J. D. Robb Liebesnacht mit einem Mörder Ein Eve Dallas Roman Aus dem Amerikanischen von Uta Hege
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J. D. Robb Liebesnacht mit einem Mörder Ein Eve Dallas Roman Aus dem Amerikanischen von Uta Hege
And what rough beast, its hour come round at last, Slouches toward Bethlehem to be born? Und welches raue Biest kriecht, wenn seine Stunde endlich kommt, nach Bethlehem, um dort das Licht der Welt zu schaun? - Yeats Nobody shoots at Santa Claus. Niemand schießt auf den Weihnachtsmann. - Alfred Emanuel Smith
1 Sie träumte vom Tod. Das schmutzig-rote Licht des Neonschildes pulsierte wie ein zornbebendes Herz hinter dem verschmierten Fenster. Sein Blinken ließ den blutbe leckten Boden wechselweise hell und dunkel schimmern und zeigte in steter Regelmäßigkeit die Konturen des schmuddeligen kleinen Zimmers, ehe es wieder in totaler Finsternis versank. Das magere kleine Mädchen mit dem wirren braunen Haar und den großen Augen in der Farbe des Whiskey, den er, wenn er ihn sich leisten konnte, allzu gerne trank, kauerte in einer Ecke. Schmerz und Schock hatten die Augen glasig werden lassen, und sie hatte eine totengleiche wächserngraue Haut. Hypnotisiert von dem blinkenden Licht, starrte sie auf die Wände, auf den Boden und immer wieder auf ihn. Ihn, der in seinem eigenen Blut auf dem verkratzten Boden lag. Aus ihrer Kehle drang ein leises Wimmern. Und in der Hand hielt sie das bis zum Griff mit Blut getränkte Messer. Er war tot. Sie wusste, er war tot. Der faulige Gestank der Eingeweide dieses Mannes vergiftete die Luft. Sie war ein Kind, ein kleines Kind, doch das Tier in ihrem Innern erkannte den Geruch, und er rief gleichermaßen Angst wie
stumme Freude in ihr wach. Sie spürte das Stechen ihres von ihm gebrochenen Arms und das Brennen zwischen ihren Beinen, das die Folge seiner letzten Vergewaltigung des eigenen Kindes war. Nicht alles Blut stammte von ihm. Doch er war tot. Es war vorbei. Endlich war sie befreit. Da drehte er langsam, wie eine Marionette, seinen Kopf, und das Grauen verdrängte ihren Schmerz. Er glotzte sie an, während sie sich mit einem leisen Aufschrei tiefer in die Ecke drückte, um aus seiner Reichweite zu gelangen, und verzog den toten Mund zu einem widerlichen Grinsen. Du wirst mir nie entkommen, kleines Mädchen. Ich bin ein Teil von dir. Für immer. Tief in deinem Inneren. Und das für alle Zeiten. So, und jetzt muss Daddy dich bestrafen. Er stemmte sich mit den Händen und den Knien vom Boden ab. Blut troff in dicken Tropfen von seinem Gesicht, seinen Hals entlang, glitt obszön über seine Arme auf die Erde. Als er auf die Füße kam und an ing, durch das Blut auf seine Tochter zuzuwaten, schrie sie in nacktem Entsetzen auf. Und wurde davon wach. Sie verbarg das Gesicht zwischen den Händen, hielt sich, um den Schrei zu unterdrücken, der brennend aus ihrer Kehle drängte, fest den Mund zu und zuckte bei jedem Atemzug qualvoll zusammen.
Die Angst verfolgte sie, blies ihr eisig in den Nacken, doch sie kämpfte dagegen an. Sie war nicht mehr das hil lose Kind von damals. Sie war eine erwachsene Frau, eine Polizistin, die wusste, wie man schützte und verteidigte. Auch wenn sie selbst das Opfer war. Sie war nicht allein in irgendeinem grässlichen, mickrigen Zimmer, sondern in ihrem eigenen Haus. Roarkes Haus. Roarke. Indem sie sich auf diesen Namen konzentrierte, schaffte sie es, sich allmählich zu beruhigen. Da er unterwegs war, hatte sie den Liegesessel in ihrem Arbeitszimmer als Schlafstätte gewählt. In ihrer beider Bett konnte sie nur schlafen, wenn er bei ihr war. Die Träume kamen so gut wie nie, wenn er neben ihr schlief. Wenn sie jedoch allein war, peinigten sie sie mit fürchterlicher Konstanz. Sie hasste diese Abhängigkeit fast genauso wie sie diesen Menschen liebte. Sie richtete sich auf und zog den äußerst gut genährten grauen Kater, der sie aus halb geöffneten, zweifarbigen Augen anblinzelte, Trost suchend an ihre Brust. Galahad war zwar ihre Alpträume gewöhnt, doch behagte es ihm gar nicht, wenn sie ihn deshalb um vier Uhr morgens weckte. »Tut mir Leid«, murmelte sie und schmiegte ihr Gesicht in sein seidig weiches Fell. »Es ist wirklich dämlich. Er ist tot und kommt garantiert nicht zurück. Tote kehren nicht
zurück.« Seufzend starrte sie ins Dunkel. »Das sollte mir allmählich klar sein.« Sie lebte mit dem Tod, arbeitete mit ihm, watete Tag für Tag und Nacht für Nacht hindurch. Sie befanden sich in den letzten Wochen des Jahres 2058, und Schusswaffen waren schon lange verboten. Die Medizin hatte außerdem Methoden entwickelt, um das Leben weit über die Hundert-Jahres-Grenze zu verlängern. Trotzdem brachten die Menschen einander hartnäckig weiter um. Und es war ihr Job, für die Toten einzutreten. Statt einen erneuten Alptraum zu riskieren, schaltete sie das Licht ein und kletterte entschieden aus dem Sessel. Sie stand sicher auf den Beinen, ihr Puls schlug fast wieder normal, und das Kopfweh und die Übelkeit, die die normale Folge ihrer Träume waren, würden sich, wie sie aus Erfahrung wusste, in wenigen Minuten legen. In der Hoffnung auf ein vorgezogenes Frühstück sprang auch Galahad von seinem Platz und strich, als sie in die Küchenecke ging, schmeichelnd um ihre Beine. »Ich zuerst, Kumpel.« Sie programmierte ihren Autochef auf starken, schwarzen Kaffee, stellte eine Schale mit Katzenfutter auf den Boden, und während sie müde aus dem Fenster blinzelte, begann das kleine Fellmonster mit einer Gier zu fressen, als würde man es ihm gleich klauen. Statt auf die Straße blickte sie auf eine ausgedehnte
Rasen läche, und am Himmel herrschte keinerlei Verkehr. Es war, als wäre sie völlig alleine auf der Welt. Roarke hatte diese Abgeschiedenheit und Ruhe mit seinem Geld erkauft. Hinter der hohen Steinmauer jedoch, außerhalb des wunderbaren Grundstücks, pulsierte Tag und Nacht das Leben. Dicht gefolgt vom Tod. Das war ihre Welt, dachte sie, während sie an dem starken Kaffee nippte und die noch nicht völlig verheilte Schulter, um die Stei heit daraus zu vertreiben, langsam kreisen ließ. Heimtückische Morde, hoch liegende Pläne, schmutzige Geschäfte und schreiende Verzwei lung. Sie kannte sich mit diesen Dingen besser aus als mit dem farbenfrohen Reichtum und der Macht, von der ihr Mann umgeben war. In Momenten wie diesem, wenn sie allein und deprimiert war, fragte sie sich, wie sie beide einander je gefunden hatten – die gradlinige Polizistin, die an Gesetz und Ordnung glaubte, und der gerissene Ire, der diese Gesetze ständig übertrat. Sie waren zwei verlorene Seelen, die entgegengesetzte Wege eingeschlagen hatten, um zu überleben. Und entgegen jeder Logik und jeglicher Vernunft hatte ein Mordfall sie nicht nur zusammenkommen lassen, sondern regelrecht miteinander verschweißt. »Himmel, ich vermisse ihn. Das ist einfach absurd.« Wütend auf sich selbst, drehte sie sich, in der Absicht zu duschen und sich anzuziehen, entschlossen um, sah das Blinken ihres Tele-Links und lief, da sie wusste, wer sie um
diese Uhrzeit anrief, rasch an den Apparat. Sofort tauchte Roarkes Gesicht auf dem kleinen Bildschirm auf. Was für ein Gesicht, dachte sie, als er eine seiner dunklen Brauen hochzog. Er hatte lange, dichte, schwarze Haare, einen perfekt geformten Mund, fein gemeißelte Knochen und durchdringende, leuchtend blaue Augen. Sie kannte ihn seit beinahe einem Jahr, und trotzdem weckte bereits der Anblick seines umwerfend attraktiven Gesichts heißes Verlangen in ihr. »Meine liebste Eve.« Seine rauchig-weiche Stimme klang wie teurer, irischer Whiskey, auf dem ein Sahnehäubchen schwamm. »Warum schläfst du nicht?« »Weil ich wach bin.« Sie wusste, was er sah, als er sie eingehend studierte. Sie konnte nichts vor ihm verbergen. Er sah die Schatten unter ihren Augen und die Bleiche ihrer Haut. Unbehaglich zuckte sie mit den Schultern und fuhr sich mit der Hand durch das kurz geschnittene, zerzauste Haar. »Ich fahre heute etwas früher auf die Wache. Ich muss noch jede Menge Papierkram erledigen.« Er sah mehr, als sie ahnte. Sah Stärke, Mut und Schmerz sowie eine Schönheit – in den hervortretenden Wangenknochen, dem vollen Mund und den brandyfarbenen Augen –, derer sie sich nicht annähernd bewusst war. Da jedoch auch ihre Erschöpfung ihm nicht verborgen blieb, änderte er spontan seine Pläne.
»Ich komme heute Abend heim.« »Ich dachte, du brauchtest noch ein paar Tage.« »Ich komme heute Abend«, wiederholte er und betrachtete sie lächelnd. »Du fehlst mir, Lieutenant.« »Ach ja?« Auch wenn sie die warme Freude, die diese Worte in ihr verursachten, eher idiotisch fand, grinste sie breit. »Ich schätze, dann muss ich mir ein bisschen Zeit für dich nehmen, oder?« »Tu das.« »Ist das der Grund, aus dem du angerufen hast – um mich wissen zu lassen, dass du früher als geplant wieder da bist?« Eigentlich hatte er sie dazu bewegen wollen, ihn übers Wochenende im Olympus Resort zu besuchen, weil er erst ein, zwei Tage später hatte zurückkehren wollen. Nun jedoch erklärte er ihr lächelnd: »Ich wollte meine Frau lediglich über jeden meiner Schritte informieren. Du solltest noch ein wenig schlafen, Eve.« »Ja, eventuell.« Doch sie beide wussten, dass der gut gemeinte Ratschlag ihres Gatten absolut vergeblich war. »Wir sehen uns dann heute Abend. Äh, Roarke?« »Ja?« Sie musste immer noch tief Luft holen, ehe sie zugeben konnte: »Du fehlst mir ebenfalls.« Während er sie liebevoll lächelnd ansah, brach sie die Übertragung hastig ab, ging mit ihrer Kaffeetasse in das angrenzende Bad und machte
sich fit für den anbrechenden Tag. Sie schlich sich zwar nicht gerade aus dem Haus, bewegte sich aber zumindest sehr leise. Trotz der frühen Stunde war sie der festen Überzeugung, dass auch Summerset längst auf den Beinen war, und sie ging Roarkes Hauptfeldwebel – oder wie immer man so einen Menschen nannte, der alles wusste, alles tat und seine Hakennase allzu oft in ihre Angelegenheiten steckte –, so gut es ging, aus dem Weg. Seit sie beide einander während ihres letzten Falles näher gerückt waren, als ihnen beiden lieb gewesen war, gab er sich ebenfalls die größte Mühe, ihr nicht allzu häufig zu begegnen. Bei der Erinnerung an ihren letzten Fall rieb sie sich geistesabwesend die Schulter. Morgens und am Ende eines langen Tages machte sie ihr noch etwas zu schaffen. Nie wieder würde sie von einem Schuss aus ihrer eigenen Waffe erwischt werden wollen. Weitaus schlimmer jedoch war die Tatsache gewesen, dass Summerset ihr danach, als sie zu schwach gewesen war, um ihm dafür einen Tritt in sein knochiges Hinterteil zu geben, literweise Medikamente in den Hals gegossen hatte. Sie zog die Haustür behutsam hinter sich ins Schloss, sog die kalte Dezemberluft tief in ihre Lungen ein – und fluchte. Sie hatte ihr Fahrzeug vor allem deshalb am Fuß der Treppe stehen lassen, um Summerset zu ärgern. Und er hatte es umgeparkt, weil er genau wusste, dass sie sich
darüber aufregen würde. Da sie vergessen hatte, die Fernbedienung für die Garage und den Wagen mitzubringen, stapfte sie knurrend über den gefrorenen Rasen. Vor lauter Kälte brannten ihre Ohren und lief ihre Nase wie die eines kleinen Kindes. Sie bleckte die Zähne, gab mit handschuhlosen Fingern den Zugangscode für die Garage ein und betrat den auf Hochglanz polierten, wohlig temperierten Raum. Auf zwei Ebenen waren elegante PKWs, Motorräder, Sky-Scooter und ein zweisitziger Minicopter verteilt. Ihr erbsengrüner Dienstwagen wirkte im Vergleich zu den übrigen Modellen wie ein räudiger Straßenköter inmitten einer Rotte schlanker Rassehunde mit seidig schimmerndem Fell. Doch zumindest war er neu, sagte sie sich, als sie sich hinter das Lenkrad setzte. Und alles funktionierte. Das Fahrzeug sprang problemlos an. Der Motor schnurrte wie ein Kätzchen. Auf ihren Befehl wehte aus den Lüftungsschlitzen herrlich warme Luft, die Lampen im Armaturenbrett machten ihr deutlich, dass es keinerlei Probleme mit der Technik gab, und zusätzlich erklärte eine ruhige Stimme, sämtliche Systeme wären betriebsbereit und sie könne fahren. Eher hätte sie sich in der Hölle schmoren lassen, als offen zuzugeben, dass ihr die zahllosen Marotten ihres alten Fahrzeugs fehlten. In gemessenem Tempo rollte sie aus der Garage und die gewundene Einfahrt hinunter in Richtung des lautlos
für sie zur Seite gleitenden schmiedeeisernen Tors. Die Straßen in dieser noblen Gegend waren ruhig und sauber, und die Bäume am Rand des großen Parks waren mit diamantglitzerndem Raureif überzogen. Tief im Inneren der Grünanlage brachten sicher irgendwelche Junkies und Knochenbrecher ihr nächtliches Treiben zu einem unglücklichen Abschluss. Hier jedoch gab es nur auf Hochglanz polierte, steinerne Gebäude, breite Alleen und das ruhige Dunkel vor Anbruch des morgendlichen Dämmers. Sie fuhr unzählige Blocks, ehe sie die erste grell-bunte Anzeigetafel sah. Der rotwangige Weihnachtsmann, der mit seinem breiten Grinsen wirkte wie ein überdimensionaler Waldschrat auf Zeus, log mit seinem von einer Herde Rentieren gezogenen Schlitten durch den Himmel, brüllte alle paar Sekunden Ho, ho, ho und erinnerte die Menschen daran, wie viele Einkaufstage ihnen bis zum Weihnachtsabend blieben. »Ja, ja, du feister Hurensohn, ich habe es gehört.« Stirnrunzelnd bremste sie an einer Ampel. Nie zuvor hatte sie sich über Weihnachten Gedanken machen müssen. Es war einzig darum gegangen, irgendeinen Schwachsinn für Mavis aufzutreiben und möglicherweise etwas Essbares für Feeney. Sonst hatte es in ihrem Leben niemanden gegeben, für den sie hätte Geschenke besorgen und einpacken müssen. Was zum Teufel kaufte man für einen Mann, der nicht nur alles hatte, sondern obendrein die meisten Fabriken,
in denen diese Dinge hergestellt wurden, besaß? Für eine Frau, die lieber in einer handfesten Auseinandersetzung siegte, statt einkaufen zu gehen, war das ein ernsthaftes Problem. Weihnachten, beschloss sie, als der Weihnachtsmann begann, die verschiedenen Geschäfte in der New Yorker Sky Mall anzupreisen, war schlichtweg ätzend. Trotzdem wurde ihre Laune besser, als sie am Broadway in den vorhersehbaren Stau geriet. Vierundzwanzig Stunden täglich, sieben Tage in der Woche, wurde hier gefeiert. Auf den Gleitbändern drängten sich Menschen, die fast ausnahmslos betrunken, stoned oder beides waren, und die Schwebegrillbesitzer standen vor Kälte zitternd hinter ihren qualmenden Grills. Hatte ein Verkäufer hier einen Platz ergattert, gab er ihn freiwillig garantiert nicht mehr her. Sie öffnete das Fenster einen Spaltbreit und sog den Duft von gerösteten Kastanien, Soja-Dogs, Rauch und menschlichen Ausdünstungen in sich ein. Irgendjemand sang eine monotone Weise über den Untergang der Welt. Und als eine Horde Fußgänger bei Rot über die Straße strömte, hupte ein Taxifahrer deutlich lauter, als dem Gesetz zur Lärmvermeidung nach gestattet war. Von oben drang das gut gelaunte Furzen der Airbusse an ihr Ohr, und die ersten Werbe lieger priesen bereits lautstark irgendwelche Waren an. Eve verfolgte, wie zwei Frauen, Straßendirnen, wie sie annahm, an ingen zu streiten. Die lizensierten
Gesellschafterinnen mussten ihr jeweiliges Revier genauso vehement verteidigen wie die Verkäufer von Esswaren und Getränken. Sie überlegte, ob sie ihr Fahrzeug verlassen und dem Streit ein Ende machen sollte, doch in diesem Augenblick verpasste die kleine Blondine ihrer großen rothaarigen Konkurrentin einen gezielten Faustschlag und rannte, Haken schlagend wie ein Kaninchen, durch das Gewühl davon. Wirklich clever, dachte Eve beifällig, als die Rothaarige sich mühsam wieder hochrappelte, den Kopf schüttelte und einfallsreiche Obszönitäten hinter der Rivalin herkreischte. Das hier, überlegte Eve zufrieden, das hier ist mein New York. Mit einem gewissen Bedauern erreichte sie die relativ ruhige Siebte und fuhr zügig weiter Richtung Zentrum. Sie brauchte endlich wieder etwas zu tun. Die Wochen der erzwungenen Ruhe machten sie gereizt. Sie kam sich schwach und nutzlos vor, deshalb hatte sie schon eine Woche früher als vom Arzt empfohlen den erforderlichen Gesundheitscheck der Polizei über sich ergehen lassen… …und gerade man so eben bestanden. Doch sie hatte ihn bestanden und umgehend die Arbeit wieder aufgenommen. Wenn sie jetzt noch ihren Vorgesetzten davon überzeugen könnte, sie den Dienst am Schreibtisch gegen die Feldarbeit tauschen zu lassen, wäre sie ein rundum zufriedener Mensch. Mit halbem Ohr lauschte sie auf die Meldung, die
gerade aus dem Äther kam. Schließlich inge ihr Dienst ja erst in drei Stunden an. An alle Einheiten in der Nähe der Siebten, 6843, Appartement 18B. Es wurde ein 1222 gemeldet, der bisher noch nicht bestätigt worden ist. Wenden Sie sich an den Mann in Appartement 2A. An alle Einheiten in der Nähe der… Ehe die Zentrale die Meldung wiederholen konnte, klinkte Eve sich ein. »Zentrale, hier spricht Lieutenant Eve Dallas. Ich bin zwei Minuten von dem Haus entfernt und fahre sofort hin.« Verstanden, Lieutenant Dallas. Bitte machen Sie bei Ankunft Meldung. »Verstanden. Gesprächsende.« Sie parkte am Straßenrand und musterte das stahlgraue Gebäude. Hinter einigen der Fenster brannten Lichter, in der achtzehnten Etage jedoch war es stockdunkel. Ein 1222 hieß, dass von einem anonymen Anrufer ein Familienstreit gemeldet worden war. Eve stieg aus ihrem Wagen und legte geistesabwesend die Hand auf die Stelle unter ihrer Schulter, an der sie ihre Waffe trug. Es machte ihr nichts aus, den Tag mit Schwierigkeiten zu beginnen, doch gab es keinen Cop auf Erden, der einem Familienstreit nicht lieber aus dem Weg gegangen wäre. Es schien nichts zu existieren, was erboste Eheleute lieber taten, als ihren Zorn gegen den armen Kerl zu
richten, der versuchte, sie daran zu hindern, sich zum Beispiel wegen der Miete gegenseitig zu ermorden. Die Tatsache, dass sie die Sache freiwillig übernommen hatte, zeigte, dass sie mit ihrer momentanen Schreibtischarbeit echt unzufrieden war. Eve joggte die kurze Treppe hinauf zum Eingang und suchte Appartement 2A. Als der Bewohner argwöhnisch durch den Spion sah, zückte sie ihren Ausweis und hielt ihn ihm, als er die Tür einen winzigen Spalt öffnete, dicht vor die zusammengekniffenen Augen. »Sie haben Probleme?« »Keine Ahnung. Die Bullen haben bei mir angerufen. Ich bin nur der Hausverwalter. Ich weiß überhaupt nichts.« »Das ist nicht zu übersehen.« Er roch nach schmutzigen Laken und komischerweise nach Käse. »Ich brauche Zugang zu Appartement 18B.« »Haben Sie keinen Generalschlüssel dabei?« »Ja, doch, in Ordnung.« Sie musterte den Mann: klein, mager, ungewaschen und total verängstigt. »Wie wäre es, wenn Sie mir, bevor ich gehe, sagen, wer in der Wohnung lebt?« »Nur eine allein stehende Frau. Geschieden oder so. Sehr zurückhaltend.« »Sind sie das nicht alle?«, murmelte Eve so leise, dass er sie nicht verstand. »Hat sie vielleicht auch einen
Namen?« »Hawley. Marianna. Anfang bis Mitte dreißig. Ziemlich hübsch. Lebt seit zirka sechs Jahren hier im Haus. Hat nie irgendwelche Schwierigkeiten gemacht. Hören Sie, ich habe nichts gehört und nichts gesehen. Ich weiß nicht das Geringste. Es ist, verdammt noch mal, fünf Uhr dreißig morgens. Wenn sie was kaputtgemacht hat, will ich das natürlich wissen. Alles andere geht mich nichts an.« »Ganz klar«, knurrte Eve, als ihr die Tür vor der Nase zugeknallt wurde. »Kehr zurück in deine Höhle, kleine Ratte.« Sie ließ erneut die Schultern kreisen und zog ihr Handy aus der Tasche. »Hier spricht Lieutenant Eve Dallas. Ich bin in dem Gebäude in der Siebten. Der Hausverwalter ist ein Idiot. Ich melde mich wieder nach dem Gespräch mit Marianna Hawley, der Bewohnerin von Appartement 18B.« Braueben Sie Verstärkung? »Noch nicht. Ende des Gesprächs.« Sie steckte das Handy ein, fuhr mit dem Fahrstuhl in die achtzehnte Etage, trat dort in den Flur und vergewisserte sich, dass der Korridor durch Überwachungskameras gesichert war. Es herrschte Totenstille. Der Lage und dem Stil des Hauses nach zu urteilen, waren die meisten Bewohner wohl irgendwelche Angestellten und stünden nicht vor sieben auf. Dann tränken sie verschlafen ihren morgendlichen Kaffee, machten sich auf den Weg zur nächsten Airbus- oder U-Bahn-Haltestelle oder klinkten sich von ihrem heimischen Computer aus in die Arbeit ein.
Einige hatten sicher Kinder, die in die Schule gehen müssten. Andere würden ihre Gatten mit einem Kuss verabschieden und sich bereitmachen für den Geliebten. Lauter ganz normale Leben an einem ganz normalen Ort. Ihr ging die Frage durch den Kopf, ob das verdammte Haus eventuell ihrem Mann gehörte. Dann jedoch schob sie den Gedanken beiseite und trat vor das Appartement 18B. Das Sicherheitslicht blinkte grün. Es war also deaktiviert. Instinktiv stellte sich Eve, bevor sie klingelte, ein Stück neben die Tür. Das Fehlen eines Echos machte deutlich, dass die Wohnung schallisoliert war. Nichts von dem, was drin geschähe, dränge je nach außen. Leicht verärgert zog sie ihren Generalschlüssel hervor und schloss auf. Ehe sie das Appartement betrat, rief sie: »Mrs. Hawley? Ich bin von der Polizei. Uns wurde gemeldet, dass es bei Ihnen einen Streit gegeben hat.« Schließlich wollte sie nicht irgendeine brave Bürgerin aus dem Schlaf jagen, die dann womöglich mit einem selbst gebastelten Stunner oder einem Küchenmesser in der Hand auftauchte. »Licht«, befahl sie, und die Deckenlampe im Wohnzimmer flammte auf. Es war ein durchaus hübscher Raum. Weiche Farben, schlichte Linien, und im Fernsehen lief ein alter Video ilm, in dem sich zwei unglaublich attraktive Menschen nackt auf
einem mit Rosenblüten übersäten Laken wälzten und theatralisch stöhnten. Auf dem Tisch vor dem langen, rauchig grünen Sofa standen neben einer mit bis zum Rand von gezuckertem Fruchtgummi gefüllten Schale silberne und rote, hübsch auf verschiedene Höhen abgebrannte Kerzen. Es roch nach Moosbeere und Pinie. Der Pinienduft stammte von einem kleinen, perfekt geformten Baum, der vor einem der Fenster auf der Seite lag. Die festliche Beleuchtung und die süßen Engelsornamente waren geborsten, die Schleifen zerrissen und die zahlreichen weihnachtlich verpackten Geschenkschachteln darunter zerdrückt. Eve zückte ihre Waffe. Im Wohnzimmer gab es keine weiteren Zeichen von Gewalt. Das Paar auf dem Bildschirm erreichte mit gleichzeitigem Stöhnen seinen Höhepunkt, und Eve schob sich mit gespitzten Ohren an dem Fernseher vorbei. Von irgendwoher hörte sie Musik. Leise, fröhlich, gleichförmig. Sie kannte das Lied nicht, wusste aber, dass es eine der nervtötenden Weihnachtsweisen war, die es bereits seit Wochen allerorten zu ertragen galt. Sie schwenkte ihre Waffe in Richtung eines kurzen Flurs. Zwei Türen, beide offen. Hinter einer sah sie ein Waschbecken, eine Toilette, den Rand einer Wanne, alles schimmernd weiß. Den Rücken an der Wand, glitt sie zu der zweiten Tür, hinter der noch immer dieselbe Melodie
erklang. Sie roch den frischen Tod. Fruchtig und gleichzeitig metallisch. Schob die Tür vorsichtig bis zum Anschlag auf und stand ihm direkt gegenüber. Mit wachem Blick schwang sie ihre Waffe nach rechts, dann nach links und betrat danach erst den Raum. Sie wusste, sie war mit dem Wesen, das Marianna Hawley gewesen war, allein, und trotzdem sah sie in den Schrank, hinter die Vorhänge und durchsuchte auch den Rest der Wohnung, ehe sie den Stunner endlich sinken ließ und dichter an das Bett trat. 2A hatte Recht gehabt, war ihr erster Gedanke. Marianna war attraktiv gewesen. Keine auffallende Schönheit, doch eine hübsche Frau mit dunkelgrünen Augen und weichem braunem Haar. Noch hatte ihr der Tod das nette Aussehen nicht geraubt. Wie die Augen allzu vieler Toter waren auch die ihren schreckgeweitet. Ihre bleichen Wangen waren dezent gepudert, die Wimpern nachgedunkelt und die Lippen in einem festlichen Kirschrot bemalt. Direkt über dem rechten Ohr war eine kleine Spange in ihrem Haar befestigt – ein kleiner glitzernder Baum, in dessen silbernem Geäst ein plumper vergoldeter Vogel saß. Mit der kunstvoll um ihren nackten Körper geschlungenen silbernen Girlande hatte ihr Mörder sie offenbar erwürgt. Doch nicht nur am Hals fanden sich Würgemale, sondern ebenso an beiden Handgelenken sowie an den
Knöcheln, was vermuten ließ, dass Marianna noch genügend Zeit geblieben war, um sich zu wehren. Aus der Stereoanlage direkt neben dem Bett wünschte ihnen ein gut gelaunter Sänger eine frohe Weihnacht. Seufzend griff Eve nach ihrem Handy. »Zentrale, hier spricht Lieutenant Eve Dallas. Ich habe eine Tote.« »Was für eine Art, den Tag zu beginnen.« Of icer Peabody unterdrückte ein Gähnen, während sie das Opfer mit ihren dunklen Polizistinnenaugen maß. Trotz der frühen Stunde hatte ihre Uniform nirgends auch nur die kleinste Falte und war ihr dunkler Pagenschnitt tadellos frisiert. Das Einzige, was darauf hinwies, dass sie unsanft aus dem Bett gerissen worden war, war ihre zerknitterte linke Wange. »Was für eine Art, ihn zu beenden«, antwortete Eve. »Die erste Untersuchung deutet darauf hin, dass der Tod fast auf die Minute genau um vierundzwanzig Uhr eingetreten ist.« Sie trat einen Schritt zur Seite und ließ den Pathologen an sich vorbei. »Vermutlich Tod durch Strangulieren. Das Fehlen von Defensivverletzungen weist darauf hin, dass das Opfer, nachdem es gefesselt war, keine Gegenwehr mehr geleistet hat.« Eve untersuchte sanft die abgeschabte Haut an Mariannas linkem Knöchel. »Vaginale und anale Abschürfungen legen die Vermutung nahe, dass sie vor ihrer Ermordung sexuell misshandelt worden ist. Die
Wohnung ist schallisoliert. Sie hätte sich also die Lunge aus dem Hals schreien können, und niemand hätte es gehört.« »Ich habe nirgends Anzeichen dafür gefunden, dass jemand gewaltsam in das Appartement eingedrungen ist, und der einzige Hinweis auf einen möglichen Kampf ist der umgestürzte Baum. Der meiner Meinung nach mit Absicht umgeworfen worden ist. « Eve nickte. »Gut beobachtet, Peabody. Und jetzt gehen Sie zu dem Mann in Appartement 2A und besorgen sich die Überwachungsdisketten aus dieser Etage. Wollen wir doch mal sehen, wer gestern Abend hierher zu Besuch gekommen ist.« »Sofort.« »Schicken Sie außerdem ein paar Beamte los, die die übrigen Hausbewohner befragen«, fügte Eve hinzu und trat vor das Tele-Link neben dem Bett. »Und mach endlich jemand die verdammte Musik aus.« »Klingt nicht gerade, als ob Sie in Weihnachtsstimmung wären.« Peabody drückte mit einem versiegelten Finger auf den Aus-Knopf der Stereoanlage. »Madam.« »Weihnachten ist rundum ätzend. Sind Sie hier fertig?«, fragte sie den Pathologen. »Dann lassen Sie sie uns noch umdrehen, bevor sie eingetütet wird.« Das Blut hatte sich in der tiefsten Körperstelle angesammelt, und so leuchtete Mariannas Hintern in einem widerlichen Rot. Im Sterben hatte sie noch Blase
und Gedärm entleert. Ebenfalls mit versiegelten Händen betastete Eve die wächsern graue Haut. »Das hier sieht frisch aus«, murmelte sie leise. »Peabody, nehmen Sie das auf, bevor Sie runtergehen.« Sie studierte die leuchtende Tätowierung auf dem rechten Schulterblatt der Toten. »Meine große Liebe.« Beim Anblick der leuchtend roten altmodischen Schrift auf dem kreidebleichen Fleisch spitzte Peabody die Lippen. »Sieht aus wie eine dieser Tätowierungen, die sich wieder entfernen lassen.« Eve beugte sich so dicht über die Tote, dass sie beinahe mit der Nase gegen ihre Schulter stieß, und schnupperte. »Ziemlich frisch. Wir müssen überprüfen, ob sie vor kurzem in irgendeinem Schönheitssalon gewesen ist.« »Rebhuhn im Birnbaum.« Eve richtete sich auf und musterte ihre Assistentin mit hochgezogenen Brauen. »Was?« »In ihren Haaren, die Spange in ihren Haaren. Am ersten Tag der Weihnacht.« Als Eve sie noch immer ratlos ansah, schüttelte Peabody den Kopf. »Das ist ein altes Weihnachtslied, Lieutenant. >Die zwölf Tage der Weihnacht<. Der Typ in dem Lied macht seiner großen Liebe jeden Tag ein anderes Geschenk, und das erste ist ein Rebhuhn im Birnbaum.« »Was zum Teufel soll man mit einem Vogel, der in
einem Baum sitzt? Schwachsinniges Geschenk.« Gleichzeitig jedoch kam ihr ein schrecklicher Verdacht. »Wollen wir nur hoffen, dass sie seine einzige große Liebe gewesen ist. Holen Sie mir die Disketten, und packen Sie sie ein«, befahl sie Peabody sowie dem Pathologen und bückte sich erneut über das Link. Während man die Tote aus der Wohnung transportierte, rief sie sämtliche in den letzten vierundzwanzig Stunden geführten Telefongespräche ab. Als Erstes hatte knapp nach achtzehn Uhr Mariannas Mutter angerufen, und die beiden hatten sich fröhlich unterhalten. Eve lauschte dem Gespräch, blickte in das lachende Gesicht der Mutter und dachte, wie dieses Gesicht aussehen würde, wenn sie anrief, um der Frau zu sagen, dass ihre Tochter nicht mehr lebte. Das einzige andere Gespräch hatte Marianna von sich aus unternommen. Gut aussehender Knabe, dachte Eve, als das Bild auf dem Monitor erschien. Mitte dreißig, mit einem netten Lächeln und warmen, braunen Augen. Jerry hatte das Opfer ihn genannt. Oder Jer. Es hatte jede Menge sexueller Anspielungen gegeben, sie hatten viel miteinander gescherzt. Er war also ein Liebhaber gewesen. Vielleicht ihre große Liebe. Eve nahm die Diskette aus dem Link, versiegelte sie, steckte sie in die Tasche, entdeckte auf dem Tisch unter dem Fenster neben Mariannas Handy und Terminkalender ein Adressbuch und machte nach kurzer Durchsicht den Namen Jeremy Vandoren darin aus.
Dann trat sie erneut vor das Bett. Das blutbe leckte Laken war am Fußende zerknüllt. Die Kleider, die dem Opfer sorgfältig vom Leib geschnitten und auf den Boden geworfen worden waren, steckten bereits in einem Sack. In der Wohnung herrschte totale Stille. Sie hatte ihn hereingelassen, überlegte Eve. Hatte ihm die Tür geöffnet. War sie freiwillig mit ihm ins Schlafzimmer gekommen oder hatte er sie hierher verschleppt? Die toxikologische Untersuchung würde zeigen, ob sie betäubt gewesen war. Im Schlafzimmer hatte er sie an Händen und Füßen gefesselt, sie mit gespreizten Gliedern vor sich ausgebreitet und wahrscheinlich die Fesseln um die Bettpfosten geschlungen. Dann hatte er ihre Kleider aufgeschnitten. Vorsichtig und ohne jede Eile. Weder im Zorn noch auch nur in irgendeinem verzweifelten Verlangen. Mit Berechnung, ordentlich, geplant. Dann hatte er sie vergewaltigt, einfach, weil er die Macht dazu besessen hatte, weil er dazu in der Lage gewesen war. Sie hatte sich gewehrt, geschrien und wahrscheinlich ge leht. Er hatte es genossen, hatte sich daran ergötzt. Vergewaltiger genossen das Elend und die Ohnmacht ihrer Opfer, dachte sie und atmete, da ihre Gedanken zu ihrem Vater wandern wollten, so tief wie möglich durch. Als er fertig gewesen war, hatte er sie erwürgt und ihr, während ihr die Augen aus dem Kopf gequollen waren, ins Gesicht gesehen. Dann hatte er sie gekämmt, geschminkt
und die festliche Silbergirlande um ihren Leib drapiert. Hatte er die Spange mitgebracht oder hatte sie ihr gehört? Hatte sie sich die Tätowierung selbst aufmalen lassen oder hatte er ihren Körper dergestalt verziert? Eve ging hinüber in das angrenzende Bad. Die weißen Fliesen glitzerten wie Eis, und der Geruch nach Desinfektionsmittel verriet, dass er sich nach vollbrachter Tat gewaschen und vielleicht sogar gebürstet hatte, ehe der gesamte Raum von ihm gesäubert worden war. Tja, auf alle Fälle sollte sich die Spurensicherung hier drin mal umsehen. Ein lausiges Schamhaar würde reichen, und sie hätte ihn erwischt. Sie hatte eine Mutter gehabt, die sie liebte, überlegte Eve. Eine Mutter, die mit ihr gelacht, die mit ihr Urlaubspläne geschmiedet und sich mit ihr über Zuckerplätzchen unterhalten hatte. »Madam? Lieutenant?« Eve blickte über die Schulter und sah, dass ihre Assistentin zurückgekommen war. »Was ist?« »Ich habe die Überwachungsdisketten besorgt, und zwei Beamte haben angefangen, die Hausbewohner zu befragen.« »Okay.« Eve fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht. »Versiegeln wir die Wohnung und nehmen alles mit aufs Revier. Ich muss die nächsten Verwandten informieren.« Sie schwang sich ihre Tasche über die Schulter und hob das Untersuchungsset vom Boden auf. »Sie haben Recht,
Peabody. Man kann einen Tag sicher angenehmer beginnen.«
2 »Haben Sie die Linknummer des Freundes überprüft?« »Ja, Madam. Jeremy Vandoren, wohnhaft in der Zweiten, arbeitet bei Foster, Bride und Rumsey an der Wall Street.« Peabody spähte auf ihren Notizblock und fuhr entschlossen fort: »Geschieden, augenblicklich allein stehend, sechsunddreißig. Und obendrein ein äußerst attraktives Exemplar der Gattung Mann.« »Hmm.« Eve schob die Überwachungsdiskette in den Schlitz ihres Computers. »Wollen wir doch mal sehen, ob dieses äußerst attraktive Exemplar gestern Abend bei seiner Freundin zu Besuch gewesen ist. « »Kann ich Ihnen einen Kaffee holen, Lieutenant?« »Was?« »Ich habe gefragt, ob ich Ihnen einen Kaffee holen kann?« Eve blickte mit zusammengekniffenen Augen auf den Bildschirm. »Wenn Sie einen Kaffee wollen, Peabody, dann brauchen Sie es bloß zu sagen.« Hinter ihrem Rücken verdrehte Peabody die Augen. »Ich hätte gerne einen Kaffee.« »Dann holen Sie sich einen – und bringen Sie mir, wenn Sie schon mal dabei sind, bitte einen mit. Das Opfer kam um sechzehn Uhr fünfundvierzig nach Hause. Pause«, befahl Eve ihrem Computer und sah sich Marianna Hawley
an. Schlank, hübsch, jung, mit einem leuchtend roten Beret auf den schimmernd braunen Haaren, das zu ihrem weich ließenden Mantel passte und zu den auf Hochglanz polierten Stiefeln. »Sie war einkaufen«, bemerkte Peabody und stellte einen Kaffeebecher neben Eves Ellbogen auf den Schreibtisch. »Ja. Bei Bloomingdale’s. Diskette weiter«, meinte Eve und verfolgte, wie Marianna ihre Tüten auf den Boden stellte und den Schlüssel in die Hand nahm. Sie bewegte ihre Lippen. Führte Selbstgespräche. Nein, erkannte Eve, sie sang. Dann schüttelte sich Marianna das Haar aus dem Gesicht, griff nach ihren Tüten, trat durch die Tür der Wohnung, warf sie hinter sich ins Schloss. Und zum Zeichen dafür, dass sie abgeschlossen hatte, begann das rote Licht neben der Tür zu blinken. Die Diskette lief weiter, und Eve sah andere Hausbewohner allein oder zu zweit kommen oder gehen. Lauter Zeugnisse ganz normaler Leben. »Sie ist nicht noch einmal ausgegangen«, erklärte sie ihrer Assistentin und blickte mit ihrem geistigen Auge ins Innere der Wohnung. Sie sah, wie Marianna in der schlichten marineblauen Hose und dem weißen Pullover, was ihr später alles vom Leib geschnitten werden würde, durch die Zimmer lief. Sie schaltete das Fernsehen an, hängte ihren leuchtend
roten Mantel in den Flurschrank, legte das Beret ins Regal, stellte die Stiefel auf den Boden, räumte die Einkäufe fort. Sie war eine ordentliche Frau gewesen, die hübsche Dinge mochte, und sich auf einen ruhigen Abend zu Hause vorbereitet hatte. »Hat sich ihrem AutoChef zufolge gegen sieben eine Suppe heiß gemacht.« Eve trommelte mit ihren kurzen, nicht lackierten Fingernägeln auf die Platte ihres Schreibtischs. »Wurde von ihrer Mutter angerufen und rief dann selbst bei ihrem Freund an.« Während sie in Gedanken die Reihenfolge dieser Tätigkeiten durchging, sah sie, wie die Tür des Fahrstuhls aufglitt, und zog die Brauen derart hoch, dass sie unter ihrem Pony verschwanden. »Aber hallo, ho, ho, ho, wen haben wir denn da?« »Den Weihnachtsmann.« Grinsend beugte sich Peabody über ihre Schulter. »Und er hat sogar Geschenke mitgebracht.« Der Mann in dem roten Anzug und mit dem leuchtend weißen Bart hielt eine große, in Silberpapier gehüllte und mit einer grün-goldenen Schleife hübsch verzierte Schachtel in der Hand. »Moment mal. Pause. Vergrößerung Abschnitte zehn bis fünfzig um dreißig Prozent. « Der Bildschirm erwachte zu neuem Leben, und der von Eve genannte Abschnitt trat aus dem übrigen Bild hervor. In der hübschen Schleife steckte eine Spange – ein fetter
vergoldeter Vogel auf einem versilberten Baum. »Dieser Hurensohn. Verdammt, das ist das Ding, das Marianna in den Haaren hatte.« »Aber… das ist der Weihnachtsmann.« »Reißen Sie sich zusammen, Peabody. Diskette weiter. Er geht in Richtung ihrer Tür«, murmelte Eve und verfolgte, wie die fröhliche Gestalt mit ihrem schimmernden Paket vor Mariannas Wohnung trat. Dort legte sie einen behandschuhten Finger auf die Klingel, wartete einen Moment, warf den Kopf zurück und lachte. Eine Sekunde später kam Marianna mit glühenden Wangen an die Tür, sah den Besucher mit vor Freude blitzenden Augen an, strich sich die Haare aus der Stirn und trat einladend einen Schritt zur Seite. Santa warf einen kurzen Blick über die Schulter, blickte direkt in die Kamera, verzog den Mund zu einem Lächeln und wandte sich dann zwinkernd wieder ab. »Halt. Dieser Bastard. Dieser elendige Bastard. Computer, ich brauche einen Ausdruck von dem Bild«, befahl sie und studierte eingehend das runde, rotwangige Gesicht mit den leuchtend blauen Augen. »Er wusste, dass wir die Disketten durchgehen und ihn sehen würden. Es hat ihn amüsiert.« »Er hat sich als Weihnachtsmann verkleidet.« Immer noch starrte Peabody mit großen Augen auf den Bildschirm. »Das ist widerwärtig. Das ist einfach… nicht richtig.«
»Was? Hätten Sie es angemessener gefunden, wenn er als Satan verkleidet dort erschienen wäre?« »Ja – nein.« Peabody trat von einem Bein aufs andere und zuckte mit den Schultern. »Es ist einfach… tja, es ist einfach krank.« »Und zugleich wirklich clever.« Eve wartete, bis das Bild des Täters aus dem Drucker kam. »Den Weihnachtsmann lässt jeder rein. Diskette, weiter.« Die Tür klappte hinter beiden zu, und der Flur blieb menschenleer. Der unten im Bild eingeblendeten Uhr zufolge war es drei Minuten nach halb zehn. Er hatte sich also Zeit gelassen, dachte Eve, fast zweieinhalb Stunden. Das Seil, mit dem er sie gefesselt hatte, und alles andere, was von ihm verwendet worden war, hatte er sicher in der großen, hübsch verpackten Schachtel mitgebracht. Um elf kam ein lachendes Pärchen aus dem Fahrstuhl und lief Arm in Arm an Mariannas Wohnungstür vorbei. Ohne auch nur zu ahnen, dass genau zur gleichen Zeit hinter eben dieser Tür ein Mensch Furcht und Schmerzen auszustehen hatte, dass seine letzte Stunde angebrochen war. Kurz nach halb eins wurde die Tür wieder geöffnet. Der Mann in dem roten Anzug trat, unverändert die Silberbox in seinen Händen, lächelnd in den Flur. Noch einmal sah er in die Überwachungskamera, dieses Mal
jedoch blitzte in seinen Augen ein unheilvoller Wahn. Tänzelnd bewegte er sich auf den Fahrstuhl zu. »Kopie der Diskette für die Akte Hawley. Aktenzeichen 25.176-H. Peabody, wie viele Weihnachtstage gibt es, haben Sie gesagt? Ich meine in dem Lied.« »Zwölf.« Peabody benetzte ihre trockene Kehle mit einem Schluck ihres Kaffees. »Zwölf.« »Wir müssen umgehend heraus inden, ob Marianna Hawley seine große Liebe war – oder ob er noch elf andere Menschen liebt.« Eve stand entschieden auf. »Los, sprechen wir mit ihrem Freund.« Jeremy Vandoren arbeitete in einem winzigen Eckchen innerhalb eines riesigen Büros. Der Platz reichte gerade für seinen Computer, die Telefonanlage und einen Schreibtisch auf drei Rollen. Hinter ihm an der Stellwand waren Börsenberichte, ein Theaterprogramm, eine Weihnachtskarte mit einer üppigen, einzig mit strategisch günstig platzierten Schnee locken bekleideten Blondine und ein Foto von Marianna Hawley festgepinnt. Als Eve vor seinen Schreibtisch trat, hob er statt des Kopfs die Hand und hämmerte weiter auf das Keyboard seines Computers ein, während er zugleich, ohne auch nur Luft zu holen, in ein Headset sprach. »Comstat steht weiter auf fünf ein achtel, Kenmart ist um drei dreiviertel gesunken. Nein, Roarke Industries hat gerade einen Sprung um sechs Punkte nach oben gemacht. Unsere Analysten gehen davon aus, dass das Unternehmen
bis Ende des Tages um weitere zwei Punkte steigt. « Eve zog eine Braue in die Höhe und stopfte die Hände in die Taschen ihrer Hose. Sie stand hier, um über einen Mord zu sprechen, und Roarke machte Millionen. Es war wirklich verrückt. »Fertig.« Vandoren drückte abermals auf eine Taste. Auf dem Monitor erschien ein Labyrinth aus Zahlen und Symbolen, und Eve ließ ihn noch dreißig Sekunden spielen, ehe sie ihren Ausweis zückte und ihm direkt vor das Gesicht hielt. Er blinzelte verwirrt, wandte dann jedoch den Kopf und sah sie endlich an. »Verstanden. Sie sind fest entschlossen. Absolut. Danke.« Mit einem leicht nervösen Lächeln schob er das Mikrofon des Headsets an die Seite. »Hm, Lieutenant, was kann ich für Sie tun?« »Jeremy Vandoren?« »Ja.« Seine dunkelbraunen Augen blickten an ihr vorbei auf ihre Assistentin und dann wieder auf sie. »Bin ich in irgendwelchen Schwierigkeiten?« »Haben Sie denn etwas Verbotenes getan, Mr. Vandoren?« »Nicht, dass ich wüsste.« Wieder versuchte er zu lächeln, und in seinem Mundwinkel erschien ein kleines, verführerisches Grübchen. »Abgesehen von dem Schokoriegel, den ich im Alter von acht Jahren mal habe mitgehen lassen, fällt mir spontan nichts ein.«
»Kennen Sie Marianna Hawley?« »Marianna, sicher. Erzählen Sie mir bloß nicht, Marianna hätte ebenfalls einen Schokoriegel geklaut.« Dann jedoch, als hätte jemand einen Schalter umgelegt, schwand das unbeschwerte Lächeln aus seinem Gesicht. »Was ist los? Ist etwas passiert? Ist mit ihr alles in Ordnung?« Er sprang von seinem Stuhl und blickte über den Rand der Stellwand, als erwarte er, Marianna dahinter zu sehen. »Mr. Vandoren, es tut mir Leid.« Eve hatte auch nach Jahren noch keinen guten Weg gefunden, um diese schlimme Nachricht zu überbringen, und so sprach sie den grauenhaften Satz so schnell wie möglich aus. »Ms. Hawley ist tot. « »Nein, das ist sie nicht. Nein«, beharrte er und starrte Eve mit seinen dunklen Augen an. »Das ist sie nicht. Das ist einfach absurd. Ich habe erst gestern Abend noch mit ihr geredet. Wir treffen uns um sieben zum Essen. Sie ist okay. Ihnen ist eindeutig ein Irrtum unterlaufen.« »Es ist kein Irrtum. Tut mir Leid«, wiederholte sie, als er sie wie paralysiert ansah. »Marianna Hawley wurde gestern Abend in ihrer Wohnung ermordet. « »Marianna? Ermordet?« Er schüttelte langsam den Kopf, als ergäben diese beiden Worte für ihn nicht den geringsten Sinn. »Das ist eindeutig falsch. Das kann nur falsch sein.« Er wirbelte herum und griff nach dem Hörer seines Tele-Links. »Ich werde sie auf der Stelle anrufen. Sie werden sehen, wie jeden Tag um diese Zeit ist sie im
Büro.« »Mr. Vandoren.« Eve legte eine Hand auf seine Schulter und drückte ihn auf seinen Stuhl. Für sie gab es keinen Platz zum Sitzen, und so hockte sie sich, um nicht von oben auf ihn herabsehen zu müssen, auf die Kante seines Schreibtischs. »Sie wurde anhand von ihren Fingerabdrücken und per DNA-Analyse identi iziert. Wenn Sie meinen, dass Sie es schaffen, hätte ich es gern, dass Sie mich begleiten und Sie persönlich identifizieren.« »Persönlich…« Erneut sprang er auf und stieß dabei unsanft mit dem Ellenbogen gegen ihre immer noch nicht ganz verheilte Schulter. »Ja. Ich komme mit. Ich komme sogar ganz sicher mit. Weil sie es nicht ist. Es ist ganz bestimmt nicht Marianna.« Das Leichenschauhaus war zu keiner Zeit ein froher Ort. Die roten und grünen Weihnachtskugeln sowie das hässlich goldene Lametta, die entweder von einem unverbesserlichen Optimisten oder aber von jemandem mit Sinn fürs Makabre unter der Decke und in den Türrahmen befestigt worden waren, verstärkten das Gefühl, als würde hier hämisch über den Tod gegrinst. Eve stand wie schon allzu oft in ihrem Leben vor dem Fenster, durch das man in einen der Räume sah. Und spürte, wie ebenfalls schon allzu oft, fast körperlich den Schock des Mannes neben sich, als dieser den geliebten Menschen auf der anderen Seite dieses Fensters liegen sah. Der Toten war eilig ein Laken übergeworfen worden.
Damit Freunden, Verwandten und anderen, die sie liebten, wenigstens der Anblick ihrer jämmerlichen Nacktheit, der ihr mit dem Y-Einschnitt zugefügten Wunde und des abwaschbaren Stempels auf der Innenseite ihres Schenkels, der dem Opfer einen Namen und eine Nummer gab, erspart blieb. »Nein.« Hil los presste Vandoren beide Hände gegen die Scheibe, die ihn von seiner Liebsten trennte. »Nein, nein, nein, das kann nicht wahr sein. Marianna.« Eve nahm ihn sanft am Arm. Er zitterte wie Espenlaub, ballte die Hände zu Fäusten und trommelte leicht gegen das Glas. »Nicken Sie nur, wenn Sie die Tote als Marianna Hawley identifizieren.« Er nickte. Und begann zu weinen. »Peabody, inden Sie ein leer stehendes Büro. Und holen Sie ihm ein Glas Wasser.« Noch während Eve dies sagte, schlang er ihr die Arme um den Leib, presste sein Gesicht an ihre Schulter und sackte unter dem Gewicht der Trauer schlaff in sich zusammen. Eve bedeutete dem Mann hinter der Scheibe, den Sichtschutz hochzufahren, und blieb still stehen. »Kommen Sie, Jerry, kommen Sie bitte mit.« Mit dem Gedanken, dass sie lieber einen Schuss aus einem Stunner abbekäme als der Trauer eines Menschen ausgeliefert zu sein, legte sie einen Arm um seine Schulter und führte ihn fort. Für diese Menschen gab es keine Hilfe. Es gab weder
ein Zaubermittel noch eine Medizin, und so dirigierte sie ihn leise murmelnd den ge liesten Korridor hinunter in Richtung einer von ihrer Assistentin aufgehaltenen Tür. »Den Raum hier können wir benutzen«, sagte Peabody mit leiser Stimme. »Und jetzt hole ich das Wasser.« »Wir sollten uns setzen.« Eve half Jeremy auf einen Stuhl, ischte ein Taschentuch aus seiner Anzugjacke und drückte es ihm in die Hand. »Tut mir Leid«, sagte sie wie immer und spürte, ebenfalls wie immer, wie unzulänglich diese Worte waren. »Marianna. Wer hat Marianna so was angetan? Und vor allem: Warum?« »Das herauszu inden ist mein Job. Und Sie können mir glauben, ich finde es heraus.« Etwas in der Art, in der sie diese Sätze sagte, brachte ihn dazu, ihr ins Gesicht zu sehen. Seine Augen waren rot, verquollen und verzweifelt, und er atmete mit großer Mühe ein und aus. »Ich – sie war ein ganz besonderer Mensch.« Erzog eine kleine Samtschachtel aus seiner Tasche. »Das hier hatte ich ihr heute Abend geben wollen. Eigentlich hatte ich es für Weihnachten geplant – Marianna hat Weihnachten geliebt –, aber dann habe ich es mir anders überlegt. Noch so lange zu warten hätte ich nicht ausgehalten.« Mit zitternden Händen klappte er das Kästchen auf und hielt Eve den mit einem blitzenden Diamanten besetzten Verlobungsring dicht vor das Gesicht. »Ich wollte sie heute Abend bitten, meine Frau zu werden. Sie hätte ja gesagt.
Wir haben einander geliebt. War es…« Vorsichtig klappte er die Schachtel wieder zu und schob sie zurück in seine Tasche. »Ist es ein Raubüberfall gewesen?« »Das glauben wir nicht. Wie lange haben Sie sie gekannt?« »Sechs Monate, fast sieben.« Als Peabody mit einem Wasserbecher kam, sagte er danke, nahm ihr den Becher ab, hielt ihn jedoch lediglich, ohne einen Schluck zu trinken, kramp haft in der Hand. »Es waren die glücklichsten sechs Monate in meinem Leben.« »Wie haben Sie sich kennen gelernt?« » Ü b e r Personally Yours. Eine Partnervermittlungsagentur. « »Sie sind Kunde bei einer Vermittlungsagentur?«, fragte Peabody mit überraschter Stimme. Er zuckte mit den Schultern. »Das war eine spontane Idee. Ich verbringe die meiste Zeit im Büro und komme nur selten vor die Tür. Seit ein paar Jahren bin ich geschieden, und ich schätze, seither bin ich Frauen gegenüber ein wenig nervös. Tja, keine der Frauen, die ich irgendwo getroffen habe… bei keiner hat es geklickt, und dann habe ich eines Abends die Anzeige dieser Partnervermittlung im Fernsehen gesehen und gedacht, das sollte ich vielleicht mal probieren. Schaden könnte es ja nicht.« Jetzt nahm er einen vorsichtigen Schluck von seinem Wasser, und man konnte deutlich sehen, wie er schluckte.
»Marianna war die dritte der ersten fünf Frauen, die mir vermittelt wurden. Mit den ersten beiden habe ich mich auf einen Drink getroffen, doch es blieb bei ober lächlichen Gesprächen. Als ich aber Marianna traf, hat es sofort zwischen uns beiden gefunkt.« Er schloss die Augen und rang mühsam um Fassung. »Sie ist einfach ein… wunderbarer Mensch. So energiegeladen und so enthusiastisch. Sie hat ihre Arbeit geliebt, ihre Wohnung und die Theatergruppe, in der sie mitspielt. Sie macht manchmal beim Laientheater mit.« Mal sprach er in der Vergangenheit, mal in der Gegenwart von der geliebten Frau. Sein Verstand versuchte, sich daran zu gewöhnen, dass es sie nicht mehr gab, was ihm jedoch noch nicht vollständig gelang. »Sie sind also öfter miteinander ausgegangen«, drängte Eve mit sanfter Stimme. »Ja. Wir waren darin übereingekommen, uns weiter ab und zu auf einen Drink zu treffen, um uns besser kennen zu lernen. Dann sind wir zusammen essen gegangen und manchmal ins Café. Wir haben uns stundenlang miteinander unterhalten. Bereits nach dem ersten Abend hat keiner von uns beiden noch irgendwelche anderen Verabredungen getroffen. Wir wussten sofort, wir hatten den, beziehungsweise die, Richtige erwischt.« »Und Marianna hat das ebenso gesehen?« »Ja. Trotzdem sind wir die Sache behutsam angegangen, sind ein paar Mal miteinander Essen gewesen oder im Theater. Wir beide lieben das Theater. Dann
haben wir angefangen, die Samstagnachmittage miteinander zu verbringen. Bei einer Matinee, in einem Museum oder mit einem Spaziergang. Außerdem sind wir in ihre Heimatstadt gefahren, damit ich ihre Familie kennen lernen konnte. Am vierten Juli. Und sie hat auch meine Familie kennen gelernt. Meine Mutter hat für uns gekocht.« Sein Blick wurde verhangen, als er auf etwas starrte, was nur er alleine sah. »Und während dieser ganzen Zeit hat sie niemand anderen gesehen?« »Nein. Wir hatten eine feste Beziehung.« »Wissen Sie, ob sie von jemandem belästigt worden ist – einem ehemaligen Freund oder Geliebten oder vielleicht von ihrem Ex-Mann?« »Nein, ich bin sicher, davon hätte sie mir erzählt. Wir haben uns ständig unterhalten und keine Geheimnisse voreinander gehabt.« Sein Blick wurde wieder klar. »Warum wollen Sie das wissen? Wurde sie – wurde Marianna… hat er… O Gott.« Er ballte eine Hand zur Faust. »Er hat sie vorher vergewaltigt, oder? Dieser verdammte Bastard hat sie vergewaltigt. Ich hätte bei ihr sein sollen.« Er warf den Becher durch das Zimmer und sprang erschüttert auf die Beine. »Ich hätte dort sein sollen. Wenn ich bei ihr gewesen wäre, wäre all das nie passiert.« »Wo waren Sie, Jerry?« »Was?«
»Wo waren Sie gestern Abend zwischen einundzwanzig Uhr dreißig und vierundzwanzig Uhr?« »Sie denken, ich – « Er unterbrach sich, hob eine Hand, schloss die Augen, atmete tief durch und schlug die Augen wieder auf. »Schon gut. Um den Täter inden zu können, müssen Sie ausschließen, dass ich selbst es war. In Ordnung. Schließlich tun Sie es für sie.« »Genau.« Eve sah ihm ins Gesicht und empfand schmerzliches Mitgefühl mit diesem unglücklichen Mann. »Wir tun es für sie.« »Ich war zu Hause, in meinem Appartement. Ich habe etwas gearbeitet, ein paar Telefongespräche geführt, ein paar Weihnachtsgeschenke über das Internet bestellt. Außerdem habe ich die Reservierung für den Tisch für heute Abend noch einmal bestätigt. Ich war total nervös. Ich wollte – « Er räusperte sich leise. »Ich wollte, dass es perfekt wird. Dann habe ich meine Mutter angerufen.« Er fuhr sich mit beiden Händen durchs Gesicht. »Ich musste es jemandem erzählen. Sie war völlig aus dem Häuschen, weil sie total begeistert von Marianna war. Ich glaube, das war gegen zehn Uhr dreißig. Sie können die Aufzeichnungen meines Links, meinen Computer, alles überprüfen.« »Okay, Jerry.« »Haben Sie – ihre Familie, weiß sie schon Bescheid?« »Ja, ich habe mit ihren Eltern gesprochen.« »Ich muss sie anrufen. Sie werden sie nach Hause
kommen lassen wollen.« Wieder stiegen ihm Tränen in die Augen, doch während sie lautlos über seine Wangen rannen, erklärte er entschieden: »Ich werde sie nach Hause bringen.« »Ich werde dafür sorgen, dass sie so bald wie möglich freigegeben wird. Können wir jemanden für Sie anrufen?« »Nein. Ich muss es meinen Eltern sagen. Ich muss los.« Er wandte sich zum Gehen und sagte, ohne sich noch einmal umzudrehen: »Sie inden heraus, wer das getan hat. Sie finden heraus, wer sie derart verletzt hat.« »Ich finde es heraus. Jerry, eine letzte Frage noch.« Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und wandte sich ihr erneut zu. »Ja?« »Hatte Marianna eine Tätowierung?« Das kurze, harsche Lachen, das er ausstieß, schien ihm die Kehle aufzureißen. »Marianna? Nein. Sie war eine altmodische Frau, sie hätte noch nicht mal eine ablösbare Tätowierung je gewollt.« »Da sind Sie sich ganz sicher?« »Wir waren ein Paar, Lieutenant. Wir haben uns geliebt. Ich kannte ihren Körper, ihre Gedanken und ihr Herz.« »Okay. Danke.« Sie wartete, bis er gegangen und die Tür mit einem leisen Klick hinter ihm ins Schloss gefallen war. »Und, Peabody, welchen Eindruck hatten Sie?« »Es wirkte, als wäre dem armen Kerl das Herz aus der
Brust gerissen worden.« »Das sehe ich genauso. Aber Menschen bringen oft die Menschen um, die sie am meisten lieben. Selbst wenn die von ihm geführten Telefongespräche aufgezeichnet worden sind, ist sein Alibi eher schwach.« »Er sieht kein bisschen aus wie der Weihnachtsmann.« Eve verzog den Mund zu einem leichten Lächeln. »Ich garantiere Ihnen, dass der Mensch, der sie getötet hat, ebenso wenig danach aussieht. Andernfalls hätte er nicht so bereitwillig für die Kamera posiert. Mit einem Kissen unter dem Kostüm, einer falschen Augenfarbe, Schminke, einem falschen Bart und einer Perücke kann jeder aussehen wie der Weihnachtsmann. « Vorläu ig jedoch musste sie sich auf ihren Instinkt verlassen, und so sagte sie: »Er ist es nicht gewesen. Gucken wir, wo sie gearbeitet und was für Freunde und vor allem Feinde sie gehabt hat.« Freunde, dachte Eve ein paar Stunden später, hatte Marianna beinahe im Über luss gehabt. Feinde hingegen überhaupt nicht. Das Bild, das von ihr gezeichnet worden war, war das einer glücklichen, umgänglichen Frau, die ihre Arbeit liebte, eine enge Bindung an die Familie hatte und trotzdem das Tempo und die Aufregung des Lebens in der Großstadt genossen hatte. Sie hatte eine Reihe enger Freundinnen gehabt, eine Schwäche für ausgedehnte Einkaufsbummel, eine innige
Liebe zum Theater und allen Befragten zufolge eine glückliche Beziehung zu Jeremy Vandoren. Sie schwebte auf Wolke sieben. Jeder, der sie kannte, hat sie unweigerlich geliebt. Sie hatte ein offenes, vertrauensvolles Herz. Auf der Fahrt nach Hause ging Eve die Aussagen von Freunden und Kollegen noch einmal gründlich durch. Niemand hatte etwas an Marianna auszusetzen gehabt. Nicht ein einziges Mal hatte Eve eine der gehässigen und häu ig selbstgefälligen Bemerkungen zu hören bekommen, die so häu ig von Lebenden über Tote fallen gelassen wurden. Trotzdem hatte jemand etwas anderes gedacht, hatte jemand sie mit Berechnung, mit Sorgfalt und, falls das Blitzen seiner Augen etwas zu bedeuten hatte, mit einer gewissen Freude umgebracht. Meine große Liebe. Ja, jemand hatte sie genug geliebt, um sie zu töten. Eve wusste, dass es diese Art der kranken Liebe gab. Ihr selbst hatte einmal ein Mensch dieses alles beherrschende, verdrehte Gefühl entgegengebracht. Doch sie hatte überlebt, erinnerte sie sich und griff nach ihrem Link. »Haben Sie inzwischen den toxikologischen Bericht über Marianna Hawley, Dickie?« Auf dem kleinen Bildschirm tauchte das leidende, etwas füllige Gesicht des Laborchefs auf. »Sie wissen, dass wir in
der Weihnachtszeit in Arbeit regelrecht ersticken. Die Leute bringen einander reihenweise um, und unsere Angestellten interessieren sich statt für ihre Arbeit nur noch für das bevorstehende Fest.« »Ja, mir bricht das Herz. Trotzdem will ich den Bericht.« »Und ich will endlich Urlaub.« Gleichzeitig jedoch rief er eine Datei auf seinem Computer auf. »Sie war betäubt. Mit irgendeinem milden Zeug, wie man es rezeptfrei in jeder Apotheke kriegt. Bei ihrem Gewicht hat die Dosierung höchstens zehn bis fünfzehn Minuten gewirkt.« »Lange genug«, murmelte Eve. »Wahrscheinlich wurde ihr das Zeug in den rechten Oberarm gespritzt. Muss in etwa dieselbe Wirkung gehabt haben wie ein halbes Dutzend Zombies: Benommenheit, Desorientierung, Muskelschwäche, vielleicht eine kurze Bewusstlosigkeit.« »Okay. Irgendwelcher Samen?« »Nein, wir haben keinen einzigen kleinen Soldaten in oder an ihr gefunden. Entweder hat er ein Kondom benutzt oder sie hat ein Verhütungsmittel genommen, das sie abgetötet hat. Das müssen wir noch prüfen. Der gesamte Körper war mit Desinfektionsspray eingesprüht. Selbst in ihrer Vagina haben wir Spuren davon gefunden, wodurch sicher ebenfalls ein paar der kleinen Krieger abgetötet worden sind. Wir haben effektiv nichts gefunden. Oh – eins noch. Die Schminke in ihrem Gesicht passte nicht zu der, die sie in ihrer Wohnung hatte. Wir haben die
Untersuchung noch nicht zur Gänze abgeschlossen, aber das Zeug scheint ausschließlich natürliche Bestandteile zu haben, was heißt, dass es sicher superteuer war. Wahrscheinlich hat ihr Mörder die Sachen mitgebracht.« »Nennen Sie mir so bald wie möglich die Namen der Produkte. Das ist eine gute Spur. Gut gemacht, Dickie.« »Ja, ja. Ich wünsche Ihnen auch frohe Weihnachten.« »Danke gleichfalls, Sturschädel«, murmelte sie, nachdem das Gespräch von ihr beendet worden war, ließ ihre angespannten Schultern kreisen und bog in die Einfahrt ihres Hauses ein. Durch das winterliche Dunkel sah sie die hellen Lichter hinter den in den Zinnen und Türmen runden und in der untersten Etage bodentiefen Fenstern. Zu Hause, dachte sie. Wegen des Mannes, der dieses Anwesen besaß, des Mannes, der sie liebte, des Mannes, der sie zur Frau genommen hatte, war dies ihr Zuhause. Auch Jeremy hatte Marianna ehelichen wollen. Sie drehte mit dem Daumen den Ehering an ihrem Finger und stellte ihren Wagen am Fuß der Eingangstreppe ab. Sie hatte ihm alles bedeutet, hatte Jeremy gesagt. Noch vor einem Jahr hätte Eve die Bedeutung dieses Satzes nicht verstanden. Heute wusste sie genau, was ein Mensch mit dieser Aussage verband. Sie blieb einen Moment sitzen und fuhr sich mit beiden Händen durch das bereits zerzauste, kurze Haar. Die
Trauer des Mannes hatte heißes Mitgefühl in ihr geweckt. Das war eindeutig ein Fehler; es würde ihm nicht helfen und könnte die Ermittlungen behindern. Sie musste ihr Mitgefühl verdrängen, musste das Elend ignorieren, das sie empfunden hatte, als er beinahe in ihren Armen zusammengebrochen war. Liebe siegte nun einmal nicht immer, erinnerte sie sich. Doch wenn sie gut genug war, konnte sie zumindest dafür sorgen, dass die Gerechtigkeit gewann. Sie stieg aus, ließ ihren Wagen absichtlich stehen, stapfte zur Haustür, schälte sich, als sie den Flur betrat, aus ihrer Jacke, warf sie achtlos über den eleganten Pfosten am Fuß der geschwungenen Treppe – und sofort tauchte der knochige, bleichgesichtige Summerset mit missbilligender Miene auf. »Lieutenant.« »Lassen Sie mein Fahrzeug genau dort, wo es steht«, erklärte sie und wandte sich der Treppe zu. Er atmete hörbar durch die Nase ein. »Sie haben mehrere Nachrichten erhalten.« »Die können warten.« In dem Gedanken an eine heiße Dusche, ein Glas Wein und ein zehnminütiges Schläfchen lief sie unbeirrt weiter. Er rief ihr etwas nach, doch sie hörte ihm schon nicht mehr zu. »Lecken Sie mich am Arsch«, murmelte sie, öffnete die Tür des Schlafzimmers und alles, was in ihrem Inneren zu welken angefangen hatte, erblühte. Roarke stand, bis zur Hüfte nackt, vor seinem breiten
Schrank. Seine Rückenmuskel spielten sanft unter der straffen, leicht gebräunten Haut, als er ein frisches Hemd vom Bügel nahm. Er wandte seinen Kopf, und die Schönheit seines Gesichts – die sinnlich geschwungenen Lippen, die leuchtend blauen Augen und das liebevolle Lächeln, als er seine dichte schwarze Mähne mit einem leichten Schwung zurückwarf traf sie wie ein Hieb. »Hallo, Lieutenant.« »Ich dachte, du kämst erst in ein paar Stunden.« Er legte das Hemd achtlos zur Seite. Sie hatte nicht gut geschlafen, dachte er besorgt, als er die dunklen Schatten unter ihren Augen bemerkte. »Ich bin gut durchgekommen.« »So sieht’s aus.« Dann lief sie so schnell auf ihn zu, dass sie das überraschte und erfreute Blitzen seiner Augen gar nicht sah, und schmiegte sich an seine Brust. Sie sog begierig seinen Duft in ihre Lungen ein, strich mit ihren Händen über seinen festen Rücken, vergrub ihr Gesicht in seinem Haar und seufzte selig auf. »Ich habe dir anscheinend tatsächlich gefehlt«, murmelte er leise. »Halt mich nur mal eine Minute fest.« »So lange du willst.« Ihrer beider Leiber passten zueinander wie die Teile eines Puzzles, und sie dachte an Jeremy Vandoren und den ihr von ihm gezeigten, verheißungsvollen Ring.
»Ich liebe dich.« Es war ein Schock für sie, die heißen Tränen in ihrem Hals zu spüren, und sie schluckte sie mühsam wieder herunter, ehe sie erklärte: »Tut mir Leid, dass ich dir das nicht öfter sage.« Er hörte ihre Tränen, legte eine Hand in ihren steifen Nacken und begann ihn zu massieren. »Was ist los, Eve?« »Jetzt nicht.« Sie trat einen Schritt zurück und umfasste sein Gesicht mit beiden Händen. »Ich bin einfach froh, dass du wieder da, dass du wieder zu Hause bist.« Lächelnd presste sie ihre Lippen auf seinen vollen Mund. Das Gefühl von Wärme, Zärtlichkeit und eines nie gänzlich befriedigten Verlangens hüllte sie schützend in sich ein und ließ sie für ein paar Minuten alles andere vergessen. »Wolltest du dich gerade umziehen?«, fragte sie an seinem Mund. »Ja. Hmmm. Mach weiter«, murmelte er leise und nagte an ihrer Unterlippe, bis sie vor Leidenschaft erbebte. »Tja, ich denke, das ist Zeitverschwendung.« Um es zu beweisen, schob sie ihre Hand zwischen ihrer beider Leiber und knöpfte entschlossen seine Hose auf. »Da hast du völlig Recht.« Er öffnete ihr Schulterholster und schob es vorsichtig zur Seite. »Ich liebe es, dich zu entwaffnen.« Mit einer schnellen Bewegung presste sie ihn gegen die geschlossene Schranktür. »Ich werde auch ohne Waffe mit dir fertig, Kumpel.«
»Das bleibt zu beweisen.« Er war bereits hart, als sie ihn umfasste, und in seinen leuchtend blauen Augen lackerte ein dunkles, gefährliches Licht. »Du hast schon wieder keine Handschuhe getragen.« Lächelnd schob sie ihre kalten Finger an seiner Männlichkeit herauf. »Ist das eine Beschwerde?« »Nein, ganz sicher nicht.« Er atmete in kurzen Stößen. Von allen Frauen, die er kannte, war sie die Einzige, die ihm ohne jede Mühe den Atem rauben konnte. Er umfasste ihre Brüste, rieb sanft mit beiden Daumen über ihre Nippel und öffnete erst dann die Knöpfe ihres Hemds. Er wollte sie unter sich liegen haben. »Komm ins Bett.« »Was ist verkehrt mit jetzt und hier?« Sie biss ihn zärtlich in die Schulter. »Nichts.« Er stellte ihr ein Bein, brachte sie aus der Balance und stürzte mit ihr auf den Boden. »Aber ich will dich nehmen und nicht von dir genommen werden.« Als er seinen Mund auf ihren Busen presste und kräftig daran saugte, explodierte ein Meer von Sternen in ihrem Gehirn, und sie wölbte sich ihm instinktiv entgegen. Er kannte sie besser, als sie selbst sich kannte, dachte er wie schon so oft. Sie brauchte lüssige Hitze, um darin zu ertränken, was auch immer sie in Gedanken plagte.
Hitze, die nur er ihr geben konnte, und die er Woge um Woge zu ihrer beider Freude über ihr zusammenschlagen lassen würde, bis sie alles andere vergaß. Sie war allzu dünn. Während der Genesung von der Verletzung ihrer Schulter hatte sie Gewicht verloren und noch nicht zurückerlangt. Doch er wusste, sie wollte in diesem Moment nicht, dass er sanft und zärtlich zu ihr war, und so trieb er sie gnadenlos und unbarmherzig an, bis sie hörbar keuchte und ihr Herz in schnellem Rhythmus gegen seinen Mund und seine Hände schlug. Sie ballte die Fäuste in seinem dichten Haar, wand sich unter der Berührung und reckte ihm den langen Diamant entgegen, der ein Geschenk von ihm gewesen war und nun in der Vertiefung zwischen ihren beiden Brüsten lag. Er glitt mit seiner Zunge über ihre Rippen und ihren straffen, lachen Bauch, nagte sanft an ihrer schmalen Hüfte und zog mit seinen Zähnen geschickt ihre Hose herab, bis er die weichen Locken zwischen ihren festen Oberschenkeln erreicht hatte. Als er seine Zunge über diese Locken tief in sie hineinschob, traf die Erlösung sie wie ein blendend greller Blitz. Das Blut rauschte in ihren Adern, und hell glänzender Schweiß lag wie frühmorgendlicher Tau auf ihrer glühend heißen Haut. Sie lag halb in seinem Schrank und sog den Duft, der sie umgab, begierig in sich auf. Sie merkte, dass er ihren Hintern anhob, ihre Beine spreizte, stöhnte, als er sie endlich nahm, hil los und gleichzeitig überglücklich auf und stieg, als sie nichts mehr
in sich spürte als das verzweifelte Verlangen, sich mit ihm zu paaren, vollends in die Sphären der Verzückung auf. Sie streckte ihre Hände nach ihm aus, keuchte seinen Namen, schlang die Arme um Roarkes Rücken und die Beine fest um seinen muskulösen Leib. Er glitt geschmeidig tief in sie hinein, sie zog sich eng um ihn zusammen und ing ihn so, wie sie von ihm gefangen war. Dann pressten sie ihre Lippen innig aufeinander und sogen, während ihre Hüften gierig kreisten, den köstlichen Geschmack des jeweils anderen begierig in sich auf. Sie sahen einander reglos in die Augen, bewegten sich schnell und hart, atmeten die Luft des jeweils anderen und schlugen mit ihren Leibern begehrlich gegeneinander. Eine Sekunde, bevor sie beide kamen, wurde sein Blick verhangen, und als er seinen Kopf zu ihrer Kehle neigte, vergrub sie ihr Gesicht erneut in seinem Haar und atmete das Aroma dieses wunderbaren Mannes so tief wie möglich ein. »Es ist gut, wieder zu Hause zu sein«, murmelte er danach und sah sie lächelnd an. Sie nahm die geplante Dusche, trank das ersehnte Gläschen Wein und genoss die Dekadenz eines gemeinsamen, mit dem ihr angetrauten Mann im Bett genossenen Mahls. »Und jetzt erzähl, worum es geht.« Nun, da sie gegessen hatte und entspannt war, drückte er ihr das frisch gefüllte
Weinglas in die Hand. Trotzdem kehrten sofort die Schatten in ihren Blick zurück. »Ich will meine Arbeit nicht mit nach Hause bringen.« »Warum nicht?« Lächelnd schenkte er auch sich noch einmal ein. »Ich mache das doch auch.« »Das ist etwas anderes.« »Eve.« Er strich mit einem Finger über das kleine Grübchen in der Mitte ihres Kinns. »Wir beide werden sehr stark von unserer Arbeit de iniert. Du kannst deine Arbeit ebenso wenig im Büro zurücklassen wie ich. Sie ist in dir drin.« Sie lehnte sich gegen das Kissen, schaute durch das Oberlicht in den dunklen Himmel und begann ihm alles zu erzählen. »Es war grausam«, meinte sie am Ende. »Aber das war nicht das Schlimmste. Ich habe schon grausamere Anblicke erlebt. Sie war unschuldig – es war etwas an ihrer Wohnung, an der Art, in der sie ging, in ihrem Gesicht. Ich kann es nicht so richtig erklären, aber sie hat irgendwie völlig unschuldig gewirkt. Ich weiß, dass das nicht der Wirklichkeit entspricht. Unschuld wird des Öfteren zerstört. Ich weiß nicht, wie es ist, unschuldig zu sein. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich selbst je unschuldig gewesen bin. Aber ich weiß, wie es ist, wenn man zerstört wird.« Leise fluchend stellte sie ihr Weinglas auf die Seite.
»Eve.« Er nahm ihre Hand und wartete, bis sie ihm ins Gesicht sah. »Eventuell ist ein Sexualmord nicht unbedingt die beste Art, wieder mit dem aktiven Dienst zu beginnen.« »Vielleicht hätte ich die Sache gar nicht übernommen.« Dieses Eingeständnis beschämte sie so sehr, dass sie hastig zu Boden sah. »Wenn ich gewusst hätte, worum es ging, hätte ich womöglich gar nicht erst auf die Meldung reagiert.« »Du kannst den Fall auch jetzt noch an jemand anderen aus der Abteilung abgeben. Niemand würde dir deshalb nur die geringsten Vorhaltungen machen.« »Ich selber würde es mir nicht verzeihen. Jetzt habe ich sie gesehen. Jetzt weiß ich, wer sie ist.« Eve schloss kurz die Augen. »Jetzt gehört sie mir, und dem kann ich mich nicht entziehen.« Sie strich sich die kurzen Haare aus der Stirn und sprach mit ruhiger Stimme weiter. »Sie hat, als sie die Tür geöffnet hat, so überrascht und glücklich ausgesehen. Wie ein kleines Kind. Himmel, ein Geschenk. Verstehst du, was ich meine?« »Ja.« »Und dann hat dieser Bastard, bevor er zu ihr reingegangen ist, noch lächelnd in die Kamera gesehen und gezwinkert. Und als er wieder rauskam, hat er einen regelrechten Freudentanz in Richtung Fahrstuhl aufgeführt.« Ihre Augen begannen zu blitzen, und sie richtete sich
kerzengerade auf. Dies war nicht nur der Blick der engagierten Polizistin, überlegte Roarke. Eher wirkte sie wie ein Racheengel. »Bei dem Verbrechen ist es nicht um Leidenschaft gegangen, sondern rein ums Vergnügen.« Sie schloss die Augen, rief sich das Bild des Mörders deutlich in Erinnerung und murmelte: »Es hat mich krank gemacht.« Wütend auf sich selbst, griff sie erneut nach ihrem Weinglas und trank einen großen Schluck. »Ich musste es den Eltern sagen. Ich musste ihnen ins Gesicht sehen, als ich mit ihnen sprach. Und Vandoren, auch bei ihm musste ich hil los mit ansehen, wie er verzweifelt versucht hat zu verstehen, dass seine Welt von einem anderen Menschen total aus den Angeln gehoben worden war. Sie war eine nette Frau, eine einfache und nette Frau, die glücklich war mit ihrem Leben und über die bevorstehende Verlobung, aber dann öffnet sie jemandem die Tür, der von seiner äußeren Erscheinung her die personi izierte Unschuld ist. Und deshalb ist sie tot. « Da er sie kannte, nahm er ihre Hand und öffnete sanft die von ihr geballte Faust. »Dass dich die Sache berührt, macht dich nicht zu einer schlechteren Polizistin.« »Je mehr Fälle einen derart berühren, umso unschärfer werden die Konturen, umso rascher erreicht man seine Grenze und den Zeitpunkt, an dem man hundertprozentig weiß, dass man keinen Toten mehr erträgt.« »Ist dir jemals der Gedanke gekommen, eine Auszeit zu nehmen?«
Sie runzelte die Stirn, und er grinste verständnisvoll. »Nein, natürlich nicht. Du wirst dich auch mit der nächsten Leiche auseinander setzen, denn das ist nicht nur dein Beruf, sondern liegt in deiner Natur. « Sie verschränkte ihre Finger mit denen seiner Hand. »Ist sie die Einzige gewesen? Die einzig wahre Liebe? Oder war sie nur eine von zwölf?«
3 Eve drehte die zweite Runde auf dem Parkdeck des Einkaufszentrums und knirschte mit den Zähnen. »Warum sind all diese Leute nicht arbeitsam in irgendwelchen Büros untergebracht? Warum haben sie nichts Vernünftiges zu tun?« »Für einige Menschen ist Einkaufen die Hauptbeschäftigung im Leben«, antwortete Peabody ernst. »Ja, ja.« Eve fuhr an einer Stelle vorbei, an der die Fahrzeuge wie Pokerchips zu sechst übereinander aufgestapelt waren. »Scheiße.« Sie drehte das Lenkrad, zwängte sich zwischen den Autostapeln hindurch und fuhr dabei so dicht an den fremden Stoßstangen vorbei, dass Peabody die Augen zukniff. »Schließlich kann man inzwischen alles bequem von zu Hause aus über das Internet bestellen. Ich werde nie begreifen, weshalb diese Leute lieber mit Tüten behängt durch die Geschäfte latschen.« »Einkaufen per Internet ist halt nicht so aufregend.« Peabody stützte sich mit einer Hand am Armaturenbrett des Wagens ab, als Eve direkt vor dem Eingang von Bloomingdale’s abrupt auf die Bremse trat. »Man kann weder seine Sinne benutzen noch anderen seine Ellenbogen in die Seite rammen. Der Einkauf übers Internet ist dazu im Vergleich ein furchtbar langweiliges Geschäft.«
Schnaubend schaltete Eve das Blaulicht ihres Wagens ein und stieg aus. Sofort wurden ihre Ohren von lauten Klängen attackiert. Weihnachtslieder hallten dröhnend durch die Luft, und sie kam zu dem Ergebnis, dass die Leute in die Läden stürzten und dort irgendetwas kauften, nur um dem Getöse zu entrinnen. Obgleich die Temperatur im Innern des Gebäudes angenehme zweiundzwanzig Grad betrug, wirbelten synthetische Schnee locken unter der meterhohen Kuppel. In einem Schaufenster rackerten sich als Weihnachtsmänner und Elfen kostümierte Droiden in Spielzeugwerkstätten ab, Rentiere tänzelten oder logen über die Dächer, und goldhaarige, pausbäckige Kinder packten leuchtend bunte Päckchen aus. Hinter einem anderen Fenster zog ein gemäß der neuesten Mode in einem schwarzen Einteiler und einem neonfarben karierten Hemd gekleideter Teenie elegante Kreise auf seinen neuen Flyer 6000 Airskates – das heißeste Produkt des Jahres –, und durch Druck auf den Knopf neben der Scheibe wurde seine aufgeregte Stimme, die die diversen Vorzüge des Brettes nannte, seinen Preis und die Stelle, an der man das Gerät in diesem Laden kaufen konnte, aktiviert. »Das Ding würde ich gerne mal ausprobieren«, erklärte Peabody mit wehmütiger Stimme. »Sind Sie nicht etwas zu alt, um sich noch für Spielsachen zu interessieren?« »Die Airskates sind kein bloßes Spielzeug, sie laden zu
wilden Abenteuern ein«, zitierte Peabody empört den Werbeslogan für das Sportgerät. »Tja, bringen wir die Sache hinter uns. Ich habe Orte wie diesen immer schon gehasst.« Die Türen glitten lautlos auf, und eine sanfte Stimme nahm sie mit den Worten Willkommen bei Bloomingdale’s. Sie sind unsere wichtigsten Kunden in Empfang. Im Inneren des Kau hauses war die Musik ein wenig leiser, doch von dem Durcheinander der Stimmen von Hunderten von Menschen, das von den Wänden hallte, wurde man regelrecht betäubt. Bloomingdale’s war ein Konsumpalast, in dem es in zwölf auf Hochglanz polierten Etagen schlicht alles gab, was das Materialistenherz begehrte. Droiden und menschliche Angestellte schwebten durch die Menge, stellten die hier erhältlichen Kleider, Accessoires, Haar- und Körperp legeprodukte zur Schau, und direkt neben dem Eingang fand sich eine elektronische Karte, um den Kunden die Suche nach der von ihnen gewünschten Abteilung zu erleichtern. Für diejenigen, die ohne Junior, Fi i oder Opa einkaufen gehen wollten, bot man direkt im Erdgeschoss quali izierte Kinder-, Haustier- und Seniorenbetreuung an, und gegen eine geringe Gebühr konnte man stunden- oder tageweise einen kleinen Wagen mieten, den man hoch beladen konnte und in dem man dann gemütlich von einer Abteilung in die nächste fuhr.
Eine Droidin mit lammend roten, schlangengleichen Zöpfen trat mit einem kleinen Kristall lakon auf die beiden Frauen zu. »Bleiben Sie mir bloß vom Leib«, fauchte Eve sie an. »Ich würde gern etwas davon probieren.« Einladend legte Peabody den Kopf zurück, und die Verkäuferin spritzte ein wenig von dem Duftstoff auf ihren freigelegten Hals. »Es heißt Nimm mich«, säuselte die Droidin. »Mit diesem Parfüm werden Sie die Männer reihenweise betören.« »Hmm.« Peabody wandte sich an Eve. »Was meinen Sie?« Eve schnupperte und schüttelte den Kopf. »Passt nicht zu Ihnen.« »Könnte aber passen«, murmelte Peabody und zockelte hinter ihr her. »Wir sollten versuchen, uns auf unsere Arbeit zu konzentrieren.« Eve nahm Peabody am Arm, als diese an einem Kosmetiktresen stehen blieb, an dem sich eine Frau vom Hals aufwärts mit glitzernder Goldfarbe bestreichen ließ. »Gehen wir in die Herrenabteilung und versuchen herauszu inden, wer Hawley vorgestern bedient hat. Sie hat mit ihrer Kreditkarte bezahlt, sodass sie ihre Adresse haben müssten.« »Ich könnte in zwölf Minuten meine restlichen Weihnachtseinkäufe erledigen.«
»Die restlichen?« Nach Betreten des Gleitbandes, das sie nach oben tragen würde, drehte sich Eve zu ihrer Assistentin um. »Sicher, mir fehlen nur noch ein paar Kleinigkeiten.« Peabody presste die Lippen aufeinander und biss sich, um nicht zu grinsen, schmerzlich in die Backe. »Sie haben noch gar nicht angefangen, oder?« »Zumindest habe ich mir schon ein paar Gedanken gemacht. « »Was schenken Sie Roarke?« »Auch darüber habe ich mir bereits Gedanken gemacht«, wiederholte Eve und rammte die Hände in die Taschen ihrer Hose. »Hier haben Sie wirklich tolle Klamotten.« Peabody nickte beziehungsvoll in Richtung der Schaufensterpuppen, als das Gleitband nach links zur Herrenabteilung bog. »Er hat bereits einen Schrank in der Größe von Maine voll mit tollen Klamotten.« »Aber haben Sie ihm jemals ein Kleidungsstück gekauft?« Eve zuckte verlegen mit den Schultern, straffte jedoch gleichzeitig den Rücken und erklärte mit würdevoller Stimme: »Ich bin nicht seine Mutter.« Peabody schaute zu einem Droiden in einer schwarzen Lederhose und einem Hemd aus taubenblauer Seide. »Das würde ihm sicher stehen.« Sie be ingerte den Ärmel.
»Wobei Roarke natürlich alles steht. « Sie wackelte mit ihren Brauen. »Die Männer lieben es, wenn Frauen Kleidung für sie kaufen.« »Ich weiß nicht, wie man Klamotten für andere Leute kauft. Ich kann kaum Sachen für mich selber kaufen.« Als sie merkte, dass sie versuchte, sich Roarke in diesen Kleidungsstücken vorzustellen, atmete sie zischend aus. »Außerdem sind wir nicht zum Einkaufen hier.« Stirnrunzelnd marschierte sie auf die erste Kasse zu und hielt dem Angestellten ihren Dienstausweis unter die Nase. Er räusperte sich leise und warf seine langen schwarzen Haare lässig über die Schulter. »Was kann ich für Sie tun, Officer?« »Lieutenant. Sie hatten vor zwei Tagen eine Kundin namens Marianna Hawley. Ich will wissen, wer sie bedient hat.« »Das kann ich überprüfen.« Seine modisch goldfarbenen Augen sahen unruhig erst nach rechts und dann nach links. »Lieutenant, ob Sie wohl den Dienstausweis wieder einstecken und, äh, die Jacke über ihre Waffe ziehen könnten? Ich glaube, dann wäre unseren Kunden etwas wohler.« Wortlos steckte Eve den Dienstausweis zurück in ihre Tasche und zupfte ihre Jacke über das Holster. »Hawley«, sagte er erleichtert. »Wissen Sie zufällig, ob Sie bar bezahlt hat, mit Kreditkarte oder ob Sie ein
Kundenkonto hat?« »Mit Kreditkarte. Sie hat zwei Männerhemden gekauft – eins aus Baumwolle und eins aus Seide –, einen Kaschmirpullover und eine Jacke.« »Ja.« Er hielt in der Überprüfung des Kassenregisters inne. »Ich kann mich daran erinnern. Ich habe sie selbst bedient. Eine attraktive Frau von zirka dreißig mit dichtem braunem Haar. Sie hat Geschenke für ihren Partner ausgesucht. Ah… « Er schloss die Augen. »Hemden in Größe neununddreißig, mit achtundsiebzig Zentimeter langen Ärmeln. Der Pullover und die Jacke Größe zweiundvierzig.« »Sie haben ein gutes Gedächtnis«, kommentierte Eve. »Das gehört zu meinem Job«, antwortete er, schlug die Augen wieder auf und musterte sie lächelnd. »Ich muss mich an die Kunden, ihre Geschmäcker und ihre Bedürfnisse erinnern. Ms. Hawley hatte einen hervorragenden Geschmack und die Weitsicht, ein Hologramm des jungen Mannes mitzubringen, damit wir eine Farbkarte für ihn erstellen konnten.« »Hat sie außer mit Ihnen noch mit jemand anderem zu tun gehabt?« »Nicht in dieser Abteilung. Ich habe ihr meine ganze Zeit und Aufmerksamkeit gewidmet. « »Haben Sie ihre Adresse?« »Ja, natürlich. Wenn ich mich recht entsinne, habe ich ihr angeboten, ihr die Waren zuzuschicken, aber sie
meinte, sie nähme sie lieber gleich mit. Sie hat gelacht und gesagt, so mache es mehr Spaß. Sie hatte großes Vergnügen an dem Einkauf.« Plötzlich bedachte er Eve mit einem argwöhnischen Blick. »Hatte sie womöglich trotzdem irgendeine Beschwerde?« »Nein.« Eve ixierte ihn und wusste, sie verschwendete mit diesem Menschen ihre Zeit. »Sie hat sich nicht beschwert. Ist Ihnen irgendjemand aufgefallen, der sich während ihres Einkaufs in der Nähe herumgetrieben, sie beobachtet oder vielleicht sogar angesprochen hat?« »Nein. Allerdings waren wir ziemlich beschäftigt, und so habe ich nicht darauf geachtet. Oh, ich hoffe, dass Sie nicht auf dem Parkdeck belästigt worden ist. In den letzten Wochen hatten wir mehrere solcher Zwischenfälle. Ich weiß nicht, was mit den Leuten los ist. Schließlich ist bald Weihnachten, da sollte man doch meinen, dass die Menschen nett zueinander sind.« »Ömm, mh. Verkaufen Sie auch Weihnachtsmannkostüme?« »Weihnachtsmannkostüme?« Er blinzelte verwundert. »Ja, wahrscheinlich in der Weihnachtsabteilung im sechsten Stock.« »Danke. Peabody, gehen Sie das überprüfen«, befahl Eve, als sie sich zum Gehen wandte. »Lassen Sie sich die Namen und Adressen aller geben, die im letzten Monat ein solches Kostüm gekauft oder gemietet haben. Ich gehe runter in die Schmuckabteilung, um zu gucken, ob dort jemand die Haarspange erkennt. Wir treffen uns dann
dort.« »Sehr wohl, Madam.« Da sie ihre Assistentin kannte, hielt sie sie kurz am Arm zurück und erklärte warnend: »Fünfzehn Minuten. Falls Sie auch nur eine Sekunde länger brauchen, lasse ich Sie in den Streifendienst versetzen.« Peabody zuckte mit den Schultern und sagte, nachdem Eve gegangen war, zu dem Verkäufer: »Manchmal ist sie wirklich ziemlich streng.« Dadurch, dass sie gezwungen war, sich mit den Ellenbogen einen Weg bis an den Schmucktresen im dritten Stock zu bahnen, wurde Eves Laune nicht unbedingt besser. Hinter dem Glas erstreckte sich ein Meer aus Gold, Silber und bunten Steinen, die in diversen Formen und verschiedenen Verbindungen um die Gunst der Betrachter. Roarke kaufte ihr ständig irgendwelche Ohrgehänge oder Ketten. Was sie nicht recht verstand. Geistesabwesend tastete sie nach dem Diamanten unter ihrem Hemd. Nun, ihm schien es zu gefallen, wenn sie die von ihm gewählten Stücke trug. Da sie allmählich die Geduld verlor und man sie hartnäckig ignorierte, beugte sie sich kurzerhand über den Tresen und packte einen der Verkäufer unsanft am Kragen. »Madam.« Der Angestellte runzelte empört die Stirn. »Lieutenant«, verbesserte Eve und zog mit ihrer freien
Hand den Dienstausweis hervor. »Haben Sie eventuell jetzt eine Minute für mich Zeit?« »Selbstverständlich.« Er trat einen Schritt zurück und rückte seine schmale Silberkrawatte in die rechte Position. »Was kann ich für Sie tun?« »Verkaufen Sie derartige Stücke?« Sie öffnete ihre Tasche und zog die versiegelte Haarspange hervor. »Ich glaube nicht, dass sie von uns ist.« Er beugte sich dicht über die Spange – »Eine sehr hübsche Arbeit. Festlich.« – und richtete sich wieder auf. »Allerdings können wir sie nur zurücknehmen, wenn Sie die Quittung dafür haben. Meiner Meinung nach jedoch gehört eine solche Spange nicht zu unserem Sortiment.« »Ich will sie nicht zurückgeben. Haben Sie eine Ahnung, woher sie stammen könnte?« »Ich würde sagen, aus irgendeinem Juweliergeschäft. Scheint echte Handarbeit zu sein. Hier in der Passage haben wir sechs Juweliere. Vielleicht erkennt einer von ihnen ja die Spange.« »Super.« Schnaubend warf sie das Stück zurück in ihre Tasche. »Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?« Eves Blick iel auf eine dreireihige Kette mit grell bunten, daumengroßen Steinen. Sie war hochmodern, beinahe kitschig und wie geschaffen für ihre Freundin Mavis.
»Die da«, sagte sie und zeigte auf die Kette. »Aha, Sie würden sich gern den heidnischen Halsschmuck etwas genauer ansehen. Ein einzigartiges Stück, ein – « »Ich will ihn nicht ansehen. Packen Sie ihn einfach ein, und zwar so schnell es geht.« »Verstehe.« Dank der jahrelangen Erfahrung im Umgang mit diversen Kunden konnte er seine Überraschung verbergen. »Und wie möchten Sie bezahlen?« Gerade, als Eve die festliche rot-silberne Tüte in Empfang nahm, tauchte Peabody neben ihr auf und erklärte mit vorwurfsvoller Stimme: »Sie haben geshoppt.« »Nein, ich habe etwas gekauft. Das ist nicht das Gleiche. Die Spange war nicht von hier. Der Typ scheint seine Waren ziemlich gut zu kennen, und er war sich sicher, dass ein solches Stück noch nie hier angeboten worden ist. Also vergeuden wir hier drinnen unsere Zeit.« »Sie zumindest scheinen Ihre Zeit nicht vergeudet zu haben«, murmelte Peabody erbost. »Am besten, wir geben die Spange in den Computer ein. Vielleicht hat ja Feeney Zeit, um die Herkunft des Stückes zu erforschen.« »Was haben Sie gekauft?« »Nur eine Kleinigkeit für Mavis.« Auf dem Weg nach draußen bemerkte sie Peabodys beleidigtes Gesicht.
»Keine Sorge, Peabody. Für Sie inde ich garantiert auch was.« Sofort hellte sich die Miene ihrer Assistentin auf. »Wirklich? Ich habe Ihr Geschenk bereits gekauft. Es ist sogar schon hübsch verpackt und so.« »Angeberin.« Peabody schwang sich fröhlich in den Wagen. »Wollen Sie raten, was es ist?« »Nein.« »Ich gebe Ihnen einen Tipp.« »Reißen Sie sich zusammen. Fangen Sie an, die Namen zu überprüfen, die Sie bekommen haben, und gucken Sie, ob eventuell jemand Bekanntes ein Weihnachtsmannkostüm gekauft oder gemietet hat. « »Sehr wohl, Madam. Wo fahren wir hin?« »Zu Personally Yours.« Eve sah ihre Assistentin von der Seite an. »Und dort fangen Sie ebenfalls nicht an zu shoppen.« »Mit Verlaub, Madam, Sie sind eine Spielverderberin«, beschwerte Peabody sich, gab jedoch, ohne eine Reaktion abzuwarten, p lichtbewusst die Namen in ihren Taschencomputer ein. Der Vergnügungstempel aus blank poliertem schwarzem Marmor lag im Herzen der City, direkt an der Fifth Avenue. Vergoldete Balkone rahmten die oberen Etagen des schlanken Gebäudes, silbrige Gleitbänder liefen
um die Fassade, und durchsichtige Glasfahrstühle glitten lautlos an den vier Ecken des Rechtecks herunter und hinauf. Das Haus beherbergte Salons für Körperformung, Stimmungsau hellung und sinnliche Orientierung. Es war den Kundinnen und Kunden also möglich, sich verschönern, aufmuntern und sexuell befriedigen zu lassen, alles unter einem Dach. Die Fitness-Studios waren mit den allerneuesten Gerätschaften bestückt, und die Menschen, die sich lieber passiv ertüchtigen und verschönern lassen wollten, wurden von Laserschwenkenden lizensierten Schönheitsberatern oder in Solarien bedient. Eine Etage war der holistischen Lebenssicht verschrieben, und als Eve die Angebote vom ChakraAusgleich bis hin zu Kaffee-Einlaufen über log, stiegen gleichzeitig ein leises Lachen und ein kalter Schauder in ihr auf. Schlammbäder, Algenpackungen, Injektionen auf der Basis der Plazenta von auf Alfa sechs gezüchteten Schafen, Stille-Sitzungen, Virtual-Reality-Reisen, Augenkorrekturen, Face-Lifting, Oberschenkelstraffung oder Körperformwandlungen – all dies bot man den Besuchern, teils in Paketen, an. Derart perfektioniert wurde man anschließend geladen, die Chance zu ergreifen, mit Hilfe der Pro is von Personally Yours den passenden Partner oder die passende Partnerin für das neue Ich zu finden.
Die Angestellten des Unternehmens, das sich über drei Stockwerke erstreckte, trugen schlichte schwarze Gewänder mit aufgestickten, kleinen roten Herzen. Da der Weg der Schönheit direkt vor ihrer Tür lag, waren attraktive Körper und Gesichter integraler Bestandteil ihrer Uniform. Weiße, weinumrankte Säulen schirmten die verschiedenen Bereiche des im Stil eines griechischen Tempels gehaltenen Empfangsraumes gegeneinander ab. Glitzernde Gold ische plätscherten in kleinen Teichen, der ge lieste Boden war mit zahlreichen mit weichen Kissen ausgelegten Sitzmöbeln bestückt, und der Empfangstisch war diskret in einem schmalen Palmengarten versteckt. »Ich brauche Informationen über eine Ihrer Kundinnen.« Eve zückte ihren Dienstausweis und hielt ihn der nervösen Empfangsdame unter die Nase. »Es ist uns nicht gestattet, Informationen über unsere Kunden weiterzugeben.« Die junge Frau biss sich auf die Unterlippe und strich mit den Fingern über die winzige herzförmige Tätowierung, die wie eine hübsche rote Träne unter ihrem linken Auge saß. »Sämtliche Daten sind streng vertraulich. Der Schutz der Privatsphäre unserer Klienten wird von uns garantiert.« »Die Privatsphäre einer Ihrer Kundinnen ist inzwischen Sache der Polizei. Ich kann entweder innerhalb von fünf Minuten einen Durchsuchungsbefehl erwirken oder Sie geben mir, was ich brauche, und vermeiden dadurch, dass wir uns alle Akten ansehen.«
»Wenn Sie sich bitte eine Sekunde gedulden würden«, die Empfangsdame wies in Richtung zweier Sessel, »dann sage ich rasch der Geschäftsführung Bescheid.« »In Ordnung.« Eve wandte sich ab, und die junge Frau setzte hastig ein schlankes Headset auf. »Hier drinnen riecht es einfach phantastisch.« Peabody atmete tief ein. »Das ganze Gebäude riecht phänomenal. Wahrscheinlich pumpen sie den Duft durch die Klimaanlage oder so. Dezent und gleichzeitig beruhigend.« Sie warf sich auf eins der goldenen Kissen neben einem Brunnen. »In einem solchen Haus möchte ich leben.« »Sie sind in letzter Zeit entsetzlich schwatzhaft, Peabody. « »Das liegt daran, dass Weihnachten vor der Tür steht. Wow, gucken Sie sich mal den Typen an.« Sie drehte den Kopf, und ihre Augen leuchteten beim Anblick des langhaarigen blonden Mannes, der an ihnen vorbeistolzierte, auf. »Also wirklich, was hat ein Kerl mit einem solchen Aussehen bei einer Partnervermittlung verloren?« »Ich verstehe nicht, wie irgendjemand sich an eine Partnervermittlung wenden kann. Es ist irgendwie unheimlich.« »Ich weiß nicht. Vielleicht spart man dadurch Zeit, Ärger und jede Menge Tränen.« Peabody beugte sich vor und schielte an Eve vorbei dem Schönling hinterher. »Vielleicht sollte ich es mal versuchen. Könnte ja sein, ich habe Glück.«
»Er ist ganz sicher nicht Ihr Typ.« Peabodys Miene verdüsterte sich so wie in dem Moment im Kau haus, als das Parfüm von ihrer Vorgesetzten als unpassend für sie bezeichnet worden war. »Ach nein? Zumindest gucke ich mir diesen Typen gerne an.« »Sicher, aber versuchen Sie mal ein Gespräch mit ihm zu führen.« Eve vergrub die Hände in den Taschen und wippte auf den Fersen. »Der Kerl ist total selbstverliebt und bildet sich eindeutig ein, dass jede Frau – genau wie Sie momentan – völlig hingerissen von ihm ist. Sie wären nach zehn Minuten zu Tode von ihm gelangweilt, denn alles, worüber er reden würde, wären sein Aussehen, sein Beruf und seine Hobbys. Sie gälten als nichts Weiteres als sein neuestes Accessoire.« Peabody musterte nachdenklich den goldhaarigen Adonis, der neben dem Empfangstisch in Positur gegangen war. »Okay, dann sparen wir uns das Gespräch und belassen es beim Sex.« »Sicher ist er auch als Liebhaber ein Flop, weil es ihm total egal ist, ob Sie kommen oder nicht.« »Ich komme bereits bei seinem bloßen Anblick.« Trotzdem entfuhr ihr ein enttäuschter Seufzer, als er einen kleinen versilberten Spiegel aus der Hosentasche nahm und sein Gesicht einer zufriedenen Musterung unterzog. »Vor allem bei Themen wie diesem hasse ich es, wenn Sie Recht haben.«
»Sehen Sie sich das mal an«, lüsterte Eve nun. »Die beiden sind derart auf Hochglanz poliert, dass man, um nicht geblendet zu werden, eine Sonnenbrille braucht.« »Genau wie Ken und Barbie.« Auf Eves verwirrten Gesichtsausdruck hin seufzte Peabody erneut. »Mann, Sie hatten noch nicht mal eine Barbiepuppe. Was waren Sie bloß für ein Kind?« »Ich bin nie Kind gewesen«, antwortete Eve und starrte weiter auf das Paar, das lautlos auf sie zugeglitten kam. Die schmalen Hüften und die volle Brust der Frau entsprachen ganz dem diesjährigen Schönheitsideal. Ihr silberblondes Haar ergoss sich wie ein Wasserfall über ihre schmalen Schultern, ihr Gesicht war glatt und weiß wie Alabaster, ihre langen, dichten Wimpern waren passend zu ihren blitzend smaragdgrünen Augen samtig grün getönt, und ihre zu einem hö lichen Lächeln verzogenen Lippen waren leuchtend rot und voll. Ihr Begleiter war eine nicht minder strahlende Erscheinung. Er hatte mit einem dünnen Goldfaden zu einem langen Zopf ge lochtenes, ebenfalls silbrig blondes Haar, breite muskulöse Schultern und lange, durchtrainierte Beine. Anders als die anderen Angestellten trugen die beiden weiße Catsuits, und um die Hüfte der Frau lag ein durchsichtiger, leuchtend roter Schal. Als sie sprach, war ihre Stimme so weich und seidig wie das Tuch. »Ich bin Piper, und das hier ist mein Partner Rudy. Was können wir für Sie tun?«
»Ich brauche Informationen über eine Ihrer Kundinnen.« Wieder kramte Eve ihren Ausweis aus der Tasche. »Ich ermittle in einem Mordfall.« »Einem Mordfall.« Die Frau griff sich ans Herz. »Wie schrecklich. Eine unserer Kundinnen? Rudy?« »Selbstverständlich werden wir auf jede uns mögliche Art kooperieren«, erklärte er in einem cremig weichen Bariton. »Allerdings sollten wir vielleicht oben, wo wir ungestört sind, über diese Sache reden.« Er deutete zu einem, von riesigen, weißen Azaleen gesäumten, gläsernen Fahrstuhl. »Sind Sie sicher, dass das Opfer eine Klientin von uns war?« »Sie hat Ihren Partner über Ihre Agentur kennen gelernt.« Eve stellte sich in die Mitte des Lifts und starrte, während sie nach oben schossen, reglos geradeaus. Sie hatte von jeher ein leichtes Problem mit Höhen von mehr als drei Metern. »Verstehe.« Piper seufzte. »Wir haben sehr gute Erfolge als Vermittlungsagentur. Ich hoffe, es war kein Streit zwischen Liebenden, der in einer Tragödie geendet hat.« »Das können wir noch nicht sagen.« »Ich kann mir nicht vorstellen, dass es das gewesen ist. Alle Kandidatinnen und Kandidaten werden von uns eingehend geprüft.« Als der Lift zum Stehen kam, machte Rudy eine höfliche Geste zu der sich öffnenden Tür.
»Wie das?« »Wir sind an ComTrack angeschlossen.« Er geleitete sie einen ruhigen, weißen Korridor hinunter. An den Wänden hingen weiche, verträumte Aquarelle in schmalen, goldenen Rahmen, und Sträuße frischer Blumen in durchsichtigen Vasen erfüllten die Luft mit einem süßen Duft. »Jeder Bewerber und jede Bewerberin wird mit Hilfe dieses Systems auf seine früheren Beziehungen, seine Kreditwürdigkeit und natürlich auch auf eine mögliche kriminelle Vergangenheit hin überprüft. Besteht bei einem Menschen ein Hang zur Gewalt, lehnen wir ihn ab. Sexuelle Vorlieben und Wünsche werden aufgenommen, gründlich analysiert und mit den Vorlieben und Wünschen anderer Klienten abgestimmt.« Er öffnete die Tür zu einem riesigen, in blendend hellem Weiß und grellem Rot gehaltenen Büro. Die lange Fensterfront wies einen Filter gegen den Lärm des Flugverkehrs und gegen das Licht der Sonne auf. »Wie hoch ist der Prozentsatz von Bewerbern mit abartigen Neigungen?« Piper presste ihre Lippen aufeinander. »Solange der Partner oder die Partner nichts gegen eine bestimmte Praxis haben, betrachten wir die diversen sexuellen Vorlieben der Menschen als normal.« Eve zog die Brauen in die Höhe. »Warum bleiben wir nicht bei meiner De inition? Ich meine Dinge wie Fesseln, Sado-Maso oder den Partner nach dem Sex zu schminken?«
Rudy räusperte sich leise, trat hinter eine breite weiße Konsole und drückte einen Knopf. »Natürlich gibt es Kandidaten, die auf der Suche nach abenteuerlichen sexuellen Erfahrungen sind. Doch wie gesagt, wir bringen ausschließlich Menschen zusammen, deren Wünsche auf diesem Gebiet sehr ähnlich sind.« »Wen haben Sie mit Marianna Hawley zusammengebracht?« »Marianna Hawley?« Rudy wandte sich an Piper. »Ich kann mich besser an Gesichter als an Namen erinnern.« Sie betrachtete den Bildschirm, während Rudy den Namen in den Computer eingab, und wenige Sekunden später sahen sie alle in Mariannas lächelndes Gesicht. »O ja, jetzt kann ich mich erinnern. Sie war sehr charmant. Ja, die Arbeit mit ihr hat wirklich Spaß gemacht. Sie war auf der Suche nach einem soliden Begleiter, jemand Unterhaltsamem, mit dem sie ins Museum – nein, nein, ich glaube, ins Theater – gehen kann.« Sie klopfte mit einem perfekt geformten Nagel gegen ihre Unterlippe. »Sie war eine romantische, auf süße Weise altmodische Person.« Plötzlich schien sie zu begreifen, und ihre Hand sank schlaff zur Seite. »Sie wurde ermordet? Oh, Rudy.« »Setz dich, meine Liebe.« Eilig kam er um die Konsole, tätschelte ihr die Hand und führte sie zu einem langen Sofa mit bequemen, luftgefüllten Kissen. »Piper hat stets eine sehr persönliche Beziehung zu unseren Klienten«, erklärte
er Eve. »Das ist der Grund, weshalb sie ihre Arbeit so phantastisch macht. Sie hat echtes Interesse an den Menschen.« »Das habe ich auch.« Obwohl Eves Stimme total emotionslos klang, nickte Rudy, während er sie musterte, zustimmend. »Ja, ich bin mir sicher, dass Sie das haben. Sie vermuten, dass sie von jemandem ermordet worden ist, der sich unserer Agentur bedient, den sie vielleicht über uns kennen gelernt hat.« »Ich stehe noch am Anfang meiner Ermittlungen. Und ich brauche Namen.« »Gib ihr alles, was sie braucht, Rudy.« Piper klopfte mit den Fingerspitzen die Tränen unter ihren Augen fort. »Das würde ich gern tun, aber wir haben unseren Klienten gegenüber eine gewisse Verantwortung, und der Schutz ihrer Privatsphäre ist ihnen ausdrücklich garantiert.« »Marianna Hawley hatte darauf ebenfalls ein Anrecht«, erklärte Eve ihm barsch. »Trotzdem wurde sie grausam vergewaltigt und anschließend erwürgt. Der Täter war eindeutig nicht auf den Schutz ihrer Privatsphäre bedacht, und ich bin mir sicher, dass ihre anderen Kundinnen nicht gerade versessen darauf sind, die gleiche Erfahrung zu machen wie diese arme Frau.« Rudy atmete tief durch. Wenn möglich, war er tatsächlich noch bleicher als zuvor, und seine grünen Augen hoben sich wie zwei brennende Punkte von der
leuchtend weißen Fläche ab. »Ich vertraue auf Ihre Diskretion.« »Sie können darauf vertrauen, dass ich meine Arbeit gut und gründlich mache«, antwortete Eve und wartete ungeduldig darauf, dass er die Liste der Marianna Hawley vermittelten Partner endlich abrief.
4 Sarabeth Greenbalm hatte keinen guten Tag. Sie hasste es, die Nachmittagsschicht im Sweet Spot zu haben. Die kleinen Angestellten, aus denen die Kundschaft zwischen zwölf und fünf Uhr hauptsächlich bestand, suchten während ihrer ausgedehnten Mittagspause halt ein billiges Vergnügen. Wobei die Betonung auf dem Wort billig lag. Die aufstrebenden jungen Männer, die erst am Anfang ihrer Karriere standen, hatten nicht genügend Geld, um eine kleine Stripperin mit einem großen Trinkgeld zu beglücken. Sie begnügten sich damit, zu glotzen und zu grölen. Fünf Stunden harter Arbeit brachten ihr netto weniger als hundert Dollar und ein halbes Dutzend zweideutiger Angebote Betrunkener ein. Um Heirat ging es dabei nie. Dabei war es ihr größtes Ziel, geheiratet zu werden. In der Nachmittagsschicht in einem Strip-Club fände sie niemals einen reichen Mann. Nicht mal in einem hochklassigen Club wie dem Sweet Spot. In den Abendstunden, wenn die Vizepräsidenten und Vorstandsvorsitzenden großer Firmen zusammen mit wichtigen Kunden hereingeschlendert kamen, standen ihre Chancen besser. Dann trug ihr eine Schicht locker einen, und wenn sie sich begrapschen ließ, vielleicht sogar zwei Riesen und vor allem jede Menge teurer Visitenkarten ein.
Früher oder später würde einer dieser Anzugträger mit dem breiten, blendend weißen Lächeln und den sorgfältig gep legten, gierig zupackenden Händen einen Ring an ihren Finger stecken, um das Privileg genießen zu dürfen, ihr einziger Gespiele zu sein. Dies alles war Teil des Plans, mit dem sie vor fünf Jahren aus Allentown in Pennsylvania nach New York gekommen war. In ihrer alten Heimat hatte sie mit ihrer Arbeit gerade genug Geld verdient, um nicht auf der Straße nächtigen zu müssen. Trotzdem war der Umzug nach New York ein Risiko gewesen. Hier gab es viel mehr Konkurrenz. Und die Konkurrenz war jünger. Im ersten Jahr nach ihrem Umzug hatte sie täglich zwei, und wenn sie sich noch hatte auf den Beinen halten können, drei Schichten gemacht. Sie war durch die diversen Clubs getingelt und hatte die obligatorischen vierzig Prozent ihrer Entlohnung an die Manager bezahlt. Es war ein hartes Jahr gewesen, doch sie hatte in der Zeit sogar etwas gespart. Im zweiten Jahr hatte sie sich darum bemüht, eine Festanstellung in einem der besseren Nachtclubs zu bekommen. Es hatte fast zwölf Monate gedauert, schließlich jedoch hatte sie im Sweet Spot Fuß gefasst und das dritte Jahr darauf verwendet, sich von unten weit genug hinaufzukämpfen, bis sie schließlich der Star ihrer jeweiligen Schicht gewesen war. Außerdem hatte sie, wie sie sich eingestehen musste, sechs Monate damit
vergeudet, das Angebot eines der Rausschmeißer, mit ihm zusammenzuziehen, zu überdenken. Möglicherweise hätte sie es sogar getan, hätte er sich nicht in einer Schlägerei in einer Beize, in der er einen Zweitjob angenommen hatte, weil Sarabeth auf einem größeren Bankkonto bestanden hatte, auseinander nehmen lassen. Sie war zu dem Schluss gekommen, dass sie noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen war. Jetzt, am Ende ihres vierten Jahres, war sie dreiundvierzig Jahre alt und hatte nicht mehr allzu viel Zeit. Sie hatte nichts dagegen, nackt zu tanzen. Verdammt, sie konnte schließlich tanzen, und ihr Körper – sie drehte sich zufrieden vor dem Schlafzimmerspiegel hin und her – sicherte ihr ihren Lebensunterhalt. Sie hatte von Natur aus hohe, volle Brüste, die sie bisher noch nicht hatte straffen lassen müssen, einen langen Torso, lange Beine, einen festen Hintern. Ja, sie verfügte über alle erforderlichen Waffen. Allein in ihr Gesicht hatte sie etwas investiert. Sie war mit schmalen Lippen, einem gedrungenen Kinn und allzu wulstigen Brauen auf die Welt gekommen, ein paar Besuche im Schönheitssalon jedoch hatten ihr einen vollen Mund beschert, ein kess nach vorn gerecktes Kinn und eine hohe, klare Stirn. Sarabeth Greenbalm sah, wie sie zufrieden feststellte, wirklich klasse aus.
Das Problem bestand darin, dass sie nur noch fün hundert Dollar hatte, die Miete zahlen musste und ein übereifriger Gaffer am Mittag ihren besten String-Tanga zerrissen hatte, ehe das gute, teure Stück von ihr abgelegt worden war. Sie hatte Kopfweh, ihre Füße schmerzten, und sie war nach wie vor allein. Die dreitausend Dollar für Personally Yours hätte sie besser gespart. Rückblickend betrachtet hatte sie den Eindruck, einen höheren Vergnügungsfaktor gehabt zu haben, wenn sie das Geld die Toilette hinuntergespült hätte. Nur Loser bedienten sich einer Partnervermittlung, grübelte sie, während sie sich in einen kurzen, purpurroten Morgenmantel hüllte. Und Loser zogen regelmäßig nur andere Loser an. Nach den Treffen mit den ersten beiden für sie ausgewählten Männern war sie unverzüglich in die Fifth Avenue gefahren und hatte ihr Geld zurückverlangt. Die blonde Eiskönigin war deutlich weniger freundlich gewesen als bei ihrem ersten Besuch des Etablissements und hatte ihr erklärt, die Kohle wäre weg, da eine Rückerstattung, ganz egal aus welchen Gründen, vertraglich ausgeschlossen war. Sarabeth zuckte mit den Schultern und ging aus dem Schlafzimmer hinüber in die Küche – in einer Wohnung in der Größe des Umkleideraums an ihrer Arbeitsstätte kein allzu langer Weg. Die Kohle schriebe sie also klugerweise ab. Das war
Lehrgeld für die schmerzliche Erkenntnis, dass sie sich am besten weiter auf sich selbst verließ, ausschließlich auf sich selbst. Das Klopfen an der Wohnungstür unterbrach die Durchsicht ihres spärlich bestückten AutoChefs, geistesabwesend zog sie ihren Morgenmantel zu und schlug mit der Faust gegen die Wand. Beinahe jeden Abend unterhielt das Pärchen aus der Nachbarwohnung sie erst durch lauten Streit und dann durch nicht minder laute Vögelei. Auch wenn der Lärmpegel sich durch ihr Klopfen sicherlich nicht senkte, fühlte sie sich besser, als die Störung schweigend hinzunehmen. Argwöhnisch blickte sie mit einem ihrer braunen Augen durch den winzigen Spion, begann breit zu grinsen, öffnete das Schloss und öffnete die Tür einladend. »Hallo, Weihnachtsmann.« Er sah sie mit fröhlich blitzenden Augen an. »Frohe Weihnachten, Sarabeth. Bist du auch schön brav gewesen?« Er schüttelte die große silberne Schachtel, die er in der Hand hielt, und zwinkerte ihr zu. Captain Ryan Feeney hockte auf der Kante von Eves Schreibtisch und kaute genüsslich auf einer gebrannten Mandel. Er hatte das verlebte, leicht traurige Gesicht von einem Bassett und schütteres, von dünnen, stahlgrauen Strähnen durchwirktes, rötlich braunes Haar. Auf seinem zerknitterten Hemd fand sich – in Erinnerung an die von ihm am Mittag eingenommene Bohnensuppe – ein ebenfalls rötlich-brauner Fleck, und mitten auf seinem
Kinn prangte dort, wo er sich am Morgen beim Rasieren geschnitten hatte, ein kleiner roter Kratzer. Er wirkte völlig harmlos. Eve jedoch hätte und hatte ihm bereits wiederholte Male ihr Leben anvertraut. Er hatte sie ausgebildet und trainiert. Nun, als Leiter der Abteilung für elektronische Ermittlungen, ließ er ihr bei ihrer Arbeit unschätzbare Hilfe angedeihen. »Ich wünschte, ich könnte dir erzählen, dass die Spange ein Einzelstück gewesen ist.« Er schob sich die nächste Mandel in den Mund. »Aber zumindest gibt es höchstens nur ein Dutzend Geschäfte in New York, in denen sie verkauft wird oder worden ist.« »Und wie viele Spangen müssen wir zurückverfolgen?« »In den letzten sieben Wochen wurden neunundvierzig von den Dingern verkauft.« Er kratzte sich am Kinn. »Die Spange kostet um die fün hundert Dollar. Achtundvierzig wurden mit Kreditkarte bezahlt, nur eine bar. « »Das muss er gewesen sein.« »Das glaube ich auch.« Feeney zog sein Notebook aus der Tasche. »Der Barverkauf ist bei Sals Gold- und Silberwaren in der Neunundvierzigsten abgewickelt worden.« »Ich werde die Sache überprüfen. Danke.« »Nichts zu danken. Gibt es für uns sonst noch was zu tun? McNab meinte, er stünde dir gerne zur Verfügung.«
»McNab?« »Ihm hat die Zusammenarbeit mit dir gefallen. Der Junge ist wirklich gut, und du könntest dir von ihm zuarbeiten lassen.« Eve dachte an den jungen Detective mit der farbenfrohen Kleidung, dem scharfen Verstand und dem allzu losen Mundwerk. »Er macht Peabody ständig blöde an.« »Glaubst du nicht, dass Peabody mit ihm fertig werden müsste?« Eve runzelte die Stirn, trommelte mit den Fingern auf der Schreibtischplatte herum und zuckte schließlich mit den Schultern. »Sie ist eine erwachsene Frau, und ich könnte ihn wirklich brauchen. Ich habe den Ex-Mann des Opfers kontaktiert. Er lebt inzwischen in Atlanta. Sein Alibi für die fragliche Zeit wirkt ziemlich solide, aber es kann sicher nicht schaden, ihn sich etwas genauer anzusehen. Wir sollten überprüfen, ob er einen Flug nach New York gebucht und vielleicht bei dem Opfer angerufen hat.« »So was kann McNab im Schlaf.« »Sag ihm trotzdem, dass er wach bleiben soll.« Sie griff nach einer Diskette und hielt sie Feeney hin. »Alles, was ich über den Ex-Mann habe, ist hier drauf. Außerdem werde ich die Namen der ihr von Personally Yours vermittelten Typen überprüfen und möchte, dass er die Kerle anschließend genau unter die Lupe nimmt.« »Ich verstehe nicht, dass solche Läden derart
erfolgreich sind.« Feeney schüttelte den Kopf. »Zu meiner Zeit hat man die Frauen auf die altmodische Art und Weise kennen gelernt, das heißt, man hat sie einfach in der Kneipe angequatscht.« Eve zog eine Braue in die Höhe. »Du hast deine Frau in einer Kneipe kennen gelernt?« Er grinste zufrieden. »Wie es aussieht, hat es ja wohl funktioniert. Ich werde die Diskette weitergeben.« Er stand auf. »Hast du nicht längst Feierabend, Dallas?« »Ich gehe nur noch kurz die Namen durch, dann fahre ich nach Hause.« »Halt das, wie du willst. Ich verschwinde jetzt.« Er stopfte die Tüte mit den Mandeln in die Tasche und wandte sich zum Gehen. »Übrigens, wir freuen uns schon auf die Weihnachtsparty. « Sie konzentrierte sich bereits auf den Computer und hob deshalb noch nicht einmal den Kopf. »Was für eine Party?« »Eure Party.« »Oh.« Sie versuchte vergeblich, sich an eine Party zu erinnern. »Ja, super.« »Du hast mal wieder keine Ahnung, oder?« »Aber ja.« Doch weil Feeney Feeney war, lächelte sie entschuldigend. »Es ist nur einfach in einem anderen Teil meines Gehirns gespeichert. Hör zu, wenn du Peabody noch irgendwo da draußen siehst, sag ihr, dass sie
Feierabend machen soll.« »Tu ich.« Party, dachte Eve mit einem Seufzer. Ständig gab Roarke selber Partys oder schleppte sie auf irgendwelche Partys mit. Also würde Mavis ihr wieder in den Ohren liegen, dass sie ihre Haare, ihr Gesicht und ihren Körper machen lassen und irgendein neues Out it anprobieren sollte, das von ihrem geliebten Leonardo speziell für sie entworfen worden war. Wenn sie schon an dieser blöden Party teilnehmen musste, weshalb konnte sie dann nicht so auftauchen, wie sie normalerweise aussah? Weil sie die Frau von Roarke war, erinnerte sie sich. Und als solche wurde nun einmal von ihr erwartet, dass sie, wenn sie an eleganten Festen teilnahm, etwas besser aussah als eine Polizistin, die nichts anderes im Kopf hatte als irgendeinen Mord. Aber die Party wäre… wann auch immer sie wäre. Egal. Jetzt saß sie in ihrem Büro. »Computer, ich brauche die Liste der Männer, die Marianna Hawley von Personally Yours vermittelt worden sind.« Einen Augenblick… Partner eins von fünf… Dorian Marcell, Single, weiß, männlich, Alter zweiunddreißig. Während der Computer weitere Angaben machte,
studierte Eve das auf dem Bildschirm erschienene, freundliche, wenn auch etwas schüchterne Gesicht. Dorian liebte Kunst, Theater, alte Filme und behauptete, ein Romantiker auf der Suche nach einer Seelenverwandten zu sein. Seine Hobbys waren Snowboard-Fahren und Fotografie. Dorian wirkte wie ein durch und durch normaler Mann, überlegte Eve. Trotzdem würde sie sein Alibi für die Nacht von Mariannas Ermordung prüfen. Partner zwei von fünf… Charles Monroe, Single, weiß, männlich »Aber hallo, halt. Moment.« Mit einem halben Lachen betrachtete Eve das auf dem Monitor erscheinende Gesicht. »Tja, Charles, was für eine Überraschung, dich gerade hier zu sehen.« Sie konnte sich an das attraktive, lächelnde Gesicht hervorragend erinnern. Sie hatte Charles Monroe während der Ermittlungen in einem anderen Mordfall – dem Fall, durch den sie auch mit Roarke zusammengekommen war – kennen gelernt. Charles war ein lizensierter Gesellschafter, aalglatt und durch und durch charmant. Was in aller Welt, fragte sie sich jetzt, suchte ein erfolgreicher Callboy bei einer Vermittlungsagentur? »Auf der Suche nach Kundschaft, Charlie? Sieht aus, als müssten wir beide uns mal wieder miteinander unterhalten. Computer, weiter zu Partner Nummer drei.«
Partner drei von fünf, Jeremy Vandoren, geschieden »Lieutenant.« »Computer, Pause. Ja?« Sie hob den Kopf, als Peabody sie ansprach. »Captain Feeney meinte, dass Sie mich heute nicht mehr brauchen.« »Genau. Ich überprüfe nur noch ein paar Namen, dann fahre ich ebenfalls nach Hause.« »Er, äh, hat erwähnt, dass Sie ein paar der elektronischen Ermittlungen von McNab durchführen lassen wollen.« »Das ist richtig.« Eve lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück, während Peabody kramp haft versuchte, sich nicht ansehen zu lassen, wie unzufrieden sie mit dieser Entscheidung war. »Haben Sie damit ein Problem?« »Nein… das heißt…. Dallas, Sie brauchen ihn nicht wirklich. Er ist eine fürchterliche Nervensäge.« Eve bedachte sie mit einem gut gelaunten Lächeln. »An meinen Nerven sägt er nicht. Ich schätze, Sie müssen Ihre Nerven einfach etwas stärken, Peabody. Aber keine Sorge, das meiste, was er von mir bekommt, wird er drüben in der Abteilung für elektronische Ermittlungen bearbeiten. Hier wird er nicht allzu oft erscheinen.« »Er wird einen Weg inden, um ständig hier herumzulungern«, murmelte Peabody erbost. »Er ist ein geisttötender Angeber.«
»Er leistet gute Arbeit. Und außerdem – « Sie brach ab, als das Link auf ihrem Schreibtisch piepste. »Scheiße, ich hätte pünktlich Feierabend machen sollen. Dallas.« »Lieutenant.« Auf dem kleinen Bildschirm erschien das breite, strenge Gesicht von Commander Whitney. »Sir.« »Wir haben eine Tote, die in Verbindung mit der Sache Hawley zu stehen scheint. Der Tatort wird von uniformierten Beamten bewacht. Ich möchte, dass Sie die Ermittlungen leiten. Melden Sie sich in der Hundertundzwölften West Z3B, Appartement 5D. Rufen Sie mich von dort aus zu Hause an.« »Sehr wohl, Sir. Bin schon unterwegs.« Sie stand auf, schnappte sich ihre Jacke und sagte zu ihrer Assistentin: »Sie sind wieder im Dienst.« Der Blick der uniformierten Beamtin, die Sarabeths Wohnungstür bewachte, besagte, dass sie das, was drinnen war, schon einmal gesehen hatte und dass sie davon ausging, es auch in Zukunft ab und an zu sehen. »Of icer Carmichael«, las Eve den Namen von dem kleinen Brustschild ab. »Was gibt es?« »Eine weiße Tote von zirka Anfang vierzig. Die Wohnung wurde auf den Namen Sarabeth Greenbalm angemietet. Keinerlei Zeichen eines gewaltsamen Eindringens oder eines Kampfes. Videoüberwachung gibt es nur an der Haustür. Mein Partner und ich waren auf Streife, als um sechzehn Uhr fünfunddreißig die Meldung
der Zentrale kam. Wir haben sofort reagiert und waren um sechzehn Uhr zweiundvierzig hier. Die Haustür und die Tür der Wohnung standen offen. Wir sind eingetreten, haben die Verblichene gefunden, den Tatort gesichert und der Zentrale einen verdächtigen Todesfall gemeldet.« »Wo ist Ihr Partner, Carmichael?« »Er sucht den Hausverwalter, Madam.« »Fein. Sorgen Sie dafür, dass niemand den Korridor betritt, und bleiben Sie auf Ihrem Posten, bis die Ablösung erfolgt.« »Madam.« Carmichaels Blick wanderte zu Eves Assistentin. Unter den uniformierten Beamten galt Peabody als Dallas’ Liebling, und man begegnete ihr wechselweise mit Neid, Abneigung oder einer gewissen Ehrfurcht. Peabody, die spürte, dass Carmichael sie mit einer Mischung dieser drei Gefühle ansah, zuckte mit den Schultern und folgte ihrer Chefin. »Recorder an, Peabody?« »Ja, Madam.« »Lieutenant Dallas und Assistentin in der Wohnung von Sarabeth Greenbalm in der Einhundertzwölften West, 23B.« Während sie sprach, nahm Eve eine Dose Seal-It aus ihrem Untersuchungsset, besprühte ihre Hände und die Sohlen ihrer Stiefel und gab dann Peabody das Spray. »Das bisher nicht identifizierte Opfer ist eine weiße Frau.«
Sie trat näher an die Leiche. Sie lag in einer Ecke des Wohnraums auf einem schmalen, hochklappbaren Bett mit einem schlichten weißen Laken und einer braunen Decke mit ausgefranstem Rand. Dieses Mal hatte er eine rote Girlande verwendet und sie vom Hals bis zu den Knöcheln darin eingewickelt, sodass sie aussah wie eine festlich geschmückte Mumie. Ihr Haar, dessen greller Violett-Ton von Mavis sicher bewundert worden wäre, war sorgfältig frisiert und mit Haarspray zu einem glatten Kegel aufgetürmt. Ihre im Tod erschlafften Lippen waren leuchtend rot, die Wangen zart rosafarben, und die Lider bis unter die Brauen mit goldenem Glitter-Lidschatten geschminkt. In Höhe ihrer Kehle steckte an der Girlande ein schimmernd grüner Kranz, und in seiner Mitte schnäbelten zwei kleine Vögel, einer leuchtend silber, einer in zartem Gold. »Turteltauben, oder?« Eve studierte die Brosche. »Ich habe das Lied nachgeschlagen. Am zweiten Tag werden ihm von seiner großen Liebe zwei Turteltauben geschenkt.« Eve legte eine Hand an die bemalte Wange. »Sie ist noch warm. Ich wette, es ist höchstens eine Stunde her, dass er sie erledigt hat.« Sie trat einen Schritt zurück, zog ihr Handy aus der Tasche, kontaktierte Whitney und bestellte ein Team der Spurensicherung ein. Es war beinahe Mitternacht, als sie endlich heimkam. Ihre Schulter pochte, doch das konnte sie locker
ignorieren. Was sie störte, war die Erschöpfung. Sie kam viel zu schnell und war viel zu intensiv. Sie wusste, was der Quacksalber der Polizei behaupten würde. Sie hätte nicht ausgiebig genug pausiert. Sie hätte sich noch zehn Tage länger erholen sollen, war einfach viel zu früh in den Außendienst zurückgekehrt. Da sie von derartigen Gedanken schlechte Laune zu bekommen p legte, verdrängte sie sie, als sie durch die Haustür in die Wärme trat. Sie hatte mal wieder vergessen zu essen, und als sie plötzlich ihren Magen knurren hörte, fuhr sie sich mit der Überlegung, sie brauchte dringend einen Schokoriegel, mit beiden Händen übers Gesicht, trat vor den Scanner neben der Tür und fragte: »Wo ist Roarke?« Er hält sich in seinem Arbeitszimmer auf. Typisch, dachte sie und schleppte sich die Treppe ins obere Stockwerk hinauf. Anders als normale Menschen schien dieser Mann ganz einfach keinen Schlaf zu brauchen. Wahrscheinlich sah er noch genauso frisch aus wie am Morgen, als sie aus dem Haus gegangen war. Er hatte die Tür offen stehen lassen, sodass ein kurzer Blick genügte, um ihre Vermutung zu bestätigen. Er saß hinter der breiten, schimmernden Konsole, blickte auf eine Reihe von Monitoren und sprach, während hinter seinem Rücken unablässig das Faxgerät summte, Befehle in sein Link. Gleichzeitig wirkte er sexy wie die Sünde.
Wenn sie nur endlich diesen Schokoriegel in die Hand bekäme, sammelte sie eventuell genügend Energie, um ihn zu überfallen. »Machst du eigentlich auch irgendwann mal Schluss?«, fragte sie, als sie den Raum betrat. Er zwinkerte ihr lächelnd zu und wandte sich wieder an sein Link. »Also gut, John, sehen Sie zu, dass die Veränderungen vorgenommen werden. Über die Einzelheiten sprechen wir dann morgen.« Damit brach er die Übertragung ab. »Du hättest nicht au hören müssen. Ich wollte dich nur wissen lassen, dass ich da bin.« »Und ich habe mir nur die Zeit vertrieben, bis zu kommst.« Er legte den Kopf auf die Seite und betrachtete sie aufmerksam. »Hast du schon wieder vergessen zu essen?« »Ich hatte auf einen Schokoriegel gehofft. Segelt womöglich bei dir einer herum?« Er stand auf, ging über den blank polierten Boden zum AutoChef hinüber und zog einen Moment später eine dicke grüne Schüssel mit dampfender Suppe daraus hervor. »Das ist aber kein Schokoriegel.« »Du kannst das Kind in dir verwöhnen, nachdem du die Frau beköstigt hast.« Er stellte die Suppe auf den Tisch und schenkte sich einen Brandy ein. Sie schnupperte, und beinahe wäre ihr der Speichel aus
den Mundwinkeln gelaufen. »Riecht ganz gut«, erklärte sie und nahm Platz. »Hast du schon gegessen?«, fragte sie mit vollem Mund und hätte vor Freude fast gestöhnt, als er ihr einen Korb mit knusprig frischem, warmem Brot zu ihrer Suppe reichte. »Du musst endlich damit au hören, mich derart zu verwöhnen.« »Es ist eine meiner kleinen Freuden, meine Gattin zu verwöhnen.« Er nahm neben ihr Platz, nippte an seinem Brandy und verfolgte, wie das Essen Farbe in ihre Wangen brachte. »Und ja, ich habe schon gegessen – aber ein Stück Brot könnte ich trotzdem noch vertragen.« »Hmh.« Sie brach eine der Scheiben in der Mitte durch und reichte ihm die Hälfte. Nach einem langen Arbeitstag Suppe und Brot miteinander zu teilen war irgendwie gemütlich. Genau wie bei, tja, wie bei normalen Leuten. »Dann sind die Aktien von Roarke Industries gestern also um wie viel, um acht Punkte gestiegen?« Er zog die Brauen in die Höhe. »Acht dreiviertel. Hast du plötzlich Interesse am Aktienmarkt entwickelt, Lieutenant?« »Vielleicht behalte ich dich ja lediglich im Auge. Wenn nämlich deine Aktien fallen, könnte ich mich gezwungen sehen, mir einen anderen zu suchen.« »Dieses Problem werde ich auf die Tagesordnung der nächsten Aktionärsversammlung setzen. Möchtest du ein Gläschen Wein?«
»Keine schlechte Idee. Aber ich hole ihn mir selbst.« »Bleib sitzen und iss weiter. Ich habe dich noch nicht genug verwöhnt.« Er stand auf, nahm eine bereits geöffnete Flasche aus dem kleinen Kühlschrank und schenkte ihr ein. Gleichzeitig schabte sie den letzten Rest der Suppe aus der Schüssel und hätte am liebsten noch den letzten Tropfen vom Schalenboden geleckt. Sie fühlte sich warm, gesättigt und zu Hause. »Roarke, geben wir eine Party?« »Wann?« »Ich habe keine Ahnung.« Sie runzelte die Stirn. »Wenn ich wüsste, wann, würde ich dann fragen? Feeney hat etwas von einer Weihnachtsparty bei uns erwähnt.« »Das ist richtig. Und zwar am dreiundzwanzigsten Dezember.« »Warum?« »Meine liebe Eve.« Er beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie, bevor er wieder Platz nahm, zärtlich auf den Kopf. »Weil Weihnachten ist.« »Weshalb hast du mir noch nichts davon gesagt?« »Ich glaube, das habe ich getan.« »Ich kann mich nicht daran erinnern.« »Hast du zufällig deinen Kalender in der Nähe?« Knurrend zog sie ihn aus der Tasche und gab das Datum ein. Dort war die Party eingetragen, gefolgt von
ihren Initialen zum Zeichen, dass der Eintrag von ihr höchstpersönlich vorgenommen worden war. »Die Bäume werden morgen angeliefert.« »Bäume?« »Ja, wir werden einen offiziellen Baum im Wohnzimmer haben und mehrere andere oben im Ballsaal. Aber ich dachte, dass wir zusätzlich einen kleinen Baum für uns allein in unser Schlafzimmer stellen und persönlich schmücken sollten.« Ihre Brauen schossen in die Höhe. »Du willst einen Baum schmücken?« »Ja, das will ich.« »Ich habe keine Ahnung, wie man so was macht. Ich habe noch nie in meinem Leben einen Weihnachtsbaum geschmückt. « »Ich auch nicht, oder zumindest nicht in den letzten Jahren. Es wird unser erster gemeinsamer Baum.« Die Wärme, die bei diesen Worten durch ihre Adern zog, hatte nichts mehr mit der heißen Suppe oder dem köstlichen Wein zu tun. Sie lächelte und erklärte: »Wahrscheinlich werden wir die Sache total vermasseln.« Er nahm die Hand, die sie ihm entgegenstreckte. »Bestimmt. Und, fühlst du dich jetzt besser?« »Allerdings.« »Willst du mir von heute Abend erzählen?«
Sie drückte seine Finger – »Ja.« –, entzog ihm ihre Hand und sprang, da sie in Bewegung klarer denken konnte, auf die Beine. »Er hat noch einmal zugeschlagen«, begann sie ihren Bericht. »Es war dieselbe Vorgehensweise wie beim ersten Mal. Die Überwachungskamera über der Haustür hat ihn aufgenommen. Das Weihnachtsmannkostüm, die große Silberschachtel mit der voluminösen Schleife. Diesmal hat er ihr eine Brosche mit zwei Vögeln angesteckt.« »Turteltauben.« »Genau – oder zumindest gehe ich davon aus. Ich habe keine Ahnung, wie eine verdammte Turteltaube aussieht. Es gab kein Anzeichen dafür, dass er gewaltsam in die Wohnung eingedrungen ist oder mit seinem Opfer gekämpft hat. Ich schätze, die toxikologische Untersuchung wird ergeben, dass sie unter dem Ein luss eines Beruhigungsmittels stand. Sie war gefesselt und, da das Appartement nicht schallisoliert ist, wahrscheinlich geknebelt. Auf ihrer Zunge und in ihrem Mund haben wir Faserreste ausgemacht, doch den Knebel selbst haben wir nicht entdeckt.« »Hat er sie auch vergewaltigt?« »Ja, genauso wie beim ersten Mal. Auf ihrer rechten Brust war eine frische, ablösbare Tätowierung angebracht. Meine große Liebe. Außerdem hat er sie in eine rote Girlande eingewickelt, geschminkt und sorgfältig frisiert. Das Badezimmer war der sauberste Raum in der gesamten Wohnung. Ich schätze, er hat es gründlich geschrubbt,
nachdem er sich selbst dort gesäubert hat. Als ich an den Tatort kam, war sie erst eine Stunde tot. Der anonyme Anruf kam von einer Telefonzelle einen halben Block von ihrem Haus entfernt.« Er merkte, dass abermals die Frustration sie packen wollte, nahm ihre beiden Gläser und stand auf. »Wer war sie?« »Eine Stripperin aus dem Sweet Spot – einem teuren Club in der West Side.« »Ja, den kenne ich.« Als sie ihn mit zusammengekniffenen Augen ansah, reichte er ihr ihren Wein. »Und ja, zufällig bin ich der Besitzer.« »Ich hasse es, wenn das passiert.« Als er lediglich grinste, atmete sie schnaubend aus. »So oder so hat sie die Nachmittagsschicht gehabt und scheint direkt im Anschluss an die Arbeit heimgefahren zu sein. Um sechs, als der Bastard beim Betreten ihres Hauses aufgenommen wurde, hat sie gerade ihren AutoChef auf seinen Inhalt überprüft.« Eve starrte in ihren Wein. »Ich schätze, dass sie nicht mehr zum Essen gekommen ist.« »Er arbeitet schnell.« »Und scheint sich dabei ungemein zu amüsieren. Für mich sieht es so aus, als wollte er die Quote bis Neujahr erfüllen. Ich muss ihr Link, ihre Finanzen, ihre persönlichen Daten überprüfen. Und dann muss ich wissen, wo die Brosche her war. Mit dem Weihnachtsmannkostüm und der Girlande komme ich bisher nicht weiter. Wo in aller Welt ist die Verbindung
zwischen einer netten Verwaltungsangestellten und einer Striptease-Tänzerin?« »Den Ton kenne ich.« Mit diesen Worten trat er vor seine Konsole. »Lass uns gucken, was wir finden.« »Ich habe nicht gemeint, dass du irgendetwas tun sollst.« Er bedachte sie mit einem viel sagenden Blick. »Das war auch gar nicht nötig. Also, wie hat sie geheißen?« »Ich wiederhole – du sollst mir nicht helfen. Sarabeth – in einem Wort und in der Mitte ohne b – Greenbalm.« Sie stellte sich neben ihn. »Ich habe lediglich laut nachgedacht. Die Adresse ist Hundertzwölfte West, 23 B.« »Verstanden. Was willst du als Erstes wissen?« »Ihr Link kann ich noch morgen früh durchgehen. Fang also entweder mit den persönlichen oder mit den finanziellen Daten an.« »Die Finanzen dauern sicher länger, also sollten wir damit beginnen.« »Angeber«, erklärte Eve, begann jedoch zu lachen, als er eine Hand um ihre Taille legte und sie eng an seine Seite zog. »Natürlich bin ich das. Zielperson Sarabeth Greenbalm«, begann er und nagte zärtlich an Eves Hals. »Wohnhaft in der Einhundertzwölften. « Seine Hand glitt vorwitzig in Richtung ihrer Brust. »Sämtliche Finanzen, angefangen mit den letzten Transaktionen.«
Einen Augenblick… »So«, murmelte er und drehte Eve zu sich herum. »Jetzt haben wir gerade genug Zeit, um… « Er presste seinen Mund auf ihre Lippen und rief durch die Hitze seines Kusses wilden Schwindel in ihr wach. Datensuche beendet. »Tja.« Er nagte an ihrer Unterlippe. »Doch nicht genügend Zeit. Deine Daten, Lieutenant.« Sie räusperte sich leise, atmete vorsichtig aus – »Du bist gut.« – und hörbar wieder ein. »Ich meine, wirklich gut.« »Ich weiß.« Da sie leicht aus dem Gleichgewicht geraten war, nahm er in seinem Sessel Platz und zog sie auf seinen Schoß. »He, ich bin bei der Arbeit.« »Ich auch.« Er drehte sie mit dem Rücken zu sich und knabberte an ihrem Nacken. »Ich mache meine Arbeit, du die deine.« »Ich kann mich nicht konzentrieren, wenn du…« Sie zuckte mit den Schultern, unterdrückte ein vergnügtes Kichern und versuchte sich auf die Daten auf dem Monitor zu konzentrieren. »Die Miete ist der größte Posten, gefolgt von Klamotten. Die meisten hat sie des Finanzamts wegen als Arbeitskleider deklariert. Hör auf!« Sie schlug auf die Finger, die sich an den Knöpfen ihrer Bluse zu schaffen machen wollten.
»Die Daten kannst du gut auch ohne Hemd ablesen«, erklärte er und schob den Stoff über ihre Schultern. »Hör zu, Kumpel, ich bin immer noch bewaffnet, also – « Plötzlich sprang sie zu seiner Enttäuschung hastig auf die Füße. »Scheiße, Scheiße. Das ist es. Verdammter Hurensohn. Das ist die Verbindung.« Resigniert schob er jeden Gedanken an eine Verführung beiseite und wandte sich seufzend dem Bildschirm zu. »Wo?« »Da. Sie hat vor sechs Wochen per elektronischer Überweisung dreitausend Dollar an Personally Yours bezahlt.« Mit blitzenden Augen fuhr sie zu ihm herum. »Sie und Hawley waren bei derselben Partnervermittlung registriert. Das ist ganz bestimmt kein Zufall. Das ist die Verbindung. Ich brauche die Partner, mit denen sie ausgegangen ist«, murmelte sie und schüttelte, als sie Roarkes fragenden Blick sah, ihren Kopf. »Nein, wir gehen den vorgeschriebenen Weg. Ich fahre morgen zu der Agentur und hole mir die Namen.« »Ich würde nicht lange brauchen, um sie dir zu besorgen.« »Es wäre nicht legal.« Angesichts seines breiten Grinsens bemühte sie sich verzweifelt um ein möglichst strenges Gesicht. »Und es ist nicht dein Job. Aber ich weiß das Angebot zu schätzen.« »Und wie sehr?«
Sie trat einen Schritt zurück, stellte sich zwischen seine Beine und sah auf ihn herab. »So sehr, dass ich dir erlaube fortzuführen, was du eben angefangen hast.« Sie setzte sich rittlings auf seinen Schoß. »Allerdings nur, wenn du dich zuvor als Revanche für das wunderbare Essen von mir verwöhnen lässt.« »Wie wäre es damit…«, er vergrub eine Hand in ihrem Haar und zog ihren Kopf zu sich herab, »… dass wir uns gegenseitig verwöhnen?« »Das klingt nach einem durchaus fairen Geschäft.«
5 Eve saß in ihrem Arbeitszimmer und ging, während das schwache Licht der Wintersonne hinter ihrem Rücken durch die Fenster iel, sämtliche bisherigen Informationen zu den beiden Fällen gründlich durch. Leider wies der Bericht, den sie ihrem Commander noch an diesem Morgen würde erstatten müssen, noch allzu viele Lücken auf. »Computer an. Ich brauche genaue Informationen über das Partnervermittlungsinstitut mit Namen Personally Yours mit Geschäftssitz in der Fifth Avenue, New York.« Suche… Personally Yours, gegründet 205-2 in den Geschäftsräumen in der Fifth Avenue, Eigentümer und Betreiber Rudy und Piper Hoffman. »Stopp. Bitte um Bestätigung. Das fragliche Unternehmen gehört Rudy und Piper Hoffman?« Wird bestätigt. Rudy und Piper Hoffman, zweieiige Zwillinge, Alter achtundzwanzig. Wohnhaft Fifth Avenue 500. Soll mit der Überprüfung von Personally Yours fortgefahren werden? »Nein, ich brauche stattdessen sämtliche Informationen über die Besitzer.« Suche… Während der Computer die Chips rotieren ließ, stand sie auf und holte sich eine Tasse Kaffee. Zweieiige
Zwillinge, dachte sie, während der AutoChef ihrer Bitte nachkam. Sie hätte gedacht, die beiden wären ein Paar. Und wenn sie daran dachte, wie die beiden einander berührt, wie sie sich gemeinsam bewegt und wie sie einander angesehen hatten, fragte sie sich, ob nicht vielleicht sie und der Computer richtig lagen. Es war ein Gedanke, der ihr nicht behagte. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie eine Bewegung an der Tür, und eine Sekunde später entdeckte sie Roarke. »Guten Morgen. Du bist früh auf den Beinen.« »Ich will meinen vorläu igen Bericht für Whitney fertig kriegen.« Sie nahm ihren Kaffee, schüttelte sich die Haare aus der Stirn und fragte: »Willst du auch eine Tasse?« »Ja.« Er nahm ihr ihren Becher aus der Hand und sah zärtlich in ihr stirnrunzelndes Gesicht. »Ich werde fast den ganzen Tag mit irgendwelchen Besprechungen verbringen.« »Als wäre das was Neues«, murmelte sie und ging sich eine zweite Tasse holen. »Aber wenn nötig, kannst du mich jederzeit erreichen.« Sie knurrte und blickte auf ihren piepsenden Computer. »Gut. Okay, ich muss – « Als er sie plötzlich am Kragen ihres Hemdes packte, quietschte sie vor Überraschung auf. »He, was – Daten speichern«, rief sie und stieß ihren Gatten unsanft gegen die Brust. »Ich liebe deinen morgendlichen Duft.« Er neigte
seinen Kopf und schnupperte an ihren Haaren. »Das ist nichts anderes als Seife.« »Ich weiß.« »Reiß dich zusammen.« Aber verdammt, allein durch seine körperliche Nähe brachte er ihr Blut in Wallung. »Ich habe zu tun«, murmelte sie, schlang ihm jedoch gleichzeitig die Arme um den Hals. »Ich auch. Du hast mir gefehlt, Eve.« Er stellte seine Tasse an die Seite und hielt sie liebevoll fest. »Ich schätze, wir hatten beide in den letzten Wochen ziemlich viel zu tun.« Sich an diesen Mann zu lehnen war ein so herrliches Gefühl. »Aber trotzdem kann ich diesen Fall nicht einfach abgeben.« »Das erwarte ich auch gar nicht.« Er rieb sein Gesicht an ihrer Wange. »Und ich würde es auch gar nicht wollen.« Es war der letzte Fall, bei dem sie fast gestorben wäre, der düster in seinen Gedanken und seinem Herzen lastete. »Es genügt mir schon, wenn ich es schaffe, hier und da einen kurzen Moment der Zweisamkeit zu stehlen.« Er strich mit seinen Lippen über ihren Mund. »Und beim Stehlen hatte ich schon immer ein gewisses Geschick.« »Erinner mich nicht daran.« Lächelnd umfasste sie mit beiden Händen sein Gesicht. Peabody verharrte verlegen in der Tür. Es war zu spät, um einen Rückzieher zu machen, und gleichzeitig zu früh, um das Zimmer zu betreten. Obgleich die beiden einander lediglich gegenüberstanden, Roarke seine Hände auf ihren
Schultern und sie die ihren an seinem Gesicht, war dies ein ergreifend inniger Moment, der Peabody die Röte ins Gesicht trieb und ihr Herz vor Wehmut erzittern ließ. Da ihr nichts anderes ein iel, bemühte sie sich um ein leises Hüsteln. Roarke strich mit seinen Händen über die Arme seiner Frau und schaute lächelnd zur Tür. »Guten Morgen, Peabody. Wie wäre es mit einer Tasse Kaffee?« »O ja. Danke. Hm… draußen ist es ziemlich kalt.« »Ach, tatsächlich?«, fragte Roarke, während Eve zurück an ihren Schreibtisch trat. »Ja, allerdings ist es noch über dem Gefrierpunkt. Vielleicht fängt es also heute Nachmittag noch an zu schneien.« »Haben Sie zum Wetterdienst gewechselt?«, fragte Eve und betrachtete ihre Assistentin. Peabodys Wangen waren leicht gerötet, ihr Blick schwärmerisch verhangen, und sie nestelte nervös an den Messingknöpfen ihrer Uniform herum. »Was ist mit Ihnen los?« »Nichts. Danke«, sagte sie, als Roarke mit ihrem Kaffee kam. »Bitte. Dann überlasse ich euch jetzt mal eurer Arbeit.« Als er durch die Tür ins Nebenzimmer ging und sie hinter sich zuzog, entfuhr Peabody ein leiser Seufzer. »Ich verstehe nicht, wie Sie auch nur noch Ihren Namen wissen können, wenn er Sie derart ansieht.«
»Wenn ich ihn vergesse, erinnert er mich dran.« Trotz der leisen Ironie, die in Eves Stimme mitschwang, konnte sich Peabody die Frage nicht verkneifen. »Was ist das für ein Gefühl?« »Was?« Eve hob den Kopf und zuckte angesichts des eindringlichen Blickes ihrer Assistentin unbehaglich mit den Schultern. »Peabody, wir haben jede Menge Arbeit.« »Ist es nicht genau das, worum es den meisten Menschen geht?«, spann Peabody ihren Gedanken unerschüttert weiter. »Haben diese beiden Frauen nicht genau das, was Sie haben, über diese Partnervermittlung gesucht?« Eve öffnete den Mund, klappte ihn wieder zu, blinzelte zur Verbindungstür und sah, dass Roarke sie zugezogen, jedoch nicht abgeschlossen hatte. »Es ist mehr, als Sie denken«, hörte sie sich zu ihrer eigenen Überraschung sagen. »Es verändert alles und bringt alles, was von Bedeutung ist, ins Lot. Vielleicht sind Sie nie mehr derselbe Mensch, und vielleicht hat ein Teil von Ihnen ständig Angst vor dem, was passieren würde, wenn… aber er wird immer da sein. Sie brauchen nur die Hände auszustrecken, und schon ist er da.« Sie vergrub die Hände in den Taschen ihrer Hose. »Kann man so etwas inden, indem man Daten in einen Computer einspeist und ihn nach Menschen suchen lässt, die von ihrer Persönlichkeit und ihrem Lebensstil her angeblich zu einem passen? Ich weiß nicht. Aber wir haben zwei tote Frauen, die dachten, der Versuch würde sich
lohnen. Holen Sie sich einen Stuhl, Peabody, und dann werden wir sehen, was wir bisher haben.« »Sehr wohl, Madam.« »Als Erstes sollten wir diesen Jeremy Vandoren genau unter die Lupe nehmen. Auch wenn mein Gefühl mir sagt, dass er es nicht gewesen ist, brauchen wir Beweise für seine Unschuld oder Schuld. Und wenn wir sämtliche Informationen über die fünf für Hawley ausgesuchten Partner haben, fahren wir noch mal persönlich zu Personally Yours. « »Detective McNab meldet sich zum Dienst.« Eve wandte den Kopf und beobachtete, wie Ian McNab hereinschlenderte. Er hatte ein breites, zufriedenes Grinsen in seinem hübschen Gesicht, trug über einem dunkelgrünen Overall eine knielange, fuchsienrote Weste, deren Anblick in den Augen wehtat, und ein in beiden Farben gestreiftes Band in seinem langen, goldblonden Haar. Peabody straffte die Schultern, und Eve fragte mit einem leisen Seufzer: »Hallo, McNab, wie geht’s?« »Bestens, Lieutenant. Hey, Peabody.« Er zwinkerte der Polizistin zu und schwang sich lässig auf die Kante von Eves Schreibtisch. »Captain Feeney meinte, Sie könnten mich bei diesem Fall gebrauchen, und selbstverständlich stehe ich Ihnen liebend gern zu Diensten. Gibt es hier eventuell zufällig was zu essen?« »Gucken Sie, was der AutoChef zu bieten hat.«
»Super. Die Arbeit für Sie hat wirklich ihre Vorzüge, Dallas.« Mit wackelnden Brauen lugte er zu Peabody hinüber und machte sich dann auf den Weg, um sich sein Frühstück auszusuchen. »Wenn Sie diesen Blödmann schon einspannen mussten«, murmelte Peabody erbost, »hätte er dann nicht wenigstens von seiner Abteilung aus arbeiten können?« »Das hätte Sie ja nicht geärgert, und schließlich ist es das höchste Ziel in meinem Leben, Sie zu ärgern, Peabody«, antwortete Eve mitleidslos, aber feixend und wandte sich wieder an den elektronischen Ermittler: »Da Sie schon mal hier sind, McNab, führen Sie am besten die Recherchen am Computer für mich fort. Peabody und ich müssen dringend los.« »Sagen Sie mir, was Sie wissen wollen«, sagte er, bevor er herzhaft in ein Blaubeertörtchen biss. »Und ich werde es Ihnen besorgen.« »Wenn Sie irgendwann mal satt sind«, bat Eve mit milder Stimme, »gehen Sie bitte die Namen in der Akte Hawley durch und verschaffen mir alle Informationen, die über diese Leute aufzutreiben sind.« »Um den Ex habe ich mich bereits gestern Abend gekümmert«, erklärte er mit vollem Mund. »Bisher hält sein Alibi der Überprüfung stand.« »Okay.« Sie wusste die schnelle Arbeit zu schätzen, kam jedoch zu dem Ergebnis, dass sie sich, sollte Peabody nicht weiter schmollen, besser eines Kommentars enthielt. »Ich schicke Ihnen von unterwegs noch eine zweite Liste –
gehen Sie auch diese Namen durch, und gleichen Sie die beiden Listen miteinander ab. Außerdem möchte ich alles über die Hoffman-Zwillinge, Rudy und Piper, wissen. Und dann überprüfen Sie bitte noch das hier.« Sie wandte sich noch mal an den Computer, lud die Beweismittel-Datei und rief ein Hologramm der zweiten Brosche auf den Bildschirm. »Ich will wissen, wer das Ding gemacht hat, wie viele davon hergestellt wurden, wo es sie zu kaufen gibt, wie viele verkauft worden sind und wer die Käufer waren. Vergleichen Sie die Ergebnisse mit denen der Spange, die wir bei Hawley sichergestellt haben. Alles klar, McNab?« »Madam.« Er schluckte hastig und tippte sich mit einem Finger an die Schläfe. »Alles klar.« »Wenn Sie einen Namen inden, der auf beiden Listen und auch noch mit den Klunkern in Verbindung steht, sorge ich dafür, dass Sie bis an Ihr Lebensende jeden Morgen frische Törtchen kriegen.« »Das ist ein echter Anreiz.« Er spreizte seine Finger. »Dann mache ich mich am besten umgehend ans Werk.« »Auf geht’s, Peabody.« Eve stand auf und griff nach ihrer Tasche. »Und, McNab, lassen Sie gefälligst Roarke in Ruhe«, warnte sie und wandte sich zum Gehen. »Übrigens, She-Body, Sie sehen mal wieder echt gut aus«, rief McNab Peabody, als diese den Raum verlassen wollte, fröhlich hinterher, und sie stapfte wutschnaubend hinaus.
»In der Abteilung für elektronische Ermittlungen gibt es jede Menge begabter Leute«, beschwerte sie sich auf dem Weg zur Haustür. »Weshalb also haben gerade wir das einzige Arschloch aus der Abteilung abgekriegt?« »Ich schätze, das nennt man reines Glück.« Eve schnappte sich ihre Jacke vom untersten Treppenpfosten, und sie traten gemeinsam vor das Haus. »Himmel, es ist wirklich eisig.« »Sie sollten einen wärmeren Mantel anziehen, Lieutenant.« »Ich bin die Jacke gewöhnt.« Schnell glitt sie hinter das Steuer ihres Wagens und befahl: »Himmel, Heizung auf vierundzwanzig Grad.« »Ich liebe dieses Fahrzeug.« Peabody schmiegte sich behaglich in den Sitz. »Alles funktioniert.« »Ja. Aber es fehlt ihm an Charakter.« Trotzdem blickte Eve zufrieden auf das hell piepsende Link. »Gucken Sie mal, ohne dranzugehen, wer es ist«, bat sie ihre Assistentin und bog aus der Einfahrt auf die Straße. »Dallas? Dallas? Verdammt.« Auf dem Bildschirm erschien das attraktive, doch zornige Gesicht der Spitzenjournalistin Nadine Fürst. »Ich habe gerade bei Ihnen zu Hause angerufen. Summerset meinte, Sie wären irgendwohin unterwegs. Gehen Sie endlich an den Apparat.« »Ich glaube nicht.« »Verdammt, diese blöden Kisten, die ihr Bullen fahrt,
funktionieren einfach nie.« Peabody grinste Eve breit an. »Ich schätze, dass sie Wind von der Sache bekommen hat.« »Das hat sie garantiert«, bestätigte Eve. »Und ich weiß, dass sie jetzt Informationen für den Vormittagsbericht und ein Exklusivinterview für die Mittagssendung will.« »Dallas, ich brauche mehr Informationen über die ermordeten Frauen. Gibt es eine Verbindung zwischen den beiden Fällen? Also bitte, Dallas, seien Sie ein Kumpel. Ich brauche was für meinen Vormittagsbericht. « »Habe ich’s nicht gesagt?«, triumphierte Eve feixend und fädelte ihr Fahrzeug geschickt in den ließenden Verkehr. »Melden Sie sich, ja? Wie wäre es mit einem Interview? Wenn ich bis heute Mittag nichts bekomme, wird’s für mich grässlich eng.« »Mir blutet das Herz.« Als Nadine unzufrieden aufgab, sperrte Eve den Mund zu einem herzhaften Gähnen auf. »Ich mag sie«, bemerkte ihre Assistentin. »Ich mag sie auch. Sie ist fair, sie ist genau, und sie macht ihre Arbeit wirklich gut. Aber das heißt nicht, dass ich meine Arbeit unterbreche, nur damit sie möglichst hohe Einschaltquoten kriegt. Wenn ich sie ein paar Tage meide, wird sie der Sache selbst nachgehen. Und dann bin ich gespannt, ob nicht zur Abwechslung mal sie uns weiterhelfen kann.«
»Sie sind echt gewitzt. Das ist etwas, was mir an Ihnen gefällt. Aber was McNab betrifft – « »Sie werden mit ihm leben müssen, Peabody«, erklärte Eve, stellte den Wagen in einer Lücke am Rand der Fünften ab, marschierte in das Gebäude mit der Hausnummer 500, baute sich, die Hände in den Hosentaschen, in der Mitte eines der Glasfahrstühle auf und ertrug so gefasst wie möglich die Fahrt hinauf zu Personally Yours. Hinter dem Empfangstisch saß ein junger Gott mit Schultern wie Atlas, Haut in der Farbe dunkler Schweizer Schokolade und Augen wie antike goldene Münzen. »Hören Sie auf zu sabbern«, murmelte Eve, und ihre Assistentin knurrte. »Sagen Sie Rudy und Piper, Lieutenant Dallas und ihre Assistentin wären hier.« »Lieutenant.« Er bedachte sie mit einem sanften, träumerischen Lächeln. »Tut mir Leid, aber Rudy und Piper führen gerade Kundenkonsultationen durch.« »Sagen Sie ihnen, dass wir hier sind«, wiederholte Eve. »Und dass ihnen eine weitere Kundin verlustig gegangen ist.« »Selbstverständlich.« Er winkte in Richtung des Wartebereichs und bat: »Bitte machen Sie es sich bequem, und verkürzen sich die Wartezeit mit einer kleinen Erfrischung.« »Lassen Sie uns nicht zu lange warten.«
Was er auch nicht tat. Innerhalb von fünf Minuten, noch ehe Peabody schwach werden und einen so genannten Himbeer-Sahne-Schaum bestellen konnte, betraten Rudy und Piper gemeinsam das Foyer. Wieder waren sie von Kopf bis Fuß in Weiß gekleidet, dieses Mal jedoch hatte Piper eine blaue statt einer roten Seidenschärpe umgelegt. Beide trugen einen kleinen goldenen Ohrring – jeweils die Hälfte eines Paars. Eve bekam eine Gänsehaut, als sie den Ohrschmuck sah. »Lieutenant«, sagte Rudy und legte eine Hand auf Pipers Schulter. »Wir sind heute Morgen ein wenig in Eile. Unser Terminkalender ist bis zum Rand gefüllt.« »Und jetzt ist er noch voller. Wollen Sie hier draußen mit uns sprechen oder lieber irgendwo, wo wir ungestört sind?« In Rudys exotischen Augen lackerte ein Hauch von Ärger, doch er winkte gelassen den Korridor hinab in Richtung der Büros. »Sarabeth Greenbalm«, begann Eve, sobald die Tür des Raumes hinter ihr ins Schloss gefallen war. »Sie wurde gestern ermordet aufgefunden. Sie war eine Klientin von Ihnen.« »O Gott, o mein Gott.« Piper sank in einen breiten, weißen Sessel und warf die Hände vors Gesicht. »Pst.« Rudy strich ihr über die Haare und den Nacken. »Sind Sie sicher, dass sie eine Kundin von uns war?«
»Ja. Ich will wissen, welche Partner ihr vermittelt worden sind. Wer von Ihnen hat das Einführungsgespräch mit ihr geführt?« »Das muss ich gewesen sein.« Piper ließ ihre Hände sinken. In ihren dunkelgrünen Augen blitzten Tränen, und ihre blass goldenen Lippen bebten. »Wenn nichts anderes erwünscht ist, arbeite ich mit den Frauen und Rudy mit den Männern. Den meisten Menschen ist es lieber, mit jemandem ihres eigenen Geschlechts über romantische und sexuelle Bedürfnisse zu sprechen.« »Okay.« Eve betrachtete Piper und versuchte, nicht mitzukriegen, wie sie ihre Hand in die des Bruders schob. »Ich kann mich an sie erinnern. Sarabeth. Ich kann mich deshalb an sie erinnern, weil sie mit den ersten beiden Partnern unzufrieden war und deshalb eine Rückerstattung der Gebühr gefordert hat.« »Hat sie sie bekommen?« »Es gehört zu unserer Firmenpolitik, dass die Klienten, nachdem sie den ersten Partner oder die erste Partnerin getroffen haben, keinen Anspruch mehr auf Rückerstattung haben.« Rudy drückte seiner Schwester begütigend die Hand und trat hinter die Konsole. »Verstehe. Keiner von Ihnen beiden hat erwähnt, dass Ihnen die Firma gehört.« »Sie haben nicht danach gefragt«, antwortete Rudy und rief die von Eve verlangten Daten auf.
»Wer außer Ihnen beiden hätte Zugang zu den Daten Ihrer Kundinnen und Kunden?« »Wir haben sechsunddreißig Beraterinnen und Berater«, erläuterte Rudy. »Nach dem Einführungsgespräch, das Piper oder ich persönlich führen, werden die Bewerber der Beraterin oder dem Berater zugeteilt, die oder der ihren Bedürfnissen am ehesten entspricht. Unser Personal ist sorgsam ausgewählt, bestens ausgebildet und offiziell registriert.« »Ich will sämtliche Namen und ausführliche Informationen über diese Leute.« Seine Miene wurde frostig. »Diese Bitte kann ich Ihnen nicht erfüllen. Ein derartiges Eindringen in die Privatsphäre unserer Angestellten wäre ein Affront.« Eve legte den Kopf auf die Seite und bat ihre Assistentin: »Peabody, besorgen Sie uns einen Durchsuchungs- und Beschlagnahmebefehl für sämtliche Firmenunterlagen sowie Angestellten- und Kundendateien von Personally Yours. Fügen Sie die Berichte zu den Fällen Hawley und Greenbalm bei, und bitten Sie darum, dass man mir das Dokument möglichst umgehend hierher auf mein Handy überträgt.« »Wird sofort erledigt, Lieutenant.« »Rudy.« Piper stand auf, legte die Hände aneinander und wandte sich an ihren Bruder. »Ist das wirklich nötig?« »Ich glaube, ja.« Als sie zu ihm hinüberging, ergriff er ihre Hand. »Wenn unsere Unterlagen im Rahmen einer
polizeilichen Ermittlung eingesehen werden müssen, möchte ich, dass alles of iziell ist. Ich bitte Sie, diesen augenscheinlichen Mangel an Kooperationsbereitschaft und Mitgefühl mit den beiden Opfern zu entschuldigen, Lieutenant Dallas, aber ich muss viele Menschen schützen.« »Das muss ich auch.« Als Eves Handy piepste, fuhr Piper zusammen. »Entschuldigen Sie mich.« Eve wandte den Zwillingen den Rücken zu. »Dallas.« »Wir haben das Make-up identi iziert, mit dem Hawley geschminkt worden ist.« Der Laborchef runzelte die Stirn. »Markenname Natural Perfection. Wie ich bereits dachte, wirklich erstklassiges Zeug.« »Gute Arbeit, Dickie.« »Ja, hat mich jede Menge Überstunden gekostet, und dabei habe ich noch lange nicht alle Weihnachtseinkäufe gemacht. Die vorläu ige Untersuchung lässt vermuten, dass die Greenbalm mit Produkten aus derselben Serie hergerichtet worden ist. Dieses Zeug kriegt man nur in Schönheitssalons zu kaufen. Man kann es weder in irgendwelchen Läden noch über das Internet beziehen.« »Gut, dadurch dürfte es leichter werden rauszukriegen, wo die Sachen her sind. Wer ist der Hersteller?« Sein Stirnrunzeln wich einem indignierten Grinsen. »Renaissance Beauty and Health, ein Unternehmen der Gruppe Kenbar, die zu Roarke Industries gehört. Haben
Sie sich eigentlich noch nie mit den Geschäften Ihres Ehemanns beschäftigt?« »Verdammt«, war alles, was Eve sagte, und während sie sich wieder an die anderen wandte, brach sie die Übertragung schnaubend ab. »Werden in einem der Salons hier im Gebäude Natural-Perfection-Produkte verkauft?« »Ja.« Piper lehnte sich in einer Art an ihren Bruder, die Eve übel werden ließ. »Die Reihe gibt es im zehnten Stock bei Alle schönen Dinge.« »Gibt es eine Verbindung zwischen Ihrem Unternehmen und diesem Salon?« »Es sind zwei getrennte Firmen, aber wir haben geschäftliche Beziehungen zu allen Salons und Läden hier im Haus.« Rudy zog eine Hochglanzbroschüre mit beigefügter Diskette aus einer Schublade des Schreibtischs und reichte beides Eve. »Bei unseren Beratern kann man Pakete kaufen, in denen Besuche in den Salons und Geschenkgutscheine enthalten sind.« »Alle schönen Dinge«, fuhr er mit der Erklärung fort, »ist der exklusivste Salon im ganzen Haus. Sie bieten ebenfalls Pakete an, dank derer man sich im Rahmen eines so genannten Diamanttages bei uns beraten lassen kann.« »Wie praktisch.« »Ein gutes Geschäft«, antwortete Rudy. »Ihrem Gesuch wurde stattgegeben, Lieutenant.« Peabody steckte ihr Handy in die Tasche. »Der
Durchsuchungs- und Beschlagnahmebefehl wird sofort übertragen.« »Schicken Sie sämtliche Daten an McNab«, befahl Eve ihrer Assistentin, als sie wieder im Fahrstuhl standen. »Alle?« Obgleich Peabody entsetzt die Augen aufriss, hatte Eve kein großes Mitgefühl mit ihr. »Alle. Fangen Sie mit Greenbalms Partnern an, machen mit den Angestellten weiter, und dann kommt die Liste der Klienten des gesamten letzten Jahres. Ich habe das Gefühl, dass der Kerl, den wir suchen, in der Gegenwart zu finden ist.« »Für eine solche Übertragung brauche ich mindestens zwanzig Minuten.« »Dann suchen Sie sich irgendwo ein ruhiges Eckchen und fangen sofort an. Ich steige hier aus. Wenn Sie mit Ihrer Arbeit fertig sind, kommen Sie zu mir in den Salon.« »Sehr wohl, Madam.« »Und regen Sie sich ab, Peabody. Ein Schmollmund ist nicht attraktiv. « »Ich ziehe keinen Schmollmund«, erklärte Peabody mit würdevoller Stimme, »ich knirsche mit den Zähnen«, und trat, als sich die Tür des Fahrstuhls leise summend wieder schloss, hörbar schnaubend einen Schritt zurück. In der Etage, in der sich der Salon befand, wurde der Besucher in den Duft von Wald und Wiesen sowie in sanfte Flöten- und Lautenklänge eingehüllt. Der Teppich
hatte die Farbe und die Konsistenz von seidig weichen Rosenblüten, und von den gedämpft silbrigen Wänden perlte leise Wasser in einen schmalen, das gesamte Stockwerk um ließenden Kanal. Handtellergroße, pastellfarbene Schwäne glitten majestätisch über das schimmernde Nass. Alles in allem gab es sechs verschiedene Salons, und die gläsernen Bogentüren, durch die man die verschiedenen Etablissements betrat, wurden von exotischen Rankgewächsen gerahmt. Eve erkannte die Reproduktion der unsterblichen Blüte, die sich um einen schmalen vergoldeten Bogen rankte, der wie ein Heiligenschein über dem Eingang von Alle schönen Dinge glänzte. Passt, dachte sie. Diese spezielle Blüte hatte ihr einmal einige Schwierigkeiten gemacht. Als sie auf die Türen zutrat, glitten sie lautlos auf. In dem weiten, luxuriösen Empfangsbereich des Ladens standen zwischen Bronzestatuen eine Reihe tiefer, bequemer, lindgrüner Sessel, jeder mit einem eigenen Bildschirm und Kommunikationszentrum bestückt. Kleine Droiden litzten mit Erfrischungen, Lesematerial, Virtual-Reality-Brillen und allem, was die Kundinnen und Kunden, während sie verschönert wurden, zur Zerstreuung wünschten, hin und her. Zwei Frauen saßen in der Warteecke, plauderten leise miteinander und nippten, während sie auf ihre
Behandlung warteten, an einem schaumigen Getränk. Beide trugen dicke, pinkfarbene Roben mit dem diskret am Aufschlag eingestickten Namen des Salons. »Kann ich Ihnen helfen, Madam?« Die Frau hinter der u-förmigen Konsole bedachte Eves abgewetzte Jeans, die vernarbten Stiefel und das zerzauste Haar mit einem geringschätzigen Blick aus Augen, deren heller Silberglitzer genau zu den s-förmigen Strähnen passte, die sich durch das Dreieck magentaroter Haare wanden wie eine Horde dünner Schlangen. »Ich nehme an, Sie möchten das Komplett-Paket für Frauen?« Eve schenkte ihr ein äußerst nettes Lächeln. »Ist das was zum Essen?« Die Frau begann zu blinzeln. »Wie bitte?« »Egal, Schwester. Ich möchte mich mit Ihnen über die Natural-Perfection-Reihe unterhalten. « »Ja, natürlich. Es ist die beste Kosmetik, die man für Geld bekommen kann. Ich mache gerne einen Termin mit einem unserer Berater für Sie aus.« »Ja.« Eve klatschte ihren Dienstausweis auf die Konsole. »Das wäre nicht schlecht.« »Ich verstehe nicht…« »Das ist nicht zu übersehen. Holen Sie mir den Manager des Ladens.« »Bitte entschuldigen Sie mich.« Die Frau drehte sich zur Seite und sprach leise in ihr Link. »Simon, könnten Sie bitte
mal nach vorne kommen?« Die Daumen in den Vordertaschen ihrer Hose, wippte Eve gemütlich auf den Fersen und studierte die in dem Drehständer hinter der Konsole ausgestellten eleganten Tuben und Flakons. »Was ist das alles?« »Personalisierte Düfte. Wir geben Ihre Persönlichkeit und Ihre körperlichen Eigenschaften in den Computer ein und schaffen einen einzig für Sie kreierten Duft. Das Behältnis suchen Sie sich aus. Jeder Duft ist einzigartig und wird nur einmal hergestellt.« »Interessant.« »Ein sehr persönliches Geschenk.« Die Frau zog eine ihrer bleistiftschmalen Brauen in die Höhe. »Aber eben exklusiv und deshalb ziemlich teuer.« »Ach, tatsächlich?« Eve bedachte ihr Gegenüber mit einem giftigen Blick. »Machen Sie mir eins dieser Parfüms.« »Natürlich wird der Duft nur gegen Vorkasse kreiert.« Am liebsten hätte Eve die leuchtend roten Haare dieser Zimtziege gepackt und ihr perfektes, selbstzufriedenes Gesicht kraftvoll auf die Konsole knallen lassen, gerade jedoch, als sie sich nach vorne beugen wollte, hörte sie in ihrem Rücken, wie jemand eilig angetrappelt kam. »Yvette, was gibt es denn für ein Problem? Ich habe hinten alle Hände voll zu tun.« »Das Problem ist sie«, erklärte Yvette mit einem verknitterten Lächeln. Eve drehte sich um und wurde vom
Anblick ihres neuen Gegenübers völlig überrascht. Dichte dunkle Wimpern rahmten Simons beinahe durchscheinende, wässrig blaue Augen, und die dünnen, rabenschwarzen Brauen wiesen wie zwei Pfeile auf sein leuchtend rotes, hoch aus den Schläfen und der Stirn gekämmtes, langes, wild gelocktes Haar. Seine Haut hatte den goldenen Schimmer, der entweder gemischtrassigen Eltern oder aber einer künstlichen Bearbeitung des Teints zu verdanken war. Seine Lippen waren bronzefarben geschminkt, und auf seinem hervorstehenden linken Wangenknochen prangte ein weißes Einhorn mit goldenem Horn und Hufen. Er warf sein blaues Cape schwungvoll über eine Schulter. Seine muskulöse Brust wurde von den schweren goldenen Ketten, die im tiefen Ausschnitt seines grünsilbrigen Catsuits klirrten, vorteilhaft betont. Seine langen goldenen Ohrgehänge tanzten, als er eine Hand in seine schlanke Hüfte stemmte und Eve mit schräg gelegtem Kopf eingehend studierte. »Was kann ich für Sie tun, mein Herz?« »Ich will – « »Warten Sie, ja, warten Sie! « Er warf seine mit Herzchen-und-Blumen-Girlanden tätowierten Hände in die Luft. »Ich kenne Ihr Gesicht.« Mit einem dramatischen Kopfschwung ging er um Eve herum. P laume, dachte Eve. Der Kerl roch tatsächlich nach Pflaume.
»Schließlich sind Gesichter«, fuhr er fort, als Eve ihn mit zusammengekniffenen Augen ansah, »die Grundlage meines Geschäfts, meines Handwerks, meiner Kunst. Ich habe Ihr Gesicht schon mal gesehen. O ja, ich habe es eindeutig schon einmal irgendwo gesehen.« Plötzlich packte er ihr Gesicht mit beiden Händen und beugte sich so weit nach vorn, dass sich ihre Nasen beinahe berührten. »Hör zu, Kumpel – « »Roarkes Frau!«, kreischte er begeistert, küsste sie schmatzend auf den Mund und machte, bevor sie ihm einen Kinnhaken verpassen konnte, hastig einen Satz zurück. »Ja, genau! Schätzchen«, erklärte er seiner schreckensbleichen Angestellten und legte beide Hände aufsein Herz. »Roarkes Frau erweist unserem bescheidenen Salon die Ehre.« »Roarkes Frau? Oh.« Yvette sah aus, als müsse sie sich übergeben. »Nehmen Sie doch Platz, nehmen Sie doch bitte Platz, und sagen Sie mir, was ich für Sie tun kann.« Er legte Eve einen Arm um die Schulter und drängte sie zu einem Stuhl. »Yvette, seien Sie ein Schatz und sagen all meine Termine für heute Morgen ab. Werte Dame, ich gehöre Ihnen. Wo fangen wir an?« »Am besten damit, dass du einen Schritt zurückmachst, Kumpel.« Sie schüttelte ihn ab und zog mit einigem Bedauern statt des Stunners ihren Dienstausweis hervor. »Ich bin beruflich hier.«
»Meine Güte.« Simon tätschelte sich die Wangen. »Wie konnte ich das vergessen? Schließlich ist Roarkes Frau eine der besten Polizistinnen der Stadt. Verzeihen Sie mir, meine Liebe.« »Mein Name ist Dallas, Lieutenant Dallas.« »Natürlich.« Dann bedachte er sie mit einem süßen Lächeln. »Verzeihen Sie mir, Lieutenant. Manchmal geht einfach die Begeisterung mit mir durch. Als ich Sie hier gesehen habe, habe ich schlicht den Kopf verloren. Wissen Sie, Sie stehen auf der Liste der zehn heiß begehrtesten Kundinnen unseres Salons, zusammen mit der Frau des Präsidenten und Slinky LeMar – der Videoqueen«, fügte er, als Eve ihn noch immer skeptisch ansah, eilfertig hinzu. »Sie befinden sich also in allerbester Gesellschaft.« »Meinetwegen. Ich brauche eine Liste der Kundinnen und Kunden, die Produkte aus der Natural-Perfection-Serie benutzen.« »Unsere Kundenliste.« Wieder griff er sich ans Herz, nahm ermattet Platz, berührte den Bildschirm neben seinem Sessel und blickte auf die Karte. »Eine Zitronenlimonade. Bitte, Lieutenant, gestatten Sie mir, Ihnen eine Erfrischung anzubieten.« »Ich habe keinen Durst.« Doch da er vollkommen zerknirscht war und nicht aussah, als hätte er die Absicht, sie noch einmal zu begrapschen, nahm sie ihm gegenüber Platz. »Ich brauche die Liste, Simon.« »Ist es gestattet zu fragen, wofür Sie sie benötigen?«
»Ich ermittle in einem Mordfall.« »Einem Mordfall«, lüsterte er und beugte sich ein wenig zu ihr vor. »Ich weiß, es ist entsetzlich, aber ich finde das furchtbar aufregend. Ich habe mir schon als Kind gerne Krimis im Fernsehen angesehen.« Erneut bedachte er sie mit seinem süßen Lächeln, und gegen ihren Willen empfand Eve ein gewisses Maß an Sympathie. »Das hier ist kein Film, Simon.« »Ich weiß, ich weiß. Es ist schrecklich, dass ich eine solche Aufregung emp inde. Einfach grässlich. Aber was hat eine Kosmetikserie mit einer Mordsache…« Seine Augen wurden groß und begannen zu leuchten. »Gift? War es ein Giftmord? Jemand hat den Lippenstift vergiftet. Das Opfer hat sich schön gemacht für einen wunderbaren Abend – vielleicht hat sie Radical Red genommen oder, nein, nein, bombastische Bronze, und dann – « »Reißen Sie sich zusammen, Simon.« Seine Wimpern latterten, er wurde rot und erklärte mit einem warmen Kichern: »Dafür hätte ich wahrhaftig einen Klaps auf den Allerwertesten verdient.« Ohne auch nur den Kopf zu drehen, nahm er ein hohes, schlankes, mit einer gelben Flüssigkeit gefülltes Glas von dem Tablett des Droiden, der diensteifrig angelaufen kam. »Natürlich werden wir Ihnen alle Informationen geben, die Sie brauchen, Lieutenant. Aber seien Sie gewarnt. Unser Kundenkreis ist ziemlich groß. Wenn Sie mir bestimmte Produkte nennen könnten, würde die Zahl der Namen sicher deutlich kleiner.«
»Geben Sie mir erst die ganze Liste, dann werde ich sehen, wie ich sie verkleinern kann.« »Ihr Wunsch ist mir Befehl.« Er erhob sich, machte eine Verbeugung und trat hinter die Konsole. »Yvette, seien Sie so lieb und versorgen Sie den guten Lieutenant, während ich die Liste drucke, mit ein paar kleinen Proben.« »Ich brauche keine Proben.« Eve musterte die Empfangsdame stirnrunzelnd. »Aber ich will immer noch den Duft, von dem wir vorhin gesprochen haben.« »Selbstverständlich.« Um ein Haar hätte die Rezeptionistin einen Kniefall vor ihr gemacht. »Ist er für Sie selbst?« »Nein, es ist ein Geschenk.« »Ein sehr persönliches Geschenk.« Yvette zog einen Handcomputer aus der Tasche. »Für einen Mann oder für eine Frau?« »Eine Frau.« »Könnten Sie mir drei hervorstechende Eigenschaften von ihr nennen? Wie kühn, schüchtern oder romantisch?« »Intelligent«, erklärte Eve in Gedanken an Dr. Mira. »Mitfühlend. Gründlich.« »Sehr gut. Und wie sieht die Dame aus?« »Mittelgroß, schlank, braune Haare, blaue Augen, heller Teint. « »Sehr gut«, meinte Yvette und dachte angewidert, die
Beschreibung wäre bestens für einen Polizeibericht geeignet. »Was für ein Braun haben die Haare? Was hat sie für eine Frisur?« Eve atmete zischend aus. Weihnachtseinkäufe waren echt ein mühseliges Geschäft. Trotzdem gab sie sich weiter die größte Mühe mit ihrer Beschreibung der besten Profilerin und Psychologin der New Yorker Polizei. Als Peabody hereinkam, wählte sie gerade die passende Flasche und wartete darauf, dass Simon endlich mit dem Ausdruck und der Diskette kam. »Sie haben schon wieder geshoppt.« »Nein, ich habe wieder lediglich etwas gekauft.« »Wollen Sie es nach Hause oder ins Büro geliefert haben, Lieutenant?« »Nach Hause.« »Sollen wir es als Geschenk verpacken?« »Verdammt, ja, meinetwegen, packen Sie es ein. Simon, sind Sie vielleicht bald fertig?« »Alles erledigt, liebster Lieutenant.« Er hob den Kopf und sah sie strahlend an. »Ich bin so froh, dass wir Ihnen in dieser Sache helfen konnten.« Er schob die Diskette und den Ausdruck in eine kleine goldene Tüte. »Ich habe Ihnen auch noch ein paar natürlich perfekt auf Sie abgestimmte Proben eingesteckt.« Stolz auf diesen kleinen Scherz, hielt er ihr die Tüte hin. »Außerdem hoffe ich natürlich, dass Sie mich auf dem Laufenden halten werden. Und bitte
kommen Sie doch bald noch mal zurück. Es wäre mir eine Ehre und vor allem ein Vergnügen, mich künstlerisch an Ihnen verwirklichen zu dürfen.«
6 Wahre Menschenströme wälzten sich durch die Fifth Avenue. Fußgänger schwärmten über die Bürgersteige, drängten sich auf Gleitbändern, verstopften die Kreuzungen und drückten sich, begierig darauf, die Geschäfte zu betreten und zu kaufen, die Nasen an den Auslagen der Läden platt. Einige bereits wie Maulesel mit Tüten beladene Wesen teilten die Massen in dem hoffnungslosen Kampf um eines der Taxis unsanft mit den Ellenbogen, während über ihren Köpfen Werbe lieger mit schrillen Sprüchen Rabatte und Produkte priesen, ohne die das Leben jeden Wert verlor. »Sie sind alle verrückt«, erklärte Eve, während sie beobachtete, wie die Massen in Richtung eines Maxibusses drängten, der Richtung Zentrum log. »Hoffnungslos verrückt. « »Sie selbst haben vor zwanzig Minuten ebenfalls etwas gekauft. « »Auf eine zivilisierte und würdevolle Art.« Peabody zuckte mit den Schultern. »Ich mag das vorweihnachtliche Treiben.« »Dann bin ich im Begriff, Sie glücklich zu machen. Wir steigen nämlich aus.« »Hier?« »Weiter werden wir im Wagen nicht kommen.« Ihr
Fahrzeug glitt im Schneckentempo durch den dichten Strom von Menschen und schob sich Stück für Stück an die Kreuzung zwischen Fünfzigster und Einundfünfzigster heran. »Das Juweliergeschäft ist ein paar Blöcke weiter unten. Zu Fuß sind wir bestimmt schneller.« Peabody bahnte sich einen Weg nach draußen und holte ihre Vorgesetzte, die wie stets ein lottes Tempo hatte, an der Ecke ein. Der Wind rauschte durch die Straße wie ein Fluss durch einen Canyon, und bereits nach fünfzig Metern leuchteten ihrer beider Nasen vor Kälte in einem unheilvollen Pink. »Echt ätzend«, schimpfte Eve. »Die Hälfte dieser Leute lebt noch nicht mal hier. Jeden verdammten Dezember strömen sie herbei und verstopfen unsere Straßen.« »Und pumpen jede Menge Geld in unsere Wirtschaft.« »Wenn sie nicht gerade sämtliche Verkehrsmittel besetzen, Unfälle verursachen oder Diebstähle begehen. Versuchen Sie mal abends um sechs aus dem Zentrum rauszukommen. Das raubt einem den letzten Nerv.« Stirnrunzelnd marschierte sie durch den von einem Schwebegrill ausgehenden nach Fleisch duftenden Qualm, hörte einen Schrei und wandte gerade rechtzeitig den Kopf, um zu entdecken, dass linker Hand von ihr eine Rauferei ausgebrochen war. Sie zog eine Braue in die Höhe, als ein Taschendieb auf Airskates zwei Frauen überholte, ihnen ein paar von ihren Tüten sowie beide Handtaschen entriss und sich durch das Gedränge geschickt von dannen schlängelte.
»Madam?« »Ich habe ihn im Blick.« Eve bemerkte sein triumphierendes Grinsen, als er, während die Passanten hastig an die Seite sprangen, an Geschwindigkeit gewann. Er duckte sich, machte einen Schwenk, wich einem Fußgänger aus und schoss direkt auf Eve zu. Während einer Sekunde trafen seine vor Erregung leuchtenden Augen ihren gelassenen Blick, dann drehte sie sich um die eigene Achse und verpasste ihm einen gezielten, kurzen Faustschlag direkt unter das Kinn. Wären weniger Leute unterwegs gewesen, wäre er bestimmt drei Meter ge logen. So jedoch prallte er rücklings gegen eine Gruppe von Passanten und reckte seine noch summenden Airskates wie ein Käfer in die Luft. Blut strömte aus seiner Nase, und in seinen Augen sah man nur noch das Weiß. »Gucken Sie, dass Sie einen uniformierten Kollegen inden, der sich um dieses kleine Arschloch kümmert.« Eve schüttelte ihre Hand aus, ließ die Schulter kreisen und stellte geistesabwesend einen ihrer Stiefel auf die Brust des Delinquenten, als dieser an ing, sich stöhnend unter ihr zu winden. »Wissen Sie was, Peabody? Jetzt fühle ich mich deutlich besser. « Später dachte Eve, dass die Festnahme des kleinen Diebes anscheinend der Höhepunkt des Tages gewesen war. Der Besuch des Juweliergeschäfts brachte sie keinen Zentimeter weiter. Weder der Ladenbesitzer noch der sauertöp ische
Verkäufer konnten sich an den Kunden erinnern, der die Spange mit dem Rebhuhn bar bezahlt hatte. Weihnachten stand vor der Tür, beschwerte sich der Juwelier, während der Verkäufer die Kasse mit der Geschwindigkeit und Präzision eines Buchhaltungsdroiden klingeln ließ. Wie sollte er sich da an einen bestimmten Verkauf erinnern? Eve schlug ihm vor, sich trotzdem weiter zu bemühen und sich bei ihr zu melden, falls ihm wider Erwarten doch noch etwas ein iel, und erstand, bevor sie das Geschäft verließ, zu Peabodys Entrüstung noch schnell eine Ohrkette aus glänzendem Kupfer für Mavis’ geliebten Leonardo. »Sie fahren zurück zu mir nach Hause und arbeiten weiter mit McNab.« »Warum verpassen Sie mir stattdessen nicht lieber einen Faustschlag ins Gesicht?« »Reißen Sie sich zusammen, Peabody. Ich fahre aufs Revier. Ich muss Whitney Bericht erstatten, und danach will ich zu Dr. Mira, damit sie ein Täterpro il für uns erstellt.« »Vielleicht inden Sie auf dem Weg ja noch ein paar Geschenke.« Eve blieb neben ihrem Wagen stehen. »Höre ich da etwa einen gewissen Sarkasmus?« »Ich glaube nicht. Dafür war es zu direkt.« »Finden Sie eine Übereinstimmung zwischen den verschiedenen Listen, sonst fangen wir an, reihenweise
einsame Herzen zu verhören.« Eve überließ es ihrer Assistentin, sich mit den Ellenbogen einen Weg zurück zur Maxibus-Haltestelle zu bahnen, setzte sich selbst in der entgegengesetzten Richtung in ihrem Wagen in Bewegung, machte auf der Fahrt über ihr Link Termine bei ihrem Vorgesetzten und bei der Psychologin aus und hörte die eingegangenen Gespräche ab. Beim Klang von Nadines jämmerlicher Stimme fasste sie den Entschluss, die Journalistin endlich zu erlösen. »Hören Sie auf zu quengeln, Nadine.« »Dallas, Himmel, wo haben Sie die ganze Zeit gesteckt?« »Ich sorge dafür, dass die Stadt für Sie und Ihresgleichen halbwegs sicher bleibt.« »Hören Sie, wir haben gerade noch Zeit, um meinen Mittagsbericht ein wenig auszuschmücken. Stichworte genügen.« »Ich habe soeben in der Fünften einen Taschendieb verhaftet.« »Machen Sie sich nicht über mich lustig. Ich stehe mit dem Rücken zur Wand. Inwieweit stehen die beiden jüngsten Morde miteinander in Verbindung?« »Welche beiden Morde? Um diese Zeit des Jahres haben wir üblicherweise jede Menge Tote zu beklagen. Weihnachten bringt die Menschen irgendwie in Stimmung.«
Nadine schnaubte. »Hawley und Greenbalm. Also bitte, Dallas. Zwei erwürgte Frauen. So viel habe ich herausbekommen. In beiden Fällen sind Sie die Ermittlungsleiterin. Ich habe gehört, dass die beiden Opfer auch sexuell misshandelt worden sind. Bestätigen Sie das?« »Zum jetzigen Zeitpunkt enthalten sich die of iziellen Stellen jedes Kommentars.« »Sie wurden angeblich vergewaltigt.« »Kein Kommentar.« »Verdammt, warum geben Sie sich derart zugeknöpft?« »Ich habe zurzeit kaum genügend Luft zum Atmen. Ich versuche, einen Mörder aufzuhalten, Nadine, und deshalb sind mir auch die Einschaltquoten Ihres Senders momentan total egal.« »Ich dachte, wir wären miteinander befreundet.« »Ich schätze, das sind wir, und deshalb werden Sie als Erste hören, wenn ich etwas habe.« Nadines Augen begannen zu leuchten. »Als Erste, exklusiv?« »Aber blockieren Sie bis dahin nicht ständig meine Leitung. « »Lassen Sie uns reden, Dallas. Bis eins habe ich problemlos den Kameramann für ein Interview auf dem Revier organisiert.«
»Nein. Ich werde es Sie wissen lassen, wann und wo wir miteinander reden, aber heute habe ich für Sie nicht eine Sekunde Zeit.« Und Zeit, so dachte Eve, war von entscheidender Bedeutung. Niemand, den sie kannte, konnte so schnell und gründlich recherchieren wie die gute Nadine Fürst. »Augenblicklich gibt es niemanden, den Sie regelmäßig sehen, oder?« »Sehen – wie miteinander ausgehen oder schlafen? Nein, es gibt niemanden Speziellen.« »Haben Sie es jemals mit einer Vermittlungsagentur versucht?« »Also bitte.« Nadine klapperte mit den Wimpern und betrachtete die sorgfältig gefeilten und lackierten Nägel ihrer rechten Hand. »Ich glaube, dass ich auch noch alleine irgendwelche Männer finde.« »War nur so ein Gedanke. Wie ich höre, sind diese Agenturen sehr beliebt.« Eve machte eine Pause, als sie das plötzliche Blitzen in den Augen der Journalistin sah. »Vielleicht sollten Sie es mal versuchen.« »Ja, vielleicht. Danke. Ich muss los. Die Sendung fängt in fünf Minuten an.« »Eins noch. Muss ich ein Weihnachtsgeschenk für Sie kaufen?« Nadine zog die Brauen in die Höhe und grinste breit. »Aber sicher.« »Verdammt, das hatte ich befürchtet.« Stirnrunzelnd brach Eve die Übertragung ab und lenkte ihren Wagen in
die Garage des Reviers. Auf dem Weg zu Whitneys Büro holte sie sich einen Energieriegel und eine aufputschende Cola aus einem Automaten, schlang den Riegel mit drei Bissen herunter, spülte mit der Cola nach und empfand als Ergebnis eine leichte Übelkeit, als sie den Raum betrat. »Na, wie stehen die Aktien, Lieutenant?« »McNab von der Abteilung für elektronische Ermittlungen arbeitet zusammen mit meiner Assistentin von meinem Haus aus, Commander. Wir haben die Listen der Partner, die den beiden Opfern von Personally Yours vermittelt worden sind, und hoffen, dass es eine Übereinstimmung zwischen diesen beiden Listen gibt. Außerdem befassen wir uns weiter mit dem Schmuck, den der Täter bei den Opfern zurückgelassen hat, und haben den Markennamen und möglicherweise auch die Herkunft des von ihm verwendeten Make-ups.« Whitney nickte. Er war ein kräftig gebauter Mann mit einer glatten dunklen Haut und müden Augen. Durch das Fenster in seinem Rücken blickte man über die Stadt – Eve bemerkte den dichten Flugverkehr zwischen den hoch aufragenden Gebäuden, die Menschen, die in den Büros hinter den Fenstern des Hauses gegenüber beschäftigt waren, und wusste, wenn sie dichter an das Fenster träte, könnte sie bis hinunter auf die Straße sehen. All die Leute, die geschäftig hin und her eilten. All die Leben, die zu schützen sie angetreten war. Wie immer kam sie zu dem Schluss, dass ihr ihr
eigenes, viel zu enges Büro mit der begrenzten Aussicht deutlich lieber war. »Wissen Sie, wie viele Touristen und Konsumenten aus anderen Staaten in den Wochen vor Weihnachten in New York auftauchen?« »Nein, Sir.« »Der Bürgermeister hat mir eine ungefähre Zahl genannt, als er heute Morgen anrief, um mich darüber zu informieren, dass es sich die Stadt nicht leisten kann, all die Urlaubsdollars wegen eines Serienmörders zu verlieren.« Sein Lächeln war schmal und völlig humorlos. »Die Tatsache, dass der Täter zwei Einwohnerinnen unserer schönen Stadt vergewaltigt und erwürgt hat, schien ihn nicht sonderlich zu stören. Doch die unglücklichen Nebenwirkungen, die solche Verbrechen haben könnten, falls die Medien die Story von dem mörderischen Weihnachtsmann an die große Glocke hängen sollten, haben ihn erschreckt.« »Die Medien wissen doch noch gar nichts von der Weihnachtsmann-Verkleidung. « »Aber wie lange wird es wohl noch dauern, bis die Sache zu den Medien durchgesickert ist?« Whitney lehnte sich zurück und blickte seinem Lieutenant reglos in die Augen. »Vielleicht ein paar Tage. Channel 75 hat bereits erfahren, dass es Sexualmorde gewesen sind, bisher aber sind die Informationen, die sie haben, eher bruchstückhaft.«
»Sehen wir zu, dass es so bleibt. Wann wird er wieder zuschlagen?« »Heute Abend. Spätestens wohl morgen.« Und sie könnte es nicht verhindern, dachte sie und sah ihrem Vorgesetzten deutlich an, dass er verstand. »Die Partnervermittlung ist die einzige Verbindung, die Sie haben.« »Ja, Sir. Zumindest bis jetzt. Es spricht nichts dafür, dass die Opfer sich kannten. Sie haben in verschiedenen Stadtteilen gelebt, sich in völlig verschiedenen Kreisen bewegt und weisen selbst von ihrem Aussehen her nicht die geringste Ähnlichkeit miteinander auf. « Sie machte eine Pause, doch Whitney enthielt sich jedes Kommentars, und so fuhr sie schließlich mit einem »Ich werde mit Dr. Mira sprechen« fort. »Auch wenn er meiner Meinung nach bereits nach einem erkennbaren Muster vorgeht und ein bestimmtes Ziel verfolgt. Bis Ende des Jahres will er zwölf Mal zugeschlagen haben und so muss er sich, weil er noch nicht mal mehr zwei Wochen Zeit hat, sehr beeilen.« »Genau wie Sie.« »Ja, Sir. Er muss seine Opfer über die Partnervermittlung wählen. Wir haben das Make-up, mit dem er die Opfer geschminkt hat, und wissen, dass es diese Produkte nur an sehr wenigen Orten in der Stadt zu kaufen gibt. Außerdem haben wir den Schmuck, den er an den Tatorten zurückgelassen hat.« Sie atmete hörbar aus.
»Er wusste, dass wir das Makeup analysieren würden, und auch die Schmuckstücke hat er bewusst platziert. Er scheint also davon auszugehen, dass er gut genug getarnt ist, sodass uns selbst diese Spuren nicht weiterbringen werden. Wenn wir nicht innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden einen Verdächtigen inden, bleibt uns womöglich nichts anderes übrig, als uns an die Medien zu wenden. « »Und was wollen Sie ihnen sagen? Dass jeder, der einen dicken Mann in einem roten Anzug sieht, die Polizei einschalten soll?« Er schob sich von seinem Schreibtisch zurück. »Ich will keine zwölf Leichen unter meinen Weihnachtsbaum gelegt bekommen, Lieutenant. Also nageln Sie den Kerl so schnell wie möglich fest.« Nachdem sie das Büro verlassen hatte, zog Eve ihr Handy aus der Tasche, wählte die Nummer von zu Hause und sagte: »Los, McNab, machen Sie mich glücklich.« »Ich gebe mir die allergrößte Mühe, Lieutenant.« Er fuchtelte mit einem Stück mit Ananas belegter Pizza vor dem Monitor herum. »Den Ex-Mann des ersten Opfers können Sie so gut wie sicher streichen. Er war am Abend des Mordes zusammen mit drei Freunden bei einem Baseballspiel. Peabody wird die drei Freunde überprüfen, aber das Alibi wirkt durch und durch solide. Es war kein Flug nach New York unter seinem Namen gebucht, und es sieht ganz so aus, als ob er bereits seit zwei Jahren nicht mehr an der Ostküste gewesen ist.« Eve sprang auf das Gleitband. »Okay – weiter.«
»Auf den Partnerlisten beider Frauen ist keine Übereinstimmung zu inden, aber ich gehe noch die Fingerabdrücke und Stimmen aller Typen durch, um ganz sicher zu sein, dass sich niemand unter zwei verschiedenen Namen eingeschlichen hat. « »Guter Gedanke.« »Zwei der Typen auf der Hawley-Liste scheinen wir streichen zu können. Ich muss sie noch exakter überprüfen, aber es sieht ganz so aus, als hätten sie ein Alibi für die betreffende Zeit. Die Greenbalm-Liste überprüfe ich danach.« »Vergleichen Sie erst die Namen mit denen der Leute, die das Make-up verkauft bekommen haben.« Als sie vom Gleitband stieg und sich in einen Fahrstuhl quetschte, raufte sie sich vor Ungeduld die Haare. »In zwei Stunden müsste ich da sein.« Sie stieg aus dem Fahrstuhl, durchquerte ein kleines Foyer und betrat Miras Büro. Es saß niemand am Empfangstisch, die Tür des Sprechzimmers stand offen, und Eve sah, dass Mira an einem dünnen Sandwich knabberte und dabei das Video eines Patientengesprächs durchging. Es kam nicht oft vor, dass sie Mira unbemerkt beobachten konnte, überlegte Eve. Mira war eine Frau, die so gut wie alles sah. Man konnte kaum etwas vor ihr verbergen, was Eve nicht unbedingt gefiel. Sie war sich nicht sicher, wie eine derart enge Bindung zwischen ihnen beiden hatte entstehen können. Doch auch
wenn sie ihr manchmal nicht behagten, respektierte sie die Fähigkeiten dieser Frau. Mira war eine zierliche, gut gebaute Frau mit elegant gewelltem, sandfarbenem Haar und einem klaren, anziehenden Gesicht. Normalerweise trug sie schmal geschnittene Kostüme in dezenten Farben. Eve hielt sie für eine echte Dame: beherrscht, von ruhiger Eleganz und äußerst eloquent. Die Arbeit mit Geisteskranken, Gewalttätern und gewohnheitsmäßigen Perversen brachte Mira weder aus der Fassung noch verlor sie dadurch ihr Mitgefühl. Ihre Gutachten zu Mördern und Verrückten waren für die New Yorker Polizei von unschätzbarem Wert. Eve zögerte gerade lange genug, als dass Mira ihre Nähe spürte. Die Psychologin wandte ihren Kopf, und ihre blauen Augen wurden, als sie Eve erblickte, warm. »Ich wollte nicht stören. Ihre Assistentin ist gerade nicht da.« »Sie ist in der Mittagspause. Kommen Sie herein, und machen Sie die Tür hinter sich zu. Ich hatte Sie bereits erwartet.« Eve blickte auf das Sandwich. »Ich störe Sie in Ihrer Pause.« »Polizistinnen und Ärztinnen machen ihre Pause dann, wenn sie sie nehmen können. Möchten Sie vielleicht etwas essen?« »Nein, danke.« Der Energieriegel lag ihr noch immer
bleiern im Magen, und sie überlegte, wann der Verkaufsautomat zum letzten Mal gewartet worden war. Trotz Eves Ablehnung stand Mira auf und bestellte eine Kanne Tee. Es war ein Ritual, und Eve hatte gelernt, damit zu leben. Sie würde an dem Gebräu mit dem leicht blumigen Aroma nippen, doch mögen müsste sie es nicht. »Ich bin die Daten, die Sie mir haben schicken können, und die Kopien der Berichte durchgegangen. Das ausführliche schriftliche Profil bekommen Sie morgen.« »Was können Sie mir heute sagen?« »Wahrscheinlich nur sehr wenig, was Sie nicht schon selbst erarbeitet haben.« Mira lehnte sich bequem auf ihrem Stuhl zurück. Abgesehen davon, dass er blau war, war er ähnlich wie die Stühle in Simons Salon. Eve, bemerkte sie, war etwas zu blass und ein wenig zu dünn. Mira hatte sie seit ihrer Rückkehr in den Dienst noch nicht wieder gesehen, und die Ärztin diagnostizierte still, dass sie zu früh die Arbeit aufgenommen hatte. Diese Meinung behielt sie allerdings lieber für sich. »Der Mensch, nach dem Sie suchen, ist wahrscheinlich ein dreißig- bis fünfunddreißigjähriger Mann«, begann sie mit ruhiger Stimme. »Er ist beherrscht, berechnend und gut organisiert. Er genießt es, im Rampenlicht zu stehen, und hat das Gefühl, er hätte es verdient, im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit zu stehen. Möglicherweise hat er mal eine Karriere als Schauspieler angestrebt oder aber er hat irgendeine andere Beziehung zu Theater oder
Film.« »Er hat regelrecht mit der Überwachungskamera gespielt.« »Genau.« Mira nickte. »Außerdem bin ich der Meinung, dass er das Kostüm und die Requisiten nicht ausschließlich zur Tarnung und als Werkzeuge verwendet, sondern weil ihm das Flair des Schauspielers und vielleicht die Ironie gefällt, die sich hinter dem Kostüm des Weihnachtsmanns verbirgt. Ich frage mich, ob er auch die Grausamkeit, mit der er vorgeht, als Ironie ansieht.« Sie schlug ihre Beine übereinander und nippte behutsam an ihrem Tee. Wenn sie angenommen hätte, dass Eve den Tee tatsächlich trinken würde, hätte sie ihn mit ein paar Vitaminen und Au baustoffen versetzt. »Eventuell betrachtet er das Ganze als eine Art von Show. Er genießt diesen Aspekt. Die Vorbereitung, die Details. Er ist ein Feigling und zugleich ein äußerst vorsichtiger Mensch.« »Das sind alle Feiglinge«, antwortete Eve. »Ich kann verstehen, dass Sie das so sehen, weil für Sie die Beendigung eines Lebens einzig durch die Verteidigung eines anderen Lebens zu rechtfertigen ist. Für Sie ist ein Mord die allergrößte Feigheit. Aber unser Mörder ist sich seiner Ängste anscheinend sehr bewusst. F> betäubt seine Opfer – nicht, um ihnen Schmerzen zu ersparen, sondern um sie daran zu hindern, sich gegen ihn zu wehren und ihn womöglich tatsächlich zu überwältigen. Alles ist sorgfältig von ihm inszeniert. Er schafft sie auf das Bett, fesselt sie
und trennt ihre Kleider, statt sie ihnen in wilder Wut vom Leib zu reißen, langsam und sorgfältig auf. Durch die Fesseln sind sie total hilflos, gehören völlig ihm.« »Dann vergewaltigt er sie.« »Ja, ebenfalls, wenn sie gefesselt, wenn sie nackt und hil los sind. Wären sie frei, würde er von ihnen zurückgewiesen werden. Das weiß er, weil er schon einmal zuvor zurückgewiesen worden ist. Nun aber kann er mit ihnen tun und lassen, was er will. Er braucht es, dass sie wach sind, damit sie ihn sehen. Sie sollen wissen, dass er die Macht über sie hat, und sie sollen sich wehren, denn er weiß, sie können nicht entkommen.« Bei diesen Worten verknotete sich Eves Magen. Sie riefen grausige Bilder und Erinnerungen in ihr wach. »Bei Vergewaltigung geht es einzig und ausschließlich um Macht.« »Ja.« Da sie sie verstand, hätte Mira gern Eves Hand ergriffen, doch gerade weil sie dieses Verständnis für ihr Gegenüber hatte, ließ sie es klugerweise sein. »Das Erwürgen seiner Opfer ist für ihn eine Verlängerung der sexuellen Handlung. Er legt ihnen die Hände um den Hals. Das ist in höchstem Maß intim.« Mira lächelte dünn. »Wie viel davon haben Sie selbst bereits gewusst?« »Das ist egal. Meine Vermutungen werden durch Sie bestätigt.« »Also gut. Die Girlande ist wieder eine Requisite, Show,
Ironie. Seine Opfer sind Geschenke, die er sich selber macht. Das Weihnachtsthema könnte eine persönliche Bedeutung für ihn haben, vielleicht aber ist es lediglich ein Symbol.« »Weshalb hat er Marianna Hawleys Weihnachtsbaum und Weihnachtsschmuck zerstört?« Als Mira eine Braue hochzog, gab sich Eve mit einem Schulterzucken selbst die Antwort: »Mit dem Baum zerstört er das Symbol des Festes, und durch das Zerbrechen des Engelschmucks löscht er die Symbole der Reinheit und der Unschuld aus.« »Das würde zu ihm passen.« »Und weshalb der Schmuck und die Tattoos?« »Er ist eine romantische Natur.« »Eine romantische Natur?« »Ja, er ist äußerst romantisch veranlagt. Er kennzeichnet seine Opfer als seine große Liebe, hinterlässt ihnen ein Geschenk, nimmt sich die Zeit und macht sich die Mühe, sie extra schön zu machen, bevor er sie verlässt. Ohne diesen Aufwand wären sie ein unwürdiges Präsent.« »Hat er sie gekannt?« »Ich denke, ja. Ob sie ihn kannten, ist eine andere Sache. Doch er hat sie gekannt, hat sie beobachtet, hat sie ausgewählt und, solange sie in seiner Gewalt waren, als seine große Liebe angesehen. Er hat sie nicht verstümmelt«, fügte sie hinzu und beugte sich ein wenig vor. »Er hat sie verschönert und geschmückt. Künstlerisch, sozusagen mit einer Form von Liebe. Aber dann ist er
fertig, besprüht den toten Körper mit Desinfektionsmittel, wäscht sich selbst von Kopf bis Fuß, löscht die Verbindung zwischen ihnen dadurch aus und geht jubelnd aus der Wohnung. Er hat gewonnen. Und es ist an der Zeit, mit der Vorbereitung für den nächsten Mordzug zu beginnen.« »Hawley und Greenbalm sahen völlig unterschiedlich aus und hatten weder in Bezug auf ihren Lebensstil noch auf ihre Gewohnheiten noch ihre Arbeit irgendwas gemeinsam.« »Eine Gemeinsamkeit hat es gegeben«, warf die Psychologin mit ruhiger Stimme ein. »Sie waren beide zu irgendeinem Zeitpunkt einsam genug, um ein Unternehmen für seine Hilfe bei der Suche nach einem Partner zu bezahlen.« »Bei der Suche nach der großen Liebe.« Eve stellte ihre noch volle Tasse zurück auf den Tisch. »Danke.« »Ich hoffe, es geht Ihnen gut«, meinte Mira, bevor Eve sich erheben und gehen konnte. »Ich meine, hoffentlich haben Sie sich vollständig von Ihren Verletzungen erholt.« »Mir geht es gut.« Nein, dachte Mira, Ihnen geht es absolut nicht gut. »Sie haben sich innerhalb von nicht einmal drei Wochen vollständig von den schweren Verletzungen erholt?« »Mir geht es besser, wenn ich meine Arbeit tun kann.« »Ja, ich weiß, dass Sie das denken.« Mira lächelte verständnisvoll. »Sind Sie denn schon für die Feiertage gewappnet?«
Nein, Eve zuckte nicht zusammen, auch wenn ihr danach war. »Ich habe ein paar Geschenke ausgesucht.« »Etwas für Roarke zu finden ist bestimmt nicht leicht.« »Wem sagen Sie das?« »Ich bin sicher, dass Sie etwas Perfektes für ihn inden. Niemand kennt ihn besser als Sie.« »Manchmal kenne ich ihn wirklich, manchmal aber auch nicht.« Und plötzlich erklärte sie spontan: »Er ist total versessen auf Weihnachtspartys, Bäume und diesen ganzen Quatsch. Ich dachte, wir würden uns einfach irgendetwas schenken und das wäre es gewesen.« »Keiner von Ihnen beiden hat die Erinnerungen an die Kindheit, die jedem Menschen zustehen – Erinnerungen an die Aufregung und die freudige Erwartung, an Weihnachtsabende und hübsch verpackte Geschenke unter einem bunt geschmückten Baum. Ich schätze, Roarke hat nur die gute Absicht, diese Erinnerungen für Sie beide zu schaffen. Und wie ich ihn kenne«, fügte sie lachend hinzu, »werden es ganz sicher keine durchschnittlichen Erinnerungen werden.« »Ich glaube, er hat einen halben Wald für unser Haus bestellt.« »Machen Sie sich beiden das Geschenk und geben sich die Chance, sich darüber zu freuen.« »Mit einem Mann wie Roarke bleibt einem gar keine andere Wahl.« Nun stand sie endgültig auf. »Ich weiß es zu
schätzen, dass Sie sich die Zeit für mich genommen haben, Dr. Mira.« »Eins noch, Eve.« Auch die Psychologin erhob sich von ihrem Stuhl. »Er ist zu diesem Zeitpunkt für niemanden gefährlich, außer für den Menschen, auf den er es als Nächsten abgesehen hat. Er wird nicht wahllos oder ohne Plan und Ziel jemand anderen töten. Aber ich kann nicht sagen, wann sich das eventuell ändert und was den Wechsel des Verhaltensmusters auslösen könnte.« »Daran habe ich ebenfalls gedacht. Wir bleiben in Kontakt.« Als sie zu Hause ihr Büro betrat, stritten ihre beiden Helfer mal wieder leidenschaftlich. Peabody und McNab saßen Seite an Seite vor ihrem Computer und keiften sich an wie zwei alte Bulldoggen, die um denselben Knochen zankten. Normalerweise hätte Eve dieses Verhalten amüsiert, im Augenblick jedoch war es ein Ärgernis, das sie nicht brauchen konnte, und so schnauzte sie: »Ruhe. Erstatten Sie Bericht. « Als beide voller Ingrimm gleichzeitig begannen, wartete sie fünf Sekunden, bleckte ihre Zähne und brachte sie dadurch zum Verstummen. »Peabody?« Mit einem selbstzufriedenen Grinsen in Richtung ihres Feindes ing Peabody an. »Wir haben drei Namen, die sowohl auf den Vermittlungslisten stehen als auch Makeup der Reihe Natural Perfection in dem Salon geordert
haben. Zwei gehören zu Hawley und einer zu Greenbalm. Einer von Hawleys Typen und der Kerl der Greenbalm haben die gesamte Reihe und der zweite Mann von Hawleys Liste hat Eyeliner und Augenbrauenstifte sowie zwei Lippentönungen gekauft. Cupid’s Coral, der Rotton, mit dem Greenbalms Mund geschminkt war, indet sich bei allen dreien.« »Dabei gibt es ein Problem.« Wie ein Lehrer, der einen übereifrigen Schüler bremsen musste, hob McNab einen Finger in die Luft. »Sowohl der Lippenstift der Farbe Cupid’s Coral als auch die Musk-Brown-Wimperntusche werden routinemäßig als Proben an die Kundschaft des Salons verteilt. Sie selbst«, er winkte in Richtung des Tisches, auf dem die Eve geschenkten Proben lagen, »haben das Zeug hier. « »Wir können unmöglich jede blöde Probe rückverfolgen«, warf Peabody mit gereizter Stimme ein. »Wir haben drei Namen und einen geeigneten Ort, um mit der Suche zu beginnen.« »Der Lidschatten mit Namen Nebel über London, mit dem Hawley geschminkt war, ist eins der teuersten Produkte und wird nicht als Probe ausgegeben. Man bekommt ihn entweder einzeln oder wenn man die gesamte Luxus-Packung nimmt. Wenn wir die Spur des Lidschattens verfolgen, kommen wir der Sache sicher näher, als uns ausschließlich auf die anderen Sachen zu konzentrieren.« »Vielleicht hat ja der Hurensohn den Lidschatten
schlicht mitgehen lassen, als er den Rest des Zeugs gekauft hat«, iel ihm Peabody ins Wort. »Wollen Sie jetzt alle Ladendiebe in New York unter die Lupe nehmen, oder was?« »Es ist das einzige Produkt, dessen Spur sich bisher nicht zurückverfolgen lässt. Also ist es auch das Einzige, was wir finden müssen, wenn wir weiterkommen wollen.« Die beiden standen einander Nase an Nase gegenüber, und so schubste Eve sie unsanft auseinander und erklärte: »Der Nächste, der was sagt, kriegt richtig Ärger. Sie haben beide Recht. Wir werden mit den drei Männern sprechen und gleichzeitig versuchen, den Lidschatten zu inden. Peabody, besorgen Sie sich die Namen, gehen Sie runter an mein Auto und warten dort auf mich. « Peabody brauchte nichts zu sagen, denn als sie sich zum Gehen wandte, sprachen ihr kerzengerader Rücken und das Blitzen ihrer Augen Bände. Sobald sie aus dem Raum war, schob McNab genüsslich die Hände in die Hosentaschen, als er jedoch den Mund au klappte, sah er gerade noch zur rechten Zeit Peabodys Blick und klappte ihn rasch wieder zu. »Sie gehen noch einmal sämtliche Kunden und Angestellten der Vermittlungsagentur durch, inden heraus, wer den Lidschatten gekauft hat, und gucken, für wie viele andere von unserem Täter verwendete Produkte sich Käufer aus dem Umkreis dieser Firma finden. « Sie zog die Brauen in die Höhe. »Und Sie sagen, sehr wohl, Lieutenant Dallas.«
Er seufzte leise. »Sehr wohl, Lieutenant Dallas.« »Gut. Und wenn Sie schon mal dabei sind, werfen Sie einen Blick auf Pipers und Rudys Konten, und inden Sie heraus, welches ihre Lieblings-Kosmetikreihe ist.« Mit nach wie vor hochgezogenen Brauen fixierte sie ihn. Eins musste man ihm lassen, langsam war er nicht. »Sehr wohl, Lieutenant Dallas.« »Und hören Sie auf zu schmollen«, empfahl sie ihm beim Verlassen des Raums. »Weiber«, murmelte McNab, nahm aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr und entdeckte Roarke, der grinsend in der Tür zwischen den beiden Arbeitszimmern stand. »Herrliche Geschöpfe, finden Sie nicht auch?« »Aus meiner momentanen Warte nicht.« »Na ja, aber wenn Sie Ihr Produkt mit dem richtigen Namen in Verbindung bringen könnten, wären Sie ein wahrer Held.« Er schlenderte durch den Raum und schielte auf die Listen und die anderen Dokumente, von denen beide wussten, dass sie Teil einer Ermittlung waren und somit streng geheim. »Rein zufällig habe ich gerade ein, zwei Stunden frei. Kann ich Ihnen vielleicht helfen?« »Tja, ich…« McNab blickte verlegen Richtung Tür. »Vergessen Sie den Lieutenant.« Roarke nahm zufrieden vor dem Computer Platz. »Mit ihr werde ich schon fertig.«
Donnie Ray Michael trug einen verschlissenen braunen Morgenmantel und einen Nasenring aus smaragdbesetztem Silber. Er hatte trübe braune Augen, buttergelbe Haare und einen derartigen Mundgeruch, dass Eve, als er beim Betrachten ihres Dienstausweises nicht nur an einem Pickel in seiner Achselhöhle kratzte, sondern obendrein noch herzhaft gähnte, beinahe betäubt nach hinten fiel. »Was ist?« »Donnie Ray? Hätten Sie vielleicht eine Minute für uns Zeit?« »Ich habe jede Menge Minuten für euch Zeit, aber worum geht’s?« »Das werde ich Ihnen sagen, wenn wir in Ihrer Wohnung sind und Sie mit ein paar Liter Mundwasser gegurgelt haben.« »Oh.« Leicht errötend trat er einen Schritt zurück. »Ich habe geschlafen und weder mit Gästen noch mit der Polizei gerechnet.« Trotzdem winkte er sie herein und verschwand den kurzen Korridor hinunter ins Bad. Mit den überall verstreuten Kleidern, den leeren und halb leeren Essenskartons, den überquellenden Aschenbechern und den auf dem Boden verstreuten Disketten wirkte seine Wohnung wie ein durchschnittlicher Schweinestall. Das Saxophon jedoch, das in der Ecke hinter dem durchgesessenen Sofa neben einem Notenständer lehnte, wirkte frisch poliert.
Eve sog den Geruch uralter Zwiebeln und eines illegalen Rauschmittels in ihre Lungen ein und erklärte ihrer Assistentin: »Wenn wir beschließen würden, die Wohnung zu durchsuchen, hätten wir dazu sicher allen Grund.« »Welchen? Den Verdacht auf illegale Lagerung von Giftmüll?« »Das auch.« Eve schob mit der Spitze ihres Stiefels eine alte Unterhose an die Seite. »Aber ich meine den Konsum v o n Zoner, wahrscheinlich, damit er abends besser schlafen kann. Man kann es riechen.« Peabody begann zu schnüffeln. »Ich rieche nur Schweiß und Zwiebeln.« »Trotzdem hängt der Geruch in der Luft.« Donnie Ray kam mit etwas klareren Augen und einem vom Kontakt mit kaltem Wasser geröteten, noch feuchten Gesicht aus dem Badezimmer zurück. »Tut mir Leid, dass es hier so aussieht. Der Haushaltsdroide ist schon seit einer halben Ewigkeit kaputt. Also, worum geht’s?« »Kennen Sie eine gewisse Marianna Hawley?« »Marianna?« Er runzelte nachdenklich die Stirn. »Keine Ahnung. Sollte ich sie kennen?« »Sie haben ihre Bekanntschaft über eine Vermittlungsagentur mit Namen Personally Yours gemacht.« »Ach, das.« Er schob mit dem Fuß ein paar
Kleidungsstücke an die Seite und warf sich in einen Sessel. »Ja, ich habe den Laden vor ein paar Monaten mal ausprobiert. Irgendwie wollte nichts von selber laufen.« Er lächelte ein wenig und zuckte mit den Schultern. »Marianna. War sie groß und rothaarig – nein, das war Tanya. Wir haben uns ziemlich gut verstanden, aber dann ist sie nach Albuquerque gezogen, ausgerechnet Albuquerque. Ich meine, was ist denn dort schon los?« »Marianna, Donnie Ray. Schlank, brünett, mit grünen Augen.« »Ja, ja, jetzt kann ich mich erinnern. Sie war wirklich süß. Aber irgendwie hat’s nicht geschnackelt. Sie war eher so was wie eine Schwester. Sie kam in den Club, in dem ich spiele, hat mir zugehört, und wir haben was miteinander getrunken. Und?« »Gucken Sie jemals fern oder lesen Sie die Zeitung?« »Nicht, wenn ich eine feste Arbeit habe. Im Moment bin ich mit einer Band unten im Empire engagiert. In den letzten drei Wochen habe ich dort regelmäßig von zehn bis vier gespielt.« »Sieben Abende die Woche?« »Nein, fünf. Wenn man jeden Abend spielt, verliert man irgendwann den Schwung.« »Wie ist es mit dienstags?« »Montags und dienstags habe ich frei.« Allmählich waren seine Augen klar, und er wurde argwöhnisch. »Weshalb wollen Sie das alles wissen?«
»Marianna Hawley wurde Dienstagabend ermordet. Haben Sie für die Zeit von neun bis zwölf zufällig ein Alibi?« »Oh, Scheiße. Scheiße. Ermordet. Himmel.« Er sprang auf und stolperte elend durch den Müll. »Mann, das tut wirklich weh. Sie war ein echtes Schätzchen.« »Hätten Sie sie sich als Ihr Schätzchen gewünscht? Als Ihre große Liebe?« Er hielt im Stolpern inne. Eve fand es interessant, dass er weder zornig noch verängstigt wirkte, sondern einzig traurig. »Hören Sie, ich habe an einem Abend ein paar Drinks mit ihr genommen. Wir haben uns miteinander unterhalten, und ich habe versucht, sie davon zu überzeugen, dass ein bisschen Spaß nicht schlimm ist, aber für so was war sie nicht zu haben. Ich habe sie gemocht. Sie war einer dieser Menschen, die man einfach mögen muss.« Er presste sich zwei Finger vor die Augen. »Das ist, verdammt, mindestens sechs Monate her. Seither habe ich sie nicht noch mal gesehen. Was ist mit ihr passiert?« »Dienstagabend, Donnie Ray.« »Dienstag?« Er fuhr sich mit den Händen übers Gesicht. »Ich weiß nicht. Himmel, wer kann sich an so etwas erinnern? Wahrscheinlich war ich in irgendeinem Club. Lassen Sie mich überlegen.« Er schloss die Augen und atmete ein paar Mal mühsam durch. »Dienstag war ich im Crazy Charlie’s und habe mir
diese neue Gruppe angehört.« »Waren Sie dort mit irgendwem zusammen?« »Ich bin mit ein paar Kumpels losgezogen, aber kann mich nicht erinnern, wer alles von uns noch mit ins Crazy gegangen ist. Bis ich dort war, war ich schon ziemlich voll.« »Erzählen Sie mir, Donnie Ray, zu welchem Zweck haben Sie die gesamte Natural-Perfection-Produktreihe gekauft? Sie sehen nicht so aus, als würden Sie sich regelmäßig schminken.« »Was?« Verwirrt sank er zurück in seinen Sessel. »Was in aller Welt ist Natural Perfection?« »Das sollten Sie wissen. Schließlich haben Sie über zweitausend Dollar für das Zeug auf den Tisch gelegt. Kosmetik, Donnie Ray. Make-up.« »Kosmetik.« Diesmal raufte er sich so lange die Haare, bis sie von seinem Kopf abstanden wie die Stachel eines Igels. »Oh, Scheiße, ja, genau. Dieses sündhaft teure Zeug. Es war für den Geburtstag meiner Mutter. Ich habe ihr das Zeug als Geburtstagsgeschenk gekauft.« »Sie haben zwei Riesen für das Geburtstagsgeschenk für Ihre Mutter ausgegeben?« Eve blickte sich mit unverhohlenem Zweifel in dem voll gestopften, dreckstarrenden Zimmer um. »Meine Mutter ist ein Schatz. Mein Alter hat uns sitzen lassen, als ich noch ein kleines Kind war, und sie hat geschuftet wie ein Pferd, damit ich ein Dach über dem Kopf behalte, und mir sogar noch den Musikunterricht bezahlt.«
Er nickte in Richtung seines Instruments. »Ich verdiene mit dem Spielen wirklich gut. Und jetzt zahle ich für sie das Dach über dem Kopf. Sie hat drüben in Connecticut ein anständiges Haus in einer anständigen Umgebung. Das hier…«, er machte eine wegwerfende Geste bezüglich seiner eigenen Behausung, »das hier ist mir völlig egal. Ich bin normalerweise eh fast nur zum Schlafen da.« »Dann könnte ich also problemlos auf der Stelle Ihre Mutter anrufen und fragen, was für ein Geschenk sie zu ihrem letzten Geburtstag von ihrem lieben Sohn bekommen hat?« »Ja, sicher.« Ohne zu zögern wies er zu dem auf einem Tisch stehenden Link. »Ihre Nummer ist gespeichert. Tun Sie mir nur bitte den Gefallen, und sagen Sie ihr nicht, dass Sie von der Polizei sind. Dann macht sie sich nämlich garantiert Sorgen. Sagen Sie, Sie führen eine Befragung zu den Produkten durch oder sonst was, worüber sie sich keine Gedanken machen muss.« »Peabody, ziehen Sie die Uniformjacke aus, und rufen Sie Donnie Rays Mutter an.« Eve setzte sich so auf eine Sessellehne, dass man sie auf dem Monitor nicht sah. »Und b e i Personally Yours hat Rudy Ihr Persönlichkeitspro il erstellt?« »Nein, das heißt, am Anfang habe ich mit ihm gesprochen. Ich hatte das Gefühl, dass er sich zu Beginn mit jedem unterhält. Die eigentliche Befragung aber macht dann jemand anders. Was haben Sie für Hobbys, was haben Sie für Träume, was ist Ihre Lieblingsfarbe.
Außerdem muss man sich ärztlich untersuchen lassen, um sicherzugehen, dass man keine ansteckende Krankheit oder so was hat. « »Und die Untersuchung hat keinen Nachweis über Spuren von Zoner in Ihrem Blut erbracht?« Er besaß den Anstand zu erröten. »Nein. Ich war vollkommen sauber. « »Ich wette, Ihre Mutter würde wollen, dass es auch so bleibt.« »Ms. Michael hat von ihrem Sohn zum Geburtstag die g e s a m t e Natural-Perfection-Produktreihe bekommen.« Peabody zog ihre Jacke wieder an und bedachte Donnie Ray mit einem Lächeln. »Sie hat sich wirklich über das Geschenk gefreut.« »Sie ist hübsch, nicht wahr?« »Ja, das ist sie.« »Sie ist die Allerbeste.« »Das hat Sie von Ihnen ebenfalls gesagt.« »Als Weihnachtsgeschenk habe ich Diamantohrringe für sie gekauft. Tja, eigentlich sind es nur kleine Splitter, aber mehr fände sie übertrieben.« Nachdem er Eves Assistentin nun ohne die steife Jacke gesehen hatte, musterte er sie interessiert. »Gehen Sie ab und zu ins Empire?« »Bis jetzt noch nicht.«
»Sie sollten mal vorbeischauen. Wir spielen echt gut.« »Vielleicht mache ich das.« Als sie jedoch Eves Blick bemerkte, räusperte sie sich und sagte mit geschäftsmäßiger Stimme: »Vielen Dank für Ihre Kooperation, Mr. Michael.« »Tun Sie Ihrer Mutter einen Gefallen«, meinte Eve beim Gehen. »Schaffen Sie den Müll aus Ihrer Wohnung, und schmeißen Sie die Drogen gleich dazu.« »Ja, sicher.« Mit einem letzten verführerischen Zwinkern in Richtung ihrer Assistentin schloss Donnie Ray die Tür. »Es widerspricht den Grundregeln des Anstands, mit Verdächtigen zu flirten, Officer Peabody.« »Er ist nicht wirklich verdächtig«, antwortete diese und warf dabei einen letzten Blick über die Schulter. »Und er ist echt süß.« »Er ist so lange verdächtig, bis sein Alibi von irgendwem bestätigt worden ist. Und er ist ein Schwein.« »Aber, wie gesagt, ein echt süßes.« »Wir müssen noch zwei weitere Gespräche führen. Bringen Sie also bitte Ihre Hormone rechtzeitig unter Kontrolle.« »Wird gemacht.« Sie seufzte, als sie sich in den Wagen setzte, leise auf. »Allerdings ist es eindeutig schöner, wenn man sie nicht kontrollieren muss.«
7 Fast den ganzen Tag mit Gesprächen zu verbringen, ohne dabei auch nur den geringsten Durchbruch zu erzielen, versetzte Eve in ziemlich schlechte Laune. Als sie nach ihrer Heimkehr zudem merkte, dass McNab schon nicht mehr da war, verdüsterte sich ihre Stimmung noch mehr. Es war wirklich Glück für ihn, dass er zumindest eine Nachricht und einen Teil seiner Pizza zurückgelassen hatte, dachte sie erbost. »Lieutenant. Ich habe mich um sechzehn Uhr fünfundvierzig aus dem Computer ausgeklinkt. Die Listen der Namen und Produkte inden Sie in der Falldatei unter der Bezeichnung B für Beweismittel 2A. Ein paar Dinge dürften Sie interessieren. Sowohl Piper als auch Rudy benutzen den fraglichen Lidschatten, und Piper nimmt auch den Lippenstift, der von unserem Täter verwendet worden ist. Übrigens schwimmen die beiden regelrecht im Geld. Nicht, dass sie Roarke das Wasser reichen könnten, aber trotzdem leiden sie absolut keinen Mangel. Außerdem ist interessant, dass sämtliche Konten ausnahmslos auf ihrer beider Namen laufen. Den genauen Bericht finden Sie in der Datei.« Alle Konten liefen auf beide Namen, überlegte Eve. Sie hatte den Eindruck gehabt, Rudy führe die Geschäfte. Immer war Rudy es gewesen, der Entscheidungen getroffen und den Computer bedient hatte, als sie dort
gewesen war. Daraus ließ sich schließen, dass auch die Verwaltung des Geldes ihm alleine zufiel. Er hatte garantiert die alleinige Kontrolle. Er hatte die Macht. Er hätte auch die Mittel und die Möglichkeit gehabt, die Morde zu begehen. »Bei dem Lidschatten habe ich noch einen Treffer gelandet«, fuhr McNabs Stimme fort. »Und bei der Lippentönung zwei, wobei ein gewisser Charles Monroe beide Produkte gleichzeitig erstanden hat. Bei der ersten Durchsicht ist er mir nicht aufgefallen, weil er bei der Bestellung einen anderen Namen angegeben hat. Ein Pro il von diesem Monroe habe ich beigefügt.« Eve runzelte die Stirn. Auch wenn sie instinktiv eher Rudy für verdächtig hielt, bliebe ihr ein Gespräch mit dem guten Charles Monroe anscheinend nicht länger erspart. Sie lugte über die Schulter und sah, dass die rote Lampe über der Verbindungstür zum Arbeitszimmer ihres Gatten brannte. Wenn er beschäftigt war, wäre dies ein guter Zeitpunkt, um sich vor Wiederaufnahme der Arbeit um eine persönliche Angelegenheit zu kümmern. Sie stieg die Treppe hinunter in Richtung der Bibliothek. An den Wänden des zweigeschossigen Raumes waren bis hinauf zur Decke Bücher aufgereiht. Es verblüffte sie immer wieder, dass ein Mann, der mit einem Fingerschnipsen einen kleinen Planeten kaufen konnte, lieber ein schweres, unhandliches Buch zur Hand nahm, statt sich bequem vor einen Monitor zu setzen und zu
lesen. Eine seiner Grillen, nahm sie an, obgleich ihr der reiche Lederduft der Deckel und der Anblick der schimmernden Buchrücken in den Regalen aus dunklem Mahagoni durchaus ebenfalls gefielen. Es gab zwei großzügige Sitzbereiche mit burgunderroten Ledersofas, Lampen aus Messing und diamantblitzendem Glas und reich von Schreinern eines vergangenen Jahrhunderts verzierten Schränken aus blank poliertem Holz. Vor dem breiten Fenster fand sich eine bequeme, mit dicken Polstern in den Farben der Lampenschirme ausgelegte Marmorbank, und auf dem frisch gewienerten Kastanienparkett lagen riesengroße alte Teppiche mit komplizierten Mustern auf dunkelrotem Grund. Sie wusste, dass sich in dem antiken Schrank eine hochmoderne Multifunktions-Computeranlage verbarg. Doch alles, was man sah, verriet Alter, Reichtum und einen erlesenen Geschmack. Sie kam nicht oft in diesen Raum, wusste jedoch, dass Roarke mit Vorliebe hier saß. Oft fand sie ihn abends mit ausgestreckten Beinen in einem der Ledersessel vor, neben sich ein Glas Brandy, ein Buch in seiner Hand. Lesen entspannte ihn, hatte er ihr erklärt. Sie wusste, er hatte sich das Lesen als Junge in den Slums von Dublin selber beigebracht, als er über einen zer ledderten Band von Yeats gestolpert war.
Sie trat vor den Schrank und öffnete die mit Lapislazuliund Malachit-Einlegearbeiten elegant verzierte Tür. »Computer an«, befahl sie und blickte vorsichtig über die Schulter. »Ich brauche eine Liste sämtlicher in der Bibliothek befindlicher Werke von Yeats.« Yeats, Elizabeth oder Yeats, William Butler? Sie runzelte die Stirn und raufte sich die Haare. »Woher zum Teufel soll ich das bitte wissen? Irgendein irischer Dichter. « Yeats, William Butler. Suche … Die Wanderungen Oisins, Abschnitt D, Regal fünf. Gräfin Cathleen, Abschnitt D »Sekunde mal.« Sie kniff sich in die Nase. »Suche ändern. Ich muss wissen, welche Bücher von diesem Typen nicht hier in der Bibliothek sind.« Änderung… Suche… Wahrscheinlich hatte er sowieso schon jedes einzelne verdammte Werk von diesem Typen. Blöde Idee, dachte sie, stopfte die Hände in die Taschen ihrer Jeans… »Lieutenant.« Und hätte vor Schreck beinahe geschrien. Sie wirbelte herum und starrte den Butler ihres Mannes zornig an. »Was ist? Verdammt, ich hasse es, wenn Sie das tun.« Er sah sie ungerührt an. Er wusste, dass sie es hasste, wenn er sich lautlos an sie heranschlich. Weshalb er es umso lieber tat. »Darf ich Ihnen bei der Suche helfen – auch wenn mir bisher nicht bewusst war, dass Sie etwas
anderes als Polizeiberichte und ab und zu eine Diskette über Verhaltensauffälligkeiten lesen.« »Hör zu, Kumpel, ich habe jedes Recht, in diesem Raum zu sein.« Was nicht erklärte, weshalb sie sich fühlte, als wäre sie eine kleine Diebin und als hätte man sie bei einem Einbruch überrascht. »Und ich brauche keine Hilfe.« Die Bibliothek verfügt über sämtliche Werke des Autors William Butler Yeats. Brauchen Sie die genauen Standorte und Titel? »Nein, verdammt. Habe ich es doch gewusst.« »Yeats, Lieutenant?« Neugierig betrat Summerset den Raum. Dicht hinter ihm kam Galahad, der zu Eve hinübertrottete, sich zwischen ihren Beinen durchwob und sie dann wieder verließ, um auf die Bank zu springen und in die Nacht hinauszustarren, als wäre sie sein ganz persönlicher Besitz. »Na und?« Statt einer Antwort zog er lediglich die Brauen in die Höhe. »Interessieren Sie sich für ein bestimmtes Schauspiel, eine Sammlung oder ein spezielles Gedicht?« »Was sind Sie, die Bibliotheksaufsicht?« »Diese Bücher sind sehr wertvoll«, erwiderte er kühl. »Viele sind Erstausgaben und somit sehr selten. Sie inden sämtliche Werke von Yeats auch auf Diskette. Das wäre für Sie bestimmt die bessere Methode.« »Ich will das verdammte Zeug nicht lesen. Ich wollte
nur sehen, ob es etwas gibt, was er noch nicht besitzt, was völlig dämlich war, weil er einfach alles hat. Was zum Teufel soll ich also tun?« »In welcher Beziehung?« »In Bezug auf Weihnachten, Sie Ochse.« Wütend wandte sie sich an den Computer. »Aus.« Summerset spitzte die Lippen und dachte nach. »Sie wollten Roarke ein Werk von Yeats zu Weihnachten schenken.« »Das war meine Idee, aber sie war, wie gesagt, halt idiotisch.« »Lieutenant«, hielt er sie zurück, als sie aus dem Zimmer stürmen wollte. »Was?« Es störte ihn, wenn sie etwas sagte oder tat, was er als anrührend empfand. Doch es ließ sich nun einmal nicht ändern. Und er war ihr etwas schuldig dafür, dass sie, um sein Leben zu retten, das ihre fast verloren hätte. Diese Tatsache, wusste Summerset, rief in ihnen beiden ein gewisses Unbehagen wach. Doch vielleicht war jetzt die Chance gekommen, sich, wenn auch in bescheidenem Maß, bei ihr zu revanchieren. »Was ihm bisher fehlt, ist eine Erstausgabe des Celtic Twilight. « Der rebellische Blick entschwand aus ihren Augen, auch wenn ein gewisser Argwohn blieb. »Was ist das?«
»Eine Prosasammlung.« »Von diesem Yeats?« »Ja.« Ein Teil von ihr, ein kleiner, gehässiger Teil, wollte mit den Schultern zucken und sich zum Gehen wenden, doch heroisch stopfte sie abermals die Hände in die Hosentaschen und blieb stehen. »Der Computer hat gesagt, er hätte alles.« »Er besitzt das Buch, aber nicht als Erstausgabe. Yeats ist für Roarke von besonderer Bedeutung. Ich nehme an, das ist Ihnen bekannt. Ich habe Kontakte zu einem Antiquariat in Dublin. Ich könnte den Eigentümer kontaktieren und sehen, ob er den Band besorgen kann.« »Aber nicht stehlen, sondern kaufen«, erklärte Eve honigsüß und verzog den Mund zu einem schmalen Lächeln, als sie sah, wie Summerset erstarrte. »Ich kann mir denken, was Sie für Beziehungen haben. Aber diese Sache bleibt legal.« »Ich hätte niemals etwas anderes im Sinn gehabt. Aber es wird sicher nicht billig werden.« Jetzt war die Reihe an ihm, ebenso giftig zu lächeln. »Und da Sie bis zur letzten Minute gewartet haben, wird ohne jeden Zweifel noch ein Zuschlag fällig werden, um das Buch rechtzeitig bis Weihnachten zu kriegen.« Nein, sie würde sich keine Blöße geben, nicht vor diesem widerlichen Kerl. »Wenn Ihr Verbindungsmann das Buch bekommt, will ich es haben.« Dann zuckte sie, da ihr
nichts anderes übrig blieb, möglichst lässig mit den Schultern. »Danke.« Er nickte und wartete mit seinem Grinsen, bis sie den Raum verlassen hatte. Das hier, dachte Eve, war es, was einem passierte, wenn man liebte. Man musste mit dem nervtötendsten Wesen kooperieren, das man kannte. Und, dachte sie säuerlich, während sie den Lift zu ihrem Schlafzimmer nahm, wenn dieser knochige Hurensohn das Buch wirklich beschaffte, wäre sie ihm etwas schuldig. Wie peinlich. Da ging die Tür des Fahrstuhls erneut auf, und vor ihr stand Roarke mit diesem Gesicht eines verlorenen Engels, seinem halben Lächeln und seinen blitzenden, unglaublich blauen Augen. Was war schon ein bisschen Peinlichkeit, wenn sich diesem Mann dadurch eine Freude bereiten ließ? »Ich wusste gar nicht, dass du schon zurück bist.« »Ja, ich hatte… noch zu tun.« Sie legte den Kopf auf die Seite. Den Blick kannte sie! »Weshalb siehst du so schrecklich selbstzufrieden aus?« Er nahm ihre Hand und zog sie ins Schlafzimmer. »Na, wie gefällt er dir?«, fragte er und deutete zu der am Ende des Raums be indlichen Plattform, auf der sich ihr Bett befand. Direkt daneben stand ein Baum, dessen Äste sich weit in den Raum erstreckten, und dessen Spitze fast die Decke erreichte.
Sie starrte blinzelnd auf die Tanne. »Ziemlich groß.« »Dann hast du eindeutig noch nicht den Baum im Wohnzimmer gesehen. Im Vergleich dazu ist dieser hier nämlich eher klein.« Vorsichtig trat sie näher. Der Baum maß mindestens drei Meter. Wenn er umkippte, während sie schliefen, würden sie wie zwei Ameisen zerquetscht. »Ich hoffe, er ist gesichert«, stellte sie schnuppernd fest. »Hier drinnen riecht es wie in einem Wald. Ich schätze, wir hängen auch noch irgendwelche Sachen daran auf?« »Genau das habe ich vor.« Er legte die Arme um ihre schmale Taille und zog sie mit dem Rücken an seine breite Brust. »Um die Beleuchtung kümmere ich mich nachher.« »Du?« »Das ist ja wohl Männerarbeit«, erklärte er und nagte sanft an ihrem Nacken. »Wer sagt denn so was?« »Alle Frauen, die in den letzten Jahrhunderten vernünftig genug waren, sich nicht damit auseinander setzen zu wollen. Also, Lieutenant, hast du deinen Dienst beendet?« »Ich hatte gedacht, ich hole mir etwas zu essen und stelle anschließend noch ein paar Wahrscheinlichkeitsberechnungen an.« Sein Mund glitt über ihren Hals, und sie dachte, dass er wirklich interessante Dinge mit ihrem Ohrläppchen anzustellen
verstand. »Und dann will ich noch nachschauen, ob Mira mir ihr Täterprofil geschickt hat. « Ihre Augen waren bereits halb geschlossen, als sie den Kopf schräg legte, damit er besser an ihr Ohr kam, und als seine Hände über ihre Brüste strichen, wurden ihre Gedanken in einen wunderbaren warmen Nebel eingehüllt. »Dann muss ich noch einen Bericht schreiben.« Seine Daumen zogen sanft an ihren Nippeln und sandten einen Hitzestrahl in Richtung ihres Bauchs. »Aber ich denke, dass ich eine Stunde für dich erübrigen kann«, murmelte sie, drehte sich zu ihm herum, vergrub die Hände in seinen dichten schwarzen Haaren und dirigierte seine straffen Lippen auf ihren vollen Mund. »Komm mit.« Aus seiner Kehle drang ein leises Summen, und seine Hände fuhren über ihren Rücken zu ihrem Hintern. »Wohin?« Er biss ihr in die Unterlippe. »An den Ort, an den ich dich verschleppe.« Er führte sie zurück zum Fahrstuhl, sagte: »Hologramm-Raum«, presste sie in eine Ecke und brachte sie durch einen langen Kuss kurzfristig zum Verstummen. »Was stimmt denn nicht mit unserem Schlafzimmer?«, wollte sie trotzdem von ihm wissen, als sie wieder Luft bekam. »Mir schwebt für heute Abend etwas anderes vor.«
Ohne sie aus den Augen zu lassen, schob er sie durch die Tür. »Programm an.« In dem großen, leeren Raum mit den schwarzen Spiegelwänden begann es zu limmern, Eve roch leicht süßlichen Rauch sowie den Duft würziger Blumen, das Licht wurde schwächer, und vor ihren Augen formten sich langsam die ersten Bilder. In einem großen steinernen Kamin prasselte ein Feuer. Durch ein riesiges Panoramafenster sah man auf ein von fedrig weißem, im Mond eisig schimmerndem Schnee bedecktes stahlblaues Gebirge. Auf dem Boden standen große Kupferurnen voller weißer und rostfarbener Blumen, und die lackernden Flammen von hunderten schneeweißen, in blank polierten Messingständern verteilten Kerzen tauchten die Umgebung in ein wunderschönes heimeliges Licht. Der verspiegelte Boden wurde zu dunklem, beinahe schwarzem, matt glänzendem Holz. Beherrscht wurde der Raum von einem King-Size-Bett mit Kopf- und Fußteilen aus kompliziert geschwungenem, dünnem Messing, einer goldfarbenen Decke, die so dick war, als könne man in ihr ertrinken, und Dutzenden von Kissen in den Farben kostbaren Gesteins. Und über allem waren eimerweise weiße Rosenblütenblätter verstreut. »Wow.« Der Ausblick durch das Fenster auf die blendend weißen Berge mit den hoch aufragenden Gipfeln schnürte ihr die Kehle zu. »Was ist das?«
»Eine Simulation der Schweizer Alpen.« Eine seiner größten Freuden war, ihre Reaktion auf etwas bisher Unbekanntes zu erleben. Der anfängliche Argwohn stammte von der Polizistin, die langsam erwachende Freude hingegen von der Frau. »Bisher ist es mir nicht gelungen, sie mir mit dir gemeinsam in natura anzusehen. Also dachte ich, ich besorge uns zumindest das Hologramm eines Chalets.« Er griff nach einer über einem Stuhl drapierten Robe und hielt sie ihr hin. »Warum ziehst du das nicht an?« Sie nahm sie in die Hand und runzelte die Stirn. »Was ist denn das?« »Ein Morgenmantel.« Sie rollte mit den Augen. »Das weiß ich. Ich meine, was ist das für ein Material? Nerz?« »Zobel.« Er trat näher auf sie zu. »Lässt du mich dir helfen?« »Du bist wirklich gut aufgelegt, oder?«, murmelte sie, als er sich an den Knöpfen ihres Hemds zu schaffen machte. Seine Hände strichen über ihre nackten Arme. »Sieht ganz so aus. Vor allem bin ich in der Stimmung, meine Gattin zu verführen. Und zwar möglichst langsam.« Ihr Verlangen war bereits entfacht. »Ich brauche keine Verführung.« Er presste einen Kuss auf ihre Schulter. »Aber ich. Setz
dich.« Er drückte sie in einen Sessel, um ihr die Stiefel auszuziehen, stützte beide Arme auf die Lehnen, beugte sich zu ihr herab und küsste sie warm und zärtlich auf den Mund. Weich glitt seine Zunge über ihre Lippen, sanft nagten seine Zähne, bis ihre Muskeln bebten und erschlafften und sie sich ihm ergab. Er zog sie erneut auf die Füße und öffnete den Haken ihrer Hose. »Ich kann einfach nie genug von dir bekommen.« Seine Finger strichen über ihre Hüfte, und die Hose sank zu Boden. »Meine Liebe zu dir wird zunehmend größer, wird einfach immer mehr.« Sie lehnte sich an seine Brust und vergrub ihr Gesicht in seinem vollen Haar. »Seit ich dich kenne, ist für mich alles anders.« Es war ihm eine Freude, sie nur zu halten. Dann jedoch bückte er sich nach der Robe und legte sie ihr zärtlich um die Schultern. »Das ist es auch für mich.« Er zog sie eng an seine Brust, trug sie zum Bett. Und sie schmiegte sich wohlig an ihn. Sie wusste, wie es würde. Überwältigend. Beunruhigend. Und herrlich. Inzwischen brauchte sie all die Gefühle, die er in ihr wach rief, und die Nähe seines Leibes wie die Luft zum Atmen. Dieses Bedürfnis kam ganz automatisch, und wenn er es nicht erfüllte, wäre das ihr Tod.
Es gab nichts, was sie nicht geben oder nehmen konnte, wenn ihre Körper miteinander verschmolzen. Tief in das Federbett vergraben, küsste sie ihn selig auf den Mund und genoss die Hitze ihres Bluts. Stöhnend zerrte sie an seinem Hemd, half ihm dabei, es abzustreifen, und traf endlich auf seine nackte Haut. Die Berührung ihrer beider Leiber, ein gemächliches Herumrollen, ein unterdrücktes Stöhnen, die Seide der Blütenblätter, der Satin der Decke, das Spiel von seinen Muskeln unter ihren Händen – all dies ergab eine exotische, betörende Mixtur. Das Hüpfen ihres Herzens, das köstliche Erschaudern ihres Körpers, der leise Seufzer aus ihrem Mund, das Flackern der Kerzen, das Silberlicht des Mondes, der goldene Schein des Feuers verschmolzen zu einer wunderbaren Glut. Sie kostete und wurde gekostet. Berührte und wurde berührt. Erregte und wurde erregt. Bis sie ihren ersten Höhepunkt erreichte. Er spürte, wie sie erbebte und dann ermattet in sich zusammensank. Gemeinsam rollten sie über das Bett, berührten einander weiter, schmiegten ihre Körper aneinander. Die Lichter tanzten über ihr Gesicht, ihr Haar und ihre leuchtend bernsteinbraunen Augen. Augen, die, als er sich behutsam, aber tief in sie hineinschob, glasig wurden, bevor sie nochmals kam. Ihre starken, zupackenden, ihm wunderbar vertrauten Hände wanderten liebevoll und zielsicher über seine Haut.
Er begann zu keuchen, und das Verlangen toste wie Donnerhall durch seine Adern. Wärme steigerte sich zu Hitze, die sich wie in grellen Blitzschlägen entlud. Dann schob sie ihren schmalen, im Spiel von Licht und Schatten silbrigen Körper auf ihn, setzte sich und nahm ihn mit einem kehlig-dunklen Knurren in sich auf. Als sich seine Finger in ihre Hüften gruben, warf sie ihren Kopf nach hinten und bewegte sich mit geschlossenen Augen keuchend auf und ab. Schließlich zog sie sich so eng es ging innerlich um ihn zusammen und sackte, als er sich ihr entgegenreckte und begierig an einem ihrer Nippel sog, ermattet auf seine Brust. Verloren in seinem Verlangen, rollte er sich über sie und rammte seinen Schwanz mit einer solchen Gier und einer solchen Wildheit in sie hinein, dass sie ihre Finger um die dünnen Stäbe des Kopfteils krallte und sich wie eine Ertrinkende dort festhielt. Als er ihre Knie nach hinten schob, um noch tiefer in sie eindringen zu können, schrie sie in seliger Verzückung heiser auf. Jetzt erst presste er seinen Mund auf ihre Lippen und überließ sich seinem gewaltigen Orgasmus. Sie war einzig mit Rosenblütenblättern bedeckt, und ihre schlanken, straffen Muskeln fühlten sich genauso lüssig an wie das sich in kleinen Pfützen unter den Kerzen sammelnde duftende weiße Wachs tatsächlich war. Als ihr Keuchen verebbte, nagte Roarke an ihrer
Schulter, kletterte aus dem Bett, holte ihre Robe und hüllte sie darin ein. Aus ihrer Kehle tönte ein mattes Grummeln. Belustigt und erfreut, weil sie zu keiner anderen Antwort fähig war, ging er durch das Zimmer, ließ Wasser in den Whirlpool laufen, öffnete eine Flasche Champagner, stellte sie in den Eiskübel und hob seine wehrlose Gattin aus dem Bett. »Ich habe nicht geschlafen«, behauptete sie so eifrig, dass sie damit eindeutig verriet, eingeschlafen zu sein. »Morgen früh wirst du mir Vorhaltungen machen, wenn ich dich einfach schlafen lasse und du nicht mehr zu deiner Wahrscheinlichkeitsberechnung kommst.« Mit diesen Worten versenkte er sie in das dampfend heiße Nass. Nach einem kurzen Aufschrei begann sie vor lauter Glück zu stöhnen. »O Gott. Ich könnte die ganze nächste Woche nur hier in dieser Wanne sitzen.« »Nimm dir ein paar Tage frei, und wir fahren wirklich in die Alpen, und du kannst dort in einer Wanne sitzen, bis du eine große pinkfarbene Falte bist.« Er hätte tatsächlich gerne eine Reise mit ihr unternommen, um dafür zu sorgen, dass sie von ihrer Verletzung vollständig genas. Doch die Chancen, dass ihm das gelänge, standen ungefähr so gut, wie sie dazu zu überreden, Summerset zu küssen. Bereits der Gedanke brachte ihn zum Grinsen.
»Was ist?«, fragte sie schläfrig. »Ich habe nur gerade an etwas Unterhaltsames gedacht.« Er reichte ihr eine Champagner löte und stieg mit seinem eigenen Glas zu ihr in die Wanne. »Ich muss noch arbeiten.« »Ich weiß.« Er seufzte wohlig auf. »Zehn Minuten.« Die Mischung aus heißem Wasser und eiskaltem Champagner war einfach zu gut, um ihr zu widerstehen. »Weißt du, bevor ich dich kannte, bestanden meine Pausen aus einer Tasse widerlichem Kaffee und… einer Tasse widerlichem Kaffee.« »Ich weiß, und das ist auch jetzt noch allzu oft der Fall. Das hier«, meinte er und sank ein wenig tiefer, »lädt die Batterien deutlich besser auf.« »Da kann ich dir nicht widersprechen.« Sie streckte ein Bein in die Luft und betrachtete zufrieden ihre Zehen. »Ich glaube nicht, dass er mir viel Zeit lässt. Schließlich hat er sich selbst einen Termin für das Ende seiner Mordserie gesetzt.« »Wie viel hast du bisher rausgefunden?« »Nicht genug. Nicht annähernd genug.« »Du wirst mehr heraus inden. Ich habe nie eine bessere Polizistin als dich kennen gelernt. Und ich kenne jede Menge.« Sie blickte stirnrunzelnd in ihr Glas. »Bisher handelt er
nicht aus Zorn. Er handelt nicht aus Gewinnsucht und soweit ich weiß, auch nicht aus Rache. Er wäre leichter aufzuspüren, wenn ich ihm ein Motiv anhängen könnte.« »Liebe. Wahre Liebe.« Ihr entfuhr ein leiser Fluch. »Meine große Liebe. Aber man kann doch kaum zwölf Frauen zugleich als die große Liebe sehen.« »Du bist zu rational. Du denkst, ein Mann kann nicht mehr als eine Frau mit derselben Inbrunst lieben. Doch das kann er.« »Sicher, wenn sein Herz in seinem Schwanz schlägt.« Lachend zwinkerte Roarke sie an. »Meine liebste Eve, es ist oft nicht möglich, diese beiden Dinge zu trennen. Es gibt Menschen«, fuhr er angesichts des misstrauischen Blitzens ihrer Augen fort, »für die entwickeln sich aus körperlicher Anziehung heraus automatisch andere Gefühle. Was du eventuell bisher außer Acht gelassen hast, ist, dass er vielleicht wirklich glaubt, jede dieser Frauen wäre die Liebe seines Lebens. Und wenn sie das anders sehen, bleibt ihm, um sie zu überzeugen, gar nichts anderes übrig, als sie zu ermorden.« »Daran habe ich durchaus gedacht. Aber es ist nur ein Teil des Ganzen. Er liebt, was er nicht haben kann. Und was er nicht haben kann, zerstört er.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich hasse diese gottverdammte Symbolik, mit der er seine Opfer überfrachtet. Sie lässt das Bild verschwimmen.«
»Eins muss man ihm lassen. Er ist ein wirklich guter Regisseur.« »Ja, und ich baue darauf, dass ihn seine Sucht, alles wie ein Theaterstück zu inszenieren, letztendlich zu Fall bringt. Und dann verfrachte ich unseren netten Weihnachtsmann bis an sein Lebensende hinter Gitter. So, die Zeit ist um«, erklärte sie, stieg aus der Wanne und hatte gerade ein Handtuch von der Heizung genommen, als das gedämpfte Piepsen ihres Handys an ihre Ohren drang. »Scheiße.« Tropfnass eilte sie durch den Raum, schnappte sich ihre Hose und zog den Apparat daraus hervor. »Video aus«, murmelte sie. »Dallas.« »Zentrale an Lieutenant Eve Dallas. Wir haben einen UT in 43z Houston, Appartement 6E. Bitte übernehmen Sie die Leitung der Ermittlungen.« »Zentrale.« Sie raufte sich die feuchten Haare. »Verstanden. Schicken Sie mit bitte Of icer Delia Peabody als Assistentin.« »Verstanden. Zentrale aus.« »UT?« Roarke legte ihr erneut den Morgenmantel um die Schultern. »Einen unbekannten Toten.« Sie warf das Handtuch zur Seite, bückte sich und stieg in ihre Hose. »Verdammt, gottverdammt, das ist Donnie Rays Appartement. Ich habe heute erst mit ihm gesprochen.« Donnie Ray hatte seine Mutter abgöttisch geliebt. Das
war das Erste, was Eve bei seinem Anblick dachte. Er lag, eingehüllt in eine grüne Girlande mit goldenen Tupfen, auf seinem schmuddeligen Bett. Seine buttergelben Haare waren sorgfältig gekämmt, seine Augen waren geschlossen, und seine künstlich verlängerten und in mattem Gold getönten Wimpern hoben sich wie zwei kleine Fächer von seinen Wangen ab. Seine Lippen waren ebenfalls goldfarben geschminkt, und um sein rechtes Handgelenk lag direkt über der wunden, abgeschabten Haut ein breites, mit drei plumpen Vögeln verziertes goldenes Armband. »Drei französische Hennen«, sagte Peabody in ihrem Rücken. »Scheiße, Dallas.« »Er hat das Geschlecht gewechselt, aber seine Vorgehensweise nicht verändert«, erklärte Eve tonlos und machte einen Schritt zur Seite, damit die Leiche in ihrer Gesamtheit aufgenommen werden konnte. »Sicher inden wir auch irgendwo die Tätowierung, und wahrscheinlich wurde er auch sexuell missbraucht. Genau wie die beiden vorherigen Opfer weist auch er an Hand- und Fußgelenken Abschürfungen auf. Wir brauchen sämtliche Überwachungsdisketten aus der Eingangshalle und dem Flur.« »Er war ein netter Kerl«, murmelte Peabody gepresst. »Und jetzt ist er tot. Los, machen wir unsere Arbeit.« Peabody straffte die Schultern. »Sehr wohl, Madam.« Die Tätowierung war an seiner linken Pobacke angebracht. Falls Eve von diesem Anblick und von den deutlichen
Zeichen, dass er vergewaltigt worden war, erschüttert wurde, zeigte sie es nicht. Sie sah sich gründlich in der Wohnung um, ließ den Tatort sichern, schickte Beamte durch das Haus, um die Nachbarn zu befragen, und gab den Toten für den Abtransport ins Leichenschauhaus frei. »Überprüfen wir sein Link«, sagte sie zu ihrer Assistentin. »Suchen Sie seinen Kalender, und gucken Sie, was dort über Personally Yours verzeichnet ist. Ich will, dass die Spurensicherung noch heute Abend hierher in die Wohnung kommt.« Sie ging durch den kurzen Flur zum Bad und öffnete die Tür. Wände, Boden und Armaturen blitzten wie frisch gefallener Schnee. »Wir können davon ausgehen, dass unser Mann hier sauber gemacht hat. Schließlich scheint Reinlichkeit von dem guten Donnie Ray nicht unbedingt als Tugend angesehen worden zu sein.« »Er hat es nicht verdient, auf diese Art zu sterben.« »Das hat niemand.« Eve trat einen Schritt zurück und ixierte Peabody. »Sie haben ihn gemocht. Ich auch. Und jetzt denken Sie nicht mehr daran, denn das hilft ihm jetzt nicht weiter. Er ist tot, und wir müssen alles, was wir hier inden, nutzen, um die Nummer vier zu inden, bevor sie auf dieselbe Art stirbt.« »Ich weiß. Aber ich kann nichts gegen meine Gefühle machen. Himmel, Dallas, vor ein paar Stunden waren wir noch hier und haben Witze mit ihm gemacht. Wie gesagt, ich kann nichts gegen meine Gefühle machen«, wiederholte sie erbost. »Ich bin nicht so wie Sie.«
»Meinen Sie, es würde ihn auch nur für fünf Cent interessieren, was Sie jetzt emp inden? Er würde keine Trauer und nicht mal Mitleid wollen, sondern einzig Gerechtigkeit.« Sie marschierte ins Wohnzimmer hinüber und trat, um sich etwas abzureagieren, auf dem Boden verstreute Schuhe und Becher an die Seite. »Glauben Sie, es interessiert ihn, dass ich wütend bin?« Mit blitzenden Augen fuhr sie zu Peabody herum. »Meine Wut hilft ihm nicht weiter. Das Einzige, was sie bewirkt, ist, dass sie mein Urteilsvermögen trübt. Was habe ich bisher übersehen? Verdammt, was habe ich bisher übersehen? Dieser verdammte Hurensohn hinterlässt jede Menge Spuren, und ich bin zu blöd, um sie zu verfolgen. « Peabody musterte sie schweigend. Dies war nicht das erste Mal, musste sie sich eingestehen, dass sie Eves kühle Professionalität fälschlicherweise als Mangel an Gefühl angesehen hatte. Nach all den Monaten, in denen sie zusammen gearbeitet hatten, sollte sie ihre Vorgesetzte allmählich besser kennen. Sie atmete tief durch. »Vielleicht hinterlässt er ja zu viele Spuren und lenkt uns dadurch ab.« Eve kniff die Augen zusammen, ihre in die Hosentaschen gesteckten Fäuste entspannten sich jedoch langsam. »Das ist gut. Das ist sogar sehr gut. Wir gehen zu vielen Spuren, zu vielen Informationen nach. Wir müssen uns eine Sache raussuchen und uns darauf konzentrieren. Fangen Sie mit der Durchsuchung des Appartements an, Peabody«, befahl sie ihrer Assistentin und zog gleichzeitig
ihr Handy aus der Tasche. »Es wird eine lange Nacht.« Um vier Uhr morgens stolperte sie, aufgeputscht von dem künstlichen Koffein des auf der Wache erhältlichen Kaffees, die Treppe ihres Stadthauses hinauf. Ihre Augen klebten, und ihr Magen brannte, aber sie hatte noch zu tun. Ganz wach jedoch schien sie nicht mehr zu sein, denn als Roarke direkt nach ihr durch die Tür des Arbeitszimmers trat, zuckte sie zusammen und legte hastig eine Hand an ihren Stunner. »Weshalb zum Teufel bist du um diese Zeit noch auf?«, schnauzte sie ihn an. »Dasselbe könnte ich dich fragen, Lieutenant.« »Ich arbeite.« Er zog eine Braue in die Höhe, legte eine Hand unter ihr Kinn und sah ihr prüfend ins Gesicht. »Überarbeitet wäre wohl das passendere Wort.« »Der richtige Kaffee in meinem AutoChef auf dem Revier war alle, und deshalb musste ich die Brühe trinken, die es dort normalerweise gibt. Ein paar Schlucke von dem guten Zeug, und ich bin wieder fit.« »Ein paar Stunden Schlaf, und du bist noch fitter.« Auch wenn es sie danach verlangte, schob sie seine Hand nicht fort. »Ich habe um acht eine Besprechung, die ich noch vorbereiten muss.« »Eve.« Als sie wütend zischte, bedachte er sie mit einem warnenden Blick und legte ihr beide Hände auf die
Schultern. »Ich werde mich ganz sicher nicht in deine Arbeit mischen, aber ich möchte dich daran erinnern, dass du deine Arbeit nicht vernünftig machen kannst, wenn du im Stehen einschläfst.« »Ich kann ja eins der zugelassenen Aufputschmittel nehmen.« »Du?«, fragte er lächelnd, worauf auch ihre Lippen zuckten. »Vielleicht bleibt mir in diesem Fall nichts anderes übrig. Er lässt mir keine Zeit.« »Lass mich dir helfen.« »Ich kann mir nicht immer, wenn es hart wird, von dir helfen lassen.« »Warum denn bitte nicht?« Er begann ihre steifen Schultern zu massieren. »Weil ich nicht auf der Liste der offiziell gebilligten Helfer stehe?« »Zum Beispiel.« Die Schultermassage entspannte sie etwas zu sehr. Sie spürte, dass ein leichter Nebel ihre Gedanken überzog, und konnte nichts dagegen tun. »Ich mache zwei Stunden Pause. Zwei Stunden müssten für die Vorbereitung der Besprechung reichen. Aber ich schlafe hier.« »Gute Idee.« Es war ein Leichtes, sie zu ihrem Schlafsessel zu führen. Ihre Knochen waren wie Gummi, als er den Sessel in Liegestellung brachte und sich neben sie auf das weiche Leder schob.
»Du solltest ins Bett gehen«, murmelte sie, schmiegte sich jedoch bereits eng an ihn. »Wenn sich die Gelegenheit ergibt, schlafe ich lieber bei meiner Frau.« »Zwei Stunden… ich glaube, ich habe einen Weg gefunden, um den Kerl zu schnappen.« »Zwei Stunden«, stimmte er ihr zu und klappte, als er spürte, wie sie erschlaffte, beruhigt die Augen zu.
8 »Es gibt da etwas, was ich dir sagen sollte.« Roarke hatte gewartet, bis Eve den letzten Rest ihres Omelettes verschlungen hatte, und betrachtete, während er nochmals ihre Kaffeetasse füllte, sie lächelnd. »Es geht um die Schönheitspflegeprodukte der Reihe Natural Perfection.« Sie schluckte den letzten Bissen des Omelettes herunter und sah ihn gespannt an. »Sie werden in einer deiner Firmen hergestellt.« »In einer Firma, die Teil einer Organisation ist, die zu einem Zweig von Roarke Industries gehört.« Immer noch lächelnd, nippte er an seinem Kaffee. »Also, ja.« »Das habe ich bereits gewusst.« Sie zuckte mit den Schultern, und die Tatsache, dass er verblüfft die Brauen hochzog, weckte eine gewisse Befriedigung in ihr. »Und ich hatte mir ernsthaft eingebildet, dass ich mal in einem Fall nicht auf deinen Namen stoßen würde.« »Damit musst du leben, Liebling. Aber da mir das Unternehmen nun einmal gehört«, fuhr er, während sie die Zähne bleckte, unbekümmert fort, »sollte ich in der Lage sein, dir bei der Suche nach den vom Täter verwendeten Produkten zu helfen.« »Wir schaffen das auch ohne deine Hilfe.« Sie stand auf, um zu ihrem Schreibtisch zu gehen. »Logischerweise wurden die Sachen an dem Ort gekauft, an dem auch die Opfer ausgewählt worden sind. Wenn wir davon ausgehen,
bleiben nicht mehr viele Läden übrig. Das Zeug ist wirklich schweineteuer.« »Aber es ist sein Geld wert«, kam Roarkes gelassene Antwort. »Himmel, Lippenstift für zweihundert Dollar.« Sie musterte ihn empört. »Du solltest dich wirklich schämen.« »Ich lege den Preis nicht fest.« Er grinste übermütig. »Ich verwalte einzig den Gewinn.« Die paar Stunden Schlaf und die heiße Mahlzeit hatten sie wieder zu Kräften kommen lassen. Sie war nicht mehr ganz so blass und hatte keine ganz so dunklen Ringe mehr unter den Augen wie in der Nacht, als sie heimgekommen war. Er stand ebenfalls auf, ging zu ihr und strich mit den Daumen über ihre Wangen. »Würdest du eventuell gern an einer Sitzung des Verwaltungsrats teilnehmen und für eine Preissenkung votieren?« »Haha.« Als er sie zärtlich küsste, musste sie ein Lächeln mühsam unterdrücken. »Geh weg, ich muss mich konzentrieren.« »Sofort.« Er küsste sie noch einmal, bis sie selig seufzte. »Warum erzählst du mir nicht, was du gerade machst? Vielleicht hilft es dir, wenn du deine Gedanken laut formulierst.« Sie seufzte noch einmal, lehnte sich kurz an seinen muskulösen Körper und trat dann einen Schritt zurück. »Die ganze Sache wird besonders hässlich dadurch, dass er eine Verkleidung nutzt, die Hoffnung und Unschuld
symbolisiert. Dieser junge Mann von gestern Abend… verdammt, er war völlig harmlos.« »Die anderen beiden Opfer waren Frauen. Was sagt dir das?« »Das der Täter bisexuell ist. Dass seine Vorstellung von wahrer Liebe die Grenzen der Geschlechter überschreitet. Das männliche Opfer wurde genauso gefesselt, vergewaltigt, geschminkt und tätowiert wie die beiden Frauen.« Sie kehrte zurück an den Frühstückstisch und griff nach ihrer Tasse Kaffee. »Er indet seine Opfer über Personally Yours. Offensichtlich hat er Zugang zu ihren Videos und persönlichen Daten. Vielleicht ist er mit den beiden Frauen sogar verabredet gewesen, mit Donnie Ray aber sicher nicht. Donnie stand ausschließlich auf Frauen. Der Wechsel zwischen den Geschlechtern legt die Vermutung nahe, dass er keines seiner Opfer persönlich getroffen hat, zumindest nicht im Rahmen eines Rendezvous. Die Beziehung zu ihnen besteht ausschließlich in seiner Phantasie.« »Er wählt regelmäßig Menschen, die alleine leben.« »Er ist ein Feigling. Er will keine echte Konfrontation. Er verpasst ihnen als Erstes ein Betäubungsmittel, und dann fesselt er sie. Das ist der einzige Weg, auf dem er sicher sein kann, dass er die Macht und die Kontrolle über sie behält.« Ihre Gedanken kehrten zurück zu Rudy, sie stellte ihre
Kaffeetasse ab und fuhr sich durch die Haare. »Er ist clever und besessen. In bestimmter Hinsicht legt er sogar ein vorhersehbares Verhaltensmuster an den Tag. Und damit nagle ich ihn fest.« »Du hast gesagt, dass du eine Idee hast.« »Ja, sogar mehrere. Allerdings muss ich sie erst mit meinen Vorgesetzten besprechen. Und vor allem muss ich darauf achten, dass Nadine mich eine Zeit lang nicht erreicht. Ich kann ihr unmöglich etwas von dem Weihnachtsmannkostüm erzählen, sonst spielen die Leute beim Anblick jedes Weihnachtsmanns, der in einem Laden oder an einer Straßenecke steht, verrückt.« »Was für eine Vorstellung«, murmelte Roarke. »Sadistischer Weihnachtsmann ermordet reihenweise Singles… Einzelheiten in den Mittagsnachrichten. Nadine wäre total begeistert.« »Aber sie wird nichts davon erfahren. Nicht eher, als bis mir keine andere Wahl mehr bleibt. Ich spiele mit dem Gedanken, sie auf die Partnervermittlung anzusetzen. Dann würde sie mich in Ruhe lassen, sämtliche Kunden von Personally Yours wären gewarnt, und gleichzeitig würden Rudy und Piper laut Verleumdung schreien.« Ihr Lächeln wirkte boshaft. »Aber das wäre es mir wert. Die beiden sind derart aalglatt – irgendwie muss ich es schaffen, ihre Ruhe zu erschüttern.« »Du magst sie nicht.« »Sie sind mir unheimlich. Ich weiß, dass sie miteinander
schlafen. Das ist doch krank.« »Du hast etwas dagegen, dass sie eine intime Beziehung zueinander haben?« »Sie sind Bruder und Schwester. Zwillinge.« »Oh, verstehe.« Bei aller Weltgewandtheit musste Roarke sich eingestehen, dass auch ihm so etwas nicht behagte. »Das ist nicht… sehr attraktiv. « »Schön ausgedrückt.« Der Gedanke raubte ihr den Appetit, und sie schob den Teller mit den dampfenden Croissants von sich weg. »Er zieht sowohl geschäftlich als auch privat die Fäden. Augenblicklich steht er für mich auf der Liste der Verdächtigen ganz oben. Er hat Zugang zu den Akten sämtlicher Klienten, und wenn ich den Inzest beweisen kann, wird dadurch auch sein von der Norm abweichendes Sexualverhalten klar. Ich brauche jemanden in dem Laden.« Als sie Schritte den Flur entlangtapsen hörte, pustete sie hörbar aus. »Und da kommt dieser Jemand auch schon.« Als Peabody eintrat, blickten Eve und Roarke sie beide prüfend an. Unbehaglich sah sie zwischen den beiden hin und her. »Ist etwas nicht in Ordnung?« »Nein, nein, kommen Sie herein.« Eve wies mit dem Daumen zu einem Stuhl. »Am besten fangen wir sofort an.« »Kaffee?«, fragte Roarke, der sich bereits denken konnte, was seine Frau im Schilde führte. »Ja, bitte. McNab ist noch nicht da?«
»Nein. Erst rede ich mit Ihnen.« Eve wandte sich an ihren Mann. »Ich verschwinde.« Er reichte Peabody eine gefüllte Tasse, gab seiner Frau, obgleich – oder vielleicht weil – sie ihn ungeduldig ansah, einen sanften Kuss, ging in sein eigenes Büro und ließ die Tür hinter sich zuschnappen. »Sieht er morgens immer so aus?«, erkundigte sich Peabody. »Er sieht dauernd so aus.« Peabody entfuhr ein abgrundtiefer Seufzer. »Sind Sie sicher, dass er tatsächlich ein ganz normaler Mensch ist?« »Nicht immer.« Eve setzte sich auf die Kante ihres Schreibtischs und musterte Peabody. »Wie sieht’s aus… wollen Sie ein paar Männer kennen lernen?« »He?« »Wollen Sie Ihren Bekanntenkreis erweitern und ein paar Männer kennen lernen, die Ihre Interessen teilen?« In der Gewissheit, dass Eve sich einen Scherz erlaubte, grinste Peabody. »Ist das nicht genau der Grund, aus dem ich zur Polizei gegangen bin?« »Polizisten sind jämmerliche Partner. Was Sie brauchen, Peabody, sind die Dienste eines Unternehmens wie Personally Yours.« Peabody nippte an ihrem Kaffee und schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe vor ein paar Jahren, als ich hierher gezogen bin, mal mein Glück mit einer Vermittlungsagentur
versucht. Das ist alles zu streng reglementiert. Inzwischen suche ich mir lieber fremde Männer in irgendwelchen Kneipen.« Als Eve sie weiter abwartend ansah, ließ Peabody die Tasse langsam sinken. »Oh«, entfuhr es ihr, als sie anfing zu verstehen. »Oh.« »Natürlich müsste ich vorher mit Whitney sprechen, denn schließlich kann ich ohne seine Zustimmung keine uniformierte Beamtin für verdeckte Ermittlungen verwenden. Und bevor Sie zustimmen, möchte ich wissen, ob Ihnen auch bewusst ist, worauf man sich bei so was einlässt.« »Verdeckte Ermittlungen.« Obgleich sie lange genug bei der Polizei war, um zu wissen, dass diese Art der Arbeit anstrengend und alles andere als ungefährlich war, tauchten bei diesen Worten Bilder von Aufregung und Glamour vor ihrem inneren Auge auf. »Verdammt, Peabody, grinsen Sie nicht wie ein Honigkuchenpferd.« Eve strubbelte sich mit den Händen durch die Haare. »Ich spreche davon, Sie als Köder zu verwenden und dadurch in Gefahr zu bringen. Und Sie strahlen, als hätten Sie soeben ein Geschenk von mir gekriegt.« »Sie denken, dass ich gut genug für diese Arbeit bin. Sie vertrauen darauf, dass ich es schaffe. Das ist ein phantastisches Geschenk.« »Ja, ich denke, Sie sind gut genug.« Eve ließ ihre Arme wieder sinken. »Ich denke, Sie können es schaffen, weil Sie wissen, wie man Befehle genauestens befolgt. Und genau
das würde ich erwarten. Ich würde erwarten, dass Sie meine Befehle bis aufs letzte Fitzelchen befolgen und nichts eigenständig unternehmen. Wenn ich die Erlaubnis bekomme, Sie als Köder einzusetzen, und wenn ich genug Bares für eine Beratung in dem Unternehmen locker machen kann, melden Sie sich dort als Kundin an.« »Was ist mit Rudy und Piper? Die beiden sind verdächtig, und sie haben mich gesehen.« »Sie haben eine Uniform gesehen, und Leute wie die beiden achten bestimmt nicht auf den Menschen, der sie trägt. Außerdem werden Mavis und Trina Sie vorher gründlich stylen.« »Cool.« »Reißen Sie sich zusammen, Peabody. Sie bekommen eine neue Identität. Ich habe mir die Videos und persönlichen Daten der Opfer angesehen. Wir arbeiten die Ähnlichkeiten zwischen ihnen heraus und integrieren sie in Ihr Pro il. Wir werden dafür sorgen, dass Sie als Opfer wie maßgeschneidert sind.« »Das ist ja wohl totaler Schwachsinn.« Mit hochrotem Gesicht, zornblitzenden Augen, zusammengepressten Lippen und geballten Fäusten kam McNab hereingestürmt. »Das ist absoluter Schwachsinn.« »Detective«, antwortete Eve mit milder Stimme. »Ihr Einwand wurde registriert.« »Sie wollen Sie wie einen Wurm an einer Angel in das Hai ischbecken hängen? Gott verdammt, Dallas. Sie hat
keine Ausbildung für derartige Aktionen.« »Kümmern Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten«, schnauzte Peabody und sprang wütend auf die Füße. »Ich kann für mich alleine sorgen.« »Sie haben doch nicht die geringste Ahnung davon, wie man sich als verdeckte Ermittlerin verhält.« McNab stiefelte aufgeregt durch das Zimmer, machte auf dem Absatz kehrt und baute sich wenige Zentimeter vor ihr auf. »Sie sind eine gottverdammte kleine Assistentin, eine Knöpfedrückerin, kaum mehr als ein Droide.« Eve sah das unheilvolle Blitzen in Peabodys Augen und trat hastig dazwischen. »Es reicht. Sie haben Ihre Meinung zu der Sache gesagt, McNab, und jetzt halten Sie die Klappe.« »Ich lasse es nicht zu, dass dieser Hurensohn mich ungestraft beleidigt.« »Vergessen Sie es, Peabody«, schnauzte Eve, »und setzen Sie sich wieder hin. Setzen Sie sich beide, ver lixt noch mal, sofort auf Ihre Hintern und versuchen, bevor ich Sie beide wegen Ungehorsams melde, sich daran zu erinnern, wer hier die Che in ist. Das Letzte, was ich in diesem Fall gebrauchen kann, sind zwei Leute, denen jedes Maß an Selbstbeherrschung fehlt. Wenn Sie sich nicht beherrschen können, ziehe ich Sie ab.« »Wir kommen auch ohne Detective Datenbank zurecht«, grummelte Peabody aufsässig. »Das bestimme einzig und alleine ich. Und neben den
Dingen, die er für uns in Erfahrung bringen kann, brauchen wir interne Informationen aus der Vermittlungsagentur und vor allem Köder. « Bei diesem letzten Wort pendelte ihr Blick zwischen ihren beiden Untergebenen hin und her. »Und zwar Köder beiderlei Geschlechts. Also, McNab, meinen Sie, Sie kriegen so was hin?« »Moment mal. Eine Sekunde.« Fassungslos sprang Peabody erneut auf. »Er soll ebenfalls verdeckt ermitteln? Womöglich sogar mit mir zusammen?« »Ja, ich kriege das ganz sicher hin«, bestätigte McNab und schenkte Peabody dabei ein schmales Lächeln. Auf diese Weise könnte er ein Auge auf sie haben – und sie davor bewahren, dass sie in ernste Schwierigkeiten kam. »Super!« Mavis Freestone tänzelte vergnügt durch Eves Büro. Ihre durchsichtigen, schenkelhohen Stiefel schmiegten sich wie eine zweite Haut um ihre wohlgeformten Beine und brachten sie vorteilhaft zur Geltung. Die acht Zentimeter hohen, leuchtend roten Absätze der Stiefel hatten dieselbe Farbe wie Mavis’ ebenfalls eng anliegendes, tief ausgeschnittenes Kleid, ihre in schlangengleichen Zöpfen über ihre Schultern wogende Haarpracht und das winzige, unterhalb der linken Augenbraue aufgemalte Herz. »Ihr werdet dafür of iziell von uns bezahlt.« Eve wusste, der Freundin war die Tatsache, dass sie in of iziellem Auftrag handeln würde, absolut egal. Trotzdem fühlte sie sich verp lichtet, sie daran zu erinnern, als Mavis
Peabody mit funkelnden, neuerdings grasgrünen Augen ansah. »Die Bezahlung ist doch völlig schnuppe«, meinte denn auch Trina. Die Schönheitsberaterin betrachtete Peabody mit einem interessierten und zugleich leicht abschätzigen Blick. Trina trug heute Augenbrauenringe, deren Anblick Eve zusammenzucken ließ. Ihre dunkelvioletten Haare bildeten einen dreißig Zentimeter hohen Kegel, und ihre Garderobe bestand aus einem beinahe konservativen schwarzen Overall, auf dem Weihnachten zu Ehren genau über den Brüsten zwei nackte Weihnachtsmänner tanzten. Und das hier, dachte Eve und legte sich schaudernd die Finger vor die Augen, war das Paar, das dank ihrer Überredung von ihrem Vorgesetzten Whitney Geld für die Verwandlung von Peabodys Äußerem bekam. »Es soll so schlicht wie möglich werden«, erklärte sie entschlossen. »Ich will nur nicht, dass sie wie eine Polizistin aussieht.« »Was meinst du, Trina?« Mavis lehnte sich über Peabodys Schulter und hielt eine ihrer Locken an Peabodys Gesicht. »Diese Farbe sähe bei ihr sicher phantastisch aus. Festlich, oder? Passend zu Weihnachten. Und warte, bis du die Klamotten siehst, die ihr Leonardo leihen wird.« Feixend tat sie einen Schritt zurück. »Er hat da diesen mit Lochstickerei versehenen Catsuit, der Ihnen wie auf den Leib geschneidert ist, Peabody.« »Einen Catsuit.« Peabody erbleichte, als sie an ihre
Fettpölsterchen dachte. »Lieutenant.« »Wie gesagt, so schlicht wie möglich«, wiederholte Eve, bereit, ihre Assistentin in dem Fall gnadenlos im Stich zu lassen. »Was nehmen Sie für Ihre Haut?«, wollte Trina wissen und umfasste Peabodys Kinn. »Schmirgelpapier?« »Hm – « »Sie haben Poren groß wie Krater, meine Liebe. Am besten, wir fangen die Gesichtsbehandlung mit einem Peeling an.« »O Gott.« Panisch versuchte Peabody sich loszureißen. »Hören Sie – « »Sind die Titten künstlich oder echt?« »Echt.« Sofort kreuzte Peabody die Arme vor der Brust. »Und ich bin damit durchaus zufrieden.« »Das können Sie auch sein. Okay, ziehen Sie sich aus. Lassen Sie mich diese Brüste und auch den Rest erst einmal in natura sehen.« »Ich soll mich ausziehen?« Peabody wandte sich entsetzt an Eve. »Lieutenant Dallas. Madam?« »Sie haben gesagt, Sie kämen als verdeckte Ermittlerin zurecht, Peabody.« Mit einem mitfühlenden Schauder wandte sich Eve zum Gehen. »Ihr habt zwei Stunden Zeit.« »Ich brauche drei«, rief ihr Trina hinterher. »Ich kann meine Kunst nicht überstürzen.«
»Zwei.« Als Peabody erschrocken quietschte, zog Eve die Tür schnell hinter sich ins Schloss. Sicher wäre es das Beste, überlegte Eve, wenn sie sich aus dieser Aktion raushielt. Deshalb führe sie, um die Zeit zu nutzen, zu einem alten Bekannten zu Besuch. Charles Monroe war der attraktivste Callboy, dem Eve in ihrem ganzen Leben je begegnet war. Er hatte ihr einmal bei einem Fall geholfen – und ihr im Anschluss gratis seine Dienste offeriert. Die Hilfe hatte sie gerne angenommen, auf das angebotene Vergnügen allerdings verzichtet. Nun drückte sie die Klingel vor seiner eleganten Wohnung in einem teuren mehrstöckigen Haus mitten in der Stadt. Einem Haus, das Roarke gehörte, dachte sie und rollte mit den Augen. Als die Sicherheitslampe grün blinkte, zog sie eine Braue in die Höhe und hob für den Fall, dass Charles sie inzwischen vergessen hatte, ihren Dienstausweis vor den Spion. Als er an die Tür kam, zeigte sich, dass sein Gedächtnis bestens funktionierte: »Lieutenant Dallas.« Er überraschte sie mit einer herzlichen Umarmung und einem schnellen, etwas zu intimen Kuss. »Pfoten weg, Kumpel.« »Ich habe nie Gelegenheit gehabt, die Braut zu küssen.« Er zwinkerte ihr zu, ein attraktiver Mann mit einem leicht verschlafenen, doch durchaus aristokratischen Gesicht.
»Also, wie gefällt es Ihnen, mit dem reichsten Mann des Universums verheiratet zu sein?« »Er versorgt mich regelmäßig mit echtem Kaffee.« Charles legte den Kopf auf die Seite und sah sie prüfend an. »Sie sind total in ihn verliebt. Tja, das ist wirklich schön für Sie. Ab und zu sehe ich Sie beide im Fernsehen bei irgendeinem exklusiven Fest. Ich hatte mich bereits gefragt, wie es Ihnen geht. Jetzt sehe ich es mit eigenen Augen, und ich muss leider annehmen, dass Sie nicht des Angebots wegen gekommen sind, das Ihnen vor ein paar Monaten von mir unterbreitet worden ist.« »Ich muss mit Ihnen reden.« »Okay, kommen Sie rein.« Er trat einen Schritt zurück und bedeutete ihr, an ihm vorbeizugehen. Er trug einen schwarzen Einteiler, in dem sein durchtrainierter Körper vorteilhaft zur Geltung kam. »Möchten Sie was trinken? Allerdings bezwei le ich, dass meine Kaffeemischung mit der von Roarke Schritt halten kann. Also vielleicht lieber eine Pepsi?« »Ja, gerne.« Sie konnte sich an die Küche erinnern. Gep legt, spartanisch und blitzsauber. Genau wie ihr Bewohner. Sie setzte sich auf einen Stuhl und verfolgte, wie er zwei Pepsi aus dem Kühlschrank holte, in zwei hohe Gläser schenkte, die Dosen in den Recycler schob und ihr gegenüber Platz nahm. »Ich würde ja auf die alten Zeiten trinken, Dallas, nur
waren sie… alles andere als berauschend.« »Allerdings. Wobei die neuen Zeiten auch nicht besser sind. Weshalb wendet sich ein erfolgreicher LC an eine Vermittlungsagentur? Bevor Sie antworten«, fuhr sie fort und nahm einen Schluck von ihrer Pepsi, »sollte ich Ihnen sagen, dass die Inanspruchnahme einer solchen Agentur für das Anwerben von Kunden streng verboten ist. « Eine leichte Röte stieg ihm in die Wangen. Auch wenn sie das nie für möglich gehalten hätte, wurde er tatsächlich rot und blickte verlegen vor sich auf den Tisch. »Himmel, wissen Sie eigentlich immer über alles genau Bescheid?« »Wenn ich alles wüsste, würde ich die Antwort auf meine Frage kennen. Da das aber nicht der Fall ist, hätte ich sie gern von Ihnen.« »Das ist eine rein private Angelegenheit«, murmelte er. »Wenn dem so wäre, wäre ich ebenfalls nicht hier. Weshalb sind Sie ein Kunde von Personally Yours?« »Weil ich eine Frau in meinem Leben will«, schnauzte er, hob den Kopf und blitzte sie zornig an. »Eine richtige Frau, keine, die mich kauft, okay? Ich will, verdammt noch mal, eine Beziehung. Was ist daran verkehrt? In meinem Beruf kriegt man keine Beziehung. Man tut, wofür man bezahlt wird, und man macht seine Sache möglichst gut. Ich mag meinen Beruf, aber ich will auch ein Privatleben. Es ist nicht verboten, ein Privatleben zu wollen.« »Nein«, sagte sie langsam. »Das ist nicht verboten.« »Also habe ich beim Ausfüllen des Formulars bezüglich
meines Berufs gelogen.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich wollte keine Frau, für die es der größte Kick ist, mit einem Callboy verabredet zu sein. Wollen Sie mich jetzt verhaften, weil ich auf dem blöden Video einer Partnervermittlung gelogen habe?« »Nein.« Es tat ihr ehrlich Leid, ihn in Verlegenheit gebracht zu haben. »Sie standen auf der Partnerliste einer Frau. Marianna Hawley. Können Sie sich an sie erinnern?« »Marianna.« In dem Bemühen, seine Fassung wiederzuerlangen, nahm er einen großen Schluck des eiskalten Getränks. »Ich kann mich an ihr Video erinnern. Hübsche Frau, echt süß. Ich habe sie kontaktiert, aber sie hatte sich schon in einen anderen verguckt.« Jetzt verzog er den Mund zu einem Lächeln. »Ein solches Glück ist für mich typisch. Sie wäre genau mein Typ gewesen.« »Sie haben Sie nie getroffen?« »Nein. Mit den anderen vier Frauen der ersten Liste bin ich ausgegangen, und bei einer von ihnen hat es tatsächlich gefunkt. Ein paar Wochen lang haben wir uns regelmäßig getroffen.« Er atmete hörbar aus. »Dann aber kam ich zu dem Schluss, wenn aus uns wirklich etwas werden sollte, müsste ich ihr in Bezug auf meine Arbeit reinen Wein einschenken. Und das«, schloss er und prostete Eve zu, »war dann das Ende der Geschichte.« »Tut mir Leid.« »He, dort, woher sie kam, gibt es noch viele andere Frauen.« Trotz seines kessen Lächelns hatte er einen leicht wehmütigen Blick. »Zu schade, das Roarke Sie aus dem
Rennen genommen hat. « »Charles, Marianna ist tot.« »Was?« »Haben Sie in letzter Zeit keine Nachrichten gesehen?« »Nein. Ich habe die Glotze überhaupt nicht eingeschaltet. Tot?« Dann wurde sein Blick plötzlich hellwach, und er starrte Eve an. »Sie wurde ermordet. Wenn sie ruhig im Schlaf gestorben wäre, wären Sie nicht hier. Sie wurde ermordet. Bin ich vielleicht verdächtig?« »Ja, das sind Sie«, sagte sie, da sie ihn mochte, ehrlich. »Der Form halber werde ich Sie auch noch of iziell vernehmen. Aber sagen Sie mir jetzt, haben Sie ein Alibi für letzten Dienstagabend, für Mittwoch und für letzte Nacht?« Er blinzelte sie entgeistert an. »Wie können Sie bloß eine solche Arbeit machen?«, fragte er nach einer Minute. »Und das jeden Tag aufs Neue?« Sie zuckte die Schultern. »Ich könnte Sie dasselbe fragen. Also sprechen wir besser nicht über den von uns beiden jeweils freiwillig gewählten Beruf. Also, haben Sie Alibis für diese Zeiten?« Er schob sich vom Tisch zurück. »Um das sagen zu können, muss ich meinen Terminkalender holen.« Sie ließ ihn gehen, da sie wusste, dass ihr Instinkt bezüglich dieses Mannes sie nicht trog. Er hatte nicht das Zeug zum Mörder, das wusste sie genau.
Er kam mit einem kleinen, eleganten Kalender zurück, klappte ihn auf und gab die von ihr erfragten Daten ein. »Dienstag hatte ich eine Kundin über Nacht. Eine Stammkundin. Das lässt sich überprüfen. Gestern Abend war ich mit einer Klientin im Theater, habe ein spätes Essen mit ihr eingenommen und sie anschließend hier verführt. Sie hat meine Wohnung um zwei Uhr dreißig verlassen. Außer der Bezahlung für eine halbe Überstunde hat sie noch ein gutes Trinkgeld dagelassen. Mittwoch war ich allein zu Hause.« Er schob ihr das Buch über den Tisch. »Schreiben Sie sich ruhig die Namen auf.« Wortlos übertrug sie Namen und Adressen in ihren eigenen Kalender und meinte nach einer kurzen Pause: »Sarabeth Greenbalm und Donnie Ray Michael. Sagt Ihnen einer dieser Namen was?« »Nein.« Sie sah ihn reglos an. »Ich habe Sie noch nie geschminkt gesehen. Warum also haben Sie bei Alle schönen Dinge Lippenstift und Lidschatten der NaturalPerfection-Kosmetik-serie gekauft?« »Lippenstift?« Einen Moment lang wirkte er verwirrt, dann aber schüttelte er den Kopf. »Oh, die Sachen habe ich für die Frau, mit der ich mich getroffen habe, mitgenommen. Sie hatte mich gebeten, ein paar Dinge mitzubringen, als ich mit meinem Gutschein von Personally Yours in den Salon gegangen bin.«
Offensichtlich verwirrt lächelte er. »Und weshalb, Lieutenant Dallas, sollte es Sie interessieren, ob ich Lippenstift verwende?« »War nur so eine Frage. Sie haben mir einmal einen Gefallen getan, Charles, und deshalb werde ich Ihnen jetzt auch eine Gefälligkeit erweisen. Drei Menschen, die die Dienste dieser Vermittlungsagentur in Anspruch genommen haben, sind inzwischen tot. Sie alle wurden von demselben Täter auf dieselbe Art und Weise umgebracht.« »Er hat in weniger als einer Woche drei Frauen umgebracht?« »Nein.« Immer noch ixierte Eve ihn. »Das letzte Opfer war ein Mann. Passen Sie also besser auf sich auf.« Als er verstand, ver log auch noch der letzte Rest des Zorns, der durch ihre Fragen in ihm wachgerufen worden war. »Sie denken, ich könnte ein potenzielles Opfer sein?« »Ich denke, jeder, der sich in der Datenbank von Personally Yours be indet, könnte ein potenzielles Opfer sein. Augenblicklich konzentriere ich mich auf die Partnerlisten der bisherigen Opfer. Ich kann Ihnen nur raten, niemanden, den Sie nicht kennen, in die Wohnung zu lassen. Wirklich niemanden.« Sie atmete tief durch. »Er verkleidet sich als Weihnachtsmann und hat eine große, hübsch eingepackte Schachtel in der Hand.« »Was?« Er stellte das Glas, das er gerade angehoben hatte, klirrend auf den Tisch. »Ist das ein Witz?« »Drei Menschen sind tot. Das ist nicht besonders witzig.
Er bringt sie dazu, ihn hereinzulassen, betäubt sie, fesselt sie und bringt sie schließlich um.« »Himmel.« Er fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht. »Das ist ja unglaublich.« »Wenn dieser Typ zu Ihnen an die Tür kommt, machen Sie nicht auf, sondern rufen Sie mich an. Versuchen Sie ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Wenn das nicht gelingt, lassen Sie ihn gehen. Machen Sie unter keinen Umständen die Tür auf. Er ist wirklich clever, und er bringt den Tod.« »Ich mache ganz bestimmt nicht auf. Die Frau, mit der ich ausgegangen bin – die Frau von der Vermittlungsagentur –, ihr muss ich es sagen.« »Ich habe die Liste Ihrer Partnerinnen und gebe ihr Bescheid. Die Medien dürfen unter keinen Umständen etwas von dem Kostüm erfahren.« »Mir wäre es ebenfalls sehr recht, wenn die Medien nichts von dem einsamen Callboy erfahren würden, vielen Dank.« Er verzog elend das Gesicht. »Können Sie sie möglichst auf der Stelle warnen? Ihr Name ist Darla McMullen. Sie lebt allein, und sie ist ziemlich… naiv. Wenn der Weihnachtsmann vor ihrer Tür erschiene, würde sie ihn reinbitten und ihm Milch und Plätzchen anbieten.« »Klingt, als wäre sie eine wirklich nette Frau.« »Ja.« Seine Miene war wie versteinert. »Das ist sie.« »Ich werde mit ihr sprechen.« Eve stand auf. »Eventuell sollten Sie sich mal bei ihr melden.«
»Das hätte keinen Zweck.« Er erhob sich ebenfalls und zwang sich zu einem Lächeln. »Aber lassen Sie es mich wissen, wenn Sie Roarke den Laufpass geben, Lieutenant Dallas. Mein Angebot bleibt weiterhin bestehen.« Das Herz, dachte Eve während der Fahrt nach Hause, war ein seltsames und häu ig überfordertes Organ. Es iel ihr schwer, den weltgewandten, eloquenten Callboy mit der ruhigen, intellektuellen Frau in Verbindung zu bringen, bei der sie gerade vorstellig geworden war. Aber, wenn ihr Instinkt nicht völlig trog, waren Darla McMullen und Charles Monroe ein bisschen ineinander verliebt. Nur wussten sie offenbar beide nicht, wie sie auf dieses Gefühl reagieren sollten. In dieser Beziehung hatten sie ihr volles Mitgefühl. Oft genug fragte sie sich, was sie mit den geradezu magischen Gefühlen anstellen sollte, die ihr eigener Gatte in ihr wachrief. Auf ihrem Heimweg machte sie noch drei Abstecher, sprach mit Leuten von den Listen und gab ihnen das von ihrem Commander gebilligte Faltblatt mit einer grundlegenden Warnung und den Verhaltensregeln zum Schutz vor dem Täter. Wenn Donnie Ray gewarnt gewesen wäre, dachte sie, würde er vielleicht noch leben. Wer wäre der oder die Nächste? Jemand, mit dem sie gesprochen hatte, oder jemand, von dem sie noch nichts wusste? Von diesem Gedanken getrieben, trat sie das Gaspedal bis zum Anschlag durch und schoss die Einfahrt
hinaus in Richtung Haus. Peabody und McNab sollten noch vor Ende dieses Tages bei Personally Yours vorsprechen und ihr Profil erstellen lassen. Vor dem Haus stand Feeneys Wagen. Der Anblick rief die Hoffnung in ihr wach, dass sie mit ihrer Bitte, ihn zugeteilt zu bekommen, auf offene Ohren gestoßen war. Mit Feeney und McNab als elektronischen Ermittlern wäre sie selbst frei für die Straße. Sie marschierte direkt in ihr Büro und zuckte schmerzlich, als sie den Lärm im Korridor vernahm. Mavis spielte einen ihrer Videoclips und sang aus voller Kehle mit. Der Text, den sie kreischte, hatte etwas damit zu tun, dass sie sich aus lauter Liebe die Seele aus dem Leib riss oder so. Feeney saß nachdenklich und leicht verzweifelt hinter dem Schreibtisch der Kollegin, und Roarke stand hinter einem Stuhl. Da sie wusste, dass die Chance, sie über diesen Lärm hinweg zu verstehen, so gut wie null war, wartete Eve ungeduldig, bis der letzte Ton verklang und sich Mavis mit vor Anstrengung und Freude roten Wangen kichernd vor ihrem Publikum verbeugte. »Ich wollte, dass Sie die Rohfassung als Erster hören«, sagte sie zu Roarke. »Klingt wirklich chartverdächtig.« »Ehrlich?« Glücklich stürzte Mavis auf ihn zu, schlang ihm die Arme um den Hals und zog ihn eng an ihre Brust. »Ich kann einfach nicht glauben, dass das alles wahr ist.
Dass ausgerechnet ich eine CD für die wichtigste Musikfirma auf Erden zusammenschneiden soll.« »Mit Ihnen werde ich jede Menge Geld verdienen.« Er küsste sie freundlich auf die Stirn. »Ich werde mir alle Mühe geben. Ich werde mir wirklich alle Mühe geben.« Als sie Eve erblickte, begann Mavis noch breiter zu grinsen. »He! Hast du was von der Scheibe mitgekriegt?« »Das Ende. Es war wirklich super.« Und da sie mit Mavis sprach, meinte sie es sogar ernst. »Feeney, bist du mit von der Partie?« »Und zwar ganz of iziell. McNab führt bereits sein Bewerbungsgespräch bei Personally Yours. Wir haben ihn als Computerfachmann in einem von Roarkes Unternehmen ausgegeben. Die Daten wurden entsprechend geändert, und er hat sogar einen neuen Pass.« »In einem von Roarkes Unternehmen?« »Das erschien uns logisch«, erklärte Feeney grinsend. »Wenn man solche Möglichkeiten hat, sollte man sie schließlich nutzen. Ich weiß Ihre Hilfe wirklich zu schätzen, Junge.« »Nicht der Rede wert«, antwortete Roarke bescheiden und wandte sich zwinkernd an seine Gattin. »Da ihr etwas in Eile seid, haben wir versucht, das Ganze möglichst schnell und einfach hinzubasteln. Peabody gibt sich als Sicherheitsche in in einem meiner Gebäude aus. Feeney
dachte, es wäre am besten, wenn die Angaben der Wahrheit möglichst nahe kommen.« »Was sonst?« Trotzdem nickte sie anerkennend, wenn auch widerstrebend. »Nicht übel. Schließlich gehört dir die halbe Stadt, sodass niemand die Angaben in Frage stellen oder, wenn doch, irgendwelche Unstimmigkeiten in den Personalakten der beiden finden wird.« »Genau.« »Wo ist Peabody überhaupt?« »Trina ist in Kürze mit ihr fertig.« »Ich brauche sie sofort. Sie soll rüberkommen, sich über ihre neue Identität au klären lassen und schauen, dass sie endlich in die Startlöcher kommt. Himmel, sie hat doch auch schon vorher nicht übel ausgesehen. Wie lange kann es also dauern, sie ein bisschen aufzupeppen und ihr normale Kleider anzuziehen?« »Trina hatte ein paar phantastische Ideen«, versicherte ihr Mavis derart enthusiastisch, dass Eve das Blut in den Adern gefror. »Wartet nur, bis ihr sie seht. O ja, Trina möchte dich vor eurer Party noch mal sehen. Schließlich haben wir Weihnachten, da solltest auch du was aus dir machen.« Eve entfuhr ein leises Knurren. Sie hatte nicht die Absicht, jetzt oder irgendwann etwas aus sich zu machen. »Sicher, natürlich. Wo zum Teufel…« Als sie die beiden kommen hörte, brach sie ab, blickte in Richtung Tür, blinzelte. Und rang erstickt nach Luft.
»Ich muss sagen«, verkündete Trina mit zufriedener Stimme, »ich bin wirklich gut.« Peabody schnaubte, errötete und verzog den Mund zu einem zögerlichen Lächeln. »Okay, meinen Sie, dass ich den Test bestehe?« Ihr für gewöhnlich allzu strenger Bubikopf lag weich und schimmernd wie ein dunkler Heiligenschein um ihr dezent geschminktes Gesicht. Die Form und Größe ihrer Augen sowie die Fülle ihrer Lippen wurden durch ein paar dunkle Farben beziehungsweise ein weiches Korallenrosa vorteilhaft betont. Ihr in der Uniform etwas gedrungener Körper bekam in dem knöchellangen, dunkelgrünen Kleid üppigere, deutlich weiblichere Formen. Um den Hals trug sie mehrere, mit künstlichen Steinen besetzte Ketten, und über ihrem linken Busen blitzte die zarte Tätowierung einer Elfe mit schmalen, goldenen Flügeln. Peabody hatte diese Tätowierung persönlich ausgesucht und hatte, ohne zu zucken, ihre Brust umfassen lassen, als Trina das kleine Bildchen aufgetragen hatte. Bis dahin hatte sie längst angefangen, die Verwandlung zu genießen, die an ihr vorgenommen worden war. Nun jedoch, als ihre Che in sie mit Kulleraugen ansah, trat sie unbehaglich von einem hohen goldenen Absatz auf den anderen und fragte schüchtern: »Meinen Sie, der Aufzug ist verkehrt?« »Sie sehen auf gar keinen Fall mehr wie eine Polizistin
aus«, antwortete Eve nüchtern. »Sie sehen phantastisch aus«, erklärte Roarke, trat auf Peabody zu und ergriff ihre Hände. »Einfach phänomenal.« Er küsste ihre Fingerspitzen, und Peabodys Herzschlag setzte prompt aus. »Ja, tatsächlich? Wow.« »Regen Sie sich ab, Peabody«, befahl Eve unbarmherzig. »Feeney, du hast zwanzig Minuten Zeit, um ihr zu erklären, wer sie von jetzt an ist. Peabody, wo sind Ihr Stunner und Ihr Handy?« »Hier.« Immer noch mit roten Wangen schob sie eine Hand in eine versteckte Tasche in Hüfthöhe des Kleides. »Praktisch, oder?« »Trotzdem sollten wir besser die Uniformen unserer Polizisten gegen ein solches Out it nicht tauschen«, antwortete Eve und wies auf einen Stuhl. »Sie müssen sich die Daten, die Feeney Ihnen nennt, gut merken. Am besten nehmen Sie sie auf und spielen sie auf der Fahrt zu Personally Yours ein paar Mal ab. Wir können es uns nicht leisten, dass Sie sich irgendwann verhaspeln. Ich will, dass Sie noch vor Ende des Tages dort aufgenommen und spätestens morgen auf irgendwelchen Listen sind.« »Sehr wohl, Madam.« Trotzdem konnte Peabody es nicht lassen, den Stoff des Kleides zu be ingern, als sie durch den Raum zum Schreibtisch ging. »Sie sind als Nächste an der Reihe«, meinte Trina und fuhr prüfend mit der Hand durch Eves zerzaustes Haar.
»Ich habe keine Zeit.« Eve trat widerborstig einen Schritt zurück. »Außerdem war ich erst vor ein paar Wochen dran.« »Ohne regelmäßige Behandlung machen Sie meine mühsame Arbeit wieder zunichte. Entweder nimmt sie sich vor der Party Zeit oder ich zeichne mich von der Verantwortung für ihr Erscheinungsbild endgültig frei«, wandte Trina sich an Roarke. »Sie wird sich die Zeit nehmen.« Um die Stylistin zu besänftigen, nahm er sie am Arm und führte sie mit einem lauten Lob auf die brillante Arbeit, die sie bei Peabodys Verwandlung geleistet hatte, aus dem Raum.
9 Eve war nicht gerade begeistert, als sie auf die Wache kam und dort Nadine Fürst, eine Nagelfeile in den Händen, lässig hinter ihrem Schreibtisch lungern sah. »Schwingen Sie sofort Ihren Hintern von meinem Stuhl.« Nadine bedachte sie mit einem breiten Lächeln, ließ die Nagelfeile in ihrer riesigen Kalbsledertasche verschwinden und stellte ihre wohlgeformten Beine züchtig nebeneinander. »Hallo, Dallas. Freut mich ehrlich, Sie zu sehen. Erledigen Sie inzwischen einen Großteil Ihrer Arbeit von zu Hause aus? Das kann ich Ihnen nicht verdenken.« Die Reporterin stand auf und ließ ihre scharfen Katzenaugen über das voll gestopfte, dunkle und verstaubte Zimmer wandern. »Schließlich ist dieser Raum die reinste Müllhalde.« Wortlos marschierte Eve an ihren Computer und überprüfte dort, genau wie an ihrem Link, wann zum letzten Mal auf die Geräte zugegriffen worden war. »Ich habe nichts berührt«, erklärte Nadine beleidigt genug, als dass Eve wusste, dass die Möglichkeit zumindest von ihr in Erwägung gezogen worden war. »Ich habe zu tun, Nadine. Ich habe keine Zeit für Journalisten. Hängen Sie sich an einen Krankenwagen oder belästigen Sie einen der Droiden unten beim Arrest.« »Vielleicht haben Sie ja Interesse, sich etwas Zeit zu
nehmen.« Unbeirrt lächelnd setzte sich Nadine auf den einzigen Besucherstuhl im Raum und schlug erneut die Beine lässig übereinander. »Es sei denn, Ihnen ist es lieber, dass ich mit dem, was ich herausgefunden habe, sofort auf Sendung gehe.« Eve zuckte mit den Schultern, merkte, dass sie schmerzten, streckte ihre in Jeans steckenden Beine aus und kreuzte in Knöchelhöhe ihre ausgelatschten Stiefel. »Was haben Sie herausgefunden? « »Singles auf der Suche nach Romantik inden stattdessen den Tod. Personally Yours: Vermittlungs- oder Killeragentur? Spitzenermittlerin Eve Dallas hat noch keine heiße Spur. « Nadine beobachtete Eve scharf, während sie sprach. Eins musste sie der Polizistin lassen – ihre Miene blieb total ausdruckslos. Trotzdem hatte sie bestimmt ihre Aufmerksamkeit geweckt. »Soll ich das ohne Kommentar der Ermittlungsleiterin in meiner nächsten Sendung bringen?« »Die Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen. Wir haben eine Sonderkommission gebildet, die allen Spuren nachgeht.« Nadine beugte sich vor, schob eine Hand in ihre Tasche und schaltete unauffällig ihren Recorder an. »Dann bestätigen Sie also, dass es eine Verbindung zwischen diesen Morden gibt.« »Ich bestätige überhaupt nichts, solange Ihr Recorder
läuft. « Nadine verzog verärgert ihr hübsches herzförmiges Gesicht. »Also bitte.« »Entweder Sie schalten den Recorder aus und legen ihn gut sichtbar vor sich auf den Tisch, oder ich kon isziere das Gerät und alles, was Sie sonst noch in Ihrem Riesenbeutel beherbergen. Die Verwendung von Aufnahmegeräten ist ohne besondere Erlaubnis auf der Wache nicht erlaubt.« »Himmel, sind Sie streng.« Genervt nahm Nadine den Minirecorder aus der Tasche und legte ihn auf den Tisch. »Und inoffiziell?« Eve nickte. Nadine konnte einem echt auf den Geist gehen, aber sie war eindeutig integer, weshalb keine Notwendigkeit bestand zu prüfen, ob in ihrer Tasche vielleicht noch ein zweiter Recorder verborgen war. »Die Morde, in denen ich ermittle, wurden von ein und derselben Person begangen. Sie sucht ihre Opfer anscheinend über die von Ihnen genannte Partnervermittlung aus. Das können Sie bringen.« »Personally Yours.« Nadine lächelte besänftigt. Eves versteckter Hinweis hatte sie dazu bewogen, sich sämtliche Vermittlungsagenturen in New York genauer anzusehen. Auf diese Weise hätte sie auf Knopfdruck alle Informationen über das Unternehmen und somit einen fertigen Bericht. »Richtig.«
»Was können Sie mir darüber erzählen?« »Der Großteil meiner Notizen ist auf meinem Computer im Büro.« Trotzdem zog Nadine ihren Handcomputer aus der Tasche und rief die betreffenden Daten auf. »Das meiste dürften Sie längst selber haben: Eigentümer, Gründungs jähr, Aufnahmebedingungen für Kandidaten. Sie machen ziemlich teure Werbung über unseren Sender. Haben sich den Spaß allein im letzten Jahr über zwei Millionen kosten lassen. Unsere Überprüfung hat allerdings ergeben, dass sie sich das locker leisten können. Der Betrag ist weniger als zehn Prozent von dem, was ihre Kunden an sie zahlen.« »Romantik ist anscheinend ziemlich profitabel.« »Da haben Sie Recht. Ich habe mich unauffällig bei uns am Sender umgehört. Gut fünfzehn Prozent der Leute dort haben schon mal ihr Glück bei einer Vermittlungsagentur versucht. Die Information der Öffentlichkeit fordert vom Privatleben der Informanten eben ihren Tribut.« »Ist irgendjemand, den Sie mögen, Kunde bei Personally Yours}« »Bestimmt.« Nadine legte den Kopf schräg. »Schließlich mag ich als aufgeschlossenes Wesen jede Menge Leute. Sollte ich mir Sorgen um sie machen?« »Alle drei Opfer waren Kunden bei der Agentur, und zwei von ihnen waren sogar lüchtig miteinander bekannt. Eine andere Verbindung haben wir bisher noch nicht gefunden.«
»Dann hat es der Kerl also auf einsame Herzen abgesehen.« Was für eine Schlagzeile, dachte Nadine und formulierte in Gedanken bereits an ihrem Bericht. »Wie gesagt, wir vermuten, dass er seine Opfer über die Partnervermittlung auswählt.« Viel mehr würde Nadine nicht von Eve bekommen, dieser Satz jedoch war wichtig, und sie wollte, dass die Journalistin das begriff. »Die heute gebildete Sonderkommission geht allen Spuren nach.« »Und wie sehen diese Spuren aus?« »Das kann ich noch nicht sagen.« »Irgendwelche Verdächtigen?« »Mehrere Personen werden von uns befragt.« »Das mögliche Motiv?« Eve dachte kurz nach. »Es handelt sich um Sexualmorde.« »Ah. Tja, das könnte passen. Also haben wir einen bisexuellen Killer? Eins der Opfer war ein Mann, die anderen beiden Frauen.« »Über die sexuellen Neigungen des Mörders kann ich bisher nichts sagen.« Sie dachte an Donnie Ray, und der Gedanke rief Schuldgefühle in ihr wach. »Die Opfer haben den Mörder in ihre Wohnungen gelassen. In keinem der Fälle gab es einen Hinweis darauf, dass er sich gewaltsam Zugang verschafft hat.« »Sie haben ihm die Tür geöffnet? Haben sie ihn gekannt?«
»Zumindest haben sie das wohl gedacht. Sie sollten Ihren Zuschauern raten, es sich gut zu überlegen, ob sie jemandem öffnen, den sie nicht persönlich kennen. Mehr kann ich Ihnen momentan nicht sagen, ohne die Ermittlungen dadurch zu gefährden.« »Er hat in weniger als einer Woche dreimal zugeschlagen. Anscheinend hat er es ziemlich eilig.« »Er geht nach einem ganz bestimmten Schema vor«, antwortete Eve. »Aber das ist noch nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Er hat einen Plan, ein Muster, und dank dieses Musters werden wir ihn kriegen.« »Geben Sie mir ein kurzes offizielles Interview. Ich kann dafür sorgen, dass die Kamera in zehn Minuten hier ist.« »Nein. Noch nicht«, lehnte sie liebenswürdig ab, bevor Nadine wieder sauer werden konnte. »Sie haben mehr Informationen als jeder andere von mir bekommen. Nehmen Sie sie, und seien Sie dankbar. Das Interview bekommen Sie so bald wie möglich. Allerdings wäre ich sicherlich geneigter, vor die Kamera zu treten, wenn Sie mir vorher erzählen würden, was Sie über Piper und Rudy in Erfahrung bringen konnten.« Nadine zog eine Braue in die Höhe. »Eine Hand wäscht die andere. In Ordnung. Ich fahre jetzt zum Sender. Sobald ich – « Als Peabody hereinkam, brach sie ab, und ihre Kinnlade klappte herunter. »Dallas, Sie werden es nicht glauben – hi, Nadine.« »Peabody, sind Sie das?«
Obgleich die Polizistin sich bemühte, möglich gleichgültig zu wirken, musste sie doch grinsen. »Ja, ich habe mich ein bisschen aufpeppen lassen.« »Ein bisschen? Sie sehen phantastisch aus. Ist das eins von Leonardos Stücken? Einfach super.« Sie stand auf und umkreiste Peabody bewundernd. »Ja, es ist von ihm. Steht mir wirklich gut, inden Sie nicht auch?« »Ich bin regelrecht geblendet.« Lachend trat Nadine einen Schritt zurück. Dann jedoch kniff sie die Augen zusammen und wandte sich an Eve. »Sie lassen während laufender Ermittlungen in einem Mordfall Ihre Assistentin Modepuppe spielen? Das kann ich mir nicht vorstellen. Ich würde eher sagen, sie wird von Ihnen als Undercover eingesetzt. Peabody, testen Sie die Vorzüge der Partnervermittlung per Computer?« »Machen Sie die Tür zu, Peabody.« Auf Eves tonlosen Befehl hin, drückte Peabody die Tür ins Schloss. »Nadine, wenn Sie darüber auch nur ein Wort verlieren, kriegen Sie nicht nur von mir nie wieder was zu hören, sondern ich werde darüber hinaus veranlassen, dass kein Cop auf der Wache je wieder ein Wort mit Ihnen spricht.« Nadines Lächeln schwand. »Glauben Sie allen Ernstes, ich würde Ihre Ermittlungen gefährden? Glauben Sie wirklich, ich würde etwas bringen, wodurch Peabody in Gefahr geraten könnte? Gehen Sie zum Teufel, Dallas.« Sie schnappte sich ihre Tasche und wandte sich zum Gehen, Eve jedoch war schneller.
»Ich habe sie in Gefahr gebracht. « Wütend auf sich selbst, riss Eve Nadine die Tasche aus der Hand und warf sie auf den Tisch. »Ich habe ihr den Auftrag gegeben und wenn irgendetwas schief geht, liegt die Schuld daran bei mir.« »Dallas – « »Halten Sie die Klappe«, fuhr sie ihre Assistentin unsanft an. »Wenn es Ihre Gefühle verletzt zu wissen, wie weit ich gehen würde, um Ihre Tarnung und die Ermittlungen in diesem Fall zu schützen, kann ich das nicht ändern.« »Okay.« Nadine atmete tief ein. Es war selten, dass Eve sich auch nur einen Hauch von Angst anmerken ließ. »Okay«, sagte sie noch einmal. »Aber Sie sollten daran denken, dass Peabody eine Freundin von mir ist. Genau wie Sie.« Sie griff sich ihre Tasche und schwang sie über die Schulter. »Hübsche Frisur, Peabody«, lobte sie, öffnete die Tür und verließ mit würdevoll gestrafften Schultern das Büro. »Verdammt«, war alles, was Eve ein iel. Sie drehte sich um, trat vor das schmutzig-graue Fenster und starrte elend auf den dichten Luftverkehr hinaus. »Ich komme damit zurecht, Dallas.« Eve beobachtete einen Airbus, der durch lautes Hupen einen Werbe lieger von seiner Flugbahn vertrieb. »Wenn ich das nicht dächte, hätte ich Ihnen diesen Auftrag sicher
nicht erteilt. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass der Auftrag von mir gekommen ist und dass Sie keinerlei Erfahrung als verdeckte Ermittlerin aufzuweisen haben.« »Sie geben mir die Chance, derartige Erfahrungen zu sammeln. Ich will es zum Detective bringen, und das schaffe ich nur, wenn ich auch verdeckt ermittelt habe. Das wissen Sie genauso gut wie ich.« »Ja.« Eve rammte die Hände in die Taschen ihrer Jeans. »Das weiß ich genauso gut wie Sie.« »Äh… auch wenn mein Körperumfang trotz regelmäßigen Sports ein wenig üppig ist, verstehe ich es durchaus, mich bedeckt zu halten.« Mit einem halben Lachen wandte sich Eve ihr wieder zu. »Ihr Körperumfang ist total in Ordnung. Warum schieben Sie Ihren durchaus wohlgeformten Leib nicht auf einen Stuhl und erstatten mir Bericht?« »Es ist super gelaufen.« Grinsend warf sich ihre Assistentin auf den von der Reporterin geräumten Platz. »Ich meine, wirklich super. Sie haben keine Ahnung, dass ich Polizistin bin und erst vor ein paar Tagen dort war. Ich wurde äußerst zuvorkommend behandelt.« Sie klapperte mit ihren getönten, verlängerten Wimpern, und Eve schnaubte missbilligend. »Wenn Sie Ihrer Begeisterung genügend Ausdruck verliehen haben, hätte ich jetzt gern Ihren Bericht.« »Madam.« Peabody straffte die Schultern. »Wie befohlen habe ich mich zu der Partnervermittlung begeben
und um Aufnahme in die Kundenkartei gebeten. Nach einem kurzen Gespräch wurde ich in einen Raum geführt, in dem sich Piper persönlich mit mir unterhalten hat. Die von mir genannten Daten hat sie in ihren Handcomputer eingegeben. Außerdem hat sie mir eine Erfrischung angeboten.« Wieder blitzten ihre Augen auf. »Ich habe angenommen, da ich dachte, dass das zu meiner neuen Rolle passt. Dallas, Sie haben heiße Schokolade, ich meine echte heiße Schokolade und Zuckerplätzchen, wie es sie bei uns zu Hause an Weihnachten gab. Ich habe drei Rentiere gegessen, bis ich mich zusammenreißen konnte.« »Wenn Sie so weitermachen, brauchen Sie bald statt eines Kleides ein weites Zelt.« »Ja.« Trotzdem seufzte Peabody bei der Erinnerung an den Genuss behaglich. »Ich habe deutlich gemacht, dass ich sofort mit der Partnersuche beginnen möchte, nach dem Motto, Weihnachten allein ist unerträglich traurig. Sie hat großes Verständnis für diesen Wunsch gezeigt, wirkte persönlich engagiert. Ich kann verstehen, weshalb die Leute, die sich an sie wenden, blind darauf vertrauen, dass sie den richtigen Partner indet. Dann wollte sie mich an eine andere Beraterin verweisen, aber ich habe gesagt, die ganze Sache wäre mir ein wenig peinlich, mit ihr aber könnte ich reden, und ich würde, wenn nötig, auch etwas mehr bezahlen, damit sie mich persönlich weiterbetreut.« »Gut gemacht.« »Sie war wirklich nett, hat mir die Hand getätschelt und mir sogar bei der Videoaufnahme geholfen. Gegen Ende
kam Rudy, weil sie noch einen anderen Termin wahrnehmen musste. Auch er hat mich eindeutig nicht erkannt. Er hat sogar mit mir geflirtet.« »Auf was für eine Art?« »Automatisch. Das ist einfach Teil seines Jobs. Beifälliges Lächeln, Komplimente, Händchen halten. Er ist nun wirklich nicht mein Typ«, fügte sie hinzu, »aber ich habe tapfer mitgespielt. Er hat mir eine weitere Tasse heiße Schokolade angeboten, doch der habe ich widerstanden. Dann hat er eine kurze Führung mit mir gemacht und mir einen Clubbereich gezeigt, in dem man seine Partner treffen kann, falls einem der Mut fehlt, die Kontakte außerhalb zu knüpfen. Sehr geschmackvoll und ziemlich elegant. Außerdem haben Sie noch ein kleines, eher gemütliches Café, in dem ich mehrere Paare haben sitzen sehen.« Unvermittelt rümpfte sie die Nase. »McNab haben sie den Laden ebenfalls gezeigt.« »Dann haben wir’s geschafft, und zwar innerhalb des von uns gesetzten Zeitplans. Was ist mit Ihrer Partnerliste?« »Die kann ich mir morgen holen. Es ist ihnen lieber, wenn man die erste Liste persönlich bei ihnen abholt, statt sie sich zuschicken zu lassen. Sie haben mich fast eine Stunde überprüft. Meine neue Identität hat der Überprüfung natürlich standgehalten, und nach allem, was ich sehen konnte, prüfen sie echt gründlich. Wenn ich mich im normalen Leben an dieses Unternehmen wenden würde, hätte ich das Gefühl, dort gut aufgehoben zu sein.«
»Okay, dann holen Sie sich Ihre Liste und verabreden sich mit den Leuten. Aber treffen Sie sich außerhalb des Unternehmens.« Eve dachte kurz nach. »Am besten in einem von Roarkes Lokalen – einer mittelgroßen Kneipe oder Bar. Wir werden ein paar Kollegen dort platzieren. Ich selbst darf mich ja nicht blicken lassen. Falls Rudy oder Piper etwas mit der Sache zu tun haben, würden Sie mich erkennen. Außerdem stellen wir draußen einen Überwachungswagen auf. Ich will, dass Sie morgen Abend zwei, oder noch besser drei der Typen treffen. Schließlich können wir nicht ewig warten, bis der Richtige erscheint.« Sie sah auf ihre Uhr und trommelte mit den Fingern auf die Platte ihres Schreibtischs. »Lassen Sie uns ein leeres Besprechungszimmer suchen. McNab und Feeney müssen wissen, wie wir weiter vorgehen. Uns darf in dieser Sache nicht der kleinste Fehler unterlaufen.« »Wenn McNab wieder anfängt, an mir rumzunörgeln, kriegt er eins auf die Nase.« »Warten Sie, bis wir den Fall abgeschlossen haben«, riet ihre Chefin. »Dann hauen Sie ihn ruhig um.« Sie sah die Lichter am Ende der langen Einfahrt, sobald sie durch das Tor war. Derart hell und strahlend, dass sie zunächst fürchtete, das Haus stünde in Flammen. Sie trat erschreckt das Gaspedal bis auf den Boden durch, doch beim Näherkommen entdeckte sie durch das große Fenster im vorderen Salon die Umrisse eines riesengroßen Baums, von dessen dichten, mit glänzenden roten Kugeln behangenen Zweigen kleine weiße Flammen gen Decke
züngelten. Eilig parkte sie den Wagen, hetzte die Eingangstreppe hinauf, rannte direkt zum Salon, blieb dann jedoch wie angewurzelt stehen und starrte verdattert durch die Tür. Der Baum war mindestens sechs Meter hoch und anderthalb Meter breit. Eine kilometerlange silberne Girlande wand sich elegant zwischen Hunderten von Kugeln durch das dunkelgrüne Geäst. Auf der Spitze, beinahe in Deckenhöhe, war ein Kristallstern mit gleichmäßig pulsierenden Zacken angebracht, und unter dem Baum lagen auf einer blendend weißen Decke – Sinnbild für jungfräulichen Schnee – eine Unzahl elegant verpackter Schachteln, deren Inhalt nicht mal ansatzweise zu erraten war. »Himmel, Roarke.« »Hübsch, nicht wahr?« Er war derart leise hinter sie getreten, dass sie, bevor sie ihn kopfschüttelnd ansah, wie ertappt zusammenfuhr. »Wo zum Teufel hast du dieses Ding her?« »Aus Oregon. Die Wurzel ist noch vollkommen intakt. Nach Silvester spenden wir ihn irgendeinem Park.« Er legte einen Arm um ihre Taille. »Oder besser sie.« »Sie? Du hast noch mehr Bäume bestellt?« »Im Ballsaal steht noch einer, der etwas größer ist.« »Größer?«, brachte sie krächzend hervor. »Und dann steht noch einer in Summersets Quartier
und im Schlafzimmer der, den du bereits kennst. Ich dachte, den schmücken wir heute Abend.« »Man braucht doch sicher Tage, um einen solchen Baum zu schmücken.« »Die Leute, die ich dafür angeheuert habe, waren nach vier Stunden fertig.« Lachend fügte er beruhigend hinzu: »Unserer ist deutlich kleiner«, wandte seinen Kopf, strich mit seinen Lippen über ihre Stirn und meinte: »Ich muss dieses Erlebnis mit dir teilen.« »Ich habe keine Ahnung, wie man so was macht.« »Wir werden es schon lernen.« Sie betrachtete den Baum erneut und konnte nicht verstehen, weshalb dieser Anblick eine solche Unruhe in ihrem Innern wachrief. »Ich habe noch zu tun«, erklärte sie und wollte gehen. Er jedoch legte die Hände auf ihre Schultern und wartete, bis sie ihm ins Gesicht sah. »Ich habe nicht die Absicht, dich von deiner Arbeit abzuhalten, Eve, aber wir haben auch ein Recht auf unser eigenes, gemeinsames Leben. Und ich hätte gern mal wieder einen Abend allein mit meiner Frau.« Sie runzelte die Stirn. »Du weißt, dass ich es hasse, wenn du in diesem Ton >meine Frau< sagst.« »Weshalb sage ich es wohl in diesem Ton?« Als sie versuchte seine Hände abzuschütteln, sah er sie lachend an. »Ich habe dich, Lieutenant, und ich gebe dich nicht frei.« Da er wusste, wie schnell sie zum Gegenangriff übergehen konnte, zog er sie eng an seine Brust. »Also
gewöhn dich besser dran.« »Allmählich machst du mich echt wütend.« »Gut, dann sollten wir zuerst miteinander schlafen. Es ist ein herrliches Abenteuer, Sex mit dir zu haben, wenn du wütend auf mich bist.« »Ich will nicht mit dir schlafen.« Vielleicht hätte sie es ja sogar gewollt, dachte sie verärgert, wenn er sich nicht derart selbstgefällig gebärden würde. »Ah, du forderst mich also heraus. Es wird immer besser.« »Lass mich sofort los, Blödmann, sonst tue ich dir weh.« »Und jetzt drohst du mir auch noch. Du verstehst es wirklich, einen heiß zu machen.« Nein, sie würde ganz bestimmt nicht lachen. Als er sie ins Schlafzimmer manövriert hatte, war sie bereit zum Kampf. Später jedoch sollte sie erkennen, dass Roarke sie zu gut kannte, als dass er noch nennenswert zu überraschen war. Er ließ sie auf die Matratze fallen, warf sich, ehe sie den Angriff starten konnte, auf sie, umfasste ihre beiden Handgelenke und zog sie über ihren Kopf. Ihre Augen blitzten. »So leicht lasse ich mich nicht unterkriegen, Kumpel.« »Gott, das will ich auch nicht hoffen.«
Sie schlang ihm ihre Beine um die Taille, bäumte sich kraftvoll auf und begann mit ihm herumzurollen, bis der arme Galahad, der ein Nickerchen auf ihrem Kop kissen genossen hatte, fauchend aufsprang und in eine ruhige Ecke floh. »Jetzt hast du es geschafft«, knurrte Eve, als sie abermals zuunterst lag. »Du hast den armen Galahad verscheucht.« »Am besten, er sucht sich selber eine Frau«, murmelte ihr Gatte und presste seine Lippen auf ihren vollen Mund. Er spürte, wie sich ihr Pulsschlag erhöhte, wie ein heißer Schauder von ihrem Kopf bis hinab in ihre Zehen rann, doch sie gab nicht nach. Sie war noch nicht bereit, denn er wusste, es gab Zeiten, in denen liebte sie einen schnellen, harten Kampf. Bei Gott, auch er war in der Stimmung für ein kurzes, aber heftiges Gefecht. Er biss ihr in die Unterlippe, genoss das leise Stöhnen, das sie nicht ganz herunterschlucken konnte, öffnete mit einer Hand ihr Waffenhalfter und zerrte es grob über ihre Schulter. Dann schob er, da die Hitze bereits in unmissverständlicher Intensität von ihr ausging, eine Hand in die Öffnung ihres Hemdes und riss es in der Mitte auf. Endlich reckte sich ihm ihr Körper herausfordernd entgegen. »Himmel, ich begehre dich. Nie ist es genug.« Sein Mund schloss sich um ihre Brustknospe.
Nein, es war nie genug, war auch ihr letzter klarer Gedanke. Das Saugen seiner Lippen ließ ihren Leib vibrieren wie schneller, harter Rock, und mit einem gutturalen Schrei bäumte sie sich auf. Sie meinte, von innen zu verglühen. Endlich waren ihre Hände frei, und sie riss an seinem Hemd und vergrub Finger, Mund und Zähne in seiner nackten Haut. Erneut rollten sie herum, zerrten an ihren Kleidern, peinigten die Haut des jeweils anderen mit schmerzlich harter Streichelei und habgierigen kleinen Bissen. Seine Männlichkeit lag so hart wie Eisen und zugleich so weich wie Seide in ihrer heißen Faust. »Jetzt, jetzt, jetzt.« Wieder reckte sie sich ihm entgegen, und sobald er in sie eindrang, katapultierte er sie zu einem gleißenden Höhepunkt. Keuchend hielt er sie in seinen Armen, blinzelte und sah sie an. Das Feuer im Kamin am Ende des Raumes tauchte ihr Gesicht in Licht und Schatten, iel schimmernd auf ihr Haar und lackerte in ihren Augen, die blind waren von dem, was ihnen beiden miteinander zuteil geworden war. »Wie gesagt, ich habe dich und lasse dich nie wieder gehen«, murmelte er, zog sich ein Stück aus ihr zurück, drang erneut in sie und hob ihre Hüften mit beiden Händen an. »Komm noch einmal«, bat er und begann sie mit langen, harten Stößen zu verwöhnen.
Sie umklammerte das Laken, als löge sie andernfalls schwerelos davon, und erblickte im Schein des Feuers seine schwarz glänzenden Haare, seine strahlend blauen Augen, seine glatten Muskeln und seine goldene, schweißglänzende Haut. Freude und Verlangen trieben ihr die Tränen in die Augen, er verschwamm zu einem goldenen Schatten, und sie stammelte, als sie nochmals einen überwältigenden Orgasmus erreichte, mit rauer Stimme seinen Namen. »Und noch einmal.« Er neigte seinen Kopf, presste seinen Mund auf ihre Lippen, umfasste ihre Hände und schob sich wieder in sie. »Noch einmal.« Das Blut rauschte durch seine Adern. »Und zwar mit mir zusammen.« Und dann hauchte er »Eve«, nichts anderes als »Eve«, und pumpte alles, was er war und was er hatte, kraftvoll in sie hinein. Unter dem Gewicht seines Körpers, eingehüllt in das Licht der tanzenden Flammen, verlor sie jegliches Gefühl für Zeit. Sie überlegte vage, ob es wohl normal war, einen Menschen so zu brauchen und zu lieben, dass es wehtat. Er wandte seinen Kopf, strich mit seinen Haaren über ihre Wange, mit seinen Lippen über ihren Hals, und sie kam zu dem Ergebnis, dass die Frage bar jeder Bedeutung war. »Ich hoffe, jetzt bist du zufrieden«, murmelte sie deutlich weniger schnippisch als geplant und merkte, dass sie eine ihrer Hände wie selbstständig über seinen Rücken gleiten ließ.
»Mmm. Ich glaube schon.« Noch einmal nagte er an ihrem Hals, hob dann den Kopf und sah ihr ins Gesicht. »Und ich habe den Eindruck, dass auch du durchaus nicht unzufrieden bist. « »Ich habe dich gewinnen lassen.« »Ja, ich weiß.« Angesichts des Blitzens seiner Augen entfuhr ihr ein empörtes Schnauben. »Runter von mir, du bist schwer.« »Okay.« Er kletterte aus dem Bett und zog sie mit sich. »Lass uns duschen, und danach schmücken wir den Baum.« »Weshalb bist du nur derart von Weihnachtsbäumen besessen?« »Ich habe schon seit Jahren keinen Weihnachtsbaum geschmückt – den letzten hatten Summerset und ich in Dublin –, und ich will schlicht sehen, ob ich es noch kann.« Er trug sie unter die Dusche, und da sie seine Vorliebe für kaltes Wasser kannte, hielt sie ihm den Mund zu und bestellte: »Wasser an, und zwar auf siebenunddreißig Grad.« »Das ist doch viel zu heiß«, murrte er hinter ihrer Hand. »Damit musst du leben.« Aus allen Richtungen kam dampfend heißes Wasser, und sie seufzte vor lauter Wohlbehagen auf. »O ja, so ist es gut.« Als sie fünfzehn Minuten später mit warmen, weichen
Muskeln und zugleich wunderbar erfrischt aus der Trockenkabine stieg, trocknete sich Roarke gerade mit einem Handtuch ab. Auch das war so eine Marotte, die sie nicht verstand. Weshalb sollte man Zeit damit vergeuden, sich mit einem Handtuch abzurubbeln, während eine schnelle Drehung in der Trockenkabine reichte? Sie streckte die Hand nach ihrem Morgenmantel aus und merkte, dass es nicht derselbe war wie der, der am Morgen von ihr im Bad zurückgelassen worden war. »Was ist das?« Sie blickte auf das scharlachrote, weich fließende Gewand. »Kaschmir. Es wird dir bestimmt gefallen.« »Du hast mir schon Millionen von Morgenmänteln gekauft. Ich verstehe einfach nicht…« Doch als sie hineinschlüpfte, brach ihre Stimme ab. »Oh.« Sie hasste es, wenn sie sich in etwas Ober lächlichem wie einem Kleidungsstück verlor. Das hier jedoch war warm wie eine Umarmung und weich wie eine Wolke, und so stellte sie ihre Gegenwehr mit einen knurrigen »Nicht übel« ein. Grinsend zog er den Gürtel seines schwarzen Kaschmir-Morgenmantels zu. »Steht dir. Komm, du kannst mir von deinem Fall erzählen, während ich nach der Lichterkette sehe.« »Peabody und McNab waren beide erfolgreich. Sie kriegen ihre Partnerlisten morgen.« Sie wanderte ins Schlafzimmer zurück, entdeckte neben einer Flasche eisgekühlten Champagners ein silbernes Tablett mit Kanapees und schob sich, ehe sie zwei Gläser füllte,
achselzuckend ein köstliches Häppchen in den Mund. »Die Tarnung, die du ihnen verschafft hast, hat der Überprüfung standgehalten.« »Natürlich.« Roarke nahm eine lange, mit winzigen Lämpchen versehene Kette aus einer großen Schachtel und hielt sie prüfend in die Luft. »Bilde dir bloß nichts darauf ein. Schließlich sind wir erst am Anfang. Als ich auf die Wache kam, hat Nadine in meinem Büro auf mich gewartet«, fügte Eve hinzu und stellte Roarkes Champagner auf den Tisch neben dem Bett. »Sie hat Peabody gesehen, also musste ich ihr mehr erzählen als ich wollte. Aber natürlich nicht offiziell.« »Nadine ist eine der wenigen Reporterinnen, denen man vertrauen kann.« Roarke studierte erst den Baum und dann die Kette und kam zu dem Ergebnis, am besten inge er einfach irgendwo an. »Sie wird keine Meldung bringen, die die Ermittlungen eventuell gefährdet.« »Ja, ich weiß. Das haben wir geklärt.« Während Roarke mit seiner Arbeit an ing, umkreiste sie stirnrunzelnd den Baum. Sie hatte keine Ahnung, ob er auch nur im Entferntesten wusste, was er tat. »Wenn Piper und Rudy mich nicht gesehen hätten, hätte ich selbst verdeckt ermittelt. « Die erste Kette hing, und Roarke nahm die zweite aus der Box. »Womöglich hätte ich ja gar nicht gewollt, dass sich meine Frau mit fremden Männern trifft.« Sie kehrte zurück zu dem Tablett und wählte ein zweites verführerisches Häppchen. »Ich hätte mit keinem
von ihnen geschlafen… solange es nicht dringend erforderlich gewesen wäre.« Sie musterte ihn grinsend. »Und dann hätte ich die ganze Zeit an dich gedacht.« »Da hättest du nicht lange denken müssen, denn ich hätte dem Kerl die Eier abgeschnitten und sie dir mit einer Verbeugung überreicht.« Während er in aller Ruhe weiter mit der Lichterkette hantierte, verschluckte sie sich an ihrem letzten Schluck Champagner. »Himmel, Roarke, ich habe doch nur einen Witz gemacht.« »Mmm-hmm. Ich auch, Schätzchen. Gib mir doch bitte noch so eine Kette aus der Schachtel.« Unsicher nahm Eve die nächste Lichterkette aus der Kiste. »Wie viele von den Dingern willst du noch aufhängen?« »So viele, wie ich brauche.« »Aha.« Sie atmete vorsichtig aus. »Was ich sagen wollte, war, dass ich schon mal verdeckt ermittelt habe, Peabody hingegen nicht. « »Peabody hat eine gute Ausbildung genossen. Du solltest ihr und auch dir selber trauen.« »McNab ist nach wie vor sauer, weil ich sie diese Sache machen lasse.« »Das liegt lediglich daran, dass er einen Narren an ihr gefressen hat.« »Er führt sich auf – wie bitte?«
»Er ist in sie verschossen.« Roarke trat einen Schritt zurück, befahl »Lichter an«, und nickte zufrieden, als die kleinen Lämpchen blinkten. »Ja, das müsste reichen.« »Was willst du damit sagen: verschossen? Verschossen wie verknallt? McNab? Niemals.« »Er ist sich noch nicht ganz sicher, ob er sie wirklich mag, aber er fühlt sich zu ihr hingezogen.« Um sein Werk aus einem anderen Winkel zu betrachten, ging Roarke in Richtung Bett, nahm sein Glas und nippte genüsslich an seinem eiskalten Getränk. »Als Nächstes kommt der Schmuck.« »Er geht ihr total auf die Nerven.« »Ich glaube, dass es dir mit mir am Anfang ähnlich ging.« Im Licht des Baumes und des Feuers prostete er seiner Gattin verschwörerisch zu. »Und jetzt sind wir ein Paar.« Eve starrte ihn volle zehn Sekunden sprachlos an und plumpste dann aufs Bett. »Na super, wirklich super. Ich kann die beiden ja wohl kaum zusammen verdeckt ermitteln lassen, wenn etwas in der Richtung zwischen ihnen läuft. Mit Ärger komme ich zurecht, mit etwas, was auch nur entfernt mit Sex zu tun hat, aber sicher nicht.« »Manchmal muss man seine Kinder loslassen können, Schatz.« Er öffnete eine andere Schachtel und nahm einen antiken Porzellanengel heraus. »Du hängst das erste Schmuckstück auf. Das wird unsere ganz private kleine Tradition.«
Eve starrte auf den Engel. »Wenn ihr irgendwas passiert – « »Du wirst nicht zulassen, dass ihr etwas passiert.« »Nein.« Sie atmete hörbar aus und stand entschlossen auf. »Das werde ich nicht. Allerdings werde ich dazu deine Hilfe brauchen.« Er streckte einen Arm aus und strich mit einer Fingerspitze über das kleine Grübchen in der Mitte ihres Kinns. »Kein Problem.« Sie wandte sich ab, wählte einen Zweig und hängte behutsam den Engel daran auf. »Ich liebe dich. Ich schätze, auch das ist inzwischen eine ganz private kleine Tradition.« »Und zwar die allerbeste.« Spät, sehr spät in jener Nacht, nachdem nicht nur die Lichter, sondern auch die Flammen im Kamin erloschen waren, lag sie wach in ihrem Bett. War er jetzt irgendwo dort draußen unterwegs? Würde noch vor dem Morgengrauen abermals ihr Handy piepsen, weil eine neue Leiche gefunden worden war? Wer war seine neue große Liebe, wen liebte er jetzt?
10 Kurz vor Anbruch der Dämmerung ing es an zu schneien. Allerdings keine weichen weißen Flocken, wie man sie von Ansichtskarten kannte, sondern dünne, widerliche nasse Tropfen, die mit einem hässlichen Platschen auf die Erde schlugen und auf Bürgersteigen, Gleitbändern und Straßen eine rutschige, hässlich graue Matschschicht hinterließen, aufgrund derer, bis Eve in ihrem Büro auf dem Revier saß, sowohl ein Heer von Sanitätern als auch die Verkehrswacht voll beschäftigt war. Vor ihrem Fenster lieferten sich zwei Helikopter der Wetterstationen zweier rivalisierender Kanäle ein heftiges Duell, in dem es darum ging, den Zuschauern als Erster die Nachricht von dem schlechten Wetter, der letzten verbeulten Stoßstange und den Horden bereits gestürzter Fußgänger zu übermitteln. Ebenso gut jedoch, dachte die schlecht gelaunte Eve, hätten die Leute einfach ihre verdammten Haustüren öffnen und dadurch mit eigenen Augen sehen können, wie grässlich es an diesem Morgen draußen war. Es roch geradezu nach einem elendigen Tag. Sie wandte sich vom Fenster ab und gab, obgleich sie wenig Hoffnung hatte, ein vernünftiges Ergebnis zu erzielen, die Daten für eine Wahrscheinlichkeitsberechnung in den Computer ein. »Computer, Wahrscheinlichkeitsprogramm. Ich
brauche eine Analyse sämtlicher vorhandener Daten und im Anschluss eine Liste der wahrscheinlich nächsten Opfer unseres stets neu verliebten Killers.« Suche… »Ja, tu das«, murmelte sie, kramte, während sich die Kiste quietschend und piepend an die Arbeit machte, Kopien der bei Personally Yours kon iszierten Fotos aus der Akte und pinnte sie an ein Brett über ihrem Schreibtisch. Marianna Hawley, Sarabeth Greenbalm, Donnie Ray Michael. Sie alle zeigten sich von ihrer besten Seite, hatten hoffnungsvoll lächelnde Gesichter. Drei einsame Gestalten auf der Suche nach ein wenig Liebe. Die Büroangestellte, die Strippern, der Saxophonist. Völlig verschiedene Lebensstile, völlig verschiedene Bedürfnisse, völlig verschiedene Ziele. Was hatten sie gemeinsam? Welche Verbindung zu dem Mörder hatte sie bisher übersehen? Was stellte er fest, wenn er sie ansah, das ihn anzog und gleichzeitig erboste? Ganz normale Menschen mit ganz normalen Leben. Die Wahrscheinlichkeit ist für sämtliche Personen gleich. Eve warf einen Blick auf den Computer und schnaubte zornig. »Verdammt. Irgendetwas muss es geben.« Für eine eingehendere Analyse reichen die Daten nicht aus. Die bisherige Auswahl weist kein bestimmtes Muster
auf. »Verdammt, wie zum Teufel soll ich zweitausend Leute beschützen?« Sie schloss die Augen und atmete tief durch. »Computer, Streichung sämtlicher Personen, die nicht alleine leben.« Suche… Fertig. »Und, wie viele bleiben?« Sechshundertvierundzwanzig… »Scheiße.« Sie betrachtete erneut die Fotos. »Streichung sämtlicher Personen über fünfundvierzig und unter einundzwanzig.« Suche… Fertig. »Okay, in Ordnung.« Sie begann in dem kleinen Zimmer auf und ab zu laufen, bis sie sich den Ausdruck griff und ihn rasch durchblätterte. »Das erste Mal«, murmelte sie leise. »Sie waren alle zum ersten Mal bei der Vermittlungsagentur. Computer, Streichung sämtlicher Personen, die schon öfter bei Personally Yours beraten worden sind.« Suche… Als der Computer an ing zu keuchen, schlug Eve ungeduldig mit der flachen Hand auf das Gerät. »Miststück«, knurrte sie und biss, als der Computer quietschte, die Zähne aufeinander. … fertig.
»Fang ja nicht an zu stottern. Wie viele bleiben jetzt noch?« Zweihundertsechs. »Besser. Viel besser. Druck die Namensliste aus.« Während der Kasten die Daten ausspie, wählte Eve die Nummer der Abteilung für elektronische Ermittlung. »Feeney, ich habe hier gut zweihundert Namen, die ich überprüfen lassen muss. Kannst du das für mich machen? Guck, wie viele dieser Leute die Stadt verlassen haben, irgendwie verbandelt, im Schlaf gestorben oder gerade im Urlaub auf dem Planeten Disney sind.« »Schick die Namen rüber.« »Danke.« Als sie lautes, anerkennendes Pfeifen aus dem Vorraum hörte, hob sie überrascht den Kopf. »Es ist wirklich wichtig«, sagte sie noch zu Feeney und legte auf, als Peabody mit roten Wangen durch die Tür kam. »Himmel, man könnte tatsächlich meinen, diese Ochsen hätten mich noch nie anders als in Uniform gesehen. Henderson hat mir sogar angeboten, Frau und Kinder zu verlassen, um mit mir für ein Wochenende nach Barbados zu fliegen.« Das Blitzen ihrer Augen jedoch zeigte, dass Peabody mit der Reaktion der Männer nicht unbedingt unzufrieden war. Eve runzelte die Stirn. Seidig weiche Haare rahmten Peabodys perfekt geschminktes Gesicht, und durch den kurzen, engen, himbeerroten Rock sowie die
stilettoabsatzbewehrten Stiefel in derselben Farbe wurden ihre wohlgeformten Beine vorteilhaft betont. »Wie zum Teufel können Sie sich in dieser Aufmachung bewegen?«, wollte Eve von ihrer Assistentin wissen. »Ich habe zu Hause geübt.« Eve atmete tief ein und langsam wieder aus. »Nehmen Sie Platz, und lassen Sie uns unser weiteres Vorgehen besprechen.« »Okay, aber ich brauche etwas Zeit, um mich in diesem Rock zu setzen.« Peabody stützte sich mit einer Hand auf der Schreibtischkante ab und beugte dann langsam die Knie. »Versuchen Sie Kniebeugen zu machen, oder was?« »Eine Sekunde. Das Ding ist um die Hüfte rum ein bisschen eng. « »Sie hätten an Ihre inneren Organe denken sollen, bevor Sie in das Ding gestiegen sind. Sie haben eine Stunde, bevor Sie bei Personally Yours erscheinen müssen, und ich möchte, dass Sie – « »Was zum Teufel machen Sie in einem solchen Aufzug?« McNab stand wie vom Donner gerührt an der Tür und starrte auf Peabodys Beine. »Meine Arbeit«, erwiderte sie schnaubend. »Auf diese Art und Weise fordern Sie das Unglück geradezu heraus. Dallas, sagen Sie ihr, sie soll was anderes anziehen.«
»Ich bin keine Modeberaterin, McNab, und selbst wenn ich eine wäre – « Eve betrachtete eingehend seine schlabberige rot-weiß gestreifte Hose und den buttergelben Rolli, den er darüber trug –, »würde ich wahrscheinlich eher etwas zu den von Ihnen gewählten Kleidungsstücken sagen.« Peabody begann vergnügt zu kichern, Eve jedoch musterte beide mit zusammengekniffenen Augen und erklärte: »So, Kinder, vielleicht ist euch bewusst, dass es um die Jagd auf einen Serienmörder geht. Wenn ihr euch nicht vertragen könnt, muss ich das gemeinsame Spiel heute Nachmittag beenden.« Sofort straffte Peabody die Schultern und enthielt sich, nicht ohne McNab mit einem letzten herablassenden Blick zu bestrafen, klugerweise eines Kommentars. »Peabody, ich möchte, dass Sie Piper dazu bringen, Sie auch weiter persönlich zu beraten. McNab, Sie machen das Gleiche bei Rudy. Sobald Sie Ihre Partnerlisten haben, schlendern Sie durch die Geschäfte und sorgen dafür, dass man Sie dort bemerkt.« »Können wir auch was kaufen?«, wollte McNab wissen, zuckte auf Eves verständnislosen Blick hin gelassen mit den Schultern und vergrub die Hände in den weiten Taschen seiner Hose. »Wir würden sicher eher bemerkt, wenn wir ein paar Sachen kauften und uns dabei mit den Verkäuferinnen und Verkäufern unterhielten.« »Sie haben jeder zweihundert Dollar zur Verfügung. Alles, was darüber hinausgeht, ist Ihr persönliches
Problem. McNab, wir wissen, dass Donnie Ray in dem Schönheitssalon Kosmetikprodukte für seine Mutter erstanden hat. Dort sollten Sie also auf alle Fälle etwas Zeit verbringen.« »Ich fürchte, selbst ein ganzer Monat würde nicht genügen, um ihn auf Vordermann zu bringen«, grummelte Peabody und bedachte Eve, als die sie inster ansah, mit einem unschuldigen Blick. »Peabody, auch Hawley hat Geld in dem Salon gelassen und außerdem bei Die begehrenswerte Frau, einem Dessousgeschäft im elften Stock. Sehen Sie sich dort um.« »Sehr wohl, Madam.« »Sie beide müssen so viele Leute von den Listen wie möglich kontaktieren. Verabreden Sie sich. Ich will, dass die Sache heute Abend anfängt. Als Treffpunkt nehmen Sie den Nova Club in der Dreiundfünfzigsten. Je früher am Abend Sie beginnen, umso besser. Versuchen Sie, das erste Treffen schon um vier Uhr hinzukriegen, und die anderen jeweils mit einer Stunde Abstand. Machen Sie so viele Termine, wie es überhaupt nur geht. Wir wissen noch nicht, ob er letzte Nacht erneut zugeschlagen hat. Eventuell haben wir Glück, und es ist nichts passiert. Aber er wird nicht mehr lange warten.« Wieder blickte sie auf die Fotos. »Wir werden Beamte in dem Club postieren. Feeney und ich werden draußen bleiben, aber in ständigem Kontakt zu Ihnen stehen. Sie werden beide Sender mitbekommen, und keiner von Ihnen verlässt mit wem auch immer das Lokal. Wenn Sie auf die
Toilette müssen, geben Sie ein Zeichen, und einer unserer Leute wird Sie dorthin begleiten.« »Bisher hat er noch nie in der Öffentlichkeit zugeschlagen«, stellte Peabody fest. »Trotzdem gehe ich nicht das geringste Risiko mit meinen Leuten ein. Entweder Sie halten sich genauestens an die Anweisungen, oder Sie sind draußen. Übermitteln Sie Feeney und mir die Partnerlisten, sobald Sie sie bekommen. Und falls sich irgendjemand bei Personally Yours oder einem der Läden in dem Gebäude auffallend für Sie interessiert, machen Sie auf der Stelle Meldung. So. Noch irgendwelche Fragen?« Als beide durch Kopfschütteln verneinten, zog Eve die Brauen in die Höhe. »Also gut, fangen wir an.« Als sich Peabody ein wenig mühsam von ihrem Platz erhob, verkniff sie sich ein Grinsen. Und als ihre Assistentin an McNab vorbeimarschierte und, ohne ihn noch eines Blickes zu würdigen, das Büro verließ, rollte dieser mit den Augen und stellte zähnebleckend fest: »Sie hat nicht die mindeste Erfahrung.« »Aber sie ist gut«, antwortete Eve. »Vielleicht, aber trotzdem behalte ich sie im Auge.« »Das ist nicht zu übersehen«, murmelte seine Vorgesetzte, als auch er endlich den Raum verließ. Noch einmal trat sie vor die Fotos. Die drei Gesichter ließen ihr keine Ruhe. Das, was ihnen widerfahren war, lastete auf ihrer Seele wie kein anderer Fall zuvor.
Ihr fehlte die Distanz, erinnerte sie sich. Sie konzentrierte sich zu stark auf das, was vorgefallen war, und nicht auf das Warum. Sie schloss einen Moment die Augen und rieb sie so fest, als ob sie die Bilder damit aus der Erinnerung löschen könnte. Warum gerade diese drei?, fragte sie sich zum x-ten Mal und studierte Marianna Hawleys fröhlich lächelndes Gesicht. Büroangestellte, überlegte sie und bemühte sich, die gleiche Charakterisierung vorzunehmen wie bei der Auswahl des Parfüms für Dr. Mira. Zuverlässig, altmodisch, romantisch. Hübsch auf eine dezente, heimelige Art. Enge familiäre Bindungen. Interesse am Theater. Eine ordentliche Frau, die gern von hübschen Dingen umgeben gewesen war. Eve schob die Daumen in die Tasche ihrer Hose und wandte sich dem zweiten Foto zu. Sarabeth Greenbalm. Stripperin. Eine einsame Person, die sparsam mit Geld umgegangen war und Visitenkarten gesammelt zu haben schien. Ebenfalls durchaus zuverlässig. Hatte bescheiden gelebt, ihren Lohn gespart und ihr Trinkgeld bereits im Vornhinein berechnet. Keine erkennbaren Hobbys, Familienbande oder Freunde. Und dann Donnie Ray, überlegte sie, der junge Mann, der seine Mutter abgöttisch geliebt hatte und ein mehr als passabler Saxophonist gewesen war. Er hatte wie ein
Schwein gelebt und gelächelt wie ein Engel. Hatte ab und zu gekifft, aber niemals auch nur einen Auftritt platzen lassen. Und plötzlich iel es ihr beim Anblick der drei Opfer, die einander nie begegnet waren, wie Schuppen von den Augen. Das Theater. »Ja, genau. Computer, ich brauche das, was in den Personally-Yours-Akten von Hawley, Marianna, Greenbalm, Sarabeth und Michael, Donnie Ray über ihre Berufe und Hobbys beziehungsweise besonderen Interessen steht.« Suche… Hawley, Marianna, Verwaltungsangestellte bei dem Unternehmen Foster-Brinke. Besonderes Interesse am Theater, Mitglied in der West-SideLaienschaupielgruppe. Weitere Hobbys »Stopp, weiter bei Greenbalm.« Greenbalm, Sarabeth, Tänzerin… »Stopp. Und der gute Donnie Ray hat Saxophon gespielt.« Sie überlegte, was das zu bedeuten haben mochte, und fragte schließlich den Computer: »Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Killer seine Opfer wegen ihres gemeinsamen Interesses am Theater oder einer anderen Form des Entertainments wählt?« Suche… Gemäß den vorliegenden Informationen beträgt die Wahrscheinlichkeit dreiundneunzig Komma zwei Prozent.
»Gut, verdammt gut.« Aufatmend zog sie ihr piepsendes Handy aus der Tasche. »Dallas.« »Zentrale, Lieutenant Eve Dallas. Bitte fahren Sie in die Achtzehnte West 341, Appartement 2. Jemand hat versucht, das dort lebende Paar zu überfallen. Die Wahrscheinlichkeit, dass es einen Zusammenhang zwischen diesem Vorfall und Ihren Ermittlungen gibt, beträgt achtundneunzig Komma acht Prozent.« Eve war bereits aufgesprungen und hatte eine Hand im Ärmel ihrer Jacke. »Hier spricht Dallas. Bin schon unterwegs, Ende.« »Es war halt etwas seltsam.« Die Frau war winzig und nicht weniger zerbrechlich als die Elfen, die an dem kleinen weißen Glasbaum tanzten, der in der Mitte des großen Fensters des umgebauten Loft befestigt war. »Aber Jacko nimmt solche Dinge immer gleich so furchtbar ernst.« »Ich wusste gleich, dass was nicht stimmt. Der Kerl war nicht echt, Cissy.« Stirnrunzelnd legte Jacko einen Arm um die Schulter der Frau. Körperlich war er genau das Gegenteil von ihr. Mit seinen fast einen Meter neunzig, seiner kräftigen Gestalt und seinem stählernen, am Kiefer und über der rechten Braue von Narben verunzierten Gesicht sah er wie der typische Footballspieler aus. Sie war bleich wie ein Mondstrahl, er dunkel wie die Nacht, und ihre schmalen Finger wurden von seiner großen Pranke mühelos verschluckt.
Das Loft war in drei Bereiche aufgeteilt. Eve, die sich im Wohnbereich befand, erhaschte durch eine Öffnung in der p irsichfarbenen Glaswand einen Blick auf ein breites, ungemachtes Bett. Jacko saß ihr gegenüber auf einem langen, u-förmigen Sofa, das bequem zwanzig Personen Platz geboten hätte, und beanspruchte dort Raum für drei. »Erzählen Sie mir einfach, was passiert ist.« »Das haben wir doch alles gestern Abend schon der Polizei erzählt«, erklärte Cissy lächelnd, wobei jedoch ihr Blick eine gewisse Verärgerung verriet. »Jacko hat darauf bestanden, sie zu rufen. Dabei war das sicher nur ein dummer Scherz.« »Den Teufel war es. Hören Sie.« Er beugte sich nach vorn, und seine kurzen Locken wippten. »Dieser Kerl kommt in seiner Weihnachtsmannverkleidung mit einer großen, verpackten Schachtel an die Tür, brüllt laut Hoho und macht ein unglaubliches Trara.« Eves Magen zog sich zusammen, doch ihre Stimme blieb ungerührt, als sie fragte: »Und wer hat ihm geöffnet?« »Ich.« Cissy fuchtelte mit ihren Händen. »Mein Dad lebt in Wisconsin, und wenn ich an Weihnachten nicht zu ihm kommen kann, schickt er mir immer irgendein witziges Geschenk. Dieses Jahr kann ich ihn nicht besuchen, also habe ich gedacht, er hätte jemanden geschickt, der sich als Weihnachtsmann verkleidet. Und ich denke nach wie vor – «
»Der Kerl kam garantiert nicht von deinem Daddy«, iel Jacko ihr ins Wort. »Sie lässt ihn also rein. Ich bin noch in der Küche, höre, wie sie lacht, höre die Stimme dieses Typen – « »Jacko ist entsetzlich eifersüchtig. Das war von Anfang an das größte Problem in unserer Beziehung.« »Unsinn, Cissy. Manche Frauen wissen erst, dass ein Kerl es schlecht mit ihnen meint, wenn er seine Pfoten bereits in ihren Unterhosen hat. Himmel.« Jacko entfuhr ein erbostes Schnauben. »Tja, und als ich aus der Küche komme, macht er sich bereits an sie heran.« »Er macht sich an sie heran?«, wiederholte Eve, während Cissy schmollte. »Ja, das war nicht zu übersehen. Er hatte dieses breite Grinsen und dieses unheilvolle Blitzen in den Augen.« »Um Himmels willen, Jacko«, fuhr Cissy ihn an. »Die Augen des Weihnachtsmannes müssen blitzen.« »Weshalb haben sie dann aufgehört zu blitzen, als ich in den Flur kam? Er blieb wie angewurzelt stehen, und die Kinnlade iel ihm herunter. Ich kann Ihnen versichern, das Hoho ist ihm vergangen. Und dann hat er plötzlich kehrtgemacht und ist wie von Furien gehetzt davongerannt.« »Schließlich hast du auch wie ein Wahnsinniger gebrüllt.« »Erst, als er losgelaufen ist.« Jacko wedelte frustriert
mit seinen Pranken durch die Luft. »Ja, verdammt, ich habe tatsächlich gebrüllt. Ich wollte ihn noch erwischen, und das hätte auch geklappt, wenn mir Cissy nicht in den Weg getreten wäre. Bis ich sie endlich abgeschüttelt hatte und auf die Straße kam, war er leider längst über alle Berge.« »Hat sich der Beamte, der auf Ihren Anruf hierher kam, die Überwachungsdisketten geben lassen?« »Ja, er sagte, das wäre Routine.« »Das ist richtig. Wie hat er geklungen?« »Wie er geklungen hat?« Cissy blinzelte verwirrt. »Seine Stimme. Erzählen Sie mir, wie seine Stimme geklungen hat.« »Hm… irgendwie fröhlich.« »Himmel, Cissy, musst du eigentlich üben, um derart blöd zu sein? Das war natürlich gekünstelt«, sagte Jacko zu Eve, während Cissy beleidigt aufsprang und – Eve iel kein passenderes Wort ein – in die Küche hinüberwuselte. »Sie kennen doch diese aufgesetzte Fröhlichkeit von Leuten. Tief und dröhnend. Er hat etwas gesagt wie… >Warst du auch ein braves kleines Mädchen? Dann habe ich etwas für dich. Ganz speziell für dich.< Dann bin ich in den Flur getreten, und er hat geguckt, als hätte er eine lebende Forelle heruntergeschluckt.« »Sie haben ihn nicht erkannt?«, wollte Eve von Cissy wissen. »Unter dem Kostüm und dem Make-up hatte er nichts an sich, das Ihnen irgendwie bekannt vorgekommen ist? Vielleicht seine Stimme oder die Art, in der er sich
bewegt hat?« »Nein.« Sie kam zurück und nippte, ohne Jacko auch nur eines Blickes zu würdigen, an einem Glas mit Sprudel. »Aber er war ja auch nur ein paar Minuten da.« »Sie müssen sich bitte die Disketten noch mal ansehen. Falls Ihnen irgendwas an ihm bekannt vorkommt, sagen Sie es mir. Es ist lebenswichtig.« »Ist das nicht in bisschen viel der Mühe wegen eines dummen Scherzes?« »Ich glaube nicht. Wie lange leben Sie beide schon zusammen?« »In den letzten Jahren ging es zwischen uns beiden dauernd hin und her.« »Vor allem in der letzten Zeit«, murmelte Jacko mit erboster Stimme. »Wenn du nicht so besitzergreifend wärest und nicht jeden Mann, der mich auch nur von der Seite anguckt, dumm anmachen würdest – «, setzte Cissy an, Eve jedoch hob in der Hoffnung, den Streit der beiden noch etwas zu verzögern, entschieden eine Hand und fragte: »Cissy, womit verdienen Sie Ihren Lebensunterhalt?« »Ich bin Schauspielerin und gebe, wenn ich nicht gerade selber eine Rolle habe, Schauspielunterricht.« Das passt, dachte Eve. »Sie ist einfach phantastisch«, erklärte Jacko mit einem stolzen Grinsen. »Augenblicklich probt sie für ein Stück
vom Broadway. « »Ziemlich weit von dort entfernt«, verbesserte Cissy, lächelte Jacko jedoch an und nahm wieder neben ihm Platz. »Sicher wird es ein Riesenerfolg.« Er küsste eine ihrer wohlgeformten Hände. »Cissy hat beim Vorsprechen zwanzig andere Frauen aus dem Feld geschlagen. Das Stück wird ihr großer Durchbruch.« »Ich werde versuchen, es mir anzusehen. Cissy, waren Sie jemals Kundin bei einem Unternehmen namens Personally Yours}« »Hm…« Sie blickte zu Boden. »Nein.« »Cissy«, sagte Eve im Ton der Polizistin und beugte sich ein Stück nach vorn. »Wissen Sie, welche Strafe darauf steht, wenn man während einer polizeilichen Vernehmung lügt?« »Himmel, ich verstehe wirklich nicht, was Sie das angeht.« »Was ist das für ein Unternehmen?«, fragte Jacko. »Eine Partnervermittlungsagentur.« »Meine Güte, Cissy! Meine Güte.« Wütend sprang Jacko von der Couch und brachte, als er durch das Zimmer stürmte, das Nippzeug auf den Tischen zum Erbeben. »Was zum Teufel ist bloß mit dir los?« »Wir hatten uns getrennt!« Die kleine Elfe brüllte tatsächlich noch lauter als der zornige Gigant. »Ich war furchtbar wütend und dachte, vielleicht wäre so was mal
ganz amüsant. Und es wäre dir eventuell endlich mal eine Lehre. Außerdem kann ich, wenn wir nicht zusammenleben, ja wohl sehen, wen ich will.« »Falsch gedacht, Schätzchen.« Mit blitzenden schwarzen Augen fuhr er zu ihr herum. »Sehen Sie, sehen Sie?«, wandte Cissy sich an Eve. Ihre zuvor so sanften Augen waren plötzlich hart wie Stahl. »Sehen Sie, was ich mit diesem Menschen auszuhalten habe?« »Beruhigen Sie sich, alle beide. Und setzen Sie sich wieder hin«, befahl Eve. »Cissy, wann hatten Sie Ihre Beratung?« »Vor ungefähr sechs Wochen«, murmelte Cissy unbehaglich. »Ich habe ein paar Männer getroffen – « »Was für Männer?«, verlangte Jacko zu erfahren. »Männer«, wiederholte sie, ohne auf seine Frage näher einzugehen. »Aber dann stand Jacko wieder da. Er hat mir Stiefmütterchen mitgebracht, und da bin ich schwach geworden. Doch allmählich tut mir das schon wieder Leid.« »Es ist durchaus möglich, dass diese Schwäche Ihnen das Leben gerettet hat«, erklärte Eve ruhig. »Was wollen Sie damit sagen?« Instinktiv schmiegte Cissy sich an Jacko, und er nahm sie schützend in den Arm. »Das Vorkommnis von gestern Abend passt zu einer Reihe von Morden, in denen wir ermitteln. In den anderen Fällen haben die Opfer stets allein gelebt«, antwortete Eve
und warf einen Blick auf Jacko. »Sie glücklicherweise nicht.« »O Gott, aber… Jacko.« »Keine Sorge, Baby, keine Sorge. Ich bin ja hier.« Er zog sie eng an seine Brust und sah Eve reglos an. »Ich wusste, dass der Typ nicht echt ist. Was hat das alles zu bedeuten?« »Ich werde Ihnen sagen, was ich kann. Und dann müssen Sie beide bitte auf die Wache kommen, die Disketten durchsehen, noch mal alles zu Protokoll geben, und Sie, Cissy, müssen mir alles berichten, was Ihnen in Bezug auf Personally Yours noch einfällt. « »Die Zeugen helfen uns so gut sie können.« Zu angespannt, um sich zu setzen, stand Eve vor Commander Whitneys Schreibtisch und konnte der Versuchung, während der Berichterstattung auf und ab zu laufen, nur mit größter Mühe widerstehen. »Die Frau ist derart fertig, dass sie sich kaum artikulieren kann. Der Mann reißt sich zusammen. Trotzdem kommt keinem der beiden an dem Typen irgendwas bekannt vor. Ich habe die beiden Männer gesprochen, mit denen sich Cissy Peterman auf Vermittlung von Personally Yours getroffen hat, aber beide haben für mindestens einen Mord ein festes Alibi, und ich denke, sie haben mit der Sache tatsächlich nichts zu tun.« Whitney nickte und schaute auf den Ausdruck des von Eve geschriebenen Berichts. »Jacko Gonzales? Der Jacko
Gonzales? Die Nummer sechsundzwanzig bei den Brawlers?« »Er ist Profi-Footballspieler, ja, Sir.« »Tja, verdammt.« Whitney verzog den Mund zu einem seltenen Lächeln. »Er ist nicht nur ein Pro i, sondern ein regelrechter Killer. Hat beim letzten Spiel drei Punkte gemacht und zwei Defensivblocks niedergerempelt.« Als Eve ihn verdutzt ansah, räusperte er sich. »Mein Enkel ist ein großer Fan von ihm.« »Ah, ja, Sir.« »Schade, dass Gonzales diesen Typen nicht in die Finger bekommen hat. Er hätte ihm alle Knochen im Leib gebrochen, das kann ich Ihnen versichern.« »Den Eindruck hatte ich auch, Commander.« »Seine Freundin hatte Riesenglück.« »Ja, Sir. Aber sein nächstes potenzielles Opfer womöglich nicht. Dieser Zwischenfall hat ihn von seinem Zeitplan abgebracht, weshalb er sicher heute Abend noch mal zuschlagen wird. Ich habe mit Dr. Mira gesprochen und sie meint, wahrscheinlich ist er wütend und zugleich enttäuscht. Eventuell lässt seine Wachsamkeit dadurch ja etwas nach. McNab und Peabody haben für heute Abend jeweils drei Verabredungen getroffen. In der Bar ist alles vorbereitet. Ich habe die Listen ihrer Partner und ihre Berichte.« Sie zögerte, kam dann jedoch zu dem Ergebnis, dass sie
ihre Gedanken am besten aussprach. »Commander, das, was wir heute Abend veranstalten, ist ein sehr wichtiger Schritt. Aber vielleicht ist der Kerl, während wir die beiden überwachen, ganz woanders unterwegs.« »Da Sie keine Hellseherin sind, Dallas, können Sie nichts anderes tun, als nach allen Seiten gründlich zu ermitteln.« »Ich habe die Zahl der wahrscheinlichen Opfer auf zweihundert reduziert. Ich glaube, dass es das Theater als weitere Verbindung zwischen ihnen gibt, sodass diese Zahl bestimmt noch deutlich schrumpft. Ich hoffe, dass Feeney uns anhand der neuen Daten eine möglichst kurze Liste präsentieren kann. Die potenziellen Opfer brauchen unseren Schutz.« »Wie sollen wir das anstellen?« Whitney spreizte hil los seine Hände. »Sie wissen genauso gut wie ich, dass unsere Abteilung nicht so viele Leute freistellen kann.« »Aber wenn er die Zahl begrenzt – « » Selbst wenn er sie auf ein Viertel reduziert, habe ich nicht genügend Personal.« »Einer dieser Menschen wird noch heute sterben.« Sie trat einen Schritt nach vorn. »Wir müssen sie warnen. Wenn wir uns über die Medien an sie wenden, macht der Mensch, den er als Opfer auserkoren hat, ihm ja eventuell gar nicht auf.« »Wenn wir die Medien einschalten«, kam Whitneys
kühle Antwort, »wird dadurch eine Massenpanik ausgelöst. Was meinen Sie, wie viele Weihnachtsmänner, die brav irgendwelche Spenden sammeln, infolge einer öffentlichen Warnung angegriffen werden? Oder möglicherweise sogar getötet? Sie dürfen nicht ein Opfer gegen ein anderes tauschen, Dallas. Und«, fügte er, bevor sie widersprechen konnte, eindringlich hinzu: »Vielleicht würde er durch die Berichte über ihn verschreckt. Es könnte passieren, dass er untertaucht und wir ihn niemals inden. Drei Menschen sind bereits durch seine Hand gestorben, und sie haben es verdient, dass er für seine Taten von uns zur Rechenschaft gezogen wird.« Er hatte Recht, doch das machte es für sie nicht leichter. »Wenn Feeney die Zahl der potenziellen Opfer auf eine vernünftige Anzahl reduziert, können wir sie einzeln kontaktieren. Ich werde ein Team zusammenstellen, das diese Arbeit übernimmt.« »Auch dann würde garantiert etwas von der Sache durchsickern, Lieutenant, und dann käme es ebenfalls zu einer allgemeinen Panik.« »Wir können die Leute doch nicht einfach ihrem Schicksal überlassen. Den Nächsten, den er tötet, haben wir auf dem Gewissen.« Sie persönlich hätte ihn auf dem Gewissen, doch war sie klug genug, das nicht zu formulieren. »Wenn wir nichts tun, um das Opfer zu warnen, sind wir mit schuld an seinem Tod. Er weiß nicht nur, dass wir seine Vorgehensweise und die Zahl der avisierten Opfer kennen, sondern auch, dass uns nichts anderes zu tun bleibt, als mit den Namen der Menschen zu
jonglieren und darauf zu warten, dass er wieder zuschlägt. Das macht es für ihn so reizvoll. Vor der Tür von Cissy Petermans Appartement hat er das reinste Schauspiel für uns aufgeführt. Er hat sich mitten in der verdammten Eingangshalle aufgebaut und für die Kamera posiert. Wenn Gonzales sich nicht ausgerechnet gestern Abend mit Cissy hätte versöhnen wollen, wäre sie jetzt tot. Vier Opfer innerhalb von einer Woche sind zu viel.« Er hörte sie in Ruhe an. »Sie haben es deutlich leichter als ich, Lieutenant. Auch wenn Sie das nicht denken, sind Sie in der besseren Position. Ich kann Ihnen nicht geben, was Sie wollen. Ich kann Ihnen nicht erlauben, sich schützend vor jedem potenziellen Opfer aufzubauen und den Treffer abzufangen wie vor ein paar Wochen, als es um den Butler Ihres Mannes ging.« »Diese beiden Sachen haben nichts miteinander zu tun.« Zornig und frustriert biss sie die Zähne aufeinander und erklärte: »Der Fall ist abgeschlossen, Commander. Und mit meinen jetzigen Ermittlungen stecke ich fest. Es sickern bereits erste Informationen an die Medien durch, und ich kann Ihnen versichern, dass man, wenn es ein viertes Opfer gibt, die Verantwortung dafür alleine uns und niemand anderem in die Schuhe schieben wird.« Whitney nickte. »Wie viel haben Sie Fürst gegeben?« »Nicht mehr als ich musste, und das meiste davon noch nicht mal of iziell. Sie wird nichts verraten, aber sie ist nicht die einzige Reporterin mit einem guten Riecher, und nicht viele haben ihre Integrität.«
»Ich werde mit dem Chief über die Sache sprechen. Mehr kann ich nicht für Sie tun. Besorgen Sie mir die verkürzte Liste, und ich werde darum bitten, dass man die Leute einzeln kontaktiert. Das Geld dafür jedoch kann ich nicht locker machen, Dallas. Das liegt nicht in meiner Macht.« Er lehnte sich zurück und musterte sie kühl. »Sorgen Sie dafür, dass die Überwachung heute Abend etwas bringt. Machen Sie dem Treiben dieses Kerls ein Ende.« Eve fand Feeney vor dem Computer in ihrem Büro. »Gut, dadurch hast du mir den Weg in die Abteilung für elektronische Ermittlungen erspart.« »Ich habe gehört, dass Jacko Gonzales hier gewesen ist. Aber er ist bestimmt schon wieder weg, oder?« Er linste wehmütig über ihre Schulter. »Himmel, wenn es sein muss, besorge ich dir ein von ihm persönlich unterschriebenes Hologramm.« »Wirklich? Das wäre echt super.« »Du musst für mich diese Namen und Daten überprüfen.« Sie zog eine Diskette aus der Tasche. »Meine Kiste stottert mal wieder, und ich brauche damit viel zu lange. Du musst die Zahl der potenziellen Opfer so weit runterfahren wie möglich.« Sie zog eine Schublade des Schreibtischs auf und wühlte, ohne auf das Pochen hinter ihrer Stirn zu achten, darin herum. »Nur die fünfzig Leute, bei denen die Wahrscheinlichkeit am größten ist, okay? Ich kann Whitney dazu bringen, fünfzig Leute zu kontaktieren. Gott stehe den anderen bei. Wo zum Teufel ist mein
Schokoriegel?« »Ich habe ihn nicht geklaut.« Feeney zog seine Tüte mit Nüssen aus der Tasche. »McNab war vorhin hier. Er ist ein berüchtigter Schokoriegel-Dieb. « »Dieser Hurensohn.« In dem verzweifelten Bedürfnis nach irgendwelcher Nahrung riss sie Feeneys Tüte an sich und schob sich eine Hand voll Nüsse in den Mund. »Ich habe die Aufnahmen aus dem Haus von Cissy Peterman vergrößern lassen, aber ich schätze, du kannst es noch besser. Ich will ihn sehen, wenn er fast er selbst ist – kurz bevor er rennt. Im Augenblick der Panik.« In der Hoffnung auf eine Tasse Kaffee drückte sie eine Taste ihres AutoChefs. »Ich habe Fotos von den Partnerlisten und von den Angestellten von Personally Yours. Du hast das Equipment, um die Bilder einzuscannen, guck also, wer von seiner Gesichtsform, seiner Augenform und so dem Täter ähnlich ist. Irgendetwas muss man auf den Bildern doch erkennen, auch wenn der Großteil seines Mundes hinter dem Bart verborgen ist.« »Wenn wir ein halbwegs gutes Foto haben, können wir die Ähnlichkeit berechnen.« »Ja. Die Statur wird uns nicht weiterbringen, aber vielleicht seine Größe. Den Bildern nach zu urteilen, trägt er lache Schuhe, weshalb die Größe sicher halbwegs stimmt. Die Hände sind in Handschuhen versteckt.« Sie trank einen Schluck Kaffee, kniff die Augen zusammen, und plötzlich kam ihr ein Gedanke. »Die
Ohren«, sagte sie, »meinst du, dass er sich die Mühe gemacht hat, die Ohren zu verändern? Wie viel sieht man von den Ohren?« Sie sprang an den Computer und rief die Bilder auf. »Scheiße, nichts, nichts, nichts. Hier!« Endlich fand sie eine Aufnahme seines Pro ils. »Das ist gut. Kannst du damit arbeiten?« Feeney knabberte nachdenklich an einer Nuss. »Ja, möglich. Die Mütze verdeckt die Spitze seines Ohrs, aber ja, vielleicht. Guter Gedanke, Dallas. Die Ohren hätte ich vergessen. Wir gehen die verschiedenen Stellen nacheinander durch und prüfen, was uns dabei auffällt. Aber das wird dauern. Etwas so Komplexes dauert Tage, eventuell sogar eine Woche.« »Ich brauche das Gesicht von diesem Bastard.« Sie schloss die Augen und dachte weiter nach. »Wir gehen noch mal zurück zum Anfang und folgen der Spur der Schmuckstücke, des Desinfektionsmittels und des Makeups. Die Tattoos waren freihändig gezeichnet. Kann sein, dass uns das weiterbringt.« »Dallas, in zwei Drittel aller Schönheitssalons der Stadt sind Tattoo-Künstler beschäftigt. « »Von denen vielleicht einer diese Zeichnung kennt.« Sie seufzte. »Wir haben noch zwei Stunden, bis wir ins Nova müssen. Schauen wir, was wir bis dahin schaffen.«
11 Was Peabody wirklich störte, war, dass auf ihrer Partnerliste der Name McNab geschrieben stand. Es war ihr egal, dass er ihr wahrscheinlich einzig aufgrund der großen Ähnlichkeit ihrer beider Pro ile mit denen der Opfer zugewiesen worden war. Es widerte sie an. Sie hasste es, mit ihm zusammenarbeiten zu müssen, hasste seine lächerlichen Kleider, sein allzu kesses Grinsen, seine besserwisserische Art, ging jedoch davon aus, dass sie, solange Eve ihn nützlich fand, auf Gedeih und Verderb an ihn gebunden war. Peabody bewunderte Eve Dallas mehr als jeden anderen bei der Polizei, doch gewiss war es möglich, dass auch der besten Polizistin mal ein Fehler unterlief. Und Eves Fehler war eindeutig McNab. Sie sah ihn am anderen Ende der schicken kleinen Bar. Er und die einen Meter achtzig große blonde Schönheit saßen direkt in ihrem Blickfeld. Garantiert hatte McNab sich absichtlich für diesen Tisch entschieden, bloß um sie zu ärgern. Wenn er nicht da gewesen wäre, hätte sie die ruhige Eleganz ihrer Umgebung sogar genossen. Hübsche silberfarbene Tische standen in blassblau gestrichenen Nischen, und die warmen gelben Wände waren mit farbenfrohen Drucken des New Yorker Lebens
ansprechend geschmückt. Klassisch, dachte sie und spähte zu der auf Hochglanz polierten langen Theke, hinter der breite blitzende Spiegel hingen und Kellner in Schwalbenschwanz-Anzügen die Kunden und Kundinnen bedienten. Aber was konnte man von Roarke auch anderes erwarten? Der gepolsterte Stuhl, auf dem sie nun saß, war wunderbar bequem, und die Getränke waren köstlich. Der Tisch war mit Hunderten von Musik- und Videotiteln sowie mit einzelnen Kop hörern bestückt, falls ein Gast Unterhaltung wünschte, während er entweder in Ruhe etwas trank oder darauf wartete, dass der Freund oder die Freundin, mit dem, beziehungsweise der, er eine Verabredung getroffen hatte, kam. Peabody war ernsthaft in Versuchung, den Kop hörer zu testen, denn der erste Kandidat, der ihr vermittelt worden war, langweilte sie zu Tode. Oscar war als Physiklehrer an einer Fernschule beschäftigt. Seit Beginn des Treffens galt sein oberstes Interesse den von ihm bestellten Cocktails und der ausführlichen Erklärung, was für eine Hexe seine Ex-Frau doch gewesen war. Sie war, wie er erklärte, unselbstständig, egozentrisch und frigide. Nach einer Viertelstunde ergriff Peabody im Geiste eindeutig ihre Partei. Während sie trotzdem weiter lächelte und plauderte, als würde sie sich köstlich amüsieren, kam sie zu dem Ergebnis, dass ihr Gegenüber nicht der Täter war. Der Mann, den sie suchten, war zu berechnend und
durchdacht, um seine Zeit mit einem Kater zu vergeuden, wie man ihn nach einer ganzen Serie von Cocktails unweigerlich bekam. McNabs fröhliches Gelächter traf Peabody wie ein Messerstich ins Herz. Während Oscar seinen dritten Cocktail schluckte, wandte sie den Kopf und wurde von McNab dafür mit einem gut gelaunten Wackeln seiner Augenbrauen belohnt. Was das Verlangen in ihr wachrief, etwas Cooles, Reifes, Überlegenes zu tun. Wie ihm die Zunge rauszustrecken. Sie und Oscar machten vage Pläne, sich noch einmal zu sehen, und erleichtert winkte sie dem ersten Kandidaten nach. »Dich treffe ich frühestens noch einmal, wenn in der Hölle eisgekühlte Cocktails zum Verkauf geboten werden«, murmelte sie und zuckte, als Eves barsche Stimme durch den versteckten Sender an ihr Ohr drang. »Peabody, reißen Sie sich zusammen.« »Madam«, zischte Peabody hinter ihrem Glas, blickte auf die Uhr und stellte seufzend fest, dass sie nur noch zehn Minuten hätte, bis der nächste Knacker kam. » Gottverdammt! « Peabody hielt sich gepeinigt das Ohr, als Eves Stimme ihr beinahe das Trommelfell zerriss. »Madam«, wiederholte sie mit erstickter Stimme.
»Was zum Teufel hat er hier verloren? Gottverdammt!« Peabody tastete mit einer Hand in Richtung des in ihrem linken Stiefel versteckten Stunners, sah sich suchend um und verzog, als Eves Gatte durch die Tür kam, den Mund zu einem Grinsen. »Was für ein Mann«, wisperte sie. »Warum kann das Institut mir keinen solchen Typen schicken?« »Sprechen Sie ihn nicht an«, befahl ihre Vorgesetzte knapp. »Sie kennen ihn nicht.« »Okay, dann glotze ich ihn genau wie alle anderen Frauen mit hungrigen Augen an.« Eves einfallsreiche Flüche entlockten ihr ein Kichern, und als das Paar vom Nachbartisch sie verwundert ansah, räusperte sie sich leise, hob erneut ihr Glas an den Mund, lehnte sich zurück und beobachtete den Gatten ihrer Chefin bewundernd. Roarke schlenderte in Richtung Theke, und die Angestellten nahmen wie Soldaten in Gegenwart des Generals eilig Haltung an. An einem Tisch blieb er kurz stehen, wechselte ein paar Worte mit dem dort sitzenden Paar, beugte sich herab, hauchte einen Kuss auf die Wange der Frau, ging ein Stückchen weiter und legte einem Gast freundschaftlich die Hand auf eine Schulter. Peabody überlegte, ob er sich wohl auch im Bett derart elegant und mühelos bewegte, und kam errötend zu dem Schluss, dass es gut war, dass der Sender nicht ihre Gedanken zum Überwachungswagen übertragen konnte.
Eve blickte giftig auf den Bildschirm, auf dem die Übertragung der in Peabodys oberstem Hemdknopf versteckten Mikrokamera zu sehen war. Sie verfolgte, wie Roarke lässig durch den Raum ging, und schwor sich, ihm dafür bei der erstbesten Gelegenheit einen Faustschlag zu verpassen. »Mit welchem Recht mischt er sich in unsere Ermittlungen ein?«, knurrte sie Feeney an. »Immerhin gehört die Kneipe ihm.« Feeney zuckte, um sich nicht in einen Streit zwischen Eheleuten einzumischen, gleichmütig mit den Schultern. »Na klar, bestimmt ist er vorbeigekommen, um zu prüfen, ob die Theke ordentlich geputzt ist. Mist.« Sie raufte sich die Haare und verfolgte, wie Roarke zu Peabodys Tisch hinüberging. »Genießen Sie Ihren Drink, Miss?« »Hm, ja, ich… Scheiße, Roarke.« Mehr brachte Peabody beim besten Willen nicht heraus. Lächelnd beugte er sich zu ihr herunter. »Sagen Sie Ihrer Vorgesetzten, sie soll au hören zu luchen. Ich schwöre, dass ich ihr nicht in die Quere komme.« Eves empörter Aufschrei ließ sie au japsen. »Äh, sie meint, dass Sie Ihren hübschen Hintern auf die Straße schwingen sollen und dass sie Ihnen nachher einen anständigen Tritt verpassen wird. « »Ich kann es kaum erwarten.« Unverändert lächelnd hob er Peabodys Hand an seinen Mund und küsste sanft
ihren Handrücken. »Sie sehen phantastisch aus«, erklärte er und wandte sich, während die Gerätschaften im Überwachungswagen einen vehementen Anstieg des Blutdrucks und eine deutliche Beschleunigung des Pulsschlags seines Opfers registrierten, nonchalant zum Gehen. »Regen Sie sich ab«, wurde Peabody von Eve gewarnt. »Gegen eine unbewusste körperliche Reaktion auf äußerliche Reize kann ich leider nichts machen.« Peabody pustete. »Bei allem Respekt, Madam, er hat wahrhaftig einen hübschen Hintern.« »Partner Nummer zwei nähert sich dem Eingang. Reißen Sie sich am Riemen.« »Ich bin bereit.« Lächelnd blickte sie in Richtung Tür. Einer der Hauptgründe für den Enthusiasmus, mit dem sie in dem Fall ermittelte, betrat mit geschmeidigen Bewegungen den Raum. Sie konnte sich noch von ihrem ersten Besuch bei Personally Yours an ihn erinnern. Es war der elegante Bronzegott, der – während er sich selbst beifällig im Taschenspiegel betrachtet hatte – von ihr bewundert worden war. Zumindest wäre es ein Vergnügen, ihn während der nächsten Stunde ansehen zu können. Mit stolz gerecktem Kopf blieb er im Eingang stehen und sah sich suchend um. Seine farblich auf die Haare abgestimmten bräunlich-goldenen Augen blitzten, als er
Peabody entdeckte. Mit geübtem Schwung warf er sich das Haar über die Schulter und kam direkt an ihren Tisch. »Sie müssen Delilah sein.« »Ja.« Super Stimme, dachte sie mit einem innerlichen Seufzer. In natura klang sie tatsächlich noch besser als in seinem Video-Profil. »Und Sie sind sicher Brent.« Jetzt war die Reihe an McNab, grimmig das Gesicht zu verziehen. Der Kerl, der grinsend seiner Kollegin gegenüber Platz genommen hatte, bestand durch und durch aus Plastik und war obendrein noch dick mit Glitzerspray besprüht. Wahrscheinlich genau das, was Peabody gefiel. Bestimmt hatte das Arschloch nicht nur für sein Gesicht, sondern auch für jeden Zentimeter seines Körpers ordentlich bezahlt. Unglaublich! Einfach unglaublich, mit was für einem Blick Peabody den Typen anglotzte, dachte McNab, der nicht nur angewidert, sondern, selbst wenn er es nicht gerne zugab, vor allem eifersüchtig war. Die Frau sog jedes Wort, das über die collagengefüllten Lippen dieses Schönlings kam, allzu begierig in sich auf. Frauen waren einfach auf eine jämmerliche Art manipulierbar, dachte er. Dann trat Roarke an seinen Tisch. »Heute Abend sieht sie besonders reizend aus, finden Sie nicht auch?« »Bestimmt inden es die meisten Kerle reizend, wenn eine Frau die Hälfte ihrer Brust aus ihrer Bluse quellen
lässt.« Roarke grinste. McNabs Augen sprühten Funken, und er trommelte aufgebracht mit den Fingerspitzen auf der Tischplatte herum. »Sie stehen natürlich über solchen Dingen.« »Ich wünschte, dass es so wäre«, murmelte McNab, als der Gatte seiner Vorgesetzten fröhlich weiterging. »Nur sind ihre Brüste fast unnatürlich schön.« »Hören Sie auf, Peabody auf die Brust zu stieren«, wies Eve ihn unsanft an. »Ihre zweite Verabredung kommt nämlich gerade durch die Tür.« »Okay.« Auf McNab steuerte eine rothaarige Zwergin in einem paillettenübersäten Catsuit zu. »Bin bereit.« Im Inneren des Überwachungswagens blinzelte Eve stirnrunzelnd auf den Bildschirm. »Feeney, überprüf doch bitte mal den Typen, der sich gerade mit Peabody unterhält. Irgendetwas stört mich an dem Kerl.« »Brent Holloway, kommerzielles Model. Arbeitet für die Cliburn-Willis-Marketing-Agentur. Achtunddreißig, zweimal geschieden, keine Kinder.« »Model?« Sie kniff die Augen zusammen. »Im Kino oder Fernsehen? Das ist eine Art von Unterhaltung, oder?« »Scheiße. Du hast eindeutig in der letzten Zeit kaum Werbespots gesehen. Wenn du mich fragst, sind sie alles andere als unterhaltsam. Ursprünglich stammt er aus Morristown, New Jersey. Lebt seit 2049 in New York. Momentaner Wohnsitz am Central Park West. Sein
Einkommen liegt zwischen achtzig- und neunzigtausend. Keine Vorstrafen, keine Festnahmen, aber jede Menge Strafzettel wegen Falschparkens oder zu schnellen Fahrens.« »Wir – das heißt Peabody und ich – haben ihn schon mal bei unserem ersten Besuch bei Personally Yours gesehen. Wie oft ist er bereits beraten worden?« »Dies ist die vierte Partnerliste, die er in diesem Jahr vermittelt bekommen hat.« »Okay, weshalb ist ein Typ mit seinem Aussehen, seinem Geld, seinem beru lichen Erfolg und einem Wohnsitz in einer der besten Gegenden der Stadt ein regelrechter Partnervermittlungs-Junkie? Vier Listen mit jeweils fünf Namen in einem Jahr macht zwanzig Frauen, ohne dass sich auch nur mit einer von ihnen irgendwas ergibt. Also, Feeney, was stimmt nicht mit dem Kerl?« Feeney blickte mit zusammengekniffenen Lippen auf den Bildschirm. »Auf mich macht er den Eindruck eines selbstgefälligen Arschlochs.« »Ja, aber sicher gibt es jede Menge Frauen, denen das egal ist. Er hat Geld und sieht gut aus. Irgendeine sollte also längerfristiges Interesse an ihm zeigen.« Eve trommelte mit den Fingern auf die schmale Konsole. »Hat sich nie eine der Frauen bei der Agentur über ihn beschwert?« »Nein. Seine Akte ist sauber.« »Trotzdem stimmt da etwas nicht«, sagte sie noch
einmal und verfolgte ein paar Minuten später, wie ihre Assistentin ihrem Gegenüber mit einem gezielten Treffer die perfekte Nase brach. »Meine Güte. Himmel, hast du das gesehen?« »Sauberer Treffer«, stellte Feeney anerkennend fest. »Wirklich toller kurzer rechter Haken.« »Was zum Teufel bildet Peabody sich ein? Was in aller Welt hat das alles zu bedeuten? Peabody, sind Sie verrückt geworden?« »Der Hurensohn hat unter dem Tisch seine Hand in mich hineingeschoben.« Mit zornrotem Gesicht und kamp bereit geballten Fäusten sprang Peabody von ihrem Stuhl. »Der Bastard erzählt mir von dem neuen Stück im Uni verse und schiebt mir gleichzeitig die Finger in die Muschi. Dieser elende Perverse! He, perverses Schwein, steh auf.« »McNab, bleiben Sie, verdammt noch mal, auf ihrem Posten!«, keifte Eve, als McNab mit mordlüsternem Blick auf die Füße sprang. »Bleiben Sie, wo Sie sind, oder die Sache ist für Sie gelaufen. Das ist ein Befehl. Ein gottverdammter Befehl! Behalten Sie die Deckung bei. Peabody, um Himmels willen, lassen Sie den Typen runter. « Peabody zerrte den überrumpelten Holloway auf die Beine, verpasste ihm einen zweiten Fausthieb und hätte, obgleich man das Gold in seinen Augen schon lange nicht mehr sah, sicherlich noch einmal zugeschlagen, hätte sich nicht Roarke einen Weg durch das Gedränge an ihren
Tisch gebahnt und den wackeligen Holloway am Hemdkragen gepackt. »Ist dieser Mann Ihnen zu nahe getreten, Miss?« Roarke zog Holloway ein Stück zurück und sah konsterniert in Peabody gerötetes Gesicht. »Das tut mir furchtbar Leid. Ich werde mich darum kümmern. Bitte, lassen Sie mich einen frischen Drink für Sie bestellen.« Eine Hand an Holloways Kragen, griff er nach ihrem Glas, hielt es unter seine Nase, orderte: »Einen Blitzer«, und alle drei Theker stürzten los, um seine Bitte zu erfüllen, während er persönlich den zappelnden Holloway zum Ausgang schubste. »Nimm deine verdammten Pfoten weg. Die Hexe hat mir das Nasenbein gebrochen. Himmel, mit meinem Gesicht verdiene ich meinen Lebensunterhalt. Blöde Fotze. Dafür bringe ich sie vor Gericht. Ich werde – « Sobald sie draußen angekommen waren, drückte Roarke ihn gegen eine Wand. Holloways Schädel traf mit einem Geräusch wie eine Billardkugel, die gegen eine Bande krachte, auf der Mauer auf. Wieder konnte man das Gold in seinen Augen vor lauter Weiß nicht sehen. »Lass mich dir einen Hinweis geben: Diese Kneipe gehört mir«, erklärte Roarke, wobei er den Kopf seines Opfers bei jedem Wort gegen den Backstein donnern ließ. »Niemand belästigt in meinem Lokal eine Frau und verlässt es anschließend auf seinen eigenen Beinen. Wenn du also nicht versuchen willst, mit deinem schlaffen
Schwanz zwischen den Fingern auf allen vieren zum nächsten Taxistand zu kriechen, setzt du dich umgehend in Bewegung und dankst dem lieben Gott, weil nur deine Nase gebrochen worden ist.« »Die kleine Nutte hat es doch nicht anders gewollt.« »Oh, das hättest du jetzt besser nicht gesagt.« »Immer, wenn er sauer ist, bricht der Ire in ihm durch. Was für ein herrlich melodischer Akzent«, erklärte ein gerührter Feeney, während Eve, da sie nichts unternehmen konnte, lediglich recht farbig fluchte. Mit einem leisen Ächzen ließ Roarke eine seiner Fäuste in Holloways Magengegend sausen, rammte ihm zugleich das linke Knie zwischen die Beine, ließ ihn achtlos fallen und kehrte mit einem zufriedenen Grinsen in Richtung des Überwachungswagens zurück ins Lokal. »Saubere Arbeit«, meinte Feeney. »Lass uns einen Streifenwagen rufen, der den Blödmann abholt und in ein Gesundheitszentrum bringt.« Eve rieb sich die Augen. »Das wird sich in meinem Bericht natürlich super machen. McNab, Peabody, bleiben Sie auf Position – ich wiederhole –, bleiben Sie auf Position. Himmel. Wenn diese kleine Party vorbei ist, melden Sie sich bei mir zu Hause, damit wir gemeinsam versuchen zu retten, was noch zu retten ist. « Um kurz nach neun lief Eve nervös in ihrem Arbeitszimmer auf und ab. Niemand sprach ein Wort. Sie alle wussten, wann es besser war, den Mund zu halten,
Roarke jedoch drückte Peabody aufmunternd die Schulter. »Sie beide haben insgesamt sechs Treffen absolviert, das ist schon mal nicht schlecht. Die nächsten beiden Termine, für jeden von Ihnen einer, sind für morgen Mittag angesetzt. Peabody, diesen… Zwischenfall mit Partner Nummer zwei werden Sie morgen Piper melden. Übertreiben Sie ruhig. Ich will sehen, wie die beiden darauf reagieren. Seine Akte bei der Vermittlungsagentur ist bisher blitzsauber. Wir haben Aufnahmen von allen Treffen, aber ich möchte, dass trotzdem jeder von Ihnen noch einen eigenen Bericht schreibt. Wenn das Debrie ing nachher beendet ist, möchte ich, dass Sie beide nach Hause fahren und dort bleiben, ohne die Leitung zu uns zu unterbrechen. Feeney und ich werden Sie bis morgen überwachen.« »Sehr wohl, Madam. Lieutenant.« Peabody stand auf, musste mühsam schlucken, reckte dann jedoch das Kinn. »Ich entschuldige mich für meinen Ausfall während der Operation. Mir ist bewusst, dass durch mein Verhalten die Ermittlungen hätten gefährdet werden können.« »Schwachsinn!« McNab sprang erbost von seinem Stuhl. »Sie hätten ihm die Beine brechen sollen. Dieser Hurensohn hat es verdient, dass – « »McNab«, mahnte Eve mit milder Stimme. »Verdammt, Dallas. Der Bastard hat lediglich gekriegt, was er verdient hat. Wir sollten – «
»Detective McNab«, schnauzte Eve nun und baute sich drohend vor ihm auf. »Ich glaube nicht, dass Sie in dieser Sache nach Ihrer Meinung gefragt worden sind. Ihr Dienst ist ab sofort beendet. Fahren Sie nach Hause, und regen Sie sich ab. Wir sehen uns morgen früh Punkt neun in meinem Büro auf dem Revier.« Der innere Kampf zwischen antrainiertem Gehorsam und dem instinktiven Verlangen, Peabody zu schützen, war ihm deutlich anzusehen. Doch letztlich drehte er sich wortlos um und stürmte aus dem Zimmer. »Roarke, Feeney, würdet ihr mich wohl bitte mal allein mit meiner Assistentin reden lassen?« »Gern«, erklärte Feeney, froh, aus der Schusslinie zu geraten. »Hätten Sie vielleicht ein Glas irischen Whiskey für mich, Roarke? Es war ein langer Tag.« »Ich schätze, dass ich irgendwo noch eine Flasche inde.« Roarke warf einen kurzen Blick auf seine Frau und führte dann den elektronischen Ermittler aus dem Raum. »Setzen Sie sich, Peabody.« »Madam.« Peabody schüttelte den Kopf. »Ich habe Sie im Stich gelassen. Ich hatte versprochen, ich käme mit der mir übertragenen Verantwortung zurecht, und dann bin ich bei der ersten Gelegenheit in Panik ausgebrochen. Mir ist klar, dass Sie alles Recht und allen Grund haben, mich zumindest als verdeckte Ermittlerin abzuziehen, aber bei allem Respekt möchte ich darum bitten, dass mir eine zweite Chance gegeben wird.« Schweigend wartete Eve ab, bis Peabody am Ende war.
Ihre Assistentin war noch immer kreidebleich, ihre Hände jedoch hatten aufgehört zu zittern, und ihre Haltung war so straff wie normalerweise in Uniform. »Ich glaube nicht, dass ich auch nur mit einem Wort davon gesprochen habe, dass ich die Absicht habe, Sie von der verdeckten Ermittlung abzuziehen. Aber ich habe Sie gebeten, sich zu setzen. Also setzen Sie sich hin«, wiederholte sie mit sanfter Stimme, wand sich ab und griff nach einer Flasche Wein. »Mir ist klar, dass man, wenn man verdeckt ermittelt, Klippen so umschiffen muss, dass man garantiert nicht auffliegt.« »Soweit ich mich entsinne, haben Sie die Nase dieses Arschloches gebrochen, ohne dass Ihre Tarnung dabei aufgeflogen ist.« »Ich habe reagiert, ohne zu überlegen. Dabei ist mir bewusst, dass man während einer solchen Operation immer jeden Schritt vorher genau bedenken muss.« »Peabody, selbst eine Prostituierte hat das Recht zu protestieren, wenn irgendein Idiot sie an einem öffentlichen Ort einfach begrapscht. Hier, trinken Sie etwas.« »Er hat seine Finger in mich reingeschoben.« Als sie das Glas entgegennahm, begann sie abermals zu zittern. »Wir saßen unverbindlich da und haben uns miteinander unterhalten, als ich plötzlich merke, wie er seine Finger in mich reinrammt. Ich weiß, ich habe mit dem Kerl ge lirtet und ihn auch meine Brüste sehen lassen, also habe ich es
vielleicht verdient – « »Hören Sie auf.« Eves Beherrschung geriet weit genug ins Wanken, als dass sie ihre Hände auf die Schultern ihrer Assistentin legte und sie auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch zwang. »Sie haben so etwas ganz sicher nicht verdient, und es macht mich unglaublich wütend, dass Sie das auch nur denken. Dieser Hurensohn hatte kein Recht dazu, Sie derart zu berühren. Niemand hat das Recht, sich einem anderen derart aufzuzwingen.« Einen festzuhalten, einem die Hände zu fesseln und sich in einen hineinzurammen, während man verzweifelt lehte, dass er von einem abließ. Und es tat weh, tat weh, tat weh. Übelkeit stieg in ihr auf, doch sie drehte sich um, stützte beide Hände auf die Platte ihres Schreibtisch und atmete tief durch. »Nicht jetzt«, murmelte sie. »Himmel, bitte nicht jetzt.« »Dallas?« »Schon gut.« Doch sie musste noch einen Moment in dieser Position verharren. »Es tut mir Leid, dass Sie in diese Situation geraten sind. Ich wusste von Anfang an, dass etwas mit diesem Typen nicht stimmt.« Peabody hob ihr Glas mit beiden Händen an den Mund. Immer noch spürte sie den Druck der Finger, die Holloway in sie hineingegraben hatte. »Er hat den Test bei Personally Yours bestanden.« »Wodurch wir wissen, dass der Test bei weitem nicht so gut ist, wie sie hartnäckig behaupten.« Noch einmal
holte sie tief Luft und wandte sich dann wieder ihrer Assistentin zu. »Ich möchte, dass Sie Piper morgen früh mit dieser Sache konfrontieren. Gehen Sie hin, und verlangen Sie sie umgehend zu sprechen. Etwas Hysterie kann dabei sicherlich nicht schaden. Außerdem könnten Sie ihr damit drohen, sie zu verklagen oder sich an die Medien zu wenden. Ich möchte, dass sie aus dem Gleichgewicht gerät. Meinen Sie, dass Sie das schaffen?« »Ja.« Entsetzt über die hinter ihren Augen aufsteigenden Tränen, erklärte Peabody mit unsicherer Stimme: »So wie ich mich gerade fühle, ist das bestimmt kein Problem.« »Lassen Sie Ihr Handy an. Wir können nichts von dem, was Sie in dem Gespräch erfahren, gegen die Leute verwenden, aber ich möchte, dass Sie in ständigem Kontakt mit einem von uns stehen. Ihren Bericht über die Treffen können Sie auch morgen Nachmittag noch schreiben. Jetzt fährt Feeney Sie erst einmal nach Hause, und Sie ruhen sich aus, okay?« »Okay.« Eve wartete einen Moment. »Peabody?« »Madam?« »Das war ein echt guter Treffer. Nächstes Mal jedoch sollten Sie einem solchen Typen gleich im Anschluss daran kraftvoll in die Eier treten. Schließlich wollen Sie einen solchen Kerl nicht nur ein bisschen ärgern, sondern vollständig aus dem Verkehr ziehen, oder?«
Peabody entfuhr ein abgrundtiefer Seufzer, dann jedoch verzog sie das Gesicht zu einem, wenn auch etwas angestrengten, Lächeln und erklärte: »Natürlich, Madam. Da haben Sie ganz Recht.« Da sie das Kommando behalten wollte, setzte sich Eve hinter ihren Schreibtisch und wartete auf Roarke. Er brachte gerade Feeney und Peabody zur Tür und strich ihrer Assistentin vielleicht noch ein paar Mal begütigend über den Rücken. Dadurch würden der armen Frau, wenn sie sich nicht irrte, schweißtreibende, hocherotische Träume beschert werden. Was eindeutig besser wäre als grauenhafte Alpträume, in denen sie hil los irgendwelchen grapschenden Pfoten ausgeliefert war. Genau das war ein Teil ihres Problems mit diesem Fall. Die sexuelle Komponente, das Fesseln der Opfer, die gut gelaunt verübte Grausamkeit unter dem Deckmantel der Liebe. Dies alles ging ihr zu nahe. Es kam der Vergangenheit zu nahe, vor der sie einen Großteil ihres Lebens davongelaufen war. Und nun reckte sie plötzlich wieder ihr hässliches Haupt. Jedes Mal, wenn sie ein Opfer des Killers ansah, musste sie an sich selbst denken. Was sie von Herzen hasste. »Vergiss es«, murmelte sie. »Und inde stattdessen endlich diesen Kerl.« Als Roarke durch die Tür kam, drehte sie den Kopf und
verfolgte, wie er zwei Gläser aus der von ihr für Peabody hervorgeholten Flasche füllte, eins für sie auf ihren Schreibtisch stellte und mit dem anderen auf dem Stuhl ihr gegenüber Platz nahm. Er nahm einen kleinen Schluck, zog eine der immer seltener von ihm gerauchten Zigaretten aus dem schmalen Silberetui und zündete sie an. »Tja«, sagte er, mehr nicht. »Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht?« Er sog den Rauch in seine Lungen ein und blies ihn in einer dünnen, aromatischen Wolke wieder aus. »Wobei?« »Spiel ja nicht das Unschuldslamm.« »Aber genau das bin ich, Lieutenant.« Als sie leise knurrte, prostete er ihr freundlich zu. »Ich habe mich in keiner Weise in eurer Ermittlungsarbeit eingemischt.« »Du hattest im Lokal nichts verloren.« »Ich bitte um Verzeihung, aber ich bin der Eigentümer dieser Bar«, erklärte er in arrogantem, herausforderndem Ton. »Und ich schaue regelmäßig in meinen Unternehmen rein, um dafür zu sorgen, dass die Angestellten nicht einschlafen.« »Roarke – « »Eve, dieser Fall erstickt dich. Glaubst du, dass ich das nicht sehe?« Er verlor weit genug die Fassung, als dass er sich erhob und begann, vor ihrem Schreibtisch auf und ab zu gehen. Feeney hatte Recht, dachte sie lüchtig. Wenn er sauer
war, ver iel er tatsächlich in seinen angeborenen irischen Akzent. »Er raubt dir noch das bisschen Schlaf, das du dir hin und wieder gönnst. Er verleiht dir einen schmerzerfüllten Blick. Ich weiß, was du zurzeit durchmachst. « Mit zornblitzenden blauen Augen wandte er sich ihr zu. »Himmel, ich bewundere dich, aber du kannst nicht erwarten, dass ich tue, als würde ich nichts merken, nichts verstehen und nicht alles in meiner Macht Stehende unternehmen, um das Elend zu mildern, das dich derart quält.« »Hier geht es nicht um mich. Es darf nicht um mich gehen. Es geht um drei tote Menschen.« »Die dich ebenfalls bis in den Schlaf hinein verfolgen.« Er kam zurück an ihren Schreibtisch und hockte sich in ihrer Nähe auf die Kante. »Das ist der Grund, weshalb du die beste Polizistin bist, die ich je getroffen habe. Die Opfer sind für dich mehr als bloße Namen. Sie sind Menschen. Und du hast die Gabe – und leidest gleichzeitig darunter –, dir deutlich vorzustellen, was sie in den letzten Minuten ihres Lebens gesehen, gefühlt und vielleicht in einem Gebet gedacht oder gesprochen haben. Aber inzwischen gehöre ich zu deinem Leben.« Er beugte sich nach vorn und umfasste so plötzlich, dass sie sich ihm nicht entziehen konnte, mit einer Hand ihr Kinn. »Verdammt. Ich gehöre zu allem, was du bist und tust, und ich erwarte, dass du mich, genau wie andersrum ich dich, als Teil deines Lebens akzeptierst.«
Sie sah ihm in die Augen und konnte sich den Dingen, die sie darin entdeckte, unmöglich entziehen. »Letzten Winter«, setzte sie nachdenklich zu einer Antwort an, »hast du dich in mein Leben gedrängt, ohne dass ich darum gebeten hätte oder es tatsächlich wollte.« Er zog herausfordernd die Brauen in die Höhe. »Zum Glück hat dich das, worum ich dich gebeten hatte oder was ich, wie ich dachte, wollte, nicht im Geringsten interessiert«, fuhr sie leise fort, und sein herausfordernder Blick wich einem breiten Lächeln. »Ich hatte das ebenfalls absolut nicht geplant. A gbra.« Meine Liebe. Sie wusste, was dieser Ausdruck in seiner Muttersprache hieß, und konnte nicht verhindern, dass die abgöttische Liebe, die sie für ihn empfand, erneut die Oberhand über alles andere gewann. »Seither hatte ich kaum einen Fall, in den du nicht verwickelt warst. Das habe ich ganz sicher nicht gewollt. Ich habe dich immer, wenn es mir genützt hat, schamlos ausgenutzt, und das macht mir zu schaffen.« »Mir bereitet es Vergnügen.« »Ich weiß.« Seufzend hob sie eine Hand, schlang ihre Finger um sein Handgelenk und spürte seinen starken, gleichmäßigen Puls. »Du kommst Teilen von mir nahe, die ich lieber verdränge, und dann bleibt mir keine Wahl mehr, als sie mir anzusehen.« »Du würdest sie dir auch ohne mich früher oder später ansehen. Aber vielleicht tut es mit mir zusammen etwas
weniger weh«, erklärte er. Überrascht hob sie ihren Kopf und blickte ihm in die Augen, während er mit ruhiger Stimme fortfuhr. »Ich denke, es ist leichter, diese Momente zu durchleben, wenn du nicht allein bist. Und du kannst nicht von mir verlangen, nicht für dich da zu sein, wenn diese Situationen auftauchen.« Sie stand auf, nahm ihren Wein und ging ein paar Schritte von ihm fort. Er hatte Recht. Statt sich abhängig zu fühlen, sollte sie endlich beginnen, sich als Teil einer Einheit, einem Zweierbund zu sehen. Und auf einmal konnte sie es ihm erzählen. »Ich weiß, was sie empfunden haben. Ich kenne die Angst, die Schmerzen, die Erniedrigung, die ihnen zuteil geworden sind. Ich kann nachemp inden, wie es war, hil los und nackt unter ihm zu liegen, während sie vergewaltigt worden sind. Ich weiß, wie sich ihre Körper angefühlt haben und was ihnen durch den Kopf gegangen ist. Ich will mich nicht daran erinnern, wie es ist, wenn man in Gewalt genommen wird. Aber die Erinnerung ist latent da. Und dann berührst du mich.« In der Erkenntnis, dass sie ihm diese Wahrheit bisher vorenthalten hatte, drehte sie sich zu ihm um. »Und dann berührst du mich, Roarke, und die Erinnerung und die Gefühle sind plötzlich nicht mehr da. So einfach ist das. Wenn du mich berührst, gibt es nichts und niemand anderen als… dich.« »Ich liebe dich«, murmelte er. »Und zwar auf eine geradezu empörend inbrünstige Art.«
»Statt auf irgendeinem anderen Planeten deinen Geschäften nachzugehen, bist du unvermittelt hier.« Ehe er mit einer Entschuldigung aufwarten konnte, die, wie sie genau wusste, nicht die ganze Wahrheit wäre, fuhr sie fort. »Obwohl du wusstest, dass ich sauer auf dich wäre, warst du heute Abend da, weil du dachtest, dass ich dich vielleicht brauche. Und jetzt bist du hier, bereit mit mir zu streiten, nur um mich von den Dingen abzulenken, die mich in Gedanken quälen. Verdammt, ich habe dich durchschaut. Schließlich bin ich Polizistin und kenne mich mit Menschen aus.« Er grinste breit. »Ertappt. Und jetzt?« »Jetzt sage ich danke. Aber ich mache meine Arbeit seit elf Jahren und komme durchaus damit zurecht. Andererseits…«, sie nahm einen großen Schluck Wein, »… war es wirklich ein herrliches Gefühl zu sehen, wie du dieses Arschloch, das Peabody belästigt hat, zusammengeschlagen hast. Leider saß ich selbst, zur Untätigkeit verdammt, in diesem blöden Überwachungswagen fest. Ich konnte das Risiko nicht eingehen, auszusteigen, ihn persönlich platt zu machen und dadurch die ganze Operation auf liegen zu lassen. Also war es schön, dass du das für mich erledigt hast.« »Oh, es war mir ein Vergnügen. Ist Peabody okay?« »Sie kommt darüber hinweg. Natürlich hat die Sache sie persönlich ziemlich aus dem Gleichgewicht gebracht. Wenn sie schlau ist, wird sie eine heiße Dusche, ein Beruhigungsmittel nehmen und ein paar Stunden schlafen.
Die Polizistin in ihr wurde von der Sache nicht berührt. Sie ist als Polizistin wirklich gut.« »Dank der Ausbildung, die sie bei dir genießt, wird sie bestimmt noch besser. « »Ich habe damit nichts zu tun. Sie ist auch ohne mich die Polizistin, die sie ist.« Da ihr das Thema nicht behagte, meinte sie in abweisendem Ton: »Ich wette, du hast sie noch in den Arm genommen, ihr über das Haar gestrichen und sie zum Abschied tröstend auf die Stirn geküsst.« Abermals zog er eine seiner wohlgeformten Brauen in die Höhe. »Und wenn es so gewesen wäre?« »Dann klopft ihr das Herz jetzt noch bis zum Hals. Und das ist gut so. Sie hat nämlich eine leichte Schwäche für dich.« »Ach ja?«, fragte Roarke feixend. »Das ist… interessant.« »Spiel ja keine Spielchen mit meiner Assistentin. Sie braucht ihre ganze Konzentration für diesen Fall.« »Wie wäre es damit, wenn ich mit dir ein kleines Spielchen spielen und versuchen würde zu erreichen, dass auch dir das Herz vor Freude bis zum Hals schlägt?« Sie fuhr mit ihrer Zunge über ihre Zähne. »Ich weiß nicht. Mir geht im Moment sehr vieles durch den Kopf. Es wäre für dich also eine gewaltige Anstrengung.« »Ich liebe es, mich anzustrengen.« Er drückte seine
Zigarette im Aschenbecher aus und stellte sein Glas auf den Tisch. »Und ich mache meine Arbeit für gewöhnlich echt gut.« Nackt und immer noch vibrierend, lag sie mit dem Gesicht nach unten auf dem Bett, als der Anruf für sie kam. Knurrend blockierte sie den Bildschirm und ging an den Apparat. Dreißig Sekunden später rollte sie sich auf den Rücken und suchte ihre Kleider. Bei dem Anruf war es um einen anonymen Hinweis auf einen Familienstreit gegangen. Die Adresse klang für sie allzu vertraut. »Das ist Holloways Wohnung. Das ist ganz bestimmt kein Streit. Er ist tot. Der Täter ist nicht von seinem Muster abgewichen.« »Ich komme mit.« Roarke war bereits aus dem Bett und griff nach seiner Hose. Sie wollte protestierten, meinte dann jedoch mit einem Schulterzucken: »Meinetwegen. Ich muss Peabody über die Meldung informieren und falls sie damit nicht zurechtkommt, vertraue ich darauf, dass du sie mit ein paar netten Worten au baust, denn, wenn ich sie bei der Stange halten will, kann ich es mir nicht leisten, allzu rücksichtsvoll zu sein.« »Ich beneide dich wahrhaftig nicht um deinen Job, Lieutenant«, erklärte Roarke, während er sich im Dunkeln anzog. »Im Moment beneide ich mich auch nicht.« Mit diesen Worten griff sie sich ihr Handy und rief ihre Assistentin an.
12 Brent Holloways jämmerlicher Tod stand in deutlichem Kontrast zu seinem guten Leben. Die Möblierung seiner Wohnung verriet einen nicht nur an Modetrends, sondern auch am Komfort orientierten Mann. Der Wohnbereich wurde von einer riesengroßen, mit dreieckigen, schwarz schimmernden Kissen bestückten Liegelandschaft dominiert. Der Fernseher war in die Decke eingelassen, und in einem wie der Torso einer gut bestückten Frau geformten Schränkchen fand sich eine große Zahl von Porno ilmen, einige legal, die Großzahl jedoch heimlich schwarz kopiert. Die entlang einer der Wände verlaufende silbrig schimmernde Bar war bis zum Rand mit teuren Alkoholika und billigen illegalen Rauschmitteln gefüllt. Die Küche war ein voll automatisierter, seelenloser und anscheinend selten genutzter Raum. Es gab ein mit einem hochmodernen Computer und dem neuesten Holophon bestücktes Arbeitszimmer und einen Entertainmentraum, in dem neben einem Virtual-Reality-Gerät eine Stimulierungswanne stand. In einer Ecke war ein heruntergefahrener Hausdroide mit toten Augen abgestellt. Holloway lag im Schlafzimmer, eingehüllt in eine silberne Girlande, auf dem überdimensionalen Wasserbett und starrte blind in den unter der Decke angebrachten Spiegel. Die Tätowierung war unterhalb von seinem Nabel
angebracht, und um seinen Hals lag eine dicke Silberkette mit vier flatternden Vögeln. »Sieht aus, als hätte er noch ein Gesundheitszentrum aufgesucht«, bemerkte Eve beim Anblick seiner nur noch leicht geschwollenen Nase. Eine mögliche Verfärbung war geschickt unter einer Schicht Make-up versteckt. Roarke wartete im Flur. Er wusste, dass es ihm nicht erlaubt war, das Zimmer zu betreten. Doch er hatte ihr schon vorher manchmal bei der Arbeit zugesehen und wusste, auch ohne direkt neben ihr zu stehen, dass sie kompetent war, gründlich, und bei aller Professionalität im Umgang mit den Toten endlos zärtlich. Er verfolgte, wie sie die ungefähre Todeszeit ermittelte und, da weder Peabody noch die Spurensicherung bisher erschienen war, die Ergebnisse der ersten Untersuchung selber aufnahm. »Abschürfungen an Knöcheln und an Handgelenken weisen darauf hin, dass das Opfer vor seinem Tod gefesselt war. Zeitpunkt des Ablebens: dreiundzwanzig Uhr fünfzehn. Blaue Flecke in der Halsgegend lassen vermuten, dass der Tod durch Strangulieren eingetreten ist.« Als sie die Wohnungsklingel hörte, hob sie den Kopf. »Ich lasse sie herein«, bot Roarke ihr an. »Okay. Roarke?« Sie zögerte nur kurz. Schließlich war er da, und schließlich hatte er mehr Ahnung als die meisten anderen. »Kannst du den Droiden in Gang setzen und die einprogrammierte Sperre überwinden?«
»Ich denke, das müsste ich schaffen.« »Ja.« Er konnte so gut wie jedes Sicherheitssystem mühelos umgehen, und so warf sie ihm die Dose Seal-it zu und bat: »Bitte versiegele deine Hände, damit du nirgends Fingerabdrücke hinterlässt.« Er blickte angewidert auf die Dose, nahm sie jedoch mit, und sie wandte sich wieder ihrer Arbeit zu. Aus dem Nebenzimmer hörte sie nun die gedämpften Stimmen ihres Mannes und ihrer Assistentin, ging zur Tür und wartete dort. Peabody war wieder in Uniform, hatte sich den Recorder an den Rockaufschlag geklemmt und sich die Haare wie gewöhnlich glatt aus dem Gesicht gekämmt. Ihr Gesicht jedoch war kreidebleich, und ihre Augen verrieten eisiges Entsetzen, als sie sagte: »Scheiße, Dallas.« »Sagen Sie mir, ob Sie damit klarkommen. Ich muss es wissen, bevor Sie das Schlafzimmer betreten.« Seit Eingang der Meldung hatte Peabody sich diese Frage bereits hundertmal gestellt. Doch da sie die Antwort darauf noch nicht eindeutig wusste, sah sie ihrer Vorgesetzten reglos ins Gesicht. »Es ist mein Job, damit zurechtzukommen, das ist mir bewusst.« »Ich werde Ihnen sagen, was Ihr Job ist. Dort drüben steht ein Droide. Damit können Sie beginnen. Außerdem können Sie das Link und die Überwachungsdisketten überprüfen und anfangen, die Nachbarn zu befragen.« Es wäre ein eleganter Ausweg. Peabody hasste sich
dafür, dass sie ihn nehmen wollte. Dafür, dass sie alles lieber täte als in das Schlafzimmer zu gehen. » Mit Verlaub, Madam, arbeite ich lieber mit Ihnen hier am Tatort.« Eve musterte sie noch einen Moment scharf und erklärte dann mit einem zustimmenden Nicken: »Schalten Sie Ihren Recorder an«, und stellte sich erneut neben das Bett. »Das Opfer ist Brent Holloway. Die Identität wurde durch die ermittelnde Beamtin überprüft. Vorläu ige Untersuchung der Leiche durch Lieutenant Eve Dallas, Folgeaufnahme durch Of icer Delia Peabody. Todeszeitpunkt und wahrscheinliche Todesursache wurden festgestellt.« Peabodys Magen verknotete sich, als sie sich zwang, den Toten anzusehen. »Genau wie bei den anderen.« »So sieht es zumindest aus. Die Vergewaltigung wurde bisher noch nicht bestätigt, und das Blut des Toten wurde noch nicht auf Betäubungsmittel untersucht. Allerdings hat der Täter sein Opfer offenbar desin iziert. Man kann das Zeug noch riechen.« Sie nahm ein Sichtgerät aus ihrer Tasche, schob es sich über den Kopf und passte seine Stärke an ihre Augen an. »Die Spurensicherung ist heute Abend ziemlich langsam«, murmelte sie, befahl: »Licht aus«, und die auf das Bett gelenkten Strahler wurden schwarz. »Ja, er wurde von Kopf bis Fuß besprüht. Die Pinselstriche, mit denen die Tätowierung aufgetragen wurde, stimmen mit denen an den vorherigen Opfern überein. Er kann verdammt gut malen«, fügte sie, die Nase
fast am Bauch des Toten, noch hinzu. »Was haben wir denn hier? Geben Sie mir die Pinzette, Peabody. Ich habe hier entweder ein Haar oder eine Faser.« Ohne auch nur den Kopf zu drehen, streckte Eve die Hand nach hinten aus und ertastete das ihr von ihrer Assistentin gereichte kleine, metallene Gerät. »Es ist weiß und wirkt irgendwie künstlich.« Sie hielt die dünne Strähne in die Luft und betrachtete sie durch die vor ihren Augen angebrachte Lupe. »An seinem Bauch kleben mehrere von diesen Fäden. Ich brauche eine Tüte.« Noch während sie dies sagte, hielt Peabody ihr bereits eine hin. »Ich schätze, dem Bart von unserem Weihnachtsmann gehen die Haare aus, und dieses Mal hat er nicht so sorgfältig hinter sich aufgeräumt wie sonst. « Vorsichtig zupfte Eve weitere weiße Härchen von der Leiche und tütete sie ein. »Das war der erste Fehler, der ihm unterlaufen ist. Hier, nehmen Sie das Sichtgerät.« Eve zog es sich vom Kopf. »Prüfen Sie das Badezimmer, und zwar jede Ecke, und tüten Sie den Inhalt der Waschbeckenund Duschabläufe ein. Ich will alles haben, was Sie inden. Licht an.« Sie zwinkerte ihre Assistentin an. »Der Fehlschlag bei Cissy gestern Abend hat ihn aus dem Konzept gebracht. Dadurch lässt seine Vorsicht nach.« Bis Eve den Raum der Spurensicherung übergab, hatte sie über ein Dutzend Haare und winzige Fasern am Leib des toten Holloway entdeckt. Also ging sie entschlossen zur Roarke ins Entertainmentzimmer und fragte mit einem Kopfnicken in Richtung des Droiden: »Hast du ihn zum Laufen gebracht?«
»Selbstverständlich.« Roarke saß in dem bequemen Körperformungssessel und winkte lässig mit der Hand. »Rodney, das ist Lieutenant Dallas.« »Lieutenant.« Der Droide war klein und gedrungen, hatte ein freundliches, breit lächiges Gesicht und eine etwas barsche Stimme. Offensichtlich hatte Holloway keine Konkurrenz geduldet, nicht mal in Gestalt eines elektronischen Geräts. »Wann bist du heute Abend ausgeschaltet worden?« »Um zweiundzwanzig Uhr drei, kurz nachdem Mr. Holloway nach Hause kam. Er schaltet mich nur an, wenn er meine Dienste tatsächlich in Anspruch nehmen will.« »Und heute Abend wollte er das nicht.« »So sieht es aus.« »Hatte er in der Zeit zwischen seiner Rückkehr und deiner Abschaltung Besuch?« »Nein. Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, schien Mr. Holloway nicht in der Stimmung für Besuch zu sein.« »Woraus hast du das geschlossen?« »Er wirkte erregt«, erklärte der Droide und presste dann die Lippen aufeinander. »Rodney, dies ist eine polizeiliche Befragung, in deren Rahmen du alle Fragen möglichst ausführlich beantworten musst.«
»Ich verstehe nicht. Hat etwa, während ich ausgeschaltet war, ein Einbruch stattgefunden?« »Nein, dein Boss ist tot. Ist vor Holloways Rückkehr jemand an die Tür gekommen?« »Verstehe.« Rodney brauchte einen Augenblick, als müsse er seine Schaltkreise erst an die Nachricht gewöhnen. »Nein, heute Abend kam niemand zu Besuch. Mr. Holloway hatte eine aushäusige Verabredung. Er kam um einundzwanzig Uhr fünfzig wieder. Er war wütend und hat mich wüst beschimpft. Mir iel auf, dass sein Gesicht geschwollen war, und ich habe ihn gefragt, ob ich ihm helfen könnte. Darauf hat er mir vorgeschlagen, mich ins Knie zu icken, doch auf diese Funktion bin ich nicht programmiert. Dann hat er mir befohlen, zum Teufel zu gehen, was auch nicht möglich war. Schließlich hat er mir den Befehl gegeben, hier in diesen Raum zu gehen, mich auszuschalten und erst morgen früh um sieben wieder in Betrieb zu gehen.« Eve sah aus dem Augenwinkel das breite Grinsen ihres Mannes, ging jedoch achtlos darüber hinweg. »Dein Arbeitgeber hatte illegale Rauschmittel und Pornos hier in seiner Wohnung deponiert.« »Ich bin nicht darauf programmiert, mich dazu zu äußern.« »Hat er Sexualpartner in seiner Wohnung empfangen?« »Ja.«
»Männlich oder weiblich?« »Beides, manchmal sogar zur selben Zeit.« »Ich suche einen Mann, ungefähr eins achtzig groß, mit langen Händen, langen Fingern, Hautfarbe wahrscheinlich weiß. Älter als dreißig, aber wahrscheinlich nicht älter als fünfzig. Mit einem gewissen künstlerischen Talent und einem ausgeprägten Interesse am Theater. « »Tut mir Leid.« Rodney wackelte hö lich mit dem Kopf. »Für eine Identifizierung reichen die Daten nicht aus.« »Wem sagst du das?«, murmelte Eve und wandte sich zum Gehen. Sie wartete, bis die Leiche abtransportiert worden war. »Wenn man sich hier umsieht«, sagte sie zu ihrem Mann, »wird deutlich, dass mehr hinter diesem Typen gesteckt hat, als wir bisher wissen. Er hatte Geld und hat es mit beiden Händen für seine äußere Erscheinung ausgegeben. Außerdem hat er sich gerne angesehen.« Fast an jeder Wand der Wohnung hing ein Spiegel. »Er hat sich bei der Partnervermittlung, bei der er Kunde war, als Hetero ausgegeben, aber seinem Droiden zufolge war er bi. Personally Yours durchleuchtet die Kandidaten gründlicher als die Abteilung für Staatsschutz in East Washington, aber er kommt problemlos durch. Gleich beim ersten Treffen mit der armen Peabody rammt er seine Finger in sie rein, und wenn er das bei ihr gemacht hat, hat er das ebenso vorher schon bei anderen getan. Doch auch damit kommt er durch.«
Sie stapfte durch das Zimmer, und Roarke hörte ihr schweigend zu. Er wusste, er brauchte nichts zu sagen. Sie entwickelte ihre Gedanken, indem sie sie laut aussprach. »Möglicherweise gibt es eine Verbindung zwischen ihm und Rudy oder Piper, eventuell eine heimliche Affäre. Vielleicht aber hat er auch einfach besonders gut bezahlt oder er hatte was gegen die beiden in der Hand, weshalb sie alle Sünden unter den Teppich gekehrt haben. Dieser Typ war nicht auf der Suche nach der großen Liebe, sondern schlicht pervers. Zumindest einer der beiden hat das garantiert gewusst. « Neben dem von den Kollegen ausgeräumten Diskettenschränkchen blieb sie stehen. »Ein paar von diesen Filmen waren selbst gedreht. Ich frage mich, mit wem Holloway darauf seine schmutzigen Spielchen spielt.« Sie schaute Roarke an. Sie waren im Augenblick allein, jeden Moment aber käme Peabody zurück. Eve focht einen kurzen innerlichen Kampf, dachte dann jedoch an die vier Leichen und erklärte: »Ich muss noch aufs Revier. Ich weiß nicht, wann ich nach Hause kommen werde.« Er kannte sie so gut, dass er sich vor sie stellte, eine Hand an ihre Wange legte und mit ruhiger Stimme fragte: »Willst du mich darum bitten oder soll ich es einfach tun und es dir sagen, wenn’s passiert ist?« Sie atmete hörbar aus. »Ich möchte dich darum bitten.« Sie vergrub ihre Hände in den Taschen ihrer Jeans. »Bitte inde für mich heraus, was Holloway zu verbergen hatte und weshalb er so problemlos damit durchgekommen ist.
Das, wofür Feeney Tage brauchen würde, kriegst du in ein paar Stunden raus. Er muss die of iziellen Spielregeln befolgen, doch so lange kann ich nicht warten. Ich will nicht, dass dieser Bastard mir noch eine Leiche als Weihnachtsgeschenk präsentiert.« »Ich rufe dich an, sobald ich etwas habe.« Er machte es ihr leicht, und dadurch wurde es noch schlimmer. »Ich schicke dir seine Akte, sobald ich auf der Wache bin«, begann sie und presste, als er grinste, die Lippen aufeinander. »Die Mühe kannst du dir sparen. Ich hole sie mir selbst.« Er neigte seinen Kopf und küsste sie zärtlich auf die Lippen. »Es macht mir Spaß, wenn ich dir helfen kann.« »Es macht dir Spaß, die Computerüberwachung auszutricksen und illegale Programme laufen lassen zu können.« »Das erhöht den Reiz.« Er ing an, ihre verspannten Schultern zu massieren. »Wenn du weiterschuftest, bis du vor Erschöpfung umfällst, bin ich sauer.« »Bis jetzt stehe ich noch fest auf beiden Beinen. Ich brauche den Wagen, habe aber keine Zeit, um dich vorher noch heimzufahren.« »Das ist schon in Ordnung.« Er küsste sie noch einmal und wandte sich zum Gehen. »Übrigens, Lieutenant, du hast heute Abend um sechs einen Termin mit Trina. Sie und Mavis kommen zu uns.« »Himmel.«
»Ich kümmere mich um die beiden, falls es bei dir ein bisschen später wird.« Ohne auf ihren nächsten Fluch zu warten, verschwand er lautlos durch die Tür. Stöhnend packte sie ihr Untersuchungsset zusammen, rief Peabody zu sich und versiegelte den Tatort. »Wir müssen Dickie Feuer unter dem Hintern machen, damit er die Haare und die Fasern auf der Stelle untersucht«, meinte sie und stieg in ihren Wagen. »Und auch wenn ich nicht denke, dass die Pathologen etwas finden werden, was wir nicht schon wissen, sollen sie sich mit der Autopsie beeilen.« Während der Fahrt aufs Revier sah sie ihre Assistentin prüfend von der Seite an. »Es wird ein langer Tag. Vielleicht sollten Sie eins der zugelassenen Aufputschmittel nehmen, um durchhalten zu können. Am besten holen Sie sich irgendwo ein Hallo-Wach.« »Ich komme schon zurecht.« »Sie müssen hellwach sein. Ich möchte, dass Sie spätestens um neun bei Piper sind. Wir werden mit der Nennung von Holloways Namen so lange wie möglich warten.« »Wie gesagt, ich komme schon zurecht.« Peabody starrte aus dem Fenster in die vorbei liegende Nacht. An der Ecke der Neunten stand ein einsamer Schwebegrill, dessen Betreiber die Hände in den warmen Rauch der Sojawürstchen hielt. »Es tut mir nicht Leid, dass ich ihm die Nase gebrochen
habe«, stellte sie plötzlich fest. »Ich dachte, es würde mir Leid tun. Ich dachte, wenn ich ihn dort liegen sähe, wenn ich sähe, was man mit ihm gemacht hat, täte es mir Leid.« »Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun.« »Ich dachte, dass es das hätte. Ich dachte, dass es das sollte. Ich hatte Angst davor, das Zimmer zu betreten. Aber als ich erst mal drin war und meine Arbeit aufgenommen habe, habe ich nichts von den Dingen, die ich erwartet hatte, gespürt.« »Sie sind eine Polizistin. Und zwar eine gute.« »Ich will keiner von diesen kalten Bullen werden, die au hören zu fühlen.« Sie drehte ihren Kopf und studierte Eves Pro il. »Sie haben niemals aufgehört zu fühlen. Für Sie sind alle Opfer Menschen. Ich will genauso wenig au hören, mich daran zu erinnern, dass sie Menschen sind.« Eve näherte sich einer roten Ampel, blickte in beide Richtungen und schoss, als sie sah, dass sich von keiner Seite ein Fahrzeug näherte, ohne das Tempo zu verlangsamen, über die Kreuzung. »Sie würden nicht mit mir zusammenarbeiten, wenn ich dächte, dass Ihnen das nicht stets bewusst ist.« Peabody atmete tief durch und merkte, wie ihr Magen sich entkrampfte. »Danke.« »Sie können mir Ihre Dankbarkeit beweisen, indem Sie den Sturschädel von Chemiker anrufen und ihm sagen, dass er seinen Hintern innerhalb der nächsten Stunde ins
Labor bewegen soll.« Peabody zog eine Grimasse. »Ich weiß nicht, ob meine Dankbarkeit so weit geht.« »Rufen Sie ihn an, Peabody. Wenn er anfängt zu mosern, geben Sie ihn an mich weiter, damit ich ihn mit einer Kiste von Roarkes irischem Bier bestechen kann. Der gute Dickie hat nämlich eine Schwäche für dieses Gebräu.« Erst nach dem Versprechen zweier Kisten und der Drohung, ihm seine Zunge um den Hals zu wickeln, erklärte Dickie sich bereit, um drei Uhr morgens in seinen Laborkittel zu steigen, um sich irgendwelche Haare und Fasern anzusehen. Eve tigerte durch das Labor und bellte wütend in ihr Handy, als der stellvertretende Pathologe ihr erklärte, sie hätten einen durch die Vorweihnachtszeit bedingten Autopsie-Stau. »Hör zu, du kleine Drohne, ich kann auch Commander Whitney anrufen, damit er dich auf Trab bringt. Dieser Fall hat Dringlichkeitsstufe eins. Soll ich vielleicht den Medien den Hinweis geben, dass meine Ermittlungen dadurch behindert wurden, dass ein kleiner Aushilfspathologe statt eine Autopsie zu machen, lieber seine Weihnachtskarten lesen wollte?« »Also bitte, Dallas, ich mache bereits Doppelschichten. Bei uns stapeln sich die Leichen in den Schränken.« »Legen Sie meine Leiche auf den Tisch, und schicken Sie mir spätestens um sechs Ihren Bericht, wenn Sie nicht wollen, dass ich persönlich rüberkomme und Ihnen zeige, wie sich ein Y-Schnitt anfühlt.«
Mit dieser Drohung brach sie die Übertragung ab und wandte sich an Dickie. »Also? Was können Sie mir sagen?« »Bedrängen Sie mich nicht, Dallas. Mich schüchtern Sie nicht so schnell ein wie das arme Würstchen aus der Pathologie. Außerdem sind die Sachen, die Sie mir hingeschmissen haben, mit keiner Dringlichkeitsauszeichnung versehen.« »Spätestens um neun werden sie das sein.« Sie trat hinter ihn und zog an seinem Haar. »Ich habe heute noch keinen Kaffee getrunken, Dickie, und deshalb bin ich besonders schlecht gelaunt.« »Himmel, dann holen Sie sich eine Tasse.« Hinter der Mikroskop-Brille wirkten seine Augen riesig wie die einer Eule. »Schließlich bin ich bereits an der Arbeit, oder etwa nicht? Und was ist Ihnen lieber? Wenn ich mich beeile oder wenn das Ergebnis richtig ist?« »Ich will beides.« Da sie verzweifelt war, bestellte sie sich tatsächlich eine Tasse der Brühe, die hier im Labor als Kaffee ausgegeben wurde, und zwang einen Schluck herunter. »Das Haar ist menschlich«, rief Dickie zu ihr herüber. »Mit Festiger und einem Kräuter-Desinfektionsmittel versehen.« Aufgemuntert baute Eve sich wieder neben Dickie auf. »Was für ein Festiger? Wofür wird er verwendet?« »Um die Haare und die Struktur der Haare zu erhalten. Das Weiß wird damit weder gelb noch strohig. Zwei der
Haarproben weisen Klebstoffreste an den Enden auf. Wahrscheinlich stammen sie von einer Perücke. Einer guten, teuren. Wie gesagt, es ist echtes Menschenhaar und deshalb wirklich exklusiv. Den Kleber muss ich noch genauer überprüfen, und vielleicht kann ich Ihnen nach ein paar weiteren Tests auch den Produktnamen des Festigers verraten.« »Was ist mit den Fasern, mit dem Zeug, das Peabody aus den Abflüssen gefischt hat?« »Die Sachen habe ich noch nicht getestet. Himmel, ich bin doch kein Droide.« »Okay.« Sie presste ihre Finger vor die Augen. »Ich muss rüber ins Leichenschauhaus, um zu prüfen, ob Holloway schon auf dem Tisch liegt. Dickie«, sie legte eine Hand auf seine Schulter. Er war eine Nervensäge, zugleich jedoch der beste Laborant der ganzen Stadt. »Ich brauche alles, was Sie mir geben können, und ich brauche es sofort. Der Kerl hat vier Menschen auf dem Gewissen und hält bereits Ausschau nach Opfer Nummer fünf. « »Ich wäre deutlich schneller, wenn Sie mir nicht ständig im Nacken sitzen würden.« »Jetzt lasse ich Sie ja allein. Peabody.« »Madam.« Peabody sprang von dem Stuhl, auf dem sie eingenickt war, und blinzelte verwirrt. »Wir gehen«, erklärte Eve ihr kurz. »Dickie, ich verlasse mich auf Sie.« »Ja, ja. Übrigens, ich warte noch immer auf die
Einladung zu Ihrer Party morgen Abend«, erklärte er mit einem schmalen Lächeln. »Muss wohl irgendwo verloren gegangen sein.« »Ich werde dafür sorgen, dass sie wieder auftaucht. Wenn ich von Ihnen bekommen habe, was ich brauche.« »Kein Problem.« Zufrieden beugte er sich wieder über seine Arbeit. »Gieriger kleiner Bastard. Hier.« Auf dem Weg zurück zum Wagen drückte Eve Peabody ihren Kaffeebecher in die Hand. »Trinken Sie. Das Zeug macht Sie entweder wieder munter – oder es bringt Sie um.« Auch der Pathologe wurde so lange von ihr bedrängt, bis sie die Bestätigung des Todes durch Erwürgen und der Spuren eines nicht verschreibungsp lichtigen Beruhigungsmittels in Holloways Blut von ihm bekam. Zurück auf der Wache, schickte sie Peabody in die enge, dunkle, mit drei Doppelstockbetten bestückte Kammer, der der hübsche Name Resort verliehen worden war. Und während ihre Assistentin schlief, setzte sie sich an ihren Schreibtisch, schrieb ihren Bericht, schickte ihn an die zuständigen Stellen und genehmigte sich eine Tasse Kaffee. Noch ehe die Dämmerung anbrach, klingelte ihr Link, und auf dem Monitor erschien das Bild ihres Mannes. »Lieutenant, du bist so bleich, dass man durch dich hindurchgucken kann.« »Ich bin vollkommen munter.«
»Ich habe was für dich.« Ihr Herz machte einen Satz. Er wusste, mehr durfte er während des mitgeschnittenen Gesprächs nicht sagen. »Ich werde versuchen, zu Hause vorbeizufahren. Peabody hat sich ein wenig hingelegt.« »Das solltest du auch tun.« »Ja. Hier habe ich alles, was ich tun konnte, getan. Ich mache mich in ein paar Minuten auf den Weg.« »Ich werde auf dich warten.« Sie brach die Übertragung ab, hinterließ eine kurze Nachricht für ihre Assistentin, ging zu ihrem Wagen und wählte von dort aus noch einmal die Nummer des Labors. »Haben Sie noch etwas herausgefunden?« »Meine Güte, Sie kennen wirklich keine Gnade. Bei der Faser handelt es sich um simulierte Wolle mit dem Markennamen Wulstrong, wie sie häu ig für Mäntel und Pullover verwendet wird. Die hier war rot gefärbt.« »Wie für ein Weihnachtsmannkostüm?« »Ja, aber ganz sicher nicht für eins dieser billigen Kostüme, wie sie die Weihnachtsmänner an den Straßenecken tragen. Diese armen Kerle können sich ein solches Material bestimmt nicht leisten. Das Zeug ist wirklich gut, fast so gut wie echte Wolle. Die Hersteller behaupten, es wäre sogar noch besser – wärmer, strapazierfähiger und überhaupt ganz toll. Das ist natürlich Schwachsinn, denn nichts ist besser als das von Mutter
Natur geschaffene Produkt. Aber genau wie das Haar ist es gute, teure Qualität. Ihr Kerl scheint sich über Geld keine Gedanken machen zu müssen.« »Das ist ja schon mal was. Gute Arbeit, Dickie.« »Und, haben Sie meine Einladung gefunden?« »Ja, sie war hinter meinen Schreibtisch gerutscht.« »So etwas kann passieren.« »Sobald Sie mir was über das Zeug aus den Ab lüssen sagen können, Dickie, schicke ich Ihnen die Einladung mit einem Boten rüber.« Als sie in die Einfahrt ihres Grundstücks bog, stieg im Osten das erste morgendliche Dämmerlicht am schwarzen Himmel auf. Sie wusste, wo sie ihren Gatten fände. In einem of iziell nicht existenten, mit of iziell nicht registrierten Gerätschaften bestückten Raum. Als sie vor die Tür des Raumes trat, ignorierte sie die Reaktion der Polizistin, legte ihre Hand auf den Scanner und wies sich gleichzeitig mit ihrer Stimme als »Lieutenant Eve Dallas« aus. Nach kurzer Überprüfung ging die Tür des Zimmers auf. Trotz der geöffneten Vorhänge konnte von außen niemand durch die sichtgeschützten breiten Fenster sehen. Der Boden des großen Raumes war aus elegantem Marmor, an drei Wänden hingen exklusive Gemälde, und die vierte Wand wurde von mehreren großen
Bildschirmen beherrscht. Zurzeit war nur einer der Monitore in Betrieb. Roarke saß hinter der schlanken, u-förmigen Konsole, spielte mit einem nicht registrierten Computer und ging zugleich die jüngsten Börsenberichte durch. »Du warst schneller, als ich dachte«, sagte seine Frau. »Es war unerwartet leicht.« Er winkte in Richtung eines Stuhls. »Setz dich.« »Leicht genug, als dass ich es auch selber hätte schaffen können? Ich meine, vielleicht kann ich ja dann behaupten, ich wäre selbst darauf gestoßen, ohne dass das in meinem Bericht unglaubwürdig klingt.« Seine Polizistin, dachte Roarke und sah sie zärtlich an. Immer machte sie sich Gedanken darüber, ob alles, was sie tat, korrekt war und den Vorschriften entsprach. »Wenn du gewusst hättest, wo du suchen und wonach du fragen musst – was in ein, zwei Tagen bestimmt der Fall gewesen wäre –, ja. Setz dich«, wiederholte er, nahm ihre Hand und zog sie neben sich. Er hatte seine Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden – was immer das Bedürfnis in ihr wachrief, sie aus dem dünnen Lederbändchen zu befreien –, hatte die Ärmel seines schwarzen Rollis hochgeschoben, und sie merkte, wie sie fasziniert seine Hände betrachtete und sich sagte, wie schön und geschickt diese Hände waren. Ihr wurde bewusst, dass sie kurz davor war einzuschlafen, und sie schüttelte den Kopf.
Als sie wieder klar sah, hatte eine dieser schönen, geschickten Hände sanft ihr Gesicht umfasst und strich einer seiner starken Daumen über das kleine Grübchen in der Mitte ihres Kinns. »Und, jetzt wärst du beinahe eingeschlafen, stimmt’s?« »Ich habe… nachgedacht.« »Ja klar. Nachgedacht. Vereinbaren wir doch ein Geschäft. Ich sage dir, was ich herausgefunden habe, wenn du dafür heute Abend pünktlich um sechs erscheinst, ein leichtes Beruhigungsmittel nimmst – « »He, ich mache keine derartigen Geschäfte.« »Wenn du die Informationen willst, ganz sicher. Ich kann sie nämlich problemlos wieder löschen.« Er streckte seine freie Hand nach einem der Knöpfe auf dem Kontrollpaneel aus. »Du wirst pünktlich hier sein, ein Beruhigungsmittel nehmen«, wiederholte er, »und dich von Trina behandeln lassen.« »Ich habe keine Zeit für einen blöden Haarschnitt.« Er dachte weniger ans Haareschneiden als an die Massage und das Entspannungsprogramm, das er in Auftrag geben würde. »So sieht mein Angebot aus. Nimm es an oder lass es bleiben.« »Ich habe vier Leichen, deren Mörder frei herumläuft.« »Im Augenblick wäre es mir sogar egal, wenn es vierhundert Leichen wären. Ungeachtet der Prioritäten, die du setzt, bist für mich du das Wichtigste. Das ist der Preis, den ich verlange. Willst du die Informationen haben oder
nicht?« »Du bist mindestens so schlimm wie der alte Sturschädel.« »Wie bitte?« Der beleidigte Klang seiner Stimme entlockte ihr ein Lachen, dann jedoch fuhr sie sich mit den Händen übers Gesicht. Sie hasste es, sich eingestehen zu müssen, dass er wieder mal im Recht war. Aber sie hielt sich tatsächlich nur noch mit Mühe auf den Beinen. »Okay, abgemacht. Was hast du herausgefunden?« Er sah sie stirnrunzelnd an, ließ seine Hände sinken und wandte sich den Monitoren zu. »Speichern der Daten auf Bildschirm vier, Bildschirm aus. Datei Holloway auf allen Monitoren. Unser Freund hat sich vor vier Jahren für viel Geld eine neue Identität verpassen lassen. Unter seinem eigentlichen Namen… « »John B. Boyd. Scheiße.« Sie sprang von ihrem Stuhl, trat dichter vor die Monitore und las den ersten der Polizeiberichte durch. »Die erste Anzeige wegen Vergewaltigung wurde vom Opfer zurückgezogen. Die zweite Anzeige wegen erzwungenen Beischlafs hat zur Verurteilung geführt. Sechs Monate psychotherapeutische Behandlung und gemeinnützige Arbeit. Schwachsinn. Besitz von verbotenen Sexspielzeugen, Schuldbekenntnis und freiwillige Behandlung wegen sexueller Obsession. Behandlung erfolgreich abgeschlossen, Akte unter Verschluss. Verdammt. Dieser Typ war ganz eindeutig krank, und trotzdem ist er immer wieder entwischt.«
»Er hatte eben Geld«, erklärte Roarke. »Es ist kein Problem, sich von mittelschweren Anklagen wegen sexueller Übergriffe freizukaufen. Er hat unter einem neuen Namen wieder von vorne angefangen, und dann wird er am Ende selber vergewaltigt und erwürgt. Gerechtigkeit, Eve, oder Ironie des Schicksals?« »Sie hätten ihm vor Gericht Gerechtigkeit widerfahren lassen müssen«, schnauzte Eve erbost. »Ironie des Schicksals, so ein Quatsch. Hätten sie bei Personally Yours während der Überprüfung auf diese Dinge stoßen müssen?« »Ich bin darauf gestoßen.« Er zuckte mit den Schultern. »Kommt drauf an, wie tief sie graben, aber wie gesagt, es war nicht allzu gut versteckt. Bei jeder halbwegs ordentlichen Überprüfung wäre sein Strafregister ans Tageslicht geschwappt. Die Versiegelung der Akte schützt ihn lediglich vor der standardisierten Überprüfung durch einen potenziellen Arbeitgeber oder eine Bank.« »Hast du etwas über seine Finanzen rausgefunden?« »Natürlich. Finanzen Holloway, Monitor sechs. Er hat mit seiner Arbeit ziemlich gut verdient und hatte einen guten Broker, der sein Geld Gewinn bringend investiert hat. Hat mit vollen Händen ausgegeben, aber konnte es sich leisten. Allerdings hat er auch Einkünfte gehabt, die weder seiner Arbeit noch seinen Investitionen zuzuordnen sind. In den letzten beiden Jahren wurden alle drei Monate jeweils zehntausend Dollar auf sein Konto überwiesen.« »Aha.« Wieder trat sie dichter vor den Bildschirm. »Ich
sehe sie. Ist es dir gelungen rauszu inden, woher die Kohle stammt?« »Ich frage mich, weshalb ich derartige Beleidigungen toleriere.« Als sie ihn stirnrunzelnd musterte, erklärte er mit einem leisen Seufzer: »Natürlich habe ich es rausgefunden. In dem Versuch, die Herkunft zu verschleiern, wurde das Geld über diverse Zwischenstationen elektronisch überwiesen. Der ursprüngliche Auftraggeber jedoch war stets gleich.« Sie nickte. »Personally Yours.« »Du bist wirklich eine hervorragende Detektivin.« »Dann hat er also entweder einen von ihnen oder sie beide erpresst. Hast du den Namen der Person, von der die Anweisungen unterschrieben worden sind?« »Das Konto läuft auf ihrer beider Namen, und da statt einer Unterschrift ein Zugangscode verwendet wird, könnten die Aufträge von jedem der beiden erteilt worden sein.« »Okay, trotzdem habe ich genug, um die beiden zum Verhör zu laden und eine Weile zu grillen.« Sie atmete tief durch. »Erst soll Peabody hinfahren und die beiden etwas aus der Ruhe bringen, und dann mische ich mich ein.« »Sieh nur zu, dass du um sechs zu Hause bist.« Ungeduldig wandte sie sich ihm zu. Ihre bleichen Wangen und die schwarzen Ringe unter ihren Augen wurden durch das hereinströmende Licht des anbrechenden Morgens tatsächlich noch betont. »Keine
Sorge, ich werde mich bestimmt an die Abmachung halten.« »Natürlich wirst du das.« Sie würde sich daran halten, und wenn er zu dem Zweck persönlich auf die Wache fahren und sie nach Hause schleppen müsste, dachte er und schickte ihr, während sie den Raum verließ, ein leichtes Lächeln hinterher.
13 Eve kam zu dem Schluss, dass es am besten wäre zuzugreifen, solange die beiden noch erschüttert waren. Wenn Peabody ihre Sache richtig machte, würden sich Rudy und Piper verzweifelt überlegen, wie sich eine mögliche Klage einer entsetzten Kundin und die damit einhergehende negative Werbung für ihr Unternehmen am geschicktesten vermeiden ließ. Sobald ihre Assistentin von der Bühne abgetreten wäre, würde sie selber auf der Bildfläche erscheinen. Um neun Uhr dreißig betrat sie Alle schönen Dinge und zeigte Holloways Bild der Angestellten am Empfang. Wenn alles liefe wie geplant, wäre sie mit der Befragung fertig, wenn Peabody hereinkäme und ihr das Zeichen gäbe, dass sie in der Partnervermittlung an der Reihe war. »Sicher, ich kenne Mr. Holloway. Er lässt sich einmal in der Woche auffrischen und kommt einmal im Monat für einen ganzen Tag. « »Was bedeutet auffrischen?« »Haare, Gesicht, Maniküre, Massage und AromaEntspannung.« Dieses Mal beugte sich Yvette hilfsbereit und freundlich über ihren Tisch und betrachtete noch einmal das ihr von Eve gezeigte Bild. »Er hat eine wirklich phänomenale Hülle und weiß, wie er sie erhält. Wie gesagt, einmal im Monat kommt er für den ganzen Tag und lässt sich eine Rundum-Behandlung verpassen.«
»Wird er dabei immer von derselben Person bedient?« »Sicher, er gibt sich mit niemand Geringerem als Simon persönlich zufrieden. Vor ein paar Monaten war Simon mal im Urlaub, und Mr. Holloway hat direkt hier im Wartebereich einen Wutanfall gekriegt. Um ihn zu beruhigen, haben wir ihm eine Gratisstunde in der Stimmungswanne und einen Luxus-O geboten.« »Luxus-O?« »O für Orgasmus, Schätzchen. In einem kleinen, ansprechenden Nebenzimmer mit dem Virtual-RealityProgramm, dem Hologramm oder dem Freuden-Droiden seiner Wahl. Lizensierte Gesellschafterinnen bekommt man bei uns nicht, aber sämtliche Alternativen. Das Deluxe-Programm kostet fün hundert, aber das war es uns wert. Man muss seine Stammkunden bei Laune halten. Jemand wie Holloway lässt locker fünftausend Dollar im Monat hier, und dazu noch all die Produkte, die er bei uns kauft.« »Und es geht nichts über einen Luxus-Orgasmus, wenn man die Kunden bei der Stange halten will.« »Genau.« Dankbar, dass Eve anscheinend nicht mehr böse auf sie war, lächelte Yvette. »Also, hat er irgendwas verbrochen?« »So könnte man es nennen. Aber er wird es nicht noch einmal tun. Ist Simon in der Nähe?« »Er ist hinten im Studio drei. Allerdings wollen Sie ihn dort bestimmt nicht stören«, begann sie, als sich Eve zum
Gehen wandte. »Doch, ich will.« Eve marschierte einen kurzen Korridor hinunter und durch eine Milchglastür mit den eingravierten Silhouetten perfekt geformter Körper. Sie hörte gedämpfte Stimmen und Musik, das leise Plätschern eines kleinen Brunnens, Vogelgezwitscher und das sanfte Säuseln einer Brise, roch Eukalyptus, Rosenduft und Moschus. Zu beiden Seiten des Ganges fanden sich pastellfarbene Türen. Eine von ihnen stand offen, und der Anblick des langen, gepolsterten Tisches, der zahlreichen hochtechnischen Geräte, der Röhren, der Spiegel und des in der Ecke stehenden Computers rief in Eve den unschönen Gedanken an ein Gesundheitszentrum wach. Als sie den Flur ein Stück weiter hinunterging, öffnete sich eine zweite Tür, und eine Beraterin in einer weißen Uniform führte eine von Kopf bis Fuß in eine klebrig grüne Masse eingehüllte Frau in einen anderen Raum. »Studio drei?« »Den Gang runter und dann links. Die Tür ist beschriftet.« »Danke.« Eve verfolgte, wie die Beraterin ihre Klientin weiterführte und ihr dabei erklärte, zehn Minuten im Wüstenzimmer machten sie zu einer neuen Frau. Eve brauchte ihre ganze Willenskraft, um nicht zu
erschaudern. Als sich der Gang gabelte, fand sie den großen, von Mini-Trauerweiden gesäumten Whirlpool, in dem bereits drei Frauen mit auf der Ober läche des pinkfarbenen Schaums wippenden Brüsten auf der Suche nach Entspannung saßen. Eine vierte Frau lag bis zum Kinn in einer dick lüssigen grünen Masse in einer breiten Wanne, und direkt dahinter war ein schmales, Tauchbad genanntes Becken mit konstant auf zwei Grad gehaltenem eisig blauem Wasser, dessen Anblick Eve bereits vor Kälte fast mit den Zähnen klappern ließ. Sie wandte sich nach links, klopfte an die blaue, mit einer Drei versehene Tür und trat entschlossen ein. Es war nicht zu sagen, wer am überraschtesten von ihnen war – sie, Simon oder McNab, der, das Gesicht unter einer dicken schwarzen Schlammschicht, in einem Entspannungssessel lag. »Dies ist ein Behandlungsraum.« Mit latternden Händen stürzte Simon auf sie zu, um sie am Weitergehen zu hindern. »Während der Behandlung ist niemandem der Zutritt zu dem Raum gestattet. Hinaus, hinaus, hinaus.« »Ich muss mit Ihnen reden. Es wird nur ein paar Minuten dauern.« »Ich bin bei der Arbeit.« Simon spreizte die Hände, und dabei flogen ein paar Schlammkleckse durch den Raum. »Zwei Minuten«, sagte sie und hätte, als McNab hinter
Simons Rücken dramatisch mit den Augen rollte, am liebsten laut gelacht. »Hinaus, hinaus«, wiederholte Simon und schnappte sich ein Handtuch. »Ich bitte um Verzeihung«, wandte er sich an McNab. »Aber die Maske muss sowieso noch trocknen. Bitte entspannen Sie sich einfach, und lassen Sie alle Gedanken ruhen. Ich bin sofort wieder da.« »Kein Problem«, nuschelte McNab, so gut es unter der dicken Schlammschicht möglich war. »Nein, nein, pst!« Mit einem freundlichen Lächeln legte sich Simon einen Finger an die Lippen. »Nicht sprechen. Lassen Sie Ihr Gesicht vollkommen entspannen, lassen Sie Ihre Gedanken liegen. Dies ist Ihre Zeit. Und jetzt schließen Sie die Augen und stellen sich vor, wie alles Unreine aus Ihnen heraus ließt. Ich bin draußen vor der Tür.« Sobald er jedoch die Tür hinter sich geschlossen hatte, schwand sein Lächeln, und er erklärte Eve mit giftiger Stimme: »Ich lasse es nicht zu, dass Sie meine Kunden stören.« »Tut mir Leid. Aber einer Ihrer Kunden wurde letzte Nacht erheblich mehr gestört. Er wird ab jetzt nicht mehr jeden Monat für eine Rundum-Behandlung bei Ihnen erscheinen.« »Wovon reden Sie?« »Holloway. Brent Holloway. Er ist tot.«
»Tot? Brent?« Simon lehnte sich gegen die schimmernde Wand und presste seine noch leicht schlammbedeckte Hand gegen sein Herz. »Aber ich habe ihn vor ein paar Tagen noch gesehen. Das muss ein Irrtum sein.« »Ich habe ihn heute Morgen noch gesehen. Im Leichenschauhaus. Es ist ganz bestimmt kein Irrtum.« »Ich kriege… keine… Luft mehr.« Mit wild latterndem Cape stürzte Simon den Korridor hinunter, und schließlich fand ihn Eve im Wartebereich, wo er, den Kopf zwischen den Knien, auf einem mit Seide bezogenen Hocker in sich zusammengesunken war. »Ich wusste nicht, dass Sie beide einander derart nahe gestanden haben.« »Ich war sein – ich war sein Berater. Niemand, nicht einmal der Lebenspartner ist einem Menschen derart nahe.« Sie versuchte sich eine solche Nähe zu Trina vorzustellen und musste erneut einen leichten Schauder unterdrücken. »Tut mir Leid, Simon. Möchten Sie etwas? Vielleicht ein Glas Wasser?« »Ja, nein. Oh, großer Gott.« Er hob den Kopf und streckte eine zitternde Hand nach der Erfrischungskarte auf dem Tisch neben dem Hocker aus. Sein kränklich gräuliches Gesicht stand in deutlichem Kontrast zu seinem leuchtend roten Haar. »Ich brauche etwas zur Beruhigung. Eisgekühlte Kamille. « Dann lehnte er sich zurück und
schloss ermattet seine Augen. »Wie ist es passiert?« »Wir stecken noch in den Ermittlungen. Erzählen Sie mir von ihm, erzählen Sie mir, mit wem er hier im Salon zu tun hatte.« »Er war ein sehr anspruchsvoller Mann. Das habe ich respektiert. Er wusste genau, wie er aussehen wollte, und widmete sich mit geradezu religiösem Eifer der Erhaltung seines Gesichts und seines Körpers. O Gott.« Er nahm dem Droiden, der mit dem von ihm bestellten Beruhigungsgetränk kam, das hohe, schlanke Glas aus der hö lich ausgestreckten Hand. »Entschuldigen Sie, meine Liebe. Lassen Sie mir eine Sekunde Zeit. « Er nahm ein paar vorsichtige Schlucke, atmete zwischendurch tief durch, und endlich bekam sein Gesicht wieder ein Minimum an Farbe. »Er hat nie einen Termin verpasst und hat viele neue Kunden in den Salon geschickt. Er wusste meine Arbeit zu schätzen.« »Hatte er zu irgendjemandem aus dem Salon eine persönliche Beziehung? Zu einem Stylisten, einem Berater, einem anderen Kunden?« »Unseren Angestellten ist es nicht gestattet, mit Kunden auszugehen. Und von anderen Kunden hat er, soweit ich mich entsinne, nie gesprochen. Er fand Gefallen an Frauen. Er hat ein abwechslungsreiches und erfülltes Sexualleben gehabt.« »Er hat Ihnen davon erzählt?« »Es gibt so etwas wie eine Schweigep licht bezüglich
der Gespräche, die Berater mit ihren Kunden führen.« Leise schniefend stellte Simon sein leeres Glas neben sich auf den Tisch. »Hat er sich auch für Männer interessiert?« Simon kniff die Lippen aufeinander. »Ein Interesse an gleichgeschlechtlichen Beziehungen hat er mir gegenüber zu keiner Zeit erwähnt. Diese Fragen gefallen mir nicht, Lieutenant.« »Holloway gefällt es sicher auch nicht, dass er tot ist.« Sie wartete einen Moment, und schließlich nickte Simon. »Sie haben Recht. Natürlich haben Sie Recht. Bitte entschuldigen Sie mein Benehmen. Aber es ist ein solcher Schock.« »Hat einer Ihrer männlichen Angestellten romantisches oder sexuelles Interesse an ihm gezeigt?« »Nein… zumindest… mir sind niemals irgendwelche Signale oder Vibrationen aufgefallen, wenn ich es so formulieren darf. Ein solches Verhalten würde hier auch nicht geduldet. Wir sind alle Profis.« »Richtig. Welcher Ihrer Angestellten zeichnet freihändig Tattoos?« Simon entfuhr ein abgrundtiefer Seufzer. »Wir haben mehrere Berater, die hervorragende Körperkünstler sind.« »Namen, Simon.« »Fragen Sie Yvette drüben am Empfang. Sie wird Ihnen
alles geben, was Sie brauchen. Ich muss zurück zu meinem Kunden.« Er presste seine Finger vor die Augen. »Ich kann nicht zulassen, dass meine persönlichen Gefühle meine Arbeit stören. Lieutenant… « Simon ließ die Hände wieder sinken und sah Eve aus feuchten Augen an. »Brent hatte keine Angehörigen. Was wird mit seiner… was wird mit ihm passieren?« »Wenn sich niemand indet, wird die Stadt sich darum kümmern.« »Nein, das wäre nicht richtig.« Erneut presste er die Lippen aufeinander und rappelte sich auf. »Wenn es gestattet ist, würde ich gerne die notwendigen Vorkehrungen treffen. Es wäre das Letzte, was ich für ihn tun kann.« »Das ist sicher möglich. Allerdings müssen Sie dazu ins Leichenschauhaus kommen und die erforderlichen Dokumente unterzeichnen.« »Ins…« Seine Lippen bebten, doch er holte tief Luft und nickte tapfer. »Ja, ich werde hingehen.« »Ich werde dafür Sorge tragen, dass man Sie erwartet.« Da er so unglücklich aussah, fügte sie hinzu: »Sie brauchen ihn nicht anzugucken, Simon. Wir haben ihn bereits identi iziert. Sie stellen einfach den Antrag, und dann wird der Leichnam an das von Ihnen ausgesuchte Bestattungsunternehmen überstellt.« »Oh.« Er atmete erleichtert auf. »Danke. Wie gesagt, mein Kunde wartet«, meinte er mit wackliger Stimme. »Er hat sich anscheinend noch nie um seine Haut gekümmert.
Zum Glück ist er jung, sodass ihm noch geholfen werden kann. Es ist die P licht eines jeden Menschen, ein attraktives Äußeres zu präsentieren. Schönheit wirkt beruhigend auf die Seele.« »Ja. Kümmern Sie sich weiter um Ihren Kunden, Simon. Wir bleiben in Kontakt.« Sie ging zurück zum Empfang und ließ sich gerade von Yvette die Namensliste geben, als Peabody mit iebrig roten Wangen und schwarzen Ringen unter den Augen durch die Tür kam, ihr unauffällig zunickte und dann der Empfangsdame erklärte: »Ich habe einen Gutschein von Personally Yours für den Diamanttag.« »Oh, das ist das beste Programm, das wir zu bieten haben«, erklärte Yvette und sah sie strahlend an. »Und, meine Liebe, so erschöpft, wie Sie wirken, ist es genau das Richtige für Sie. Wir kriegen Sie ganz sicher wieder hin.« »Danke.« Vorgeblich um die Glasvitrine mit den bunten Flaschen, deren Inhalt bei regelmäßiger Verwendung Schönheit und Vitalität versprach, genauer zu betrachten, schlenderte sie nun durch den Raum und erstattete Eve dabei mit schneller Flüsterstimme einen vorläu igen Bericht. »Sie waren beide total erschüttert, haben aber versucht, es zu verbergen. Sie wollten mich davon überzeugen, dass ich das Ganze sicher falsch verstanden hätte.« Nur mit Mühe unterdrückte sie ein Schnauben. »Dann haben sie plötzlich umgeschwenkt und versucht, mich zu beruhigen. Sie haben mir versprochen, der Sache
nachzugehen, mir eine kostenlose zweite Beratung angeboten und diesen Gutschein ausgestellt. Ich habe die Broschüre des Schönheitssalons gelesen. Für den Diamanttag legt man fünf Riesen auf den Tisch. Allerdings habe ich nicht locker gelassen. Ich habe ihnen erklärt, ich würde den Gutschein einlösen, um mich zu beruhigen, bevor ich zu meinem Anwalt gehe.« »Gut gemacht. Sprechen Sie mit so vielen Beratern wie möglich, während Sie sich mit Schlamm einschmieren und massieren lassen. Bringen Sie die Sprache auf Holloway, denn ich will wissen, wie die Leute reagieren, was sie von ihm gehalten haben, ob es irgendwelche Gerüchte über den Typen gibt. Sorgen Sie dafür, dass sich auch männliche Angestellte um Sie kümmern.« »Alles für den Job, Madam.« »Ms. Peabody?« Peabody drehte sich um und hatte das Gefühl, als klappe ihre Kinnlade bis auf ihre Schuhe, als sie sich einem auf Hochglanz polierten goldenen Gott gegenüberstehen sah. »Ich äh… ja?« »Ich bin Anton. Ich werde Ihnen bei der Kräuterentgiftung assistieren. Wenn Sie mir bitte folgen würden?« »O ja.« Peabody schaffte es noch, Eve mit einem Augenrollen zu bedenken, ehe Anton ihre Hand nahm und sie sanft den Korridor hinunterdirigierte. Eve konnte nur hoffen, dass alles klappen würde, als
sie den Ausdruck der Namensliste in die Tasche steckte und sich in die Etage der Partnervermittlung begab. »Rudy und Piper sind momentan leider nicht zu sprechen«, erklärte die Rezeptionistin mit so schnippischer Stimme, dass sich Eve die Nackenhaare sträubten. »Oh, sie werden mit mir sprechen wollen.« Sie knallte ihren Dienstausweis vor sich auf den Tresen. »Vertrauen Sie mir. « »Mir ist bewusst, wer Sie sind, Lieutenant. Trotzdem sind Rudy und Piper nicht zu sprechen. Wenn Sie einen Termin ausmachen wollen, sehe ich gerne im Kalender nach.« Eve beugte sich lässig über den Tisch. »Haben Sie je den Ausdruck Behinderung polizeilicher Ermittlungen gehört?« Die Augen der Frau begannen nervös zu lackern. »Ich mache hier nur meine Arbeit.« »Lassen Sie mich Ihnen die Sache erklären. Entweder Sie lassen mich sofort zu Ihren Vorgesetzten durch oder ich nehme Sie mit auf die Wache und belange Sie wegen besagter Behinderung polizeilicher Ermittlungen, Widerstandes gegen eine Polizistin und grundsätzlicher Dummheit. Sie haben zehn Sekunden Zeit, um sich zu überlegen, wie Sie es halten wollen.« »Entschuldigen Sie mich.« Die Frau drehte sich zur Seite, schaltete ihr Headset ein, murmelte hastig ein paar Worte und wandte sich mit starrer Miene wieder ihrem
Gegenüber zu. »Sie werden erwartet, Lieutenant.« »Sehen Sie, so schwer war es gar nicht, oder?« Eve steckte den Dienstausweis zurück in ihre Tasche, strebte durch die gläsernen Flügeltüren und traf Rudy und Piper in der Tür ihres Büros. »War es unbedingt erforderlich, unsere Rezeptionistin zu bedrohen?«, wollte Rudy ärgerlich wissen. »Ja. Gab es einen bestimmten Grund dafür, dass Sie mich heute nicht sprechen wollten?« »Wir haben sehr viel zu tun.« »Und gleich wird es noch mehr werden. Sie kommen nämlich mit.« »Mitkommen?« Piper legte eine Hand auf Rudys Arm. »Warum? Wohin?« »Auf die Wache. Letzte Nacht wurde Brent Holloway ermordet, und es gibt sehr vieles, worüber wir uns unterhalten müssen.« »Ermordet?« Piper begann zu schwanken und wäre, hätte Rudy nicht sofort den Arm um sie gelegt, tatsächlich gestürzt. »O Gott. Großer Gott. Wie die anderen? War es wie bei den anderen? Rudy!« »Pst. « Er zog seine Schwester eng an seine Seite und wandte sich an Eve. »Es ist wohl kaum erforderlich, dafür extra aufs Revier zu fahren.« »Nun, da bin ich anderer Meinung. Sie haben die Wahl. Entweder Sie begleiten mich freiwillig, oder ich rufe ein
paar uniformierte Beamte, die Sie eskortieren.« »Sie haben doch wohl keinen Grund, einen von uns beiden zu verhaften.« »Sie werden zum jetzigen Zeitpunkt weder verhaftet noch unter Anklage gestellt. Aber Sie werden gebeten, zu einer of iziellen Vernehmung auf der Wache zu erscheinen.« Piper begann zu zittern, und Rudy atmete lach aus. »Ich werde unsere Anwälte verständigen.« »Das können Sie auch vom Revier aus tun.« »Okay, wir halten sie weiterhin getrennt«, sagte Eve zu Feeney, während sie durch die Scheibe Piper betrachteten. Sie saß an dem kleinen, verschrammten Tisch im Vernehmungszimmer A und wiegte sich, während einer der Anwälte leise auf sie einsprach, verzweifelt hin und her. »Wir könnten auch zu zweit mit ihnen sprechen, aber ich denke, wir kommen weiter, wenn jeder von uns sich einen von den beiden vornimmt. Wen willst du, Rudy oder sie?« Feeney zupfte sich am Ohr. »Ich fange mit ihm an, und wenn sie sich an den Rhythmus gewöhnt haben, tauschen wir die Plätze, bringen sie dadurch erneut aus dem Konzept, und erst, wenn einer von ihnen weich wird, fahren wir zu zweit mit der Befragung fort. « »Klingt durchaus vernünftig. Ist McNab inzwischen aufgetaucht?« »Er hat eben angerufen. Ist im Salon so gut wie fertig
und meint, dass er zur Berichterstattung hier ist, bevor wir mit den beiden durch sind.« »Sag ihm, dass er sich auch weiter zur Verfügung halten soll. Wenn wir genug aus den beiden rausquetschen, kriegen wir vielleicht einen Durchsuchungsbefehl für ihre Computer. Und wenn er an die Geräte gelassen wird, gräbt er dort ja eventuell noch irgendetwas aus.« Andernfalls müsste sie eben Roarke darum bitten, dass er seine »magischen Kräfte« walten ließ. »Klingel, wenn du tauschen willst«, sagte sie zu Feeney. »Du genauso.« Eve öffnete die Tür des Vernehmungszimmers, und als sie den Raum betrat, sprang der Anwalt auf die Füße, reckte herausfordernd das Kinn und begann mit dem üblichen Geschwätz. »Lieutenant, Ihr Verhalten ist empörend. Meine Klientin ist total erschöpft und zugleich durch den Tod eines Kunden ihres Unternehmens seelisch aus dem Gleichgewicht gebracht. Sie haben keinen Grund, zum jetzigen Zeitpunkt auf einer Vernehmung zu bestehen.« »Wenn Sie das Gespräch verhindern wollen, besorgen Sie sich beim Gericht einen entsprechenden Befehl. Recorder an. Vernehmende Beamtin Lieutenant Eve Dallas, Passnummer 5347 BQ. Zu befragende Person Piper Hoffman. Datum und Uhrzeit werden automatisch eingefügt. Die zu befragende Person hat um
Rechtsbeistand gebeten, und ihr Anwalt ist zugegen. Das Verhör wird aufgenommen. Der zu vernehmenden Hoffman wurden ihre Rechte verlesen. Haben Sie verstanden, welche Rechte und P lichten Sie haben, Ms. Hoffman?« Piper wandte sich an ihren Anwalt und wartete, bis er nickte. »Ja.« »Sie haben Brent Holloway gekannt?« Ruckartig nickte sie. »Für das Protokoll: Die Befragte bejaht die Frage durch ein Nicken. Er war ein Kunde Ihrer Partnervermittlung Personally Yours.« »Ja.« »Sie haben dem Verstorbenen Frauenbekanntschaften vermittelt.« »Das ist – es ist der Zweck unseres Unternehmens, Menschen mit gemeinsamen Interessen und Zielen zusammenzuführen, ihnen die Möglichkeit zu geben, einander kennen zu lernen und vielleicht sogar eine Beziehung zu entwickeln.« »Romantischer und/oder sexueller Natur?« »Die Art der Beziehung bleibt den jeweiligen Paaren selber überlassen.« »Und alle Kandidaten werden, bevor sie die Gebühr
bezahlen und als Kunden registriert werden, gründlich überprüft.« »Sehr gründlich sogar.« Piper atmete angesichts der Richtung, die das Gespräch zu nehmen schien, spürbar erleichtert auf. Sie straffte ihre Schultern und strich sich die silbrig blonden Haare mit ihren langen schlanken Fingern aus dem Gesicht. »Wir haben die Verantwortung dafür, dass unsere Klientel gewissen Anforderungen entspricht.« »Nehmen Sie auch Sexualstraftäter? Menschen, die wegen Sexualstraftaten verurteilt worden sind?« »Ganz sicher nicht.« Sie hob den Kopf und presste missbilligend die Lippen aufeinander. »Das widerspräche also der Politik Ihres Unternehmens?« »Eindeutig.« »Aber bei Brent Holloway haben Sie eine Ausnahme gemacht.« »Ich – « Die Hände, die Piper ordentlich auf dem Tisch gefaltet hatte, verkrampften sich derart, dass sich die Haut über den Knöcheln für jeden sichtbar spannte. »Ich weiß nicht, was…« Ihre Stimme brach, und sie wandte sich hilflos an den Anwalt. »Meine Klientin hat die Politik ihres Unternehmens in dieser Hinsicht ausreichend erläutert, Lieutenant. Bitte fahren Sie fort.«
»Brent Holloway war mehr als einmal wegen sexueller Nötigung, sexueller Belästigung und Perversion angeklagt und auch verurteilt«, eröffnete Eve, während alle Farbe aus Pipers Gesicht wich. »Sie haben behauptet, Sie würden alle Kandidaten genauestens überprüfen, haben mir Ihre Firmenpolitik in dieser Beziehung hinlänglich erklärt. Jetzt frage ich Sie, weshalb für Brent Holloway eine Ausnahme von dieser Politik gemacht worden ist.« »Wir – ich –, das haben wir bestimmt nicht gemacht.« Sie rang verzweifelt die Hände und sah Eve ängstlich an. »Wir haben keine solchen Informationen über Brent Holloway bekommen.« »Vielleicht aber über einen gewissen John B. Boyd.« Da sie Piper eisern ixierte, blieb ihr das leichte Auf lackern in ihren Augen, der Hauch von Schuldbewusstsein nicht verborgen. »Sie verfügen, wie Sie selbst erläutert haben, über ein hochmodernes Sicherheitssystem. Und es fällt in Ihren Verantwortungsbereich, herauszu inden, ob gegen einen Bewerber – vor allem in sexueller Hinsicht – irgendetwas vorliegt. Sind Sie, wenn Sie so etwas übersehen, also verantwortungslos oder schlicht und einfach unfähig, Ms. Hoffman?« »Mir gefällt der Ton der Frage nicht«, protestierte Pipers Anwalt. »Ihre Kritik wurde vermerkt. Was haben Sie dazu zu sagen, Piper?« »Ich weiß nicht, was passiert ist.« Ihr Atem ging stoßweise, und sie kreuzte die Hände über ihrer Brust.
»Ich kann es nicht sagen.« O doch, dachte Eve, du kannst es garantiert sagen, denn bereits die Erwähnung des Namens dieses speziellen Kunden hat dir einen Heidenschrecken eingejagt. »Vier Kunden Ihres Unternehmens wurden inzwischen ermordet. Vier. Jeder der vier kam zu Ihnen, und jeder von ihnen wurde gefesselt, vergewaltigt und anschließend erwürgt.« »Das ist ein, wenn auch grauenhafter, Zufall.« Piper begann zu zittern und rang erstickt nach Luft. »Das hat Rudy gesagt. « »Aber das glauben Sie ihm nicht«, stocherte Eve mit leiser Stimme nach und beugte sich über den Tisch. »Das haben Sie ihm nicht eine Sekunde lang geglaubt. Sie sind tot.« Brutal legte sie die Fotos der Leichen auf den Tisch. Sie stammten von den Tatorten und waren grausam scharf. »Das sieht nicht nach einem Zufall aus, oder was meinen Sie?« »O Gott. O Gott.« Sie warf die Hände vors Gesicht. »Nicht, nicht, nicht. Mir wird schlecht.« »Das war ja wohl nicht nötig.« Mit zornrotem Gesicht sprang ihr Anwalt auf. »Die Morde waren nicht nötig«, fauchte Eve zurück und stand ebenfalls auf. »Ich gebe Ihrer Klientin fünf Minuten, um sich zu erholen. Recorder aus.« Damit marschierte sie aus dem Raum. Während sie durch die Scheibe in das kleine Zimmer
spähte, zog sie ihr Handy aus der Tasche und piepste Feeney an. »Ich habe sie aus dem Gleichgewicht gebracht«, berichtete sie, als er sich zu ihr in den Korridor gesellte. »Den Rest machst besser du. Ich an deiner Stelle würde es auf die nette, mitfühlende Onkeltour versuchen.« »Immer darfst du den bösen Bullen spielen«, protestierte Feeney. »Weil ich es besser kann. Tätschel ihr die Hand, und dann frag sie, wofür sie Holloway die Kohle überwiesen haben. Soweit bin ich bisher nicht gekommen.« »Okay. Rudy hält sich wacker. Er hat eine reichlich schnippische Art. Ein arroganter Schnösel.« »Gut. Ich bin nämlich gerade in der Stimmung, um einem Schnösel in den Allerwertesten zu treten.« Sie steckte die Hand in Feeneys Tüte und schob sich eine Hand voll Nüsse in den Mund. »Sie behauptet, sie hätten nichts von Holloways Vergangenheit gewusst. Sie lügt, aber vielleicht kriegen wir deshalb einen Durchsuchungsbefehl für Ihre Firma. Ich werde noch, bevor ich Rudy weiter ausquetsche, versuchen, das Ding zu kriegen.« Sie ließ sich Zeit und genehmigte sich nach der Beantragung des Dokuments eine schnelle Tasse Kaffee, bevor sie in Vernehmungszimmer B hinüberging. »Recorder an«, befahl sie. »Das Verhör wird durch Lieutenant Eve Dallas fortgeführt. Uhrzeit und Datum werden automatisch eingegeben.«
Sie nahm Platz und blickte Rudy sowie seinen Anwalt freundlich lächelnd an. »So, Jungs, dann fangen wir mal an.« Obgleich sie nach einem ähnlichen Muster verfuhr wie bei Piper, wurde Rudy mit jeder Frage verstockter, und plötzlich sprang er auf und brachte sie mit der Forderung: »Ich möchte meine Schwester sehen«, kurzfristig aus dem Konzept. »Ihre Schwester wird zurzeit ebenfalls vernommen.« »Sie ist zerbrechlich. Sie ist ein äußerst emotionaler Mensch. Diese ganze hässliche Geschichte wird ihr schaden.« »Ich habe vier Menschen, denen die Geschichte noch viel mehr geschadet hat. Haben Sie womöglich Angst vor dem, was Piper uns erzählen könnte? Ich habe eben noch mit ihr gesprochen.« Sie lehnte sich zurück und zuckte mit den Schultern. »Sie hält sich tatsächlich nicht sehr gut. Aber ich bin überzeugt, dass es ihr besser gehen wird, wenn Sie die Sache klären.« Eve sah, wie er die Fäuste ballte und überlegte, welche Schlüsse Mira daraus wohl über seine Fähigkeit, Gewalt auszuüben, ziehen würde. »Sie sollten ihr gestatten, sich ein wenig auszuruhen«, schlug er vor und funkelte sie aus seinen grünen Katzenaugen an. »Sie sollte ein Beruhigungsmittel und eine Meditationspause bekommen.« »Wir haben es hier nicht so mit Meditationspausen.
Und sie hat ihren Anwalt bei sich, genau wie Sie den Ihren. Ich schätze, als Zwillinge stehen Sie einander ziemlich nahe.« »Natürlich.« »Hat Holloway ihr gegenüber jemals irgendwelche Annäherungsversuche unternommen?« Rudys Mund wurde zu einem schmalen Strich. »Natürlich nicht. « »Oder hat er versucht, sich an Sie heranzumachen?« »Nein.« Mit ruhiger Hand griff er nach seinem Glas Wasser. »Weshalb haben Sie ihn dann bezahlt?« Ehe er das Glas wieder auf dem Tisch abstellen konnte, schwappte das Wasser fast über den Rand. »Ich weiß nicht, wovon Sie reden.« »Von regelmäßigen Zahlungen in Höhe von jeweils zehntausend Dollar, die im Verlauf der letzten beiden Jahre alle drei Monate an ihn gegangen sind. Also, Rudy, was hatte er gegen Sie in der Hand?« Mit blitzenden Augen fuhr er zu seinem Rechtsbeistand herum. »Sie haben kein Recht, sich unsere Finanzen anzusehen, oder?« »Ganz und gar nicht.« Der Anwalt straffte seine Schultern und schob gewichtig eine Hand in seinen mit trendigen Medaillons bestückten Aufschlag. »Lieutenant, falls Sie die Finanzen meines Mandanten ohne triftigen
Grund und ohne ordnungsgemäßen Durchsuchungsbefehl durchleuchtet haben – « »Habe ich das gesagt?«, fragte Eve mit einem Lächeln. »Ich brauche nicht zu erklären, wie ich an gewisse Informationen gelangt bin, die in direkter Verbindung mit diesem Mordfall stehen. Sie werden keine of iziell angeordnete Durchsicht der Finanzen feststellen können. Aber Sie haben ihn bezahlt, nicht wahr, Rudy?«, kehrte sie zurück zu ihrem Gegenüber. »Sie haben ihn immer wieder bezahlt, haben sich von ihm zwingen lassen, ihn als Kunden anzunehmen, obgleich Sie wussten, dass er ein Sexualverbrecher war. Wie viele Kundinnen mussten Sie beruhigen, bezahlen oder einschüchtern, damit er nicht aufgeflogen ist?« »Ich weiß nicht, wovon Sie reden.« Doch seine Hand war nicht mehr ganz so ruhig, als er erneut das Glas an seinen Mund hob, und seine milchig-weiße Haut war übersät mit hektischen roten Flecken. Eve wusste, wenn er an einen Lügendetektor angeschlossen wäre, hätte der Zeiger in dieser Minute verrückt gespielt. »Oh, doch, das wissen Sie genau. Und ich wette, es würde mir nicht schwer fallen, ein paar Kundinnen zu inden, die während eines der von Ihnen empfohlenen netten Treffen von ihm belästigt worden sind. Sobald ich auch nur die Erste inde, kann ich Sie und Ihre Schwester wegen Kuppelei, Täuschung und Beihilfe zu mehreren Sexualstraftaten belangen.« Sie nickte in Richtung seines
Anwalts. »Und Ihr Rechtsbeistand wird Ihnen sagen, dass ich dafür sorgen kann, dass zumindest ein paar der Anklagepunkte hängen bleiben werden, wodurch nicht nur Ihr Unternehmen den Bach hinuntergehen wird, sondern auch Sie selbst und Ihre Schwester auf sämtlichen Kanälen in den Nachrichten erscheinen.« »Wir können nichts dazu. Sie kann nichts für das, was dieser… dieser Perverse verbrochen hat.« »Rudy.« Der Anwalt hob mahnend seine Hand und legte sie auf seine Schulter. »Ich würde mich gerne kurz mit meinem Mandanten beraten, Lieutenant.« »Kein Problem. Recorder aus. Sie haben fünf Minuten«, warnte sie und ließ die beiden allein. Ohne den Blick draußen von den beiden abzuwenden, zog sie ihr Handy aus der Tasche, wählte die Nummer von McNab, wippte auf den Fersen und versuchte, die Körpersprache von Anwalt und Mandanten zu verstehen. Rudy hatte die Arme vor der Brust gekreuzt und die Finger in den Armmuskeln vergraben, während der Anwalt sich zu ihm hinüberbeugte und hastig auf ihn einsprach. »Hier McNab. Ich bin gerade auf dem Weg ins Revier.« »Dann machen Sie am besten sofort kehrt. Ich habe gerade einen Durchsuchungsbefehl für die Computer von Personally Yours beantragt und möchte, dass Sie in der Firma darauf warten.« »Kann ich noch eine kurze Mittagspause machen?«
»Holen Sie sich was von einem Schwebegrill. Ich möchte, dass Sie, wenn der Befehl durchgestellt wird, bereits an Ort und Stelle sind.« Sie hörte seinen Seufzer und verzog amüsiert das Gesicht. »Wie war die Gesichtspackung, McNab?« »Super. Ich habe Wangen wie ein Babypopo. Und außerdem habe ich Peabody nackt oder zumindest so gut wie nackt gesehen. Sie steckte von Kopf bis Fuß in grünem Glibber, aber ich habe eine ungefähre Vorstellung davon bekommen, wie es darunter aussieht.« »Vergessen Sie das Bild, und machen Sie sich bereit.« »Ich kann beides miteinander verbinden. Ein wirklich tolles Bild. Vor allem war sie herrlich sauer.« Eve gab sich die größte Mühe, sein Grinsen nicht zu erwidern, und brach die Übertragung, ehe sie den Kampf verlor, vorsichtshalber ab. »Die Zeit ist um, Kumpel«, murmelte sie, kehrte in das Verhörzimmer zurück, schaltete den Recorder wieder ein, nahm Platz und blickte Rudy mit hochgezogenen Brauen fragend an. Manchmal wirkte Stille besser als jeder noch so eindringliche Satz. »Mein Mandant möchte eine Erklärung abgeben.« »Dafür sind wir da. Also, Rudy, was haben Sie mitzuteilen?« »Brent Holloway hat mich erpresst. Ich habe mir die größte Mühe gegeben, unsere Kunden zu beschützen, aber wie gesagt, er hat mich erpresst. Ein Teil seiner Forderung
bestand darin, dass wir ihn beraten und anschließend vermitteln. Meiner Meinung nach war er ein schwieriger, nervtötender Mensch, aber für die Frauen, die wir ihm vermittelt haben, nicht wirklich gefährlich.« »Das ist Ihre professionelle Meinung?« »Ja. Wir raten unseren Kunden immer, ihre Partner in der Öffentlichkeit zu treffen. Falls sich eine Frau anschließend noch privat mit ihm getroffen hat, hat sie das aus eigenem Antrieb getan. Alle unsere Kunden unterschreiben ein Papier, aus dem deutlich hervorgeht, dass man uns in diesem Fall nicht haftbar machen kann.« »Ach ja, dann haben Sie also gedacht, damit wären Sie aus dem Schneider. Allerdings bin ich mir ziemlich sicher, dass das die Gerichte etwas anders sehen. Aber kommen wir zum Hauptthema zurück. Was hatte er gegen Sie in der Hand?« »Das ist nicht von Bedeutung.« »O doch, das ist es.« »Es hat mit meinem Privatleben zu tun.« »Es hat mit einem Mord zu tun, Rudy. Aber wenn Sie es mir nicht sagen wollen, gehe ich zurück zu Ihrer Schwester und frage einfach sie.« Sie wollte sich erheben, doch Rudys rechte Hand schoss vor und packte sie am Arm. »Lassen Sie sie in Ruhe. Sie ist ein zerbrechliches Geschöpf. « »Einer von Ihnen beiden wird mit mir reden. Sie
können entscheiden, wer.« Seine Finger gruben sich ihr beinahe schmerzhaft in den Arm, bevor er von ihr abließ, sich zurücklehnte und ihr tonlos erklärte: »Piper und ich haben eine einzigartige und ganz besondere Beziehung. Wir sind Zwillinge. Zwischen uns gibt es eine innere Verbindung.« Er verstummte. »Sie und Ihre Schwester gehen miteinander ins Bett.« »Das zu be- oder verurteilen steht Ihnen nicht zu«, schnauzte er sie an. »Ich erwarte nicht, dass Sie das, was uns verbindet, auch nur annähernd verstehen. Das kann niemand. Und obgleich das, was wir miteinander haben, nicht verboten ist, sieht es die Gesellschaft doch nicht gern.« »Inzest ist kein schönes Wort, Rudy.« Das vor Anstrengung hochrote Gesicht ihres Vaters, seine vor Gier lammenden Augen tauchten in ihrem Inneren auf. Sie ballte unter dem Tisch die Fäuste und zwang das Bild zusammen mit der Übelkeit, die es erzeugte, gewaltsam zurück. »Wir gehören einfach zueinander«, wiederholte Rudy. »Während des Großteils unseres Lebens haben wir versucht, uns gegen das zu wehren, was unsere Herzen schon seit langer Zeit von uns verlangten. Wir haben versucht, uns andere Partner zuzulegen und unabhängig voneinander zu leben. Doch dabei fühlten wir uns hundeelend. Sollen wir deshalb unglückliche, unerfüllte Leben führen, nur weil Menschen wie Sie behaupten, das,
was wir empfinden, wäre falsch?« »Es spielt keine Rolle, was ich behaupte oder denke. Wie hat es Holloway herausgefunden?« »Es war auf den Westindischen Inseln. Piper und ich waren dort im Urlaub. Wir waren sehr vorsichtig und diskret. Wir wissen, dass wir unsere Kunden verlieren würden, wenn sie davon erführen. Also sind wir weit fortgefahren, um endlich einmal die Freiheit zu genießen, ebenso offen wie andere Paare miteinander umgehen zu können. Holloway war auch dort. Wir kannten einander nicht. Wir lebten unter falschen Namen in unserem Hotel.« Er machte eine Pause und trank einen kleinen Schluck Wasser. »Ein paar Monate später kam er zu einer Beratung. Es war… Schicksal. Ich habe ihn anfangs noch nicht einmal erkannt. Doch nach der Überprüfung, als wir seine Vorstrafen entdeckten und uns weigerten ihn aufzunehmen, hat er uns daran erinnert, wo und unter welchen Umständen er uns schon mal begegnet war.« Rudy starrte in sein Wasser und gab das Glas von einer in die andere Hand. »Er hat uns sehr deutlich gemacht, was er als Gegenleistung für sein Schweigen haben wollte. Piper war außer sich vor Panik und Entsetzen. Wir beide glauben an den Dienst, den wir den Menschen anbieten. Wir wissen, was es heißt, jemanden zu haben, der das Leben anfüllt, der es vollkommen macht, und wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, anderen zu helfen, das zu finden, was uns bereits zuteil geworden ist.« »Und gleichzeitig haben Sie ziemlich gut verdient.«
»Dadurch wird der Wert der Hilfe, die wir bieten, nicht geschmälert. Sie leben schließlich auch gut, Lieutenant«, fügte er leise hinzu. »Wird dadurch der Wert Ihrer Ehe vielleicht herabgesetzt?« Treffer, musste sie sich eingestehen, zog jedoch lediglich eine Braue in die Höhe und erklärte: »Sprechen wir weiter über Sie und darüber, wie Sie mit Brent Holloway umgegangen sind.« »Ich wollte mich ihm widersetzen, doch sie hatte dazu nicht die Kraft.« Er schloss unglücklich die Augen. »Es gelang ihm, sie einmal alleine zu erwischen und sie zu bedrohen. Er hat sogar versucht sie dazu zu bewegen… « Er schlug die Lider wieder auf, und seine Augen sprühten vor Hass. »Er wollte sie. Typen wie er wollen immer das, was jemand anderem gehört. Also haben wir bezahlt und alles getan, was er von uns verlangt hat. Trotzdem, wenn er kam und sie allein erwischt hat, hat er sie ständig irgendwie berührt.« »Dafür haben Sie ihn doch sicherlich gehasst.« »Ja. Ja, dafür habe ich ihn gehasst. Eigentlich für alles, vor allem aber dafür, dass er nicht von ihr abgelassen hat.« »Hätte Ihr Hass gereicht, um ihn zu töten?« »Ja«, antwortete er, bevor sein Rechtsbeistand ihn daran hindern konnte, mit ausdrucksloser Stimme. »Ja, er hätte gereicht, um ihn zu töten.«
14 »Wir haben nicht genug für eine Anklage gegen ihn in der Hand.« Sie wusste es. Verdammt, sie wusste es genau, und trotzdem kämpfte Eve weiter gegen die stellvertretende Staatsanwältin an. »Er hätte die Mittel, die Gelegenheit und bei Gott auch ein Motiv für den Mord an Holloway gehabt. Er hätte sich problemlos sämtliche Produkte verschaffen können, mit denen die Opfer geschminkt waren«, fuhr sie, bevor Staatsanwältin Rollins etwas dagegenhalten konnte, schnell fort. »Und er hat sie alle gekannt.« »Sie haben noch nicht mal genügend Indizien gegen den Mann in der Hand«, behauptete Carla Rollins ihre Position. Trotz der hohen Absätze, die sie ständig trug, war sie kaum größer als einen Meter fünfundfünfzig. Ihre exotisch schräg stehenden Augen hatten die Farbe von Brombeeren, sie hatte einen cremig schimmernden Teint, eine schlanke Figur und glattes, ebenholzschwarzes Haar, das genau bis auf zweieinhalb Zentimeter über ihre schmalen Schultern fiel. Sie sah aus und hatte die sanfte Stimme einer Kindergärtnerin, war jedoch beinhart. Es ge iel ihr zu gewinnen, und einer Anklage gegen Hoffman gab sie derzeit nicht die geringste Chance. »Muss ich ihn erst erwischen, wenn er seine Hände um
den Hals des nächsten Opfers legt?« »Das wäre natürlich praktisch«, erwiderte Rollins nüchtern. »Aber wenn das nicht klappt, bringen Sie ihn zumindest dazu zu gestehen.« Eve tigerte durch Whitneys Büro. »Das wird mir, wenn wir ihn wieder laufen lassen müssen, kaum gelingen.« »Bisher ist das einzige Vergehen, das ihm nachgewiesen werden kann, das Verhältnis mit der eigenen Schwester«, erklärte Rollins mit ihrer süßen Stimme. »Und dass er sich erpressen hat lassen. Vielleicht könnten wir ihn, da er Holloways Vorlieben kannte, wegen Kuppelei drankriegen, aber bereits das wäre ein ziemliches Problem. Ohne weitere Beweise oder ein Geständnis kann ich ihn unmöglich wegen Mordes hinter Gitter bringen, Dallas.« »Dann muss ich ihn noch länger schwitzen lassen.« »Sein Anwalt hat eine Vernehmungspause beantragt, und es gibt keinen Grund, aus dem er heute noch länger hier behalten werden könnte«, fügte sie, als Eve verächtlich schnaubte, entschieden hinzu. »Nach der vorgeschriebenen zwölfstündigen Pause können Sie ihn morgen wieder vorladen.« »Ich will, dass er ein Sicherheitsarmband angelegt bekommt.« Dieses Mal war Rollins diejenige, die seufzte. »Dallas, ich habe keinen Grund, um Hoffman zu diesem Zeitpunkt ein solches Armband anlegen zu lassen. Der Verdacht
gegen ihn ist nicht sonderlich solide, und er hat dem Gesetz nach ein Recht auf seine Privatsphäre und darauf, sich ungehindert zu bewegen.« »Himmel, geben Sie mir irgendetwas.« Eve fuhr sich frustriert duch die Haare. Vom Schlafmangel brannten ihr die Augen, ihr Magen rebellierte gegen eine Überdosis Koffein, und die nach wie vor nicht ganz verheilte Schulterwunde pochte. »Ich will, dass er getestet und dass ein Pro il von ihm erstellt wird. Ich will, dass sich Mira mit dem Kerl befasst.« »Einem solchen Test müsste er sich freiwillig unterziehen.« Bevor Eve anfangen konnte, sie zu beschimpfen, hob sie mahnend eine schlanke Hand. Sie war es gewohnt, dass Polizisten sie an luchten, und kam durchaus damit zurecht. Doch jetzt dachte sie nach, und dabei wollte sie keinerlei Störung. »Vielleicht könnte ich ja seinen Anwalt davon überzeugen, dass ein solcher Test in seinem eigenen Interesse ist. Die Kooperationsbereitschaft seines Mandanten würde die Staatsanwaltschaft gnädig stimmen, und der Vorwurf der Kuppelei würde nicht weiter verfolgt. « Sie stand zufrieden nickend auf. »Sprechen Sie mit Mira, und ich werde sehen, was ich erreichen kann. Aber, Dallas, setzen Sie ihn bloß innerhalb der nächsten Stunde auf freien Fuß.« Whitney wartete, bis Rollins verschwunden war, und sagte dann zu Eve: »Setzen Sie sich, Lieutenant.« »Commander – «
»Setzen Sie sich«, wiederholte er und zeigte auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. »Ich mache mir Sorgen«, begann er, als sie, wenn auch widerstrebend, Platz nahm. »Ich brauche mehr Zeit, um ihm die Daumenschrauben anzulegen. McNab überprüft gerade die Computer bei Personally Yours. Vielleicht haben wir noch vor Ende des Tages genug gegen den Typen in der Hand.« »Sie sind es, die mir Sorgen machen, Lieutenant.« Eve runzelte die Stirn, doch er lehnte sich bequem auf seinem Stuhl zurück. »Sie gehen dieser Sache seit über einer Woche fast vierundzwanzig Stunden täglich nach.« »Das tut der Killer auch.« »Es ist nicht allzu wahrscheinlich, dass sich auch der Killer von einer lebensbedrohlichen Verletzung erholt, die er sich im Dienst zugezogen hat.« »Ich habe den Gesundheits-Check bestanden.« Sie hörte, wie unwillig ihre Stimme klang, und atmete tief durch. Wenn sie sich Whitney gegenüber nicht beherrschen konnte, würde dadurch nur bewiesen, wie berechtigt seine Sorge war. »Ich weiß Ihre Besorgnis zu schätzen, Sir, doch sie ist völlig unnötig.« »Ist sie das wirklich?« Er zog seine Brauen in die Höhe und sah ihr prüfend ins Gesicht. Sie war kreidebleich, hatte tiefe, schwarze Ringe unter den Augen und wirkte total erschöpft. »Dann sind Sie also bereit, sich in die Klinik zu begeben und sich einer erneuten Untersuchung zu unterziehen?«
Sofort war der alte Widerwillen wieder da, und sie musste sich zwingen, nicht mit geballten Fäusten aufzuspringen, als sie fragte: »Ist das ein Befehl, Commander Whitney?« Er könnte es befehlen. »Ich lasse Ihnen die Wahl, Dallas. Entweder Sie lassen sich untersuchen und verhalten sich anschließend den Ergebnissen entsprechend, oder Sie fahren nach Hause und setzen Ihre Arbeit nicht vor neun Uhr morgen früh fort.« »Zum jetzigen Zeitpunkt erscheint mir keine dieser Alternativen praktikabel.« »Entweder Sie tun, was ich sage, oder ich ziehe Sie von den Ermittlungen ab.« Jetzt wäre sie doch beinahe gesprungen. Er sah es ihr deutlich an. Zornesröte schoss in ihre Wangen, wenige Sekunden später jedoch war sie bereits wieder so kreidig wie zuvor. »Er hat vier Morde begangen, und ich bin die Einzige, die ihm bisher dicht auf den Fersen ist. Wenn Sie mich von dieser Sache abziehen, verlieren wir dadurch sicher nicht nur Zeit, sondern noch weitere Menschen.« »Die Entscheidung liegt bei Ihnen, Dallas. Fahren Sie nach Hause«, sagte er mit ruhiger Stimme. »Genießen Sie eine anständige Mahlzeit und ein paar Stunden Schlaf.« »Und während ich das tue, kann Rudy tun und lassen, was er will.« »Es ist mir weder möglich, ihn weiter festhalten noch ihm ein Sicherheitsarmband anlegen zu lassen. Aber das
heißt nicht, dass ich ihn nicht unter Beobachtung stellen lassen kann.« Jetzt verzog Whitney den Mund zu einem schmalen Lächeln. »Wir behalten ihn im Auge. Und morgen geben wir eine Pressekonferenz, auf der zwar der Bürgermeister und der Chief den Großteil der Kritik über sich ergehen lassen werden müssen, doch auch Sie werden dort sicher nicht verschont.« »Damit komme ich zurecht.« »Ich weiß. Wir werden so viele Details wie möglich bekannt geben, um die Öffentlichkeit zu warnen.« Er massierte sich mit einer Hand den Nacken. »Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen.« Er lachte freudlos. »Fahren Sie nach Hause, Dallas. Wir brauchen Sie morgen in alter Frische.« Sie fuhr, denn die Alternativen waren nicht akzeptabel. Sie konnte sich nicht von dem Fall abziehen lassen, und das Risiko einer erneuten Gesundheitsüberprüfung war zu groß. Auch wenn sie laut das Gegenteil behauptete, war sie sich nicht sicher, ob sie einen solchen Test zurzeit bestünde. Ihr taten alle Knochen weh, und zwar in einer Weise, die ihr sagte, sie müsste sich geschlagen geben und ein Schmerzmittel einnehmen, wenn sie nicht tatsächlich zusammenbrechen wollte. Und schlimmer noch – sie konnte sich, als sie endlich im Wagen saß und heimfuhr, nur noch mit größter Mühe konzentrieren. Sie hatte das Gefühl, als schwebe ihr Kopf ein paar Zentimeter über
ihren Schultern, und als sie beim Abbiegen fast einen Schwebegrill rammte, schaltete sie seufzend um auf Automatik und überließ das Fahren der Elektronik ihres Wagens. Okay, vielleicht brauchte sie ein wenig Schlaf und eine anständige Mahlzeit. Aber dass sie außer Dienst war, hieß noch lange nicht, dass sie nicht auf eigene Faust von ihrem Arbeitszimmer aus mit ihren Nachforschungen weitermachen konnte. Sie brauchte schlicht noch eine Tasse Kaffee und etwas Festes in den Magen, das war alles. Und wäre beinahe eingeschlafen, als der Wagen durch die Tore in die Einfahrt ihres Grundstücks bog und den Weg zum Haus herauffuhr. Die Lichter hinter den Fenstern hoben sich blendend von der dunklen Umgebung ab und trafen schmerzlich ihre Augen. Ihr Schädel dröhnte wie der Bass bei einer von Mavis’ enthusiastischen Nummern, und ihre Schulter puckerte. Als sie aus dem Wagen stieg, wirkten ihre Beine wie aus Gummi, und wegen dieser Schwäche war sie, als sie die Haustür aufschob, besonders schlecht gelaunt. Natürlich stand bereits der widerliche Summerset im Flur. »Ihre Gäste sind schon da«, verkündete er ihr mit herablassender Stimme. »Sie wurden bereits vor zwanzig Minuten erwartet. «
»Lecken Sie mich am Arsch«, schlug sie ihm rüde vor, schälte sich aus ihrer Jacke und warf sie, um ihn zu ärgern, achtlos über den Treppenpfosten. »Die Vorstellung erscheint mir nicht besonders reizvoll. Wenn Sie vielleicht trotzdem einen Moment Zeit hätten, Lieutenant.« Bevor sie weitergehen konnte, trat er ihr in den Weg. »Das Leben ist zu kurz, um auch nur eine Minute mit Ihnen zu verbringen. Aus dem Weg, wenn Sie nicht wollen, dass ich Ihnen alle Knochen breche.« Sie sah krank aus, dachte er, und ihrer Stimme fehlte der gewohnte Biss. »Das Buch, das Sie für Roarke möchten, wurde gefunden«, berichtete er ihr steif, studierte jedoch gleichzeitig mit sorgenvoll zusammengekniffenen Augen ihr Gesicht. »Oh.« Sie legte eine Hand auf das Geländer und versuchte, trotz ihres vernebelten Gehirns zu denken. »Fein. Gut.« »Soll ich es also schicken lassen?« »Ja, ja. Genauso ist es gedacht.« »Allerdings müssen Sie noch den Preis sowie die Kosten für den Versand auf das Konto des Finders überweisen. Da er mich persönlich kennt, hat er sich bereit erklärt, das Buch sofort zu schicken und darauf zu vertrauen, dass er das Geld innerhalb von vierundzwanzig Stunden von Ihnen erhält. Die Kontonummer und alles andere stehen in seiner Mail, die ich an Sie weitergeleitet
habe.« »Okay, fein. Ich werde mich darum kümmern.« Sie schluckte ihren Stolz herunter, knurrte »Danke«, wandte sich der Treppe zu und spähte zu der unerreichbar fernen, oberen Etage. Doch ihr Reststolz ließ es nicht zu, dass sie vor seinen Augen schlappmachte und den Fahrstuhl nahm. »Gern geschehen«, murmelte er und trat, während sie sich nach oben schleppte, vor den Bildschirm der hausinternen Sprechanlage, erklärte: »Roarke, der Lieutenant ist zu Hause und auf dem Weg nach oben«, seufzte leise und fügte hinzu: »Sie sieht wirklich nicht gut aus.« Sie würde eine heiße Dusche nehmen, etwas essen und sich dann wieder in die Arbeit stürzen. Eve nahm an, die Daten, die sie hatte, reichten für eine Wahrscheinlichkeitsberechnung der Täterschaft des guten Rudy sicher aus. Wenn die Zahl hoch genug war, könnte sie ja vielleicht doch die Staatsanwaltschaft dazu bringen, ihm zumindest ein Sicherheitsarmband anlegen zu lassen. Aber als sie das Schlafzimmer betrat, wurde sie dort bereits von Roarke erwartet. »Du kommst zu spät.« »Es war jede Menge Verkehr«, antwortete sie und streifte sich das Waffenhalfter von der Schulter. »Zieh dich aus.« Sie wusste, dass sie ihm ge iel, war sich jedoch ziemlich sicher, dass diese Form des Vorspiels ein Novum für sie
war. »Tja, wirklich äußerst romantisch, aber – « »Zieh deine Sachen aus«, wiederholte er und hielt ihr einen Morgenmantel hin. »Und zieh stattdessen den hier an. Trina erwartet dich am Pool. « »Himmel.« Sie raufte sich die Haare. »Sehe ich aus, als ob ich in der Stimmung für irgendeine Form der Schönheitspflege wäre?« »Nein, du siehst aus, als wärst du in der Stimmung für einen Krankenhausbesuch.« Wütend warf er den Morgenmantel auf den Boden. »Entweder du p legst dich hier, oder ich schaffe dich persönlich ins nächste Hospital.« Ihre Augen wurden dunkel und gefährlich. »Versuch nicht, mich zu irgendwas zu zwingen. Du bist mein Mann und nicht mein Vormund.« »Einen verdammten Vormund würdest du gut brauchen.« Er packte sie am Arm und drückte sie, da sie nur noch verlangsamt reagieren konnte, unsanft in einen Sessel. »Bleib sitzen«, warnte er mit zornbebender Stimme. »Oder ich binde dich fest.« Während er durchs Zimmer stapfte und sich vor dem AutoChef au baute, klammerte sie sich schwindlig an der Sessellehne fest. »Darf man fragen, was zum Teufel in dich gefahren ist?« »Hast du dich in der letzten Zeit einmal im Spiegel angeguckt? Du beugst dich über Leichen, die mehr Farbe im Gesicht haben als du. Die Ringe unter deinen Augen sind so breit, dass man sich darin verstecken könnte, und
außerdem hast du Schmerzen.« Das war es, was das Fass für ihn zum Überlaufen brachte. »Bildest du dir ein, das würde ich nicht sehen?« Samt einem hohen, mit einer bernsteinbraunen Flüssigkeit gefüllten Glas kam er zu ihr zurück. »Trink das.« »Du flößt mir kein Beruhigungsmittel ein.« »Ich kann es dir auch in den Hals kippen. Das ist mir früher schon ein paar Mal gelungen.« Er beugte sich dicht über ihr Gesicht, und die Verbitterung in seinem Blick rief das Verlangen, erschreckt vor ihm zurückzuweichen, in ihr wach. »Ich lasse nicht zu, dass du dich krank machst. Du trinkst freiwillig das Glas aus, Eve, und du tust freiwillig, was ich dir sage, oder ich zwinge dich dazu. Und wir beide wissen, dass du viel zu k.o. bist, um mich daran zu hindern.« Sie schnappte sich das Getränk, und obgleich sie dachte, wie befriedigend es wäre, es quer durch den Raum gegen die Wand zu schleudern, wäre sie nicht in der Verfassung, um die Konsequenzen dieses Tuns zu tragen. Also trank sie mit Todesverachtung das Glas leer. »So. Bist du jetzt zufrieden?« »Nachher kriegst du noch was Anständiges in den Magen.« Er bückte sich, um ihr die Stiefel auszuziehen. »Das kann ich auch alleine.« »Halt die Klappe, Eve.« Der Form halber versuchte sie, ihm ihren Stiefel zu
entziehen, doch er zog ihn ihr mühelos vom Fuß. »Ich will eine Dusche und eine heiße Mahlzeit, und vor allem will ich, dass ich endlich von dir in Ruhe gelassen werde.« Er zog ihr auch den zweiten Stiefel aus und ing an, die Knöpfe ihres Hemds zu öffnen. »Hast du mich gehört? Ich will, dass du mich in Ruhe lässt.« Die Tatsache, dass sie selber hörte, dass ihre Stimme wie die eines quengeligen Kleinkinds klang, erfüllte sie mit einem Gefühl der Depression. »Weder in diesem noch in irgendeinem anderen Leben.« »Ich mag es nicht, wenn du dich derart um mich kümmerst. Es nervt mich.« »Dann wirst du dich daran gewöhnen müssen, genervt zu sein.« »Ich bin von dir genervt, seit ich dich kenne.« Ehe sie die Augen schloss, meinte sie tatsächlich, den Hauch eines Lächelns in seinem Gesicht zu sehen. Er zog sie geschickt fertig aus, hüllte sie in den Morgenmantel, und die Schlaf heit ihrer Muskeln machte deutlich, dass das Schmerzmittel, das er dem Vitamintrank beigegeben hatte, bereits wirkte. Das leichte Beruhigungsmittel, das sie eigentlich nur hätte entspannen sollen, würde in ihrem momentanen Zustand reichen, damit sie in einem tiefen Schlaf versank. Und Schlaf war das, was sie zurzeit am meisten brauchte.
Trotzdem schlug sie, als er sie aus dem Sessel hob, nach seinen Armen. »Du sollst mich nicht tragen.« »Ich wiederhole mich nur ungern, aber halt die Klappe, Eve.« Er trug sie in Richtung Fahrstuhl. »Du sollst mich nicht verhätscheln.« Der leichte Schwindel, den sie mit einem Mal empfand, zwang sie, ihren Kopf auf seine Schulter sinken zu lassen. »Was zum Teufel hast du mir da eben eingeflößt?« »Alles Mögliche. Entspann dich.« »Du weißt, dass ich Beruhigungsmittel hasse.« »Ich weiß.« Er wandte seinen Kopf und strich mit seinen Lippen über ihr ungekämmtes Haar. »Du kannst mich morgen deshalb beschimpfen.« »Das werde ich auch tun. Wenn ich mich einmal von dir rumkommandieren lasse, könnte es passieren, dass du dich daran gewöhnst. Ich glaube, ich lege mich eine Minute hin.« »Genau.« Er merkte, dass ihr Kopf nach hinten rollte und dass der Arm, den sie um seinen Hals geschlungen hatte, schlaff über seinen Rücken rutschte, als er mit ihr aus dem Fahrstuhl stieg. Als Mavis ihn entdeckte, sprang sie von ihrer von Palmen gesäumten Liege und kam erschrocken angerannt. »Himmel, Roarke, ist sie verletzt?« »Ich habe ihr ein Schlafmittel verpasst.« Er ging zwischen den üppigen P lanzen hindurch um den mit
bläulich schimmerndem Wasser gefüllten Pool und legte seine Frau auf den von Trina aufgebauten langen, gepolsterten Tisch. »Mann, sie wird total sauer sein, wenn sie wieder wach wird.« »Das glaube ich auch.« Sanft strich er Eve die wirren Haare aus der Stirn. »Jetzt bist du nicht mehr ganz so ruppig, nicht wahr, Lieutenant?« Er beugte sich zu ihr herunter und küsste sie zärtlich auf die Lippen. »Das Styling ist nicht so wichtig, Trina. Sie braucht vor allem eine Entspannungstherapie.« »Die kriegen wir hin.« Trina – in einem leischfarbenen Catsuit unter einem seidig schimmernden purpurroten Rock – rieb sich diensteifrig die Hände. »Aber wenn sie schon mal so friedlich schläft, lasse ich ihr am besten gleich die ganze Behandlung angedeihen. Wenn ich sie sonst verschönere, meckert sie ständig an mir herum.« Roarke zog, als er das Blitzen in Trinas Augen sah, warnend eine Braue in die Höhe und legte schützend eine Hand auf die Schulter seiner Frau. »Aber keine Experimente.« Dann iel ihm wieder ein, mit wem er sprach, und er räusperte sich leise. Er hatte nichts dagegen, Eves Zorn ausgeliefert zu sein, nicht jedoch deshalb, weil er nichts dagegen unternommen hatte, dass ihr Haar, während sie geschlafen hatte, pink gefärbt worden war. »Weshalb bestelle ich uns nicht eine Kleinigkeit zu essen? Dann leiste ich Ihnen Gesellschaft, bis Sie mit ihr fertig sind.«
Sie hörte Stimmen und Gelächter. Weit von ihr entfernt und ohne dass sie einen Zusammenhang erkannte. In einem Teil ihres Gehirns war Eve bewusst, dass sie unter dem Ein luss eines Beruhigungsmittels stand. Dafür würde Roarke bezahlen. Sie wünschte, er würde sie wieder halten, einfach auf die Art und Weise halten, die ein wohliges Verlangen in ihr wachrief. Jemand massierte ihren Rücken, ihre Schultern. Das Stöhnen, das sie dabei ausstieß, war wohlig und gedehnt. Sie konnte ihn riechen, einen Hauch des Duftes, der ihr Mann war. Dann spürte sie Wasser, warmes, sanft wirbelndes Wasser, in dem sie schwere- und gedankenlos dahintrieb wie ein Fötus im warmen Leib der Mutter. Sie trieb endlos dahin und empfand dabei nichts als Frieden. Dann spürte sie einen heißen Stich in ihrer Schulter. Fuhr entsetzt zusammen. In ihrem Kopf begann jemand zu wimmern. Dann eine herrlich kühle Flüssigkeit über der Hitze, beruhigend wie ein Kuss. Dann ging sie wieder unter, glitt tiefer und tiefer, bis sie den weichen Grund erreichte, sich behaglich dort zusammenrollte und tief und traumlos schlief. Als sie wieder zu sich kam, war es total dunkel. Desorientiert blieb sie reglos liegen und zählte ihre Atemzüge. Ihr war wohlig warm, und sie lag nackt lach auf dem Bauch unter einer molligen Decke.
Sie war zu Hause und lag in ihrem Bett, wurde ihr bewusst, rollte sich in dem Bemühen, sich die letzten Stunden ihres Lebens in Erinnerung zu rufen, auf den Rücken und stieß dabei mit ihren Beinen gegen die von Roarke. »Ach, bist du wieder wach?« Zu ihrer leichten Verärgerung hatte seine Stimme wie stets einen grässlich munteren Klang. »Was – « »Es ist beinahe Morgen.« Ihre nackte Haut war dank Trinas Behandlung weich wie taubenetzte Blütenblätter und duftete nach Pfirsich. »Wie fühlst du dich?« Sie war sich nicht ganz sicher. Alles in ihr war herrlich weich und locker. »Gut«, sagte sie automatisch. »Das freut mich, denn dann bist du bestimmt bereit für die letzte Phase deines Entspannungsprogramms.« Weich presste er seine Lippen auf ihren vollen Mund und spielte bereits mit ihrer Zunge. Wieder senkte sich ein Schleier, dieses Mal der Schleier des reinen, gesunden Verlangens, über ihr gerade erwachendes Gehirn. »Warte. Ich bin nicht – « »Lass mich dich kosten.« Sein Mund glitt hinab an ihren Hals und begann daran zu nagen. »Berühren.« Seine Hand glitt über ihre Hüfte und spreizte ihre Beine. »Haben.« Als er sich langsam in sie hineinschob, war sie bereits heiß und für ihn bereit.
Sie konnte nichts sehen. Der Himmel, den sie durch das Oberlicht kannte, war so schwarz wie Tinte. Roarke war ein Schatten, der sich über ihr bewegte, eine beständige, wunderbare Kraft, und ehe sie auch nur ihren Rhythmus finden konnte, hatte sie bereits ihren ersten Höhepunkt. Mit tiefen, süß quälend langsamen Stößen erfreute er sie weiterhin beide. Ihr Atem passte sich an seinen Atem an, sie hob und senkte ihre Hüften, bis sie sich im selben Tempo wie sein Unterleib bewegten, und als ihre Münder erneut miteinander verschmolzen, sogen beide begierig das wohlig leise Stöhnen des jeweils andern in sich auf. Sie ritt auf einer warmen Woge des Emp indens. Als sie spürte, dass er verharrte, schlug sie ihm die Beine um den Rücken und wölbte sich ekstatisch dem letzten Stoß entgegen, der sie beide in das explosive Nichts der Erfüllung katapultierte. Er vergrub sein Gesicht in ihrem Haar und atmete ihren Duft ein. »Dir geht es tatsächlich besser«, murmelte er, kitzelte dabei ihre Haut mit seinem Atem und brachte sie zum Lächeln. Dann kam die Erinnerung zurück. » Gottverdammt. « »Oho.« Lachend rollte er sich auf den Rücken und nahm sie dabei mit, sodass sie der Länge nach auf seinem straffen Körper lag. »Findest du das etwa witzig?« Sie richtete sich auf und
pustete sich die Haare aus der Stirn. »Hältst du das etwa für einen Scherz? Dass du mich rumkommandierst wie einen deiner Angestellten und am Ende sogar zwingst, ein Schlafmittel zu nehmen?« »Ich hätte dich gar nicht zwingen können, wenn du nicht total am Ende gewesen wärst.« Auch er setzte sich auf. »Licht, zehn Prozent. « Auf seinen Befehl hin wurde das Schlafzimmer in ein weiches Dämmerlicht getaucht. »Du siehst gut aus«, erklärte er nach einem Blick in ihr wütendes – und ausgeruhtes – Gesicht. »Trotz ihres eher extremen persönlichen Geschmacks weiß Trina halt, was zu dir passt.« Als ihr fast die Kinnlade herunterklappte und ihr die Augen aus dem Kopf zu quellen drohten, hätte Roarke am liebsten laut geprustet. »Du hast sie an mich herangelassen, während ich bewusstlos war? Du sadistischer, verräterischer Hurensohn.« Am liebsten hätte sie ihm einen Kinnhaken verpasst, dann jedoch obsiegte das Verlangen, aus dem Bett zu springen und sich umgehend in einem Spiegel anzusehen. Die Erleichterung darüber, dass sie noch fast genauso aussah wie an jedem anderen Morgen, reichte allerdings nicht aus, als dass sie ihren Ärger über Roarkes Vorgehen vergaß. »Dafür sollte ich euch beide hinter Gitter bringen.« »Mavis war auch dabei«, erklärte er ihr fröhlich. So behände und problemlos hatte sie sich schon seit Tagen nicht bewegt, und auch ihr Gesicht wirkte ungemein erfrischt. »Oh, und Summerset.«
Jetzt blieb ihr nichts anderes mehr übrig, als sich abrupt zu setzen. Sie stolperte zurück zum Bett und sank erschüttert auf den Rand. »Summerset.« Mehr brachte sie beim besten Willen nicht heraus. »Wie du weißt, ist er als Sanitäter ausgebildet, weshalb er sich deiner Schulter angenommen hat. Wie fühlt sie sich an?« Zwar war sie zum ersten Mal seit Tagen schmerzfrei. Zwar war ihr gesamter Körper herrlich energiegeladen und erfrischt. Trotzdem wurden Roarkes Methoden dadurch nicht akzeptabler. Sie sprang hoch, schnappte sich den über einem Stuhl hängenden Morgenmantel und schob aufgebracht die Hände in die Ärmel. »Dafür werde ich dir in den Hintern treten.« »In Ordnung.« Gut gelaunt erhob auch er sich und hüllte sich ebenfalls in einen Morgenmantel ein. »Zumindest wird der Kampf fairer, als er gestern Abend gewesen wäre. Willst du dich gleich hier auf mich stürzen oder sollen wir lieber in den Fitnessraum hinuntergehen?« Noch ehe er das letzte Wort gesprochen hatte, hechtete sie in gebückter Haltung auf ihn zu. Er hatte gerade noch die Zeit, um eine Drehung zu beginnen, brachte sie jedoch nicht bis zum Ende, denn schon lag er mit dem Rücken auf dem Bett, seine Frau hockte auf seinem Bauch und presste eines ihrer Knie gefährlich in Höhe seines Schritts.
»Oh, ich würde sagen, du bist tatsächlich wieder völlig auf dem Damm.« »Allerdings. Ich sollte dir die Eier bis in die Ohren rammen, du hinterhältiger Hurensohn.« »Na, wenigstens haben wir beide vorher noch einmal von ihnen pro itiert.« Auch wenn die Gefahr, in der er sich befand, dadurch noch größer wurde, grinste er frech, strich mit seinen Fingerspitzen über ihre Wange und lenkte sie dadurch weit genug ab, um sich mit ihr herumzurollen und sie nun seinerseits fest auf das Bett zu pressen. »Jetzt hör mir mal gut zu.« Sein Grinsen war ver logen. »Was auch immer getan werden muss, um dir zu helfen, wird von mir getan. Wann auch immer es getan werden muss, wird es von mir getan. Du brauchst es nicht zu mögen, aber du wirst damit leben müssen. Also gewöhnst du dich besser irgendwann einmal daran.« Er stand auf und wippte, als er bemerkte, wie sie die Augen zusammenkniff, startbereit auf den Fersen. Dann jedoch seufzte er, vergrub die Hände in den Taschen seines Morgenmantels und erklärte: »Verdammt. Ich liebe dich.« Diese beiden frustrierten und zugleich erschöpften Sätze trafen sie wie ein Pfeil ins Herz. Er stand da mit vom Schlaf, vom Sex und auch vom Kampf wild zerzausten Haaren, und seine leuchtend blauen Augen drückten gleichermaßen kalten Ärger wie heiße Liebe aus. Alles in ihr geriet in Bewegung und verschob sich zu
einem, wie sie annahm, schicksalhaften Muster. »Ich weiß. Es tut mir Leid. Du hattest Recht.« Sie fuhr sich mit den Händen durch die Haare und übersah dabei die Überraschung in seinem Gesicht. »Auch wenn mir deine Methoden nicht gefallen, hattest du eindeutig Recht. Ich habe mich erneut verausgabt, bevor ich vollständig genesen war. Du hast mir seit Tagen gesagt, ich sollte eine kurze Pause machen, doch dafür war ich taub.« »Warum nicht?« »Ich hatte einfach Angst.« Es iel ihr schwer, das zuzugeben, selbst einem Menschen gegenüber, bei dem jedes Geheimnis, das sie hatte, völlig sicher war. »Angst?« Er kam zu ihr zurück, setzte sich und griff nach ihrer Hand. »Wovor?« »Dass ich es nicht schaffen würde, meinen Job zu machen genau wie vor dem Unfall. Dass ich nicht mehr dieselbe Kraft und Weitsicht hätte wie zuvor. Und wenn ich meine Arbeit nicht mehr hätte machen können…« Sie kniff unglücklich die Augen zu. »Ich muss einfach Polizistin sein. Ich brauche diese Arbeit. Wenn ich den Job nicht machen kann – verliere ich mich selbst.« »Du hättest mit mir darüber reden können.« »Ich habe ja nicht mal mit mir selbst darüber geredet.« Zornig auf die Tränen, die sich hinter ihren Augen sammelten, presste sie die Finger vor die Lider. »Seit ich die Arbeit wieder aufgenommen habe, saß ich die meiste Zeit entweder am Schreibtisch oder bei Gericht. Dies ist
mein erster Mordfall, seit ich aus dem Krankenstand zurück bin. Wenn ich damit nicht zurechtkomme – « »Du kommst damit zurecht.« »Whitney hat mir gestern Abend befohlen, nach Hause zu fahren, wenn ich nicht von dem Fall abgezogen werden will. Also habe ich gehorcht, und dann hast du mir damit gedroht, mir irgendwelche Medikamente in den Hals zu kippen.« »Tja.« Er drückte ihr mitfühlend die Hand. »Der Zeitpunkt war unglücklich gewählt. Aber ich glaube, dass es in beiden Fällen weniger darum ging, deine Arbeit zu kritisieren, als dich dazu zu bringen, dass du dich erholst und neue Kräfte sammelst.« Er strich mit dem Daumen über das kleine Grübchen in der Mitte ihres Kinns. »Eve, es gibt Situationen, in denen du dir überraschend wenig bewusst bist. Bei jedem deiner Fälle gehst du bis an die Grenze. Der einzige Unterschied zwischen diesem und allen bisherigen Fällen ist der, dass du dieses Mal bereits zu Anfang körperlich nicht völlig auf der Höhe warst. Du bist nach wie vor dieselbe engagierte, hervorragende Polizistin wie die, die ich im letzten Winter kennen gelernt habe. Auch wenn das ein Gedanke ist, der mich ab und zu erschreckt.« »Das will ich doch hoffen.« Sie blickte auf ihrer beider verschränkten Finger. »Aber ich bin nicht mehr derselbe Mensch wie im letzten Winter. « Sie drückte seine Hand, hob den Kopf und sah ihm in die Augen. »Der will ich nicht mehr sein. Mir gefällt die Frau, die ich inzwischen bin, und
das Paar, das wir inzwischen sind.« »Gut.« Er beugte sich zu ihr und gab ihr einen Kuss. »Denn das, was wir inzwischen sind, ist nicht mehr zu ändern.« Sie ballte scherzhaft eine Hand in seinem Haar. »Ich denke, wir haben beide ein ziemlich gutes Geschäft dabei gemacht. Aber…«, sie nagte leicht an seiner Unterlippe und biss dann derart fest hinein, dass er vor Schmerz und Überraschung jaulte, »wenn du jemals wieder Summerset an mich heranlässt, wenn ich bewusstlos bin… «, sie erhob sich, atmete tief durch und merkte, sie fühlte sich wunderbar, »… rasiere ich dir eine Glatze, wenn du schläfst. Ich bin halb verhungert«, verkündete sie übergangslos. »Wie wäre es mit einem ausgedehnten Frühstück?« »Ja, ich könnte ebenfalls etwas vertragen.« Er ixierte sie einen Moment lang und strich sich dann wie tröstend mit einer Hand über sein langes, schwarzes Haar. Nun, glücklicherweise hatte er einen äußerst leichten Schlaf.
15 Bewaffnet mit den Ergebnissen der Überprüfung, mit welcher Wahrscheinlichkeit Rudy der Täter war, tigerte Eve durch das Vorzimmer von Dr. Miras Büro. Um ihn erneut zu einem Verhör mit, wie sie hoffte, anschließender Verhaftung, vorladen zu können, brauchte sie die Bestätigung der Psychologin, dass er von seinem Pro il her für die Morde in Frage kam. Die Zeit lief, und sie erwartete, dass der Killer noch am selben Abend die Nummer fünf in Angriff nahm. »Weiß sie, dass ich hier draußen warte?«, wollte sie von Miras Assistentin wissen. Die Frau, die ungeduldige Polizeibeamte zur Genüge kannte, sagte nur: »Sie ist in einer Sitzung. Sie wird so schnell wie möglich für Sie da sein.« Voll rastloser Energie marschierte Eve erneut bis ans Ende des Raumes und beäugte voller Argwohn das Aquarell irgendeines kleinen verträumten Orts am Meer. Dann stapfte sie zurück und bedachte den Mini-AutoChef mit einem genervten Blick. Er enthielt erfahrungsgemäß keinen Kaffee. Mira verköstigte die Menschen lieber mit beruhigenden Getränken wie zum Beispiel Tee. Sobald Miras Tür geöffnet wurde, wirbelte Eve voller Ungeduld herum. »Dr. Mira – « Als sie Nadine Fürst entdeckte, brach sie verdutzt ab. Die Reporterin errötete, straffte dann jedoch die
Schultern und begegnete ruhig Eves funkelndem Blick. »Falls Sie jetzt auch noch versuchen, von meiner Pro ilerin Informationen zu bekommen, kriegen Sie aus meiner Abteilung nie wieder was zu hören, und vor allem zerre ich Sie dafür vor Gericht.« »Ich bin aus privaten Gründen hier«, erwiderte Nadine. »Heben Sie sich diesen Schwachsinn für die Zuschauer Ihrer Sendung auf.« »Ich habe gesagt, ich bin aus privaten Gründen hier.« Bevor Dr. Mira etwas sagen konnte, hob Nadine die Hand. »Dr. Mira berät mich seit dem… Zwischenfall im letzten Frühjahr. Sie haben mein Leben gerettet, Dallas, aber sie rettet meinen Verstand. Hin und wieder brauche ich ein wenig Hilfe, das ist alles. Und jetzt gehen Sie mir, verdammt noch mal, bloß aus dem – « »Tut mir Leid.« Eve war sich nicht sicher, ob die Überraschung oder das Gefühl der Scham in ihrem Inneren überwog, beide Emp indungen jedoch riefen deutliches Unbehagen in ihr wach. »Ich habe vorschnell geurteilt. Ich weiß, wie es ist, wenn man schlechte Erinnerungen mit sich rumschleppt. Wie gesagt, es tut mir Leid.« »Ja, genau.« Nadine zuckte mit einer Schulter, verließ den Raum, lief den Korridor hinunter, und das Klappern ihrer Schuhe hallte, nachdem sie längst verschwunden war, wie ein vorwurfsvolles Echo nach. »Okay, ich habe voreilige Schlüsse aus dem Treffen
gezogen, und das hätte ich nicht tun sollen.« Um unter dem ruhigen, doch zugleich missbilligenden Blick der Psychologin nicht völlig ins Schwimmen zu geraten, stopfte Eve die Hände in die Taschen ihrer Hose und erklärte: »Sie hat mich schon ein paar Mal wegen dieses Falles angesprochen, und wir geben in ein paar Stunden eine Pressekonferenz. Also habe ich gedacht, sie versucht, schneller als die Konkurrenz an ein paar Informationen zu gelangen.« »Selbst nachdem Sie ein gewisses Maß an Zutrauen zu einem Menschen entwickelt haben, haben Sie nach wie vor Probleme, absolut zu vertrauen.« Mira setzte sich auf einen Stuhl und strich mit der Hand über ihren Rock. »Zugleich jedoch haben Sie sich umgehend und von Herzen bei Nadine entschuldigt. Sie sind eine höchst widersprüchliche Person.« »Ich bin nicht aus privaten Gründen hier«, erklärte Eve tonlos, fragte jedoch mit einem sorgenvollen Blick in Richtung Tür: »Ist mit ihr alles in Ordnung?« »Genau wie Sie ist auch Nadine eine äußerst willensstarke Frau. Allerdings kann ich Ihnen sonst nichts weiter über sie sagen. Die Gespräche zwischen Ärztin und Patientin sind vertraulich.« »Klar.« Eve atmete hörbar aus. »Jetzt ist sie natürlich sauer, aber wenn ich ihr ein Exklusivinterview in dieser Sache gebe, kriege ich die Sache bestimmt wieder hin.« »Sie schätzt Ihre Freundschaft und nicht nur die Informationen, die Sie ihr geben können. Wollen Sie sich
vielleicht setzen? Ich habe nicht die Absicht, Ihnen eine Moralpredigt zu halten.« Eve zog eine Grimasse, räusperte sich dann und hielt Dr. Mira die mitgebrachte Akte hin. »Ich habe die Wahrscheinlichkeit berechnen lassen, dass Rudy unser Täter ist. Unter Einbeziehung der vorhandenen Informationen beträgt sie sechsundachtzig Komma sechs Prozent. Das ist genug, um ihn noch einmal vorladen zu können, aber wenn Sie ihn erst getestet haben, nagele ich ihn endgültig fest. Rollins meinte, Rudys Anwalt hätte das Einverständnis seines Mandanten mit der Begutachtung signalisiert.« »Ja. Da die Sache so dringend für Sie zu sein scheint, nehme ich ihn heute Nachmittag dazwischen.« »Ich muss wissen, wie er denkt und über was für ein Gewaltpotenzial er verfügt, um genügend Beweise gegen ihn zu haben. Ich glaube nicht, dass er zusammenbrechen oder sich auf einen Deal mit uns einlassen wird. Falls seine Schwester etwas weiß, kriege ich es raus. Ich bin sicher, dass sie früher oder später auspackt.« »Ich werde Ihnen so bald wie möglich so viel wie möglich geben. Mir ist bewusst, dass Sie und Ihr Team unter einem ungeheuren Druck stehen. Trotzdem«, fügte sie mit schräg gelegtem Kopf hinzu, »wirken Sie erstaunlich erholt. Als ich Sie das letzte Mal gesehen habe, war ich etwas besorgt. Ich denke immer noch, dass Sie zu früh nach Ihrer Verletzung Ihren Dienst wieder angetreten haben.«
»Das denken alle anderen auch.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich fühle mich gut. Oder zumindest deutlich besser. Ich habe gestern Abend eine super Entspannungstherapie verpasst bekommen und dann fast zehn Stunden geschlafen.« »Ach, tatsächlich?« Mira gluckste amüsiert. »Und wie hat Roarke das angestellt?« »Er hat mich betäubt.« Als Mira hell au lachte, musterte Eve sie gekränkt. »Ich hätte mir denken sollen, dass Sie auf seiner Seite sind.« »Und ob. Ach Eve, wie gut Sie beide doch zueinander passen. Es ist einfach ein Vergnügen mitzuverfolgen, was sich zwischen Ihnen beiden entwickelt. Ich freue mich bereits darauf, Sie beide heute Abend gemeinsam zu erleben.« »Ach jessas, die Party.« Na super, dachte sie verärgert, musste jedoch, als Mira nochmals lachte, wenn auch gegen ihren Willen, grinsen. »Wenn Sie mir das Pro il erstellen, könnte es passieren, dass ich dann ebenfalls in Feierlaune bin.« Von Feierlaune jedoch konnte nicht die Rede sein, als sie in ihr Büro kam und dort McNab ihren Schreibtisch durchwühlen sah. »Ich bewahre meine Schokoriegel inzwischen woanders auf«, erklärte sie spitz. Er richtete sich derart eilig auf, dass er mit der Hüfte gegen die Schreibtischkante knallte und sich obendrein
den Finger klemmte, als er die Schublade verlegen hastig schloss. Als er vor Schmerzen quietschte, hellte sich Eves Stimmung sichtlich auf. »Himmel, Dallas.« Er nuckelte an dem gequetschten Finger. »Statt mich zu Tode zu erschrecken, könnten Sie gleich mit Ihrem Stunner auf mich zielen.« »Der Schreck war ja wohl eindeutig verdient. Die eigene Vorgesetzte ihrer Schokoriegel zu berauben ist schließlich kein geringes Vergehen. Wenn ich funktionieren will, brauche ich den Zucker.« »Okay, okay.« Gespielt zerknirscht rollte er feixend ihren Schreibtischstuhl für sie zurück. »Sie sehen heute Morgen wirklich gut aus, Dallas.« »Sparen Sie sich das Süßholzraspeln, McNab. Es wirkt nur pathetisch.« Sie ließ sich in ihren Sessel fallen, streckte beide Beine aus und stieß dabei mit den Spitzen ihrer Stiefel gegen die Wand. »Wenn Sie Punkte machen wollen, erzählen Sie mir irgendetwas Neues.« »Ich habe die Finanzen des Unternehmens überprüft und außerdem acht Beschwerden über Holloway in der VE-Datei entdeckt.« »VE?« »Vergiss es«, erklärte er mit einem Grinsen. »Das ist die Datei, in der Unternehmen lästige Beschwerden und anderen Mist verwahren, mit dem sie sich nicht weiter befassen wollen. Aber alle acht Frauen haben, genau wie die gute Peabody, irgendwelche Gutscheine bekommen.
Für den Schönheitssalon, für eine Gratis-Partnerliste oder für irgendeine Boutique.« »Wer hat die Dinger unterzeichnet?« »Wechselweise beide. Sie hat also davon gewusst. Auf drei von den Beschwerden waren ihre Initialen.« »Okay, dadurch ist Piper mit von der Partie, aber für uns noch kein Blumentopf zu gewinnen. Eventuell kann ich diese Erkenntnisse zumindest nutzen, um ihr noch ein paar Kleinigkeiten zu entlocken.« »Ich habe außerdem etwas gefunden, das ich als ziemlich interessant einstufe«, erklärte er und setzte sich auf die Kante ihres Schreibtischs. Eve blinzelte ihn argwöhnisch an. »Interessant genug, um Sie nicht mit einem Tritt von meinem Schreibtisch zu verscheuchen?« »Na ja, warten wir es ab. Ich habe eine Notiz über Donnie Ray gefunden, geschrieben vor sechs Monaten und am ersten Dezember aktualisiert.« Eve spürte ein leichtes Prickeln. »Was für eine Notiz?« »Von Rudy an die Berater. Donnie Ray sollte nicht zu Piper vorgelassen werden. Rudy wollte ihn entweder persönlich beraten oder bei der Beratung dabei sein. In dem Eintrag vom ersten Dezember wurde die ursprüngliche Anweisung noch einmal wiederholt und irgendjemand dafür getadelt, dass er einen Anruf von Donnie Ray an Piper weitergeleitet hat. «
»Das ist tatsächlich ziemlich interessant. Dann wollte er also nicht, dass Donnie Ray der guten Piper allzu nahe kommt. Das kann ich gut verwenden. Sonst noch was über die anderen beiden Opfer?« »Nichts von Bedeutung.« Sie trommelte mit den Fingern auf der Platte ihres Schreibtischs. »Was hat die Gesundheitsakte der beiden ergeben? Waren Sie irgendwann mal wegen irgendwelcher psychischen oder physischen Probleme in Behandlung?« »Sie sind beide sterilisiert.« McNab schüttelte sich bei dem Gedanken an die kalte Zunge des Lasers an seinen eigenen Genitalien. »Dieser endgültige Abschied aus dem Reproduktionsgeschäft liegt inzwischen fünf Jahre zurück.« »Das ist in ihrem Fall wohl nur vernünftig.« »Piper geht jede Woche zu irgendeiner Psycho-Tante bei Innere Balance. Letztes Jahr hat sie einen ganzen Monat in einem ihrer Resorts auf Optima II verbracht. Wie ich höre, betreiben sie dort Darmsanierung, schlafen in Stimulierungsröhren und ernähren sich ausschließlich von Vollkornnudeln und anderem widerlichem Zeug.« »Klingt echt super. Und wie steht es mit ihm?« »Nichts.« »Tja, er wird heute Nachmittag die wundervolle Gelegenheit bekommen, sich mit einer Seelenklempnerin zu unterhalten. Gute Arbeit, McNab.« Sie wandte ihren Kopf, als Peabody hereinkam. »Gutes Timing. Sie beide werden noch einmal versuchen, die Herkunft der
Schmuckstücke zu klären. Ich will wissen, wo er die vier Raben erstanden hat. Am Tatort war er nicht ganz so vorsichtig wie sonst; vielleicht hat er ja auch beim Kauf der Kette mehr geschlampt.« Peabody vermied es, den Kollegen anzusehen. »Aber, Madam – « »Ich werde Piper in die Mangel nehmen, und dabei kann ich Sie nicht brauchen. Und keiner von Ihnen beiden verlässt alleine das Revier.« Sie stand auf. »Wenn er sich die Nummer fünf noch nicht ausgewählt hat, ist er garantiert auf der Suche, und ich möchte Sie beide stets an irgendwelchen Orten wissen, wo Sie erreichbar sind.« »Entspannen sie sich, She-Body«, schnaubte McNab, während Eve den Raum verließ. »Schließlich bin ich durch und durch ein Profi.« »Ach, leck mich doch…« Obgleich es Eve gelang, bei dieser Standardantwort ihrer Assistentin nicht allzu laut zu kichern, brach sie bei McNabs interessierter Gegenfrage »Wo?« unweigerlich in ein Prusten aus. Eve hatte den Zeitpunkt sorgfältig gewählt. Wenn Rudys Anwalt nicht vollkommen dämlich war, säße er mit seinem Mandanten in einem abgeschiedenen Zimmer und bereitete ihn auf die Begutachtung durch die Polizeipsychologin vor. Auf diese Weise hätte sie mindestens eine Stunde Zeit, bevor sie wegen der Pressekonferenz zurück aufs Revier müsste.
Dieses Mal machte sich die Rezeptionistin gar nicht erst die Mühe, Zeit zu schinden, sondern winkte sie gleich durch. »Lieutenant.« Bleich und hohlwangig stand Piper in der Tür ihres Büros. »Mein Anwalt hat mich darüber aufgeklärt, dass ich nicht verp lichtet bin, mit Ihnen zu sprechen, und hat mir geraten, es nur bei einem of iziellen Verhör in seiner Anwesenheit zu tun. « »Natürlich steht Ihnen das frei, Piper. Wir können also entweder direkt zurück auf die Wache fahren, oder wir bleiben gemütlich hier, und Sie erzählen mir freiwillig, weshalb Rudy nicht wollte, dass Sie Donnie Ray Michael als Beraterin betreuen.« »Das hatte nichts weiter zu bedeuten«, erklärte sie mit dünner Stimme und faltete die Hände. »Das hatte wirklich nichts weiter zu bedeuten. Das können Sie nicht gegen uns verwenden.« »Fein. Warum klären Sie mich nicht trotzdem einfach auf, damit wir diese Frage zu den Akten legen können?« Ohne auf eine Einladung zu warten, schlüpfte Eve durch die Tür, setzte sich in einen Sessel und wartete, während Piper sichtbar mit sich kämpfte, schweigend ab. »Donnie Ray hat lediglich für mich geschwärmt. Das war alles. Es war ohne jede Bedeutung. Völlig harmlos.« »Weshalb wurden dann die Angestellten extra angewiesen, ihn daran zu hindern, Sie zu sehen?« »Das war eine reine Vorsichtsmaßnahme, um
mögliche… Unannehmlichkeiten zu vermeiden.« »Gibt es häufig derartige Unannehmlichkeiten?« »Nein!« Piper schloss die Tür. Auf ihren Wangen leuchteten hektische rote Flecken, ihr silberblondes Haar hatte sie zu einem Zopf ge lochten, und in ihrem Gesicht spiegelte sich der deutliche Kontrast zwischen der weltgewandten und der zerbrechlichen Frau. »Nein, gewiss nicht. Wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, den Menschen auf der Suche nach Glück, nach einer Partnerschaft, Romantik, häu ig sogar einer Ehe behil lich zu sein, Lieutenant.« Sie legte ihre Hände gegeneinander und klappte die Fingerspitzen vorsichtig nach innen. »Ich könnte Ihnen Dutzende von Dankschreiben zufriedener Kundinnen und Kunden zeigen. Von Menschen, denen wir geholfen haben, einander zu inden. Liebe, wahre Liebe, ist ein wichtiger Grundstein unseres Lebens.« Eve ixierte sie starr. »Glauben Sie an wahre Liebe, Piper?« »Absolut.« »Was würden Sie tun, um Ihre große Liebe zu behalten?« »Alles, was ich tun müsste.« »Erzählen Sie mir von Donnie Ray.« »Er hat mich ein paar Mal gebeten, mit ihm auszugehen. Er wollte, dass ich ihn Saxophon spielen höre.« Seufzend
sank sie ebenfalls in einen Sessel. »Er war nur ein großer Junge, Lieutenant. Er war nicht… es war etwas völlig anderes als bei Holloway. Aber Rudy hatte, durchaus zu Recht, das Gefühl, dass es, um ihm als Kunden gerecht werden zu können, das Beste wäre, wenn er keinen Kontakt zu mir persönlich hat.« »Hätten Sie Donnie Ray gerne spielen gehört?« Der Hauch eines Lächelns latterte um ihren Mund. »Wenn das alles gewesen wäre, sicher. Aber es war klar, dass er sich Hoffnungen auf etwas anderes machte, und ich wollte seine Gefühle nicht verletzen. Ich habe es noch nie ertragen, einem anderen Menschen, egal in welcher Weise, wehzutun.« »Und wie steht es mit Ihnen selber? Tut Ihnen die Beziehung, die Sie zu Ihrem Bruder haben, nicht auch ein wenig weh?« »Darüber kann und will ich nicht mit Ihnen sprechen.« Sie setzte sich kerzengerade hin und faltete die Hände. »Wer hat die Entscheidung getroffen, dass Sie sich haben sterilisieren lassen, Piper?« »Jetzt gehen Sie eindeutig zu weit.« »Tue ich das? Sie sind achtundzwanzig Jahre alt.« Da sie merkte, dass Pipers Lippen bebten, fuhr sie rasch fort: »Und Sie haben sich die Chance auf eigene Kinder aus dem Grund nehmen lassen, dass Sie es nicht riskieren können, ein Kind von Ihrem eigenen Bruder zu bekommen. Sie sind seit Jahren in therapeutischer Behandlung. Sie haben keine
Möglichkeit, eine Beziehung mit einem anderen einzugehen. Sie verheimlichen die Beziehung, die Sie haben, und haben sogar einen Erpresser bezahlt, damit Ihr Geheimnis auch weiterhin gewahrt bleibt, denn Inzest ist eine Schande.« »Das können Sie unmöglich verstehen.« »O doch, das kann ich.« Doch sie war gezwungen worden, erinnerte sich Eve. Sie war noch ein Kind gewesen. Sie hatte keine Wahl gehabt. »Ich weiß, womit Sie leben.« »Ich liebe ihn. Und auch wenn es falsch, wenn es verderbt, wenn es eine Schande ist, wird dadurch nichts geändert. Er ist für mich das Leben.« »Weshalb haben Sie dann solche Angst?« Eve beugte sich nach vorn. »Weshalb haben Sie eine solche Angst, dass Sie ihn selbst jetzt noch decken, obwohl Sie sich die Frage stellen, ob er einen oder sogar mehrere Morde begangen hat? Bringt Ihre Liebe Sie dazu, so weit zu gehen? Sie haben zugelassen, dass sich Holloway an Ihren Kundinnen vergeht, und haben sich dadurch wie Zuhälter aufgeführt.« »Nein, wir haben unser Möglichstes getan, um Frauen mit ähnlichen Neigungen für ihn zu finden.« »Und wenn ihre Neigungen doch nicht ganz so ähnlich waren und sie sich beschwert haben, haben Sie sie für ihr Stillschweigen bezahlt. War das Ihr Wunsch oder der von Rudy?«
»Es ging ums Geschäft. Davon hat Rudy effektiv mehr Ahnung als ich.« »Und dank dieser Entschuldigung können Sie damit leben? Oder vielleicht konnten Sie ja nicht mehr damit leben. War er in der Nacht, in der Donnie Ray ermordet wurde, mit Ihnen zusammen? Können Sie mir ins Gesicht sehen und schwören, dass er die ganze Nacht bei Ihnen gewesen ist?« »Rudy könnte keinem Menschen wehtun. Er könnte es ganz einfach nicht.« »Sind Sie sich da so sicher, dass Sie einen weiteren Tod riskieren würden? Wenn nicht in dieser Nacht, dann vielleicht in der nächsten?« »Wer auch immer diese Menschen umgebracht hat, ist eindeutig verrückt – bösartig, grausam und verrückt. Wenn ich dächte, dass Rudy diese Taten begangen haben könnte, könnte ich damit nicht leben. Wir sind eine Einheit, sodass dieser Trieb, wenn er ihn hätte, auch in mir vorhanden wäre. Damit könnte ich nicht leben.« Sie verbarg ihr Gesicht hinter den Händen. »Ich ertrage das alles nicht mehr. Ich werde nicht weiter mit Ihnen sprechen. Wenn Sie Rudy eines Mordes bezichtigen, bezichtigen Sie dadurch gleichermaßen mich, und deshalb werde ich jetzt nichts mehr sagen.« Eve erhob sich, blieb jedoch noch einen Moment neben dem Sessel stehen. »Egal, was er Ihnen erzählt hat, sind Sie nicht die Hälfte eines Ganzen, Piper. Falls Sie einen Ausweg suchen, kenne ich jemanden, der Ihnen helfen kann.«
Obgleich sie die Befürchtung hatte, dass es sinnlos war, zog sie eine ihrer eigenen Visitenkarten aus der Tasche, notierte auf der Rückseite Namen und Telefonnummer von Dr. Mira, legte die Karte auf die Sessellehne und verließ den Raum. In einem Aufruhr der unterschiedlichsten Gefühle stieg sie in ihren Wagen. Sie brauchte ein paar Minuten, um sich zu beruhigen. Dann sah sie auf ihre Uhr. Die Zeit war knapp, doch sie müsste reichen. Statt des Links in ihrem Wagen nahm sie ihr eigenes Handy und wählte die Nummer von Nadine. »Was wollen Sie, Dallas? Ich habe keine Zeit. In einer Stunde beginnt die Pressekonferenz.« »Seien Sie in fünfzehn Minuten zusammen mit Ihrem Kameramann im D and D.« »Ich kann nicht – « »Doch, Sie können.« Eve brach die Übertragung ab und fuhr in Richtung Stadt. Sie hatte den Down and Dirty Club teils aus Rührseligkeit und teils deshalb ausgewählt, weil dort an einem Nachmittag mitten in der Woche relative Ruhe zu erwarten war. Außerdem war der Besitzer ein Freund, der dafür sorgen würde, dass die Unterhaltung zwischen den beiden Frauen ungestört verlief. »Was treibt dich denn hierher, weißes Mädchen?« Crack, ein Hüne von einem Meter fünfundneunzig, sah sie grinsend an. Er hatte ein dunkles, freundliches Gesicht,
einen frisch rasierten und auf Hochglanz polierten Schädel und wirkte in seiner mit Pfauenfedern besetzten Weste, einer Lederhose, die so eng war, dass sich Eve die Frage stellte, ob er seine Eier nicht darin zerquetschte, und ebenfalls hautengen, kirschroten Stiefeln wie ein Papagei. »Ich bin hier verabredet«, erklärte sie und sah sich aufmerksam in dem Laden um. Wie erwartet, herrschte nur mäßiger Betrieb. Außer den sechs Tänzerinnen, die auf der Bühne probten, entdeckte sie noch eine Hand voll Kunden, die sie ebenso schnell als Polizistin erkannten, wie man brauchte, um am Times Square einem Touristen den Geldbeutel zu klauen. Sicher schwammen in ein paar Minuten mehrere Gramm irgendwelcher illegaler Substanzen durch die Abwasserkanäle New Yorks. »Bringen Sie etwa noch mehr Bullen hierher?« Er schaute zwei spindeldürren Dealern hinterher, die auf direktem Weg in Richtung der Toiletten eilten, und fügte hinzu: »Dadurch verderben Sie ein paar Leuten eindeutig das Geschäft.« »Ich bin nicht hier, weil ich ein Razzia unter Ihren Gästen veranstalten will, sondern ich habe eine Vertreterin der Presse einbestellt. Haben Sie ein Zimmer, in dem wir ungestört sind?« »Sie haben Nadine hierher bestellt? Super. Nehmen Sie Zimmer Nummer drei, Schätzchen. Ich werde in der Zwischenzeit die Augen offen halten, kein Problem.«
»Danke.« Als die Tür aufging und etwas Sonnenlicht herein iel, lugte sie über ihre Schulter und entdeckte die von ihrem Kameramann gefolgte Nadine. »Es wird nicht lange dauern.« Eve deutete in Richtung des angewiesenen Raumes und durchquerte, ohne auf Nadines Zustimmung zu warten, die Bar. »Sie frequentieren echt interessante Orte, Dallas.« Beim Anblick der leckigen Tapeten und des zerwühlten Betts – das das einzige Möbelstück im ganzen Zimmer war – rümpfte Nadine die Nase. »Soweit ich mich entsinne, hat es Ihnen hier schon einmal ziemlich gut gefallen. So gut, dass Sie sich bis auf die Unterwäsche auszogen und auf der Bühne ein Tänzchen dargeboten haben.« »Zu dem Zeitpunkt war ich nicht ganz bei mir«, erklärte Nadine mit möglichst würdevoller Stimme, während ihr Kameramann anfing zu prusten. »Halt die Klappe, Mike.« »Sie haben fünf Minuten.« Eve setzte sich auf den Rand des Bettes. »Entweder können Sie mir Fragen stellen, oder ich gebe einfach eine Erklärung ab. Ich werde Ihnen nicht mehr erzählen, als auch auf der Pressekonferenz bekannt gegeben wird, aber Sie haben es gute zwanzig Minuten früher. Außerdem gebe ich Ihnen die Erlaubnis, die Informationen zu verwenden, über die bereits von uns gesprochen worden ist. « »Warum?«
»Weil«, antwortete Eve mit ruhiger Stimme, »wir befreundet sind.« »Gehen Sie mal kurz raus, Mike.« Nadine wartete, bis er knurrend vor die Tür getreten war. »Ich will kein Almosen von Ihnen.« »Das soll es auch nicht sein. Sie haben sich an die Abmachung gehalten und die Informationen zurückgehalten. Jetzt halte ich als Polizistin auch meinen Teil der Abmachung ein, und ich vertraue darauf, dass Sie als Journalistin die Wahrheit bringen werden. Und auf persönlicher Ebene habe ich Sie, selbst wenn Sie mir manchmal furchtbar auf die Nerven gehen, aus irgendwelchen Gründen einfach gern. So, wollen Sie jetzt das Interview – oder lassen wir es sein?« Nadine verzog den Mund zu einem breiten Lächeln. »Natürlich will ich es. Ich habe Sie auch gern, Dallas, auch wenn Sie mir ständig die letzten Nerven rauben.« »Erzählen Sie mit kurzen Worten: Wie schätzen Sie Rudy und Piper ein?« »Durch und durch charmant. Sie sind die idealen Repräsentanten ihres Unternehmens. Egal, welchen Knopf ich gedrückt habe, haben sie lückenlos passend reagiert. Sie sind ein super eingespieltes Team.« »Wer von den beiden hat das Sagen?« »Oh, er. Daran besteht kein Zweifel. Wenn Sie mich fragen, beschützt er seine Schwester ein wenig zu sehr. Außerdem ist es ein bisschen unheimlich, dass sie sich bis
hin zu ihrer Lippentönung vollkommen identisch kleiden. Aber vielleicht ist das bei Zwillingen normal.« »Haben Sie sich auch mit irgendwelchen Angestellten unterhalten?« »Sicher, ich habe nach dem Zufallsprinzip ein paar ihrer Berater ausgewählt. Ihnen allen macht die Arbeit anscheinend echt Spaß.« »Gibt es irgendwelchen Tratsch über die Bosse?« »Nichts als Lob. Ich habe kein einziges lästerliches Wort über die beiden gehört.« Sie zog eine Braue in die Höhe. »Ist es das, wonach Sie suchen?« »Ich suche nach einem Mörder«, erklärte Eve ihr tonlos. »Also, fangen wir an.« »Fein.« Nadine streckte die Hand nach hinten aus und klopfte zum Zeichen, dass Mike wieder reinkommen sollte, mit den Handknöcheln gegen die Tür. »Ich möchte eine Erklärung mit anschließender Beantwortung einiger Fragen.« »Entweder oder.« »Stellen Sie sich nicht so an. Fangen Sie mit der Erklärung an.« Nadine musterte stirnrunzelnd das Bett, dachte an die diversen Körper lüssigkeiten, die dort bereits vergossen worden waren, und blieb am Ende lieber stehen. Eine Stunde später hörte Eve, wie Polizei- und Sicherheitschef Tibbie fast die gleiche Erklärung abgab, wie
das zuvor Nadine getan hatte. Er hat einen beeindruckenden Stil, dachte sie, während sie zitternd in der Kälte stand, da er als Ort für die Pressekonferenz die Treppen vor dem Turm gewählt hatte, in dessen obersten Etagen seine Büros angesiedelt waren. Der Luftverkehr war während des dreißigminütigen Events umgeleitet worden, sodass nur eine Hand voll Presse lieger und Hubschrauber der Verkehrswacht die Ruhe am Himmel über ihnen störten. Eve war sich sicher, dass er bereits wusste, dass sie vor ihm mit den Informationen an die Öffentlichkeit gegangen war. Dafür könnte er ihr einen Verweis erteilen. Da man ihr jedoch nicht of iziell verboten hatte, eine Erklärung abzugeben, wäre ein solcher Verweis die reinste Zeitvergeudung. Und Eve wusste, dass Tibbie gegen Vergeudung war. Sie respektierte ihn, vor allem, wenn es ihm gelang, eine vollständige Erklärung abzugeben und gleichzeitig wichtige Beweismittel zu verschweigen, die für das Verfahren von Bedeutung wären. Als aus der Menge der Reporter unzählige Fragen auf ihn niederprasselten, hob er abwehrend die Hände. »Fragen stellen Sie bitte der Ermittlungsleiterin, Lieutenant Eve Dallas.« Er drehte sich zu ihr um und lüsterte ihr zu: »Fünf Minuten, und geben Sie den Kerlen bloß nicht mehr, als sie schon haben. Außerdem ziehen Sie sich nächstes Mal am besten einen Mantel an.«
Sie schlang sich ihre Jacke um den Leib und trat einen Schritt nach vorn. »Gibt es bereits irgendwelche Verdächtigen?« Am liebsten hätte Eve mit den Augen gerollt. Sie hasste es, sich mit den Medien auseinander setzen zu müssen. »Zurzeit werden im Zusammenhang mit diesen Fällen mehrere Personen von uns befragt.« »Wurden die Opfer sexuell misshandelt?« »Die Taten werden von uns als Sexualmorde betrachtet.« »In welcher Beziehung stehen die Morde zueinander? Haben die Opfer einander gekannt?« »Über diesen Aspekt unserer Ermittlungen kann ich zum jetzigen Zeitpunkt noch nichts sagen.« Als die Journalisten an ingen zu murren, hob sie gebieterisch die Hand. »Allerdings gehen wir davon aus, dass es eine Verbindung zwischen allen Fällen gibt. Wie Chief Tibbie bereits sagte, weisen die Ermittlungen bisher auf einen Täter hin.« »Der Weihnachtsmann«, rief irgendein Witzbold und brachte die Menge dadurch zum Lachen. »Ja, machen Sie ruhig Witze.« Der aufwallende Zorn wärmte ihr Blut und ließ sie ihre kalten Hände für eine Minute vergessen. »Das ist sicher nicht weiter schwer, wenn man seine Opfer nicht gesehen hat und wenn man nicht den Müttern und Partnern dieser Menschen sagen
musste, dass jemand, den sie geliebt haben, ermordet worden ist.« Stille senkte sich über die Menge, und sie hörte das Rauschen der Rotoren eines Hubschraubers der Verkehrswacht über ihrem Kopf. »Ich schätze, dass der Mensch, der für dieses Elend, für die Toten verantwortlich ist, total begeistert davon sein wird, wenn er recht viel Publicity bekommt. Also los, erfüllt ihm seinen Wunsch. Macht die Morde an vier Menschen zu banalen Nebensächlichkeiten, und macht ihn zu einem Star. Aber wir hier bei der Polizei, wir wissen, was er ist. Ein jämmerliches Würstchen, noch jämmerlicher als ihr. Mehr habe ich nicht zu sagen.« Ohne auf die empörten Buhrufe zu achten, drehte sie sich abrupt um und hätte dabei ihren Vorgesetzten beinahe umgerannt. »Kommen Sie einen Moment mit rein, Lieutenant.« Er nahm ihren Arm und führte sie entschlossen zwischen den Wachmännern hindurch durch die verstärkten Türen ins Gebäude. »Gut gemacht«, lobte er knapp. »Und nun, da wir dieses lästige Spektakel hinter uns gebracht haben, muss ich mich noch um den Bürgermeister kümmern. Gehen Sie, und bringen Sie diesen Hurensohn zur Strecke, Dallas.« »Sehr wohl, Sir.« »Und besorgen Sie sich, um Himmels willen, Handschuhe«, fügte er, während er bereits von dannen eilte, mit schauderndem Schütteln hinzu. Stattdessen vergrub Eve eine ihrer eisigen Hände in
der Tasche ihrer Jacke und griff mit der anderen nach ihrem Handy. Erst versuchte sie ihr Glück bei Dr. Mira, dort jedoch wurde ihr erklärt, dass die Sitzung, in der sie sich derzeit befand, noch nicht abgeschlossen war, und so wählte sie als Nächstes die Nummer ihrer Assistentin. »Haben Sie in Bezug auf die Kette schon was rausgefunden? « »Vielleicht. Der Juwelier bei Baubles and Bangles in der Fünften hat die Kette entworfen und auch selber hergestellt. Es war eine Auftragsarbeit und deshalb ein Unikat. Sie gehen gerade die Kundendatei durch, aber die Frau meinte, sie könne sich daran erinnern, dass der Kunde persönlich vorbeigekommen sei, um die Kette abzuholen. Der Laden ist mit Sicherheitskameras bestückt.« »Dann treffen wir uns dort. Ich mache mich sofort auf den Weg.« »Lieutenant?« Sie blickte über die Schulter und entdeckte einen bleichgesichtigen Jerry Vandoren, der unbemerkt von hinten auf sie zugetreten war. »Jerry, was machen Sie denn hier?« »Ich habe von der Pressekonferenz gehört. Ich wollte…« Er hob seine Hände und ließ sie hil los wieder fallen. »Ich wollte wissen, was Sie zu sagen haben. Ich habe es gehört. Ich wollte Ihnen danken… « Wieder brach er ab und sah sich so gehetzt um, als
wäre er urplötzlich auf einem anderen Planeten. »Jerry.« Sie nahm seinen Arm und führte ihn, bevor die Journalisten Lunte rochen und sich auf ihn stürzten, von den Türen fort. »Sie sollten nach Hause fahren.« »Ich kann nicht schlafen. Ich kann nicht essen. Ich träume jede Nacht von ihr. Wenn ich von ihr träume, ist Marianna noch am Leben.« Er atmete erschaudernd ein. »Dann wache ich auf, und sie ist tot. Alle sagen, ich sollte zur Trauerberatung gehen, aber ich will mich nicht beraten lassen, Lieutenant Dallas. Ich will nicht, dass meine Gefühle für sie aufhören.« Mit der puren Verzwei lung, mit der er sich Hilfe suchend an sie wandte, kam sie einfach nicht zurecht. Trotzdem konnte sie sich nicht davor verschließen, und so erklärte sie: »Sie würde nicht wollen, dass Sie endlos trauern. Dafür hat sie Sie viel zu sehr geliebt.« »Aber wenn es au hört wehzutun, ist sie endgültig fort.« Er kniff die Augen zu und schlug sie mühsam wieder auf. »Ich wollte – nur sagen, dass ich zu schätzen weiß, was Sie eben da draußen denen mitgeteilt haben. Dass Sie nicht zulassen, dass diese Reporter ihre Witze über diese Sache reißen. Ich weiß, dass Sie den Täter schnappen werden.« In seinen Augen schwammen Tränen. »Sie werden ihn doch schnappen?« »Ja. Ich werde ihn schnappen. Kommen Sie.« Sie führte ihn sanft auf einen Nebenausgang zu. »Wir besorgen Ihnen ein Taxi. Wo, haben Sie gesagt, lebt Ihre Mutter?« »Meine Mutter?«
»Ja. Fahren Sie zu Ihrer Mutter, Jerry. Bleiben Sie eine Weile dort.« Als sie vor die Tür traten, ließ das helle Sonnenlicht ihn blinzeln. »Es ist fast Weihnachten.« »Ja.« Sie winkte einem uniformierten Beamten, der an seinem Streifenwagen lehnte. Besser als ein Taxi, dachte sie und sagte: »Verbringen Sie Weihnachten bei Ihrer Familie, Jerry. Marianna hätte es hundertprozentig so gewollt.« Eve musste Jerry Vandoren und seine Trauer aus ihren Gedanken vertreiben und sich wieder auf ihre Arbeit konzentrieren. Sie kämpfte sich durch den dichten Verkehr in Richtung Fünfter, parkte den Wagen verbotenerweise direkt vor dem Juweliergeschäft, schaltete das Blaulicht ein und quälte sich durch die dichte Menschenmenge, die den Bürgersteig verstopfte. Sie nahm an, dies war die Art von Laden, in der Roarke spontan etwas entdeckte, was sein Interesse weckte, und wofür er, ohne mit der Wimper zu zucken, ein paar hunderttausend Dollar liegen ließ. Wie das Innere einer Muschel war der Laden ganz in Pink und Gold gehalten, und leise, ruhige Musik, die sie an Kirchen denken ließ, erfüllte die aromatisierte Luft. Die Blumen waren frisch, der Teppich dick und der Wachmann an der Tür diskret bewaffnet. Da er ihre abgewetzte Jacke und ihre ausgelatschten Stiefel mit einem verächtlichen Blick bedachte, hielt sie ihm
ihren Dienstausweis unter die Nase und konnte voller Genugtuung verfolgen, wie sein herablassendes Getue auf der Stelle verflog. Der altrosafarbene Teppich verschluckte das Geräusch ihrer Schritte, als sie schließlich das Geschäft betrat und sich umsah. Auf einem dick gepolsterten Hocker saß eine in einen üppigen Nerz gehüllte Frau, die sich nicht zwischen Diamanten und Rubinen entscheiden konnte. Ein hoch gewachsener Mann mit silbrig weißem Haar, dessen Mantel ordentlich gefaltet über seinem Arm lag, betrachtete die goldenen Armbanduhren. Zwei weitere Wachmänner standen in den Ecken, und eine Blondine, die von einem Mann mit Bauch, der alt genug war, um ihr Großvater zu sein, und der anscheinend mehr Geld als Grips hatte, offenbar zu einem Einkaufsbummel eingeladen worden war, stakste begehrlich an den Vitrinen vorbei. Die Sicherheitskameras waren diskret in den Rundkehlen der Kassettendecke versteckt. In die obere Etage gelangte man über eine elegante Wendeltreppe oder – falls Madam vom Gewicht der Steine und des Golds, das sie mit sich herumschleppte, erschöpft war – mit einem, mit einer auf Hochglanz polierten Messingtür versehenen kleinen Lift. Nur das Gewicht des Diamanten, der über ihrer Brust hing, verhinderte, dass Eve wie zuvor der Türsteher verächtlich schnaubte. Es war leicht peinlich zu wissen, dass Roarke nicht nur alles erwerben könnte, was hier zum Verkauf geboten wurde, sondern dazu das Gebäude selbst.
Sie näherte sich einem abgeschrägten Glastisch, auf dem mit farbenfrohen Steinen besetzte Armbänder dekorativ angeordnet waren, und wandte sich an den dahinter postierten Verkäufer. Ebenso wie zuvor der Wachmann schien auch er von ihrem Erscheinungsbild nicht allzu angetan zu sein. Er konkurrierte geradezu mit der Eleganz der Waren, sein Mund jedoch bildete einen dünnen, missbilligenden Strich, sein Blick war gelangweilt, und seine Stimme war von Sarkasmus gefärbt, als er fragte: »Kann ich Ihnen helfen, Madam?« »Ja, ich brauche den Geschäftsführer.« Er rümpfte unmerklich die Nase und legte den Kopf so auf die Seite, dass seine goldenen Haare im Licht der Lampen seidig glänzten: »Gibt es ein Problem?« »Kommt darauf an, wie schnell Sie meine Bitte erfüllen.« Jetzt bekam er einen Gesichtsausdruck, als ob etwas nicht ganz Frisches auf seiner Zunge gelandet wäre, und erklärte: »Eine Sekunde. Und bitte, fassen Sie nichts an. Die Auslage wurde gerade erst gereinigt.« Arschloch, dachte Eve und verzierte, bis er mit einer schlanken, attraktiven, brünetten Frau zurückkam, mit einem halben Dutzend Fingerabdrücken das zuvor blitzsaubere Glas. »Guten Tag. Ich bin Ms. Kates, die Geschäftsführerin. Kann ich Ihnen helfen?« »Lieutenant Dallas von der New Yorker Polizei.«
Da das Lächeln der Frau deutlich wärmer war als das ihres Angestellten, hielt Eve ihren Dienstausweis auf Höhe des Tisches und stellte sich so, dass die Kundschaft ihn nicht sah. »Meine Assistentin hat vorhin wegen einer Kette mit Ihnen telefoniert. « »Ja, ich habe mit ihr gesprochen. Sollen wir in meinem Büro über die Sache sprechen?« »Fein.« Peabody und McNab hatten den Laden inzwischen ebenfalls betreten, und sie bedeutete den beiden wortlos, ihr zu folgen. »Ich kann mich genau an die Kette erinnern«, begann Kates, nachdem sie ihr feminin eingerichtetes Büro betreten hatten, wies auf drei hochlehnige Stühle und nahm selbst hinter ihrem Schreibtisch Platz. »Es war eine Auftragsarbeit. Mein Mann hat sie entworfen. Leider habe ich ihn bisher nicht erreichen können, aber ich glaube, dass auch ich Ihnen die gewünschten Informationen geben kann.« »Haben Sie irgendwelche Unterlagen zu der Kette?« »Ja. Ich habe die Datei aufgerufen und bereits einen Ausdruck für Sie angefertigt.« Sie schlug einen schmalen Hefter auf, prüfte den Inhalt und reichte ihn dann Eve. »Die Kette war aus vierzehnkarätigem Gold, bestand aus mehreren kleinen Gliedern und hatte als Anhänger vier stilisierte Vögel. Sie war so gearbeitet, dass sie möglichst eng am Hals liegt. Ein ganz reizendes Stück.« Um Holloways aufgeschürften Hals hatte sie nicht ganz
so reizend ausgesehen. »Nicholas Claus«, murmelte Eve, als sie den Namen des Auftraggebers las. Sicher hatte er sich über die Ironie dieses Pseudonyms regelrecht schiefgelacht. »Haben Sie sich einen Ausweis von ihm zeigen lassen?« »Das war nicht erforderlich. Er hat das Schmuckstück bar bezahlt. Zwanzig Prozent bei Auftragserteilung, den Rest, nachdem die Kette fertig war.« Kates faltete die Hände. »Ich kenne Sie aus dem Fernsehen, Lieutenant. Muss ich annehmen, dass diese Kette eine Rolle bei den Ermittlungen in einem Mordfall spielt?« »Das müssen Sie. Dieser Claus, kam er persönlich?« »Ja, soweit ich mich entsinne, war der dreimal hier.« Kates hob ihre gefalteten Hände, klopfte sich mit den Fingern an den Mund, und ließ die Hände wieder sinken. »Bei seinem ersten Besuch habe ich persönlich mit ihm gesprochen. Er war mittelgroß, vielleicht ein bisschen größer. Schlank, aber nicht dünn. Geschmeidig«, sagte sie nach kurzem Überlegen. »Eine sehr angenehme Erscheinung. Dunkle, ziemlich lange, graumelierte Haare. Ich erinnere mich an ihn als an einen eleganten, sehr hö lichen und in Bezug auf seine Wünsche äußerst bestimmten Mann.« »Was hatte er für eine Stimme?« »Was er für eine Stimme hatte?« Kates blinzelte verwirrt. »Ich… kultiviert, würde ich sagen. Mit einem
leichten Akzent. Vielleicht Europa. Ruhig. Ich bin sicher, dass ich sie wiedererkennen würde. Ich kann mich daran erinnern, dass er einmal angerufen hat und dass ich sofort wusste, wer er war. « »Er hat angerufen?« »Ein-, zweimal, glaube ich, um sich nach der Kette zu erkundigen.« »Ich brauche Ihre Überwachungsdisketten und die Aufzeichnungen Ihres Links.« »Ich werde sie holen.« Sie stand sofort auf. »Allerdings wird es ein bisschen dauern.« »McNab, helfen Sie Ms. Kates.« »Madam.« »Er muss doch gewusst haben, dass wir der Kette nachgehen«, wandte sich Eve an Peabody, als sie mit ihr allein war. »Er hat sie am Tatort zurückgelassen, obwohl sie extra in seinem Auftrag als Einzelstück gefertigt worden ist. Er muss gewusst haben, dass wir sie inden würden.« »Vielleicht hat er nicht angenommen, dass wir so schnell sein würden oder dass sich diese Kates so gut an ihn erinnert. « »Nein.« Unzufrieden erhob sich Eve von ihrem Platz. »Er hat es gewusst. Er hat uns genau dort, wo er uns haben will. Wir sind die Statisten in dem von ihm geschriebenen Stück. Er hat eine Rolle gespielt und sieht
dem Mann, den wir auf den Disketten sehen werden, genauso wenig ähnlich wie dem Weihnachtsmann.« Sie tigerte Richtung Tür, machte dort kehrt und lief ungeduldig zurück. »Andere Requisiten, ein anderes Kostüm, eine andere Bühne, und trotzdem ist es ein und dasselbe Stück. Er hat sich gut getarnt, Peahody, aber er ist nicht so clever, wie er denkt. Mit der Stimme von den Gesprächsaufnahmen nageln wir ihn fest.«
16 »Himmel, Dallas.« Feeney zuckte mit der Schulter, über die sie sich unbarmherzig beugte. »Rück mir nicht so nah auf die Pelle.« »Tut mir Leid.« Sie lehnte sich zwei Zentimeter zurück. »Wie lange wird es dauern, die Stimmen zu vergleichen?« »Doppelt so lange, wenn du mich nicht endlich in Ruhe lässt.« »Okay, okay.« Sie wandte sich ab, stapfte durch das Besprechungszimmer und schaute aus dem Fenster. »Schneeregen«, sagte sie mehr zu sich selbst als zu dem Kollegen. »Sicher wird der Verkehr nachher entsetzlich.« »Um diese Zeit des Jahres ist der Verkehr üblicherweise entsetzlich. Es kommen viel zu viele Touristen in die Stadt. Ich habe gestern versucht, ein paar Einkäufe zu tätigen. Meine Frau hätte gern einen bestimmten Pullover. Die Leute reißen sich um die Sachen wie ein Rudel Wölfe um einen toten Hirsch. Ich gehe vor Weihnachten bestimmt nicht noch einmal freiwillig in irgendein Geschäft.« »Video-Shopping ist problemloser.« »Ja, aber die verdammten Leitungen sind die ganze Zeit besetzt. Gott und die Welt versucht noch irgendwelche Schnäppchen zu ergattern. Aber wenn unter dem Baum nicht mindestens ein Dutzend hübscher Päckchen für sie liegen, kann ich bis zum Frühjahr hier auf der Wache
übernachten.« »Ein Dutzend?« Entgeistert fuhr sie zu ihm herum. »Sie erwartet allen Ernstes mehr als ein Geschenk?« »Himmel, Dallas, du hast wirklich keine Ahnung, wie es in einer Ehe läuft.« Schnaubend hieb er auf die Tasten seines Key boards ein. »Ein Geschenk ist genauso schlecht wie keins. Es geht um die Menge, Kumpel. Ausschließlich um die Menge.« »Super, klasse. Ich bin eindeutig verloren.« »Du hast ja noch ein paar Tage Zeit. Ah, geschafft.« Ihr Einkaufsproblem war vergessen, und sie stürzte zurück an den Computer. »Dann wollen wir doch mal sehen.« »Eine Sekunde. Hier ist unser Mann am Link.« Könnten Sie mich bitte mit Mr. oder Ms. Kates verbinden? »Ich habe die anderen Stimmen rausgeschnitten. Deshalb die langen Pausen«, erläuterte Feeney. Guten Morgen, Ms. Kates. Hier spricht Nicholas Claus. Ich wollte nur wissen, welche Fortschritte die Arbeit an meiner Kette macht. »Ich kann auch noch den Rest abspielen, aber für eine Stimmprobe haben wir damit bereits genug.« »Der Akzent ist nicht genau zu de inieren«, überlegte Eve. »Er hält sich damit sehr zurück. Clever. Hast du auch
Rudy irgendwo?« »Kommt. Das hier ist von der Verhöraufnahme. Nur er.« Wir raten unseren Kunden immer, ihre Partner in der Öffentlichkeit zu treffen. Falls sich eine Frau anschließend noch privat mit ihm getroffen hat, hat sie das aus eigenem Antrieb heraus getan. »Das Stimmabdrucksprogramm ist einfach klasse: Stimmlage, Tonfall, Tonqualität, Kadenzen…. es nimmt die Stimme total auseinander. Es ist völlig egal, ob du versuchst, sie zu verstellen. Deine Stimme verrät dich genauso wie deine Fingerabdrücke oder deine DNA. Du kannst sie unmöglich fälschen. Wechsel zurück zu Person A, Übertragung des Stimmpro ils sowohl über Audio als auch über den Bildschirm.« Einen Moment… Eve lauschte noch einmal der Stimme des Anrufers in dem Juweliergeschäft und verfolgte das Zucken verschiedenfarbiger Striche auf dem Bildschirm. »Kannst du den Monitor teilen?«, wandte sie sich an Feeney. »Ich hätte gern den Ausschnitt aus dem Verhör direkt darunter.« »Ich denke schon.« Feeney gab den Befehl in die Tasten und spitzte dann die Lippen. »Oh, ich fürchte, wir haben ein Problem.« »Was? Was ist los?«
»Verschmelzung beider Stimmen«, wies er den Computer an und erklärte, als die Punkte und Striche nicht aufeinander treffen wollten, seufzend: »Sie passen nicht zusammen, Dallas. Sie sind sich noch nicht mal ähnlich. Wir haben es eindeutig mit den Stimmen zweier verschiedener Individuen zu tun.« »Scheiße.« Sie fuhr sich mit den Händen durch die Haare. Da sie es mit eigenen Augen sah, protestierte sogar ihr Magen schmerzlich. »Lass mich überlegen. Okay, was, wenn er auf seiner Seite des Links einen Verzerrer angeschlossen hatte?« »Dann könnte er seine Stimme leicht verändern, aber immer noch träfen zumindest ein paar der Punkte aufeinander. Das Beste, was ich tun kann, ist, dass ich nach einer elektronischen Maskierung suche und sie, falls ich eine inde, rausnehme. Aber ich habe dieses Programm schon oft genug benutzt, um ganz sicher zu wissen, dass dies die Stimmen zweier verschiedener Typen sind.« Ihm entfuhr ein neuerlicher Seufzer, und er sah sie traurig an. »Tut mir Leid, Dallas. Das wirft uns um Lichtjahre zurück.« »Ja.« Sie rieb sich die Augen. »Such trotzdem nach dieser Maskierung, ja, Feeney? Wie steht es mit der Zusammenstellung der einzelnen Gesichtszüge unseres Täters?« »Sie nimmt langsam Gestalt an. Ich kann zumindest schon mal Rudys Ohrform mit der des Mannes von den Videos vergleichen.«
»Dann lass uns auch das versuchen. Ich gehe noch mal zu Mira und gucke, ob sie Rudys Gutachten inzwischen fertig hat. « Um Zeit zu sparen, rief Eve stattdessen einfach bei der Psychologin an. Sie war nicht mehr in ihrer Praxis, hatte jedoch bereits einen vorläu igen Bericht an Eve geschickt. Also marschierte Eve schnurstracks in ihr Büro und versuchte unterwegs, im Geiste die fehlgeschlagene Stimmidentifizierung zu verdrängen. Der Typ war echt clever. Vielleicht hatte er an die Möglichkeit des Stimmabdrucks gedacht. Vielleicht hatte er einen Weg gefunden, die Identi izierung seiner Stimme zu umgehen. Was, wenn jemand anderes den Anruf für ihn getätigt hatte? Das war zwar ziemlich weit hergeholt, doch unmöglich war es nicht. Durch die Tür ihres Büros vernahm sie etwas, von dem sie geschworen hätte, dass es klang wie leises Kichern. Stirnrunzelnd trat sie ein und entdeckte dort ihre Assistentin, die sich fröhlich mit Charles Monroe unterhielt. »Peabody?« »Madam.« Sofort hüpfte Peabody von der Kante ihres Schreibtischs und nahm eine straffe Haltung an. »Charles, ah, Mr. Monroe hat… er wollte… « »Bringen Sie Ihre Hormone unter Kontrolle, Of icer. Charles?«
»Dallas.« Lächelnd erhob er sich von der Lehne des einzigen, wackeligen Besucherstuhls, den es hier gab. »Ihre Assistentin hat mir charmanterweise Gesellschaft geleistet, während ich auf Sie gewartet habe.« »Das glaube ich Ihnen gerne. Was führt Sie hierher?« »Vielleicht ist es nicht weiter von Bedeutung, aber – « Er zuckte mit den Schultern. »Eine der Frauen von meiner Partnerliste hat mich vor ein paar Stunden angerufen. Scheint, als hätte sie sich mit dem Typen, mit dem sie eigentlich über das Wochenende hätte fortfahren wollen, überworfen, und sie dachte, ich käme, obwohl es bei unserem ersten Treffen nicht unbedingt gefunkt hat, vielleicht an seiner Stelle mit.« »Wirklich faszinierend.« Eve, die ungeduldig darauf wartete, mit ihren Recherchen fortfahren zu können, warf sich in den Sessel hinter ihrem Schreibtisch. »Aber ich fühle mich nicht quali iziert, Ihnen Ratschläge bezüglich Ihres Privatlebens zu erteilen.« »Das kriege ich auch ziemlich gut allein hin, vielen Dank.« Wie um es zu beweisen, zwinkerte er der vor Freude errötenden Peabody zu. »Ich hatte mit dem Gedanken gespielt, das Angebot tatsächlich anzunehmen, aber da ich weiß, wie sich solche Dinge entwickeln können, habe ich, um ein Gefühl für die Sache zu bekommen, erst einmal mit ihr geplaudert.« »Hat das Ganze auch irgendwann etwas mit uns oder dem Fall zu tun?« Er setzte sich auf den Stuhl und beugte sich ein wenig
vor. »Ich ziehe die Vorfreude auf meinen großen Auftritt gerne etwas in die Länge, Lieutenant Sugar.« Sie beide ignorierten Peabodys ersticktes Schnauben ob dieser liebevollen Bezeichnung. »Irgendwann dann ing sie an, sich bei mir auszuheulen. Sie hat einen Riesenkrach mit dem Typen gehabt und mir die Geschichte in aller Ausführlichkeit erzählt. Sie hat ihn mit irgendeinem Rotschopf überrascht. Und dann hat sie erzählt, dass er anscheinend dachte, er könnte sie dazu bewegen, sich mit ihm zu versöhnen, indem er abends einen Weihnachtsmann mit einem Geschenk zu ihrer Wohnung schickt.« Eve richtete sich langsam auf. Ihr Interesse war geweckt. »Sprechen Sie weiter.« »Dachte ich mir doch, dass Sie das interessiert.« Zufrieden lehnte sich Charles zurück. »Sie hat gesagt, es hätte gestern Abend gegen zehn bei ihr geklingelt, und als sie durch den Spion gesehen hat, stand draußen der Weihnachtsmann mit einem großen, in Silberpapier gewickelten Paket.« Er schüttelte den Kopf. »Ich muss sagen, nach allem, was ich wusste, hat mein Herzschlag bei diesen Worten kurzfristig ausgesetzt. Aber dann hat sie weitererzählt und erklärt, sie würde diesem betrügerischen Bastard bestimmt nicht noch die Freude machen und seinetwegen öffnen. Sie meinte, auf eine derart blöde Masche fiele sie nicht herein.« »Sie hat den Kerl nicht reingelassen.« »Und ich schätze, deshalb lebt sie heute noch und
konnte mich anrufen, um über ihren Typen herziehen zu können.« »Wissen Sie zufällig, womit sie ihren Lebensunterhalt verdient?« »Sie ist Tänzerin. Ballett.« »Ja, das passt«, murmelte Eve. »Ich brauche ihren Namen und ihre Adresse. Peabody?« »Ich bin bereit.« »Cheryl Zapatta, sie lebt irgendwo in der Achtundzwanzigsten Straße West. Das ist alles, was ich weiß.« »Wir werden sie finden.« »Hören Sie, ich weiß nicht, ob es richtig war, aber ich habe es ihr gesagt. Ich hatte kurz zuvor ihr Interview mit Nadine Fürst gesehen und dachte, es ist sowieso inzwischen allgemein bekannt. Ich habe ihr gesagt, dass sie den Fernseher anmachen soll und ihr gesagt, warum.« Er schnaubte. »Sie wurde total hysterisch. Meinte, sie würde auf der Stelle aus der Stadt verschwinden. Ich kann also nicht sagen, ob sie schon geflüchtet ist.« »Falls sie nicht mehr in der Stadt ist, kriegen wir aufgrund der Umstände sicher die Erlaubnis, uns auch ohne ihr Beisein in ihrer Wohnung umzusehen. Sie haben das Richtige getan, Charles«, fügte Eve hinzu. »Wenn sie den Bericht nicht gehört hätte, hätte sie es sich vielleicht noch einmal überlegt und beim nächsten Mal geöffnet. Ich weiß es zu schätzen, dass Sie extra hierher gekommen
sind.« »Für Sie tue ich doch alles, Lieutenant Sugar.« Er stand auf. »Können Sie mir sagen, wie die Dinge zurzeit stehen?« »Um das zu erfahren, sehen Sie sich am besten die Nachrichten im Fernsehen an.« »Ja. Äh, Of icer, würde es Ihnen etwas ausmachen, mir zu zeigen, wie ich zum Ausgang komme? Ich verlaufe mich ständig in diesem Labyrinth.« »Sicher. Lieutenant?« »Klar.« Eve wedelte die beiden aus ihrem Büro und vertiefte sich dann in Miras Gutachten von Rudy. Vor lauter Frust iel ihr nicht auf, dass Peabody zwanzig Minuten brauchte, um Charles zu einem Gleitband oder Fahrstuhl zu eskortieren. Irgendwann lehnte sie sich zurück und fuhr sich, als ihre Assistentin wieder auftauchte, erschöpft mit den Händen übers Gesicht. »Dr. Mira hat den Verdacht gegen den Hurensohn entkräftet. Jetzt habe ich nichts mehr gegen ihn in der Hand.« »Gegen Rudy?« »Sein Persönlichkeitsindex passt nicht zum Pro il des Täters. Seine Fähigkeit, Gewalt anzuwenden, wird als äußerst niedrig eingestuft. Er ist verschlagen, intelligent, besessen, besitzergreifend und sexuell beschränkt, doch nach Meinung unserer Ärztin ist er nicht unser Mann. Verdammt. Wenn sein Anwalt eine Kopie dieses Berichts zwischen die Finger kriegt, bekomme ich dieses kleine Arschloch nicht mal mehr zum Sprechen. «
»Glauben Sie noch immer, dass er der Täter ist?« »Ich glaube überhaupt nichts mehr.« Sie versuchte, den neben der Enttäuschung in ihr aufwogenden Zorn halbwegs zu bezähmen. »Also fangen wir noch mal von vorne an und verhören sämtliche Personen, deren Namen uns in Verbindung mit den Opfern unterkommen sind.« Um Viertel vor neun hetzte Eve die Stufen hinauf in die obere Etage ihres Hauses. Jetzt war sie endgültig genervt, nachdem sie von Summerset gerade mit einem herablassenden Blick und der Bemerkung, sie hätte genau fünfzehn Minuten, um sich vor Ankunft der ersten Gäste herzurichten, in Empfang genommen worden war. Es machte die Sache nicht besser, als sie durch die Tür des Schlafzimmers stürzte und Roarke fertig geduscht und angezogen vor dem Spiegel stehen sah. »Ich werde es ganz sicher schaffen«, keuchte sie und rannte weiter ins angrenzende Bad. »Es ist eine Party und keine Ausdauerprüfung, Liebling.« Hauptsächlich um des Vergnügens willen, ihr beim Ausziehen zuzusehen, kam er hinter ihr her. »Lass dir also ruhig Zeit.« »Ja sicher, als ob ich zu spät runterkommen und diesem Blödmann einen weiteren Grund dafür geben will, sich über mich zu beschweren. Dusche, sämtliche Düsen auf volle Kraft, achtunddreißig Grad. « »Es ist nicht erforderlich, dass Summerset dein Verhalten billigt.« Er lehnte sich gegen die Wand und verfolgte, wie sie schnell und ef izient, ohne Zeit oder auch
nur eine Bewegung zu vergeuden, ihre Haare und ihren Körper wusch. »Außerdem kommen die Leute traditionsgemäß zu derartigen Festen immer etwas später.« »Trotzdem werde ich pünktlich fertig sein.« Sie zischte, als ihr das Shampoo in den Augen brannte. »Ich habe meinen Hauptverdächtigen verloren und fange deshalb noch mal ganz von vorne an.« Sie sprang aus der Dusche, trat vor die Trockenkabine und hielt urplötzlich inne. »Verdammt, soll ich dieses Zeug in meine Haare schmieren, wenn sie nass sind oder trocken?« Da er sich denken konnte, welches Zeug sie meinte, nahm Roarke die Tube aus dem Regal und drückte etwas von dem Gel in seine Hand. »Okay, lass mich das machen.« Während er ihren Kopf massierte, hätte sie vor Wohlbehagen am liebsten geschnurrt. Doch dann kniff sie die Augen zusammen und blinzelte ihn argwöhnisch an. »Spiel keine Spielchen mit mir, Kumpel. Dafür ist jetzt wirklich keine Zeit.« »Ich weiß nicht, wovon du sprichst.« Er wählte eine andere Tube und gab großzügig von der darin enthaltenen Körpermilch in seine Hände. »Ich helfe dir lediglich, fertig zu werden«, versicherte er, als er seine Hände über ihre Schultern und ihre Brüste gleiten ließ. »Denn du wirkst ein wenig erschöpft. « »Hör zu – « Übergangslos schloss sie die Augen und seufzte, als seine Hände über ihre Hüften und ihre Kehrseite glitten, vor Wonne auf. »Ich glaube, du hast eine
Stelle vergessen.« »Wie unachtsam von mir.« Er neigte seinen Kopf, schnupperte an ihrem Hals und knabberte vorsichtig daran. »Hättest du vielleicht Lust, mit erheblicher Verspätung auf unserer Party zu erscheinen?« »Allerdings. Aber das wird nicht passieren.« Sie entwand sich ihm und sprang in die Kabine. »Aber vergiss ja nicht, nachher dort weiterzumachen, wo du von mir unterbrochen worden bist.« »Wirklich bedauerlich, dass du nicht schon vor zwanzig Minuten heimgekommen bist.« Da er zu dem Schluss kam, dass die Betrachtung ihres nackten Körpers sein Blut nur weiterhin erhitzen würde, ging er ins Schlafzimmer zurück. »Ich muss mich nur noch etwas anmalen.« Sie sprang aus der Trockenkabine und litzte, ohne sich auch nur die Mühe zu machen, einen Morgenmantel anzuziehen, vor den dreiteiligen Spiegel. »Was trägt man bloß auf einem solchen Fest?« »Das hier.« Sie unterbrach ihre Versuche mit der Wimperntusche und runzelte die Stirn. »Suche ich etwa deine Kleider für dich aus?« »Eve, bitte.« Unweigerlich musste sie lachen. »Okay, schlechtes Beispiel, aber ich habe keine Zeit, um mir ein anderes zu überlegen.« Das Frisurproblem löste sie dadurch, dass sie schlicht mit den Fingern durch die Haare fuhr. Schließlich
trabte sie ins Schlafzimmer, wo Roarke ein winziges Etwas in der Hand hielt, das für gewisse Menschen eventuell so etwas wie ein Kleid war. »Vergiss es. Das ziehe ich garantiert nicht an.« »Mavis hat es extra gestern Abend noch vorbeigebracht. Leonardo hat es speziell für dich entworfen. Es wird dir sicher stehen.« Immer noch stirnrunzelnd, musterte sie die beiden ließenden, silbernen, an den Seiten und über den Schultern durch schmale, glitzernde Bänder zusammengehaltenen sparsamen Stücke Stoffs. »Warum gehe ich nicht gleich nackt und spare so die Zeit des Anziehens?« »Lass mich wenigstens mal gucken, wie es aussieht.« »Was soll ich denn da drunter anziehen?« Er schob sich die Zunge in die Backe. »Dich.« »Himmel.« Unbeholfen stieg sie in das Kleid und zog es vorsichtig an sich herauf. Der weich ließende Stoff schmiegte sich wie ein Geliebter an ihren straffen Körper, und die verführerischen Seitenschlitze zeigten schlanke Rundungen und Streifen samtig weicher Haut. »Meine geliebte Eve.« Er nahm ihre Hand, drehte sie herum und schnupperte mit einer solchen Zärtlichkeit an ihrem Handgelenk, dass sie regelrechte Gummibeine davon bekam. »Manchmal raubst du mir einfach den Atem.
Hier, probier die an.« Er nahm ein paar Diamantohrringe aus der obersten Schublade der Kommode und drückte sie ihr in die Hand. »Haben die schon vorher mir gehört?« Er grinste amüsiert. »Du hast sie schon seit Monaten. Vor Weihnachten gibt es keine Geschenke mehr.« Sie legte den Schmuck an und beschloss, es gelassen hinzunehmen, als er auch die zu dem Kleid gehörenden Schuhe für sie fand. »In diesem Kleid gibt es keine Tasche, in die ich mein Handy stecken kann. Dabei habe ich Bereitschaft.« »Hier.« Er hielt ihr ein zu den Schuhen passendes lächerlich kleines Abendtäschchen hin. »Sonst noch was?« »So bist du perfekt.« Er lächelte, als er das Piepsen zum Zeichen der Ankunft des ersten Wagens vor dem Tor des Anwesens vernahm. »Und tatsächlich pünktlich. Lass uns zusammen runtergehen, damit ich mit meiner Frau angeben kann.« »Ich bin doch kein Schoßhund«, murmelte sie giftig, und er lachte vergnügt auf. Innerhalb von einer Stunde war das Haus erfüllt mit Leuten, Lachen, Helligkeit und Musik. Eve sah sich im Ballsaal um und war von Herzen dankbar, dass Roarke niemals erwartet hätte, dass sie aktiv an der Vorbereitung solcher Feste teilnahm.
Riesige Tische bogen sich unter Silberplatten mit Schinken aus Virginia, französischer Ente, echtem Rind leisch aus Montana, Hummer, Lachs und Austern aus den reichen Flussbetten auf Silas I sowie einer reichen Auswahl frisch am Vormittag geernteten und in gra ischen Mustern angeordneten Gemüses. Nachspeisen, die selbst einen politischen Gefangenen im Hungerstreik in Versuchung führen würden, umgaben einen dreistöckigen Baum aus geradezu sündig kalorienreicher, mit schimmerndem Marzipanschmuck behängter Torte. Sie fragte sich, weshalb es sie noch immer überraschte, was der Mann, mit dem sie die Ehe eingegangen war, zu bewerkstelligen vermochte. An jedem Ende des Ballsaals stand eine mit Tausenden von weißen Lämpchen und Silbersternen reich geschmückte zimmerhohe Tanne. Durch die ebenfalls vom Boden bis zur Decke reichenden Fenster war statt des trüben Schneeregens, der auf die Straßen platschte, das Hologramm einer verträumten Schneelandschaft, in der Paare auf einem silbrig weiß gefrorenen See gemächlich Schlittschuh liefen, während kleine Kinder auf schimmernd roten Schlitten eine sanfte Anhöhe hinunterrodelten, zu sehen. Derartige Details, dachte sie zärtlich, waren typisch Roarke. »He, Süße. Ganz allein auf diesem tollen Fest?« Als sie eine Hand auf ihrem Hintern spürte, zog sie eine Braue in die Höhe, drehte wie in Zeitlupe den Kopf und
bedachte McNab mit einem mörderischen Blick. Er wurde erst rot, dann weiß, und schließlich wieder rot. »Himmel! Lieutenant. Madam.« »Ihre Hand liegt auf meinem Hintern. Ich glaube nicht, dass Sie das wirklich wollen.« Er riss seine Hand zurück, als hätte er sich an ihrem Allerwertesten verbrannt. »Gott. Mann. Scheiße. Ich bitte um Verzeihung. Ich hatte Sie nicht erkannt. Ich meine…« Er stopfte die Hand, von der er hoffte, dass sie ihn sie behalten lassen würde, tödlich verlegen in die Tasche. »Ich wusste nicht, dass Sie das sind… Sie sehen…« Damit verließen ihn endgültig die Worte. »Ich glaube, Detective McNab versucht, dir ein Kompliment zu machen, Eve.« Roarke war wie aus dem Nichts neben den beiden aufgetaucht und musterte den panischen McNab, da er der Versuchung einfach nicht widerstehen konnte, mit einem scharfen Blick. »Nicht wahr, Ian?« »Ja. Das heißt…« »Wenn ich nämlich dächte, dass ihm klar war, dass er dir den Hintern tätschelt, müsste ich ihn umbringen.« Roarke streckte die Hand aus und schnipste ein imaginäres Stäubchen von der leuchtend roten Krawatte, die McNab trug. »Und zwar an Ort und Stelle.« »Oh, das hätte ich schon selbst erledigt«, kam Eves trockene Antwort. »Sie sehen aus, als ob Sie einen Drink vertragen könnten, Detective.«
»Ja, Madam, das könnte ich.« »Roarke, warum kümmerst du dich nicht um ihn? Mira ist gerade gekommen, und ich würde gerne mit ihr reden.« »Mit Vergnügen.« Roarke legte einen Arm um McNabs Schulter und drückte einmal kräftig, aber scherzhaft gemeint zu. Wobei McNab gerne darauf verzichtete, dem Ernstfall ausgeliefert zu sein. Der Weg durch den Raum dauerte länger, als Eve lieb war. Es überraschte sie, wie viele Menschen sich auf einer Party – selbst wenn sie kein bestimmtes Thema hatten – unterhalten wollten. Das war bereits Verzögerung genug. Dann jedoch entdeckte sie ihre Assistentin, die in der weiten, matt goldenen Hose und der kurzen ärmellosen Jacke so gar nicht nach Peabody aussah, und die zur Krönung des Ganzen noch am Arm von Charles Monroe durch die Tür geschlendert kam. Mira, dachte Eve, könnte noch ein wenig warten. »Peabody. « »Dallas. Wow, der Saal sieht wirklich umwerfend aus.« »Ja.« Eve wandte sich mit einem giftigen Blick an Charles. »Monroe.« »Sie haben wirklich ein phänomenales Heim, Lieutenant.« »Ich kann mich nicht daran erinnern, dass Ihr Name auf der Gästeliste stand.« Peabody errötete, straffte jedoch gleichzeitig die
Schultern. »Auf meiner Einladung stand, dass ich mit einem Begleiter kommen darf. « »Und dieser Begleiter ist er?«, fragte Eve und ixierte Charles. »Ja.« Und in verletztem Ton fügte er hinzu: »Delia weiß, womit ich meinen Lebensunterhalt verdiene.« »Aha, kriegt sie den Standardrabatt für Angehörige der Polizei?« »Dallas.« Entgeistert machte Peabody einen Schritt nach vorn. »Schon gut.« Charles zog sie sanft zurück. »Dies ist meine Freizeit, Dallas, und ich hoffe, einen angenehmen Abend zusammen mit einer attraktiven Frau, deren Gesellschaft ich genieße, zu verbringen. Wenn es Ihnen jedoch lieber ist, dass ich Ihr Haus wieder verlasse, brauchen Sie das nur zu sagen.« »Sie ist eine erwachsene Frau und kann tun und lassen, was sie will.« »Allerdings, das bin ich«, murmelte Peabody. »Eine Sekunde, Charles.« Sie packte Eve am Arm und zog sie ein Stück zur Seite. »Hey!« »Nein, Sie hey!« Zornig drückte Peabody Eve in eine Ecke. »Ich bin wohl kaum verp lichtet, Ihnen Rechenschaft über meine Freizeit und meinen privaten Umgang abzulegen, und Sie haben nicht das Recht, mich in
Verlegenheit zu bringen – « »Einen Augenblick – « »Ich bin noch nicht fertig.« Später sollte sich Peabody an den Ausdruck von Sprachlosigkeit und Schock in Eves Gesicht erinnern, im Moment jedoch war sie viel zu erregt, um darauf zu achten oder gar genauer einzugehen. »Was ich in meiner Freizeit unternehme, hat mit meiner Arbeit nicht das Mindeste zu tun. Wenn ich in meiner Freizeit Table-Dancing machen möchte, ist das einzig und alleine mein Problem. Wenn ich sechs Callboys dafür bezahlen möchte, dass sie mich sonntags vögeln, bis ich schiele, geht auch das nur mich alleine etwas an. Und wenn ich mit einem interessanten, attraktiven Mann ausgehen möchte, der aus irgendeinem Grund auch mit mir ausgehen will, dann lasse ich mir das von niemandem verbieten.« »Ich wollte doch nur – « »Ich bin immer noch nicht fertig«, knurrte Peabody mit zusammengebissenen Zähnen. »Bei der Arbeit sind Sie meine Vorgesetzte. Aber nach der Arbeit nicht. Wenn Sie nicht wollen, dass ich zusammen mit Charles auf Ihrem Fest erscheine, werden wir halt wieder gehen.« Als Peabody tatsächlich gehen wollte, hielt Eve sie am Handgelenk zurück. »Ich will nicht, dass Sie gehen.« Ihre Stimme war leise und emotionslos. »Ich entschuldige mich dafür, dass ich mich in Ihr Privatleben eingemischt habe. Ich hoffe, dass Ihnen dadurch nicht der Abend verdorben worden ist. Verzeihung.« Verletzt, zutiefst verletzt, ging sie davon, und ihr Magen
hatte sich noch immer nicht beruhigt, als sie endlich Dr. Mira fand. »Ich möchte Sie nicht vom Feiern abhalten, aber vielleicht hätten Sie ja ein paar Minuten für mich Zeit. Unter vier Augen.« »Selbstverständlich.« Als sie Eves dunkle Augen und die bleichen Wangen registrierte, legte Mira ihr besorgt die Hand auf den Arm. »Was ist passiert?« »Wie gesagt, vielleicht könnten wir uns kurz unter vier Augen unterhalten«, wiederholte sie und bemühte sich um Beherrschung. »Am besten in der Bibliothek.« »Oh.« Sobald sie das Zimmer betrat, klatschte Mira begeistert in die Hände. »Was für ein wunderbarer Raum. Oh, was für Schätze! Viel zu wenig Menschen wissen das Gewicht und den Geruch eines echten Buchs oder das Vergnügen, in einem kuscheligen Sessel zu sitzen und die Seiten umzublättern, statt immer nur nüchtern von einer Diskette abzulesen, heute noch zu schätzen.« »Roarke hat eine Vorliebe für Bücher«, erklärte Eve knapp und schloss hinter sich die Tür. »Es geht um die Begutachtung von Rudy. Einige der Schlüsse, die Sie daraus gezogen haben, stelle ich ernsthaft in Frage.« »Ich hatte mir bereits gedacht, dass Sie das würden.« Mira sah sich noch einmal bewundernd um, setzte sich jedoch schließlich in einen gemütlichen Ledersessel und strich sich den Rock ihres altrosafarbenen Abendkleides glatt. »Er ist nicht Ihr Killer, Eve, und er ist auch nicht das Monster, das Sie in ihm sehen wollen.«
»Es geht nicht darum, was ich in ihm sehen will.« »Seine Beziehung zu seiner Schwester macht Sie auf persönlicher Ebene betroffen. Aber sie ist nicht wie Sie. Sie ist kein kleines Kind, sie ist nicht wehrlos, und auch wenn ich glaube, dass er ein ungesundes Maß der Kontrolle über sie hat, wird sie von ihm zu nichts gezwungen.« »Er benutzt sie.« »Ja, und sie ihn auch. Es ist eine Beziehung auf Gegenseitigkeit. Ich stimme Ihnen zu, wenn Sie behaupten, dass er von ihr besessen ist. Er ist sexuell vollkommen unreif, doch genau der Grund, aus dem Sie ihn von der Liste Ihrer Verdächtigen streichen sollten, ist meine feste Überzeugung, dass er außer im Zusammensein mit seiner Schwester impotent ist.« »Er wurde erpresst, und der Erpresser wurde ermordet. Ein Kunde hat für seine Schwester geschwärmt, und auch dieser Kunde wurde grausam umgebracht.« »Ja, und ich gebe zu, dass ich genau deshalb anfangs auch durchaus bereit war, ihn als potenziellen Täter anzusehen. Aber das ist er nicht. Er hat ein gewisses Gewaltpotenzial, wenn er erregt ist oder wenn man ihn bedroht. Aber dieses Potential blitzt immer nur kurz auf, ist spontan. Er ist nicht fähig, Morde wie die, in denen Sie ermitteln, zu planen, vorzubereiten und anschließend wirklich zu begehen.« »Dann müssen wir ihn also einfach laufen lassen?« Eve wandte sich schnaubend ab und tigerte durch das Zimmer.
»Inzest verstößt gegen das Gesetz, aber es muss bewiesen sein, dass er erzwungen worden ist. Das ist bei den beiden nicht der Fall. Ich verstehe Ihr Bedürfnis, ihn zu strafen und Ihre Schwester von ihm zu befreien.« »Hier geht es nicht um mich.« »Oh, das weiß ich.« Da es ihr im Herzen wehtat, Eve derart leiden zu sehen, nahm sie ihre Hand, zwang sie stehen zu bleiben und bat: »Hören Sie auf, sich für etwas zu bestrafen, an dem Sie völlig unschuldig sind.« »Ich weiß, ich habe mich aus rein privaten Gründen auf ihn konzentriert.« Plötzlich sank Eve erschöpft ebenfalls in einen Sessel. »Und weil ich das getan habe, habe ich vielleicht irgendetwas übersehen, was mich auf die Spur des wahren Täters hätte bringen können.« »Sie gehen bei Ihrer Arbeit völlig logisch vor. Sie mussten doch ausschließen, dass er der Täter war.« »Aber dafür habe ich zu lange gebraucht. Und immer, wenn mir mein Instinkt gesagt hat, dass er der Falsche ist, habe ich nicht darauf gehört. Weil ich dauernd nur mich selbst gesehen habe. Ich habe Piper angesehen und gedacht: So könnte es mir auch gehen. Wenn ich den Hurensohn damals nicht getötet hätte, könnte es mir heute ganz genauso gehen.« Sie vergrub den Kopf zwischen den Händen. »Himmel, ich mache alles falsch. Ich mache einfach alles falsch.« »Inwiefern?«
»Es hat keinen Zweck, darüber zu sprechen.« Mira strich Eve sanft über das Haar. »Inwiefern?« »Ich komme ja noch nicht einmal mit einem normalen Weihnachtsfest zurecht. Bereits bei dem Gedanken daran, was man alles bedenken, was man alles an Geschenken kaufen, wie man sich verhalten muss, krieg ich Magenschmerzen.« »Oh, Eve.« Mira schüttelte den Kopf und ing gleichzeitig leise an zu glucksen. »Weihnachten treibt fast alle Menschen halbwegs in den Wahnsinn. Das ist wiederum total normal.« »Für mich nicht. Ich musste mir noch nie Gedanken über so was machen. Ich kannte noch nie so viele Menschen, die mir etwas bedeuten.« »Jetzt haben Sie sie und werden Sie bestimmt nicht so einfach wieder los«, erklärte Mira lächelnd und strich Eve, weil es ihr eine Freude war, noch einmal übers Haar. »Wen würden Sie denn loswerden wollen?« »Ich glaube, mit Peabody habe ich es mir bereits verscherzt.« Angewidert sprang Eve wieder auf die Füße. »Sie kommt einfach mit einem Callboy hier hereinmarschiert. Oh, im Grunde ist er ein durchaus netter Kerl, aber auch wenn er noch so super aussieht, intelligent und amüsant ist, bleibt er ein gottverdammter Callboy.« »Womöglich beunruhigt es Sie«, schlug die Psychologin vor, »dass Sie ihn einerseits sympathisch inden, und andererseits verachten Sie ihn für die Tätigkeit, mit der er
seinen Lebensunterhalt verdient.« »Es geht hierbei nicht um mich. Es geht um meine Assistentin. Er behauptet, er will eine richtige Beziehung, und sie himmelt ihn an und ist total sauer auf mich, weil ich ihr gesagt habe, wie ich die Sache sehe.« »Das Leben ist nicht immer einfach, Eve, und ich fürchte, Sie haben sich inzwischen ein Leben aufgebaut, in dem es neben einer Reihe wunderbarer Gefühle eben auch all die dazugehörigen Kon likte, Probleme und Verletzungen gibt. Wenn sie wütend auf Sie ist, liegt das einzig daran, dass es keinen Menschen gibt, den sie mehr bewundert oder respektiert.« »Himmel.« »Wenn man geliebt wird, lädt man damit eine große Verantwortung auf sich. Sie werden sich mit ihr versöhnen, denn sie ist Ihnen wirklich wichtig.« »Allmählich gibt es, verdammt noch mal, zu viele Menschen, die mir wirklich wichtig sind.« Plötzlich erschien auf dem Bildschirm des hausinternen Links Summersets verkniffenes Gesicht. »Lieutenant, Ihre Gäste haben bereits nach Ihnen gefragt.« »Hauen Sie ab.« Als Mira ein Lachen unterdrückte, verzog sie den Mund zu einem schmalen Lächeln. »Wenigstens gibt es einen Menschen, über dessen Gefühle ich mir keine Gedanken machen muss. Aber ich hätte Ihnen nicht den Abend verderben sollen.« »Das haben Sie auch nicht getan. Gespräche mit Ihnen
sind für mich stets ein Genuss.« »Tja…« Eve wollte die Hände in die Hosentaschen stecken, als ihr ein iel, dass sie ja keine Hose trug. Leise seufzend schaute sie Mira an. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, noch eine Minute auf mich zu warten? Ich möchte kurz etwas aus meinem Arbeitszimmer holen.« »In Ordnung. Darf ich mir so lange die Bücher ansehen?« »Selbstverständlich, so viel Sie wollen.« Da sie keine Zeit verlieren wollte, nahm Eve statt der Treppe dieses Mal den Lift. In weniger als drei Minuten war sie wieder da, Mira jedoch saß bereits, in ein Buch vertieft, erneut in einem Sessel. »Jane Eyre. « Geradezu widerwillig legte sie das Werk zur Seite. »Das habe ich nicht mehr gelesen, seit ich ein Mädchen war. Es ist so romantisch, dass es einem direkt zu Herzen geht.« »Sie können es sich ausleihen, wenn Sie wollen. Roarke hat sicher nichts dagegen.« »Ich habe eine eigene Ausgabe davon. Ich habe mir nur nie die Zeit genommen, das Buch noch mal zu lesen. Trotzdem vielen Dank.« »Ich wollte Ihnen das hier geben. Es ist noch etwas früh, aber… vielleicht sehe ich Sie ja bis Weihnachten nicht mehr.« Unbeholfen hielt sie Mira die elegant verpackte kleine Schachtel hin. »Oh, wie nett von Ihnen.« Mit unverhohlener Freude
nahm Mira das Paket entgegen. »Darf ich es jetzt schon aufmachen?« »Klar, so macht man es doch wohl, oder?« Eve trat ungeduldig von einem Bein aufs andere, während Mira vorsichtig die Schleife aufzog und die Seiten des Papiers sacht zur Seite zog. »Meine Familie treibe ich ebenfalls mit diesem Verhalten in den Wahnsinn«, erklärte sie mit einem leisem Lachen. »Ich bringe es einfach nicht übers Herz, ein Päckchen achtlos aufzureißen, denn ich hebe das Papier und die Bänder sorgfältig auf. Inzwischen habe ich schon einen ganzen Schrank voll davon, nur dass ich regelmäßig vergesse, die Sachen jemals zu benutzen. Aber…« Sie brach ab, als sie den Deckel der Schachtel abnahm und die Parfüm lasche fand. »Wie hübsch. Und es ist sogar mein Name eingraviert.« »Es ist eine Art personalisierter Duft. Man beschreibt dem Typen das Aussehen und die Persönlichkeit des Menschen, und dann kreiert er einen individuellen Duft.« »Charlotte«, murmelte Mira gerührt. »Ich war mir gar nicht sicher, dass Sie meinen Vornamen kennen.« »Ich schätze, ich habe ihn irgendwann einmal aufgeschnappt.« Mira musste blinzeln. »Das ist ein herrlich persönliches Geschenk.« Sie stellte die Flasche an die Seite, stand auf und nahm Eve vor Rührung in die Arme. »Vielen herzlichen Dank.«
Erfreut und gleichzeitig verlegen blieb Eve stocksteif stehen. »Freut mich, dass es Ihnen gefällt. Ich bin noch reichlich unbeholfen auf dem Gebiet der Schenkerei.« »Aber Sie haben Ihre Sache hervorragend gemacht.« Sie trat einen Schritt zurück und umfasste mit beiden Händen Eves Gesicht. »Ich bin wirklich stolz auf Sie. Und jetzt muss ich mir die Nase pudern, denn eine andere Weihnachtstradition von mir ist es, immer ein paar Tränen über besonders gelungene Geschenke zu vergießen. Ich weiß, wo die Toiletten sind«, fügte sie hinzu und tätschelte Eve liebevoll die Wange. »Gehen Sie, tanzen Sie mit Ihrem Mann, und trinken Sie etwas zu viel von dem köstlichen Champagner. Die Welt draußen hat bis morgen Zeit.« »Ich muss ihn aufhalten.« »Das werden Sie auch tun. Aber heute Abend brauchen Sie Ihr Leben. Gehen Sie, inden Sie Roarke, und nehmen Sie Ihr Leben mit aller Freude und schwungvoll in die Hand.«
17 Eve nahm den Vorschlag an. Es war gar nicht so übel, überlegte sie, sich ein wenig zu betrinken, in den Armen ihres Mannes zu einer verträumten Melodie durch einen mit Farben, Licht und Duft erfüllten Raum zu schweben und alles Bedrohliche zu vergessen. »Damit kann ich durchaus leben«, murmelte sie. »Hmm?« Als seine Lippen sanft ihr Ohr berührten, lächelte sie. »Damit kann ich leben«, wiederholte sie und zog ihren Kopf weit genug zurück, um ihm ins Gesicht zu blicken, als sie erklärte: »Mit all dem Zeug von dir.« »Tja.« Seine Hände strichen über ihren Rücken. »Das ist gut zu wissen.« »Und du hast echt eine Menge Zeug.« »Allerdings, jede Menge.« Und, dachte er mit einem amüsierten Blitzen in den Augen, eine leicht beschwipste Frau. »Manchmal ist es mir unheimlich. Jetzt gerade aber nicht. Jetzt ist es einfach schön. « Seufzend rieb sie ihren Kopf an seiner Wange. »Was ist das für Musik?« »Gefällt sie dir?« »Ja, sie ist herrlich sinnlich.« »Zwanzigstes Jahrhundert, überwiegend vierziger
Jahre. Die Zeit der so genannten Big Bands. Das hier ist Tommy Dorseys Band mit der >Moonlight Serenade<.« »Das ist ja eine Million Jahre her.« »Fast.« »Woher kennst du alle diese Sachen?« »Eventuell bin ich in der falschen Zeit geboren.« Als die Musik anschwoll, schmiegte sie sich weich in seine Arme und seufzte wohlig auf. »Nein, du hast genau die richtige Zeit erwischt.« Ihren Kopf an seiner Schulter, blickte sie sich um. »Alle sehen glücklich aus. Feeney tanzt mit seiner Frau. Mavis sitzt auf Leonardos Schoß dort drüben in der Ecke zusammen mit Mira und ihrem Mann, und sie alle lachen. McNab versucht sein Glück bei allen anwesenden Frauen und registriert, während er deinen Scotch in sich hineinkippt, verstohlen, was Peabody währenddessen treibt.« Roarke beobachtete nun McNab ebenfalls und zog eine Braue in die Höhe. »Jetzt hat Trina ihn in ihren Fängen. Himmel, wenn er sich nicht vorsieht, frisst sie ihn mit Haut und Haaren auf.« Die Musik wurde schneller, und Eve blieb vor Staunen schier der Mund offen stehen. »Heiliges Kanonenrohr, guck mal, was der Sturschädel da macht.« Grinsend legte Roarke eine Hand um ihre Taille und zog sie an seine Seite. »Ich glaube, das heißt Jitterbug.« Verblüfft verfolgte sie, wie der Laborchef Nadine Fürst
über die Tanz läche und im Kreis herumwirbelte und dann zu sich zerrte. »Aha. So schnell habe ich ihn im Labor noch nie erlebt. Wow!« Mit weit aufgerissenen Augen verfolgte sie, dass Dickie die Reporterin zwischen seinen Beinen durchzog, worauf sie fröhlich lachte und die Menge begeistert applaudierte. Eve grinste und lehnte sich an ihren Mann. »Sieht aus, als hätten die beiden jede Menge Spaß.« »Willst du es vielleicht mal versuchen?« »O nein.« Trotzdem wippte sie im Rhythmus der Musik auf ihren Füßen. »Ich gucke lieber zu.« »Das ist ja wohl der totale Wahnsinn.« Leonardo im Schlepptau, sprang Mavis begeistert auf die beiden zu. »Wer hätte gedacht, dass sich Nadine derart bewegen kann. Das ist eine Mega-Party, Roarke. Echt cool.« »Danke. Sie sehen außerordentlich schick aus, Mavis.« »Wir nennen es das fröhliche Gewand.« Sie lachte und machte eine schnelle Drehung, teilte dadurch die vielfarbigen Stoffstreifen, die von ihrer Brust bis auf ihre Knöchel ielen, und enthüllte dadurch die passend zu ihrem wild aufgetürmten weizenblond schimmernden Haar mit Goldpuder bestäubte Haut. »Leonardo fand, dass dein Kleid etwas eleganter wirken sollte«, erklärte sie Eve. »Niemand bringt meine Entwürfe besser zur Geltung als Sie und Mavis.« Leonardo lächelte sie verzückt an. »Frohe Weihnachten, Dallas.« Dann beugte er sich zu ihr
hinunter, küsste sie zärtlich auf die Wange und erklärte: »Wir haben was für Sie. Nur ein kleines Zeichen unserer Zuneigung, mehr nicht.« Er drückte Eve das Päckchen in die Hände, das bisher hinter seinem Rücken versteckt gewesen war. »Mavis und ich haben es Ihnen zu verdanken, dass wir unser erstes gemeinsames Weihnachtsfest feiern dürfen.« Seine goldenen Augen wurden feucht. Da sie nicht wusste, was sie sagen sollte, stellte Eve das Päckchen auf einen der Büfett-Tische und packte es vorsichtig aus. Unter dem Papier kam ein mit Schnitzwerk verziertes, auf Hochglanz poliertes Holzkästchen zum Vorschein, dessen Messingbeschläge im Licht der Lampen glänzten. »Das ist wunderschön.« »Mach es auf«, drängte Mavis und hüpfte aufgeregt um sie herum. »Erzähl ihnen, was es bedeutet, Leonardo.« »Das Holz steht für Freundschaft, das Metall für Liebe.« Er wartete, bis Eve den Deckel öffnete und die beiden mit Seide ausgelegten kleinen Fächer sah. »Eine Hälfte ist für Erinnerungen und die andere für Wünsche.« »Das hat er sich selber ausgedacht.« Mavis drückte begeistert Leonardos Pranke. »Ist er nicht einfach toll?« »Ja.« Eve schaffte es zu nicken. »Es ist ehrlich ein fantastisches Geschenk.« Da er sie verstand, legte Roarke bekräftigend eine Hand auf ihre Schulter und reichte die andere Leonardo.
»Ein wunderbares Geschenk. Regelrecht perfekt. Danke.« Lächelnd gab er Mavis einen Kuss. »Ihnen beiden.« »Jetzt könnt ihr euch an Weihnachten gemeinsam etwas wünschen.« Gut gelaunt schlang Mavis Eve die Arme um den Hals, zog sie eng an ihre Brust, fuhr wieder herum zu Leonardo und bat: »Lass uns tanzen.« »Ich bin richtig gerührt«, murmelte Eve, als ihre Freunde sich entfernten. »Dies ist auch genau die richtige Jahreszeit dazu.« Er umfasste ihr Kinn und sah ihr lächelnd in die tränenfeuchten Augen. »Ich liebe es, dir deine Gefühle anzusehen.« Sie schlang eine Hand um seinen Nacken, zog seinen Kopf zu sich herab und gab ihm einen langen, warmen, zärtlich liebevollen Kuss. Dann trat sie lächelnd einen Schritt zurück. »Das ist die erste Erinnerung für unsere Schachtel.« »Lieutenant.« Eve drehte sich verlegen um. Es war ihr peinlich, dass Whitney sie mit feuchten Augen und vom Küssen weichen Lippen überraschte. »Sir.« »Tut mir Leid, dass ich Sie stören muss.« Er bedachte Roarke mit einem entschuldigenden Blick. »Aber ich habe gerade die Mitteilung erhalten, dass Piper Hoffman angegriffen worden ist.« Schlagartig war Eve ganz Polizistin. »Wissen Sie, wo sie
ist?« »Sie wird gerade ins Hayes Memorial Hospital gebracht. Bisher ist nicht bekannt, in welchem Zustand sie sich be indet. Gibt es hier ein Zimmer, in dem ich Sie und Ihre Leute über das, was wir bisher wissen, unterrichten kann?« »Mein Arbeitszimmer.« »Während du deine Leute zusammentrommelst, bringe ich den Commander schon mal hin«, bot Roarke mit ruhiger Stimme an. »Der Überfall fand in ihrer Wohnung oberhalb der Partnervermittlung statt«, begann Whitney seinen Bericht. Aus Gewohnheit hatte er sich hinter dem Schreibtisch aufgebaut, nahm jedoch nicht Platz. »Bisher gehen wir davon aus, dass sie alleine war. Der Beamte, der als Erster dort war, meinte, ihr Bruder hätte den Täter anscheinend überrascht.« »Hat er den Täter identifiziert?« »Noch nicht. Zurzeit ist er im Krankenhaus bei seiner Schwester. Die Wohnung wird bewacht. Ich habe die uniformierten Beamten angewiesen, nichts anzurühren und zu warten, bis Sie kommen.« »Ich nehme Feeney mit. Erst fahren wir ins Krankenhaus.« Sie merkte, dass Peabody zusammenzuckte, blickte jedoch weiter ihren Vorgesetzten an. »Ich will nicht, dass die Tarnung der beiden verdeckt ermittelnden Beamten auf liegt. Ich möchte, dass sie hier bleiben und
warten.« »Das bestimmen Sie«, antwortete Whitney, da er das von ihr geplante Vorgehen für durchaus angemessen hielt. »Dieses Mal haben wir Zeugen, und vor allem ist er auf der Flucht. Er hat Angst. Er kann nicht sicher wissen, dass seine Tarnung nicht aufge logen ist. Und wenn Piper überlebt, war dies sein dritter Fehlschlag.« Sie wandte sich an ihre Leute. »Ich muss mich noch schnell umziehen. Feeney, ich bin in fünf Minuten unten. Peabody, rufen Sie im Krankenhaus an und, versuchen Sie rauszu inden, in was für einem Zustand Piper ist. McNab, ich lasse Ihnen von einem uniformierten Beamten die Überwachungsdisketten bringen und möchte, dass Sie sie, bevor wir zu der Wohnung fahren, prüfen.« »Dallas«, sagte Whitney, als sie bereits zum Fahrstuhl hastete. »Wir müssen diesen Bastard unbedingt erwischen.« »Eines Tages«, meinte Feeney, als er und Eve den Krankenhaus lur hinunterliefen, »wird es mir sicher gelingen, eine eurer Partys gemeinsam mit meiner Frau zu verlassen.« »Gräm dich nicht, Feeney. Vielleicht haben wir gerade den Durchbruch erzielt, der es uns ermöglicht, den Fall noch heute abzuschließen und der dir dann gemütliche Weihnachten beschert.« »Vielleicht.« Durch eine offene Tür hörten sie ein Stöhnen, und Feeney schüttelte sich. »Hier sind für meinen Geschmack viel zu viele Kranke und Verletzte. So, wie es
heute Abend auf den Straßen aussieht, werden vermutlich massenhaft neue Unfallopfer angeschleppt.« »Was für ein aufmunternder Gedanke. Da ist Rudy. Ich kümmere mich um ihn. Guck, ob du irgendwo den Arzt auftreiben kannst, von dem Piper behandelt worden ist, damit er dir Auskunft über ihren Zustand gibt.« Ein Blick auf den auf einem Stuhl zusammengesunkenen Mann genügte, dass Feeney bereitwillig den Auftrag annahm. »Ich mache mich am besten sofort auf den Weg.« Sie trennten sich, und Eve steuerte geradewegs auf Rudy zu. Er starrte reglos auf ihre Stiefel, hob dann in Zeitlupe den Kopf und sah sie mit erloschenen Augen an. »Er hat sie vergewaltigt. Hat ihr wehgetan und sie vergewaltigt. Er hat sie gefesselt. Ich habe gehört, wie sie geweint hat. Ich habe gehört, wie sie geweint und gebettelt hat, dass er endlich aufhört.« Eve setzte sich neben ihn. »Wer war es?« »Ich weiß nicht. Ich habe ihn nicht gesehen. Ich glaube – er hat mich gehört. Er hat offenbar gehört, dass ich zurückgekommen bin. Ich bin ins Schlafzimmer gerannt und habe sie gesehen. O Gott, o Gott, o Gott.« »Hören Sie auf«, fuhr sie ihn an, packte seine Arme und zog seine Hände von seinem Gesicht. »Dadurch helfen Sie ihr nicht. Sie sind reingekommen und haben Sie gehört. Wo waren Sie?«
»Beim Einkaufen. Ich habe Weihnachtseinkäufe gemacht.« Eine einzelne Träne glitt aus seinem Augenwinkel und lief ihm über die Wange. »Sie hatte eine Skulptur gesehen, eine Fee an einem Teich. In der ganzen Wohnung hatte sie kleine Hinweise auf ihren Wunsch verstreut. Eine kleine Skizze, die Adresse der Galerie. Unser Leben war vorher so hektisch, dass ich bis heute Abend keine Zeit gefunden hatte, um einkaufen zu gehen. Ich hätte sie niemals alleine lassen dürfen.« Sie könnte sein Alibi überprüfen, um ganz sicherzugehen, dass nicht der Mann, neben dem sie gerade saß, selbst der Täter war. Piper hatte doch bestimmt gewusst, wie gefährlich es war, irgendwem zu öffnen. Aus welchem Grund also hätte sie ihrem Angreifer selber Einlass in ihre Privatwohnung gewährt? »War die Tür gesichert, als Sie nach Hause kamen?« »Ja, ich habe den Zugangscode eingeben müssen. Dann habe ich sie weinen und um Hilfe rufen gehört und bin sofort ins Schlafzimmer gerannt.« Er rang erstickt nach Luft, schloss die Augen und ballte seine Fäuste. »Sie lag auf dem Bett. Sie war nackt und an Händen und Füßen gefesselt. Ich glaube – ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, ich habe aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrgenommen. Eventuell habe ich sie auch nur gespürt. Dann hat mich jemand gestoßen, und ich bin gestürzt. Mein Kopf.« Geistesabwesend hob er eine Hand an die Seite seines Schädels. »Mein Kopf ist irgendwo aufgeschlagen, vielleicht
auf dem Bettgestell? Ich weiß nicht. Wahrscheinlich war ich ein paar Sekunden benommen. Lange kann es nicht gewesen sein, denn ich habe gehört, wie er davongelaufen ist. Ich habe ihn nicht verfolgt. Ich hätte ihn verfolgen sollen, aber sie lag da, und ich konnte an nichts anderes denken als an sie. Sie hat nicht mehr geweint. Ich dachte… ich dachte, sie wäre tot.« »Sie haben einen Krankenwagen gerufen?« »Erst habe ich sie losgebunden und eine Decke über sie gelegt. Das musste ich einfach tun. Ich habe es nicht ertragen… Dann habe ich angerufen. Ich konnte sie nicht wecken. Ich habe sie nicht wach bekommen. Sie wurde nicht wach. Und jetzt lassen sie mich nicht zu ihr.« Er schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte. Kurz darauf kam Feeney, sie stand auf und passte ihn auf halbem Weg den Korridor herunter ab. »Sie liegt im Koma«, begann er mit seinem Bericht. »Die Ärzte denken, dass es weniger an den Verletzungen als an dem extremen Schock liegt, den sie erlitten hat. Sie wurde vergewaltigt. Sie hat ein paar Prellungen, und die Handgelenke und Knöchel weisen Abschürfungen auf. Sie haben eine toxikologische Untersuchung durchgeführt. Der Kerl hatte ihr dasselbe Beruhigungsmittel wie den anderen verpasst. Die Tätowierung ist auf dem rechten Oberschenkel angebracht.« »Wie sehen ihre Heilungschancen aus?« »Sie sagen, sie können nicht viel tun. Ich habe jede
Menge medizinischer Fachausdrücke aufgezählt bekommen, aber im Klartext heißt das wohl, dass sie sich völlig in sich zurückgezogen hat und, wenn überhaupt, nur aus eigenem Antrieb früher oder später wieder auftaucht.« »Okay, hier gibt es für uns nichts mehr zu tun. Postieren wir einen Beamten vor der Tür zu ihrem Zimmer, und setzen wir einen anderen auf ihren Bruder an.« »Hältst du ihn noch immer für den Täter?« Sie schaute zurück auf den lautlos schluchzenden Rudy, und zu ihrer Überraschung rief der Anblick echtes Mitleid in ihr wach. »Nein, aber trotzdem behalten wir ihn besser weiterhin im Auge.« Sie zog ihr Handy aus der Tasche und gab auf dem Weg zum Fahrstuhl den entsprechenden Befehl. »Der Typ ist ziemlich fertig«, meinte Feeney. »Ich frage mich, ob er um seine Schwester weint oder um seine Geliebte.« »Ich frage mich, ob er das unterscheiden kann.« Sie betraten den Lift und fuhren ins Erdgeschoss hinunter. »Also, woher hat unser Mann gewusst, dass sie heute Abend alleine in der Wohnung war? Wenn er gedacht hätte, dass Rudy da ist, hätte er es nicht versucht. Das wäre eine allzu große Abweichung von seinem bisherigen Muster. Er hat also gewusst, dass sie alleine war.« »Jemand, den sie kannte. Vielleicht hat er die Wohnung beobachtet, oder er hat es durch einen Anruf überprüft.«
»Ja, er hat sie gekannt. Er kennt sie beide. Und ich glaube, dass sie keins der anfangs von ihm ins Visier genommenen Opfer ist.« Sie verließen den Fahrstuhl und gingen zum Ausgang. »Er weicht von seinem ursprünglichen Muster ab. Piper steht auf keiner Partnerliste. Er hat sie genommen, damit wir uns weiter auf Rudy konzentrieren. Zumindest sieht es für mich momentan so aus.« Sie machte eine kurze Pause, während der sie in ihren Wagens einstieg. »Er weiß, dass wir Rudy vernommen haben und dass ich ihn gerne als den Mörder sehen würde. Außerdem braucht er Ersatz für Cissy und die Tänzerin, und er weiß, dass wir, wenn er sich Piper vornimmt, noch mal Rudy überprüfen. Das ist einfach logisch. Hier ging es nicht um Liebe, sondern um eine Art Rückversicherung.« Feeney lehnte sich zurück und grub in der Tasche seiner Jacke nach der Tüte mit den Nüssen. Dann jedoch iel ihm ein, dass ihm seine Frau verboten hatte, Nüsse mit auf die Party zu nehmen, und er schnaubte leise. »Er kennt sie, und sie kennt ihn. Vielleicht hat sie ihm deshalb geöffnet.« »Einem Fremden und vor allem jemanden in einem Weihnachtsmannkostüm hätte sie gewiss nicht geöffnet. McNab muss so schnell wie möglich die Disketten durchsehen.« »Weißt du, was ich glaube, Dallas? Ich glaube, dass wir gar keine Disketten finden.«
Was tatsächlich stimmte. Nach Aussage des Beamten, der die Wohnungstür bewachte, war die Überwachungskamera bereits seit neun Uhr fünfzig nicht mehr in Funktion. »Es gibt nirgends Spuren eines gewaltsamen Eindringens in das Appartement«, meinte Eve, nachdem sie die Schlösser und den Scanner gründlich geprüft hatte. »Sie ist an die Tür gegangen, hat durch den Spion gesehen, ein bekanntes Gesicht im Flur entdeckt und aufgeschlossen. Weshalb auch von der internen Überwachungskamera sicher nichts aufgenommen worden ist.« Sie betrat die Wohnung. Ein weißer, mit Ketten und Kugeln aus Kristall behängter Baum stand vor dem Fenster, durch die man auf die Fifth Avenue hinuntersah. Berge hübsch verpackter Päckchen waren unter dem Baum verteilt, und auf der Spitze thronte eine weiße Taube statt des traditionellen Engels oder Sterns. Zwischen dem Eingang und der ersten, nach rechts abgehenden Tür waren Einkaufstüten auf dem Fußboden verstreut. Sie konnte direkt sehen, wie Rudy vom Einkaufen zurückkam, seine Schwester hörte und die Tüten im Laufen fallen ließ. Sie folgte dieser Spur, ging quer über den weichen, weißen Teppich und lief an einer zweiten, um einen Fernseher verteilten Sitzgruppe vorbei. Auch hier war alles weiß: die mit kuscheligem Stoff bezogenen Stühle, die glänzenden Tische, die süß duftenden, frischen Blumen in den durchsichtigen Schalen
oder Vasen, die es in allen Ecken gab. Es war, als träte man in eine Wolke. Es nahm einem die Luft. Der Fitnessraum, der sich hinter dem Wohnbereich befand, war mit einem in den Boden eingelassenen Whirlpool, Hanteln, einer Stimmungsröhre und einem Stepper ausreichend bestückt. »Die Schlafzimmer liegen ganz hinten«, informierte Eve Feeney. »Selbst wenn er gerannt ist, hat Rudy also sicher ein paar Sekunden von der Wohnungstür bis dorthin gebraucht.« Vor den Fenstern des großen Schlafzimmers, das sie betraten, war der Sichtschutz aktiviert, sodass man zwar von innen die Umgebung betrachten konnte, jedoch von außen niemand etwas sah. Auf der meterlangen Kommode entlang einer der Wände waren Hunderte von Flaschen, Töpfen und Tuben ordentlich nebeneinander aufgereiht. Für ein regelrechtes Fest der Eitelkeiten, dachte Eve, als sie zwei gepolsterte Hocker Seite an Seite vor dem von diversen Lampen gerahmten, dreiteiligen Spiegel stehen sah. Sie malten sich sogar im Duett die Gesichter an… Beim Anblick des herzförmigen Bettes hätte sie am liebsten mit den Augen gerollt, und als sie das sanft geschwungene Chromgestell, das die Matratze wie Zuckerguss umgab, bemerkte, hätte sie um ein Haar gestöhnt. Von den vier Ecken baumelten schlaff die Seile,
mit denen Piper gefesselt worden war. »Er hat sein Spielzeug hier gelassen.« Eve ging in die Hocke und spähte in das auf dem Boden liegende, geöffnete Paket. »Hier drin sind alle möglichen Sachen, Feeney. Zum Beispiel die Spritze.« Sie hielt sie mit zwei versiegelten Fingern in die Luft. »Die Farbe für die Tätowierung und dann noch eine Schachtel in der Schachtel.« Sie nahm den ungefähr sechzig Zentimeter langen Kasten in die Hand, öffnete den Deckel und zog drei bis zum Rand mit Natural-Perfection-Kosmetika gefüllte Schubfächer heraus. »Ich habe von diesem Kram nicht wirklich Ahnung, aber für mich sieht es wie das Handwerkszeug eines Pro is aus.« »Ho, ho, ho.« Feeney hob einen schneeweißen Bart vom Boden auf. »Vielleicht war er ja doch verkleidet.« »Ich schätze, dass er sie erst betäubt und sich dann umgezogen hat. Aus Gewohnheit.« Eve setzte sich auf ihre Fersen. »Er kommt rein, verpasst ihr das Beruhigungsmittel, fesselt sie und steigt dann in aller Ruhe in sein Weihnachtsmannkostüm. Dann malt er ihr die Tätowierung auf, schminkt sie seiner Vorstellung entsprechend und räumt alles ordentlich wieder in die Schachtel. Er ist ein ordentlicher Mensch. Als sie wieder zu sich kommt und mitkriegt, was passiert…«
Mit zusammengekniffenen Augen starrte Eve auf das zerwühlte Bett und versuchte sich bildlich vorzustellen, wie alles abgelaufen war. »Sie kommt also wieder zu sich, ist desorientiert, verwirrt, versucht verzweifelt, sich von den Fesseln zu befreien. Sie kennt ihn. Es versetzt ihr einen Schock, macht ihr Angst, denn sie weiß, was er mit ihr vorhat. Vielleicht spricht er mit ihr, während er ihr die Kleider aufschneidet. « »Sieht aus, als wäre das hier mal ein Morgenmantel gewesen.« Feeney hielt ein paar ordentliche Streifen eines dünnen, weißen Stoffes in die Luft. »Ja, sie ist zu Hause und macht es sich bequem. Wahrscheinlich ist sie aufgeregt, weil sie weiß, dass ihr Bruder unterwegs ist, um Weihnachtsgeschenke für sie zu kaufen. Jetzt aber ist sie nackt, panisch und starrt in dieses Gesicht, das sie schon lange kennt. Sie will nicht glauben, dass es tatsächlich passiert. Man will es nie glauben.« Und trotzdem geschah es. Kalter Schweiß rann ihr über den Rücken. Man konnte nichts dagegen tun. »Dann zieht er sich die Kleider aus. Ich wette, er legt sie sogar ordentlich zusammen. Auch den Bart braucht er nicht mehr. Ihr gegenüber braucht er sich nicht zu verkleiden.« Also sah sie seine brennenden Augen und sein verzerrtes Gesicht. »Er ist erregt. Es macht ihn an, dass sie ihn kennt. Er braucht und will keine Verkleidung. Inzwischen bildet er sich wirklich ein, dass er sie liebt. Sie gehört ausschließlich
ihm. Sie ist hil los. Er hat die Macht. Und die Macht wird noch größer dadurch, dass sie ihn, als sie ihn an leht aufzuhören, bei seinem Namen nennt. Doch er hört nicht auf. Um nichts in der Welt will er au hören. Er rammt sich stattdessen immer wieder tief in sie hinein. Immer, immer wieder, bis er sie beinahe zerreißt.« »Hey, hey.« Erschüttert ging Feeney ihr gegenüber in die Hocke und legte ihr die Hände auf die Schultern. Ihre Augen waren glasig, und ihr Atem kam in schnellen, ungleichmäßigen Stößen. »Immer mit der Ruhe.« »Tut mir Leid.« Sie blinzelte. »Schon gut.« Unbeholfen tätschelte er ihr die Wange. Er wusste, was ihr als Kind angetan worden war, denn Roarke hatte es ihm gesagt. Doch war er sich nicht sicher, ob Eve das wusste, und nahm an, es wäre für sie beide besser so zu tun, als hätte er keine Ahnung. »Manchmal lässt man die Dinge einfach zu nahe an sich heran.« »Ja.« Sie fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund. Die Luft war erfüllt vom Geruch von Sex, Schweiß und hilflosem Entsetzen. »Möchtest du, hm, ein Glas Wasser oder so?« »Nein, schon gut. Es ist nur… Ich hasse Sexualverbrechen jeder Art. Lass uns die Sachen einpacken und untersuchen. Vielleicht haben wir Glück und inden ein paar Fingerabdrücke von dem Kerl.« Etwas ruhiger stand sie wieder auf. »Dann werden wir sehen,
was die Leute von der Spurensicherung noch alles inden. Warte.« Plötzlich legte sie ihre Hand auf Feeneys Arm. »Etwas fehlt.« »Was?« »Fünf – dies ist die Nummer fünf – was brauchen wir also?« Sie ging das Lied im Geiste durch. »Fünf goldene Ringe. Wo sind die fünf goldenen Ringe?« Sie durchsuchten alle Zimmer, und als sie nichts fanden, erklärte Eve entgeistert: »Er hat das Schmuckstück mitgenommen. Er braucht eine neue Nummer fünf. Aber sein Werkzeug hat er hier gelassen. Ich werde unten bei Alle schönen Dinge gucken, ob er dort eingebrochen ist. Kannst du die Arbeit hier beenden und warten, bis die Spurensicherung kommt?« »Ja. Pass auf dich auf, Dallas.« »Er ist weg, Feeney. Er sitzt längst wieder in seinem dunklen Loch.« Trotzdem war sie vorsichtig, als sie sich in die Etage des Schönheitssalons begab. Die eleganten Türen des Salons wiesen keine Spuren eines Einbruchs auf, und hinter dem Glas war alles dunkel. Mit Hilfe ihres Generalschlüssels verschaffte sie sich lautlos Zugang, zog instinktiv ihren Stunner, sagte mit leiser Stimme: »Licht« und blinzelte, als der Eingangsbereich plötzlich taghell erleuchtet war. Als sich ihre Augen an die Helligkeit gewöhnten,
entdeckte sie, dass die Kasse hinter dem Empfangstisch offen stand. Und leer war. »Habe ich es doch gewusst. Du bist tatsächlich hier gewesen.« Mit gezückter Waffe durchsuchte sie den Raum, sah, dass in den Auslagen nichts fehlte, und wandte sich den Behandlungsräumen zu. Sie alle waren menschenleer und geradezu klinisch sauber. Eve öffnete die nächste Tür und betrat den nicht minder aufgeräumten Pausenraum des Personals. Simon schien ein regelrechter Sauberkeitsund Ordnungsfanatiker zu sein, dachte sie, und ihr Blut begann zu summen. Sie musterte die Schlösser der Schränke und wünschte sich, sie hätte die gleichen Talente wie ihr Mann. Allein mit ihrem Generalschlüssel käme sie nicht weiter. Der nächste Raum war offenbar ein Lager. Hier hörte die penible Ordnung plötzlich auf. Kartons waren umgeworfen worden, Flaschen und Tuben überall verteilt. Sicher war er hier hereingestürzt, um sich neue Schminke zu besorgen, wütend, weil er panisch, ohne seine Requisiten, aus der Wohnung seines letzten Opfers abgehauen war. Er hatte die Kisten durchgewühlt und die von ihm gewählten Dinge achtlos entweder in eine Tasche oder eine andere Pappschachtel gestopft.
Schnell überprüfte sie die Räume der einzelnen Berater. Nur in einem herrschte Durcheinander, hatte jemand die Schubladen der blendend weißen Schränke aufgerissen und durchwühlt. Ein dicker Tropfen irgendeiner Flüssigkeit hatte sich über der Ober läche eines Schranks verteilt und fing langsam an zu trocknen. Obwohl sie es schon wusste, suchte sie die Lizenz des betreffenden Stylisten, betrachtete, als sie sie fand, eingehend das Foto und fragte mit lauter Stimme: »Aha, hast du diesmal nicht mehr aufräumen können, Simon? Jetzt habe ich dich am Arsch.« Sie zog ihr Handy aus der Tasche und lief, ehe jemand den Salon betreten und dadurch Spuren verwischen konnte, eilig zurück zur Eingangstür. »Zentrale, hier spricht Lieutenant Eve Dallas. Geben Sie eine Suchmeldung nach einem gewissen Simon Lastrobe raus, letzter bekannter Wohnsitz Dreiundsechzigste Ost 4530, Appartement 35. Der Gesuchte ist vielleicht bewaffnet und gefährlich. Ein aktuelles Foto wird in Kürze übermittelt. Der Kerl ist verdächtig, mehrere Sexualmorde begangen zu haben. Er soll möglichst umgehend festgenommen werden.« Zentrale. Verstanden. Wir leiten Ihre Meldung weiter. »Feeney.« Während sie die Türen des Salons versiegelte, rief sie den Kollegen an. »Komm sofort zu mir runter. Ich bestelle Peabody hierher, damit sie an deiner Stelle auf die SpuSi wartet. Wir müssen auf der Stelle los.« »Himmel, der Kerl ist ein Kosmetiker.« Während sie in Richtung Osten schossen, schüttelte Feeney angewidert
seinen Kopf. »Was ist nur aus der Welt geworden, Dallas? Ich kann das alles nicht verstehen.« »Er hat ihre Gesichter und ihre Körper angemalt, mit ihrem Haar herumgespielt, sich ihre Lebensgeschichten erzählen lassen, sich in sie verliebt und sie dafür getötet.« »Glaubst du, er hat sie alle persönlich in seinem Laden bedient?« »Mag sein. Zumindest hat er sie gesehen und ausgesucht. Sicher ist er auch problemlos an die Partnerlisten herangekommen und hat sich auf diesem Weg genauer über sie informiert.« »Aber das erklärt noch nicht die weihnachtliche Kostümierung.« »Den Grund dafür wird er uns erzählen, wenn wir ihn erst haben.« Mit quietschenden Reifen brachte sie den Wagen hinter zwei bereits die Straße blockierenden Streifenwagen zum Stehen und lief mit gezücktem Dienstausweis auf die Beamten zu. »Waren Sie schon oben?«, rief sie über den Wind und den Schneeregen. »Ja, Madam. Aber es hat niemand geöffnet. Wir haben Männer neben der Haustür und dem Hinterausgang postiert. Hinter den Fenstern ist alles dunkel, und wir haben bisher keine Bewegung in dem Appartement ausgemacht.« »Feeney? Hast du den Durchsuchungsbefehl inzwischen bekommen?« »Noch nicht.«
»Verdammt. Wir gehen trotzdem rein.« Sie marschierte entschlossen los. »Wenn du die Wohnung betrittst, ohne die of izielle Genehmigung zu haben, können wir das, was wir eventuell dort inden, nicht gegen ihn verwenden«, erinnerte er sie, lief ihr jedoch, als sie statt auf den Lift zu warten, die Treppe nahm, knurrend hinterher. »Vielleicht steht die Tür ja offen, wenn ich komme.« Sie blickte mit blitzenden Augen über ihre Schulter. »Wäre doch zumindest möglich, oder etwa nicht?« »Scheiße, Dallas. Gib mir fünf Minuten. Ich mache der Staatsanwaltschaft Dampf.« Als sie den dritten Stock erreichten, schnaufte er und hatte einen leuchtend roten Kopf, doch schob er sich entschieden vor sie und baute sich vor der Tür der Wohnung Nummer 35 auf. »Verdammt, eine Minute. Lass uns die Sache richtig machen. Die Vorschriften sind dir bekannt.« Sie wollte ihm widersprechen, sehnte sich nach einem befriedigenden Tritt gegen die Tür. Diese Sache war persönlich, dachte sie und begann vor Erregung zu vibrieren. Sie wollte Hand an diesen Typen legen, wollte, dass er Angst und Schmerzen spürte. Wollte es mit einer Macht, die, wie sie erschreckt erkannte, größer war als jegliche Vernunft. »Okay.« Mühsam riss sie sich zusammen. »Wenn wir
reingehen und ihn finden, überlasse ich ihn dir.« »Du hast uns auf seine Spur gebracht.« »Trotzdem nimmst am besten du ihn fest. Ich kann dir nämlich nicht versprechen, dass ich mich dabei an die Regeln halten würde.« Er musterte sie, bemerkte ihre Anspannung und nickte. »Okay.« Dann zog er sein piepsendes Handy aus der Tasche. »Das ist die Erlaubnis, seine Wohnung zu betreten. Welche Position willst du, oben oder unten?« Sie verzog humorlos das Gesicht. »Bisher wolltest du lieber oben bleiben.« »Das tue ich auch jetzt noch. Immer wenn ich runtergehe, schmerzen mir die Knie.« Gemeinsam drehten sie sich um, gemeinsam atmeten sie ein, gemeinsam warfen sie sich mit aller Kraft gegen die Tür, die krachend aufsprang. Eve ging in die Hocke und schob sich mit gezückter Waffe unter Feeneys Arm hindurch. Sie gaben einander Deckung und durchsuchten den von den Straßenlaternen nur schwach erhellten Raum. »Tipptopp aufgeräumt«, lüsterte Feeney. »Und es riecht nach Krankenhaus.« »Das ist das Desinfektionsmittel. Ich mache Licht, und dann gehe ich nach links.« »Los.« »Licht an«, befahl sie und schwang eilig herum. »Simon? Hier ist die Polizei. Wir sind bewaffnet und haben
einen Haftbefehl dabei. Sämtliche Ausgänge sind versperrt.« Sie winkte in Richtung einer Tür, und als Feeney zum Zeichen, dass er verstanden hatte, nickte, schob sie sie vehement mit dem Ellenbogen auf und schwenkte ihren Stunner durch den unaufgeräumten Raum. »Sieht aus, als hätte er noch hastig ein paar Sachen eingepackt, um erst einmal unterzutauchen.«
18 »Alles, was wir bisher über ihn haben«, begann Eve, sobald ihr Team in ihrem Arbeitszimmer vollzählig war, »ist, dass er das Talent hat, sein Aussehen ständig zu verändern. Wir können sein Bild an die Medien geben, damit sie es alle halbe Stunde bringen, aber ich bezwei le, dass er auch nur annähernd so aussehen wird wie auf dem Foto. Außerdem vermuten wir, dass er genug Bargeld, Kreditchips und möglicherweise auch einen falschen Pass hat, um sich frei bewegen zu können. Wir gehen allen Spuren nach, aber die Chance, ihn auf diesem Weg zu finden, ist meiner Meinung nach gering.« Sie rieb sich die müden Augen und versorgte ihren Körper mit einer weiteren Ladung Koffein. »Ohne zu wissen, was Mira von der Sache hält, gehe ich persönlich davon aus, dass er, nachdem die Vergewaltigung heute Abend unterbrochen worden ist, sexuell frustriert ist, erschüttert und gereizt. Er ist ein geradezu zwanghaft ordentlicher Mensch, aber er hat seinen Arbeitsbereich und auch seine Wohnung völlig auf den Kopf gestellt, als er sich geholt hat, was er, um verschwinden zu können, brauchte.« »Lieutenant.« Obgleich sie nicht die Hand hob, fühlte sich Peabody wie eine kleine Schülerin. Als Eve sie jedoch ansah, verriet ihr Blick nicht im Geringsten, was am frühen Abend zwischen ihnen vorgefallen war. »Glauben Sie, er ist noch in der Stadt?«
»Den Informationen zufolge, die wir bisher über ihn haben, ist er hier geboren, aufgewachsen und hat sein ganzes bisheriges Leben in New York verbracht. Aus diesem Grund ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass er jetzt irgendwo anders Zu lucht sucht. Captain Feeney und McNab werden natürlich weitergraben. Bisher jedoch gehen wir davon aus, dass er die Gegend nicht verlässt.« »Er hat keinen eigenen Wagen«, bestätigte Feeney. »Er hat nie einen Führerschein gemacht, und deshalb muss er sich auf öffentliche Transportmittel verlassen, wenn er flüchten will.« »Und um diese Zeit des Jahres sind sämtliche Transportmittel in der Stadt und den Außenbezirken doppelt und dreifach ausgebucht«, vollendete McNab, ohne den Kopf von seiner Arbeit am Computer zu wenden. »Und wenn er nicht bereits vor Wochen irgendein Ticket reserviert hat, wäre die einzige Möglichkeit, die Stadt zu verlassen, dass er sich Flügel wachsen lässt und fliegt.« »Stimmt. Dazu kommt noch, dass seine Zielpersonen offensichtlich ausnahmslos hier in New York ansässig sind. Sämtliche bisherigen Opfer haben in der Stadt gelebt. Selbst wenn er einen Schreck bekommen hat, lässt er seine mörderischen Pläne sicher nicht so einfach fallen. Der Blutrausch scheint von Weihnachten ausgelöst worden zu sein, und das Fest ist noch nicht vorbei.« Eve trat vor den Wandbildschirm. »Beweisdiskette, Simon, i-H«, befahl sie und erklärte: »Wir haben Dutzende von Filmen zum Thema Weihnachten in seiner Wohnung
kon isziert. Lauter altes Zeug. Das hier ist zum Beispiel irgendeine Schmonzette aus dem zwanzigsten Jahrhundert –« »Ist das Leben nicht schön?«, meinte Roarke aus Richtung der Tür, »James Stewart, Donna Reed.« Auf Eves erbosten Blick reagierte er mit einem nonchalanten Lächeln. »Störe ich?« »Dies hier ist eine Angelegenheit der Polizei«, erklärte seine Gattin. Schlief er eigentlich nie? Trotzdem betrat Roarke das Zimmer und setzte sich gemütlich auf die Lehne des Stuhls, auf dem Peabody Platz genommen hatte. »Dies ist für euch alle eine lange Nacht. Wie wäre es mit einer Kleinigkeit zu essen?« »Roarke – « »Mann, ich könnte wirklich was vertragen«, iel ihr McNab ins Wort. »Es gibt noch eine ganze Reihe solcher Filme.« Während sich Roarke erhob und zur Küchenzeile ging, trat Eve erneut vor den Bildschirm. »Neben diesen Filmen hat er auch Lesedisketten gesammelt wie Eine Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens. Außerdem haben wir eine große Anzahl sowohl gedruckter als auch ver ilmter Pornos zum selben Thema in dem Appartement entdeckt, wie beispielsweise das Zeug auf Beweisdiskette, Simon, 68-a«, erklärte sie trocken, als auf dem Bildschirm eine einzig mit einem Geweih und einem Schwanz bekleidete junge Frau: »Nenn mich einfach Dancer«
schnurrte, bevor sie den Schwanz des Weihnachtsmannes in den Mund nahm. »Wirklich unterhaltsam«, lobte Roarke, der in dieser Sekunde zurückkam. »Es gibt mehr als ein Dutzend dieser Filme, und außerdem noch jede Menge illegaler Sachen, die zwar ebenfalls Weihnachten zum Thema haben, aber deutlich weniger romantisch sind. Und jetzt kommt der beste Film von allen. Beweisdiskette, Simon, 72.« Sie schaute kurz ihren Mann an und trat dann einen Schritt zur Seite. Auf dem Bildschirm kämpfte Marianna Hawley gegen ihre Fesseln. Sie schluchzte, und ihr Kopf schlug verzweifelt hin und her. Simon trat, in seinem Weihnachtsmannkostüm und mit dem weißen Bart, ins Bild. Er grinste in die Kamera und wandte sich dann lächelnd an die auf dem Bett liegende Frau. »Bist du artig oder unartig gewesen, kleines Mädchen?« Sei still, kleines Mädchen. Sein Atem roch nach Alkohol und Zucker. Dann macht dir Daddy ein Geschenk. Wieder und wieder hörte Eve die leise Stimme, zwang jedoch ihre Hände zur Ruhe und verfolgte weiter reglos, was auf dem Monitor geschah. »Oh, ich glaube, du bist unartig gewesen, sehr, sehr unartig, aber ich werde dir trotzdem etwas Hübsches geben.«
Wieder sah er in die Kamera und entledigte sich mit geschmeidigen Bewegungen seines Weihnachtsmannkostüms. Die Perücke und den Bart jedoch behielt er an. »Dies ist der erste Tag der Weihnacht, meine Liebe.« Er rammte seinen Schwanz schnell und brutal in sie hinein. Während ihre Schreie durch das Zimmer gellten, griff Eve nach ihrem Kaffee. Egal, wie bitter er auf ihrer Zunge schmeckte, sie würde ihn schlucken. Dann nahm er sie von hinten, und statt lauter Schreie stieß sie nur noch leises Wimmern aus. Seine Augen waren glasig, und er atmete keuchend aus und ein. Dann nahm er etwas aus der von ihm mitgebrachten Schachtel und schob es sich in den Mund. »Wir glauben, dass er irgendein Kräuter-ChemieGemisch geschluckt hat, damit die Erektion nicht nachlässt«, erklärte Eve mit rauer Stimme und starrte weiter auf den Bildschirm. Sie würde sich ihrer Verantwortung für Marianna und auch für sich selber stellen. Sie würde weiter hinsehen, würde es im Geiste selbst durchleiden. Und würde es am Ende überleben. Gegen die nächste Vergewaltigung setzte sich Marianna schon gar nicht mehr zur Wehr. Sie war fortgegangen, wusste Eve. Fort an einen Ort, an dem es ihr nicht länger wehtat. Sie hatte sich dorthin zurückgezogen, wo es dunkel und wo sie ganz allein war. Sie blieb genauso reglos liegen, als Simon an ing zu
schluchzen, sie als Hure beschimpfte, ihr die hübsche Girlande um den Hals schlang und so heftig daran zerrte, dass sie riss und er gezwungen war, seine Hände zu benutzen. »Gütiger Himmel.« McNabs ersticktes Flüstern verriet gleichermaßen Mitleid und Entsetzen. »Hat er noch immer nicht genug?« »Jetzt schmückt er sie«, fuhr Eve mit leerer Stimme fort. »Schminkt ihr das Gesicht, kämmt ihr die Haare und schlingt ihr die Girlande um den Körper. Wenn er sie anhebt, sieht man, dass die Tätowierung bereits angebracht ist. Er lässt die Kamera noch eine Minute auf ihr verharren. Er will sich die Tote ständig ansehen können, wenn er allein zu Hause ist. Will sie sehen, wie er sie zurechtgemacht und zurückgelassen hat.« Der Bildschirm wurde schwarz. »Die Aufräumarbeiten brauchte er nicht aufzunehmen. Die Diskette hat eine Länge von dreiunddreißig Minuten und zwölf Sekunden. So lange hat er gebraucht, um diesen Teil seines Zieles zu erreichen. Auch von den anderen Morden gibt es derartige Disketten. Als Gewohnheitsmensch folgt er stets demselben Muster. Außerdem ist er äußerst diszipliniert, und da er großen Wert auf Sauberkeit und Ordnung legt, wird er sich ein komfortables Plätzchen in der City suchen, in dem er sich versteckt. Eine billige Absteige kommt für ihn nicht in Frage, er quartiert sich entweder in einem guten Hotel oder in einem gepflegten Appartement ein.«
»Um diese Zeit des Jahres kriegt man nirgendwo so leicht ein Zimmer«, gab Feeney zu bedenken. »Nein, aber trotzdem fangen wir mit der Suche in den besseren Hotels und Wohnkomplexen an. Außerdem werden wir gleich morgen früh seine Freunde und Mitarbeiter fragen, ob einer eine Ahnung hat, wo er eventuell sein könnte. Peabody, Sie treffen mich um neun in Uniform vor dem Eingang des Salons.« »Zu Befehl, Madam.« »Das Sinnvollste, was wir bis dahin machen können, ist, noch ein paar Stunden zu schlafen.« »Dallas, ich kann jetzt noch etwas am Computer erledigen. Und wenn ich hier übernachten könnte, würde ich den Weg sparen und säße in aller Frühe gleich wieder vor dem Gerät«, bot McNab sich an. »In Ordnung. Dann machen wir anderen jetzt erst mal Schluss.« »Damit bin ich durchaus einverstanden.« Feeney stand ächzend auf. »Peabody, ich setze Sie zu Hause ab.« »McNab, fangen Sie bloß nicht an zu spielen«, warnte Eve, als sie sich ebenfalls zum Gehen wandte. »Dann werde ich nämlich echt sauer. « »Du könntest heute Nacht ein leichtes Schlafmittel vertragen.« Roarke nahm sie am Arm und dirigierte sie durch die Tür des Schlafzimmers zum Bett. »Fang bloß nicht wieder damit an.«
»Du kannst heute keine Träume brauchen. Wenn schon nicht um deinetwillen, musst du die Frau, deren Vergewaltigung wir eben miterleben mussten, für ein paar Stunden vergessen.« »Ich kann durchaus meine Arbeit verrichten, ohne dass du ständig den Seelentröster spielst.« Sie entledigte sich ihrer Kleider. Sie brauchte dringend eine Dusche, brauchte sehr heißes Wasser, um den Gestank von ihrem Körper zu vertreiben. Sie ließ die Kleidung in einem wirren Haufen auf dem Boden liegen und marschierte in das angrenzende Bad. Er wartete geduldig ab. Er wusste, sie müsste erst ein wenig kämpfen. Gegen ihn und den von ihm angebotenen Trost. Diese stachelige, harte Schale war nur einer der zahllosen Aspekte ihres Wesens, die ihn faszinierten. Und genauso wusste er – als hätte er in ihren Kopf und in ihr Herz gesehen –, was sie während der Ansicht der Diskette erlitten hatte. Deshalb öffnete er, als sie, eingehüllt in einen Morgenmantel, mit viel zu tiefen Ringen unter ihren braunen Augen und viel zu bleichen Wangen ins Schlafzimmer zurückkam, wortlos seine Arme und zog sie eng an seine Brust. »O Gott, schrecklich!« Sie schmiegte sich an ihn und klammerte sich regelrecht an ihm fest. »Ich habe ihn gerochen. Ich habe ihn sogar gerochen.« Ihr Zittern und das wilde Klopfen ihres Herzens waren
mehr, als er ertrug. »Er kann dich nie wieder berühren.« »O doch, er berührt mich.« Sie vergrub ihr Gesicht an seiner Schulter und sog seinen Duft begierig in sich ein. »Jedes Mal, wenn ich an ihn denke, werde ich von ihm berührt. Ich kann nichts dagegen tun.« »Aber ich.« Er setzte sich aufs Bett und zog sie in seinen Schoß. »Hör für heute Abend auf zu denken. Eve. Halt dich einfach an mir fest.« »Ich kann meine Arbeit erneut aufnehmen.« »Ich weiß.« Aber zu welchem Preis?, fragte er sich und wiegte sie zärtlich hin und her. »Ich will kein Schlafmittel. Ich will nur dich. Du bist genug.« »Dann schlaf. Lass los« – er neigte seinen Kopf und presste seine Lippen auf ihr zerzaustes Haar – »und schlaf.« »Geh nicht weg.« Aus ihrer Kehle drang ein langer, abgrundtiefer Seufzer. »Ich brauche dich. Zu sehr.« »Nicht zu sehr. Es ist völlig unmöglich, dass du mich zu sehr brauchst.« Sie hatte eine Erinnerung in das Kästchen gelegt, und jetzt käme von ihm ein Wunsch. Er wünschte ihr eine, wenn zwar kurze, so doch erholsame ruhige Nacht. Weshalb er sie im Arm hielt, bis sie eingeschlafen war. Und er hielt sie nach wie vor, als sie erwachte.
Irgendwann während der Nacht hatte er sie beide ausgezogen und unter die Bettdecke bugsiert. Nun hielt er sie fest umschlungen, während ihr Kopf behaglich warm an seiner Schulter lag. Ein paar Sekunden lang blieb sie still liegen und betrachtete sein Antlitz. Im weichen Licht der Dämmerung waren die straffen Züge, die langen, dichten Wimpern, der träumerische Dichtermund und die seidig weichen, schwarzen Haare geradezu unwirklich schön. Sie verspürte das Verlangen, mit den Händen über seinen Kopf zu streichen, doch konnte sie die Arme nicht bewegen, weshalb sie ihm stattdessen teils zum Dank für seine Anteilnahme und teils, um ihn genug zu wecken, um sich freimachen zu können, einen sanften Kuss auf die festen Lippen gab. Als Resultat verstärkte sich sein Griff um ihren schlanken Leib. »Mmm. Einen Moment noch.« Sie zog die Brauen in die Höhe. Seine Stimme klang ungewöhnlich heiser, und seine Augen blieben weiterhin geschlossen. »Du bist müde.« »Himmel, ja.« Sie spitzte überrascht die Lippen. »Du bist niemals müde.« »Jetzt schon. Also gib endlich Ruhe.« Diese Bitte und der leicht gereizte Ton, in dem er sprach, entlockten ihr ein Kichern. »Bleib einfach noch ein bisschen liegen.«
»Das tue ich garantiert.« »Ich muss aufstehen.« Sie entwand ihm einen Arm und strich ihm endlich liebevoll über das Haar. »Schlaf schön.« »Das würde ich längst tun, wenn du mal die Klappe halten würdest.« Lachend entwand sie ihm ihren Körper. »Roarke?« »Himmel!« Er rollte sich auf den Bauch und vergrub den Kopf in seinem dicken Kissen. »Was?« »Ich liebe dich.« Jetzt drehte er den Kopf und bedachte sie mit einem Blick, der ihr Blut in Wallung brachte. Das, dachte sie, war sein allergrößter Zauber. Dass es ihm gelang, nach allem, was sie hatte erleben und mit ansehen müssen, das Verlangen nach Sex in ihr zu wecken. »Am besten kommst du noch einmal zurück. Schätzungsweise werde ich es schaffen, lange genug wach zu bleiben, um mich erkenntlich zu zeigen für diesen netten Satz.« » Später. « Grummelnd drückte er sein Gesicht zurück ins Kissen, und Eve fuhr seufzend in die am Abend unachtsam abgelegte Kleidung, bestellte sich einen Kaffee und legte ihr Stunnerhalfter an. Bis sie den Raum verließ, hatte er sich nicht ein einziges Mal gerührt.
Sie beschloss, als Erstes mit McNab zu sprechen, und fand ihn, Galahad wie ein Paar monumentaler PlüschOhrenschützer über seinem Kopf drapiert, in ihrem Liegesessel vor. Beide schnarchten, doch als sie leise näher trat, öffnete der Kater gelangweilt eines seiner Augen und begrüßte sie mit einem eindeutig verärgerten Miau. »McNab.« Als er nicht reagierte, rollte sie mit den Augen und stieß ihn leicht gegen die Schulter, doch er drehte lediglich schnarchend sein Haupt. Aufgrund dieser Bewegung rutschte der Kater etwas tiefer und zahlte es dem Menschen durch ein kurzes Ausfahren der Krallen heim. McNab unterbrach sein Schnarchen, verzog im Schlaf den Mund zu einem Grinsen und murmelte: »Schätzchen, zieh die Krallen ein.« »Himmel.« Eve rüttelte ihn stärker. »In meinem Schlafsessel gibt sich niemand irgendwelchen kranken Träumen oder Fantasien hin.« »Höh? Also bitte, Baby.« Er öffnete mühsam die Augen und entdeckte Eve. »Oh, Dallas, was ist los? Wo bin ich?« Er hob eine Hand an das auf seiner Schulter lastende Gewicht und ertastete den Kopf des Katers. »Wer ist denn das?« »Sie haben noch vergessen, warum zu fragen, aber das kann ich Ihnen nicht sagen. Reißen Sie sich zusammen.« »Ja, ja. Mann.« Er drehte seinen Kopf und sah sich Auge in Auge Galahad gegenüber. »Gehört der Kater Ihnen?« »Er lebt in unserem Haus. Sind Sie inzwischen wach
genug, um mir zu berichten, was Sie herausgefunden haben?« »Okay, sicher.« Er richtete sich mühsam auf und fuhr sich mit der Zunge über die ungeputzten Zähne. »Aber, bitte, bitte. Vorher brauche ich dringend einen Kaffee.« Da auch sie süchtig nach diesem Aufputschmittel war, ging sie hinüber in die Küche und bestellte ihm einen extragroßen Becher, stark und schwarz. Als sie zurückkam, hatte sich der Kater auf McNabs Schoß gep lanzt und trat schnurrend von einer Vorderpfote auf die andere. Für Galahad war die Welt absolut in Ordnung. Dankbar nahm McNab den Becher mit beiden Händen entgegen und trank mit einem Schluck die Hälfte leer. »Okay, wow. Ich habe geträumt, ich wäre auf einem anderen Planeten auf irgendeiner Urlaubsinsel und hätte meinen Spaß mit dieser unglaublich gut gebauten, pelzigen Mutantin.« Blinzelnd beäugte er Galahad und grinste dann breit. »Himmel.« »Ich habe kein Interesse an Ihren schmutzigen Fantasien. Was haben Sie herausgefunden?« »Also gut. Ich habe sämtliche teuren Hotels in der City überprüft. Ein allein stehender Mann hat gestern Abend nirgends eingecheckt. Dann habe ich die MittelklasseHotels genommen, aber auch dort Fehlanzeige. Schließlich habe ich noch ein paar persönliche Informationen über Simon gesammelt. Die Diskette liegt auf Ihrem Schreibtisch.«
Sie durchquerte das Zimmer und steckte die Diskette ein. »Geben Sie mir einen kurzen Überblick.« »Er ist siebenundvierzig, und hier in New York geboren. Die Eltern haben sich scheiden lassen, als er zwölf war. Das Sorgerecht wurde der Mutter zugesprochen.« Er gähnte, bis sein Kiefer knackte. »Entschuldigung. Sie hat nie wieder geheiratet. Hat als Schauspielerin meist in irgendwelchen Billigproduktionen ihren Lebensunterhalt verdient. Hatte jede Menge psychischer Probleme und war – vor allem wegen Depressionen – oft in Behandlung. Allerdings hat ihr das alles nichts genützt, denn letztes Jahr hat sie sich umgebracht. Und raten Sie mal, wann?« »An Weihnachten.« »Genau. Simon selbst hat eine gute Ausbildung genossen und sowohl in Theaterwissenschaft als auch in Kosmetologie seinen Abschluss gemacht. Hat eine Zeit lang sein Glück als Make-up-Produzent versucht, bevor er vor zwei Jahren Alle schönen Dinge übernommen hat. Er war nie verheiratet und hat bis zu ihrem Tod mit seiner Mama zusammengelebt.« Er machte eine kurze Pause und trank noch einen Schluck des belebenden Kaffees. »Auch wenn die Behandlung seiner Mutter ein großes Loch in seine Ersparnisse gerissen hat, ist er nicht gerade arm. Keine Vorstrafen. Beim Arzt ist er nur zu irgendwelchen Routineuntersuchungen gewesen. Psychisch hat er sich niemals in irgendeiner Weise auffällig gezeigt.«
»Schicken Sie diese Informationen an Mira, schauen Sie, was Sie über den Vater in Erfahrung bringen können, und kümmern Sie sich um die bisher noch nicht überprüften Hotels. Irgendwo muss er ja stecken.« »Könnte ich vielleicht vorher ein Frühstück haben?« »Sie wissen, wo die Küche ist. Ich bin unterwegs. Halten Sie mich auf dem Laufenden.« »Sicher. Äh, Dallas, ist mit Ihnen und Peabody alles in Ordnung?« Eve zog die Brauen in die Höhe. »Weshalb sollte es das nicht sein?« »Mir kam es so vor, als hätten Sie beide möglicherweise eine kleine Meinungsverschiedenheit oder so etwas gehabt.« »Wie gesagt, halten Sie mich auf dem Laufenden«, wiederholte sie statt einer Antwort und ließ ihn allein mit seinem Kaffee, dem Kater und einem nachdenklichen Gesichtsausdruck zurück. Eve kam zu dem Schluss, dass ihre Assistentin entweder auf einem Brett geschlafen oder aber ihre Uniform noch besser gestärkt hatte also sonst. Peabody wirkte so steif und brüchig wie ein verbrannter Toast. Aber sie war pünktlich. Sie nickten einander schweigend zu und betraten dann gemeinsam den Salon. Yvette saß bereits hinter ihrer Konsole und glich die Termine des Tages gegeneinander ab.
»Allmählich entwickeln Sie sich zur Stammkundin«, begrüßte sie Eve. »Sie sollten sich wirklich einmal eine Maniküre oder Ähnliches machen lassen.« »Ist einer der Behandlungsräume frei?« »Sogar mehrere, aber bis zwei sind sämtliche Berater ausgebucht.« »Machen Sie eine kurze Pause, Yvette.« »Wie bitte?« »Machen Sie mal eine kurze Pause. Ich muss mit Ihnen reden. Dazu nehmen wir am besten eins der leeren Zimmer. « »Ich habe wirklich alle Hände voll zu tun.« »Hier oder auf der Wache. Gehen wir.« »Himmel.« Schnaubend stand Yvette von ihrem Hocker auf. »Dann lassen Sie mich wenigstens den Droiden hinstellen. Wir setzen die Droiden nur sehr ungern ein. Sie sind weniger persönlich als menschliches Personal.« Sie verschwand um die Ecke, öffnete einen hohen Schrank, und zum Vorschein kam eine wunderhübsch frisierte, perfekt geschminkte Gestalt, deren eleganter pastellfarbener Catsuit ihre golden schimmernde Haut und die leuchtend roten Haare vorteilhaft betonte. Als Yvette ein paar Knöpfe drückte, öffnete die Droidin große, babyblaue Augen, blinzelte mit ihren dichten, schweren Wimpern und fragte lächelnd: »Kann ich etwas für Sie tun?«
»Setz dich hinter den Empfangstisch.« »Mit Vergnügen. Sie sehen heute wieder mal fantastisch aus.« »Genau.« Genervt wandte Yvette sich ab. »Das würde sie selbst dann noch sagen, wenn ich ein Gesicht voller Warzen hätte. Das ist das Problem mit den Droiden. Ich hoffe, es wird nicht allzu lange dauern«, fügte sie hinzu und stakste auf ihren hochhackigen Schuhen in Richtung eines rückwärtig gelegenen Raums. »Simon mag es nicht, wenn wir außer zu den festgelegten Pausen unseren Arbeitsplatz verlassen.« »Er wird Ihnen deshalb keine Schwierigkeiten machen.« Eve betrat das Behandlungszimmer, das sie unweigerlich ans Leichenschauhaus denken ließ, und fragte: »Wann haben Sie zum letzten Mal mit Simon gesprochen?« »Gestern.« Da sie einmal hier war, griff sich Yvette einen Massagehandschuh, streifte sich ihn über und schaltete ihn ein. Mit einem leisen Summen glitt er über ihren schlanken Nacken und ihre wohlgeformten Schultern, während sie erklärte: »Er hatte um vier noch eine Brustbehandlung, die bis sechs gedauert hat. Falls Sie ihn brauchen, er müsste jeden Augenblick erscheinen. Eigentlich sollte er längst da sein. Am Tag vor Weihnachten bekommen wir nämlich vor lauter Arbeit kaum Luft.« »Ich an Ihrer Stelle würde heute nicht mehr mit ihm rechnen.« Yvette blinzelte, und der Massagehandschuh ing, als
sie die Hand zurückriss, an zu stottern. »Ist etwas nicht mit ihm in Ordnung? Hatte er einen Unfall?« »Etwas ist ganz sicher nicht mit ihm in Ordnung, aber nein, er hatte keinen Unfall. Er hat gestern Abend Piper Hoffman überfallen.« »Überfallen? Simon?« Yvette begann zu lachen. »Wer hat Ihnen denn diesen Bären aufgebunden, Lieutenant?« »Er hat vier Menschen vergewaltigt und ermordet, und beinahe hätte er auch Piper gestern Abend umgebracht. Jetzt ist er untergetaucht. Wo könnte er sein?« »Sie irren sich.« Yvette riss sich den Handschuh von der zitternden Hand. »Sie müssen sich ganz einfach irren. Simon ist ein sanfter, süßer Mensch. Er wäre niemals in der Lage, einem anderen wehzutun.« »Wie lange kennen Sie ihn schon?« »Ich – seit zwei Jahren, seit er den Laden übernommen hat. Wie gesagt, Sie müssen sich irren.« Yvette presste die Hände an die Wangen. »Piper? Sie sagen, Piper ist überfallen worden? Wie schwer ist sie verletzt? Wo ist sie?« »Sie wurde ins Krankenhaus gebracht und liegt im Koma. Simon wurde gestört, bevor er sein Werk vollenden konnte, und ist seither auf der Flucht. Er war noch mal in seiner Wohnung, aber dort haben wir ihn nicht mehr erwischt. Wo könnte er sein?« »Ich weiß nicht. Ich kann es nicht glauben. Sind Sie sich wirklich sicher?«
Eve musterte sie ausdruckslos. »Wir sind uns völlig sicher. « »Aber er hat Piper angebetet. Er war ihr Berater, ihrer und auch der von Rudy. Er hat sich stets persönlich um die beiden gekümmert. Wir haben sie immer die EngelsZwillinge genannt.« »Wem steht er sonst noch nahe? Mit wem spricht er über sein Privatleben? Über das Leben mit seiner Mutter?« »Seiner Mutter? Die ist doch letztes Jahr gestorben. Er war total fertig. Sie hatte einen tödlichen Unfall.« »Er hat Ihnen erzählt, dass Sie einen Unfall hatte?« »Ja, sie ist in der Badewanne ohnmächtig geworden und ertrunken oder so. Es war einfach schrecklich. Die beiden standen einander wirklich nahe.« »Hat er mit Ihnen über sie gesprochen?« »Ja, aufgrund unserer gemeinsamen Arbeit sind wir sehr häu ig zusammen. Wir sind Freunde.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Ich kann einfach nicht glauben, was Sie mir da erzählen.« »Um Ihrer eigenen Sicherheit willen sollten Sie das aber tun. Wo könnte er hingehen, Yvette? Wenn er Angst hat, nicht in seine Wohnung kann und sich verstecken muss?« »Ich habe keine Ahnung. Sein Leben hat sich, vor allem, seit seine Mutter tot ist, ausschließlich hier bei Alle schönen Dinge abgespielt. Ich glaube, dass er außer ihr keine
Verwandten hat. Sein Vater ist bereits gestorben, als er noch ein Kind war. Er hat mich nicht angerufen. Ich schwöre, dass er mich nicht angerufen hat.« »Wenn er es tut, möchte ich, dass Sie mich sofort kontaktieren. Spielen Sie keine Spielchen. Treffen Sie ihn nicht allein. Machen Sie nicht auf, wenn er plötzlich bei Ihnen vor der Tür stehen sollte. Er ist lebensgefährlich. Ich muss mir seinen Spind ansehen und auch die anderen Angestellten vernehmen.« »Okay. Ich werde es arrangieren. Er hat sich nicht seltsam benommen oder so.« Yvette tupfte sich eine Träne aus den Wimpern, als sie sich erhob. »Er hat sich unglaublich auf Weihnachten gefreut. Wissen Sie, er ist ein echter Softie. Und letztes Jahr hat der Tod der Mutter ihm Weihnachten verdorben.« »Ah ja, dafür holt er dieses Jahr das versäumte Vergnügen doppelt und dreifach nach.« Eve betrat den Pausenraum der Angestellten und streifte den Berater, der sich gerade an einem minzgrünen Vitamintrank gütlich tat, mit einem kurzen Blick. »Er hat den Code geändert«, stellte Yvette verwundert fest. »Ohne den neuen Code kriege ich das Schloss nicht auf. « »Wer hat die Leitung über den Salon, wenn er nicht da ist?« Yvette atmete hörbar aus. »Ich.« Eve zückte ihre Waffe, legte den Kopf auf die Seite und
erklärte: »Damit kriege ich das Schloss auf, aber Sie müssen mir vorher gestatten, mir gewaltsam Zugang zu verschaffen.« Yvette klimperte unglücklich mit den Augen. »Los.« »Haben Sie Ihren Recorder eingeschaltet, Peabody?« »Ja, Madam.« Eve zielte auf das Schloss, betätigte den Auslöser, und scheppernd fiel der metallene Türbeschlag zu Boden. »Himmel, Yvette, was soll das?« »Eine Angelegenheit der Polizei, Stevie«, erklärte sie dem aufgeschreckten Berater. »Du hast um halb zehn deinen nächsten Termin. Am besten gehst du langsam los und bereitest alles vor.« »Simon wird darüber ganz bestimmt nicht glücklich sein«, murmelte der Mann und verließ kopfschüttelnd den Raum. Eve trat ein Stück zur Seite, damit Peabody den Schrankinhalt ungehindert ilmen konnte, und legte einen Finger auf den Riegel. »Scheiße.« Sie zuckte zurück und steckte sich den Finger in den Mund. »Zu heiß.« »Hier, versuchen Sie es damit.« Peabody reichte ihr ein ordentlich zusammengefaltetes Taschentuch und sah ihr dabei flüchtig ins Gesicht. »Danke.« Eve legte das Stofftuch um den Riegel und öffnete die Tür. »Der Weihnachtsmann scheint es ziemlich eilig gehabt zu haben.«
Unter hohen, blank polierten schwarzen Stiefeln lag das rote Kostüm achtlos zusammengeknüllt auf dem Boden. Eve bückte sich, zog eine Dose Seal It aus der Tasche und besprühte sich die Hände. »Wollen wir doch mal gucken, was wir sonst noch alles finden.« Neben der Kostümierung barg der Schrank zwei Dosen Desinfektionsmittel, eine halbe Packung Kräuterseife, Schutzcreme, ein Ultraschallgerät zur Zerstörung von Bakterien, eine Schachtel mit Tattoo-Farben und -Pinseln sowie diverse Vorlagen für komplizierte Muster. »Das ist der endgültige Beweis.« Eve zog ein dünnes Blatt mit den stilisierten Worten MEINE GROSSE LIEBE aus dem Stapel hervor. »Stecken Sie alles ein, Peabody, und lassen Sie es abholen. Ich will, dass das ganze Zeug spätestens in einer Stunde im Labor ist. Ich bin in dem einen Behandlungszimmer und spreche mit dem Personal.« Etwas Neues brachte sie aus den Angestellten nicht heraus. Sie alle hatten Simon nicht nur als Chef geschätzt, sondern auch als Menschen sehr gemocht. Eve hörte ständig Worte wie mitfühlend, großzügig, sympathisch. Und dachte an das Grauen und den Schmerz in Marianna Hawleys Augen. Die Fahrt zum Krankenhaus, um sich nach Piper zu erkundigen, brachten sie schweigend hinter sich. Obgleich die Klimaanlage des Fahrzeugs angenehme Wärme in das Innere des Wagens pumpte, war die Atmosphäre eisig.
Meinetwegen, dachte Eve. Meinetwegen soll sie noch jahrelang beleidigt sein. Wenn Peabody unbedingt die Mimose spielen wollte, war das alleine ihr Problem. Die Arbeit wäre davon nicht betroffen. »Rufen Sie McNab an«, wies sie ihre Assistentin beim Betreten des Fahrstuhls an. »Fragen Sie ihn, ob er inzwischen rausgefunden hat, wo Simon sich vielleicht versteckt. Und fragen Sie ihn auch, ob er Simons persönliche Daten an Mira übermittelt hat.« »Zu Befehl, Madam.« »Wenn Sie noch mal in diesem schnodderigen Ton Madam zu mir sagen, kriegen Sie eine geknallt.« Mit diesen Worten verließ Eve den Lift und ließ eine stirnrunzelnde Peabody hinter sich. »Ich will wissen, wie es Piper Hoffman geht«, erklärte sie einen Moment später und knallte ihren Dienstausweis auf den Tisch der Dienst habenden Schwester. »Die Patientin Hoffman ist sediert.« »Was soll das heißen? Liegt sie immer noch im Koma?« Die farbenfrohe, mit Frühlingsblumen bedruckte Tunika der Schwester passte so gar nicht zu ihrem gestressten, unfreundlichen Gesicht. »Die Patientin Hoffman ist vor zwanzig Minuten aus dem Koma erwacht.« »Weshalb hat man mir nicht Bescheid gegeben? Ich hatte Anweisung erteilt, dass man mich umgehend darüber informiert.«
»Wir haben der Polizei Meldung gemacht, Lieutenant, aber Patientin Hoffman war, als sie wieder zu sich kam, orientierungslos, hysterisch und hat derart heftig um sich geschlagen, dass sie auf Empfehlung des behandelnden Arztes und mit Zustimmung des nächsten Verwandten gefesselt und künstlich ruhig gestellt worden ist.« »Wo ist dieser Verwandte jetzt?« »Er ist wie schon die ganze Nacht in ihrem Zimmer.« »Besorgen Sie mir den behandelnden Arzt.« Eve machte kehrt und marschierte den Korridor hinunter in das Zimmer, in dem Piper lag. Sie sah aus wie eine Elfe. Bleich, blond und wunderschön. Unter ihren Augen lagen leichte Schatten, und aufgrund der Medikamente überzog ein leicht rosiger Hauch ihr zartes, filigranes Gesicht. Unweit des Bettes summten ein paar Monitore. Der Raum selbst sah aus wie das Wohnzimmer der Suite eines hochherrschaftlichen Hotels. Patienten, die es sich leisten konnten, genasen von ihren Krankheiten mit Stil und mit Komfort. Eves erste Erinnerung an einen Aufenthalt im Krankenhaus war die an ein fürchterliches, enges Zimmer mit fürchterlichen, schmalen Betten, in denen Frauen und Mädchen vor Schmerz und Elend stöhnten. Die Wände waren grau gewesen, die Fenster schwarz vor Dreck und die Luft erfüllt vom beißenden Gestank von Eiter und Urin. Sie war acht gewesen, verletzt und mutterseelenallein,
ohne den möglicherweise zweifelhaften Trost, sich daran zu erinnern, wie sie hieß. Piper jedoch würde unter gänzlich anderen Bedingungen aus dem Schlaf erwachen. Ihr Bruder säße neben ihrem Bett und hielte mit einer Vorsicht, als würde sie bei falschem Druck wie dünnes Glas zerspringen, ihre schmale Hand. Überall im Zimmer standen bereits Körbe, Schalen, Vasen voller Blumen, und im Hintergrund erklang eine sanfte, beruhigende Melodie. »Als sie wach geworden ist, hat sie wie eine Wahnsinnige geschrien.« Obwohl er mit Eve sprach, starrte Rudy weiter in das Gesicht seiner Schwester. »Sie hat geschrien, dass ich ihr helfen soll. Und die Geräusche, die sie dabei ausgestoßen hat, waren nicht menschlich.« Er hob ihre lange, schmale Hand an seine Wange. »Aber sie hat mich nicht erkannt. Sie hat nach mir und den Schwestern geschlagen. Sie dachte, sie wäre immer noch… sie dachte, er wäre noch da.« »Hat sie etwas gesagt? Hat sie seinen Namen gesagt?« »Sie hat ihn gekreischt.« Endlich hob er den Kopf und wandte sein ausdrucksloses, wächsernes Gesicht Eve zu. »>0 Gott<«, hat sie geschluchzt. »>Simon, nicht. Nicht, nicht, nicht. Immer und immer und immer wieder. <« Mitleid für die beiden rührte an ihr Herz. »Rudy, ich muss mit ihr reden.« »Sie muss schlafen. Schlafen und vergessen.« Er strich
mit seiner zweiten Hand über Pipers Haar. »Wenn es ihr wieder besser geht, bringe ich sie fort. Irgendwohin, wo es warm und sonnig ist und wo viele Blumen blühen. Dort, weit weg von allem, wird sie wieder gesund. Ich weiß, was Sie von mir oder besser von uns beiden halten. Aber das ist mir egal.« »Es ist gleichgültig, was ich von Ihnen beiden denke. Sie ist das Einzige, was zählt.« Sie trat näher an das Bett und blickte Rudy über seine schlafende Schwester hinweg an. »Meinen Sie nicht auch, dass sie eher genesen wird, wenn sie weiß, dass der Mann, der ihr das angetan hat, hinter Schloss und Riegel sitzt? Ich muss mit ihr reden.« »Sie können Sie nicht zwingen, darüber zu sprechen. Sie können nicht verstehen, was sie fühlt, wie es für sie gewesen ist. « »Das kann ich sehr wohl verstehen. Ich weiß, was sie durchlitten hat. Ich weiß genau, was sie durchlitten hat«, erklärte Eve und lief ein paar Schritte auf und ab. »Ich werde ihr nicht wehtun. Ich will dieses Monstrum hinter Gitter bringen, Rudy, bevor es dasselbe oder noch was Schlimmeres einer anderen antun kann.« »Ich muss dabei sein«, sagte er nach einer langen Pause. »Sie wird mich brauchen – mich und auch den Arzt. Der Arzt muss ebenfalls dabei sein. Wenn sie sich zu sehr aufregt, muss er ihr noch einmal ein Beruhigungsmittel geben.« »In Ordnung. Aber Sie müssen mich meine Arbeit machen lassen.«
Er nickte und blickte dann wieder auf seine Schwester. »Wird sie… wie lange… wenn Sie wissen, wie es für sie ist, können Sie mir sagen, wie lange es dauern wird, bis sie es vergisst?« Himmel. »Sie wird es nie vergessen. Aber sie wird lernen, damit zu leben«, antwortete Eve tonlos und ließ ihn, bis der Arzt kam, mit seiner Schwester und seinen Gedanken allein.
19 »Dank dieses Mittels wird sie ganz allmählich erwachen.« Der Blick des jungen Arztes verriet Mitgefühl und eine Liebe zu den Menschen, denen er mit seinem Können half. Statt einer Schwester oder einem P leger die unschöne Arbeit aufzuhalsen, verabreichte er Piper das Medikament persönlich. »Allerdings werde ich ihr nicht die ganze Dosis geben, damit sie sich nicht wieder so übermäßig erregt.« »Es ist wichtig, dass sie bei klarem Verstand ist«, erklärte Eve, und der Arzt schaute sie mit seinen sanften braunen Augen an. »Ich weiß, Lieutenant. Normalerweise hätte ich mich nicht bereit erklärt, die Sedierung einer Frau in Patientin Hoffmans Zustand aufzuheben, aber mir ist die Wichtigkeit Ihres Anliegens bewusst. Dafür sollte Ihnen auch bewusst sein, dass ich sie so ruhig wie möglich halten muss.« Er blickte auf die Monitore und maß mit seinen Fingerspitzen Pipers Puls. »Sie ist stabil«, erklärte er und wandte sich erneut an Eve. »Allerdings ist die Erholung von einem derartigen Trauma sowohl physisch als auch psychisch eine schwere Reise.« »Waren Sie jemals in der Klinik für Vergewaltigungsopfer in Alphabet City?« »Dort gibt es keine solche Klinik.« »Es gab sie bis vor fünf Jahren, als die Lizenzvergabe
und die Standardgebühren für Straßen-LCs umstrukturiert worden sind. In die Klinik sind vor allem sehr junge Prostituierte eingeliefert worden. Jungen und Mädchen, die gerade erst ins Geschäft gekommen waren und die keine Ahnung hatten, wie man sich gegen einen mit Zeus oder Exotica aufgeputschten Typen wehrt. Ich habe sechs elende Monate in dem Bezirk verbracht. Ich weiß also, was ich tue.« Der Arzt nickte und hob ein Lid seiner Patientin an. »Sie kommt zu sich. Rudy, setzen Sie sich so, dass sie zuerst Sie sieht. Sprechen Sie mit ihr, versuchen Sie sie zu beruhigen. Reden Sie mit leiser, sanfter Stimme.« »Piper.« Rudy verzog das Gesicht zu einem jämmerlichen Lächeln und beugte sich über das Bett. »Liebling, ich bin es, Rudy. Es ist alles in Ordnung. Du bist bei mir. Du bist in Sicherheit. Du bist bei mir. Kannst du mich hören?« »Rudy?«, fragte sie mit schlaftrunkener Stimme und drehte, auch wenn sie ihre Augen weiterhin geschlossen hielt, den Kopf in die Richtung, aus der seine Stimme kam. »Rudy, was ist passiert? Was ist passiert? Wo warst du?« »Jetzt bin ich hier.« Eine Träne rann über seine Wange. »Ich bin und bleibe hier.« »Simon, er tut mir weh. Ich kann mich nicht bewegen.« »Er ist weg. Du bist in Sicherheit.« »Piper.« Als die Angesprochene endlich die Augen öffnete, erkannte Eve in ihrem Blick die von den
Medikamenten nur vorübergehend unterdrückte Panik. »Können Sie sich an mich erinnern?« »Die Polizei. Der Lieutenant. Sie wollten, dass ich schlechte Dinge über Rudy sage.« »Nein, ich möchte nur, dass Sie die Wahrheit sagen. Rudy ist hier in diesem Zimmer, und er wird auch hier bleiben, während wir beide miteinander reden. Erzählen Sie mir, was passiert ist. Erzählen Sie mir von Simon.« »Simon.« Die Lichter auf den Monitoren begannen zu flackern. »Wo ist er?« »Er ist nicht hier. Er kann Ihnen nichts tun.« Eve nahm sanft die Hand, die Piper ängstlich, wie um sich vor einem Schlag zu schützen, vor ihr bleiches Gesicht hob. »Niemand wird Ihnen etwas tun. Ich werde dafür sorgen, dass er nie wieder in Ihre Nähe kommt, aber dabei müssen Sie mir helfen. Sie müssen mir sagen, was er getan hat.« »Er kam an die Tür.« Sie klappte die Augen wieder zu, doch ihre Lider latterten. »Ich habe mich gefreut, ihn zu sehen. Ich hatte ein Weihnachtsgeschenk für ihn, und er hatte eine große, in Silberpapier gehüllte Schachtel in der Hand. Ein Geschenk. Ich dachte, Simon hat ein Geschenk für mich und für Rudy gekauft. Ich habe gesagt, Rudy ist nicht da. Aber das hat er gewusst – Nein, du bist ganz allein, ganz allein mit mir. Er hat mich angelächelt und seine – seine Hand auf meine Schulter gelegt.« »Schwindlig«, murmelte sie leise. »Mir ist entsetzlich
schwindlig, und ich kann nicht mehr richtig sehen. Ich muss mich hinlegen, ich fühle mich nicht gut. Ich höre ihn, höre, dass er mit mir redet, aber ich kann ihn nicht verstehen. Ich kann mich nicht bewegen, kann die Augen nicht mehr öffnen, nicht mehr denken.« »Können Sie sich an irgendwas erinnern, was er zu dem Zeitpunkt gesagt hat? Irgendwas?« »Ich bin schön. Er weiß, wie er mich noch schöner machen kann. Ich spüre etwas Kühles an meinem Bein, er kitzelt mich am Schenkel und redet immer weiter. Er liebt mich, nur mich. Seine große Liebe, er will, dass ich seine große Liebe bin. Bisher bin ich es nicht gewesen, aber ich könnte es werden. Die anderen sind nicht wichtig. Nur ich. Er redet und redet, aber ich kann ihm keine Antwort geben. All die anderen, die er geliebt hat, sind tot, weil sie nicht ehrlich waren. Nicht unschuldig, nicht rein. Nein!« Sie entriss Eve ihre Hand und versuchte, sich auf die Seite zu rollen. »Es ist alles gut. Sie sind sicher. Ich weiß, dass er Ihnen wehgetan hat, Piper. Ich weiß, wie weh es getan hat und welche Angst Sie hatten. Aber jetzt brauchen Sie keine Angst mehr zu haben.« Eve griff erneut nach ihrer Hand. »Sehen Sie mich an, reden Sie mit mir. Ich werde nicht zulassen, dass er Ihnen noch einmal wehtut.« »Er hat mich gefesselt.« Inzwischen rann ein dichter Strom von Tränen über Pipers Gesicht. »Er hat mich ans Bett gefesselt. Er hat mir meinen Morgenmantel ausgezogen. Ich habe gebettelt, dass er das nicht macht. Er
war mein Freund. Dann hat er sich verkleidet. Grässlich. Er hat sich vor eine Kamera gestellt und gelächelt und gesagt, ich wäre ein unartiges Mädchen. Seine Augen, etwas hat mit seinen Augen nicht gestimmt. Ich habe geschrien, aber niemand konnte mich hören. Wo ist Rudy?« »Ich bin hier«, sagte er mit erstickter Stimme und küsste sie zärtlich auf die Schläfe. »Ich bin hier.« »Er hat Dinge mit mir getan. Er hat mich vergewaltigt und es hat so wehgetan. Er hat gesagt, ich wäre eine Hure. Die meisten Frauen wären Huren, Schauspielerinnen, die so täten, als wären Sie was anderes, aber im Grunde wären sie nichts anderes als Huren. Und sie würden die meisten Männer lediglich benutzen und anschließend verlassen. Ich wäre eine Hure, und er könnte mit mir machen, was er will. Und das hat er getan. Er hat mir immer weiter wehgetan. Rudy, ich habe die ganze Zeit nach dir gerufen, damit du dafür sorgst, dass er endlich au hört. Sorg dafür, dass er endlich aufhört!« »Rudy ist gekommen«, sagte Eve. »Rudy ist gekommen und hat dafür gesorgt, dass er aufhört.« »Rudy ist gekommen?« »Ja, er hat Sie gehört, ist gekommen und hat sich um Sie gekümmert.« »Er hat aufgehört. Ja, er hat aufgehört.« Wieder schloss sie ihre Augen. »Jemand hat gerufen, es gab einen fürchterlichen Lärm, und jemand hat geweint. Nach seiner
Mutter. An mehr kann ich mich nicht erinnern.« »Okay. Das haben Sie sehr gut gemacht.« »Sie lassen ihn nicht noch mal zurückkommen?« Sie vergrub ihre Finger in Eves Arm. »Sie lassen nicht zu, dass er mich noch einmal findet?« »Nein, das lasse ich nicht zu.« »Er hat mich mit irgendwas besprüht«, erinnerte sich Piper. »Von Kopf bis Fuß mit irgendwas besprüht.« Sie biss sich auf die Lippe. »Sogar innen hat er mich besprüht. Sein Körper war vollkommen enthaart. Und an der Hüfte hatte er eine Tätowierung.« Das war neu. Auf den Videos, die sie gesehen hatte, hatte er noch keine Tätowierung gehabt. »Können sie sich daran erinnern, wie sie aussah?« »Es waren die Worte >Meine große Liebe<. Er hat sie mir gezeigt, wollte, dass ich sie mir angucke. Er meinte, sie wäre neu und wäre eine echte Tätowierung, nichts, was nach ein paar Tagen wieder abgeht. Weil er es hasste, dass er ständig nur vorübergehend von jemandem geliebt wird. Und ich habe geweint und gesagt, ich würde ihm nie wehtun. Er hat gesagt, das wüsste er, und es täte ihm Leid. Aber er hätte einfach keine andere Wahl.« »Können Sie sich sonst noch an irgendwas erinnern?« »Er hat gesagt, ich würde ihn immer lieben, weil er meine letzte Liebe wäre. Und dass er sich ewig an mich erinnern würde, weil ich seine Freundin wäre.« Inzwischen hatte sie einen, wenn auch erschöpften, so doch völlig
klaren Blick. »Er wollte mich töten. Er war nicht mehr Simon, Lieutenant. Der Mann, der mir das angetan hat, war ein Fremder. In meinem Schlafzimmer hat er sich verwandelt. Und ich glaube, diese Verwandlung hat ihm fast ebenso Angst eingejagt wie mir.« »Jetzt brauchen Sie keine Angst mehr zu haben. Das verspreche ich.« Eve trat einen Schritt zurück und wandte sich an Rudy. »Lassen Sie uns kurz nach draußen gehen, damit der Doktor Ihre Schwester untersuchen kann.« »Ich bin sofort wieder da.« Er küsste Pipers Fingerknöchel. »Ich bin direkt vor der Tür.« »Ich will sie nicht alleine lassen«, sagte er zu Eve, sobald die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen war. »Sie wird mit jemandem darüber reden müssen.« »Sie hat bereits genug geredet. Um Gottes willen, sie hat Ihnen doch alles gesagt – « »Sie wird eine therapeutische Beratung brauchen«, iel ihm Eve ins Wort. »Psychologische Behandlung. Sie von hier fortzubringen wird ihr nicht dabei helfen, damit zurechtzukommen. Vor ein paar Tagen habe ich ihr eine Visitenkarte von mir gegeben, auf deren Rückseite der Name und die Telefonnummer von Dr. Mira, der Polizeipsychologin, stehen. Rufen Sie sie an, Rudy. Lassen Sie sie Ihrer Schwester helfen.« Er öffnete den Mund, klappte ihn noch einmal zu und atmete tief durch. »Eben waren Sie sehr freundlich zu ihr, Lieutenant. Sehr sanft. Und als sie beschrieben hat, was ihr
passiert ist, konnte ich verstehen, weshalb Sie mir gegenüber weder sanft noch freundlich waren, solange Sie dachten, ich wäre verantwortlich für… das, was den anderen Opfern widerfahren ist. Ich bin Ihnen wirklich dankbar.« »Sparen Sie sich Ihre Dankbarkeit für den Moment, in dem ich den Kerl endlich erwische.« Sie wippte auf ihren Fersen. »Sie kennen ihn ziemlich gut, nicht wahr?« »Zumindest habe ich das gedacht.« »Wohin würde er gehen? Gibt es einen Ort oder einen Menschen, bei dem er sich besonders sicher fühlt?« »Ich hätte gesagt, dass er in einem Notfall zu einem von uns beiden kommt. Wir haben sowohl beru lich als auch privat sehr viel Zeit miteinander verbracht.« Er schloss unglücklich die Augen. »Was auch erklärt, weshalb er so problemlos an die Partnerlisten herangekommen ist. Es war völlig normal, dass er bei Personally Yours nach Belieben aus und ein gegangen ist. Wenn ich Ihnen das gleich erzählt hätte, wenn ich ganz offen gewesen wäre statt vor allem zu versuchen, mich und mein Unternehmen zu schützen, hätte ich vielleicht verhindern können, dass es so weit kommt.« »Dann seien Sie bitte jetzt ganz offen. Erzählen Sie mir von ihm und seiner Mutter. « »Sie hat sich umgebracht. Ich weiß nicht, ob das außer mir noch jemand weiß.« Geistesabwesend rubbelte Rudy über seine Nase. »Eines Abends ist er
zusammengebrochen und hat es mir erzählt. Sie war ein unglücklicher, instabiler Mensch. Wofür er seinem Vater die Schuld gegeben hat. Die Eltern wurden geschieden, als Simon noch ein Kind war. Die Mutter kam nie darüber hinweg. Sie war bis zum Schluss der festen Überzeugung, eines Tages käme der Vater ihres Sohnes doch noch zu ihr zurück.« »Ihre große Liebe?« »O Gott.« Er schlug die Hände vors Gesicht. »Ja, ja, ich schätze. Sie war Schauspielerin, nicht besonders erfolgreich, aber Simon fand sie fantastisch. Er betete sie an. Oft jedoch hat ihr Verhalten ihn unglücklich gemacht. Zunehmend häu iger versank sie in Depressionen, und zugleich gab es in ihrem Leben jede Menge Männer. Sie hat sie benutzt, um ihre Stimmung aufzuhellen. Simon war ein wirklich toleranter Mensch, aber in dieser Hinsicht hörte das Verständnis bei ihm auf. Sie war seine Mutter und hatte seiner Meinung nach deswegen nicht das Recht, sich irgendwelchen Männern hinzugeben. Diese Dinge hat er mir gegenüber nur einmal erwähnt, kurz nach ihrem Tod, als er in seiner Trauer noch vollständig verloren war. Sie hat sich erhängt, und er hat sie am Morgen des ersten Weihnachtstags gefunden.« »Das passt haargenau.« Peabody saß stocksteif auf dem Beifahrersitz, während sie zusammen mit Eve mal wieder in einem vorweihnachtlichen Stau stand. »Er hat einen Mutterkomplex und ersetzt sie durch die Opfer, die er an ihrer Stelle straft und liebt. Die beiden Männer stehen entweder für seinen Vater oder für seine eigene
sexuelle Vorliebe.« »Erzählen Sie mir doch mal etwas Neues«, bat Eve sie trocken und schlug zornig mit der Hand läche aufs Steuer. »Dieses verdammte Weihnachten! Kein Wunder, dass Krankenhäuser und psychiatrische Kliniken die besten Geschäfte im Dezember machen.« »Heute ist der Vierundzwanzigste.« »Himmel, ich weiß selber, welcher Tag ist.« Sie ging in die Vertikale, lenkte scharf nach links und schoss über die Dächer der stehenden Fahrzeuge hinweg. »Huch, der Maxibus.« »Ich habe selbst Augen im Kopf.« Eve rutschte um Haaresbreite an dem Vehikel vorbei. »Das Taxi will – « Peabody atmete tief durch und schloss schicksalsergeben die Augen, als der Taxifahrer, der anscheinend ebenso gereizt wie ihre Vorgesetzte war, sein Fahrzeug ebenfalls senkrecht aus dem Stau aufsteigen ließ. Eve luchte, riss das Lenkrad herum und schaltete, als die Stoßstangen der beiden Wagen aufeinander prallten, die Polizeisirene ein. »Du blöder Hurensohn, geh sofort wieder runter.« Sie ließ ihr Fahrzeug zur Hälfte auf die Straße und zur Hälfte auf den Gehweg krachen und wurde dafür von einer Reihe verärgerter Fußgänger beschimpft. Ohne auf die Flüche zu achten, sprang sie aus dem Wagen und stapfte in Richtung des Taxis, dessen Fahrer ebenfalls ausgestiegen war und sie nicht minder
angriffslustig auf halber Strecke traf. Peabody hätte ihm sagen können, dass ein Streit mit ihrer Vorgesetzten vor allem zurzeit alles andere als klug war. Aber, dachte sie, als sie selbst ausstieg und sich mit den Ellenbogen einen Weg durch das Gedränge bahnte, vielleicht besserte sich Eves Laune, wenn sie einem Taxifahrer in den Hintern treten konnte. »Ich habe geblinkt, und ich habe das gleiche Recht wie Sie, den Stau zu über liegen. Sie hatten weder Ihr Blaulicht noch Ihre Sirene eingeschaltet, oder? Die Stadt wird für die Stoßstange bezahlen. Schließlich gehört euch Bullen die Straße nicht allein, und deshalb hast du die gleiche Schuld an dem Zusammenstoß wie ich, Schwester.« »Schwester?« Peabody zuckte und schüttelte vor lauter Mitleid mit dem armen Kerl den Kopf, als Eve mit eisiger Stimme erwiderte: »Ich will dir mal was sagen, Bruder. Als Erstes machst du einen Schritt zurück, bevor ich dich wegen tätlichen Angriffs auf eine Polizeibeamtin aufschreibe.« »Hey, ich habe Sie gar nicht berührt – « »Ich habe gesagt, dass du einen Schritt nach hinten machen sollst. Wollen wir doch mal sehen, wie schnell dir das gelingt. « »Himmel, es ist doch nichts weiter als eine verbeulte Stoßstange, mehr nicht.« »Willst du dich der Anweisung tatsächlich widersetzen?«
»Nein.« Leise murmelnd drehte er sich um, spreizte nach der barschen Anweisung die Beine und legte die Hände auf das Dach seines Wagens. »Mann, wir haben Weihnachten. Vielleicht sollten wir die Sache einfach vergessen. Was meinen Sie?« »Ich meine, dass du besser lernst, uns Bullen etwas Respekt entgegenzubringen.« »Lady, mein Cousin ist selber Polizist auf dem einundvierzigsten Revier. « Eve zückte ihren Dienstausweis und hielt ihn ihm unter die Nase. »Siehst du das hier? Da steht nicht Schwester oder Lady, sondern Lieutenant. Wenn du nicht weißt, was das ist, frag deinen Cousin, den Polizisten auf dem einundvierzigsten Revier.« »Brinkleman«, murmelte er. »Sergeant Brinkleman.« »Dann sag Sergeant Brinkleman vom Einundvierzigsten, dass er sich bei Dallas von der Mordkommission auf der Hauptwache melden und ihr erklären soll, weshalb sein Vetter ein solches Arschloch ist. Wenn er eine zufrieden stellende Erklärung dafür indet, ziehe ich deine Lizenz vielleicht nicht ein und melde vielleicht nicht, dass du ein im Einsatz be indliches Polizeifahrzeug in der Luft geschnitten hast. Kapiert?« »Kapiert, Lieutenant.« »Und jetzt sieh zu, dass du verduftest.« Niedergeschlagen klemmte sich der Fahrer hinter das
Lenkrad seines Taxis, sank dort in sich zusammen und wartete brav auf eine Lücke im Verkehr. Eve, deren Zorn bei weitem noch nicht verraucht war, wirbelte zu Peabody herum und piekste ihr mit einem Finger in die Brust. »Und Sie spucken endlich den Stock aus, den Sie verschluckt zu haben scheinen, wenn Sie heute noch länger mit mir in meinem Wagen sitzen wollen.« »Bei allem Respekt, Lieutenant, mir ist nicht bewusst, dass ich einen solchen Gegenstand im Körper habe.« »Sparen Sie sich den Versuch, witzig zu sein, Of icer Peabody. Wenn Sie mit Ihrer Position als meine Assistentin nicht mehr zufrieden sind, stellen Sie am besten einen Antrag auf Versetzung.« Peabodys Herz zog sich zusammen. »Ich möchte nicht versetzt werden, Madam, ich bin durchaus nicht unzufrieden mit meiner Position.« Am liebsten hätte Eve geschrien, doch stattdessen machte sie kehrt, schaufelte sich durch den dichten Fußgängerverkehr, handelte sich dabei ein paar Rippenstöße und unfreundliche Kommentare ein und p lügte zurück. »Machen Sie so weiter. Reden Sie weiter in diesem unnatürlichen Ton, und ich lade Sie zu einem Boxkampf ein.« »Sie haben mir damit gedroht, sich von mir zu trennen.« »Das habe ich nicht. Ich habe Ihnen nur angeboten, sich jemand anderem zuteilen zu lassen.«
Peabodys Stimme geriet ins Schwanken, und so holte sie, bevor sie weitersprach, erst einmal tief Luft. »Ich hatte und habe nach wie vor das Gefühl, dass Sie gestern Abend hinsichtlich meiner Beziehung zu Charles Monroe eine Grenze überschritten haben.« »Wie mir von Ihnen bereits mehr als deutlich zu verstehen gegeben worden ist.« »Es war einfach unpassend, dass Sie als meine Vorgesetzte Kritik an dem von mir gewählten Begleiter geäußert haben. Das war eine rein persönliche Angelegenheit und – « »Allerdings, es war persönlich.« Eves Augen wurden dunkel, doch, wie Peabody schockiert bemerkte, nicht vor Zorn, sondern vor Verletztheit. »Ich habe gestern Abend nicht als Ihre Vorgesetzte mit Ihnen gesprochen. Mir kam nicht einmal der Gedanke, dass Sie meine Assistentin sind. Ich dachte, ich spräche mit einer Freundin.« Vor lauter Scham bekam Peabody einen puterroten Kopf. »Dallas – « »Eine Freundin«, fuhr Eve fort, »die sich in einen Callboy verguckt hatte, einen Callboy, der obendrein noch als Verdächtiger in einem nicht abgeschlossenen Mordfall angesehen werden muss.« »Aber Charles – « »Steht ganz unten auf der Liste«, beendete Eve den Satz unfreundlich. »Aber trotzdem steht er drauf, weil er eins der tatsächlichen Opfer und eins der anvisierten Opfer
kannte.« »Aber Sie haben keine Sekunde geglaubt, dass Charles der Killer ist.« »Nein, ich dachte, es wäre Rudy, und damit habe ich mich fürchterlich geirrt. Vielleicht habe ich mich ja auch bei meiner Beurteilung von Monroe fürchterlich geirrt.« Was ein Gedanke war, der sie erschreckte. »Nehmen Sie den Wagen, fahren Sie aufs Revier, bringen Sie Captain Feeney und Commander Whitney auf den neuesten Stand, und sagen Sie den beiden, dass ich noch unterwegs bin.« »Aber – « »Fahren Sie den verdammten Wagen aufs Revier«, schnauzte Eve sie an. »Das ist ein Befehl von einer vorgesetzten Polizistin an ihre Assistentin.« Damit tauchte sie im Gedränge unter. »Oh, Scheiße.« Ohne auf das wütende Hupen anderer Fahrer und auf das grauenhafte Weihnachtslieder-Medley zu achten, das aus einem der Läden auf der anderen Seite des dicht bevölkerten Gehwegs an ihre Ohren drang, sank Peabody unglücklich gegen die Kühlerhaube des ihr überantworteten Fahrzeugs. »Peabody, du bist eine Idiotin.« Sie schniefte, suchte nach ihrem Taschentuch, fuhr sich, als ihr ein iel, dass Eve das Tuch behalten hatte, mit dem Handrücken unter der Nase entlang und stieg mit einem abgrundtiefen Seufzer ein. Bis Eve die Ecke der Einundvierzigsten erreichte, hatte
sie genug Dampf abgelassen, um sich eingestehen zu können, dass sie nicht noch dreißig Blocks laufen wollte, bis sie Dickies Labor erreichte. Ein Blick auf die überfüllten Gleitbänder machte ihr deutlich, dass auch das keine Alternative war. Eine neue Fußgängerwoge traf sie im Rücken und schob sie einen halben Block weiter, bevor es ihr gelang, sich daraus zu befreien. Der Rauch eines Schwebegrills, dessen Betreiber pro Minute Dutzende von Soja-Dogs verkaufte, brachte sie zum Husten, und sie blinzelte sich mühsam die Tränen aus den Augen, während sie in ihrer Jackentasche nach ihrem Ausweis grub. Schließlich schubste sie sich bis an den Rand des Gehsteigs und riskierte Leib und Leben, indem sie einem herannahenden Taxi in den Weg sprang und mit dem Dienstausweis gegen die Windschutzscheibe patschte. Entschlossen stieg sie ein, versuchte, sich den Stress der letzten Minuten aus dem Gesicht zu reiben, ließ ihre Hände sinken, und begegnete im Spiegel dem unglücklichen Blick des Chauffeurs. Als sie den Cousin von Sergeant Brinkleman vom Einundvierzigsten, also ihren kürzlichen TaxifahrerKontrahenten erkannte, ing sie an zu lachen. »Manchmal hat man wirklich Glück, nicht wahr?« »Ist einfach nicht mein Tag«, knurrte er. »Ich hasse Weihnachten.« »Momentan hält sich meine Begeisterung dafür
ebenfalls in engen Grenzen.« »Bringen Sie mich ans Ende der Achtzehnten. Von dort aus laufe ich weiter. « »Zu Fuß wären Sie bestimmt schneller.« Sie schaute auf den total überfüllten Gehweg. »Nehmen Sie einfach die Abkürzung durch die Luft. Wenn Sie einen Strafzettel bekommen, lege ich ein gutes Wort für Sie bei den Kollegen von der Verkehrswacht ein.« »Sie sind der Boss, Lieutenant.« Blitzschnell ging er in die Vertikale, und Eve lehnte sich in der Erkenntnis, dass ihre Kopfschmerzen sicher nicht ohne chemische Hilfsmittel zu vertreiben wären, mit geschlossenen Augen in ihrem Sitz zurück. »Kriegen Sie wegen der Stoßstange Probleme?« »So, wie die Kisten ständig aneinander krachen? Nee.« Er hatte bereits die Ecke der Achtzehnten erreicht. »Ich hätte nicht so unfreundlich zu Ihnen sein sollen, Lieutenant. Aber der Verkehr um diese Zeit des Jahres macht einen verrückt.« »Das glaube ich.« Sie zog ein paar Kreditchips aus der Tasche und schob sie durch den Schlitz der Kasse. »Ich denke, damit sind wir quitt.« »Das ist wirklich nett. Ich wünsche Ihnen noch ein halbwegs frohes Fest.« »Ich Ihnen auch«, antwortete sie lachend und stieg aus.
In der Umgebung der Untersuchungsgefängnisse, Leichenschauhäuser und Labore herrschte etwas weniger Betrieb. Schließlich gab es hier auch nichts zu kaufen, dachte Eve, joggte den Rest des Weges bis zu dem hässlichen Stahlgebäude, das von irgendeinem bescheuerten Architekten als Inbegriff von Funktionalität und hochmoderner Technik entworfen worden war, durchquerte die seelenlose Eingangshalle, ging durch den Sicherheitsbogen, klatschte die Hand auf den Scanner, nannte ihren Namen, ihren Rang, ihren Code und dann ihr Ziel. Der Dienst habende Droide nickte, sie fuhr mit dem Gleitband in die unterste Etage und runzelte beim Anblick der leeren Gänge und Büros überrascht die Stirn. Es war helllichter Nachmittag, mitten in der Woche. Wo zum Teufel waren alle hin? Sie betrat das Labor. Und landete auf einer wilden Party. Musik mischte sich mit hysterischem Gelächter. Sie bekam einen Becher mit einer widerlichen grünen Flüssigkeit in die Hand gedrückt, und eine mit nichts als einem Kittel und einer Mikroskopbrille bekleidete Frau tänzelte gut gelaunt an ihr vorbei. Eve schaffte es gerade noch, den Ärmel des Kittels zu erwischen und zu fragen: »Wo ist Dickie?« »Oh, irgendwo wird er sein. Ich hole mir noch was zu trinken.« »Hier.« Eve drückte ihr ihren Becher in die Hand und keilte sich an Menschen und Gerätschaften vorbei, bis sie
Dickie, die Hand unter dem Rock einer betrunkenen Kollegin, auf einem der Tische sitzen sah. Zumindest nahm Eve an, das die Frau getrunken hatte. Wie anders hielte sie Dickies lange Spinnen inger zwischen ihren Beinen aus? »He, Dallas, feiern Sie mit. Hier ist es vielleicht nicht so elegant wie auf Ihrer kleinen Party, aber wir geben uns die größte Mühe.« »Verdammt, wo sind meine Berichte? Wo sind die Ergebnisse, die ich von Ihnen brauche? Was zum Teufel ist hier los?« »He, heute ist der Vierundzwanzigste. Regen Sie sich ab.« Sie packte ihn am Kragen seines Hemdes und zerrte ihn vom Tisch. »Ich habe vier Leichen und eine Frau im Krankenhaus. Erzähl mir also nicht, ich soll mich abregen, du kleiner, schiefäugiger Wicht. Ich will meine Testergebnisse, und zwar sofort.« »Am Vierundzwanzigsten schließt das Labor bereits um zwei.« Er versuchte ihre Hände fortzuschieben, doch sie hielt ihn unbarmherzig fest. »Das ist of iziell. Und jetzt ist es bereits nach drei, Sie Heißsporn.« »Verdammt, der Kerl läuft noch frei herum. Haben Sie gesehen, wie er seine Opfer zugerichtet hat? Wollen Sie, dass ich Ihnen die ver luchten Videos zeige, die er während der Begehung seiner Taten aufgenommen hat? Wollen Sie morgen früh wach werden und hören, dass er
noch einmal zugeschlagen hat, weil Ihnen diese dämliche Feier wichtiger war als Ihre Arbeit? Meinen Sie, dass Ihnen dann Ihre Weihnachtsgans noch schmeckt?« »Verdammt, Dallas. Ich kann Ihnen sowieso kaum was Neues sagen. Lassen Sie mich los.« Überraschend würdevoll strich er, als sie ihn endlich freiließ, den Kragen seines Hemdes glatt. »Gehen wir nach nebenan. Schließlich brauchen wir nicht auch noch allen anderen die Party zu verderben.« Er kämpfte sich durch die Menge und öffnete die Tür des angrenzenden Raums. »Himmel, Feinstein, hier drinnen geht das nicht. Gehen Sie zum Vögeln wie alle anderen in den Lagerraum hinüber.« Eve presste sich die Finger vor die Augen, als sich zwei heftig kopulierende Menschen voneinander lösten, nach ihren auf dem Boden verstreuten Kleidern griffen und kichernd an ihnen vorbei in Richtung des besagten Lagerraumes hüpften. Waren um diese Zeit des Jahres alle total verrückt? »Das von uns gemixte Gebräu ist wirklich teu lisch«, erläuterte Dickie. »Lauter legale Zutaten, aber bereits nach dem zweiten Becher haut es einen um.« Er setzte sich vor den Computer und rief die Ergebnisse der Spurensuche am letzten Tatort ab. »Dieses Mal haben wir seine Fingerabdrücke gefunden, aber das ist Ihnen ja bereits bekannt. Der Täter wurde eindeutig identi iziert. Außerdem gab es Spuren desselben Desinfektionsmittels wie auch bei den anderen Opfern. Das
Make-up, das er zurückgelassen hat, war ebenfalls das Gleiche wie das, das er vorher verwendet hat. Das Kostüm und der andere Scheiß, den Sie uns haben schicken lassen, passen zu den bereits untersuchten Fasern. Sie haben den Typen eindeutig als Täter in allen Fällen identi iziert, Dallas. Wenn die Sache vor Gericht kommt, nageln Sie ihn damit fest.« »Hat die Untersuchung des letzten Tatorts sonst noch was erbracht? Ich brauche was, um ihn zu finden, Dickie.« »Nichts, was nicht zu erwarten gewesen wäre. Und die Überprüfung seiner Wohnung hat ebenfalls nicht allzu viel ergeben. Der Typ ist ein Sauberkeitsfanatiker. Er hat dort wie ein Wilder gewienert und geschrubbt. Trotzdem haben wir noch ein paar Fasern, die zu dem Kostüm passen, gefunden. Und ein paar ausgefallene Haare, die übereinstimmen mit denen aus der Wohnung, in der der letzte Mord begangen wurde, und dem Material des Bartes, den er gestern Abend am Tatort zurückgelassen hat. Wenn Sie ihn erwischen, habe ich jede Menge Material, um Ihnen zu helfen, ihn bis ans Ende seiner Tage hinter Schloss und Riegel verschwinden zu lassen. Mehr kann ich Ihnen im Moment nicht geben.« »Okay. Schicken Sie mir und Feeney den Bericht auf unsere Computer auf der Wache.« Da sie beide wussten, dass die Übermittlung des Berichts längst überfällig war, zuckte Dickie nur mit den Schultern. »Tut mir Leid, dass ich Ihnen den Spaß auf der Party
verdorben habe.« »In ein, zwei Stunden macht sowieso die ganze Stadt über die Feiertage zu. Menschen müssen auch mal frei haben, Dallas. Das ist ihr gutes Recht.« »Ja. Ich habe eine Frau, die Weihnachten im Krankenhaus verbringt. Und es ist ihr gutes Recht, dass jemand dafür sorgt, dass sie es möglichst bald ohne Angst wieder verlassen kann.« Sie trat aus dem Gebäude in die kalte Luft und wünschte sich, sie hätte Dickie nach einem Mittel gegen das Pochen hinter ihrer Stirn gefragt. Es wurde bereits dunkel. Der Dezember war die Zeit der langen Nächte, in denen das Tageslicht kaum auftauchte. Sie zog ihr Handy aus der Tasche und rief zu Hause an. »Du bist noch am Arbeiten«, bemerkte sie, als sie das Papier aus dem Laserfax hinter dem Rücken ihres Mannes quellen sah. »Nur noch ein bisschen.« »Ich habe selber noch zu tun und glaube nicht, dass ich so schnell heimkomme.« Er sah ihr ihren Kopfschmerz an. »Was hast du denn vor?« »Ich will mir erneut Simons Wohnung ansehen. Ich habe sie bisher noch nicht selber durchsucht. Vielleicht haben die Leute von der Spurensicherung ja irgendetwas übersehen. Ich muss es einfach tun.«
»Ich weiß.« »Hör zu, ich habe Peabody den Wagen überlassen. Von der Wohnung aus wäre ich schneller daheim als auf der Wache, könntest du mir also vielleicht einen Wagen oder so was schicken?« » Selbstverständlich. « »Danke. Ich rufe noch mal an, wenn ich dort fertig bin.« »Tu, was du tun musst, aber nimm was gegen das Kopfweh.« Sie verzog den Mund zu einem schmalen Lächeln. »Ich habe nichts dabei. Lass uns, wenn ich nach Hause komme, jede Menge Wein trinken und bumsen wie wilde Tiere. Das hilft mir bestimmt.« »Tja, eigentlich hatte ich für heute Abend eine ausgiebige Partie Schach mit dir geplant, aber wenn dir solche anderen Dinge wirklich lieber sind…« Es war ein herrliches Gefühl, dachte Eve, als sie die Übertragung abbrach, unbeschwert zu lachen. Weshalb war sie überrascht, als sie vor Simons Haus nicht nur einen Wagen, sondern zusätzlich ihren Gatten vorfand, fragte sie sich, sagte jedoch: »Du hättest mir den Wagen ebenso gut mit einem Droiden schicken können.« »Hast du nur eine Sekunde geglaubt, das würde ich tun?« »Nein.« Sie strich sich die Haare aus der Stirn. »Und ich glaube auch nicht, dass du bereit bist, im Wagen zu warten,
bis ich dort oben fertig bin.« »Da siehst du mal wieder, wie gut wir uns inzwischen kennen.« Er zog eine kleine, emaillierte Dose aus der Tasche seines Mantels und reichte ihr eine kleine blaue Pille. »Mund auf. « Als sie stirnrunzelnd auf die Tablette blickte und störrisch die Lippen aufeinander presste, zog er eine Braue in die Höhe und erklärte: »Das ist nur ein leichtes Schmerzmittel. Sicher kannst du besser denken, wenn das Kopfweh endlich weg ist.« »Und es ist wirklich harmlos?« »Ja. Also mach den Mund auf.« Er umfasste ihr Kinn, legte ihr die Pille auf die Zunge und klappte ihren Unterkiefer entschieden wieder hoch. »So, und jetzt sei ein braves Mädchen und schluck das Ding schön runter.« »Leck mich.« »Meine Liebe, ich würde schon seit heute Morgen nichts lieber tun als das. Übrigens habe ich dein ReserveUntersuchungsset dabei.« »Das zeigt, dass zumindest einer von uns beiden noch klar denkt. Danke«, sagte sie, als er es aus dem Wagen nahm, und erklärte auf dem Weg in das Gebäude: »Inzwischen haben wir ihn eindeutig überführt. Es gibt jede Menge handfester Beweise, Augenzeugen, wir kennen das Motiv und wissen, dass er die Gelegenheit und die Mittel zur Tatbegehung hatte.« »Dazu kommt noch die Tatsache, dass der
Kosmetikkasten, den er in Piper Hoffmans Wohnung zurückgelassen hat, ein Einzelstück gewesen ist. Er hat es selbst entworfen und bei uns bestellt.« Um die Wirkung der Tablette zu beschleunigen, legte Roarke eine Hand in ihren Nacken und begann sie zu massieren. »Mein Unternehmen bietet lizensierten Kosmetikern diesen Extra-Service an.« »Super. Jetzt muss ich ihn nur noch finden.« »Er hat kein Hotelzimmer genommen.« Roarke sah seine Gattin lächelnd an. »McNab war wirklich eifrig. Simon ist weder in einem Hotel noch in einer der privaten Unterkünfte, in denen an einem Tag, an dem niemand arbeiten möchte, jemand zu erreichen war. « »Die Arbeitsunlust habe ich am eigenen Leib gespürt. Als ich ins Labor zu Dickie wollte, fand dort gerade eine regelrechte Orgie statt.« »Zu der wir nicht eingeladen waren. Das ist nicht nett.« »Ich habe das Gefühl, dass man auf dem Fest womöglich in den seltenen Genuss gekommen wäre, den Sturschädel nackt zu sehen.« Sie zog ihren Generalschlüssel hervor, brach das Polizeisiegel und öffnete die Tür der Wohnung 35. »Und das ist ein Genuss, auf den ich gerade Weihnachten durchaus verzichten kann. Wenn du mit reinkommst, musst du deine Hände und Schuhe versiegeln.« Roarke blickte seufzend auf die Dose. »Könnt ihr nicht mal etwas nehmen, das etwas besser riecht?« Trotzdem sprühte er seine Hände und seine Schuhe ein.
»Recorder an. Vierundzwanzigster Dezember, sechzehn Uhr zwölf. Lieutenant Eve Dallas betritt die Privatwohnung des Verdächtigen Simon. Die ermittelnde Beamtin ist in Begleitung der Zivilperson Roarke, die sie vorübergehend als Assistenten verpflichtet hat.« Sie betrat das Appartement, machte Licht und blieb stehen. Inzwischen herrschte keine besondere Ordnung mehr in den zuvor so aufgeräumten Zimmern. Die Spurensicherung hatte auf der Suche nach Fingerabdrücken und anderen Spuren einen leichten Puder ilm auf sämtlichen Ober lächen verteilt. Außerdem hatten die Leute die Möbelstücke verrückt, Kissen ausgeschüttelt, Bilder abgehängt und das Link sowie sämtliche anderen technischen Geräte zwecks gründlicher Untersuchung ins Labor geschickt. »Wenn du schon mal hier bist«, sagte Eve zu Roarke, »sieh dich ruhig ein wenig um. Wenn dir irgendetwas auffällt, ruf mich. Ich nehme mir zuerst das Schlafzimmer des Typen vor.« Kaum hatte sie den Schrank geöffnet, als Roarke, eine Diskette zwischen Daumen und Zeige inger, durch die Tür kam. »Das hier ist mir aufgefallen, Lieutenant.« »Wo zum Teufel hast du die gefunden? Sämtliche Disketten sollten im Labor sein.« »Während der Feiertage sind häu ig Aushilfskräfte engagiert. Was soll man da erwarten? Das Ding steckte im Rahmen eines Hologramms – die Frau darauf ist sicher
seine Mutter. Die Auswahl des Verstecks ist demnach anscheinend nach sentimentalen Gesichtspunkten erfolgt.« »Ich habe nichts, worauf ich das Ding laufen lassen könnte. Sie haben alles mitgenommen. Ich muss zurück auf die Wache und… « Roarke zog einen schlanken schwarzen Kasten aus der Tasche seines Mantels, klappte den Deckel auf – und sie blickte stirnrunzelnd auf einen kleinen Bildschirm. »Ein neues Spielzeug«, erklärte er gelassen. »Leider haben wir nicht rechtzeitig vor Weihnachten sämtliche technischen Probleme in den Griff bekommen. Aber rechtzeitig zum Tag des Präsidenten bringen wir die Kiste gewiss auf den Markt. « »Ist sie sicher? Ich kann nicht erlauben, dass du die Diskette vielleicht mit dem Ding beschädigst.« »Ich habe dieses Gerät persönlich technisch auf Vordermann gebracht. Es ist ein kleines Juwel.« Er schob die Diskette in den Schlitz und sah Eve fragend an: »Soll ich?« »Ja, lass uns gucken, was der gute Simon wert fand, aufzunehmen.«
20 Es war ein ausschweifendes und eher jämmerliches Video-Journal. Aufzeichnungen aus einem Jahr, in dem das Leben eines Mannes völlig aus dem Gleichgewicht geraten war. Eve nahm an, Mira hätte diesen Film als Hilfeschrei gesehen. Mindestens ein Dutzend Mal sprach er von seiner Mutter. Seiner großen Liebe, die er in einer Szene in den Himmel hob und in der anderen verdammte. Sie war eine Heilige. Sie war eine Hure. Das Einzige, was Eve am Ende sicher wusste, war, dass sie eine Last gewesen war, eine Last, vor der sich Simon nie gedrückt und der er sich niemals bewusst gewesen war. Jahr für Jahr hatte sie dasselbe goldene Armband neu verpackt, das sie für ihren Mann gekauft und in das sie die Worte »Meine große Liebe« hatte eingravieren lassen, und hatte es für den Mann, der sie und ihren kleinen Sohn verlassen hatte, unter den Weihnachtsbaum gelegt. Und Jahr für Jahr hatte sie ihrem Sohn an Weihnachten erklärt, sein Vater wäre am nächsten Morgen da. Lange Zeit hatte er ihr geglaubt. Und noch länger hatte er gestattet, dass sie selber es glaubte.
Dann, am Weihnachtsabend letzten Jahres hatte er, angewidert von den Männern, von denen sie sich hatte benutzen lassen, das Päckchen mit dem Armband für den Vater in den Mülleimer geworfen und dadurch ihre Illusion zerstört. Und sie hatte sich mit der hübschen, stabilen Girlande erhängt, die von ihrem Sohn um den Baum gewickelt worden war. »Keine schöne Weihnachtsgeschichte«, meinte Roarke am Ende. »Was für ein armes Schwein.« »Eine jämmerliche Kindheit ist keine Entschuldigung für Vergewaltigung und Mord.« »Nein, das ist sie nicht. Aber sie mag die Wurzel allen Übels sein. Jeder Mensch wächst anders, Eve, und eine Entscheidung führt dabei zur nächsten.« »Aber für diese Entscheidungen sind wir selbst verantwortlich.« Sie zog eine Plastiktüte aus der Tasche, hielt sie auf, und Roarke nahm die Diskette aus dem Schlitz und warf sie hinein. Dann nahm Eve ihr Handy aus der Tasche und wählte die Nummer von McNab. »Bei der Suche nach einem möglichen Versteck tappe ich immer noch im Dunkeln. Allerdings habe ich den Vater aus indig gemacht. Er ist vor beinahe dreißig Jahren auf die Station Nexus ausgewandert und hat sich dort eine zweite Frau genommen, mit der er zwei Kinder und diverse Enkelkinder hat. Falls Sie sich mit ihm in
Verbindung setzen wollen, kann ich Ihnen die genaue Adresse geben.« »Was sollte das nützen? Ich habe ein Videotagebuch aus Simons Wohnung, das von der SpuSi übersehen worden ist. Ich schicke es an die Abteilung für elektronische Ermittlungen. Fahren Sie bitte dort vorbei, und hängen Sie es an die betreffende Datei. Dann haben Sie frei. Geben Sie bitte auch an Peabody weiter, dass sie nach Hause fahren kann, aber bitte bleiben Sie beide in Rufbereitschaft.« »Auf jeden Fall. Früher oder später muss er ja aus seinem Versteck gekrabbelt kommen, und dann schnappen wir ihn uns.« »Genau. Fahren Sie los, und hängen Sie Ihren Strumpf vor den Kamin. Wollen wir hoffen, dass wir alle das zu Weihnachten bekommen, was wir haben wollen. Ende.« Roarke verfolgte, wie sie das Handy zurück in ihre Jackentasche schob. »Du bist zu hart zu dir selbst.« »Er muss noch heute Abend aus der Deckung kommen. Er muss etwas unternehmen. Und er ist der Einzige, der weiß, wo er etwas unternehmen wird. Und wen er diesmal treffen will. « Sie trat nochmals vor den Schrank. »Er hat sogar seine Kleider nach Farben und Stoffen geordnet. Er ist tatsächlich noch ordnungsfanatischer als du.« »Ich inde nicht, dass man fanatisch ist, wenn man ein gewisses System in seinen Sachen hat.« »Ja, vor allem, wenn man zweihundert schwarze
Seidenhemden hat. Schließlich will man nicht das falsche anziehen und dadurch einen unverzeihlichen Fauxpas begehen.« »Ich nehme an, das heißt, dass du kein schwarzes Seidenhemd für mich zu Weihnachten gekauft hast.« Sie lugte über ihre Schulter und verzog elend das Gesicht. »Das mit den Weihnachtseinkäufen habe ich irgendwie vermasselt. Mir ist erst klar geworden, was Weihnachtseinkäufe sind, als Feeney mir erklärt hat, dass man einen Berg von Sachen für seinen Ehegatten haben muss. Ich habe nur ein einziges Teil.« Er pulte mit der Zunge in der Wange. »Darf ich raten, was es ist?« »Nein, dafür bist du im Lösen von Rätseln zu gut.« Sie starrte wieder auf den Schrank. »Wie wäre es, wenn du stattdessen dieses Rätsel für mich löst? Hier hängen Hemden und Hosen von Weiß über Cremefarben und – was ist denn das für eine Farbe?« »Ich würde sagen taupe.« »Fein. Dann geht es weiter Richtung blau und grün. Alles hübsch der Reihe nach. Dann kommt eine Lücke und schließlich kommen Braun- und Grautöne und schwarz. Welche Farbe könnte also fehlen?« »Ich würde sagen, rot.« »Genau. Hier drinnen gibt es nichts in Rot. Vielleicht trägt er rot nur zu besonderen Anlässen. Er hatte also ein Ersatzkostüm, das er anscheinend mitgenommen hat.
Zumindest haben die Leute von der Spurensicherung nichts Derartiges entdeckt. Ebenso sind die nächsten Schmuckstücke eindeutig nicht mehr da. Sechs Gänse und so weiter. Auch die hat er offenbar vorsorglich eingesteckt. Er ist also bereit für den nächsten großen Auftritt. Aber wo hat er das ganze Zeug versteckt? Wo bewahrt er es auf, wohin zum Teufel ist er selber abgetaucht?« Sie ging langsam durch das Zimmer. »Er kann nicht hierher zurück. Das ist ihm bewusst. Er ist das Wagnis eingegangen, noch einmal zurückzukommen, weil er sein Werk zu Ende bringen muss, und das kann er nicht ohne sein Werkzeug, sein Kostüm und seine Requisiten. Aber er ist zu clever, zu perfekt organisiert und vor allem viel zu ängstlich, um nicht einen anderen sicheren Ort zu haben.« »Sein Leben hat hier stattgefunden, bei seiner Mutter und seiner Erinnerung an sie. Und in seinem Salon.« Als ihr die Erleuchtung kam, schloss sie entsetzt die Augen. »Gott, er ist in dem Gebäude. Er ist ganz bestimmt in dem Gebäude.« »Dann sollten wir zusehen, dass wir ihn möglichst umgehend dort aufspüren.« Der Straßenverkehr war tatsächlich noch schlimmer als am frühen Nachmittag. Eine dünne Eisschicht überzog die Straßen, doch war auf den Bürgersteigen inzwischen kaum jemand unterwegs. Die wenigen Fußgänger, die man noch sah, eilten zu ihren Familien oder Freunden oder stürzten verzweifelt auf der Suche nach einem bisher vergessenen Geschenk in die wenigen noch geöffneten
Geschäfte. Die Straßenlaternen gingen an und bildeten auf der Erde Pfützen kalten Lichts. Eve verfolgte, wie auf einem beweglichen Plakat der Weihnachtsmann auf seinem Schlitten durch die Luft log und dröhnend frohe Weihnachten rief. Dann regnete es Eis. Na super. Als Roarke den Wagen vor dem Haus zum Stehen brachte, stieg sie schnell aus, zog ihren Generalschlüssel hervor, ging nach kurzer Überlegung in die Hocke, zog einen Stunner aus dem Knöchelhalfter, das sie fast immer trug, und hielt ihn ihrem Gatten hin. »Hier, nimm mein Ersatzding. Schließlich weiß man nie.« Sie traten aus der Kälte in das warme Licht der Überwachungskameras. »Den ganzen Tag hat im Salon, in den Geschäften und den Fitnessclubs Hochbetrieb geherrscht. Er jedoch brauchte Ruhe. Wahrscheinlich gibt es ein paar leer stehende Büros, die wir überprüfen könnten. Ich gehe aber davon aus, dass er sich in Pipers Wohnung verkrochen hat. Er muss wissen, dass sie im Krankenhaus liegt und dass Rudy sie nicht allein lässt, weshalb es in ihrem Appartement ruhig und sicher für ihn ist. Schließlich gibt es auch für uns, nachdem die Spurensuche abgeschlossen ist, keinen Grund, uns erneut dort umzusehen.«
Sie drückte auf den Knopf des Fahrstuhls und begann zu fluchen. »Das Ding ist außer Betrieb.« »Soll ich ihn für dich in Gang setzen, Lieutenant?« »Gib bitte nicht so an.« »Ich nehme das als Ja. « Er steckte die Waffe in die Jackentasche und zog ein kleines Werkzeugtäschchen daraus hervor. »Es wird nicht lange dauern.« Er löste das Kontrollpaneel, drückte mit seinen schnellen, geschickten Fingern ein paar der darunter verborgenen Knöpfe, man hörte ein leises Summen, und die Lichter über der Glastür blinkten. »Nicht übel – für einen Geschäftsmann.« »Danke.« Mit einer hö lichen Verbeugung überließ er ihr den Vortritt. »Die Wohnung der Hoffmans.« Tut mir Leid. Für den Zutritt zu dieser Etage braucht man einen bestimmten Code oder die Zustimmung der Bewohner. Eve bleckte die Zähne und wollte erneut ihren Generalschlüssel verwenden, als Roarke bereits auch hier die Blockade durch Drücken einiger Knöpfe überwand. »So geht es genauso schnell.« Schnell und lautlos trug der Fahrstuhl sie hinauf. Als er die Fahrt verlangsamte, schob sich Eve zwischen ihren Gatten und die Tür. Hinter ihrem Rücken wartete er mit
zusammengekniffenen Augen ab, stieß sie, als die Tür zur Seite glitt, unsanft beiseite, sprang über die Schwelle und schwenkte seine Waffe durch den Flur. »Tu das nie wieder«, zischte sie, während sie ihm von hinten Deckung gab. »Und wag du es ja nie wieder, dich als Schild vor mich zu stellen. Ich würde sagen, wir sind quitt. Sollen wir die Tür in Angriff nehmen?« Noch bebend vor Empörung – doch darüber sprächen sie später –, murmelte sie: »Ich greife von unten an. Das ist mir lieber«, und öffnete das Schloss. »Also gut. Bei drei. Eins, zwei…« Geschmeidig wie bei einem Trainingsprogramm sprangen sie gleichzeitig in den Flur. Sämtliche Lampen brannten, und aus der Stereoanlage erklang eine fröhliche Weihnachtsmelodie. Obgleich die Jalousien heruntergelassen waren, spiegelte sich der vor dem Fenster stehende Weihnachtsbaum in dem blank geputzten Glas. Sie wandte sich nach links, und auf dem Weg zum Schlafzimmer ielen ihr diverse Kleinigkeiten auf. Die Flecken, die die Spurensicherung ganz sicher hinterlassen hatte, waren nicht mehr da, und neben dem süßen Duft der Blumen hing der Geruch von Desinfektionsmittel in der klimatisierten Luft. Eine schwache Dampfwolke stieg aus dem Whirlpool auf. Das Wasser war also noch heiß.
Auch das Schlafzimmer war aufgeräumt, das Bett gemacht und der Boden sorgfältig gewischt. Eve hob die Decke an und luchte. »Er hat sogar ein frisches Laken aufgezogen. Der Bastard hat tatsächlich in dem Bett geschlafen, in dem sie von ihm vergewaltigt worden ist.« Zornig riss sie die Türen der Kleiderschränke auf. Zwischen den weich ließenden Roben, die Rudy und Piper liebten, waren ordentlich mehrere Hemden und Hosen aufgehängt. »Er hat sich tatsächlich häuslich eingerichtet.« Sie ging in die Hocke und öffnete den makellosen schwarzen Koffer, der auf dem Schrankboden lag. »Der Rest seiner Requisiten.« Mit pochendem Herzen zählte sie die Schmuckstücke und murmelte dabei die Zeilen des ihr verhassten Lieds. »Er geht wahrhaftig bis zur Zwölf – hier, siehst du den Haarclip mit dem Dutzend Trommlern? Alle Stücke sind da, bis auf die Nummer fünf. Die muss von ihm mitgenommen worden sein.« Sie stand entschieden wieder auf. »Er hat ein schönes Entspannungsbad genommen, ist in sein Kostüm gestiegen, hat sein Werkzeug eingepackt und die Wohnung verlassen. Aber er hat seine Rückkehr hierher geplant.« »Dann warten wir am besten auf ihn.« Sie hätte gerne zugestimmt. Zuzustimmen wäre angenehmer, als sich eingestehen zu müssen, dass sie ihn persönlich zur Strecke bringen und ihm dabei in die Augen sehen wollte. Dass sie wissen wollte, dass sie ihn geschlagen hatte, und dadurch zugleich den Teil ihres
Selbsts, dem sie in ihren bösen Träumen ausgesetzt war. »Ich werde die Sache melden. Ein paar Leute sind selbst heute Abend im Dienst. Ich brauche ein paar Männer draußen und ein paar im Innern des Gebäudes. Bis sie hier sind, wird es zirka eine Stunde dauern. Dann fahren wir nach Hause.« »Du willst die Sache niemand anderem überlassen.« »Nein, das will ich nicht. Vielleicht ist das der Grund, weshalb ich sie jemand anderem überlassen muss. Außerdem…«, in Erinnerung an Miras Worte sah sie ihn gerade an, »… habe ich ein Recht auf das Leben, das ich mir zusammen mit dir aufgebaut habe.« »Also ruf bei der Zentrale an.« Er legte eine Hand an ihre Wange. »Und dann fahren wir heim.« Mit einem abgrundtiefen, selbstmitleidigen Seufzer brachte Peabody ihre Papierarbeit zu Ende, hob den Kopf und merkte, dass McNab eingetreten war. »Was ist?« »Ich komme gerade zufällig vorbei. Ich habe Ihnen doch gesagt, dass Dallas Ihnen freigegeben hat.« »Ich habe dann frei, wenn meine Berichte fertig geschrieben sind.« Lächelnd spähte er auf den Computer, der soeben meldete, dass der letzte Bericht der entsprechenden Datei zugeordnet worden war. »Das ist anscheinend genau in dieser Sekunde der Fall. Haben Sie denn jetzt ein heißes Date mit Ihrem Beau?«
»Sie haben wirklich keine Ahnung.« Peabody schob sich vom Schreibtisch zurück. »Man verbringt wohl kaum den Weihnachtsabend mit jemandem, mit dem man bisher nur einmal ausgegangen ist.« Außerdem war Charles bereits für den Abend gebucht. »Ihre Familie lebt nicht in der Nähe, oder?« »Nein.« In der Hoffnung, dass er sich endlich verdrückte, fing sie an, den Schreibtisch aufzuräumen. »Sie konnten also über die Feiertage nicht nach Hause fahren?« »Diesmal nicht.« »Ich auch nicht. Dieser Fall lässt einem kaum noch Freizeit. Ich habe auch nichts weiter vor.« Er schob die Daumen in die Taschen seiner Hose. »Was meinen Sie, Peabody, sollen wir vielleicht über Weihnachten einen Waffenstillstand schließen?« »Ich wüsste nicht, dass wir Krieg gegeneinander führen.« Sie drehte sich um und nahm ihre Uniform vom Haken. »Sie wirken ein bisschen niedergeschlagen.« »Es war halt ein langer Tag.« »Tja, wenn Sie den Weihnachtsabend nicht mit Ihrem Beau verbringen, warum verbringen Sie ihn dann nicht einfach mit einem Kollegen? Es ist kein guter Abend, um allein zu sein. Ich lade Sie auf einen Drink und was zu essen ein.«
Gesenkten Hauptes knöpfte sie ihren Mantel zu. Weihnachten allein oder zusammen mit McNab. Keiner der beiden Gedanken war besonders reizvoll, doch kam sie zu dem Schluss, dass der Abend allein noch schlimmer war. »Ich mag Sie nicht genug, um mich von Ihnen zum Essen einladen zu lassen.« Sie ixierte ihn und zuckte mit den Schultern. »Wir werden die Rechnung teilen.« »Abgemacht.« Sie hätte nicht erwartet, sich tatsächlich zu amüsieren, doch nach ein paar Cocktails kam sie zu dem Schluss, dass sie nicht wirklich unglücklich war. Zumindest war sie nicht allein. Sie knabberte an den Chicken Wings, die, wie sie aus leidvoller Erfahrung wusste, den direkten Weg in Richtung ihrer Hüften nehmen würden. Aber zum Teufel mit der ständigen Diät. »Wie können Sie nur derartige Mengen essen?«, fragte sie McNab, während sie voll Neid verfolgte, wie er große Bissen von seiner Riesen-Doppel-Käse-Pizza nahm. »Warum sind Sie, wenn Sie derart reinhauen, kein fettes, aufgedunsenes Schwein?« »Stoffwechsel«, mummelte er. »Ich habe einfach einen guten Stoffwechsel. Wollen Sie ein Stück?« Über lüssige Pfunde waren für sie ein beständiger, persönlicher Kampf. Trotzdem nahm sie eine halbe Scheibe und schob sie sich genüsslich in den Mund. »Haben Sie und Dallas sich wieder vertragen?« Peabody schluckte und funkelte ihn böse an. »Hat Sie
mit Ihnen darüber geredet?« »Hey, ich bin Detective. Ich merke schlicht, was um mich herum passiert.« Die beiden Cocktails hatten ihre Zunge weit genug gelöst, als dass sie zugab: »Ich fürchte, dass sie total sauer auf mich ist.« »Haben Sie etwas verbockt?« »Ich schätze. Zwar hat sie das auch«, meinte Peabody und runzelte die Stirn, »aber ich habe eindeutig den größeren Bock geschossen, und ich habe keine Ahnung, wie ich das wieder gutmachen soll.« »Wenn man einen Menschen hat, der sich für einen in Stücke reißen lassen würde, und wenn man mit ihm Streit hat, dann kriegt man die Sache früher oder später wieder hin. In meiner Familie schreien wir uns giftig an, dann sind wir eine Zeit lang beleidigt, und dann entschuldigen wir uns.« »Dallas und ich sind aber nicht miteinander verwandt.« Er lachte. »Nein, das sind Sie nicht.« Und betrachtete sie lächelnd. »Essen Sie die Chicken Wings noch auf?« Sie merkte, dass ihr leichter ums Herz wurde. Auch wenn ihr Gegenüber eine Nervensäge war, hatte er in dieser Sache eindeutig Recht. »Ich tausche sechs von den Dingern gegen eine zweite Scheibe Pizza«, antwortete sie und schob sich gut gelaunt ein Stückchen Hühnchen in den Mund.
Eve gab sich die größte Mühe, die Überwachung der Wohnung aus ihren Gedanken zu verdrängen. Sie hatte gute, erfahrene Leute im und um das Gebäude verteilt und in einem Umkreis von vier Blocks elektronische Spürgeräte aufgestellt. Sobald Simon auch nur in die Nähe der Wohnung kommen würde, säße er in der Falle. Es nützte nichts, wenn sie überlegte, sich fragte, daran dachte, wo er zurzeit steckte, was er gerade tat, ob es noch einen Toten geben würde. Das hatte sie nicht in der Hand. Ehe die Nacht vorüber wäre, hätten sie ihn bestimmt erwischt. Die Beweise gegen ihn waren solide, er ginge ins Gefängnis und käme nie wieder heraus. Das müsste ihr genügen. »Du hast etwas von Wein gesagt.« »Ja, das habe ich.« Als sie das ihr von Roarke gereichte Glas entgegennahm, iel ihr das Lächeln leichter als erwartet. »Und etwas von wilder Bumserei.« »Ich erinnere mich, dass du etwas in der Richtung vorgeschlagen hast.« Noch einfacher war es, das Weinglas auf den Tisch zu stellen und ihn anzuspringen wie ein Tier. Peabody kam später als erwartet heim. Sie hätte nicht erwartet, sich derart zu amüsieren. Natürlich, dachte sie, als sie die Treppe zu ihrem Appartement erklomm, hatte das wahrscheinlich mehr am Alkohol gelegen als an der Gesellschaft.
Obgleich McNab zugegebenermaßen kein solches Arschloch wie sonst gewesen war. Nun war sie auf angenehme Weise beschwipst, würde sich in ihren abgewetzten Morgenmantel hüllen, die Lichter am Weihnachtsbaum anmachen, vom Bett aus irgendeinen rührseligen Weihnachts ilm im Fernsehen gucken und um Mitternacht bei ihren Eltern anrufen. Der Weihnachtsabend war gar nicht so übel verlaufen wie befürchtet. Am Ende der Treppe wandte sie sich nach links und ging leise summend in Richtung ihrer Tür. Ehe sie jedoch den Schlüssel in das Schloss geschoben hatte, kam der Weihnachtsmann mit einer großen Silberschachtel um die Ecke und blitzte sie mit irren Augen an. »Hallo, kleines Mädchen! Du kommst ziemlich spät. Ich hatte schon Angst, ich könnte dir dein Weihnachtsgeschenk nicht mehr überreichen.« Oh, dachte Peabody. Oh, Scheiße. Sie hatte den Bruchteil einer Sekunde, um eine Entscheidung zu treffen. Sollte sie sich wehren, mitspielen oder lieber lüchten? Ihr Stunner steckte unter ihrem bis oben zugeknöpften Mantel, das Handy aber lag grif bereit in ihrer Tasche, und so entschied sie sich zu bleiben. Sie zwang sich zu lächeln, tastete nach dem Gerät und schaltete es ein. » Wow, der Weihnachtsmann. Ich hätte nie gedacht, dass ich dir direkt vor meiner Wohnungstür begegne. Und dann noch mit einem Geschenk. Dabei habe
ich noch nicht mal einen Kamin.« Er warf den Kopf zurück und lachte. Eve rollte sich stöhnend auf den Rücken und streckte sich lang aus. Sie hatten es nicht mehr bis zum Bett geschafft, sondern sich direkt auf dem Fußboden ineinander verbissen. Und jetzt fühlte sie sich, obwohl oder gerade weil ihr jeder Knochen wehtat, schlichtweg fantastisch. »Das war kein schlechter Anfang.« Roarke lachte leise auf und strich mit einer Fingerspitze über ihre warme, feuchte Brust. »Das inde ich auch. Aber jetzt will ich mein Geschenk.« »Ach ja?« Lachend setzte sie sich auf und fuhr sich mit den Händen durch die Haare. »Aber nächstes Jahr – « Als sie Peabodys Stimme aus dem Haufen achtlos abgelegter Kleider dringen hörte, brach sie verwundert ab. Wow, der Weihnachtsmann. Ich hätte nie gedacht, dass ich dir direkt vor meiner Wohnungstür begegne. »O mein Gott. O Gott.« Sie war bereits auf den Beinen, schnappte sich ihre Garderobe und schlüpfte hastig in ihre Hose. »Ruf die Zentrale an, ruf sofort die Zentrale an. Peabody braucht dringend Hilfe. Himmel, Roarke.« Er zog mit einer Hand die Hose über seine Hüfte und griff mit der anderen nach seinem Handy. »Los. Fahren wir. Wir rufen von unterwegs aus die Zentrale an.«
»Ich habe auf dich gewartet«, sagte Simon. »Ich habe etwas ganz Besonderes für dich.« Sie musste Zeit gewinnen, Zeit, Zeit, Zeit. »Kriege ich vielleicht einen Tipp?« »Es ist etwas, was von jemandem, der dich liebt, speziell für dich ausgesucht worden ist. « Er trat näher auf sie zu, und immer noch lächelnd riss sie an den Knöpfen ihres Mantels. »Ehrlich? Wer ist denn dieser Jemand, der mich liebt?« »Der Weihnachtsmann, Delia. Hübsche Delia.« Sie sah seine Hand, entdeckte die darin versteckte Spritze, wirbelte herum, hob abwehrend den Arm und versuchte, durch den Mantelstoff an ihren Stunner zu gelangen. »Das ist aber nicht artig!« Er atmete zischend aus und drückte sie gegen die Wand. Sie versuchte, ihm einen Kinnhaken zu verpassen, traf jedoch lediglich die Schachtel, und jetzt klemmte ihre Waffenhand zwischen ihrem Körper und der Wand. »Hau ab, du Hurensohn.« Sie schnellte herum, versuchte ihren Fuß um seinen Knöchel zu legen, ver luchte sich selbst für den Genuss des letzten Drinks und spürte, während er hinter ihr zu Boden ging, den Druck der Spritze an ihrem ungeschützten Hals. »Verdammt, o verdammt«, stieß sie aus, stolperte zwei Schritte weiter und glitt schlaff an der Wand herab. »Sieh nur, was du getan hast. Sieh nur«, schalt er sie, öffnete ihre Tasche und suchte dort nach dem
Wohnungschlüssel. »Womöglich hast du etwas kaputtgemacht. Ich werde sehr wütend auf dich sein, wenn du etwas von meinen Sachen zerbrochen hast. Und jetzt sei ein braves Mädchen und lass uns in die Wohnung gehen.« Er zerrte sie auf die Füße, drehte sie zur Tür, öffnete, schubste sie hinein und ließ sie einfach fallen. Sie spürte den Aufprall wie aus weiter Ferne, als wäre ihr Körper dick wattiert. Ihr Hirn schrie, sie müsse sich bewegen, und zwar derart eindringlich und laut, dass sie dachte, sie könne aufspringen – nur leider spürte sie ihre Beine nicht mehr. Sie hörte, wie er hinter sich die Türe schloss. »Und jetzt schaffen wir dich erst einmal ins Bett. Wir haben noch sehr viel zu tun. Weißt du, der Weihnachtsabend ist schon fast vorbei. So ist’s brav«, murmelte er und schleppte sie wie eine Puppe durch den Flur. »Es ist mir scheißegal, dass nur eine Notbesetzung auf der Wache ist«, brüllte Eve ins Link. »Of icer Peabody ist in Gefahr! Verdammt, in allergrößter Gefahr!« Flüche sind auf diesem Kanal nicht gestattet, Lieutenant Eve Dallas. Diese Beleidigung wird aufgezeichnet. Wir haben einen Streifenwagen losgeschickt. Geschätzte Ankunftszeit: zwölf Minuten. »Sie hat keine zwölf Minuten Zeit. Wenn Sie verletzt wird, du Arschloch, komme ich persönlich vorbei und reiße dir sämtliche Drähte aus dem Leib«, beschimpfte sie den Dienst habenden Droiden und schlug erbost mit ihrer Faust gegen das Link. »Nur, weil Weihnachten ist, besetzen
sie die Zentrale, die Schreibtische und selbst die Streifenwagen mit verdammten Droiden. Himmel, Roarke, kannst du nicht ein bisschen schneller fahren?« Er schoss bereits mit über hundertsiebzig durch den Eisregen, trat jedoch noch etwas fester aufs Pedal. »Wir haben ihre Wohnung fast erreicht. Wir kommen ganz bestimmt noch rechtzeitig dort an.« Simons Stimme, die durch das Handy an ihr Ohr drang, bereitete ihr Höllenqualen. Sie sah allzu deutlich vor sich, was in Peabodys Schlafzimmer geschah. Er legte ihr die Fesseln an und schnitt ihr vorsichtig die Kleider vom betäubten Leib. Eve musste mühsam schlucken. Er besprühte sie von außen und von innen, damit sie sauber wäre und perfekt. Noch ehe Roarke den Wagen mit quietschenden Bremsen richtig zum Stehen bringen konnte, sprang sie bereits auf den Gehweg, geriet auf dem glatten Untergrund ins Schlittern, ing sich gerade noch rechtzeitig und log geradezu zur Tür. Da ihre Hände zitterten, bekam sie das Schloss erst im zweiten Anlauf auf. Als sie die Treppe hinaufrannte, holte Roarke sie ein. Und jetzt endlich drang aus der Ferne das Kreischen von Sirenen an ihr Ohr. Eve schob ihren Generalschlüssel ins Schloss der Wohnungstür und stieß sie auf.
»Polizei!« Mit gezückter Waffe stürmte sie ins Schlafzimmer. Peabodys Augen waren schreckgeweitet, doch ihr Blick war trüb. Nackt und gefesselt lag sie zitternd in dem kalten Luftzug, der durch das offene Fenster in das Zimmer drang. »Er ist die Feuerleiter runter. Er ist weg. Ich bin okay.« Eve zögerte, stürzte dann jedoch ans Fenster. »Bleib du bei ihr«, rief sie Roarke über die Schulter zu. »Nein, nein.« Peabody schüttelte verzweifelt ihren Kopf und spannte sich in ihren Fesseln an. »Sie wird ihn töten. Sie hat die Absicht, ihn zu töten. Halten Sie sie davon ab.« »Warten Sie.« Er schnappte sich die auf dem Fußboden liegende Decke, warf sie über Peabody und schwang sich ebenfalls behände über die Fensterbank ins Freie. Ihre Knöchel brannten, als sie die letzten sechzig Zentimeter auf die Erde sprang, ihre Füße rutschten auf dem glatten Boden aus, sie stürzte schmerzhaft auf ein Knie und rappelte sich aber blitzschnell wieder auf. Sie konnte ihn sehen, wie er in Richtung Osten hinkte, sein leuchtend roter Anzug war wie ein Signal. »Polizei! Bleiben Sie stehen.« In dem Bewusstsein, dass sie sich ihren Atem hätte sparen können, hetzte sie hinter ihm her. Tausend Bienen summten durch ihr Hirn, tausend Bienen stachen sie schmerzlich in die Haut. Der Hass, den
sie verspürte, war so hart und bitter, dass er sie innerlich verbrannte. Sie stopfte sich den Stunner in den Bund ihrer Hose. Sie würde nicht auf diesen Typen schießen, nein, sie würde ihn mit bloßen Händen packen und ihm zeigen, dass sie die Überlegenere war. Wie eine Tigerin sprang sie ihn von hinten an, und er schlug bäuchlings auf den Boden. Ohne es zu spüren, hieb sie besinnungslos mit Klauen und Fäusten auf ihn ein. Ohne es zu hören, ver luchte sie ihn keuchend bis in alle Ewigkeit. Dann rollte sie ihn auf den Rücken, zückte ihren Stunner und drückte ihn an seinen Hals. »Eve«, drang Roarkes ruhige Stimme an ihr Ohr. »Ich habe dir gesagt, dass du bei ihr bleiben sollst. Halt dich aus dieser Sache raus.« Sie starrte in Simons blutendes, tränennasses Gesicht, und bei Gott, sie sah ihren Vater. Die Wirkung ihrer Waffe war nur tödlich, wenn sie aus direkter Nähe eine Ader träfe. Eve presste sie noch stärker gegen seinen Hals. Und hätte liebend gerne abgedrückt. »Du hast ihn erwischt. Du hast ihn unschädlich gemacht.« Roarke ging neben ihr in die Hocke und sah ihr ins Gesicht. »Der nächste Schritt ist keiner, den du wirklich gehen willst. Er widerspräche allem, was du bist.« Ihr Finger lag bebend auf dem Abzug. Eisregen prasselte knisternd auf die Erde und stach in ihre Haut. »Vielleicht könnte ich so sein.«
»Nein.« Er strich ihr sanft über den Kopf. »Das könntest du nicht.« »Nein.« Erschaudernd lenkte sie die Mündung ihrer Waffe um. »Das könnte ich nicht.« Während der Mann unter ihr nach seiner Mutter heulte, stand sie ermattet auf. Simon rollte sich auf dem Bürgersteig zusammen. Heiße Tränen verwischten die bunte Farbe in seinem Gesicht. Er war eine erbärmliche Gestalt. Geschlagen, zerstört, am Ende, dachte Eve. »Hol ein paar Beamte«, bat sie ihren Mann. »Ich habe keine Handschellen dabei.« »Ich aber.« Feeney hastete auf sie zu. »Ich hatte mein Handy noch immer auf ihre und auf McNabs Kanäle eingestellt. Er und ich sind direkt nach euch beiden in ihrer Wohnung angekommen.« Er musterte sie aufmerksam. »Gute Arbeit, Dallas. Ich nehme dir den Typen ab, damit du nach deiner Assistentin sehen kannst.« »Ja, okay.« Sie wischte sich das Blut, von dem sie nicht hätte sagen können, ob es ihr eigenes oder das von Simon war, aus dem Gesicht. »Danke, Feeney.« Roarke schlang einen Arm um ihre Schulter. Keiner von ihnen beiden hatte sich die Zeit genommen, einen Mantel anzuziehen. Ihr Hemd war völlig durchnässt, und sie ing an zu zittern. »Treppe oder Feuerleiter?« »Feuerleiter.« Sie blickte auf die Eisenstufen über
ihrem Kopf. »Das geht schneller. Hilf mir auf die erste Stufe, dann ziehe ich dich hoch.« Er legte die Hände zusammen, hob sie, als sie einen Stiefel in diese Räuberleiter stellte, etwas an und verfolgte, wie sie sich behände auf die Plattform schwang. »Ich warte vor dem Haus«, erklärte er. »Sicher braucht ihr beiden etwas Zeit allein.« »Das stimmt.« Sie kniete im Wind, und ihre Nase lief zum Teil wegen der Kälte und zum Teil wegen des inneren Aufruhr, der sich in ihrem Inneren nur langsam abbaute. »Ich konnte es nicht tun. Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, ob ich es könnte. Ich hatte Angst, dass ich es könnte. Aber als es so weit war, habe ich es einfach nicht über mich gebracht.« »Ich weiß. Darauf kannst du mehr als stolz sein.« Er drückte die Hand, die sie ihm entgegenstreckte, und sagte: »Du frierst. Kletter schnell hoch. Ich warte im Wagen.« Es war leichter gewesen, merkte Eve wenig später, aus dem Fenster zu klettern als wieder hinein. Sie atmete tief durch, stemmte sich entschlossen hoch und schwang ihr Bein über den Sims. Peabody saß, eingehüllt in eine Decke und in die Arme eines weißgesichtigen McNab, zusammengesunken auf dem Bett. »Sie ist okay«, sagte er rasch. »Er hat nicht… sie steht einfach noch etwas unter Schock. Ich habe den Beamten gesagt, sie sollen draußen warten.«
»Gut. Wir haben alles unter Kontrolle. Fahren Sie nach Hause, McNab, und legen Sie sich ins Bett.« »Ich… ich kann auf dem Sofa schlafen, wenn Sie wollen«, sagte er zu Peabody. »Nein. Danke. Wirklich. Ich bin wieder okay.« »Ich will nur – « Verunsichert stand er unbeholfen auf. »Soll ich mich morgen melden, damit wir die Sache of iziell zum Abschluss bringen können?« »Übermorgen reicht. Feiern Sie in Ruhe Weihnachten. Sie haben es sich wahrhaftig verdient.« Er verzog den Mund zu einem erschöpften Grinsen. »Ja, ich schätze, das haben wir alle. Wir sehen uns dann in zwei Tagen.« »Er war wirklich nett«, erklärte Peabody, als er den Raum verließ, mit einem abgrundtiefen Seufzer. »Er hat alle fern gehalten, hat mir die Fesseln abgenommen und mich einfach in Ruhe sitzen lassen. Außerdem hat er, weil ich gefroren habe, das Fenster angelehnt – sodass Sie zumindest wieder reinsteigen konnten. Ich habe gefroren wie ein Schneider. Himmel.« Sie vergrub das Gesicht zwischen den Händen. »Soll ich Sie in ein Gesundheitszentrum bringen?« »Nein, ich bin okay. Halt noch ein bisschen benommen. Was wahrscheinlich vor allem daran liegt, dass ich was getrunken habe, bevor ich heimkam. Sie haben ihn erwischt, nicht wahr?«
»Ja, ich habe ihn erwischt.« Peabody ließ ihre Hände sinken. Sie bemühte sich um einen unbeteiligten Gesichtsausdruck, ihr Blick jedoch verriet abgrundtiefe Furcht, als sie die Frage stellte: »Ist er noch am Leben?« »Ja.« » Gut. Ich dachte… « »Das dachte ich auch. Aber ich habe es nicht gekonnt.« Plötzlich kamen die Tränen. »O Mann. Scheiße. Jetzt geht’s los.« »Weinen Sie sich aus. Das tut Ihnen gut.« Eve setzte sich neben sie, schlang ihr die Arme um die Schultern und hielt sie nur fest. »Ich hatte solche Angst, so fürchterliche Angst. Ich hätte nicht erwartet, dass er so kräftig ist. Ich kam einfach nicht an meine Waffe.« »Sie hätten vor ihm flüchten sollen.« »Wären Sie denn weggelaufen?« Peabody atmete zitternd ein und langsam wieder aus. Sie beide wussten, wie die Antwort auf diese Frage war. »Ich wusste, dass Sie kommen würden. Aber als ich wieder zu mir kam und auf dem Bett lag, dachte ich, Sie… kämen vielleicht zu spät.« »Sie haben Ihre Sache wirklich gut gemacht. Sie haben ihn lange genug hingehalten, damit ich es schaffen konnte.« Eve hätte gerne geglaubt, dass zwischen ihr und Peabody alles wieder in Ordnung war. Stattdessen stand sie auf.
»Wollen Sie ein Beruhigungsmittel oder so? Ich könnte Ihnen auch ein richtiges Schlafmittel besorgen. Schließlich war das Zeug, das er Ihnen verpasst hat, ziemlich harmlos.« »Nein, ich glaube, ich nehme lieber nichts. Der Alkohol und das Beruhigungsmittel, das ich bereits genossen habe, reichen völlig aus. « »Ich schicke die Beamten nach Hause. Soll ich jemanden anrufen, damit er kommt?« »Nein.« Peabody merkte, wie die ihr verhasste Distanziertheit in Eves Stimme zurückkehrte. »Dallas, das von gestern Abend tut mir Leid.« »Dies ist wohl kaum der rechte Zeitpunkt, um darüber zu sprechen.« Peabody biss die Zähne aufeinander und zupfte an der Decke, die fest um ihren Leib geschlungen war. »Ich bin nicht in Uniform, also spreche ich nicht als Ihre Assistentin, was heißt, dass ich – verdammt noch mal – sagen kann, was ich will. Die Dinge, die Sie mir an den Kopf geworfen haben, haben mir keineswegs gefallen. Aber ich bin froh, dass ich Ihnen wichtig genug bin, dass Sie solche Dinge sagen. Es tut mir nicht Leid, dass ich Sie dafür angefahren habe, aber es tut mir Leid, dass ich nicht gesehen habe, dass aus Ihnen nicht die Vorgesetzte, sondern die besorgte Freundin sprach.« Eve mahnte mit dem Kiefer. »Okay, aber falls Sie jemals zwölf Callboys engagieren, um sich von ihnen durch Sonne und Mond vögeln zu lassen, möchte ich alle Einzelheiten
wissen.« Peabody schniefte und verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen. »Das ist nur so eine kleine Fantasie. Schließlich verdiene ich gar nicht genug, um zwölf Callboys auf einmal zu bezahlen. Aber eine andere kleine Fantasie von mir ist heute Abend Wirklichkeit geworden. Nämlich die, dass Roarke mich endlich einmal nackt gesehen hat.« »Himmel, Peabody.« Mit einem glucksenden Lachen zog Eve ihre Assistentin erneut in ihre Arme und hielt sie eine Zeit lang ganz fest. »Ich glaube, jetzt sind wir beide tatsächlich wieder vollkommen okay.« Sie wirkte so sicher, dachte Roarke, als er sie aus dem Gebäude kommen sah. Selbstbewusst und energiegeladen stand sie in ihrem durchnässten Hemd im kalten Wind, während sie den uniformierten Beamten vor der Haustür letzte Anweisungen gab. Sie hatte Blut an beiden Händen, doch bestimmt war ihr das nicht einmal bewusst. Als sie sich mit diesen Händen die Haare aus der Stirn strich und endlich auf ihn zukam, traf ihn die Liebe wie ein Fausthieb in den Magen. »Willst du vielleicht bei ihr bleiben?« Eve setzte sich in den warmen Wagen. »Sie ist okay. Sie ist eine echt gute Polizistin.« »Genau wie du.« Er umfasste ihr Gesicht und gab ihr einen sanften, süßen Kuss.
Sie öffnete die Augen und griff nach seiner Hand. »Wie viel Uhr ist es?« »Kurz nach Mitternacht.« »Okay. Mach das noch einmal.« Sie presste ihren Mund auf seinen Lippen und erklärte seufzend: »Das ist eine weitere Erinnerung für unser Kästchen – und eine neue Tradition. Frohe Weihnachten, mein Schatz.«
Buch Niemand ist gern allein – und schon gar nicht während der Ferien. Dann ist Hochsaison für die New Yorker Partnerschaftsvermittlungen. Diesmal aber wird die Freude getrübt: ein Serienmörder schlägt zu, der alle seine Opfer über eine Agentur sucht. Leutnant Eve Dallas taucht bei ihren Ermittlungen tief ein in eine Welt, in der angeblich jeder nach der wahren Liebe sucht – und doch oft genug nur ein kleines schmutziges Geheimnis verbirgt. Eine Welt, in der irgendjemand schon die Grenze zwischen grenzenloser Liebe und abgrundtiefen Hass überschritten hat.
Autorin J. D. Robb ist das Pseudonym der internationalen Bestsellerautorin Nora Roberts. Ihre originellen, überaus spannenden Kriminalromane mit der Heldin Eve Dallas wurden von den amerikanischen Lesern bereits mit größter Begeisterung aufgenommen und haben seit der Veröffentlichung von »Rendezvous mit einem Mörder« auch in Deutschland immer mehr Fans. Nora Roberts’ Romane werden in 25 Sprachen übersetzt und stehen weltweit auf allen Bestsellerlisten. Weitere Romane von Nora Roberts und J. D. Robb sind bei Blanvalet bereits in Vorbereitung.
Impressum Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Holiday in Death« bei Berkley Books, a member of The Penguin Group Inc. New York Ungekürzte Lizenzausgabe der RM Buch und Medien Vertrieb GmbH und der angeschlossenen Buchgemeinschaften Copyright © der Originalausgabe 1998 by Nora Roberts Published by arrangement with Eleanor Wilder Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2004 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schluck, Garbsen Einbandgestaltung: Christina Krutz Design, Riedlhütte Einbandfoto: Photodisc Satz: Uhl + Massopust, Aalen Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany 2005 Buch-Nr. 015.371