzeugung ästhetischer Erfahrung in der schulischen Alltagsrealität auf der Ebene des Symbolischen nicht aufrechterhalten.120 Durch die schulkulturelle Orientierung an einer Form der Krisenlösung durch Muße wird darüber hinaus die eigentlich notwendige reflexive Bewältigung realer Problematiken in einen realitätsentlasteten Raum verschoben. Diese Ausblendung realer Schwierigkeiten, ihre Bewältigung im Imaginären sowie die damit zusammenhängende Verschiebung der Krisen der Institution in das schulische Außen des gesellschaftlich Realen wird indessen strukturell durch die Orientierung am Modus ästhetischer Erfahrung legitimiert. Die schulkulturelle Orientierung an den Struktureigenschaften ästhetischer Erfahrung führt so zu einer tendenziellen Abkehr von einer Orientierung an der Unterscheidung von ›Wahr‹ und ›Falsch‹ (vgl. Assmann 2003: 24). Es entsteht eine Distanz zu dem Ernst der Wirklichkeit und der diese grundsätzlich bestimmenden Bewährungsdynamik, sodass eine strukturelle Nähe zum Mythischen aufgebaut wird. Die im Schulmythos imaginierte Bewältigung realer Strukturproblematiken wird auf diese Weise stärker als in anderen schulkulturellen Ausdrucksgestalten legitimiert. Diese Suspendierung der Bewährungsdynamik kann jedoch aufgrund der Einbettung der Schule in das gesellschaftliche Berechtigungswesen nicht umfassend umgesetzt werden. Die realen national und regional ausdifferenzierten institutionellen und formalen gesellschaftlichen Rahmungen des schulischen Handelns schränken eine solche strukturelle Grenzüberschreitung der Erfahrungsmodi und Bewältigungsstrategien maximal ein. So bleibt Schulkultur auch an einer kunstbetonten Grundschule letztendlich auf die Vermittlung universell gültiger kultureller Wissensbestände, den Aufbau kognitiver, sozialkognitiver und symbolischer Kompetenzen (vgl. Helsper 2001: 15) bezogen. Für die Institution bedeutet die imaginäre Entfernung von einem logozentristischen Bezugssystem von Wahr und Falsch dennoch tendenziell die Möglichkeit, 120 Eine intensive Rekonstruktion der Gestaltung der Schule konnte im Rahmen dieser Arbeit nicht vorgenommen werden. Die ethnografischen Erkundungen weisen jedoch auch hier auf eine Wiederholung der schulkulturellen Fallstruktur hin. Die am Kunstbetrieb orientierte Darbietung des Schulhauses und der Innenraumgestaltung wird latent durch die Spuren des Alltäglichen gebrochen, vor allem durch den wiederkehrenden Schriftzug „Spinne 44“, der der Name eines Zusammenschlusses von Jugendlichen des Viertels ist. Dass auch hier versucht wird, die Probleme draußen zu lassen, zeigt sich in den regelmäßigen Maßnahmen des Überstreichens und der Infragestellung der Existenz dieser Gruppe durch die Lehrer. Auch der Entwurf der Schule als musealer Raum scheint der praktischen Bewährung nur bedingt standzuhalten. Gleichwohl eröffnen sich wahrscheinlich auch hier z.B. Möglichkeiten des zur Ruhe Findens, des Einlassens auf Andere vor allem museale Umgebungen etc.
7.1 Die Schule als Ort für Krisen durch Muße?
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gegenüber engen Reglements schulischen Handelns und Verhaltens Abstand zu gewinnen. Das bedeutet gleichzeitig, wie es sich in den Auswertungen der Lehrerinterviews gezeigt hat (vgl. Kap. 4.5), eine größere individuelle Freiheit sowie einen erweiterten Anerkennungsraum für die unterschiedlichen Orientierungen der institutionellen Akteure. Dadurch scheint es gelungen zu sein, über die Kunstbetonung der Schule, trotz der krisenauslösenden Rahmenbedingungen, das Innerschulische über einen gewissen Zeitraum zu stabilisieren. Durch das Ausblenden der realen Problematiken kann zudem imaginär an traditionellen allgemeinpädagogischen Sinnbestimmungen schulischen Handelns wie der Höherbildung des Einzelnen unabhängig von einschränkenden Herkunftsbedingungen (Benner/Tenorth 1996: 13) festgehalten werden. Dem Handeln in der Schule wird so, trotz der immer wahrnehmbarer werdenden Krise der Institution, ein pädagogischer Sinn verliehen. Diese innerschulische Stabilität baut nun jedoch auf jener starken Imagination auf, die durch die schulische Realität immer wieder in Frage gestellt wird. Die angebotene Form der Krisenlösung im Modus der Muße kommt in Situationen, die ein unmittelbares Handeln erfordern, das im Sinne einer Entscheidungskrise in die Zukunft hinein über bestimmte Kriteriensysteme legitimiert werden muss, gleichwohl an ihre Grenze. Das Verlangen der schulischen Akteure nach grundlegenderen und von der Schulleitung zu unterstützenden Handlungsorientierungen ist Ausdruck dieses Dilemmas. Die Notwendigkeit, in der Schule Krisenlösungen für reale und unmittelbare Entscheidungssituationen zu finden, wodurch sie symbolisch dominant auf unmittelbare Bewährungsproblematiken und die Konstitution religiöser Erfahrung bezogen bleibt, die nach einer Legitimation des Handels als Richtigem oder Falschem verlangt, konfligiert mit einer programmatischen Kunstorientierung. Dieser Konflikt bildet sich schließlich auch auf der Ebene einzelner Schüler ab, gerade dann, wenn diese, wie der Fall Lek zeigt, auf eine ästhetische Selbstbegegnung angewiesen zu sein scheinen und sich auf das dominante Krisenlösungsversprechen der Institution einlassen. Die z.B. in den freien Arbeitsphasen des Kunstunterrichts möglich werdende ästhetische Selbstvergewisserung wird im Falle wieder einsetzender unterrichtsbezogener Bewährungssituationen maximal eingeschränkt oder gar vollständig zurückgedrängt. Nur Kinder, die wie Majda in der Lage sind, mit den Grenzen der unterschiedlichen Erfahrungsmodi reflexiv umzugehen und sie jeweils bei den zur Verfügung stehenden Gelegenheiten auszuleben, können sich unproblematisch auf einen solchen Wechsel einlassen. Wenig Konfliktpotenzial ergibt sich zudem in Bezug auf die Schüler, die wie Claudio die Schule nicht als einen Ort für ästhetische Erfahrungen in Anspruch nehmen, sondern die Kunstbetonung lediglich für die Bestätigung bestehender habitueller und lebensweltlicher Orientierungen nutzen.
356
7. Abschließende Betrachtungen
Ästhetische Erfahrungen stellen sich mithin zwar auch in der Schule ein und gehen zum Teil in ästhetische Bildungsprozesse über; der Anspruch, die Kultur der Schule auf die Struktur ästhetischer Erfahrung zu beziehen und diese zu einem paradigmatischen Ort für Krisen durch Muße zu machen, kann jedoch angesichts der institutionellen Rahmung strukturbedingt nicht umgesetzt werden.121 Im Fall einer Erweiterung der Felder für ästhetische Erfahrungen in der Schule sollten deshalb insbesondere die damit in Bezug auf jüngere Kinder einhergehenden Nähe- und Bewährungsversprechungen reflexiv bearbeitet werden. Das bedeutet, dass eine Stärkung der Kunst in der Schule nicht mit einem Ausblenden oder einer einseitigen Auflösung der grundlegenden Antinomien pädagogischen Handelns zugunsten der ganzen Person des Schülers, seiner individuellen, biografisch geprägten Auseinandersetzungen und Erfahrungen mit den Dingen und seiner dafür konstitutiven individuellen und habituellen Fähigkeiten und Voraussetzungen sowie der daraus folgenden Ausrichtung der didaktischen Praxis am Einzelfall und der konkreten Situation (vgl. Kap. 2.5) einhergehen kann. Stattdessen wäre es notwendig, sich der Möglichkeiten und Grenzen der verschiedenen Erfahrungsmodi bewusster zu werden, die nicht ineinander übergehen können und noch weniger durch die jeweils anderen zu ersetzen sind. Gerade eine Schule, die über eine Orientierung an der ästhetischen Erfahrung verstärkt diffuse Beziehungsanteile schulkulturell fördert, muss die Grenzen zwischen den konstitutiven diffusen und spezifischen Beziehungselementen professionell austarieren (vgl. Helsper u.a. 2007: 500). So kann die Schule in keinem Fall eine Familienbeziehung bzw. eine elterliche Symbiose ersetzen.122 Innerhalb der Schule wäre es vermutlich sinnvoll, die Orte für Krisen durch Muße deutlicher von den schulischen Bewährungssituationen zu trennen, wie es teilweise schon praktiziert wird durch einen Wechsel der Lehrkräfte, eine Integration von Künstlern in die Schule sowie räumliche Veränderungen, eine Aufweichung zeitlicher Strukturen und natürlich der Benotungspraxis. Die Bewältigung des Schulischen wird den Schülern dann nicht über das Durchleben von Krisen durch Muße in Aussicht gestellt. Dann kann durch eine Ausweitung solcher Felder für
121 Aus diesem Grund sind auch die Hoffnungen Oevermanns, die ästhetische Erfahrung als »Ur-Form der Erkenntnis« zur zentralen Lern- und Bildungsform in der Schule (Oevermann 2004: 167; vgl. Kap. 2.2) zu erheben, nur, wie er selbst nahelegt, unter der Voraussetzung einer Revision dieser Strukturbedingungen zu erfüllen. 122 Die an der kunstbetonten Schule vorgefundenen pädagogischen Beziehungen weisen hier eine Nähe zu den von Helsper u.a (2007) rekonstruierten Lehrer-Schüler-Verhältnissen an Waldorfschulen auf. Dort konnten keine gelingenden Beziehungen mit ausschließlich diffusen Beziehungsanteilen ausgewiesen werden (vgl. ebd.: 500).
7.2 Kunstorientierung als Überwindung familiärer Enge-Erfahrungen?
357
ästhetische Erfahrungen für bestimmte, wie im Fall Lek mit Individuationskrisen belastete Schüler, ein Anerkennungsfeld für einen sich dort erst konturierenden Selbstausdruck und Selbstbezug entstehen. Zudem können solche von der schulischen Bewährungsdynamik entlasteten Räume und Phasen durchaus wie im Fall Majda auch als Oasen der Entspannung von einem ansonsten dominanten Bewährungsdruck erfahren werden. Die von Mollenhauer konstatierte Sperrigkeit ästhetischer Erfahrungen in der Schule erweist sich damit auf der Ebene einer strukturell nicht möglichen Einmengung der verschiedenen Erfahrungsmodi als zutreffend. Aufgrund der grundsätzlich antinomischen Struktur schulpädagogischen Handelns, das sowohl spezifische als auch diffuse Beziehungselemente enthält, ist eine Ausweitung der Räume für ästhetische Erfahrungen sowie eine damit zusammenhängende Anerkennungskultur des ästhetischen Selbstausdrucks jedoch grundsätzlich möglich. Denn bis zu einem gewissen Grad kann eine polare Ausformung der antinomischen Struktur hin zu einer stärkeren Gewichtung diffuser Beziehungselemente schulkulturell umgesetzt werden, womit wiederum auf bestimmte Bedürfnislagen der Schülerschaft reagiert werden kann (vgl. Helsper u.a. 2007: 511; Helsper u.a. 2006). Allerdings ist dies nur unter der Voraussetzung möglich, dass eine solche Öffnung für alternative Erfahrungsmodi die Grenzen der in der Schule möglichen Arbeitsbeziehungen nicht in Richtung einer zu starken Gewichtung der diffusen Beziehungsanteile überschreitet. Denn dann müssen Nähe-, Zuwendungs- und Bewährungsversprechungen gemacht werden, die strukturell nicht einlösbar sind.
7.2 Kunstorientierung als Überwindung familiärer Enge-Erfahrungen? Eine zweite zentrale Aufmerksamkeitsrichtung wurde während der gesamten Studie neben der Analyse der Möglichkeiten und Grenzen für ästhetische Erfahrungen in der Schule mitgeführt. Es war dies die Frage danach, ob es der Sonnenlicht-Grundschule, wie es sich intentional im Schulprogramm und insbesondere in den Ausführungen des Rektors widerspiegelt, durch die besondere Profilierung als kunstbetonte Schule gelingt, für die aus anzunehmend bildungsfernen Familien und/oder Familien mit Migrationshintergrund sowie aus deprivierten Milieus stammenden Kinder den Zugang zu institutionalisierten Lern- und Bildungsformen zu ebnen. Für die schulkulturelle Ausdrucksgestalt konnte diese subjektiv-intentionale Anlage des Schulprogramms spezifisch ausdifferenziert werden. So reagiert die Schule gleichsam intuitiv auf ihre strukturellen Schwierigkeiten, indem sie versucht, Schule zu einem Ort zu machen, der als ästhetische Erfahrungen ermöglichender
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7. Abschließende Betrachtungen
den Kindern die Primärerfahrungen erlaubt, die ihnen in den deprivierten familiären Milieus mutmaßlich fehlen. Der Aufbau eines eigentlich im Sozialisations- und Bildungsprozess durch die elterliche Symbiose grundgelegten strukturellen Optimismus soll so in die Schule hineinverlegt werden und im besten Fall die Voraussetzungen für ein schulisches Lernen, ausgehend von einem positiv diffusen NäheVerhältnis, hervorbringen. Gleichzeitig sollen die Kinder durch diesen in die Schule hineinverlagerten symbiotischen Schonraum vor anderen aus dem sozial schwachen Umfeld resultierenden, auch traumatischen Erfahrungen geschützt werden. Die Schule bezieht sich also insbesondere auf der imaginären Ebene, also auch in Teilen hinsichtlich der Versuche einer symbolischen Umsetzung des Imaginären (die jedoch in letzter Konsequenz scheitern), tatsächlich auf den Kern und die Eigentümlichkeit der ästhetischen Erfahrungskonstitution mit ihrer implizit anthropologischen Bedeutung. Eine Verkürzung der komplexen Struktureigenschaften ästhetischer Erfahrung, z.B. auf eine reine »Leibesübung« als Schulung der Sinne (wie z.B. bei Liebau 2007), findet sich hier nicht. Ob diese intentionale Ausrichtung die erhofften Wirkungen hat, wurde bereits nach der Analyse der Schulkultur aufgrund der sich zeigenden Schwierigkeiten in der Vermittlung zwischen Kunstbezug und der Ausfüllung des gesellschaftlichen Bildungsauftrages der Regelschule in Teilen in Zweifel gezogen. Darüber hinaus wurde das Risiko benannt, dass sich Kinder, die sich auf dieses einer Familienbeziehung analogisierte Nähe-Angebot einlassen, in eine riskante Abhängigkeit mit der Institution begeben. Auf der anderen Seite bestand aber immer noch die Möglichkeit, dass sich die Kinder gerade aufgrund der prinzipiell selbstreflexiven sowie selbstvergewissernden Struktur ästhetischer Erfahrungen, die eventuell in der kunstbetonten Schule trotz struktureller Schwierigkeiten in gesteigerter Form erlebbar werden, aus eventuell einschränkenden Bedingungen ihrer Herkunftsmilieus mithilfe der Schule lösen können und so zu autonomen Bildungs- und Identitätsentwürfen gelangen. Für die Rekonstruktionen der Schülerfallstudien war es schwierig, eindeutige Milieuzuordnungen zu treffen. Die Angaben der Kinder zu den Berufen und den erreichten Schulabschlüssen der Eltern blieben meist vage und die Perspektive der Eltern wurde nicht unabhängig eingeholt (vgl. dazu Kapitel 3.4.2). So kann abschließend nur riskant gefolgert werden, dass Majda vermutlich dem »Leistungsorientierten Arbeitnehmermilieu« entstammt, das durch den »Habitus der Strebenden« gekennzeichnet ist und nach Vester u.a. (2001) zu den mittleren Volksmilieus gehört, die in der Traditionslinie der Facharbeiter und der praktischen Intelligenz auf Eigenverantwortung, gegründet auf gute Ausbildung, Leistung und gegenseitige Hilfe setzen und die die Chancengleichheit aller Arbeitenden unter Absehung von der
7.2 Kunstorientierung als Überwindung familiärer Enge-Erfahrungen?
359
sozialen und kulturellen Herkunft betonen (vgl. ebd.: 40). »Bildung soll der Emanzipation von Abhängigkeit und Unmündigkeit dienen« (ebd.: 513). Das Arbeitsethos der Angehörigen dieses Milieus beruht auf einer hohen Leistungsmotivation. Die durch das Bildungsstreben erreichten Tätigkeiten sollen »ein unabhängiges und gesichertes Leben, Selbstständigkeit, Anerkennung, vorzeigbare Erfolge und Teilhabe am Konsum« ermöglichen (ebd.: 515f.). Eines von drei zentralen Berufsfeldern liegt in der Metall- und Bauindustrie (vgl. ebd.: 515). Dabei befürchtet nach Vester u.a. die eine Hälfte dieses Milieus, die als die Gruppe der »Geprellten« (ebd.: 516) bezeichnet wird, aufgrund von Erfahrungen mit der Wirtschaftskrise, sich nicht auf der Gewinnerseite der Modernisierung halten zu können. Bei Lek wiederum ist die Milieuzugehörigkeit unbestimmter. Vermutet werden kann zum einen, dass die Familie dem »Kleinbürgerlichen Arbeitnehmermilieu« (ebd.: 518) zuzuordnen ist, dem widerspricht jedoch aufgrund der Ressentiments dieses Milieus gegen Randgruppen, sozial Schwächere und Personen mit unkonventionellem Lebensstil die kulturübergreifende Heirat und Familiengründung. Die andere Möglichkeit bestünde deshalb in einer Zuordnung zu den »Respektablen« aus dem »Traditionslosen Arbeitnehmermilieu« (ebd.: 524). Dadurch, dass die »Respektablen« sich an die kleinbürgerlichen Werte anlehnen, besteht die Gemeinsamkeit beider Milieus in einer Mentalität der Bewahrung, die sich auf Pflichterfüllung, Ordnung und Disziplin gründet. Ein Ausbrechen aus den gewohnten Ordnungen bedeutet eher die Gefährdung des Erreichten. Im kleinbürgerlichen Milieu wird zudem ein besonderer Wert auf den äußeren Eindruck gelegt, mit dem Ziel, dass eventuelle Makel wie z.B. prekäre Lebensverhältnisse nicht auffallen. Berufsfelder sind z.B. handwerkliche Tätigkeiten und einfache Dienstleistungen. »Wer […] aufsteigen will, vertraut weniger auf seine Fähigkeiten und passt sich lieber den Erfordernissen an« (ebd.: 519). So wird Verantwortung zur eigenen Entlastung gerne an Vorgesetzte delegiert. Die familiäre Passung Claudios zum postmodernen Milieu, das das vormals alternative Milieu in weiten Teilen abgelöst hat, scheint dagegen relativ eindeutig. Dort finden sich jene Ansprüche der Selbstverwirklichung und Persönlichkeitsentfaltung, für die zum Teil auch Lebensverhältnisse in Kauf genommen werden, die unter dem Qualifikationsniveau liegen. Das Milieu repräsentiert unter anderen die ästhetischen Avantgardemilieus mit ihren spezifischen Formen der Selbstinszenierung und einem Drang nach Autonomie und Unabhängigkeit von Hierarchien (ebd.: 510). Diese riskante Milieu-Zuordnung der in dieser Studie rekonstruierten Fälle bestätigt zunächst die Thesen von Bourdieu/Passeron (1971), wonach die Kinder aus eher bildungsorientierten Milieus (Majda, Claudio) die größten schulischen
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7. Abschließende Betrachtungen
Erfolge verzeichnen können. Im Verlauf der Studie wurde jedoch auch zunehmend deutlich, dass die Frage nach der Bedeutung von ästhetischen Erfahrungen für das Subjekt im Kontext von Schule partiell neben diesen ›Institutionen-Milieu-Komplexen‹ (Helsper u.a. 2001: 604) verläuft. So konnten zwar bildungsnähere sowie bildungsfernere Habitus-Formationen rekonstruiert werden, unabhängig von solchen milieuspezifischen Zuordnungen fanden sich jedoch übergreifend bei allen Fällen Ansätze von »Enge-Erfahrungen« (Cloer 2005: 170), die aus den Bildebewegungen im Zuge des Individuationsprozesses resultieren. Dies bedeutet, dass das Kind bzw. der Heranwachsende vor dem Hintergrund eines dominanten elterlichen Habitus immer eine oder mehrere mehr oder weniger leidvoll erfahrene Selbstproblematiken entwickelt, die im weiteren Verlauf des individuellen Bildungswegs bearbeitet werden. Die Bewältigungsstrategien bleiben dabei gleichwohl auf die familiären Erfahrungen/den familiären Habitus bezogen, die Kinder können jedoch in bestimmten Dimensionen auch differente habituelle Orientierungen ausbilden (Kramer 2002: 315). Familiäre Lagerungen, die eine solche Transformation möglicherweise stark oder auch aktiv einschränken, können dann zu ›Erfahrungen von Enge‹ führen und eine Entwicklung hin zu zunehmender Autonomie einschränken.123 Die ästhetische Erfahrung kann nun, insbesondere an diesen individuellen Krisenproblematiken und eventuellen Enge-Erfahrungen, als ästhetische Selbstvergewisserung (vgl. Alheit/Brandt 2006: 418) ansetzen, die ein Vertrauen in die Fähigkeit hervorbringt, sein Selbst zu erkennen und zu entwickeln (vgl. Bertram 2005: 122). Das ergeben die theoretischen Bestimmungen, die durch die Analyse des empirischen Materials bestätigt werden konnten, und diese Dimension spiegelt sich wie gesagt auf der intentionalen Ebene der Schulkultur. In Bezug auf die einzelnen Fälle zeigt sich vor allem bei Lek und Majda, die beide in den bildlichen Ausdrucksformaten sozusagen ›näher zu sich selbst‹ finden, dass ästhetische Erfahrungen auch im Kontext von Schule diesen ihnen eigenen Wert für das Subjekt entfalten können. Da diese beiden Schüler nun sehr unterschiedlichen sozialen Milieus zugeordnet werden konnten, ist es zum einen möglich, die These zu formulieren, dass die besondere Wirkkraft ästhetischer Erfahrungen und Bildungsprozesse Milieu-unabhängig ist. Erneut rückt damit, wie in den theoretischen Rahmungen angenommen, die anthropologische Bedeutung dieses besonderen Erfahrungsmodus in den Blick. Die strukturelle Ermöglichung ästhetischer Erfahrung in der Regelschule bietet demnach einzelnen Kindern durchaus Bildungsmöglichkeiten. Deren Bedeutung liegt dabei jedoch jenseits eines schulischen Lernens eher 123 Neben der Schule können dann, wie es sich in autobiografischen Materialien zeigt, auch andere »Sachwalter« für die Bearbeitung und Überwindung solcher einschränkender Bedingungen bedeutsam werden (vgl. dazu Cloer 2005: 155f., Cloer 1999).
7.2 Kunstorientierung als Überwindung familiärer Enge-Erfahrungen?
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im allgemeinpädagogischen Horizont von Schulbildung im Sinne eines individuellbiografischen Bildungsprozesses im Modus ästhetischer Selbstreflexivität. Der Versuch einer Schule, in einem sozialen Brennpunkt über die Stärkung der Anerkennung und Ermöglichung ästhetischer Erfahrungen zu einer notwendigen persönlichen Entwicklung ihrer Schüler beizutragen, wäre insofern unter der Voraussetzung einer damit zusammenhängenden professionellen Reflexion und Begrenzung der impliziten Nähe- und Bewährungsversprechen zu legitimieren. Eine solche Gewichtung scheint tatsächlich ausgleichend zu sein, weil sie milieuunabhängig ist. Andererseits gelingt es Majda und Lek nicht gleichermaßen erfolgreich, mit der durch die Kunstbetonung sich ergebenden symbolischen Ordnung umzugehen. Majda ist dazu in der Lage, die Bereichsbezogenheit der verschiedenen Erfahrungsmodi zu erkennen. Dementsprechend kann sie im Kunstunterricht die ästhetische Erfahrung gewichten, während sie in anderen Bereichen weiter auf eine individuelle Bewährung durch Leistung setzt. Insgesamt ermöglicht darüber hinaus jedoch die übergreifende schulkulturelle Ausdrucksgestalt der Ermöglichung von Krisen durch Muße, dass Majda zu einer Distanz, bzw. Entlastung von ihrer dominanten Selbstproblematik findet. Dadurch kann sie sich wiederum intensiv auf die in der Schule vermittelten Inhalte einlassen. So ist eine durch die Schule in Gang gesetzte Begegnung mit fremden Kulturen und Lebensformen (Ägypten) der Auslöser für den Wunsch, eine Reise nach Ägypten zu machen. Im Sinne einer erweiterten »Teilhabemöglichkeit an Sprache und Kultur« (Cloer 2005: 171) kommt es in diesem Beispiel zu einer Befragung und Erweiterung familiärer Rahmungen und der dort stark routinierten Urlaubsreisen.124 Da Lek als einziger Fall tatsächlich aus einem eher bildungsfernen Milieu stammt, müsste sich aber gerade am ihm, im Hinblick auf die intentionale Ausrichtung des Profils, eine praktische Bewährung erweisen. Tatsächlich konnte Lek als ein Fall ausgewiesen werden, der aufgrund seiner individuellen Krisenbelastungen nach kompensatorischen ästhetischen Erfahrungsfeldern sucht. Auch im Kunstunterricht konnten in der Folge nicht nur ästhetische Erfahrungen, sondern sogar ästhetische Bildungsprozesse rekonstruiert werden. Allerdings kann Lek diese sich in jenem besonderen Erfahrungsmodus andeutende Transformation nicht nachhaltig in anderen Bereichen umsetzen und insofern die ästhetischen Erfahrungen nicht krisenbewältigend als Übergangsmoment von einem noch ausgeprägt kindlich unmittelbaren Zur-Welt-Sein zu rationalisierten Lern- und Bildungsprozessen nutzen. Der Grund für dieses Misslingen kann zum Teil der spezifischen Kultur der Institution zugeschrieben werden. Das 124 In dem Versuch, ihre Eltern von einem anderen Reiseziel zu überzeugen, zeigt sich darüber hinaus, dass Majda bemüht ist, einer »Entzweiung« (Cloer 2005: 171) zwischen sich und ihren Eltern entgegenzuwirken.
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7. Abschließende Betrachtungen
imaginäre Ausblenden der in der Schule dominanten Bewährung durch Leistung und die damit zusammenhängende Diffundierung des Schulischen führen bei Lek zu einer Fortsetzung struktureller Unsicherheiten und einer kontinuierlichen Krisenbelastung. Da jedoch auch Majda in diese schulkulturelle Ausdrucksgestalt integriert ist, gibt es womöglich einen weiteren Grund für diese misslingende bzw. nicht erreichbare Übertragung und nachhaltige Nutzung der ermöglichten Erfahrungen. Eine naheliegende Annahme bestünde darin, diese Differenzen doch wieder auf die Milieuzugehörigkeiten zurückzuführen. Dann müsste geschlussfolgert werden, dass ästhetische Erfahrungen als anthropologisch bedeutsame ihren spezifischen Wert zum einen zwar Milieu-unabhängig entfalten, beim Versuch der Integration eines solchen Erfahrungsmodus in das institutionalisierte Bildungssystem jedoch wiederum dominant die milieuspezifischen Habitusformationen über den Erfolg individueller Schulkarrieren entscheiden. Paradigmatisch wäre dies am Fall Claudio zu belegen. Denn im Gegensatz zu Majda und Lek kann bei ihm das harmonische Passungsverhältnis wesentlich auf die habituelle Entsprechung eines Institutionen-Milieu-Komplexes zurückgeführt werden. Diese implizite Passung der habituellen Orientierungen benötigt dementsprechend keine spezifischen Bewältigungsstrategien. Auf der anderen Seite werden dadurch auch kaum Transformationen oder Widerspruchserfahrungen (Cloer/Klika/Stubenrauch 1991; Cloer 2002) angebahnt.125 Abschließend sollen die Ergebnisse der Studie deshalb noch einmal bezüglich der entwickelten offenen Frage in den Blick genommen werden, ob ausschließlich die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Milieu gelingende Passungsverhältnisse präformiert oder ob es einen weiteren Grund für die stark unterschiedlich erfolgreichen fallspezifischen Bewältigungsmuster gegenüber den schulischen und schulkulturellen Anforderungen gibt. Dazu kann primär der Kontrast zwischen Majda und Lek fokussiert werden. Die schulkulturelle Ausdrucksgestalt der strukturellen Ermöglichung von Krisen durch Muße birgt für den Fall Majda sowie für den Fall Lek ein gegenüber dem ansonsten in der Schule dominanten Bewährungsdruck entlastendes und krisenbewältigendes Potenzial. Dieses wird jedoch unterschiedlich gelingend genutzt. Die sich aus den Rekonstruktionen ergebende wesentliche Differenz liegt dabei darin, ob sich die Schüler auf die Versprechungen bzw. das Imaginäre der Schul125 Ein Desiderat wäre an dieser Stelle, die Differenz zwischen unterschiedlichen schulbiografischen Passungsvarianten in Bezug auf ihre Anbahnung von Bildungsprozessen in den Blick zu nehmen. Neben einer schulbiografischen Passung, die aufgrund einer Harmonie zwischen Schule und Milieu eine erfolgreiche Schulkarriere ermöglicht, könnten andere evtl. weniger harmonische Passungsvarianten durchaus verstärkt Bildungsprozesse in Gang setzen.
7.2 Kunstorientierung als Überwindung familiärer Enge-Erfahrungen?
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kultur einlassen. Da Lek dieses Nähe- und Bewährungsversprechen annimmt und in der Folge eine kontinuierliche stellvertretende Krisenbewältigung von den Lehrern fordert, verstrickt er sich in die schulkulturellen Dilemmata, denn dieser ›Schutz‹ kann nicht durchgehend gewährt werden. Majda hingegen erfährt auch die kompensatorischen Anteile der Schulkultur, sie lässt sich aber zu keinem Zeitpunkt auf eine solche verstärkt diffuse Beziehung zur Schule bzw. zu den einzelnen Lehrern ein. Während also Lek im Grunde zum Imaginären der Schulkultur passt, sich aber gerade deshalb in die von dort ausgehenden Brüche verstrickt, etabliert Majda auf der Ebene des Imaginären die Fiktion einer Passung, indem sie die verstärkt diffuse Beziehungselemente stark machenden schulischen Vermittlungsprozesse als gelungen spiegelt, ohne sie praktisch auf der Ebene des Symbolischen einzugehen. Diese Differenz lässt sich nun wie folgt zuspritzen: Neben der impliziten Passung zwischen Institution und Milieu (Claudio), die keinerlei Bearbeitung verlangt und deshalb sozusagen den Eckfall eines harmonischen Passungsverhältnisses markiert, besteht wie im Fall Majda die Möglichkeit, eine Fiktion der Passung zu etablieren. Die Voraussetzung dafür scheint eine bestimmte »Haltung« (vgl. Breidenstein 2006: 263) gegenüber den schulischen Anforderungen zu sein, die es ermöglicht, solche gelingenden schulkulturellen Passungsverhältnisse herzustellen. Im Kontext einer Schule, die im Übermaß diffuse Beziehungselemente stark macht, scheint dies die Fähigkeit zu sein, trotz aller Nähe- und Bewährungsversprechungen, die spezifischen Anforderungen an die ›Rolle‹ des Schülers im Blick zu behalten. Die einseitig gewichteten professionellen Antinomien müssen dann also von den einzelnen Schülern austariert werden, um sich nicht in strukturelle Dilemmata zu verstricken. Je weniger nun diese strukturellen Antinomien reflexiv von der Seite der Institution bearbeitet werden bzw. je größer die Differenz zwischen der imaginären Anspruchskultur der Einzelschule und der symbolischen Umsetzung ist, desto anspruchsvoller gestaltet sich die von den Schülern zu erbringende Entschlüsselungsleistung. Eventuell führt diese sich auf die Schülerseite verschiebende Leistung der Austarierung widersprüchlicher Anforderungen und Beziehungselementen zu Beobachtungen, nach denen der »Schülerjob« (Breidenstein 2006) von Routinen, Distanz und Pragmatismus geprägt ist. Aufgrund der bei Majda stärker ausgeprägten reflexiven Distanz zu den Erwartungen der Schule und auch gegenüber sich selbst gelingt es ihr wahrscheinlich leichter, diese Entschlüsselungsleistung zu erbringen. Sie ist dann gegenüber Lek, der gerade in Bezug auf solche reflexiven Selbstpositionierungen starke Defizite aufweist, in schulkulturellen Zusammenhängen, die die antinomischen Grundstrukturen unzureichend reflexiv bearbeiten, eindeutig im Vorteil.
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7. Abschließende Betrachtungen
7.3 Zusammenfassung und Forschungsperspektiven Die Kunst wird von der Sonnenlicht-Grundschule tatsächlich in ihrem Kernbereich – der Ermöglichung von ästhetischen Erfahrungen – eingebunden. Schulkulturell entsteht eine Kultur der strukturellen Ermöglichung von Krisen durch Muße und der Konstitution ästhetischer Erfahrungen. Der Bezug auf die ästhetische Erfahrung – vor allem in ihrer übergreifend anthropologischen Bedeutung für das Kind – führt jedoch in dieser kulturellen Ausdrucksgestalt dazu, dass die widersprüchliche Grundstruktur zwischen diffusen und spezifischen Beziehungselementen in der Schule (Oevermann 1999; Helsper u.a. 2001, 2007) nicht professionell bearbeitet wird, sondern sich zugunsten einer einseitigen Dominanz der diffusen Anteile auflöst. Anhand der daraus entstehenden strukturellen Dilemmata konnte verdeutlicht werden, dass es in der Institution Schule nicht unbegrenzt möglich ist, die Räume für ästhetische Erfahrungen auszudehnen, um eine übergreifende Krisenlösung durch Muße anzustreben. Die gesellschaftlichen Rahmungen des Bildungssystems sowie die damit zusammenhängenden Aufgaben der Qualifikation, Selektion und gesellschaftlichen Integration (Fend 1980: 17) erfordern sowohl von den Lehrern als auch von den Schülern den Einsatz anderer Bewältigungsstrategien. Gleichwohl kann über die Ermöglichung ästhetischer Erfahrungen in der Schule insbesondere bei krisenbelasteten Biografien eine Entlastung von Handlungsnotwendigkeiten und dem ansonsten in der Schule dominanten Bewährungsdruck erreicht werden. Im gelingenden Fall werden dann individuell biografische Bildungsprozesse im Modus ästhetischer Selbstreflexivität in Gang gesetzt. Ein direkter Gewinn für die Einfädelung in schulisch-institutionelle Lern- und Bildungsaufgaben wurde jedoch nicht erkennbar. Die These von Mattenklott, dass ästhetische Erfahrungen »durch die Rückbindung an die leiblichen Wurzeln der Symbolbindung die neuen Lernprozesse förder[n], die anzubahnen und zu vertiefen die Aufgabe der Grundschule ist – die Einführung in die Symbolsysteme der Schrift, der Mathematik, des sozialen und politischen Lebens sowie die Ermutigung und Anregung erster Schritte auf dem Weg zu den Wissenschaften« (Mattenklott 1998: 32) – konnte mit den vorliegenden Analysen nicht bestätigt werden. Denn eine solche Vermengung der Erfahrungsmodi führt sowohl institutionell als auch individuell, insbesondere wie im Fall Lek, zu einer Kollision der differenten Struktureigenschaften der Erfahrungsformen. Insofern kann der Wert ästhetischer Erfahrungen nur mittelbar im Hinblick auf die Erfüllung schulisch-institutioneller Lern- und Bildungsaufgaben als positiv bezeichnet werden. Die Stiftung von Vertrauen in die eigenen Erkenntniskräfte im ästhetischen Bereich (vgl. Bertram 2005: 122) kann mithin auch für die eigenständige Bewältigung von Aufgaben in anderen
7.3 Zusammenfassung und Forschungsperspektiven
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Anforderungsbereichen nutzbar gemacht werden. Diese Möglichkeit besteht milieuübergreifend, solange es nicht zu einer professionell unreflektierten Vermengung der Erfahrungsfelder kommt. Diese Ergebnisse führen perspektivisch zu der Sicherung folgender empirischer Forschungsdesiderata: – Die methodische Anlage der Studie bedingte einen eher synchronen Blick auf die zum Zeitpunkt der Erhebungen bestehenden Anerkennungs- und Passungsverhältnisse. Die stabilisierende bzw. destabilisierende Bedeutung einer strukturellen Ermöglichung ästhetischer Erfahrungen in der Regelschule wäre darüber hinaus in Bezug auf den weiteren biografischen und schulbiografischen Verlauf von Interesse. Ergeben sich möglicherweise verstärkte Diskontinuitäts- oder Emanzipationserfahrungen beim Übergang in weiterführende Schulen? Oder können evtl. fallspezifisch die durch die Grundschule grundgelegten alternativen Bewältigungsmuster im Rahmen subjektiver Bewältigungsstrategien verstetigt werden? – Entwickeln sich im Rahmen von Schulprogrammen, die sich konkreten Inhalten und Erfahrungsfeldern zuwenden, möglicherweise gelingende Passungsvarianten und Schulkarrieren, die den straffen Zusammenhang zwischen bildungsnahem Herkunftsmilieu und Bildungserfolg aufweichen? – Darüber hinaus konnte im Rahmen dieser Arbeit eine Besonderheit kunstbetonter Schulen nicht in die empirischen Analysen miteinbezogen werden – der Einsatz von Künstlern im Kunstunterricht. Im Zuge der formulierten Empfehlung einer deutlicheren Trennung der Felder für die zu unterscheidenden Erfahrungsmodi trüge eine solche Variation des Kreises derjenigen, die Unterricht verantwortlich gestalten, wahrscheinlich zu einer verstärkten Wahrnehmung der Differenz bei. Andererseits wäre zu fragen, inwiefern gerade Künstler, die darauf angewiesen sind, die Kunst zu professionalisieren (und damit ihr Leben auch in ökonomischer Hinsicht zu führen), dazu geeignet sind, den besonderen selbstversichernden Wert ästhetischer Erfahrungen für Kinder erlebbar werden zu lassen. – Im Horizont frühpädagogischer Forschung wären – im Anschluss an die heuristischen Überlegungen zu der anthropologischen und sozialisatorischen Bedeutung des ästhetischen Erfahrungsmodus – die fallspezifischen Umstrukturierungs- bzw. Anpassungsprozesse in Bezug auf die dominierenden Erfahrungsmodi für die Phase des Übergangs zwischen Kindergarten und Grundschule verstärkt in den Blick zu nehmen. Ein solches Vorhaben müsste darüber hinaus die spezifischen institutionellen Kulturen berücksichtigen.
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7. Abschließende Betrachtungen
– Die aufgezeigte Differenz zwischen ästhetischer Erfahrung und ästhetischer Bildung, die vor allem durch die Kombination umfassender Fallrekonstruktionen mit den ästhetischen Ausdrucksgestalten der Kinder abgebildet werden konnte, wäre in weiterführenden Arbeiten bezüglich des konkreten bzw. fallspezifischen Gehalts ästhetischer Erfahrungen und ihrer individuellen bildungstheoretischen Bedeutung noch weiter auszudifferenzieren. Insbesondere die im Rahmen dieser Arbeit aufgestellte These der Eigenheit ästhetischer Bildung müsste einer weiteren empirischen Bewährung ausgesetzt und um die Frage nach dem Übergang einer ästhetischen Erfahrung in einen ästhetischen Bildungsprozess ergänzt werden.
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Internetadressen http://www.kultur-macht-schule.de: Kultur macht Schule. Netzwerk für Kooperationen. Bundesvereinigung Kulturelle Jugendbildung e. V. Remscheid. http://www.ymsd.de: Yehudi Menuhin Stiftung Deutschland. Düsseldorf.
Anhang Transkriptionsregeln – Alle Wörter werden klein geschrieben – Keine eigentlichen Satzzeichen werden gesetzt, sondern innerhalb des laufenden Textes werden die Pausen mit Transkriptionszeichen markiert – Nebengeräusche werden mit erfasst Transkriptionszeichen ,
kurzes Absetzen im Erzählfluss
…
Pause, ein Punkt steht für eine Sekunde
(x Sek.)
längere Pause. Die Dauer wird in x Sekunden angegeben.
So/So
schneller Anschluss
Aus-
Abbruch
Denke ich Hmm
Gleichzeitiges Sprechen ab »ich«
Es klingelt x sek
Bezeichnung von Geräuschen mit Angabe der Dauer
Liebe Eltern
Kennzeichnung einer Textstelle, auf die sich ein nachfolgender Vermerk bezieht
(laut)
Vermerk des Transkribierenden
((Wesselstraße))
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