John Curtis Mann über Bord!
1. Ferris Tucker versuchte die grüne Dunkelheit, die ihn umgab, mit seinen Blicken zu durc...
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John Curtis Mann über Bord!
1. Ferris Tucker versuchte die grüne Dunkelheit, die ihn umgab, mit seinen Blicken zu durchdringen. Aber das war leichter gedacht als getan, denn gerade an Steuerbord schattete der mächtige Rumpf der ›Isabella V.‹ die Sonne ab. Der hünenhafte Schiffszimmermann tastete nach dem Unterwasserschiff der Galeone. Dabei tauchte er tiefer und tiefer, obwohl er die ersten Anzeichen des einsetzenden Luftmangels bereits spürte. Aber er gab nicht auf, er wußte, daß er den Grund der Barriere erreichen mußte, denn nur so konnte er das herausfinden, was er für alle weiteren Schritte, die sie zum Flottmachen der Galeone unternehmen würden, wissen mußte. Je tiefer er tauchte, desto stärker wurde die Strömung, die ihn zusätzlich behinderte. Der Teufel hole diese ganze verdammte Karibik! dachte er erbittert, und gleich darauf zwang ihn der stärker werdende Luftmangel endgültig, wieder aufzutauchen. Ferris Tucker stieß sich ab. Er spürte, wie ihm das Herz gegen die Rippen zu pochen begann, wie erste Stiche seine Lungen durchzuckten. Dann brach er durch die Wasseroberfläche und sog die Lungen gierig voll Luft. Dan O’Flynn, der neben den anderen am Schanzkleid lehnte, grinste ihn an. »Na, altes Walroß?« frotzelte er. »Man müßte eben Kiemen haben wie ein Fisch, was? Aber dann brauchtest du eben auch kein Schiff wie die ›Isabella‹! Also, raus mit der Sprache: Wie sieht’s aus da unten?« 2
Ferris Tucker starrte das Bürschchen an und spürte, wie ihm der Kamm zu schwellen begann. »Wenn du so neugierig bist, Junge«, sagte er und wußte dabei ganz genau, wie fuchsteufelswild Dan immer wurde, wenn ihn einer mit »Junge« anredete, »dann sieh doch selber mal nach. Und vielleicht sehen vier Augen mehr als zwei. Also, kommst du nun, oder hast du die Hose schon jetzt gestrichen voll?« Dan lief puterrot an. »He, du rothaariger Affe, du riskierst aber eine ganz schöne Lippe dafür, daß du noch immer nichts rausgefunden hast. Na ja, du gehörst ja zur Schiffsführung. War das nun ein Befehl oder nicht?« fragte Dan und wollte sich halb totlachen über seinen Witz. Dabei bemerkte er nicht, wie sich Edwin Carberry, der Mann mit dem Rammkinn und den Narbengesicht, von hinten an ihn heranpirschte. Und ehe sich’s Dan versah, hatten die Pranken des einstigen Profos der ›Marygold‹ ihn gepackt. »Ob das ein Befehl war, wolltest du wissen?« grollte er aufgebracht, und er kümmerte sich nicht im geringsten um das Gezappel und das wilde Wutgeschrei, das Dan anstimmte. »Klar war das ein Befehl, Junge. Und damit du es auch glaubst, bringt der alte Carberry dir das jetzt bei!« Gedankenschnell ließ seine Rechte los, während die Linke nach einem Tauende griff, das von der Nagelbank des Großmastes herabhing. Mit einer blitzschnellen Bewegung fetzte er Dan den Tampen über den Hintern, daß dem Jungen augenblicklich die Luft ausblieb. Anschließend hob er ihn hoch und schleuderte ihn ins Wasser. »So, du lausige Kakerlake!« brüllte er. »Wenn du wieder an Bord enterst und nicht weißt, wie es da unten unter dem Schiffsboden aussieht, dann ziehe ich dir persönlich die Haut in Streifen von deinem Affenarsch ab! Ich werde dir schon beibringen, wie du mit erwachsenen Männern zu reden hast!« Die Crew grölte vor Vergnügen, während Dan wilde 3
Verwünschungen gegen Carberry ausstieß. Alle kannten den Lieblingsspruch Carberrys zur Genüge, und jeder einzelne Mann an Bord der Galeone wußte, was es mit diesen wilden Drohungen des Profos in Wirklichkeit auf sich hatte - nämlich nichts. Er war ein prächtiger Kerl, zwar knallhart und ein Kämpfer, wie ihn der Seewolf sich gar nicht besser wünschen konnte, aber Carberry verbarg unter seiner rauhen Schale ein gutes Herz. Wenn er auch unter Drake Profos gewesen war, er haßte es, zu foltern oder zu schlagen - abgesehen von einem gelegentlichen Hieb mit dem Tauende, der bisweilen Wunder wirkte, wenn ein Mann zu lahmarschig war oder sonst allzudeutlich seine Mucken hatte. Deshalb grinste er jetzt zu Dan hinunter. »Wenn du nicht gleich verschwunden bist, du Ratte, dann lasse ich dich kielholen. Tauchen habe ich gesagt, kapiert?« Er brüllte, daß das Deck unter seiner Stimme erzitterte. Dan verschwand wie der Blitz, wieder unter dem Gelächter der Crew, und Ferris Tucker folgte ihm grinsend in die grünblaue Tiefe. Jean Ribault, der Franzose, sah Carberry an, und auch er konnte sich kaum das Lachen verbeißen. »Man, Ed, ich an deiner Stelle würde mich jetzt vor Dan in acht nehmen. Wenn der wieder an Bord steigt, frißt er dich mit Haut und Haaren.« Edwin Carberry lachte dröhnend. »Haha - er frißt den alten Carberry mit Haut und Haaren! Meinst du nicht, daß sich so ein grüner Hering an einem alten Hai wie mir die Zähne ausbeißen wird? Ho, ich ...« Carberry starrte den Franzosen plötzlich entgeistert an, denn Jean Ribault war herumgefahren und einige der Männer ebenfalls. »He, was ist los, was habt ihr verdammten Affenärsche denn auf einmal ...« Auch Carberry verstummte. Genau wie seine Gefährten hatte 4
auch er jetzt die dreieckige Rückenflosse entdeckt, die pfeilschnell auf die Galeone zuschoß. In dem klaren Wasser war deutlich ein langer Körper mit einem eigenartigen, hammerförmigen Kopf erkennbar. Carberry erstarrte. Er kannte diesen Fisch. Er hatte davon gehört und wußte, daß er zu den angriffslustigsten und blutgierigsten Räubern der Karibik gehörte. »Mein Gott, Jean - ein Hammerhai! Und was für einer!« Carberry flüsterte nur, aber dann brüllte er plötzlich auf. »Verdammt, wollen wir etwa zusehen, wie diese Bestie Dan und Ferris zerfleischt? Da, das Biest taucht, es hat die beiden bemerkt!« Carberry redete nicht weiter, sondern er handelte. Mit einer blitzschnellen Bewegung riß er sein langes Entermesser heraus, schwang sich auf das Steuerbordschanzkleid der ›Isabella‹ und sprang. Aufspritzend schloß sich die blaugrüne See über ihm. »Der ist wahnsinnig geworden, der hat sie ja nicht mehr alle, der ...« Die Männer schrien wie wild durcheinander, aber dann erlebten sie ihre nächste Überraschung. Der Seewolf hatte das alles beobachtet und stürmte heran. Hinter ihm Ben Brighton, Smoky und Blacky. Noch bevor sie zur Stelle waren, schwang sich der Franzose ebenfalls über das Schanzkleid. Er verschwand sofort in der Tiefe, das breite Messer zwischen den Zähnen. Der Seewolf hatte das Schanzkleid erreicht. Wortlos starrte er in die Tiefe, in der eben Carberry und Jean Ribault verschwunden waren. Die Männer an Bord der ›Isabella‹ verstummten abrupt. Jeder wußte, daß es dort unter ihnen in den nächsten Sekunden auf Leben und Tod gehen würde.
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Dan erreichte den Grund der Barriere, auf die die ›Isabella‹ aufgebrummt war, als erster. Er war unbestritten der beste Schwimmer der Crew. Und wenn Ferris Tucker zuvor allein einen Tauchversuch unternommen hatte, dann deshalb, weil er mit eigenen Augen sehen wollte, wie die Galeone sich festgerannt hatte und was am besten zu tun war. Von solchen Dingen verstand der Schiffszimmermann mehr als jeder andere an Bord. Ferris Tucker sah das Bürschchen vor sich im rasch dunkler werdenden Grün der Karibik verschwinden, und er beeilte sich, ebenfalls so rasch wie möglich an der Steuerbordseite der dickbauchigen Galeone zum Grund zu tauchen. Dan wartete bereits in der Nähe des Ruderblattes auf ihn - die einzige Stelle, an der die Morgensonne noch etwas Licht spendete, während im Schatten des Rumpfes immer noch absolute Finsternis herrschte. Dan winkte dem Schiffszimmermann zu und deutete zum Grund hinunter. Ferris Tucker glitt näher an den Jungen heran, und dann erkannte er sofort, was Dan mit seinen scharfen Augen entdeckt hatte. Vom Heck der Galeone aus war deutlich zu sehen, daß die ›Isabella‹ zwar auf einer Felsbarriere festsaß, daß diese aber die Form einer flachen Mulde hatte und nach Steuerbord hin leicht abfiel. Ebenfalls registierte der Schiffszimmermann, daß sich in der muldenförmigen Oberfläche der Felsbarriere durch die Meeresströmung Sand abgelagert hatte und auch liegengeblieben war. Wiederum eine Tatsache, die ihre Chance, die ›Isabella‹ flottzukriegen, vergrößerte. Gleichzeitig schossen Ferris Tucker zwei Möglichkeiten durch den Kopf, und er beschloß, beide sofort in die Tat umzusetzen. Es war auch durchaus richtig gewesen, daß sie die ›Isabella‹ inzwischen geleichtert hatten, andernfalls hätte absolut keine Möglichkeit bestanden, das schwere Schiff mittels des Flaschenzuges über die Barriere ins tiefe Wasser zu 6
ziehen. Soweit war der Schiffszimmermann mit seinen Überlegungen. Das alles hatte nur Sekunden gedauert. Er wollte Dan ein Zeichen geben, noch ein Stück am Rumpf der Galeone entlangzutauchen, um festzustellen, ob es tatsächlich auf der gesamten Barriere keine scharfen Klippen gab, als er plötzlich sah, wie sich Dan ans Ruder klammerte. Gleichzeitig blickte er sich mit weitaufgerissenen Augen zu Ferris Tucker um, unfähig, auch nur mit einer einzigen Handbewegung anzudeuten, was ihn so sehr erschreckte und nahezu lähmte. Ferris Tucker verlor keine Zeit. Er kannte Dan lange genug, um zu wissen, daß er alles andere als ein Hasenfuß war. Der Schiffszimmermann stieß sich von der Barriere ab und schwamm mit ein paar kräftigen Stößen zu Dan hinüber. Aber er hatte Dan noch nicht erreicht, als ihm das Herz vor Schreck beinahe stehenblieb. Er sah den riesigen langgestreckten Schatten, der auf den Jungen zuschoß, den breiten hammerförmigen Kopf, die tückisch blickenden Augen. Ein Hammerhai! schoß es Ferris durch den Kopf. Ein Hammerhai, der geradewegs auf Dan losschwamm. Wenn der Junge jetzt die Nerven verlor, wenn er jetzt die Flucht ergriff, dann würde ihm niemand mehr helfen können, denn der Hammerhai würde ihn einholen und von hinten angreifen. Ferris Tucker schwamm mit gewaltigen Stößen auf Dan zu, der sich noch immer am Ruder festklammerte und dem Hai entgegenstarrte. Ferris erreichte den Jungen, als der Hammerhai schon das breite, an der Unterseite seines Kopfes liegende Maul aufriß, um Dan mit seinen messerscharfen Zähnen zu packen. Ferris griff nach Dan, riß ihn mit einem Ruck vom Ruder weg und verschwand blitzartig mit ihm auf der anderen Seite des Ruderblattes. Das war buchstäblich in allerletzter Sekunde geschehen, denn gleich darauf spürte er den dumpfen Anprall des riesigen 7
Fisches. Er sah einen dunklen Körper an sich und Dan vorbeischießen und erschrak über die Größe und Wildheit dieses Hais, der sofort herumschwang, für einen Augenblick in der dunklen Tiefe verschwand und gleich darauf wieder auf sie zujagte. Dan verlor in diesem Moment die Nerven. Er sah lediglich den riesigen Hai, seinen weitgeöffneten Rachen und die großen Augen an dem breiten, hammerförmigen Kopf, die ihn höhnisch und gierig zugleich anzustarren schienen. Mit wilden Bewegungen versuchte er sich aus der Umklammerung des Schiffszimmermanns zu befreien. Er hatte nur noch einen Gedanken: Flucht an die Oberfläche, weg von dieser grauenhaften Bestie! Ferris Tucker hatte mit einer solchen Reaktion Dans gerechnet. Er hielt den sich windenden und wild um sich schlagenden Jungen eisern fest. Aber das alles behinderte ihn auch gleichzeitig, sich wiederum auf der anderen Seite des Ruderblattes vor dem Hai in Sicherheit zu bringen. Noch bevor er Dan einigermaßen zur Ruhe gebracht hatte, war der Hammerhai heran. Es gelang dem Schiffszimmermann gerade noch, sich mit Dan in den Armen zur Seite zu werfen, da prallte das riesige Tier unmittelbar neben ihm mit weitgeöffnetem Rachen gegen die Galeone. Diesmal mit einer solchen Wildheit und so großer Wucht, daß der Hai für einen Moment wie betäubt durchs Wasser glitt und auf den Grund der Barriere sank, die direkt hinter dem Schiff steil abfiel. Ferris spürte, wie ihm durch den wilden Kampf mit Dan, der sich immer noch wie verrückt in seinem eisernen Griff gebärdete, die Luft knapp wurde. Schon wollte er sich abstoßen, da hatte der Hai den Anprall überwunden. Sein breiter Kopf Duckte herum und suchte die Beute. Ferris Tucker hatte wertvolle Sekunden versäumt, jetzt war es zu spät. Aufzutauchen, hieß unweigerlich, von der Bestie angefallen und zerfleischt zu werden. Unter Wasser zu bleiben, bedeutete, unweigerlich zu ertrinken. 8
Es war einer der wenigen Momente in seinem Leben, in denen auch Ferris Tucker keinen Ausweg mehr wußte, und er spürte, wie die aufsteigende Panik von ihm ebenso Besitz zu ergreifen drohte wie von Dan. Doch dann geschah etwas, womit er nicht gerechnet hatte. Ein Schwimmer glitt auf den Hai, der nach seiner Beute suchte, zu. In dem spärlichen Licht, das die Sonne bis auf den Grund der Barriere schickte, blitzte die Klinge eines breiten Messers auf. Ferris Tucker vergaß vor Entsetzen und Erstaunen für einen Moment den immer stärker werdenden Luftmangel. Aus weitgeöffneten Augen starrte er dem Mann entgegen, der direkt auf den Hammerhai zuschwamm, dem herumzuckenden Tier geschickt auswich und ihm im nächsten Moment den Bauch aufschlitzte, indem er den Hammerhai kurzerhand untertauchte. Ferris Tucker sah noch, wie das Blut in dunklen Wolken aus dem Leib des Hais hervorquoll, wie der Hai sich herumwarf und mit wilden, zuckenden Bewegungen in der dunklen Tiefe jenseits der Barriere verschwand. In diesem Moment erschien noch ein zweiter Mann der Besatzung, und den erkannte Ferris Tucker sofort an seinem Rammkinn: Carberry. Er und Jean Ribault verständigten sich mit einem Blick. Sie mußten verschwinden, und zwar sofort. Der verwundete Hammerhai würde andere anlocken, sein ausblutender Körper würde ganze Rudel von diesen gefährlichen Tieren herbeirufen. Jean Ribault wußte nur zu genau, daß diese Haie so gut wie nie einzeln, sondern fast immer in Rudeln auftraten. Er schwamm zu Ferris Tucker und Dan herüber, Carberry folgte ihm sofort. Der Profos nahm dem Schiffszimmermann, dem vor Luftmangel bereits feurige Ringe vor den Augen kreisten, den Jungen ab und schoß mit Dan zur Oberfläche hoch. Als Dan sich dabei zu sehr wehrte, verpaßte ihm Carberry einen derben Hieb, der ihm fast augenblicklich die Besinnung raubte. 9
Jean Ribault packte den Schiffszimmermann und riß ihn mit sich fort. Ferris Tucker hatte immerhin noch so viel Überlegung, daß er Ribault dabei, so gut er das vermochte, unterstützte. Sekunden später durchbrachen auch Ribault und Tucker die Oberfläche. Der Schiffszimmermann wollte seine Lungen gierig voll Luft pumpen, aber Ribault trieb ihn unbarmherzig an. Er kannte sich aus in der Karibik und zweifelte nicht daran, daß schon in diesem Moment andere Haie von unten auf sie zuschossen. Auch der Seewolf und die Männer der Crew hatten das begriffen. Sie packten zu, rissen zuerst Dan und Carberry und gleich danach auch Ferris Tucker und Jean Ribault an Bord. Nur knapp zehn Sekunden später wurde ihnen fast schlecht bei dem Anblick, der sich ihren Augen bot. Insgesamt sieben Haie, davon allein vier wiederum Hammerhaie, schossen neben dem Schiff aus dem Wasser. In ihren weitaufgerissenen Rachen blitzten die messerscharfen Zähne. Ein riesiger Blauhai, der sich voller Wut und Gier im zweiten Anlauf fast bis zum Schanzkleid aus dem Wasser schnellte, ließ die Männer unwillkürlich nach den Belegnägeln greifen, die neben ihnen in der Nagelbank steckten. Ferris Tucker sank an Deck erschöpft in die Knie. Dan, der von Carberry und Ben Brighton nach allen Regeln der Kunst durchgeknetet wurde, erbrach das Meerwasser, das er während seiner ungestümen Befreiungsversuche geschluckt hatte. Endlich hatte der Schiffszimmermann wieder genügend Luft in den Lungen. Auch er hustete und spuckte noch, als er auf Ribault und Carberry zutaumelte. Sein Gesicht war totenblaß, dennoch stahl sich ein Grinsen in seine Züge, als er dem Franzosen die Pranke auf die Schulter hieb und Carberry einen derben Stoß in die Rippen verpaßte, der den Profos unwillkürlich aus seiner gebückten Haltung hochschnellen ließ. »Jungs, wenn der alte Tucker euch das je vergißt, dann soll 10
ihn wahrhaftig der nächste Hai, dem wir begegnen, mit Haut und Haar verschlingen. Wenn ihr nicht eingegriffen hättet, wäre es mit Dan und mir aus gewesen. Diesem Biest hätten wir nicht mehr entwischen können.« Noch immer umkreisten die Haie die ›Isabella‹, aber die Männer richteten ihre Aufmerksamkeit jetzt mehr auf Ferris Tucker, Dan O’Flynn, Carberry und Jean Ribault. Ihr Kreis um die vier schloß sich enger, und Smoky, der neben dem Seewolf und Ben Brighton stand und noch seinen Belegnagel in der Hand hielt, schob sich durch die Männer und blieb vor dem Schiffszimmermann stehen. »He, Ferris, nun laß dir die Würmer nicht einzeln aus der Nase ziehen. Was war eigentlich los da unten? Wer hat den Hai erledigt?« Ferris deutete auf Ribault. Und er erzählte die Sache so, wie sie sich abgespielt hatte. Er ließ nichts weg und fügte auch nichts hinzu. »Verdammt, Smoky, und ich sage euch allen noch mal, wenn Carberry und Ribault uns nicht zu Hilfe geeilt wären, dann hätte die ›Isabella‹-Crew jetzt zwei Männer weniger. Dabei habe ich Jean zuerst gar nicht erkannt, nur Carberry.« Er drehte sich zu dem Franzosen herum. »Sag mal, wo hast du das eigentlich gelernt, einen Hai so mir nichts dir nichts mit dem Messer aufzuschlitzen? Wenn ich nur dran denke, kriege ich schon wieder eine Gänsehaut. Und ich glaube, jeder hier an Bord wie, daß ich kein Feigling bin!« Jean Ribault grinste. »Es hat eben manchmal Vorteile, wenn man eine Weile zu den Karibik-Piraten gehörte. Wir haben eine Zeitlang bei einem Stamm auf einem winzigen Eiland nördlich von Tortuga gelebt. Es war eigentlich mehr ein Korallenriff. Aber diese Burschen verstanden sich darauf und hatten vor Haien nicht den geringsten Respekt. Bei denen habe ich das gelernt. Man muß nur aufpassen, daß der Hai einen nicht zu früh bemerkt. 11
Gerade diese verdammten Hammerhaie reagieren unter Umständen blitzartig. Und eben habe ich einfach Glück gehabt. Der Bursche war noch nicht ganz da, ich denke, er ist in seiner Gier, Ferris und Dan zu erwischen, mit voller Wucht gegen die ›Isabella‹ geknallt. Stimmt’s Ferris?« Der Hüne nickte. »Und ob das stimmt! Ich sage euch, daß dieses Biest mich nur ganz knapp verfehlt, hat. Ich habe für mein Leben keinen Penny mir gegeben.« Er blickte zu Dan hinüber, der ebenfalls aus dem Gröbsten heraus zu sein schien. Zwar spuckte er noch immer Wasser und hustete sich fast die Lungen aus dem Hals, aber auch er grinste schon wieder. Nur daß er noch blasser um die Nase war als der Schiffszimmermann. Tucker verlor kein Wort darüber, welche Schwierigkeiten ihm der Junge in seiner verständlichen Panik bereitet hatte. Er ging lediglich zu ihm und klopfte ihm auf die Schulter. Anschließend warf er einen Blick über das Schanzkleid auf die Haie, deren Rückenflossen immer noch das Schiff weithin sichtbar umkreisten. Doch plötzlich stieß er einen Fluch aus. Was er in diesem Augenblick sah, vertrieb alle Gedanken an die Haie und die gerade überstandene Gefahr. Er fuhr herum und starrte den Seewolf an. »Verdammt, Hasard, wir haben anderes zu tun, als hier herumzustehen und zu quatschen. Die Haie haben Dan und mich nicht gefressen - und damit basta! Kümmern wir uns schleunigst wieder um die wichtigeren Dinge. Denn dieser Bursche da«, er deutete auf die Karavelle, die einmal ihre alte ›Isabella IV.‹ gewesen war und nun bei achterlichem Wind auf sie zusegelte«, führt bestimmt nichts Gutes im Schilde!« Hasard ballte unwillkürlich die Hände zu Fäusten. Doch er beherrschte sich. »Was hast du herausgefunden, Ferris? Sag mir, wie wir von dieser verfluchten Felsbarriere freikommen, dann blase ich 12
diesen Caligu und seine Mörderbande in die Luft!« Der Schiffszimmermann nickte und begann seinen Bericht. Zugleich entwickelte er den Plan, den er bereits unter Wasser gefaßt hatte, bevor der Hammerhai aufgetaucht war.
2. Aus seinen nachtschwarzen Augen beobachtete Caligu die Galeone. Wut verzerrte sein Gesicht. Er dachte an die Niederlage, die dieser schwarzhaarige Teufel dort drüben ihm letzte Nacht bereitet hatte. Und es war nicht die erste. Im Gegenteil, seit er diesem Kerl, den sie den Seewolf nannten, begegnet war, hatte er nur Niederlagen einstecken müssen, ganz gleich, wie er es angefangen hatte. Caligu begriff das alles nicht. Er war gewöhnt, den Gegner zu überrennen, oder, wenn das nicht klappte, ihn zu überlisten. Bei diesem Satan zog nichts. Gewalt nicht und List auch nicht. Er starrte zu den Korallenbänken hinüber, die westlich der Karavelle zu erkennen waren, und dann zu dem etwa fünfzig Yards vor der festsitzenden Galeone liegenden Felsen, auf dem das gesamte Beutegut lagerte, das dieser Seewolf an Bord gehabt hatte. Er wollte es haben, um jeden Preis. Aber, verflucht noch mal, er hatte keinen Krümel Pulver an Bord, und damit waren die Geschütze seines Schiffes so wertlos wie ein Messer ohne Klinge. Caligu wußte genau, daß dieser Hundesohn da drüben nur darauf wartete, daß er unvorsichtig genug sein würde, sich in die Reichweite der schweren Geschütze der Galeone zu wagen. Sie würde sich sofort in ein feuerspeiendes Ungetüm verwandeln, und ihre siebzehnpfündigen Culverinen würden seine Karavelle schon bei der ersten Breitseite, die im Ziel lag, in ein Wrack verwandeln. Der Pirat stieß ein rauhes Lachen aus. 13
»O nein, so verrückt ist Caligu nicht, du Satan!« brüllte er plötzlich unbeherrscht, daß seine Männer herumfuhren und ihn fragend anstarrten. »Ich kriege dich, Seewolf, und alle deine Schätze auch! Du wirst tausend Tode sterben, du Bastard, und alle deine Männer werden um Gnade winseln, bevor sie zur Hölle fahren! Ich, Caligu, schwöre das!« Und wieder stieß er sein rauhes, böses Lachen aus. Dann drehte er sich abrupt um und winkte seinen Unterführer heran. »Hol Juanita an Deck, sofort! Die hat mehr Grips im Kopf als ihr alle zusammen. Ich habe eine Idee, wie wir diese Bastarde da drüben überlisten können. Los, beeil dich, denn diese Sache wollen wir gründlich vorbereiten.« Der Unterführer verschwand. Und Caligu rieb sich die Hände. Er wußte nicht, daß der Seewolf ihn die ganze Zeit durch sein Spektiv beobachtet hatte. * Hasard setzte das Spektiv ab. »Der Kerl hat etwas vor, Ben«, sagte er. Ben Brighton sah ihn an, dann nickte er. »Der läßt nicht locker. Diesen Typ kenne ich. Ich sage dir, von euch wird nur einer überleben, du oder er. Für beide ist kein Platz auf dieser Welt, und wenn sie hundertmal so groß wäre, wie sie ist!« Der Seewolf sah Ben Brighton an. Es geschah ganz selten, daß sein Bootsmann so mit ihm sprach. Aber wenn er es tat, dann hatte er immer einen Grund. Er wollte ihn gerade fragen, da drehte die Karavelle plötzlich ab und lief unter vollen Segeln mit Ostkurs davon. Unwillkürlich runzelte der Seewolf die Stirn. »Du hast recht, Ben. Dieser Kerl plant etwas. Ich habe deutlich gesehen, wie er sich eben die Hände gerieben hat. Dann ließ er diese Maria Juanita an Deck holen und hat mit ihr palavert.« 14
Der Seewolf überlegte. In der vergangenen Nacht schon hatte er Ben Brighton und Carberry mit der einen Hälfte der Besatzung zu den Felsen geschickt, wo sie die kostbare Ladung der ›Isabella‹ deponiert hatten, um das Schiff höher aus dem Wasser zu bringen. Am Morgen, nach dem wüsten Kampf, hatte er die Verwundeten und einen Teil der Männer, unter ihnen Carberry und Ben Brighton, wieder an Bord beordert, weil er sie brauchte. Er benötigte jede Hand am Spill und am Flaschenzug, und doch waren sie immer noch zu wenige, denn trotz aller Schinderei hatte sich das Schiff kaum vom Fleck gerührt. Und jetzt? Sollte er wieder Leute auf den Felsen schicken? Konnte Caligu auf irgendeine Art dort mit seinen Leuten auftauchen, ohne daß er es rechtzeitig bemerkte? Der Seewolf rang mit sich. Aber dann schüttelte er den Kopf. Nein, die paar Wachen, die sich bei der Ladung befanden, mußten bei Tage ausreichen. Er konnte keinen Mann entbehren. Er wandte sich Ferris Tucker zu. »Ferris, ich bin auch schon dort unten gewesen und habe mir die Felsbarriere angesehen. Die See hat die Felsen glattgewaschen, aber die ›Isabella‹ hat sich zwischen ihnen verkeilt und sitzt mit dem Rumpf fest in der Mulde. Ich glaube nicht, daß uns dein Plan weiterhilft.« »Doch!« Ferris Tucker sah den Seewolf fest an. »Als ich zum erstenmal unten war, dachte ich das auch. Du hast aber etwas sehr Wesentliches übersehen: Die Mulde, in der wir stecken, fällt nach Steuerbord ab. Wenn wir die ›Isabella‹ nach dieser Seite krängen, haben wir eine gute Chance, daß sie sich aus der Mulde ziehen läßt. Natürlich müssen die Männer am Flaschenzug und am Spill mit meiner Gruppe Hand in Hand arbeiten, anders ist es nicht zu schaffen.« Er warf einen Blick auf die Takelage. »Wir müssen am Großmars ein Tau befestigen. Ähnlich, wie wir es schon einmal am Blackwater bei der ›Marygold‹ getan 15
haben, als Drake mit ihr aufgebrummt war. Dann bringen wir an Steuerbord einen Anker aus. Das ist wahrscheinlich der schwierigste Teil, weil ich durch diesen verfluchten Hai noch nicht feststellen konnte, wo es dort geeigneten Ankergrund gibt. Tauchen verbietet sich von selbst, eine solche Begegnung reicht mir.« Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Am Roring des Ankers befestigen wir eine Talje, unterhalb des Großmarses ebenfalls. Dann brauchen wir noch ein starkes Tau, das lang genug ist, und ein paar Männer, die in die Hände spucken. Wenn wir die ›Isabella‹ soweit wie möglich nach Steuerbord gekrängt haben, dann versuchen die beiden Gruppen an der Trosse und am Spill noch mal ihr Glück. Das ist das einzige, was uns vielleicht weiterhelfen kann.« Der Seewolf starrte seinen Schiffszimmermann sekundenlang an. Ferris Tucker fuhr sich abermals mit dem Handrücken über die Stirn. »Ich weiß, daß diese Geschichte riskant ist. Auf sandigem oder schlammigen Boden wäre das Ganze einfach und ziemlich harmlos. Auf diesem verdammten Felsen werden wir auf unseren Rumpf gut aufpassen müssen, denn der Kiel schützt das Schiff nicht mehr, sobald wir es nach Steuerbord gekrängt haben. Ich weiß das alles, aber wir müssen von dieser verfluchten Barriere herunter. Dieser Caligu, der dauernd um uns herumstreicht, macht mich ganz verrückt.« Der Seewolf nickte. »Scheißegal, Ferris«, sagte er schließlich. »Wenn die ›Isabella‹ leck schlägt, haben wir Pech gehabt. Selbst dann bringe ich diesen Caligu mit meinen eigenen Händen um, sobald ich ihn zwischen die Finger kriege. Unsere Ladung kriegt der nicht!« Im Gesicht des Seewolfs zuckte es, für alle, die ihn kannten, ein Zeichen, daß er sich nur noch mühsam beherrschte. »Also an die Arbeit. Es hat keinen Zweck, daß wir hier sinnlos unsere Kräfte vergeuden. Ben, laß die Trosse 16
vorbereiten, Ferris, schnapp dir alle Männer, die du brauchst, und bring den Anker aus. Gnade uns Gott, wenn jetzt noch aus irgendeiner Ecke ein Sturm losbricht!« Der Schiffszimmermann warf einen besorgten Blick zum Himmel empor. Aber der war strahlendblau, und aus Süd wehte eine leichte Brise. »Mal bloß den Teufel nicht an den Mast!« knurrte er und verschwand in Richtung Vorschiff. Unterwegs griff er sich Dan, der endlich alles Seewasser aus seinem Magen heraus hatte. »Los, Dan! Hilf mir, den Reserveanker klarzumachen. Denk nicht mehr an diesen dämlichen Hai. Sag auch Smoky und Blacky Bescheid, ebenfalls Pete. Aber beeil dich, wir haben da noch ein ganz verdammtes Stück Schinderei vor uns.« Dan stieß sich vom Steuerbordschanzkleid ab. Er war immer noch reichlich käsig im Gesicht, und jedesmal, wenn er die Rückenfinne eines Hais erblickte, die immer noch die Galeone umkreisten, hin und wieder dabei die Köpfe aus dem Wasser hoben und ihn aus ihren weißen Augen tückisch anzublicken schienen, dann krampfte sich sein Magen aufs neue zusammen. Trotzdem fügte er sich diesmal widerspruchslos. Zu langen Diskussionen war ihm die Lust ohnehin vergangen. Selbst Arwenack, der Schimpansenjunge, hatte sich keckernd wieder verzogen, als Dan nicht die geringste Neigung gezeigt hatte, sich mit ihm zu beschäftigen. Er hockte an Backbord in den Wanten und beoachtete zähnefletschend, wie Dan lossauste und im Vorderkastell verschwand. Wenige Augenblicke später erschien er mit Smoky, Blacky und Pete wieder an Deck, die eben dabei gewesen waren, noch eine weitere Talje aus der Vorpiek zu holen, um mit ihr die Wirksamkeit des Flaschenzuges, den der Schiffszimmermann an Bockbord installiert und in den Felsen verankert hatte, zu erhöhen. Carberry vertrat ihnen den Weg. 17
»Gebt her, ich erledige das«, sagte er und nahm ihnen die Talje ab. »Paßt auf, wenn ihr den Anker ins Beiboot verladet. Das Ding ist für das Boot ein ganz schöner Brocken. Wenn ihr kentert, da draußen warten schon ein paar hungrige Burschen auf euch! Klar?« Er lachte, als er sah, wie sogar Smoky und Blacky etwas blaß um die Nase wurden. Nur Pete Ballie, der Mann mit den Fäusten wie Schmiedehämmer, grinste Carberry unverfroren an. »Die warten nicht auf uns, sondern auf dich. Besonders der eine da, der immer sein Gebiß aus dem Wasser steckt, der will dir bestimmt die Haut in Streifen von deinem Affenarsch ziehen ...« Pete brachte sich mit einem raschen Sprung in Sicherheit, als Carberry ihn packen wollte. Die anderen lachten laut auf, und damit war sogar Dan plötzlich wieder wohler in seiner Haut. Sein käsiges Gesicht bekam etwas von seiner sonstigen Bräune zurück. Ferris Tucker erwartete sie schon ungeduldig. »Los, Freunde!« knurrte er sie an. »Die Witze heben wir uns für später auf. Was jetzt passiert, ist gar nicht so spaßig. Das werdet ihr schon sehen, wenn euch das Wasser im Arsch zu kochen beginnt!« Damit scheuchte er sie zu dem Anker hinüber, der noch fest verzurrt an Steuerbord hing. Schweigend schufteten sie rund eine Stunde. Dann fierten sie den Anker vorsichtig ins Boot ab, das Pete Ballie und Blacky zum Bug gepullt hatten. »He, Ben, was ist mit der Trosse? Wie weit seid ihr Lahmärsche denn?« brüllte der Schiffszimmermann zum Großmast hinüber. Aber ein Blick belehrte ihn, daß es noch eine gute Weile dauern würde, ehe er daran denken konnte, Trosse und Anker auszubringen. Denn Ben Brighton und seine Männer arbeiteten wie die Besessenen im Großmars, um dort 18
die schwere Talje anzuschlagen. Außerdem überprüfte der Bootsmann den Mast genau von oben bis unten. Er wußte, welche Belastung auf den Mast wartete, da durfte es keine einzige faule oder schwache Stelle geben. Die Sonne stieg höher. Von Caligu und der Karavelle war weit und breit nichts zu sehen, so sehr der Seewolf und der Ausguck im Vormars auch Ausschau hielten. Hasard sah darin keinen Anlaß zur Freude, im Gegenteil. Er spürte, daß da etwas faul war, oberfaul sogar. Ganz allmählich sank seine Laune auf den absoluten Nullpunkt. * Es wurde ein heißer Tag. Gegen Mittag nahm der Himmel eine bleigraue Färbung an, und Ferris Tucker warf immer öfter einen mißtrauischen Blick zum Großmast hoch, auf dem eine Gruppe von Männern an der Talje arbeitete, die das Seil aufnehmen sollte, mit dem er die ›Isabella‹ krängen wollte. Jean Ribault und auch einigen anderen der Karibik-Pariten, die inzwischen fest zur ›Isabella‹-Crew gehörten, entging das nicht. Schließlich ging der Franzose zu Ferris Tucker hinüber, der mit seinen Männern noch immer am Steuerbordschanzkleid schuftete, wo er die dritte Talje montieren wollte, die zusammen mit der am Großmars einen höchst wirksamen Flaschenzug bilden sollte. Der Schiffszimmermann blickte auf. »He, Jean, was gibt’s?, fragte er, als Ribault sich neben ihn auf die Decksplanken hockte. »Ich habe gesehen, daß du Sorge wegen des Wetters hast, Ferris. Ich wollte dir nur sagen, daß wir mindestens noch zwei, drei Tage Ruhe haben werden. Ich habe lange in dieser Ecke gelebt. So ein bleigrauer Himmel kündigt zwar eine Wetterverschlechterung an, aber er ist noch lange nicht das Übelste, was einem hier widerfahren kann. Viel schlimmer 19
wäre es gewesen, wenn er plötzlich gelb oder so richtig glasig geworden wäre. Dann hätten wir unser Testament aufsetzen können.« Ferris Tucker atmete auf. »Nett, Jean, daß du mir das sagst. Bei uns zu Hause bedeutet ein solcher Himmel in jedem Fall Sturm. Und den können wir, solange wir hier noch festsitzen und unsere Ladung nicht wieder an Bord haben, absolut nicht gebrauchen.« Ribault nickte nur kurz und erhob sich dann. »Ich glaube, die im Großmars sind soweit. Die Talje am Roring sitzt ebenfalls. Sobald du jetzt an Deck fertig bist, kann’s losgehen, Ferris.« Statt einer Antwort stand der Hüne auf. »Los, Jean, faß mal mit an, und ihr anderen auch!« Pete, Smoky, Blacky, Dan und Jean Ribault packten die Holzkonstruktion, die der Schiffszimmermann zur Aufnahme der schweren Talje gebaut hatte und die aussah wie ein riesiger Bock, in den man auf einem Kirchturm eine Glocke einhängt. »Festhalten!« brüllte der Schiffszimmermann und schwang seine gewaltige Axt hoch, wobei die Schneide nach hinten gerichtet blieb. Sein muskulöser Körper bog sich zurück, dann wieder vor, und die Axt landete krachend auf dem starken Eisenbolzen, den Ferris Tucker nun Schlag um Schlag in die Decksplanken der ›Isabella‹ trieb. Anschließend nahm er sich den nächsten Bolzen vor, und so ging es weiter, bis er alle sechs Bolzen, die die Konstruktion an Deck unverrückbar festhalten sollten, durch das eisenharte Holz getrieben hatte. Schließlich setzte er die Axt ab. Der Schweiß lief ihm in Strömen über Brust, Gesicht und Rücken. »Zwei Mann kommen mit, wir müssen die Bolzen jetzt noch von unten sichern. Du, Jean, gibst Carberry Bescheid. Er soll die Trosse in die Talje am Roring des Ankers einbringen und anschließend zum Großmars aufhieven lassen. Und dann nichts 20
wie los, ich möchte noch probieren, ob die ›Isabella‹ sich rührt, bevor es dunkel wird.« Hasard war unbemerkt neben den Männern stehengeblieben. Prüfend musterte er die Arbeit des Schiffszimmermanns - und wieder einmal staunte er im stillen über die Geschicklichkeit und Findigkeit Tuckers. Er hatte einen höllischen Respekt vor diesem rothaarigen Hünen, der von Schiffen und allem, was dazu gehörte, weit mehr verstand als irgend jemand an Bord. Er streifte sein Hemd ab. »Ich werde mich um die Trosse kümmern, Ferris«, sagte er nur. »Dan, hol mir Carberry, Matt Davies und Pete. Matt postiert sich am Steuerbordschanzkleid und läßt das Tau durch seinen Haken laufen. Wir andern verbringen es über die Wanten nach oben. Los, Männer!« Dan sauste nach vorn, wo Carberry damit beschäftigt war, das Tau zu überprüfen. Außerdem hatte er das ganze Geschirr am Spill und an Backbord, dort wo der andere Anker ausgebracht worden war, einer gründlichen Musterung unterzogen. Während der Schiffszimmermann mit Bill Thorne, dem Segelmacher, und Batuti, dem riesigen Gambianeger, unter Deck verschwand, begannen der Seewolf und seine Männer, das schwere Tau zum Großmars emporzuhieven. Hin und wieder mußten sie eine Pause einlegen, denn die über dreißig Yards Taulänge, die zunächst einmal aufzuhieven waren, hatten ein höllisches Gewicht. Überhaupt fiel dem Seewolf und seinen Männern bei dieser Gelegenheit wieder einmal mehr auf, wie solide und ungeheuer stabil die ›Isabella V.‹ bis ins allerletzte Detail gebaut worden war. An jedem noch so kleinen Teil spürte man, daß dieses Schiff aus Meisterhand stammen mußte und von ihren Erbauern sorgfältig durchdacht und dann Teil für Teil, Spant für Spant und Planke für Planke zusammengesetzt worden war. Hasard kannte andere Schiffe, denen man überall die Schluderei und das Nichtkönnen ihrer Erbauer ansah. Schiffe, 21
die ständig Wasser machten, so daß immer wieder gepumpt werden mußte, bei denen bei etwas böigem Wind Rahen und Stengen von oben kamen und die Leute an Deck erschlugen. Er kannte Schiffe, denen im Sturm das Ruder brach und auf denen die See die Stückpforten zerschlug oder abriß oder Türen und Luken kurzerhand zerschmetterte. Nichts von alledem würde jemals auf dieser Galeone geschehen, da war er absolut sicher. Der einzige Nachteil der ›Isabella V.‹ bestand darin, daß sie ein sehr schweres Schiff mit einem außerordentlich starken Rumpf war und deshalb nicht eben schnell zu segeln vermochte. Aber das glichen die zwanzig siebzehnpfündigen Culverinen leicht wieder aus, die sich alle in einem hervorragenden Zustand befanden, von denen man sogar noch Ersatzrohre im Pulvermagazin deponiert hatte. Das alles schoß dem Seewolf durch den Kopf, während er schwitzend und fluchend mit den Männern in den Wanten schuftete. Dabei glitt sein Blick immer wieder über die See, je öfter, desto höher sie mit dem Tau aufenterten. Er fragte sich schon seit Stunden, wo dieser verdammte Caligu mit seiner Karavelle stecken mochte. Ihn beunruhigte es, daß von dem Kerl nicht eine Mastspitze zu sehen war, seit Sonnenaufgang praktisch nicht mehr. Das war ungewöhnlich, denn dem Seewolf war von Anfang an klargewesen, daß dieser Bastard die ›Isabella‹ nicht mehr aus den Augen lassen würde und nur auf eine Gelegenheit wartete, irgendwo seine Pulverkammern wieder zu füllen. Wenn das geschah, und sie saßen immer noch fest, dann konnte es verdammt kritisch für ihn und seine Männer werden, denn ein Schiff wie die ›Isabella‹ ließ sich auch von achtern oder von vorn zusammenschießen, ohne daß Caligu sich jemals einer ihrer gefährlichen und für die Karavelle absolut tödlichen Breitseiten aussetzen mußte. Wohin war dieser Kerl gesegelt? Hasard kannte die Karavelle 22
und ihre unheimliche Schnelligkeit genau, schließlich war sie ja lange genug von ihm als ›Isabella IV.‹ gesegelt worden. Am liebsten hätte er sich dafür geohrfeigt, daß er das Schiff nicht sofort versenkt oder durch Feuer zerstört hatte, bevor sie die Bucht auf Grand Cayman verlassen hatten. Im stillen gestand er sich ein, daß dieser Fehler einem Francis Drake ganz bestimmt nicht passiert wäre, und das ärgerte ihn nur noch mehr. Verbissen schuftete er weiter. Als sie das Tau schließlich durch die Talje am Großmars schoren, hielt er abermals nach der Karavelle Ausschau. Aber wieder entdeckte er nichts von Caligus Schiff. Der Franzose, der die Unruhe des Seewolfs schon lange bemerkt hatte, hielt einen Moment mit der Arbeit inne. »Der Kerl ist zwar mit Ostkurs abgelaufen, Hasard, aber das bedeutet noch lange nicht, daß er auch auf diesem Kurs verblieben ist. Er kann ihn geändert haben, sobald er sich außer Sichtweite befand.« Der Seewolf sah den Franzosen stirnrunzelnd an. Er schätzte Jean Ribault sehr und wußte, über welch einen scharfen Verstand dieser Mann verfügte. »Du willst damit sagen, Jean, daß dieser Caligu ...« »... wahrscheinlich außerhalb der Sichtweit von uns wieder auf West oder Westnordwest gegangen ist und jetzt irgendwo hinter den Inseln der Cayos de las Doce Leguas liegt und dort den Einbruch der Nacht abwartet. Auf diese Weise können wir uns alle die Augen aus dem Kopf sehen - der Kerl liegt irgendwo hinter einer der Inseln und lacht sich eins. Ich bin sogar überzeugt, daß dort oben«, der Franzose deutete auf einen der Berge, die sich auf der am nächsten gelegenen Insel der Cayos de las Doce Leguas in den bleigrauen Himmel reckten, »ein paar Männer Caligus auf der Lauer liegen und beobachten, was wir tun.« Der Seewolf stieß einen ellenlangen Fluch aus. Dann 23
überdachte er die Lage. Sie mußten zur Nacht die Besatzung wieder teilen, um die kostbare Ladung, die rund fünfzig Yards voraus auf den Felsen deponiert worden war, zu schützen. Sie brauchten aber, um die ›Isabella‹ von der Barriere zu ziehen, jede Hand an Bord. Damit war ausgeschlossen, schon jetzt einen Spähtrupp auszuschicken, um festzustellen, ob die Karavelle tatsächlich dort hinter den Inseln lag. War die Nacht jedoch erst mal hereingebrochen, dann konnte ihnen nur noch das spärliche Mondlicht weiterhelfen, das die schmale Mondsichel hergab, bevor sie wieder hinter der Kimm verschwand. Außerdem hielt Hasard einen Mann wie Caligu nicht für so dumm, die Karavelle so zu ankern, daß man sie auch sofort bei Nacht entdecken konnte. Er ballte die Hände. »Wenn es dunkel ist, rüsten wir eines unserer Boote aus, Jean!« stieß er voller Grimm hervor. »Ich glaube wirklich, daß du recht hast. Die Kerle rechnen sich etwas aus, aber wir werden ihnen zuvorkommen! Die sollen mich kennenlernen, darauf kannst du Gift nehmen!« Die anderen Männer hatten zugehört, und auch Ben Brighton, der auf dem Großmars stand und das Tau durch die Talje schor, merkte auf. »Du willst die Karavelle dieses Piraten mit einem unserer Boote angreifen?« fragte er. Der Seewolf nickte. »Und ob ich das will, und wir werden dabei bis an die Zähne bewaffnet sein. Wir haben Pulver, Musketen, Pistolen. Wir können uns Sprengladungen bauen, aber Caligu nicht. Es herrscht beinahe Windstille, Ben. Vielleicht kommt zum Abend noch eine leichte Brise auf. Dann werden wir unser Boot mit einem Segel versehen. Die Karavelle wird nicht schnell genug ihre Anker lichten können, die kriegen wir, wenn sie da hinter den Inseln liegt, so wahr ich der Seewolf bin! Und 24
jetzt an die Arbeit - alles andere später!« Sie stürzten sich erneut in die Arbeit, aber wieder war es der Franzose, der Hasard plötzlich ansah. »Wenn ich es mir recht überlege, dann könnten wir trotz der ganzen Misere noch einen oder zwei Mann entbehren. Schicke zwei gute Männer zur Insel rüber, sobald es dunkel geworden ist. Kennen wir erst die Lage der Karavelle, dann können wir uns einen genauen Angriffsplan überlegen. Ich schlage vor, Batuti und Karl von Hutten gehen los. Wenn etwas zu finden ist, dann finden die beiden es bestimmt. Und sie werden sich auch nicht von Caligus Männern oder Spähern übertölpeln lassen.« Der Seewolf sah den Franzosen nachdenklich an. »Sie können aber kein Boot nehmen, dabei werden sie entdeckt. Und schwimmen? Hast du an die Haie gedacht? Nein, so gut deine Idee ist, Jean, das können wir nicht riskieren. Mit Dan und Ferris, das war gerade knapp genug, aber wem erzähle ich das. Wir müssen also auf jeden Fall warten, bis es wirklich dunkel ist. Dann aber wäre es geradezu verrückt, außer uns auch noch Batuti und von Hutten loszujagen.« Dabei blieb es. Schweigend arbeiteten die Männer weiter. Nur der riesige Gambianeger, der zusammen mit Dan ebenfalls zu Hasard und seinen Männern gestoßen war, nachdem sie die Bolzen unter Deck gesichert hatten, bleckte hin und wieder seine weißen Zähne. »Batuti dieses verdammte Caligu totschlagen, ersäufen wie Ratte oder Hals umdrehen - so!« murmelte er dabei vor sich hin. »Piraten werden heulen vor Angst, wenn Batuti sehen! Werden Freudenfest für Haifische, wenn alle ersäufen!« Dan starrte ihn aus brennenden Augen an. Auch er hatte das Gespräch zwischen Ribault und Hasard verfolgt. Schließlich hielt er es nicht mehr aus und kletterte zum Seewolf hinüber. »Du hast mal gesagt, daß ich noch einen Wunsch bei dir frei 25
habe, erinnerst du dich?« Der Seewolf nickte, dann grinste er plötzlich. »In Ordnung, Dan«, sagte er. »Du bist dabei, wenn es heute abend losgeht! Aber du bleibst bei mir, klar? Und ja keine Eigenmächtigkeiten, oder ich ziehe dir eigenhändig ...« Die Männer begannen zu lachen. Carberry, der eben an Deck sprang, blickte argwöhnisch zu ihnen hoch. »...die Haut in Streifen von deinem Affenarsch!« grölten sie und wieherten vor Schadenfreude, als Carberry sie vom Deck aus verblüfft anstarrte und dann drohend nach einem der schweren Belegnägel griff. »He«, brüllte er. »Euch hat wohl der Schimpanse ins Gehirn geschissen, was? Wer etwas von mir will, der soll runterkommen, dem stopfe ich dann schon sein großes Maul, ist das klar?« Er rammte sein mächtiges Kinn vor. Ein brauner Blitz zuckte aus der Takelage auf Carberry hinunter, entriß ihm den Belegnagel und warf ihn gleichzeitig nach dem Profos. Carberry konnte sich nur mit einem gewaltigen Satz in Sicherheit bringen. Als die Männer um den Seewolf abermals dröhnend lachten, übertönte Arwenack, der Schimpansenjunge, sie mühelos mit seinem schadenfrohen Gekecker. Carberry hob den Belegnagel auf und stieß ihn in die Nagelbank. Dann schüttelte er drohend die Fäuste, aber weder dem Seewolf noch den anderen entging, daß er Mühe hatte, sein Grinsen zurückzuhalten. Die Stimme des Schiffszimmermanns bereitete dem Gelächter ein Ende. »Wir können loslegen, Leute! Ein paar Männer ins Boot. Da wird euch das Lachen schon vergehen, denn ich werde dafür sorgen, daß euch allen das Wasser im Hintern kocht! Vorwärts, oder wollen wir warten, bis dieser Caligu über uns herfällt oder ein Sturm die ›Isabella‹ von der Barriere spült?« Der Seewolf und seine Männer enterten blitzartig ab. Ben 26
Brighton verblieb noch mit Stenmark auf dem Großmars, um zu kontrollieren, ob das Tau in der Talje klarlief. Carberry übernahm das Kommando auf der Back, wo Spill und Flaschenzug gleichzeitig bedient werden mußten, sobald die ›Isabella‹ auf der Steuerbordseite lag. Es dauerte noch eine gute Stunde, bis auch der Anker in einer Entfernung von rund dreißig Yards an Steuerbord ausgebracht war und sicher gefaßt hatte. Erst als die Männer völlig erschöpft mit dem Boot wieder längsseits gingen und der Schiffszimmermann sie an den schweren Handläufer der Trosse scheuchte, ertönte Sekunden später Tuckers Kommando: »Ho ruck! Zuu-gleich!« Die Männer legten sich in die Trosse, ihre Füße schienen sich in die Planken des Hauptdecks zu krallen. Sie zogen aus Leibeskräften, mit ihnen der Seewolf. Nur ganz allmählich neigte sich die ›Isabella‹ zur Seite und krängte weiter und weiter nach Steuerbord. Ein paarmal knackte es bedrohlich im Großmast, und sofort hörten die Männer auf, am Handläufer zu ziehen. Aber jedesmal trieb der Schiffszimmermann sie wieder an, wenn er den Mast überprüft hatte. Als die ›Isabella‹ bereits eine beträchtliche Krängung nach Steuerbord aufwies, stand die Sonne tief am bleigrauen Himmel, in den sich am Horizont erste Goldtöne mischten. Von Süden her wehte eine leichte, kaum wahrnehmbare Brise und kündete das bevorstehende Ende des Tages an.
3. Jean Ribault hatte mit seiner Vermutung recht gehabt. Vom höchsten Punkt einer kleinen Insel starrten zwei Männer zur ›Isabella‹ hinüber und beobachteten, was an Bord der Galeone geschah. 27
Caligu schob sich höher aus seiner Deckung. Zwar war es äußerst unwahrscheinlich, daß dieser schwarzhaarige Bastard mit den eisblauen Augen oder einer seiner Männer ihn hier entdeckte, aber er wollte nichts riskieren. Zu oft schon hatte Caligu erleben müssen, daß der Seewolf völlig anders reagierte, als er es erwartet hatte. Ganz allmählich wurde der Mann ihm unheimlich, auch wenn er weit davon entfernt war, sich vor ihm zu fürchten. Er kniff unwillkürlich die Augen zusammen. Die Galeone sah von der Insel nur noch wie ein Kinderspielzeug aus, es war selbst für die scharfen Augen des Piraten schwierig, Einzelheiten zu erkennen. »Kannst du sehen, was diese Hundesöhne vorhaben?« fragte er seinen Unterführer. »Das Messer«, wie die anderen Piraten den Bootsmann Caligus wegen seiner Vorliebe für diese Waffe nannten, antwortete nicht gleich, sondern starrte ebenfalls zur ›Isabella‹ hinüber. Doch dann stieß er plötzlich einen leisen Pfiff aus. »Dieser Seewolf ist ein schlauer Patron«, sagte er. »Er hat gemerkt, daß er sein Schiff nur dann von der Barriere freikriegen kann, wenn er es entsprechend krängt. Paß auf, Caligu, dieser Teufel schafft es! Er wird sein Schiff weiter und weiter nach Steuerbord neigen und dann gleichzeitig mit dem Spill und dem in den Felsen an Backbord verankerten Flaschenzug arbeiten. Wenn sein Schiff nicht zu fest auf den Felsen sitzt, kriegt er es auf diese Weise los.« Die schwarzen Augen des Piraten begannen zu funkeln. »Du hast eins vergessen: Sobald er das Schiff zu sehr nach Steuerbord krängt, schützt der Kiel den Rumpf nicht mehr. Er reißt sich an den scharfen Felsen das Unterwasserschiff auf oder drückt sich die Bordwand ein. Dann aber ist er geliefert. Die Ladung hat er für uns ja schon fein säuberlich auf den Felsen gestapelt. Wir kriegen sie, so oder so!« Das Messer schüttelte den Kopf. 28
»Wie ich diesen Kerl einschätze, hat er sich vorher darüber informiert, wie es unter seinem Schiff aussieht. Dieser Mann dort ist kein Anfänger, Caligu. Nein, meine Meinung ist, daß er die Galeone freikriegt. Darum sollten wir nicht abwarten, sondern uns heute nacht die Schätze holen.« Caligu wandte für einen Augenblick den Kopf zu seinem Unterführer herum. »Was glaubst du wohl, womit dieser Kerl rechnet? Er wird den Felsen, auf dem seine Schätze lagern, bewachen lassen. Und zwar von Männern, die zu kämpfen verstehen. Und vergiß nicht, der Seewolf hat Pulver in Hülle und Fülle, ebenfalls Musketen und Pistolen. Du weißt doch, was uns O’Driscoll berichtet hat. Nein, bei den Schätzen holen wir uns wieder blutige Köpfe.« Der Pirat starrte abermals zu der Galeone hinüber und dachte nach. Und wieder war es sein Unterführer, der ihn aus seinen Gedanken riß. »O’Driscoll hat vorhin, bevor wir hier heraufstiegen, mit mir gesprochen. Er kennt den Seewolf besser als wir, ebenfalls seine gesamte Besatzung. Auch er ist der Meinung, daß dieser Bastard die Schätze während der Nacht unter schwerste Bewachung stellen wird. Und stell dir vor, dieser Narr will seine Beute nach England bringen und seiner Königin abliefern!« Das Messer schüttelte den Kopf und tippte sich gegen die Stirn. »Dieser Kerl könnte sich mit den Schätzen hier irgendwo sein eigenes Königreich aufbauen, was, zum Teufel, schert ihn denn die Königin von England? Er hat das alles erbeutet, er und seine Männer haben für die Juwelen und für das Geld gekämpft, die Kerle müssen total verrückt sein, wenn sie sich das vom Seewolf gefallenlassen.« Caligu fuhr herum. »Darüber haben wir schon oft genug miteinander geredet. Du wolltest mir sagen, welche Idee O’Driscoll hatte, als er mit dir sprach.« 29
Das Messer schlug sich gegen die Stirn. »Natürlich, aber allein der Gedanke an diesen Wahnsinn, an diese Idiotie macht mich krank! Doch zur Sache: Natürlich wird der Seewolf seine Schätze bewachen lassen. Genau das ist aber unsere Chance. Wenn es uns nämlich gelingt, an Bord der Galeone zu entern, sie in Brand zu setzen oder in die Luft zu sprengen, dann ist der Bastard geliefert. Vielleicht gelingt es uns auch, das Schiff zu erobern, dann hätten wir das Pulver, die Waffen und die Schätze.« Caligu hatte sich unwillkürlich aufgerichtet. »Gar nicht dumm, dieser O’Driscoll!« Er dachte nach. »Paß auf, wir werden folgendes tun. O’Driscoll und ein paar Männer nehmen das Boot. Der Ire kennt sich auf der Galeone des Seewolfs am besten aus, er wird die Männer führen. Du und ich, wir marschieren mit dem Rest der Leute über die Insel und greifen von Land aus an, auch, wenn wir das letzte Stück schwimmen müssen.« Der Unterführer zuckte zusammen. »Schwimmen? Und die Haie? Glaubst du, ich lasse mir was abbeißen? Du kennst diese Gewässer doch genausogut wie ich ...« »Scheiß auf die Haie. Nachts sind sie nicht so gefährlich. Außerdem warten wir sowieso, bis der Ire die Galeone in Brand gesetzt hat, die Verwirrung benutzen wir dann. An Bord unseres Schiffes bleiben nur ein paar Wachen. Wenn wir es nämlich heute nacht schaffen, dann ist der Kerl morgen weg da, überzeug dich selber!« Caligu wies auf die ›Isabella‹. Unter dem Zug der Trosse neigte sich die Galeone weiter und weiter zur Seite. Er warf einen raschen, prüfenden Blick zur Sonne. »Heute schaffen sie es nicht mehr, der Seewolf wird nicht so dumm sein und versuchen, bei Nacht von der Barriere ins tiefe Wasser zu verholen. Er könnte dabei sehr leicht auf ein neues 30
Riff brummen. Bis zum Morgen wird er also warten, aber diesen nächsten Morgen wird es für ihn und seine Leute nicht mehr geben.« Caligu kroch nach einem letzten Blick zur ›Isabella‹ zurück. »Wir müssen uns beeilen. Diesmal werde ich das Unternehmen gut vorbereiten, diesmal soll dieser Bastard keine Chance mehr haben.« Die beiden Männer krochen solange, bis sie sicher waren, daß man sie auch durch Zufall von Bord der ›Isabella‹ aus nicht mehr entdecken konnte. Erst dann richteten sie sich auf und eilten den mit Felsgeröll bedeckten Hang der anderen Inselseite hinunter. Schon Minuten später tauchte in ihrem Blickfeld die Karavelle auf, die dicht unter Land vor Anker lag. Caligu grinste. Er hatte diesen Bastard mit den eisblauen Augen ganz schön überlistet, indem er mit der Karavelle einen weiten Bogen nach Norden und später nach Nordwesten hinter die Cayos de las Doce Leguas geschlagen hatte, nachdem er zunächst einmal mit Ostkurs Richtung Windward Passage davongesegelt war. Es hatte eben doch etwas für sich, wenn man ein Seegebiet wie die Karibik genau kannte. * Auf der ›Isabella‹ war inzwischen der Augenblick heran, in dem es sich entscheiden mußte, ob die Bemühungen und die Schufterei der Männer endlich Erfolg haben würden oder nicht. Ferris Tucker richtete sich schweratmend auf und drückte das Kreuz durch. Auch an ihm war die Anstrengung der letzten Stunden nicht spurlos vorübergegangen. Seine blutenden Hände wischte er kurzerhand an seiner Hose ab. Anschließend warf er einen prüfenden Blick zum Großmast hoch. Die ›Isabella V.‹ wies eine Krängung von nahezu fünfundvierzig Grad auf. Die Trosse, die vom Großmars aus zur Talje am 31
Roring des Ankers führte, war straff wie die Seite einer Violine. Hin und wieder knackte es im Großmast bedrohlich, aber Tucker hatte den Mast immer wieder überprüft. Er wußte, daß er der Belastung gewachsen war. Auch der Seewolf hatte sich für einen Moment gegen das Schanzkleid an Steuerbord gelehnt. Genau wie die anderen Männer benutzte er die Pause, um Kräfte zu sammeln. »Ferris, hier genügen jetzt drei oder vier Mann«, sagte er nach einer Weile. »Alle anderen ans Spill und den Flaschenzug an Backbord.« Prüfend glitten seine Blicke über die Männer. »Ben, Batuti, Smoky!« rief er. Die Genannten sahen ihn an. »Ihr übernehmt den Handläufer hier. Aber paßt auf! Wenn die ›Isabella‹ freikommen sollte, müßt ihr die Trosse nachfieren. Mehr Krängung als jetzt verträgt sie nicht mehr. Was meinst du, Ferris?« »Auf keinen Fall. Zwar ist ihr Rumpf ganz schön schwer, aber die Masten sind für ein Schiff dieser Art ebenfalls sehr hoch. Dazu kommen die zwanzig schweren Geschütze auf dem Hauptdeck, nein, mehr würde ich nicht riskieren!« Der Seewolf nickte. »Also los, dann wollen wir mal sehen, ob wir’s jetzt schaffen oder nicht! Vorwärts, Männer!« Ben Brighton, Smoky und Batuti nahmen ihre Plätze an der Trosse ein. Der Seewolf, der hünenhafte Schiffszimmermann und die anderen Männer marschieren zur Back. Der Seewolf übernahm das Kommando über die Gruppe am Spill, Ferris Tucker stemmte sich zwar auch in die Spaken am Spill, aber gleichzeitig konzentrierte er sich auf alle Geräusche im Schiff, während sie versuchten, die Galeone von der Barriere zu ziehen. Er war sich klar darüber, daß das Unterwasserschiff den Felsen jetzt völlig schutzlos ausgeliefert sein würde, der starke Kiel nutzte ihm bei dieser Krängung nichts mehr. »Fertig?« fragte der Seewolf. Ferris Tucker nickte. 32
»Also los - hau ruck!« Die Stimme des Seewolfs schallte über Deck. Valdez, der mit ein paar Männern ungefähr fünfzig Yards voraus auf dem Felsen bei den Schätzen hockte und die mehr und mehr zunehmende Krängung der ›Isabella‹ voller Unbehagen verfolgt hatte, sprang auf. Ein lautes, unüberhörbares Knirschen war an seine Ohren gedrungen. Dann sah er, wie die ›Isabella‹ sich bewegte. Al Conroy und Piet Straaten, die sich bei ihm befanden, waren ebenfalls aufgesprungen. »Sie hat sich bewegt!« schrie der sonst so ruhige und bedächtige Al Conroy und deutete aufgeregt auf die kleinen Wellen, die vom Bug der Galeone aus nach beiden Seiten davonliefen. »Verdammt, sie schaffen es, sie kriegen die ›Isabella‹ frei!« Wieder stemmten sich die Männer am Spill in die Spaken. Unter ihnen auch der bärenstarke Carberry. Das laute »Hau ruck!« des Seewolfs schallte über die Felsen, und wieder bewegte sich die ›Isabella‹ ein Stück vorwärts. Unter dem Rumpf der Galeone knirschte und krachte es bedrohlich, und Ferris Tucker stand plötzlich auf Stützen. Er ließ die Spake am Spill fahren und lief zum Steuerbordschanzkleid hinüber. Dort blieb er auch, als Hasard und die anderen sich erneut in die Spaken stemmten. Die schwere Trosse, die nach Backbord voraus zum Anker lief, der zwischen den Felsen saß, spannte sich, und das Spill knirschte und ächzte, während die Männer ihre Körper gegen die Spaken drückten und das Spill Zoll für Zoll herumwuchteten. Ben Brighton, Smoky und Batuti gaben etwas lose in die Trosse, die vom Großmars nach Steuerbord lief und dann im Wasser verschwand. Die Galeone richtete sich etwas auf, während es unter ihrem Rumpf wiederum bedrohlich knisterte und krachte. »He, Ferris, was ist los?« schrie Smoky zum Schiffszimmermann herüber. »Bricht der Kahn jetzt endgültig 33
auseinander?« Tucker fuhr wütend herum. »Verflucht noch mal, Smoky, halt dein verdammtes Maul! Wie soll ich denn was hören, wenn du hier so herumgrölst?« Er beugte sich weit über das Schanzkleid. Langsam wurde das schwere Schiff unter dem gewaltigen Zug, den die Trosse ausübte, über die Felsbarriere gezogen. Der Schiffszimmermann spürte, wie sie schneller und schneller über den Fels zu gleiten begann, gleichzeitig neigte sie sich auch wieder weiter nach Steuerbord, weil Ben und seine beiden Gefährten nicht rasch genug Lose in die Trosse gaben. Der Schiffszimmermann fuhr herum. »Verflucht, paßt doch auf! Mehr Lose, oder wollt ihr, daß wir kentern! Los, beeilt euch, verflucht, warum seid ihr bloß so lahmarschig?« Er sprang selber mit an die Trosse. Die ›Isabella‹ richtete sich wieder ein Stück auf, und gleichzeitig ertönte das »Hau ruck!« von der Back. Den Männern lief der Schweiß in Strömen über Brust und Rücken, aber sie hörten nicht auf. Der Seewolf wußte, daß sie jetzt nicht mehr aufhören durften, denn sonst konnte es geschehen, daß sich die Galeone über Nacht wieder von neuem festsetzte. Außerdem konnte das Wasser fallen, und dann saßen sie ebenfalls fest. Valdez, Al Conroy und Piet Straaten verfolgten das alles mit angehaltenem Atem. Aber sie sahen, daß die ›Isabella‹ vorwärts glitt. Zoll um Zoll, mal schneller, mal langsamer, aber stetig. Die Männer an Bord der Galeone schufteten bis zur völligen Erschöpfung, aber der Seewolf und Ferris Tucker trieben sie unbarmherzig an. Dann, Stunden später, die Trosse, die am Großmars befestigt war und anfangs fast im rechten Winkel vom Schiff aus nach Steuerbord lief, bildete mit dem Rumpf schon fast einen spitzen Winkel nach achtern, ging plötzlich 34
ein gewaltiger Ruck durch das schwere Schiff. Tucker brüllte auf, als die ›Isabella‹ plötzlich unter dem gewaltigen Zug, der vom Spill aus auf sie ausgeübt wurde, ins tiefe Wasser glitt, gleichzeitig aber, durch die Trosse an Steuerbord gehalten, weit nach Steuerbord überholte. Irgendwo in den Tiefen ihres Rumpfes polterte etwas durch die Laderäume, die schweren Geschütze an Backbord zerrten an ihren Brooktauen, und die ›Isabella‹ legte sich noch weiter nach Steuerbord über. »Aufpassen, oder wir kentern!« brüllte Tucker. »Die Trosse, schnell, Mensch, beeilt euch, oh, verdammt ...« Die ›Isabella‹ holte noch weiter über. Langsam, aber stetig neigte sie sich nach Steuerbord. »In der Talje am Großmars hat sich was verklemmt!« schrie Ben Brighton und lief auch schon auf die Wanten zu, um aufzuentern. Der Seewolf, der die Gefahr ebenfalls erkannt hatte, versuchte, die Arretierung des Spills zu lösen, aber vergeblich, der Zug, den die Trosse auf das Schiff ausübte, war einfach zu stark. Der Schiffszimmermann tat das einzige, was ihm noch zu tun blieb, während das Wasser bereits an Steuerbord durch die Speigatten gurgelte. »Alle Mann nach Backbord!« schrie er. Gleichzeitig riß er seine schwere Axt hoch und hieb wie ein Wahnsinniger auf die schwere Trosse ein, die das Schiff ins Verderben ziehen wollte. Schlag um Schlag hieb er auf die Trosse ein. Seine Schneide fraß sich in die dicken Stränge aus Hanf. Dann warf er sich blitzschnell zur Seite, als die Trosse mit einem berstenden Knall brach. Wie der im Todeskampf zuckende Leib einer Schlange fuhr sie über Deck, verfehlte den in den Steuerbordwanten hängenden Ben Brighton nur um ein paar Zoll und schlug krachend in die Takelage. »Die ›Isabella‹, von dem starken Zug befreit, richtete sich auf. Sie holte weit nach Backbord über, ein paar der Männer 35
am Spill rutschten weg und stürzten an Deck. Dann schwang die Galeone zurück, und ihre Lage stabilisierte sich. Ferris Tucker erhob sich von den Planken des Hauptdecks. Er war zwar noch etwas blaß, aber über seine Züge glitt bereits wieder ein schwaches Grinsen. »Das war ziemlich knapp, Leute«, sagte er nur. »Los, verankern wir die ›Isabella‹ erst mal so, daß sie während der Nacht nicht noch auf dumme Gedanken kommen kann!« Die Männer lösten sich vom Spill. Hasard ging auf Ferris Tucker zu. Er hieb ihm auf die Schulter. »Wenn wir dich nicht hätten, Ferris«, sagte er nur. Aber jeder Mann an Bord wußte, daß diese paar Worte mehr Anerkennung bargen, als bisher irgendeinem anderen Mann der Besatzung je vom Seewolf zuteil geworden war. Trotz ihrer Erschöpfung gingen die Männer sofort ans Werk. Unter Führung von Carberry und Tucker bargen sie zunächst den Anker an Steuerbord. Hin und wieder glitten dabei die Blicke Dans über das Wasser, mißtrauisch hielt er nach den Haien Ausschau, die noch geraume Weile das Schiff umkreist hatten, aber sie waren wieder in den Tiefen der Karibik verschwunden. Sie hatten begriffen, daß bei der ›Isabella‹ nichts mehr zu holen war. Anschließend verholten die Männer die Galeone noch ein Stück weiter ins tiefe Wasser und verankerten sie dann vor dem Felsen, auf dem Valdez, Al Conroy und Piet Straaten bei den Schätzen Wache hielten. Als die Sonne bereits unter der Kimm verschwunden war, teilte Hasard das Wachkommando ein, das für die Nacht bei den Schätzen bleiben sollte. Er rüstete die Männer mit Musketen und genügend Pulver aus. Anschließend versammelte er den Rest auf dem Hauptdeck um sich. »Carberry, Dan, Stenmark, Matt, Batuti, Ferris!« sagte er. »Wir essen jetzt etwas, für jeden eine doppelte Portion Rum, dann machen wir das Boot klar und sehen mal, was sich da 36
drüben hinter der Insel tut. Jean!« rief er den Franzosen zu sich heran. »Du segelst einfach mit. Schließlich war es deine Idee, außerdem brauchen wir noch einen Bugmann. Den Posten übernimmt Dan, er hat von uns allen die schärfsten Augen. Wenn es möglich ist, und wir auch nur die geringste Chance haben, dann vernaschen wir diesen verfluchten Caligu samt seiner Karavelle. Nehmt ein Faß Pulver mit, du, Ferris, versiehst es mit einer Zündschnur. Für alle Fälle, kapiert?« Der Schiff szimmermann grinste. »Bin ja nicht bescheuert«, erwiderte er. »Aber sieh zu, daß ihr auch ein paar Pistolen mitnehmt. Diese Kerle da drüben sind verdammt fix mit ihren Messern. Es ist nicht unbedingt nötig, daß auch von uns erst noch ein paar mit durchschnittenen Hälsen zu den Fischen gehen!« Während der Kutscher ein kräftiges Essen kochte, bereiteten die von Hasard benannten Männer das nächtliche Unternehmen vor. Zwar wußte keiner von ihnen, ob Caligu und seine Mörderbande überhaupt in der Nähe waren, aber jeder von ihnen glaubte es. Denn sie wußten nur zu gut, welch eine Verlockung die auf dem Felsen aufgestapelten Schätze für den Piraten darstellten. Eine knappe Stunde später segelte das Beiboot mit dem Seewolf davon. Eine leichte Brise wehte von Süd, das bedeutete günstigen Wind für das Boot. Ben Brighton, der das Kommando über die Galeone übernommen hatte, blickte dem Boot nach, bis es die Dunkelheit verschluckt hatte. »Viel Glück!« murmelte er. Und er wußte, daß der Seewolf und seine Gefährten diesen Wunsch bestimmt gut gebrauchen konnten.
4.
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Auch Caligu hatte seine Pläne in die Tat umgesetzt. Allerdings wurde das Boot, das sich seit Einbruch der Dunkelheit zur ›Isabella‹ unterwegs befand, gerudert. An Bord befanden sich zehn Piraten unter Patrick O’Driscolls Führung. Der Himmel war sternenklar, nur über der See trieben hier und da leichte Nebelschwaden. Caligu war ebenfalls mit einem Trupp von Männern aufgebrochen. Er näherte sich der ›Isabella‹ von der Landseite her. Er wußte nicht, daß es dem Seewolf und seiner Crew inzwischen gelungen war, die Galeone von der Barriere wieder freizukriegen. Die Riemen der Piraten waren zwar umwickelt, aber diese Männer hatten nicht die notwendige Disziplin, um sich wirklich geräuschlos zu bewegen. Genau das aber wurde ihnen zum Verhängnis. Dan hatte auf Anweisung des Seewolfs seinen Posten im Bug des Bootes bezogen. Die leichte Brise füllte das Segel, das Boot glitt fast geräuschlos durch die nächtliche See. Hin und wieder starrte Dan auf die dunkle Oberfläche des Wassers, er dachte daran, was sich in diesem Moment wohl alles in der Tiefe unter ihnen abspielen mochte. So sehr er sich auch bemühte, das Erlebnis mit dem Hammerhai auf der Barriere konnte er nicht verdrängen. Er sah den Hai noch immer mit weit aufgerissenem Maul auf sich zuschwimmen, während Ferris Tucker ihn mit einem so eisernen Griff umklammert hielt, daß es Dan trotz seiner verzweifelten Anstrengungen nicht möglich gewesen war, sich zu befreien. Inzwischen wußte er, daß ihm der Schiffszimmermann auf diese Weise das Leben gerettet hatte. Aber die schrecklichen Bilder von dem riesigen Hai blieben, die vermochte Dan nicht wieder abzuschütteln. Es war der erste Hai, der ihn angegriffen hatte. Irgendwie steckte Dan der Schock noch immer tief in den Knochen, aber statt ihn irgendwie abzulenken, schärfte er seine Sinne. Dan befand sich in einem Zustand, in dem ihm nichts 38
entging. Es war, als vibrierten seine gesamten Nerven immer noch in höchster Alarmbereitschaft. Seine Blicke bohrten sich ins Dunkel, je weiter sie sich von der ›Isabella‹ entfernten. Von Jean Ribault wußte er, daß das Wasser unter ihrem Kiel so tief war, daß bisher noch kein Lot je den Grund erreicht hatte. Genaueres wußte der Franzose auch nicht, außer daß der Meeresboden gleich vor den Cayos de las Doce Leguas steil abfiel. Dan hörte als erstes das Geräusch eines quietschenden Riemens. Als nächstes die leise Stimme eines Mannes, der ein Kommando gab. Die Sichel des Mondes hing im Westen bereits tief über der See, aber das bißchen Licht, das sie auf die Meeresoberfläche warf, genügte Dan dennoch, um den flachen Schatten zu erkennen, der eben hinter der Insel auftauchte, in deren Nähe die ›Isabella‹ ankerte und um deren Ostspitze sie eben herumsegelten. Dan O’Flynn beging nicht den Fehler, sich durch einen lauten Ruf zu verraten. Er verglich blitzschnell ihre Position mit der des Mondes und erkannte, daß die Piraten sie nicht so schnell entdecken konnten. Die Mondsichel gab dazu zu wenig Licht, außerdem kehrten sie dem Boot der Piraten die Schattenseite zu, während die Piraten selbst von dem Licht des Mondes erfaßt wurden. »Wahrschau!« flüsterte er, indem er sich rasch umdrehte. »Ein Boot Backbord voraus. Es wird gepullt und bewegt sich mit Kurs West. Das müssen die Piraten sein, Jean hatte mit seiner Vermutung recht.« Der Seewolf, der außerordentlich scharfe Augen hatte, blickte in die angegebene Richtung, aber er sah die dunkle Silhouette des Piratenbootes noch nicht. Wieder einmal staunte er über die Adleraugen des Jungen. Seinen Männern, die sich unwillkürlich ebenfalls umgedreht hatten, erging es nicht anders. Aber auch sie hüteten sich, irgendeine laute Bemerkung von sich zu geben, die ihre Anwesenheit verraten konnte. Jeder 39
von ihnen wußte aus Erfahrung, daß Dan sich in solchen Dingen noch niemals geirrt hatte. Mit leiser Stimme befahl der Seewolf seinen Männern, sich zum Angriff fertigzumachen. Unterdessen gab Dan mit leiser Stimme Kurskorrekturen, und das Boot schwang lautlos herum. »Segel runter!« kommandierte der Seewolf. Ferris Tucker und Batuti erledigten das im Handumdrehen, aber das war zugleich auch der Moment, in dem ihr Boot von den Piraten entdeckt wurde. »Da sind sie! Dieser Hund, dieser Dreckskerl hat auf uns gewartet, drauf Leute, schlagt ihnen die Schädel ein, schlitzt ihnen die Bäuche auf und werft sie den Haien zum Fraß vor, mit dem Rest wird Caligu schon fertig! Zur Hölle mit den Kerlen!« Matt Davies fuhr von seiner Ducht hoch. Sein scharf geschliffener Haken zuckte hoch. »O’Driscoll, du dreckiger Verräter, du Lump! Her mit dir, dir werde ich’s besorgen, darauf kannst du Gift nehmen!« brüllte er. »Da - da sind sie!« Ferris Tucker fuhr ebenfalls hoch und riß seine gewaltige Axt vom Boden des Bootes hoch. »Diese dreimal geteertenDecksaffen erschlage ich einen nach dem anderen!« brüllte er. »Das wird ein Fest für die Haie, was Dan? Wir wissen ja, wie viele von diesen Bestien es hier gibt!« Die Boote rauschten von harten Fäusten getrieben aufeinander zu. Die angestaute Wut vieler Tage und Nächte entlud sich in diesem Augenblick. Carberry riß ebenfalls sein breites Entermesser heraus, während der Seewolf die Hähne seiner doppelschüssigen Radschloßpistole spannte. Und Batuti schwang den schweren Morgenstern über dem Kopf hin und her. »Nur immer her mit euch, dreckiges Piratenbrut! Batuti euch allen schlagen Schädel ein, ein Fest für Teufel in Hölle! Euch alle werfen in großen Topf, her mit euch, Batuti warten!« 40
Sekunden später prallten die beiden Boote gegeneinander. Mit einem Satz war Ferris Tucker heran und ließ seine riesige Axt niedersausen. Batuti sprang gleich über zwei Duchten und stürzte sich mit wütendem Gebrüll auf die Gegner. Sein Morgenstern mähte alles nieder, was ihm in den Weg geriet. Nur Matt Davies hatte sich im Bug niedergekauert, weil er die einzelnen Gestalten so am besten sehen konnte. Dann hatte er O’Driscoll entdeckt, und mit einem wilden Schrei fuhr er hoch und warf sich auf den Verräter. Der Seewolf war ebenfalls in das Piratenboot geflankt. Donnernd entlud sich seine Radschloßpistole, und einer der Piraten stürzte laut schreiend rückwärts ins nachtschwarze Wasser. Es entspann sich ein wilder Kampf von Bord zu Bord. Carberry wütete wie ein Berserker, er stach und schlug um sich, dabei brüllte er ununterbrochen mit seinem gewaltigen Organ, daß der Seewolf schon glaubte, sein Gebrüll allein würde bereits genügen, um die Piraten zu demoralisieren. Aber die Kerle kämpften verbissen, einmal spürte er, wie die Axt des Schiffszimmermanns unmittelbar an seinem Kopf vorbeizischte und gleich darauf einem der Piraten, der ihm von hinten das Messer in den Rücken rammen wollte, den Schädel spaltete. Der Mond war verschwunden, es herrschte fast absolute Finsternis über der See. Und noch immer kämpften die Piraten und Hasards Männer verbissen miteinander. Kaum daß man Freund von Feind zu unterscheiden vermochte. Matt Davies hatte O’Driscoll gepackt. Aber der Ire kannte die gefährliche Hakenprothese an Davies rechtem Unterarm, er wußte, was für eine schlimme und tödliche Waffe sie war. Er hielt Matt Davies umklammert, während sie sich über die Duchten des Piratenbootes wälzten, eng umschlungen, ineinander verkrallt. Matt Davies packte die Wut. 41
»Du Verräter, du Miststück, mit dir ist es aus. Das überstehst du hier nicht mehr lebend, das verspreche ich dir. Paß auf, du Hurensohn, was ich dir verpasse!« Matt Davies keuchte, aber er verfügte über Bärenkräfte und über eine Ausdauer wie kaum ein anderer aus der ›Isabella‹-Crew. Er bog den Kopf zurück und rammte ihn mit aller Gewalt nach vorn. Er traf O’Driscoll seitlich am Schädel, und der Ire heulte vor Schmerz, Verzweiflung und Wut laut auf. Und um die beiden herum tobte der Kampf, schrien und starben Männer. Matt Davies stieß abermals zu, und dann befreite er sich plötzlich mit einem gewaltigen Ruck aus der Umklammerung des Iren. Wieder heulte O’Driscoll auf, versuchte sich zur Seite zu wälzen, aufzuspringen, aber Matt Davies war schneller. Sein Körper zuckte hoch, gleichzeitig mit ihm die Hakenprothese. Dann schlug Matt Davies zu, mit aller Kraft, über die er verfügte. Die Prothese traf den Schädel des Iren und spaltete ihn in zwei Hälften. Der entsetzliche Schrei, mit dem O’Driscoll starb, riß gurgelnd ab, dann klatschte sein Körper auch schon ins Wasser. Matt Davies taumelte hoch. Er strauchelte, seine Füße verfingen sich in einem Toten, der quer über einer Ducht des Piratenbootes lag. Carberry schaffte es gerade noch, ihn zu packen, sonst wäre Matt außenbords gestürzt. »He, Matt, nicht so eilig!« röhrte er. »Denk an die Haie, ist kein Wasser zum Baden hier ...« In diesem Moment drang wüstes Geschrei aus dem Boot, mit dem sie hierhergesegelt waren, zu Matt und Carberry herüber. Der Seewolf und Ferris Tucker sprangen über die Duchten und brachten das Piratenboot dabei gefährlich ins Wanken. »He, was ist da los?« Sie sahen nur, wie ihr Boot langsam abtrieb. Aber dann 42
beobachteten sie noch etwas anderes, nämlich Dan, der wie ein Berserker mit irgendeinem Kerl an Bord ihres Bootes kämpfte. »Du Hund!« hörten sie den Jungen mit seiner hellen Stimme schreien. »Du räudiger Affe, dir werde ich helfen!« Ein dröhnendes, weithin hallendes Lachen war die Antwort. Im Licht der Sterne erkannten sie lediglich eine große, dunkle Gestalt, die sich eben aufrichtete. Aber dann gefror Hasard und den anderen plötzlich das Blut vor Schreck in den Adern. Sie sahen die funkensprühende Lunte, die Ferris Tucker auf Weisung des Seewolfs an dem kleinen Pulverfäßchen angebracht und damit eine perfekte Bombe hergestellt hatte. Wieder hörten sie Dans Stimme. »Idiot, laß das Faß, du Dreckskerl, ich schlage dir den Schädel ein, ich ...« Der Pirat wuchtete das Faß hoch und schlug damit zu. Sie vernahmen den Schrei, den klatschenden Aufschlag Dans aufs Wasser und dann wieder das drohendes Gelächter des Kerls. »So, Seewolf, fahr zur Hölle! Caligu läßt dich grüßen, er schlachtet jetzt gerade deine Männer ab, die deine Schätze bewachen!« Der Pirat holte aus und schleuderte das Pulverfaß mit unheimlicher Gewalt auf sie zu. Der Seewolf verlor keine Sekunde. »Raus aus dem Boot - alle Mann über Bord!« Damit hechtete er auch schon ins Wasser. Noch nie hatten ihn seine Männer so brüllen hören, aber auch sie sprangen sofort. Noch bevor sie das Wasser erreichten, vernahmen sie hinter sich den dumpfen Aufschlag, mit dem das Pulverfaß im Boot der Piraten landete. Noch während sie in der See verschwanden, zerriß hinter ihnen eine gewaltige Stichflamme die Nacht, die Explosion zerfetzte das Boot und wirbelte die Trümmer davon. Rings um sie herum klatschten sie ins Wasser, eine der Planken unmittelbar neben dem Seewolf, als er wieder auftauchte. Hasard achtete jedoch nicht darauf. Er hatte nur zwei 43
Gedanken. Dan und die Haie, die vielleicht schon in diesem Augenblick aus den Tiefen zu ihnen heraufschossen, angelockt von dem Blut, das aus den Wunden der toten im Wassen treibenden Piraten quoll, aufgescheucht durch die Druckwelle der Explosion. Er mußte Dan finden, er mußte verhindern, daß dieser Pirat mit ihrem Boot auf und davon segelte, oder keiner von ihnen erlebte den nächsten Morgen. Mit wilden Stößen schwamm Hasard auf das Boot zu, daß er als dunklen Schemen vor sich sah. Dann hatte er es erreicht. Er schoß aus dem Wasser, registrierte den Piraten, der eben damit beschäftigt war, das Segel zu setzen, zog sich ins Boot und warf sich auf den Kerl. Der Pirat fuhr herum, die breite Klinge seines Messers zuckte an Hasards Hals vorbei, nur um Haaresbreite, wie dem Seewolf schien. Hasard gab dem Mann keine Gelegenheit zum zweiten Stoß. Seine Rechte zuckte hoch, die Klinge seines Entermessers stieß nach unten und durchbohrte die Brust des Piraten. Gleichzeitig ließ der Seewolf das Messer fallen, packte den Mann und schleuderte ihn in hohem Bogen über Bord. Irgendwo klatschte sein Körper ins Wasser - und gleichzeitig war dem Seewolf klar, daß er in bezug auf Dan soeben einen schweren Fehler begangen hatte, falls der Junge überhaupt noch lebte und nicht längst ertrunken war. Hasard richtete sich auf und wischte sich das Blut von Händen und Gesicht. »Dan!« brüllte er in die Dunkelheit. »Dan, wo steckst du? Ich hole dich!« Er erhielt keine Antwort, statt dessen näherten sich seine Männer dem Boot. Carberry und der hünenhafte Schiffszimmermann erreichten es als erste, dann Stenmark, der blonde Schwede, anschließend Matt Davies, Batuti und Jean Ribault. Nacheinander zogen sie sich an Bord, alle mit bemerkenswerter Eile. 44
Batuti starrte den Seewolf an. »Dan, wo ist kleines Dan?« fragte er. Das Blut lief ihm aus mehreren Wunden über den Oberkörper. »Wir Dan finden müssen, Haie kommen, zu viele Tote im Wasser, Batuti wissen! Wir müssen finden Dan, sonst verloren, schnell, müssen machen Licht, suchen Dan!« Er sprang mit affenartiger Geschwindigkeit über die Duchten und holte aus dem Vorschiff eine Fackel. Im Nu war er zurück. »Feuer, geben Feuer, dann rudern, müssen finden kleines Dan.« Der Gambia-Neger war außer sich vor Angst und Sorge um den Jungen - und nicht zu unrecht, wie ein harter Stoß bewies, den das Boot soeben von unten erhielt und der es heftig zum Schwanken brachte. Die Fackel wurde entzündet, Ferris Tucker zog das Segel hoch, die anderen sprangen an die Riemen. Batuti eilte zum Bug des Bootes, dorthin, wo Dan zuvor gekauert hatte. Die Fackel in seiner Hand warf ihren Schein über das Wasser. Aber wo war Dan? Der Junge konnte nach Lage der Dinge nicht weit weg sein - wenn er noch lebte ... * Dan spürte den Stoß, der ihn über Bord beförderte. Ein wilder Schmerz durchzuckte seinen Kopf und pflanzte sich fort durch Schultern und Rücken. Er lähmte ihn. Dan spürte, wie er im Wasser versank, ohne daß er etwas dagegen tun konnte. Der Stoß mit dem Faß hatte ihn direkt ins Gesicht getroffen, und noch immer tanzten Sterne und feurige Kreise vor seinen Augen. Irgendwann tauchte er wieder auf, gerade noch rechtzeitig, um Luft zu holen. Ganz plötzlich kehrten seine Lebensgeister zurück. Zwar paralysierte der wahnsinnige Schmerz, der von Kopf, Genick und Schultern in den übrigen Körper ausstrahlte, 45
ihn noch immer, aber sein Gehirn arbeitete wieder. Gleich darauf zerriß eine wahnwitzige Explosion die Nacht, und eine feurige Lohe stach durch die Nacht zum Himmel hoch. Der Schock, den Dan in diesem Moment erlitt, war so heftig, daß er wie wild um sich zu schlagen begann. Gleichzeitig begriff er, daß er sich wieder zu bewegen vermochte, auch wenn ihn der Schmerz, der ihn bei jeder Bewegung durchzuckte, fast wahnsinnig werden ließ. Aber Dan dachte in diesem Moment an Hasard und die anderen, die dieser Dreckskerl von einem Piraten mit dem Faß in die Luft gesprengt hatte. Ein wilder Zorn stieg in dem Bürschchen hoch, er hörte plötzlich auf, wie wild um sich zu schlagen und begann seine Bewegungen zu kontrollieren. In diesem Moment traf ihn die Planke. Sie knallte ihm ins Kreuz, daß ihm Hören und Sehen verging. Augenblicklich sackte Dan abermals weg, aber instinktiv hatte er in seiner Not und Panik nach dem Schatten gegriffen, der plötzlich irgendwo neben ihm auftauchte. Er erwischte, ohne es zunächst zu wissen, jene Planke, die ihn getroffen und dann ebenfalls wie ein Speer ins Wasser geschossen war. Dan klammerte sich an ihr fest, seine Hände ließen sie nicht los, auch dann nicht, als das große Stück Holz ihn längst wieder an die Oberfläche gezogen hatte. Ebensowenig wurde Dan sich noch der Tatsache bewußt, daß er sich mit dem Oberkörper auf ein Stück Holz zog, das etwas später seinen eigenen Kurs kreuzte und wesentlich größer war als die Planke, an die er sich unter Wasser geklammert hatte und die ihn kaum trug. Wenig später verlor er das Bewußtsein. Wahrscheinlich rettete ihm das zum zweitenmal an diesem Tag das Leben, denn er reagierte nicht auf den Hai, der ihn eine Weile mißtrauisch umkreiste, schließlich aber wieder in der Tiefe verschwand, wo es lohnendere Beute gab: die Piraten, deren Leichen im Wasser eine breite Blutspur hinterließen und die 46
Haie in ganzen Rudeln auf sich konzentrierten. Batuti war derjenige, der Dan zuerst im Wasser treiben sah. Er konnte es einfach nicht glauben, und die Männer stemmten sich in die Riemen, daß das Boot nur so über das Wasser schoß. Der Seewolf verließ seinen Platz am Ruder, und unter Carberrys dröhnenden Kommandos schor das Boot bei Dan längsseits und stoppte neben dem Stück vom Kiel des Piratenbootes, auf dem Dan mit dem Oberkörper lag. »Dan ist bewußtlos! Rasch, Batuti, wir müssen ihn ins Boot ziehen. Wir haben schon ein paar von diesen verfluchten Haien gesehen, ein Wunder, daß sie Dan noch nicht gefunden haben!« Zusammen mit Ferris Tucker beugte er sich über die Bordwand und hievte Dan ins Boot, während Stenmark mit der zweiten Fackel, die sie inzwischen entzündet hatten, von achtern leuchtete. Es dauerte eine ganze Weile, bis Dan die Augen aufschlug. Batuti stieß einen Jubelschrei aus und begann im Boot vor Freude umherzutanzen. Erst ein derber Rippenstoß Carberrys brachte ihn wieder zur Besinnung. »He, Batuti, bist du verrückt geworden? Willst du uns zum Schluß noch den Haien vorwerfen? Kümmere dich um Dan und halt jetzt die Klappe, klar? Ich fürchte, unser Bürschchen ist diesmal nicht ganz ungeschoren davongekommen. Sieh dir mal die Beule an, die er da auf seiner Stirn hat. Wetten, daß sie noch größer wird?« Batuti starrte Dan erschrocken an, und die Männer lachten. Aber dann wurden sie sofort wieder ernst. Sie mußten sehen, daß sie zur ›Isabella‹ zurückkehrten. Was hatte dieser Kerl da gebrüllt? Caligu würde jetzt die Männer abschlachten, die auf den Felsen die Schätze bewachten? Na, das wollten sie erst mal sehen. Aber besser war besser, und so schnell sie konnten, pullten sie zurück, unterstützt von der Brise, die immer noch aus Süd wehte. 47
* Auch Caligu hatte seinen Plan in die Tat umgesetzt. Aber etwas anders, als es ursprünglich seine Absicht gewesen war. Er wollte in dieser Nacht den Schatz und die Galeone in seine Gewalt bringen. Wenn er das nicht schaffte, dann gab es für ihn zwar noch eine andere Möglichkeit, aber die bedeutete, daß er mit anderen teilen mußte. Genau das hatte er aber nicht vor. Während der eine Teil seiner Crew sich zum Aufbruch gerüstet hatte, war er mit dem Rest der Mannschaft an Land gegangen. Als das Boot längst abgelegt hatte und bereits in der Dunkelheit verschwunden war, schufteten Caligu und seine Männer immer noch. Das Messer, sein Unterführer, verfolgte Caligus Aktivitäten nicht ohne Skepsis. Besonders die Sache mit den Weibern gefiel ihm nicht sonderlich. Aber da waren einige Punkte, die Caligu recht gaben und die seinen Plan erfolgversprechend erscheinen ließen. Der Pirat richtete sich auf. Triumphierend starrte er das Messer an. »Geschafft!« stieß er hervor. Dabei deutete er auf das Floß, an dem seine Männer eben die letzten Bindungen vornahmen. »Das reicht, das trägt uns alle. Los, Männer, zu Wasser mit dem Ding. Schnappt euch eure Waffen. Es wird höchste Zeit für uns, oder die anderen sind mit diesem Bastard schon fertig, noch bevor wir mitmischen können!« Wieder warf ihm sein Unterführer einen skeptischen Blick zu. »Du glaubst wirklich, daß der Seewolf auf diesen Trick hereinfällt?« fragteer. Der Pirat runzelte ärgerlich die Stirn. Dann war er mit zwei raschen Schritten bei seinem Unterführer und baute sich drohend vor ihm auf. »Es spielt keine Rolle, ob dieser Dreckskerl auf meinen Trick 48
hereinfällt oder nicht. Aber wir werden ihn und seine Männer für die entscheidenden Augenblicke ablenken. Nur das zählt. Denn noch bevor er unsere Absicht durchschaut, entern wir an Bord. Oder, wenn das die anderen bereits besorgt haben, die Felsen, auf denen er seine Schätze deponiert hat.« Caligu wollte sich abwenden, aber sein Unterführer hielt ihn noch einmal zurück. »Und was ist, wenn die anderen es nicht schaffen? Wenn ihr Angriff bemerkt wird und der Seewolf sie zu den Haien schickt?« Caligu riß die Geduld. »Ich habe mir deine dämlichen Fragen lange genug angehört. Wenn du dir vor Angst schon jetzt in die Hosen scheißt, kannst du ja auf der Karavelle die Deckswache übernehmen!« Die Rechte des Unterführers zuckte zum Messer, aber Caligu war schneller. Er packte den Mann und schleuderte ihn gegen die Felsen. Dann warf er sich mit einem Panthersatz auf ihn, entriß ihm das Messer und setzte es ihm an die Gurgel. »Nicht mit Caligu, Freundchen. Ich weiß, wie gut du mit dem Messer bist, aber ich bin immer noch ein ganzes Stück besser als jeder von euch. Sonst hättet ihr mich längst abserviert und du wärst der Kapitän und Anführer. Aber wir kämpfen schon lange zusammen, deshalb will ich für diesmal alles vergessen. Aber hüte dich. Widerspruch wird von Caligu im Keim erstickt, gleichgültig, von wem er kommt. Klar?« Er ließ seinen Unterführer los, über dessen Hals aus einer Schnittwunde langsam das Blut lief. Caligu berührte die Wunde mit der Spitze des Messers. »Letzte Warnung«, sagte er, und warf seinem Unterführer das Messer vor die Füße. »Aber damit du siehst, daß ich bei allem, was ich tu, etwas denke, will ich dir deine Frage beantworten. Wenn die anderen zu dumm sind, diesen Seewolf zu überraschen und ihn zur Hölle zu schicken, um so besser für uns. Denn noch während er damit beschäftigt ist, den einen 49
Angriff abzuschlagen, werden wir da sein. Und selbst, wenn es noch schlechter laufen sollte, dann wird er mit uns schon gar nicht mehr rechnen. Für diesen Fall habe ich mir auch schon etwas überlegt. Und deswegen nehme ich die Weiber mit, ob es dir paßt oder nicht.« Er drehte sich um und ging zu den anderen hinüber, die eben dabei gewesen waren, das Floß zu Wasser zu bringen. »Genug jetzt mit dem dämlichen Gequassel, beeilt euch, oder ich bringe euch auf Trab!« Er rief ein paar Männer auf. »Holt jetzt das Boot und die Weiber. Wenn eine Widerstand leisten sollte, bringt sie zur Raison!« Die Männer sausten los, warfen sich ins Wasser und schwammen zur Karavelle, die dicht unter Land vor Anker lag, hinüber. Knapp zehn Minuten später verließen Caligu und seine Piraten die kleine Bucht. Zwischen ihnen, zusammengepfercht, hockten die spanischen Huren. Nur Maria Juanita durfte neben Caligu im Heck des Bootes sitzen. In einiger Entfernung, so daß es in der Dunkelheit gerade noch zu sehen war, schleppten sie das Floß. Dadurch gelangten sie zwar langsamer vorwärts, aber Caligu trieb sie mit seinen Kommandos unbarmherzig an. Es war eine mühsame Pullerei, aber die Piraten waren zäh. Jeder von ihnen dachte an die Schätze, die auf den Felsen lagerten: Gold, Silber, Perlen und Edelsteine in einer Menge, wie sie ihnen unvorstellbar erschien. Bei jedem Ruderschlag, den sie taten, wuchsen ihre Gier und ihre Entschlossenheit, in dieser Nacht die lange Jagd zu einem Schluß zu bringen und die Sache für sich zu entscheiden. Als sie sich der Südspitze der kleinen Insel näherten, hinter der ihr Schiff ankerte, hörten sie plötzlich lautes Geschrei und anschließend Pistolenschüsse und Kampfgetöse. Caligu fuhr von seiner Ducht hoch. Mit einer knappen Handbewegung wies er seine Männer an, das Pullen einzustellen. 50
Sein Gesicht verzerrte sich vor Wut. Er ballte die Pranken. »Diese Idioten! Sie haben sich von dem Seewolf erwischen lassen! Der Kerl muß mit einem Boot auf der Lauer gelegen haben. Woher wußte dieser Bastard überhaupt, daß wir in der Nähe waren? Wie konnte er wissen, daß wir ihn diese Nacht angreifen würden?« Er lauschte auf den Kampfeslärm und das laute Geschrei, das von der Südspitze der Insel zu ihnen herüberdrang. Dann hörte er ein paar laute Rufe und Sekunden später die donnernde Explosion, mit dem das Pulverfaß das Piratenboot zerriß. Caligu stand einen Augenblick wie erstarrt. »Was war das? Was, zur Hölle, ist da geschehen? Da ist ein ganzes Pulverfaß in die Luft geflogen! Dieser Hund hat unsere Männer in die Luft geblasen!« Caligu konnte gar nichts anderes vermuten, denn daß seine Männer kein Pulver besaßen, wußte er nur zu gut. »Los, weiterpullen« befahl er leise und lauschte gleichzeitig auf die Stimmen und Schreie, die durch die Nacht zu ihnen herüberdrangen. Das Boot der Piraten setzte sich wieder in Bewegung, umrundete die Südspitze der Insel, und dann sahen sie die Fackel, die ihr Licht weit über die dunkle See warf, in deren Schein Hasard und seine Männer nach Dan suchten. Wieder stoppte Caligu seine Männer. Ihn und sein Boot konnte der Seewolf nicht entdecken. Der Mond war längst untergegangen, das tintenschwarze Wasser reflektierte nur das schwache Licht der Sterne. Caligu überlegte in diesem Moment fieberhaft. Er focht einen harten Kampf mit sich aus, denn alles in ihm schrie nach Rache und Vergeltung. Er hatte sofort begriffen, daß kaum einer seiner Gefährten diese Explosion überlebt haben konnte. Aber der Pirat beherrschte sich. Einer seiner Männer, die ebenso wie gelähmt in die Richtung starrten, aus der der Fackelschein zu ihnen herüberdrang und 51
gerade in diesem Augenblick auch noch eine zweite Fackel entzündet wurde, fuhr schließlich wütend von der Ruderbank hoch. »Auf was warten wir, Caligu? Wir sollten diese Hunde ...« Mit einem Satz war Caligu bei ihm, und es scherte ihn einen Dreck, daß das Boot dabei fast umschlug. »Wenn du dein verdammtes Maul nicht hältst, bringe ich dich um!« zischte er den Mann an. »Noch haben diese Hundesöhne uns nicht entdeckt, noch können wir sie jederzeit überraschen und allesamt zur Hölle schicken. Jeder von euch hält jetzt sein Maul, wer auch nur einen einzigen Laut von sich gibt, den mache ich stumm!« Die Männer duckten sich unwillkürlich, sie kannten ihren Anführer und wußten, daß das keine leere Drohung war. »Ihr habt begriffen, gut!« stieß Caligu befriedigt hervor, als sich keiner seiner Männer und keins der Mädchen mehr muckste. »Ich würde diesem Kerl am liebsten auf der Stelle den Hals herumdrehen, aber es wäre dumm von uns, wenn wir unseren Vorteil so einfach verspielen würden. Außerdem ist dieser Seewolf mir langsam unheimlich. Der Teufel mag wissen, wieso er unsere Kameraden auch diesmal wieder übertölpeln konnte, wenn sie sich wirklich so dämlich angestellt haben, dann haben sie dafür auch teuer bezahlt. Helfen können wir ihnen sowieso nicht mehr. Aber ich habe einen Plan, wie wir diesem Seewolf jetzt ans Leder gehen werden, hört also gut zu.« Caligu gab seinen Männern ein Zeichen, sich um ihn zu scharen. Gleichzeitig winkte er die Huren zu sich heran. »Das geht auch euch an. Sperrt eure Ohren auf, ich werde nichts zweimal sagen, denn wir müssen uns beeilen, damit wir dem Seewolf und seiner Satansbrut zuvorkommen und eher auf der Galeone sind als er.« Caligu entwickelte den Frauen und Männern seinen Plan, und sie hörten ihm zu, ohne ihn auch nur ein einziges Mal zu 52
unterbrechen. »Jetzt wißt ihr, warum ich das Floß bauen ließ und die Weiber mitgenommen habe. Und jetzt an die Arbeit, beeilt euch! Und pullt, aber vermeidet jedes überflüssige Geräusch. Die Galeone dieses Bastards liegt da hinten, ich habe mir ihren Ankerplatz genau gemerkt!« * Ben Brighton, dem der Seewolf das Kommando an Bord übertragen hatte, war unruhig. Von Anfang an hatte er bei diesem Unternehmen »auf Stützen gestanden« - woher seine dunklen Vorahnungen auch stammen mochten, ihm schwante Böses. Zwar hatte der Seewolf angeordnet, daß genau wie in der vergangenen Nacht wieder ein Kommando von siebzehn Mann auf den Felsen bei den Schätzen postiert werden sollten, aber Ben Brighton hatte diesen Befehl ignoriert. Denn dann wäre ihm für die ›Isabella‹ lediglich noch eine Ankerwache von zwei Mann geblieben. Schätze hin - Schätze her, das Schiff war für sie sogar lebenswichtiger als alles Gold und alle Juwelen dieser Welt zusammen. Aus diesem Grunde hatte Ben Brighton - sich selber mitgezählt - eine Gruppe von sechs Mann an Bord des Schiffes belassen: Karl von Hutten, Pete Ballie, Luke Morgan, Bob Grey und den Kutscher. Er selbst führte das Kommando. Auf den Felsen hatte er Al Conroy mit der Führung beauftragt. Dort befanden sich die beiden Dänen, Valdez, die beiden Holländer Jeff Bowie, Will Thorne, Sam Roskill und Bück Buchanan sowie vom harten Kern der Crew Blacky, Smoky und Gary Andrews. Es hatte sich längst gezeigt, daß die einstigen Karibik-Piraten absolut zuverlässig und loyal waren. Seit Hasard und die Männer die ›Isabella‹ verlassen hatten, war Ben Brighton auf dem Achterkastell voller Unruhe hin und 53
her gewandert. Zum hundertsten Male machte er sich schwere Vorwürfe, weil er nicht durchgesetzt hatte, daß man zuerst einmal erkundete, ob dieser verfluchte Caligu nicht doch hinter der Insel ankerte. Es war im Grunde genommen unverantwortlich gewesen, einfach so in die Nacht hinein zu segeln, und es widersprach im Grunde genommen auch Hasards sonstiger Umsicht. Karl von Hutten, der sich bei Ben Brighton auf dem Achterkastell befand und dort mit ihm Wache ging, spürte die Unruhe des Bootsmanns. Er wollte gerade eine diesbezügliche Frage an ihn richten, als auch sie das Geschrei, den bis zu ihnen herüberschallenden Kampfeslärm und dann die gewaltige Detonation vernahmen, mit der das Pulverfaß im Piratenboot explodierte. Wie vorher Caligu standen Ben Brighton und Karl von Hutten wie erstarrt, ebenfalls Pete Ballie, der zusammen mit Luke Morgan auf dem Hauptdeck Wache ging, und der Kutscher, der sich mit Bob Grey auf dem Vorderkastell befand. Aber dann kam Leben in die Männer, als sie die lauten Todesschreie und das Gebrüll vernahmen, die dieser Explosion folgten. Irgendwann einmal glaubten sie auch den Ruf »Haie« zu vernehmen. Wie der Blitz stürmten Pete Ballie, Luke Morgan, der Kutscher und Bob Grey zum Achterkastell. Sie lehnten sich schwer atmend neben Ben und von Hutten über die Steuerbordrelin g. »Himmel, was ist passiert? Das war doch das Pulverfaß, das Hasard mitgenommen hatte!« stieß Pete hervor. »Wie kann denn das hochgehen, nachdem dort vorher wahrscheinlich - jedenfalls dem Geschrei nach zu urteilen - ein wüster Kampf von Boot zu Boot stattgefunden haben muß? Und warum sind sich Hasard und die Piraten geradewegs in den Bug gelaufen ...« Ben Brighton bedeutete ihm unwirsch, zu schweigen. Aber 54
außer verschiedenen lauten Rufen, die nur undeutlich zu ihnen herüberdrangen, war nichts zu hören. Dann sahen sie plötzlich den Schein, den die erste Fackel über das Wasser warf, kurze Zeit später wurde eine zweite entzündet. Sie konnten nicht feststellen, von wem, dazu war die Entfernung zu groß. »Scheiße, verfluchte!« stieß Luke Morgan erbittert hervor. »Jean Ribault hat also doch recht gehabt, als er diese verdammte Piratenbrut dort hinter der Insel vermutete.« Wieder gebot Ben Brighton Schweigen. Die Männer neben ihm waren sofort still, und dann hörten sie es auch. Leiser Ruderschlag näherte sich von Backbord, und zwar vom Bug her, der ›Isabella‹. »He, was ist das denn, wer will denn da ...« Pete Ballie verstummte, denn jetzt konnten sie auch schon das leise Rauschen der Bugwelle und das Eintauchen der Riemen unterscheiden. »Holt eure Musketen! Rasch!« flüsterte Ben Brighton. »Die Sache ist mir nicht geheuer! Hasard und seine Männer sind es bestimmt nicht, die hätten sich längst gemeldet. Pete, Luke, ihr geht an die Drehbassen auf dem Vorschiff! Kutscher, Bob, ihr verschanzt euch auf dem Hauptdeck. Von Hutten und ich werden hier eine der Drehbassen zum Feuern vorbereiten. Wenn das dieser Caligu mit seiner Mörderbande ist, dann soll er sein blaues Wunder erleben! Gut, daß wir die Drehbassen allesamt geladen haben!« Pete Ballie und Luke Morgan wollten lossausen, aber dann blieb ihnen plötzlich das Wort im Halse stecken und die Füße schienen wie an den Decksplanken angenagelt. Backbord voraus flammte soeben eine Fackel auf, der sofort eine zweite folgte. Ihr flackernder Schein beleuchtete acht splitternackte Ladies. Pete Ballie hielt vor Schreck die Luft an. Das hatte er in seinem ganzen Leben noch nicht gesehen - acht nackte Ladies, die von vier blöde vor sich hin grinsenden Kerls geradewgs auf 55
die ›Isabella‹ zugerudert wurden. »Das - das ist doch - zum Teufel noch mal, ich ...« stotterte Pete Ballie, während seine Gefährten mit großen Augen auf die unwirkliche Szene starrten. Ben Brighton überwand seine grenzenlose Verblüffung am schnellsten. Er riß von Hutten die Muskete aus der Hand und richtete sie drohend auf das Boot. Blitzschnell schossen alle möglichen Gedanken durch seinen Kopf. »Halt!« schrie er. »Halt, oder ich schieße!« Maria Juanita, Caligus Geliebte, fuhr von ihrer Ducht hoch. Ihr Gesicht verzog sich zu einer höhnischen Grimasse. »Also nun seht euch den bloß an!« schrie sie zu der Galeone hinüber, und dabei troff ihre Stimme nur so von Hohn. »Du mußt ja eine ganz besondere Sorte von Held sein, daß du mit deiner Donnerbüchse auf acht nackte Mädchen schießen willst! Mann, wenn wir gewußt hätten, daß das die gefürchtete Crew von diesem Seewolf ist, vor dem Caligu die Hosen so gestrichen voll hat, dann wären wir wahrhaftig nicht auf den Gedanken verfallen, euch um Schutz vor diesen Bestien zu bitten!« Ben Brighton ließ die Muskete wieder sinken. »Schutz?« fragte er, unsicher geworden. »Wieso Schutz? Und wieso kommt ihr in einem der Boote der Karavelle hierher?« Maria Juanita stand noch immer splitternackt im Boot, und sie hatte sich so postiert, daß die Fackeln ihre Blößen äußerst wirkungsvoll zur Schau stellten. »Schutz - wieso Schutz?« äffte sie Ben Brightons Tonfall nach. »Seht euch diesen Simpel dort drüben an. Er sieht mit eigenen Augen, daß acht Mädchen splitternackt durch die Nacht gerudert werden, und dann fragt er noch, wieso sie Schutz braueben! Aber ich will es dir sagen, Freundchen: Weil Caligu eine wüste Orgie gefeiert hat, bevor ein paar seiner Helden losgeschickt wurden, um euch abzumurksen. Er selbst kommt mit einer Schar über Land, aber er wird wohl noch eine 56
halbe Stunde brauchen, bis er hier sein wird. Er möchte nämlich gern, daß die anderen für ihn die Kastanien aus dem Feuer holen und dann nur noch eure Schätze einkassieren. Uns aber, du Ausbund aller männlichen Weisheit, uns haben diese verdammten Kerle vorher brutal vernascht. Ihr könnt euch ja die Mädchen nachher ansehen, dann werdet ihr schon feststellen, wie dieses Schweinepack uns geknetet hat. Wir haben es satt, gründlich satt. Von mir aus könnt ihr mit uns tun, was ihr wollt, auf ein paar mehr oder weniger kommt es nicht mehr an, aber von diesem Caligu und seiner Bande von Halsabschneidern wollen wir weg.« Sie hielt schwer atmend inne. Der Kutscher räusperte sich. »Wenn - wenn das so ist, dann sollten wir die Mädchen doch wahrhaftig zu uns an Bord lassen, wir ...« »He!« fuhr Maria Juanita dazwischen. »Du scheinst von diesen Heinis da oben der einzige Mann zu sein, der seinen Verstand da hat, wo er hingehört. Laß mich und meine Mädchen endlich an Bord, dann kannst du meinetwegen an mir ausprobieren, ob du auch sonst noch alles hast, was ein Mann so braucht. Und ich verspreche dir, daß du deinen Spaß haben wirst!« In diesem Moment erschollen Stimmen von den Felsen, auf dem sich die Wachmannschaft befand. Al Conroy hatte von einem Felsvorsprung aus mit einigen anderen Männern aus der ›Isabella‹-Crew das seltsame Schauspiel beobachtet, und auch ihm hatte es zunächst die Sprache verschlagen. »Ho, Ben, was ist los bei euch? Habt ihr Besuch?« brüllte er dazwischen. Aber Ben Brighton antwortete nicht. Sein Mißtrauen wuchs von Sekunde zu Sekunde. Wie gelangte das Boot überhaupt an Backbord der ›Isabella‹? Was war mit den Wachen, die der Pirat an Bord bestimmt zurückgelassen hatte? Und diese vier wüsten Kerle, die so blöde vor sich hin grinsten und die nackten Ladies offenbar hierher gepullt hatten, was war 57
mit denen? »Halt - bleibt, wo ihr seid!« brüllte Ben Brighton deshalb und hob seine Muskete wieder an. »Ich habe noch ein paar Fragen an euch!« »Hört nur, ein paar Fragen hat der arme Kleine noch an uns! Dich möchte ich gern mal aus der Nähe sehen! Bist du überhaupt ein Mann, oder bist du ein Schlappschwanz? Also, was willst du wissen? » Die vier Kerle brachen in grölendes Gelächter aus, aber Ben Brighton ließ sich dadurch nicht ablenken. »Wie seid ihr überhaupt von Caligus Schiff geflohen? Wieso haben euch die Wachen nicht daran gehindert? Und wo kommen die vier Kerle her, die euch hergepullt haben?« Maria Juanitas Augen sprühten Blitze. Sie reckte ihre Brüste vor. »Die Wachen - wo die sind? Du bist ja noch dämlicher, als ich dachte. Die Kerls sind tot, bei den Fischen, kapiert? Und diese hier leben nur noch, weil sie uns gerudert haben. Wenn du genau hinsiehst, wirst du merken, daß wir sie an die Duchten gefesselt haben! Also, was ist nun ...« Ben Brighton vernahm hinter sich ein Geräusch. Blitzschnell fuhr er herum, stürzte zur Steuerbordreling hinüber und sah im selben Moment den Mann, der sich mit katzenartiger Gewandtheit über das Steuerbordschanzkleid des Hauptdecks schwang und sofort zwischen den Geschützen verschwand. Ohne auch nur eine Sekunde zu überlegen, feuerte er seine Muskete ab. »Überfall!« gellte seine Stimme. »Alles nach Steuerbord, die Piraten!« Er registrierte aus den Augenwinkeln eine dunkle Gestalt, die auf ihn zuschnellte. Ben Brighton warf sich zur Seite, verlor die Balance und stürzte durch die Wucht seiner Bewegung über die Schmuckbalustrade in die Kuhl hinunter. Das rettete ihm das Leben, denn nur um ein paar Zoll verfehlte ihn das 58
Entermesser, das Caligu ihm in den Rücken stoßen wollte. Innerhalb der nächsten Sekunden enterten die anderen Piraten an Deck. Ben Brighton gelang es, unbemerkt quer über die Kuhl zu flitzen und an Backbord wieder zum Achterkastell aufzuentern, wo er seine Männer wußte. »Hierher, her zu mir!« brüllte er in die Dunkelheit, denn plötzlich waren auch die Fackeln in dem Boot der acht nackten Ladies erloschen und die vier Kerle sorgten dafür, daß sie mit den Mädchen Wasser zwischen sich und die Galeone brachten. Caligu hörte den lauten Schrei Ben Brightons. Er kauerte ebenfalls auf dem Achterkastell, an Steuerbord, das breite Entermesser in der Faust. Seine schwarzen Augen funkelten, aber er rührte sich nicht. Er wollte warten, bis alle seine Männer an Bord der Galeone waren. Vielleicht zehn oder zwanzig Sekunden verstrichen, in denen sich Pete Ballie, der Kutscher, Karl von Hütten, Bob Grey und Luke Morgan fluchend um Ben Brighton scharten. Sie wußten, daß ihre einzige Chance gegen die Übermacht der Piraten darin bestand, zusammenzubleiben. »Diese Hunde, diese hinterfotzigen, dreimal geteerten Drecksaffen!« schimpfte Pete Ballie lauthals vor sich hin, und dabei schwang er drohend sein langes Entermesser. »Kommt doch her, ihr feigen Hunde!« schrie er plötzlich unbeherrscht und voller Zorn. »Kerle, die sich hinter nackten Weibern verstecken müssen, die erledige ich mit meiner linken Hand! Los, wo bleibt ihr denn, hier sind wir, und wir werden es euch besorgen, darauf könnt ihr Gift nehmen!« Caligu erhob sich. Dann trat er langsam aufs Achterkastell. Ein dröhnendes Lachen schüttelte seinen Körper. »He, du Zwerg!« schrie er. »Wenn dein Mut so groß ist wie dein Maul, dann laß mich sehen, was du kannst. Dich schlitze ich auf und werfe dich den Haien zum Fraß vor! Genug mit dem Gequatsche, schickt sie zur Hölle!« Von überall her huschten dunkle Gestalten heran, verharrten, 59
huschten weiter. Sie überquerten die Kuhl, enterten zum Achterkastell auf - und in diesem Moment entlud sich donnernd eine der Drehbassen auf dem Achterkastell. Karl von Hutten hatte sich unbemerkt zu einem der Geschütze hinübergeschlichen, schon vorher hatte er hinter der hohlen Hand die Lunte in Brand gesetzt. Ein vielstimmiger Schrei war die Antwort. Dumpf schlugen ein paar der Piraten vom Achterkastell in die Kuhl hinunter, andere schrien gellend, warfen sich über Bord und verschwanden im hochaufspritzenden Wasser. Caligu raste vor Wut. Mit einem gewaltigen Satz sprang er Ben Brighton an, aber der hatte ihn rechtzeitig bemerkt. Er packte Caligu und stürzte mit dem Piraten an Deck. Ineinander verschlungen wälzten sie sich bis zu einem der Niedergänge. In diesem Augenblick entlud sich donnernd die zweite Drehbasse, diesmal von Luke Morgan abgefeuert. Ihr Eisenhagel schlug vernichtend in eine Gruppe von Piraten, die eben vom Backbordniedergang her auf das Achterkastell stürmten. Ihre Entermesser blitzten im grellen Mündungsfeuer auf, das sekundenlang aufgerissene Augen und verzerrte Gesichter gespenstisch beleuchtete. Auch Ben Brighton und Caligu spürten den glühendheißen Hauch, der über sie wegraste, und hörten die prasselnden Einschläge von gehacktem Eisen und Blei. Noch etwas geschah in diesem Moment - die laute Stimme des Seewolfs dröhnte über die See, gleich darauf unterstützt von dem gewaltigen Organ Carberrys. »Haltet aus - wir sind in ein paar Minuten bei euch! Schießt diese Dreckskerle in Stücke, laßt keinen von ihnen entwischen!« Caligu hörte das - eine Mischung aus Zorn und Angst verliehen ihm übermenschliche Kräfte. Mit einem Ruck sprengte er die Arme Ben Brightons, der ihn umklammert hielt. Ein gewaltiger Hieb traf den Bootsmann, 60
und gleichzeitig fühlte Ben, wie ihn der Pirat von den Planken hochriß und mit den Armen von hinten umklammerte. So benommen Ben Brighton auch war, die Absicht Caligus erkannte er sofort. Der Kerl wollte ihn als Geisel oder Schild benutzen. Ben Brighton kochte vor Wut. Mit aller Gewalt trat er nach hinten aus, gleichzeitig ließ er sich nach vorn fallen. Caligu stieß einen Wutschrei aus, aber er erkannte die Gefahr, in die ihn der Bootsmann brachte, augenblicklich. Denn schon fielen Pete Ballie, der Kutscher und Bob Grey über ihn her, während sich zum drittenmal donnernd eine Drehbasse entlud, diesmal vom Vorderkastell. Gleichzeitig dröhnte Carberrys Stimme über Deck: »Treibt die Halunken zu Paaren - gebt kein Pardon! Drauf, Männer! Die Stunde der Abrechnung ist da!« Caligu stieß einen lauten Fluch aus, denn auch die Stimme des Seewolfs erschallte bereits an Deck der Galeone, und sie war wesentlich näher als die Carberrys. Caligu packte die Verzweiflung. Er wand sich in Pete Ballies mächtigen Fäusten, und es war ein Glück, daß der Rudergänger der ›Isabella‹ sein Messer verloren hatte. Er trat, biß und schlug mit einer Vehemenz um sich, daß Pete und Karl von Hutten für den Moment nichts anderes übrigblieb, als ihn loszulassen. Caligu sprang auf, sah die hochgewachsene Gestalt des Seewolfs auf sich zustürzen und registrierte die anderen Gestalten, die über Deck stürmten und ihre Messer schwangen. Caligu sprang den Seewolf an - aus vollem Lauf. Dabei rammte er ihm seinen Schädel gegen die Brust und katapultierte ihn über die Schmuckbalustrade des Achterkastells in die Kuhl hinunter. Gleich darauf warf er sich mit einem lauten Schrei übei die Reling und verschwand an Steuerbord der Galeone im nachtdunklen Wasser. Ein paar Musketen entluden sich donnernd, aber die Kugeln 61
trafen ihn nicht mehr. Caligu, der Pirat, war abermals entkommen. Als Hasard schließlich wieder zu sich kam, herrschte Stille an Bord. Dan kniete neben ihm und wischte ihm das Blut ab, das ihm über Kopf und Schultern lief. Ben, Carberry und Ferris Tucker, dessen riesige Fäuste noch immer die gewaltige und blutbefleckte Axt umklammerten, starrten ihn an. »Dieser Hundesohn ist uns wieder entwischt«, sagte Ferris Tucker wild, während der Kutscher sich bemühte, die Platzwunde zu reinigen und zu verbinden. »Und ich sage dir, dieser Kerl gibt nicht auf. Mit dem kriegen wir noch Ärger, aber er soll nur aufkreuzen, dieser Bastard. Wenn er mir vor die Axt läuft, dann ...« Der riesige Schiffszimmermann ließ die überlange und überschwere Axt durch die Luft sausen. »Aber täuschen wir uns nicht, diesmal war’s knapp! Dieser Kerl ist ein Fuchs - auf die Idee, ein ganzes Rudel nackter Weiber auf ehrliche Seeleute loszulassen, darauf muß erst mal einer kommen!« Die Männer lachten, während Hasard sich taumelnd und immer noch etwas benommen erhob. Auch er grinste, wurde dann aber schlagartig wieder ernst. »Tote bei uns?« fragte er. »Verletzte?« Ben Brighton schüttelte den Kopf. »Ein paar Schrammen, weiter nichts. Wir haben wieder mal Dusel gehabt. Aber bei den Piraten siehts schlimmer aus, fünf von den Burschen haben Ben und seine Männer erwischt. Zwei davon voll mit der Ladung einer der Drehbassen, von denen ist kaum noch was übrig.« Hasard starrte in die Dunkelheit hinaus. »Morgen früh, mit Sonnenaufgang, übergeben wir die Toten der See. Was ist mit unseren Männern auf den Felsen?« »An die haben sich Caligu und seine Bande von Halsabschneidern nicht mehr herangewagt. Die hätten den 62
Kerlen auch eine Abfuhr erteilt, an die sie noch lange gedacht hätten.« Hasard überlegte. Gleich darauf hatte er seinen Entschluß gefaßt. »Für heute hat Caligu die Nase bestimmt voll, und wenn er noch so tobt, weil wieder alles schiefgelaufen ist. Wir beginnen sofort damit, die Ladung von den Felsen ins Schiff zu bringen. Ruf den Segelmacher an Bord, er soll sich ein paar nehmen und für Fackeln sorgen. Morgen früh segeln wir. Rum für alle, Ben!« Die Männer sahen sich an. Sie waren fertig, total erschöpft. War denn der Seewolf total verrückt geworden? Aber sie sagten nichts. Nur die rauhe Stimme Carberrys scheuchte sie alle auseinander. »Ihr habt gehört, was der Seewolf gesagt hat. An die Arbeit, Männer. Und jedem, der mir zu lahmarschig ist, dem ziehe ich persönlich die Haut in Streifen von seinem Affenarsch, ist das klar?« Unwillkürlich lachten die Männer. Ben Brighton ließ Rum ausgeben, dann ruderten ein paar Seeleute zu den Felsen hinüber, um Al Conroy und die anderen von dem Befehl des Seewolfs zu unterrichten. Auch auf den Felsen wurde mancher Fluch laut, doch dann, nach einer gehörigen Portion Rum, fügten die Männer sich ins Unvermeidliche. Als die Sonne sich im Osten erhob und die See in ihr rotgoldenes Licht tauchte, war der größte Teil der Ladung schon wieder an Bord. Zwei Stunden nach Sonnenaufgang lichtete die ›Isabella V.‹ die Anker, während ein Teil der Mannschaft noch immer unter dem Kommando von Carberry und Ferris Tucker damit beschäftigt war, die Ladung richtig unter Deck zu verstauen und festzulaschen, damit sie auch bei schwerer See nicht verrutschen konnte. Der Wind hatte gedreht. Er blies jetzt aus Ost, und am 63
Horizont ballten sich dunkle Wolken zusammen. Ben Brighton warf einen prüfenden Blick zu den Wolken hinüber, dann einen in die Takelage. »Wenn mich nicht alles täuscht«, verkündete er gleich darauf, »dann schralt der Wind nach Nordost. Gegen Mittag, vielleicht auch etwas später. Wenn er so bleibt, dann viel Spaß uns allen in der Windward-Passage!« Der Seewolf sagte nichts. Aus zusammengekniffenen Augen starrte auch er in die Takelage und auf die Männer an den Brassen. »Kurs Ostsüdost, Ben«, sagte er schließlich. »Wir nehmen Kurs auf Jamaica und versuchen dann in langen Schlägen zur Windward-Passage aufzukreuzen. Das gibt eine verfluchte Schinderei, wenn der Wind wirklich auf Nordost drehen sollte. Sorge dafür, daß die Männer die nächsten Stunden zur Ruhe kommen. Jeder Mann, der nicht unbedingt gebraucht wird, soll schlafen, das ist ein Befehl!« Damit wandte er sich um und verschwand in Richtung Niedergang.
5. An diesem Morgen war Caligu unberechenbar. Er kochte vor Wut. Wieder hatte ihm dieser verfluchte Seewolf eine empfindliche Niederlage beigebracht. Wieder war seine Besatzung nahezu dezimiert worden. Nicht einmal Maria Juanita traute sich ungerufen in seine Nähe. Caligu stand auf dem Achterkastell seiner Karavelle. Seine dunklen Augen schossen Blicke über die See. Instinktiv suchte er nach seinem Wild, nach seinem Gegner, der ihm nun schon länger widerstand als jemals ein anderer zuvor. Caligu war daran gewöhnt, zu siegen. Was man ihm nicht freiwillig gab, das nahm er sich eben mit Gewalt. 64
Nur bei dem Seewolf und seiner Crew klappte das nicht. Im Gegenteil, wenn es so weiterging, dann brauchte er bald eine völlig neue Besatzung. Schon jetzt verfügte er über viel zuwenig Leute an Bord. Das Schlimmste an allem schien Caligu jedoch, daß der Seewolf offenbar niemals Verluste erlitt. Bisher war es ihm nicht gelungen, auch nur einen einzigen Mann dieser verhaßten Bande zu töten. »Seid ihr denn Unsterbliche?« brüllte er in einer plötzlichen Aufwallung von Wut über die See. »Gibt es denn nichts, was euch umbringen kann?« Maria Juanita schlängelte auf ihn zu. Vorsichtig, immer bereit, sofort die Flucht zu ergreifen. Sie kannte diesen Zustand Caligus zu genau, um auch nur das geringste zu riskieren. Er war im Moment zu allem fähig. Wenn es ihm in den Kopf kam, dann würde er sie, ohne mit der Wimper zu zucken, kielholen oder aufhängen lassen. Und es gab keinen in der ganzen Besatzung, der den Mut gehabt hätte, sich einem solchen Befehl Caligus zu widersetzen. Sie wußte das, und sie richtete sich darauf ein. Es hatte eine Zeit gegeben, in der sie sich einbildete, auch Caligu um den Finger wickeln zu können weil er ein Mann war. Sie hatte sehr schnell begriffen, daß das unmöglich, ja, daß allein der Versuch schon lebensgefährlich war, wenn er es nämlich merkte. Sie sah, daß Caligu nach seinem Wutausbruch finster über das Meer starrte, und sie wußte, daß er jetzt überlegte, wie er endlich Rache an dem Seewolf nehmen konnte. Wenn sie, Maria Juanita, ihm dabei half, dann hatte sie gewonnen. Behutsam näherte sie sich dem Piraten. Und wieder bewunderte sie insgeheim seinen herrlich gebauten Körper, die Muskeln, die unter seiner dunklen Haut spielten, die Gefährlichkeit, die von diesem Mann ausging und der in der Liebe wie ein Vulkan sein konnte. Sie spürte die Erregung, die sie beim Anblick seines halbnackten Körpers ergriff. Erstaunt wurde sie sich zum erstenmal der Tatsache bewußt, 65
daß sie Caligu hörig war, daß sie ihm mit Haut und Haar gehörte. Sie, Maria Juanita, die bildhübsche, aber eiskalte Hure, die es allein ihrem Verstand verdankte, wenn sie sich in den Betten der Neuen Welt ein Vermögen zusammenverdient hatte, das sie durch diesen verfluchten Seewolf wieder verlor. Eine Welle des Hasses schlug in ihr hoch. Was wußten denn diese blöden Kerle davon, wie viele Demütigungen sie hatte hinnehmen müssen, mit wie vielen Kerlen, die einfach zum Kotzen waren und in deren Nähe ihr jedesmal speiübel geworden war, sie hatte schlafen müssen! Was wußten diese ganzen Scheißer davon, wie schwer und unter welch unerträglichen Opfern sie Geldstück um Geldstück zusammen gekratzt hatte! Nein, das sollte ihr dieser Seewolf büßen, und sie wußte auch schon, wie. Langsam näherte sie sich dem Piraten. Dicht hinter ihm blieb sie stehen. »Nein, Caligu, ein Unsterblicher ist dieser Seewolf nicht und auch keiner seiner Männer. Ich wüßte schon einen Weg, wie du ihn und seine Bande von Teufeln endgültig vernichten kannst.« Caligu fuhr herum und starrte sie an. »Ich bin heute nicht zu Witzen aufgelegt, nimm dich in acht, Juanita«, sagte er leise. »Ich auch nicht, Caligu. Aber ich habe nachgedacht. Hör mir jetzt mal ein paar Minuten zu, dann kannst du immer noch tun, was du für richtig hältst.« Sie zog den Piraten mit sich fort. Die beiden verließen das Achterkastell, und schließlich fand Caligu sich in seiner Kapitänskammer wieder, ein Glas Rum vor sich, Juanita auf der anderen Seite des schweren Tisches. Er starrte sie an. Dann warf er sich plötzlich quer über den Tisch, packte sie. »Komm!« sagte er heiser, und streifte ihr mit einer einzigen, wilden Bewegung die Bluse von den Schultern. Juanita ließ ihn gewähren, und nicht nur das. Sie heizte ihn 66
noch an, denn sie wußte, eine bessere Gelegenheit würde sich nie wieder finden, um Caligu für ihre Rachepläne zu gewinnen. Und Caligu hörte ihr zu, er saugte förmlich in sich hinein, was sie ihm zwischen ihren Liebkosungen suggerierte. * Auf einem anderen Schiff, einer großen Galeone mit dunklen Segeln, von der weder Caligu noch der Seewolf in diesem Augenblick ahnten, welch folgenschwere Bedeutung das Zusammentreffen mit ihr sowohl für die Karavelle als auch für die ›Isabella‹ haben sollte, wurde zur selben Stunde ebenfalls eine Besprechung abgehalten. Die Besatzung dieser Galeone, an deren Bug weithin sichtbar in großen Lettern der Name ›Thor‹ prangte und die einen blitzeschleudernden Hammer als Galeonsfigur führte, reckte sich Thorfin Njal in selben Moment zu seiner voller Größe auf, in dem Juanita und Caligu im wilden Rausch ihrer Sinne alles andere um sich her vergaßen. Auf seinem Kopf leuchtete in der grellen Sonne, die als weißglühender Ball über der Karibik stand, sein schwerer Kupferhelm. Das Fell, das seine gewaltige Brust bedeckte, klaffte weit auseinander. »Ihr habt so gestimmt«, röhrte er, »wie ich es von euch erwartet habe.« Er blickte auf die breiten, schwertähnlichen Waffen, die die Männer mit den Spitzen zur Sonne stießen, daß die scharfen Schneiden in ihrem Licht blitzen. Dreimal stießen sie die Waffen der Sonne entgegen, dann verharrten sie regungslos. Thorfin Njal, ihr Kapitän, den sie den »Wikinger« nannten, rammte sein Schwert ebenfalls der Sonne entgegen. »Von nun an segeln wir Kurs Nord!« dröhnte seine Stimme über Deck und übertönte mühelos das Singen des Windes in den Pardunen des großen, schweren Schiffes, das in diesem Moment auf einen Beobachter gewirkt hätte, als wäre es aus 67
irgendeiner fernen Vergangenheit wieder aufgetaucht. »Dieses Land taugt nicht für uns, es verweichlicht uns. Wir segeln zurück an die Küsten, an denen wir geboren wurden! Ho Männer, das sei unser Schwur: Wer auch immer unseren Kurs kreuzt, wer auch immer uns daran hindern will, zu unseren Küsten zurückzusegeln - wir kehren nicht um, eher sterben wir!« Die Männer an Deck fielen begeistert ein. Ihre breiten, schwertähnlichen Waffen vollführten einen wilden Tanz unter der heißen Sonne der Karibik. Dann sanken die Klingen herab und verschwanden in den schweren Gehängen an den Hüften der Männer. Gleich darauf eilten sie an die Brassen. Kommandos schallten über Deck. Die schwere Galeone mit den dunklen Segeln und der pechschwarzen Flagge am Großtopp schwang herum. Ihre Bugwelle schäumte, weit krängte sie nach Backbord, als der Wind ihre riesigen Segel füllte und sie mit Kurs auf die Windward-Passage durch das blaugrüne Wasser davonrauschen ließ. * Keiner dieser drei Schiffe kriegte das andere zu Gesicht. Die ›Isabella‹ lief auf Jamaica zu, der Wind, der tatsächlich gegen Mittag auf Ostnordost gedreht hatte, half ihr dabei. Der Seewolf plante, an Cap de Cruz vorbeizulaufen, dann auf Kurs Ost zu gehen und anschließend in die Windward-Passage einzulaufen und dort mit langen Schlägen zwischen Cuba und Haiti nordwärts zu segeln. Daß das eine üble Knüppelei geben würde, darüber waren sich alle Männer an Bord der Galeone einig. Deshalb nutzten sie die ihnen verbleibende Zeit aus und faulenzten oder taten, was ihnen gerade Spaß bereitete. So auch Ferris Tucker, der die Gelegenheit wahrnahm, um ein längst gegebenes Versprechen einzulösen. Zusammen mit Matt Davies und Jeff Bowie hockte er auf der 68
Back, wo der Fahrtwind noch die meiste Kühlung in der herrschenden Hitze gab. Mit großer Hingabe schnitzte der Schiffszimmermann an einer hölzernen Prothese, die er immer wieder an dem Armstumpf eines Mannes anpaßte, der neben ihm und Matt Davies auf den Planken des Vorderkastells hockte. Der Mann war Jeff Bowie, der auf dem Wege zum Golf von Darien bei der Flußfahrt durch Piranhas seine linke Hand verloren hatte. Er trug diesen Verlust wie ein Mann, aber zugleich hatte ihm Ferris Tucker das Versprechen gegeben, ihm eine Prothese zu basteln, wie Matt Davies schon lange eine hatte. Außerdem hatte Matt Davies sich vorgenommen, Jeff Bowie beizubringen, was für eine fürchterliche Waffe so ein stählerner Haken sein konnte, wenn man sich nur auf den Umgang mit ihm verstand. Ferris Tucker paßte die Prothese gerade wieder an. Über seine Züge huschte ein zufriedenes Grinsen. »Mein Junge, das wird ein Meisterwerk. Nein, das ist beileibe kein Eigenlob. Es gibt Sachen, die gelingen mir so gerade eben, und es gibt welche, die gelingen auf Anhieb hervorragend. Deine Prothese ist so ein Fall! Paß auf, jetzt passen wir erst noch den Haken ein, und anschließend wird sich Will Thorne um die Ledermanschette kümmern, damit die ganze Sache auch den richtigen Halt am Arm kriegt. Matt, her mit dir, ich will etwas probieren, denn mir ist da noch etwas eingefallen.« Matt Davies erhob sich und blickte den Schiffszimmermann fragend an. »Paß auf, ich weiß, du achtest zwar immer darauf, daß deine Ledermanschette fest geschnürt ist, aber dennoch halte ich das für eine unsichere Sache. Hake dich einmal da in die Nagelbank - und dann paß auf!« Matt Davies schüttelte den Kopf. Er wußte noch immer nicht, auf was der Schiffszimmermann hinaus wollte. Also tat er, wie 69
Ferris Tucker es von ihm verlangte und hakte sich in eines der Löcher ein, in die sonst die Belegnägel gesteckt wurden. »Also, Ferris, was ist denn nun? Ich habe wahrhaftig keine Lust, hier wie ein Affe am Spieß zu hängen.« Andere Männer aus der Crew waren ebenfalls aufmerksam geworden. Sie witterten sofort einen Spaß und schlenderten heran. »He, Matt, sollen wir den guten alten Affenarsch rufen, damit er dir mit der Zwölfschwänzigen ein paar verpaßt, oder warum streckst du deinen Hintern so in die Luft? Die nackten Ladies sind nicht mehr da, und dabei bist du sowieso zu spät aufgekreuzt!« frotzelte Blacky ihn. Matt wollte aufspringen, aber in diesem Moment packte der Schiffszimmermann zu. Er griff sich die beiden Beine von Matt Davies und riß sie gleichzeitig hoch und nach hinten. Matt brüllte auf. Dann polterte er an Deck, wollte wutentbrannt aufspringen, starrte statt dessen aber seinen nackten Stumpf am Unterarm und anschließend seine Hakenprothese an, die samt Ledermanschette in der Nagelbank hing. Die Männer schwiegen überrascht. Nur der Schimpanse Arwenack, den die Neugier ebenfalls in den Kreis der Männer getrieben hatte, keckerte erschrocken los und verschwand mit einem Riesensatz in den Backbordwanten. Erst aus sicherer Entfernung verfolgte er die weiteren Geschehnisse wieder interessiert. Ferris klopfte Matt, der wütend aufgesprungen war, beruhigend auf die Schulter. »Ich wollte dich auch vorher nicht warnen, denn das sollte völlig unvorbereitet passieren. Aber ich hatte recht, jeder kräftige Gegner könnte dir deine Prothese im Kampf einfach abreißen. Was dann mit dir passiert, kannst du dir ja sicher vorstellen.« Matt starrte den Schiffszimmermann verblüfft an. Dann irrte sein Blick wieder zu der Hakenprothese hinüber, die immer 70
noch in der Nagelbank hing. »He, Ferris, ich ...« Er überlegte krampfhaft, obwohl er sonst alles andere als begriffsstutzig war. »Ferris, klar, sie hängt da, das sehe ich. Aber, verdammt noch mal, wie viele Kämpfe habe ich mit ihr schon durchgestanden, und nie ist mir das passiert. Verflucht, wie erklärst du mir das?« Er starrte den Schiffszimmermann fragend an. »Zwei Möglichkeiten, Matt«, erwiderte Tucker. »Entweder hast du nur Glück gehabt, oder aber deine Gegner hatten vor deinem Haken eine solche Angst, daß sie es gar nicht erst versucht haben.« Matt Davies wurde plötzlich blaß. »Ferris«, sagte er leise, »weißt du eigentlich, wie oft ich in der Takelage an diesem Haken da gehangen habe, immer im Vertrauen darauf, daß er halten würde und daß mir dabei nichts passieren könne?« Der Schiff szimmermann nickte. »Ich habe das oft gesehen, Matt. Und einmal, als deine Manschette bei einer solchen Gelegenheit verrutscht war, habe ich angefangen, über dieses Problem nachzudenken. Ich glaube auch, ich habe jetzt die Lösung. Komm her, ich lege dir die Prothese jetzt wieder an, und dann zeige ich dir und vor allem auch Jeff, was ich ändern will.« Er brauchte nur ein paar Minuten, dann saß der Haken wieder fest an Matt Davies Unterarm. »So, und nun paß auf, vor allem du, Will«, sagte er zu dem Segelmacher, der sich natürlich auch in dem Kreis der Zuschauer befand, denn ihn ging das alles schließlich ganz besonders etwas an. »Wir müssen die Ledermanschette von der Prothese so befestigen, daß jedes Abrutschen unmöglich ist. Dazu brauchen wir zuallererst eine Manschette, die sich wie ein Strumpf über Ober- und Unterarm ziehen beziehungsweise verschnüren läßt. Außerdem aber wird sie - und das ist das Wichtigste an der ganzen Sache - mit entsprechend 71
gearbeiteten Riemen an der Schulter verzurrt. Wenn dieser Riemen sitzt, dann muß Matt oder Jeff schon die ganze Schulter abgerissen werden, und das schafft niemand!« Ein Raunen ging durch den Kreis. Matt strahlte. »Mensch, Ferris, Köpfchen müßte man eben haben, das hat meine Mutter auch schon immer behauptet. Los, fang endlich an, uns diese neuen Manschetten zu nähen«, fuhr er zum Segelmacher gewandt fort. »Ich glaube, ich würde mich ab heute in dieser alten Manschette nie mehr richtig sicher fühlen!« Er trat an Jeff Bowie heran. »Wenn deine Manschette und dein Haken fertig sind, dann bringe ich dir bei, wie du damit umgehen mußt. Das ist nicht sehr schwer, du mußt nur genug üben. Was glaubst du wohl, was wir beide für ein Gespann abgeben, wenn wir Schulter an Schulter oder Rücken an Rücken kämpfen? Mann, du wirst diesen Piranhas noch mal dankbar sein, daß sie gerade Appetit auf deine Linke hatten!« Er zog Jeff mit sich aufs Hauptdeck hinunter. »Mal sehen«, sagte er, »ob der Kutscher uns beiden auf diesen Schreck einen Schluck Rum spendiert. Und dann an die Arbeit. Wie ich Ferris und Will Thorne kenne, werden sie nicht lange fackeln, sondern uns unsere neuen Prothesen bauen.« Matt Davies behielt recht. Ferris Tucker und Will Thorne arbeiteten unermüdlich. Als es schließlich dunkel wurde, ließen sie sich einige der Öllampen bringen, in deren Licht der Segelmacher, unterstützt von dem Schiffszimmermann, weiternähten, Stich um Stich mit geteertem Garn, das bis zum Jüngsten Tag nicht mehr reißen würde. Kurz vor Mitternacht war es dann soweit, die beiden Prothesen waren fertig. Stolz legten Matt und Jeff Bowie sie an. Ferris Tucker und der Segelmacher besahen sich ihr Werk, nahmen noch einige kleine Korrekturen vor, aber schließlich 72
waren sie zufrieden. »So, die reißt euch keiner mehr ab«, stellte der Schiffszimmermann fest. »Aber jetzt beginnt deine Aufgabe, Matt. Du bringst Jeff so schnell wie möglich bei, wie man mit so einem Haken umgeht. Ich habe mit dem Seewolf gesprochen, ihr seid von der Bordarbeit befreit, die übernehmen wir anderen mit. Jeffs Leben kann davon abhängen, daß er alles von dir lernt. Fangt morgen früh gleich an, klar?« Matt Davies nickte. Und wieder einmal dachte er im stillen: Wenn das nicht der beste Haufen ist, der je auf einem Schiff durch die Meere segelte, dann lasse ich mich kielholen, ohne einen Muckser von mir zu geben. * Als sich die Sonne am nächsten Morgen erhob, färbten sich die Wolken am Horizont blutrot. Der Wind blies nunmehr als Ostnordost, genau wie Ben Brighton es vorausgesagt hatte. Die ›Isabella‹ stand um diese Zeit querab von Cap de Cruz, es war Zeit für den Seewolf, mit der Knüppelei durch die WindwardPassage zu beginnen. Er kannte die ›Isabella V.‹ mittlerweile gut genug, um zu wissen, daß sie alles andere als ein guter AmWind-Läufer war. Das lag in ihrer ganzen Bauart begründet, so viele andere Vorzüge sie auch sonst hatte. Zwar war die Windward-Passage breit genug, um auch einem großen Schiff genügend Raum zum Manövrieren zu bieten - ihre größte Breite zwischen Cuba und Haiti betrug rund zweihundert Meilen, die engste maß rund fünfzig Meilen -, aber damit war es nicht getan. Hasard wußte von Jean Ribault, daß es in der Windward-Passage tückische Strömungen gab, die einem Segler wie der ›Isabella‹ und besonders der Mannschaft eines solchen Schiffes das Leben zur Hölle machen konnten. Der Wind aus Ostnordost würde die ›Isabella‹ zu langen 73
Kreuzschlägen zwingen, die gerade dort, wo die Strömung vom Atlantik stärker und stärker werden würde, immer kürzer ausfallen mußten, weil nicht mehr Raum zur Verfügung stand. Abermals warf Hasard einen Blick zu den Segeln hoch. Dabei stieß er eine deftige Verwünschung aus. Es war wie verhext, schlechtere Windverhältnisse hätten sie, abgesehen von einem Sturm aus derselben Richtung, gar nicht erwischen können. Hasard blickte zum Hauptdeck hinunter. Zwar lagen die Männer noch an Deck, die meisten von ihnen hatten sich in den Schatten der Segel oder der Schanzkleider und Geschütze verkrochen. Aber dennoch spürte der Seewolf die Unruhe, die die Männer ergriffen hatte. Einige von ihnen, unter ihnen Dan, hingen in den Wanten und äugten neugierig zum Horizont, wo sich - eben noch erkennbar - die Berge Cubas abzeichneten. Ursprünglich hatte der Seewolf vorgehabt, einen größeren Bogen nach Südwesten in Richtung Jamaica zu schlagen, aber als der Wind dann weiter und weiter nach Ostnordost drehte, hatte er diesen Plan wieder aufgegeben, um nicht noch mehr Kreuzschläge durch die Windward-Passage segeln zu müssen. Hasard gab Ben Brighton einen Wink. »Ben, es ist soweit«, sagte er nur. »Die Schinderei beginnt. Wir brauchen jetzt jede verfügbare Hand, ausgenommen Matt und Jeff Bowie. Die beiden sollen miteinander trainieren, solange wir uns das leisten können. Also los!« »Alle Mann an Deck, ho, Männer, das faule Leben ist zu Ende!« Ben Brightons Stimme scheuchte die Männer hoch. »Ferris, du übernimmst den Großtopp, Carberry, du den Vortopp. Smoky die Steuerbordbrassen, Blacky die an Backbord. Jean Ribault, Dan O’Flynn, Großmars und Vormars besetzen. Jan Ranse zur Verstärkung von Pete an den Kolderstock, Al Conroy und vier Mann Geschütze überprüfen, von Hutten mit zwei Mann die Drehbassen. Irgendwo vor uns segelt Caligu, er kann hier andere befreundete Piraten haben. 74
Sorgt dafür, daß unsere ›Isabella‹ ständig gefechtsklar ist.« Ben Brighton sah sich suchend um. Er vermißte Will Thorne, den Segelmacher. »He, Ferris, du warst doch die ganze Nacht mit Will zusammen. Weißt du, wohin er sich verkrochen hat?« rief er zum Hauptdeck hinunter, wo Ferris Tucker eben seine Leute an die Brassen verteilte. Der Hüne wandte sich um. Dann lachte er röhrend. »Wo Will sich verkrochen hat, fragst du? Verkrochen ist gut, aber es stimmt. Er sitzt seit dem Morgengrauen in der Pulverkammer und näht neue Kartuschen. Er wollte das eigentlich gestern schon tun, aber dann war da die Sache mit den Prothesen für Matt und Jeff. Jedenfalls meinte er, wir würden die Kartuschen noch brauchen, und damit kann er sogar verdammt recht haben. Wenn ich hier unten irgendwann einen Mann übrig habe, dann werde ich Will einen schicken. Carberry auch.« Ben Brighton nickte. Will Thorne war ein Mann, auf den sie sich alle hundertprozentig verlassen konnten, ganz gleich, in welcher Situation. Er dachte grundsätzlich voraus, ob es nun die Mannschaft oder das ganze Schiff betraf oder auch beide. »Ferris, Valdez soll sofort zu ihm gehen. Valdez ist geschickt mit der Nadel, er hat Will schon oft geholfen. Sollte ein AlleMann-Manöver fällig werden, holen wir die beiden sowieso. Aber die Sache mit den Segeltuchkartuschen ist wichtig!« »Geht in Ordnung, Ben. Valdez ist bei Carberry am Vortopp, ich sage ihm Bescheid.« Gleich darauf erschallten an Deck laute Kommandos, anschließend gab der Seewolf den Befehl, anzuluven. Die ›Isabella‹ schwang langsam herum. Sie lag jetzt noch höher am Wind als vorher, und Hasard ließ die Segel keinen Augenblick aus den Augen. Die ›Isabella‹ segelte bei beträchtlicher Krängung über Backbordbug, ihre, Masten und Rahen trugen jeden Fetzen Leinwand, der sich unterbringen 75
ließ. Cap de Cruz sackte achteraus. Langsam glitt die Galeone in das tiefe, blauschwarze Wasser der Windward-Passage. Von Jean Ribault wußte der Seewolf, daß noch kein Lot in diesem Seegebiet jemals den Meeresboden erreicht hatte. Und spätere Generationen sollten mit verfeinerten Methoden herausfinden, daß Wassertiefen zwischen dreitausend und fünftausend Yards in der Windward-Passage durchaus keine Seltenheit darstellten. Immer wieder ließ Hasard das Log auswerfen - einen länglichen Schwimmkörper aus Holz, den man am dahinsegelnden Schiff vorbeitreiben läßt und daraus dann, aus der Anzahl der Sekunden, die er benötigt, die Geschwindigkeit bestimmt, mit der sich das Schiff fortbewegt. Trotzdem wußte Hasard, daß die Werte, die auf diese Weise ermittelt wurden, im Grunde genommen nicht viel über die wahre Geschwindigkeit der ›Isabella‹ aussagten, über die Geschwindigkeit nämlich, die sie tatsächlich über Grund entwickelte. Zwar kannte er die Stärke der Meeresströmung in diesem Seegebiet nicht, aber daß sie nicht unerheblich war, merkte er allein schon daran, daß die ›Isabella‹ stark nach Süd driftete. Er ahnte in diesem Moment noch nicht, um wieviel stärker ihm diese Strömung noch zusetzen sollte, je weiter er sich der engsten Stelle der Passage näherte - jenem Teil, durch den das Wasser vom Atlantik in die Karibik drängte. Schon nach den ersten Stunden der Knüppelei wurde den Männern an Bord klar, welch eine gottverdammte Schinderei ihnen allen bevorstand. Es gab keine Ruhe, alle Augenblicke waren Korrekturen fällig, mit ihnen verbunden oft genug auch die Veränderung der Stellung der Segel, um das schwere Schiff so hoch am Wind zu halten, wie nur irgend möglich. So verging der erste Tag - und von Caligu, dem Piraten, weit und breit keine Spur. Hasard schonte seine Männer, so weit das irgend möglich war, weil er wußte, daß ihnen unter 76
Umständen, wenn sie nicht günstigeren Wind kriegten, eine wochenlange Knüppelei dieses Kalibers bevorstand. Immer wieder ertönten die Kommandos: »An die Brassen, Männer, luvt an!« Oder, am Ende eines langen Schlages: »Klar zum Wenden! O ihr verdammten Lahmärsche, wollte ihr euch nicht ein bißchen schneller bewegen, oder soll ich euch die Haut in Streifen von euren Affenärschen ziehen?« Oder aber, wenn es sich um das Ende eines langen Schlages nach Osten handelte: »Alle Mann klar bei Wende. Los, los, bewegt euch, oder wollt ihr, daß euch die ›Isabella‹ unterm Hintern kentert?« Außerdem gab es in der Takelage ständig etwas zu tun, an den Nagelbänken mußte dauernd das laufende Gut klariert werden. Und lief das Schiff wirklich einmal gut im Ruder, dann ließ entweder plötzlich der Wind nach, oder er blies aus einer anderen Richtung. Und dann, wenn sie alle wie die Enkel und Urenkel des Leibhaftigen an die Brassen oder in die Takelage getobt waren, dann blies er wieder aus Ostnordost, so als sei das überhaupt nie anders gewesen. Jedem Morgen, der sich ihren entzündeten, übermüdeten Augen bot, blickten sie hoffnungsvoll entgegen. Und immer wurden sie enttäuscht. Ostnordost - nichts anderes. Ein wenig Schralen des Windes hin und wieder, mehr nicht. So verging die erste Woche, und an ihrem Ende herrschte unter der Crew der ›Isabella‹ eine Stimmung, die so explosiv war wie ein Pulverfaß, an dem bereits die Lunte montiert ist. Hasard beobachtete das voller Sorge. Er wußte, daß es nur noch eine Frage der Zeit sein konnte, bis jener zündende Funke übersprang. Als der Seewolf gegen Ende der zweiten Woche nach einer Wende, die obendrein keineswegs geklappt hatte, über das Schiff ging, spürte er den dumpfen Druck, der die Crew umgab. Sogar Carberry und Ferris Tucker, die ebenso wie Ben Brighton zur Schiffsführung gehörten, aber im Gegensatz zu ihm ständig mitten in der Crew lebten, zogen bedenkliche 77
Gesichter. Smoky, der Decksälteste der ›Isabella‹, hob auf seine Frage hin lediglich die breiten Schultern. »Du weißt ja, wie das ist, Hasard. Gewitterschwüle tut niemandem gut. Erst wenn es donnert und blitzt, erst wenn der Sturm die Wolken aufreißt und vertreibt, kann man wieder richtig atmen. Wenn du meine Meinung wissen willst, hier blitzt und donnert es bald. Und Kap Horn war bestimmt ein Kinderspiel dagegen.« Damit wandte sich Smoky ab und verschwand in den Wanten, wo er einen der Blöcke wieder gangbar machen wollte. Hasard beendete seine Runde durch das Schiff und winkte auf dem Achterkastell Ben Brighton zu sich heran. »Hör zu, Ben. Ich will nicht, daß sich unsere Männer eines Tages gegenseitig die Schädel einschlagen. Das hilft ihnen nicht und der ›Isabella‹ auch nicht. Was können wir tun, um eine Massenschlägerei an Bord zu verhindern? Denn wenn nur ein einziger damit anfängt, dann hängen innerhalb von Sekunden alle drin!« Ben Brighton nickte. Aber eine Antwort wußte er im Moment auch nicht. Man konnte nichts tun, denn jedes unbedachte Wort, jede Maßnahme, die die Männer irgendwie noch stärker verärgerte, konnte jener Funke sein. Und dennoch passierte es dann, aber ganz anders, als der Seewolf oder Ben Brighton es erwartet hatten. Zu Beginn der dritten Woche, kurz nach Sonnenaufgang, klarierte Luke Morgan die Blinde, bei der ein Block klemmte. Luke war total übermüdet, denn sie hatten eine wahrhaft höllische Nacht hinter sich, in der sie alle Augenblicke an Deck geturnt und an die Brassen gestürzt waren. Luke rutschte auf dem Bugspriet empor, ohne sich mit einer Leine zu sichern, wie Carberry es grundsätzlich für Arbeiten dieser Art angeordnet hatte. Die Blinde war sein Revier, weil sie samt Geschirr zum Vortopp gehörte. 78
Luke Morgan hatte die Blinde schon fast erreicht, als Carberry auf das Vorkasstell stürmte. Mit einem Blick erfaßte er, in welcher Gefahr der völlig übermüdete und außerdem sowieso etwas zum Leichtsinn neigende Luke Morgan sich befand. »He, du verdammter Idiot!« brüllte er. »Du dreimal geteerter Decksaffe weißt genau, daß ich befohlen habe, nicht ungesichert an der Blinde herumzuarbeiten. Runter mit dir, oder, so wahr ich Ed Carberry heiße, ich lasse dich kielholen!« Carberry war in diesem Moment so wütend, daß er nicht einmal daran dachte, seinen geliebten Spruch vom Affenarsch aufzusagen, von dem er die Haut persönlich in Streifen abziehen würde. Luke Morgan fuhr herum. Nach Blacky war er der wohl hitzigste und jähzornigste Mann an Bord der ›Isabella‹. Er reagierte völlig anders, als Carberry sich das jemals hätte träumen lassen. Total fertig, völlig mit den Nerven runter durch die ständige Schinderei, körperlich ebenfalls am Rande seiner Leistungsfähigkeit, griff er nach seinem Belegnagel, den er in eins der Taue eingedreht hatte und riß ihn mit einem Ruck heraus. »Was willst du dämlicher Hund? Einen geteerten Decksaffen hast du mich genannt? Dir werde ich erst mal dein großes Maul stopfen, du stinkender Affenarsch!« Luke Morgan fuhr aus seiner hockenden Stellung empor, gleichzeitig warf er den schweren Belegnagel nach Carberry. Der, darauf absolut nicht gefaßt, begriff das Ungeheuerliche erst viel zu spat. Er wollte sich ducken, schaffte es aber nicht mehr. Der Belegnagel traf ihn voll gegen die Brust. Mit einem irren Schrei, in dem Wut und Überraschung sich mischten, flog er quer über das Vorderkastell und stürzte schließlich der Länge nach an Deck. Dabei sprang der Belegnagel hoch und drosch ihm aufs linke Auge, was von Carberry durch einen weiteren Schrei quittiert wurde. Er sah in 79
diesem Moment buchstäblich rot, aber er kriegte auf diese Weise nicht mehr mit, welches Drama sich inzwischen auf dem Vorderkastell, unmittelbar vor der gischtenden Bugwelle der ›Isabella V.‹, abspielte. Luke Morgan verlor die Balance, verzweifelt fuhren seine Hände hoch und griffen nach dem Tau, das zur Blinde führte, verfehlten es aber. Luke Morgan stürzte. Er sah den gewaltigen Bug der ›Isabella‹ auf sich zurasen, sah die Bugwelle, die das unter vollen Segeln laufende Schiff vor sich herschob und fühlte, wie er ins Wasser schoß, der Rumpf sich über ihn erhob und ihn augenblicklich unter sich begrub. Er hörte nicht mehr den Schrei, den Smoky, der das Ganze nur noch am Rande mitgekriegt hatte, den Schluß des Dramas jedoch mitangesehen hatte, ohne jedoch Luke Morgan helfen zu können, ausgestoßen hatte. »Mann über Bord!« gellte sein Schrei über das Schiff. Gleichzeitig raste er nach achtern, während schon die ersten Männer an die Brassen stürzten. Auch der Seewolf hatte den Schrei gehört. Ohne eine Sekunde zu verlieren, gab er Pete Ballie am Kolderstock die notwendigen Anweisungen, und die ›Isabella‹ drehte in den Wind. Über ihm knatterten die Segel, dann schlugen sie back und bremsten die Galeone ab. Hasard stürzte an die Achterreling, als er von Smoky erfahren hatte, was geschehen war. Irgendwo dort mußte Luke wieder auftauchen - wenn überhaupt. Auch Carberry war wieder auf den Beinen. Sein eines Auge war zu, Blut lief über sein Gesicht, aber zusammen mit Ferris Tucker schnappte er sich ein paar Männer und fierte in Rekordzeit ein Boot zu Wasser. Er, der Schiffszimmermann und noch drei Männer sprangen ins Boot, gleich darauf stießen sie von der ›Isabella‹, die immer noch langsame Fahrt voraus lief, ab. 80
»Los, los, wir müssen Luke finden! Vielleicht ist er bewußtlos, wir müssen ihn erwischen, wenn er wieder auftaucht!« Die Männer pullten wie die Berserker. Sie schossen an der Galeone vorbei und befanden sich gleich darauf in ihrem Kielwasser. Ein lauter Ruf des Seewolfs ließ sie herumfahren. Sie sahen nur noch, wie er vom Achterkastell ins Wasser hechtete, gefolgt von Dan O’Flynn. Dann waren die beiden auch schon verschwunden. »Er muß Luke entdeckt haben. Er hat von da oben die bessere Übersicht. Haltet euch bereit, damit wir sofort zur Stelle sind, wenn sie mit ihm auftauchen!« Es dauerte nicht lange, und doch schien es für die Männer im Boot wie eine Ewigkeit zu sein. Sie alle kannten Luke Morgans jähzorniges Temperament, aber sie mochten ihn, denn er war ein pfiffiger, zumeist gutgelaunter Bursche, der es verstand, die Crew oft zum Lachen zu bringen. Und als Kämpfer erfreute Luke Morgan sich ebenfalls allgemeiner Achtung. Wo seine Fäuste hinschlugen, da hinterließen sie Spuren, und was für welche! Als erster tauchte Dan prustend auf. Kurz nach ihm Hasard. Zwischen sich hielten sie Luke Morgan, dessen Kleidung zerfetzt und dessen Körper voller Blut war. Ohne ein überflüssiges Wort packten sie zu, hoben ihn ins Boot und hievten dann auch den Seewolf und Dan hinein. Unwillkürlich dachten sie an die Haie, die bestimmt irgendwo in der Tiefe lauerten. Aber diesmal zeigte sich keiner. Sie pullten auf die ›Isabella‹ zu, und dort brach die Crew in Jubel aus, als sie Luke Morgan im Boot entdeckte. Erst viel später, als Luke wieder bei sich war und der Kutscher alle die kleinen und großen Schnittwunden verarztet hatte, die die scharfkantigen Muscheln an der Rumpfunterseite ihm gerissen hatten, als die Galeone über ihn wegsegelte, trat 81
Carberry zu ihm. Sein linkes Auge war fast zugeschwollen, seine rechte Brustseite blau angelaufen. Er bewegte sich ganz entgegen seiner sonstigen Gewohnheit ziemlich vorsichtig. Eine Weile starrte er den über und über verpflasterten Luke Morgan an. Dann holte er eine Buddel Rum aus der Hosentasche und reichte sie ihm. Anschließend nahm er selbst einen gewaltigen Schluck. »Also, Luke«, sagte er nach einer Weile, und dabei überzog ein freundschaftliches Grinsen sein zernarbtes Gesicht, »ich hatte dir zwar angedroht, dich kielholen zu lassen, aber so wörtlich solltest du das nun auch wieder nicht nehmen! Da ist die Sache mit dem Affenarsch doch wohl wesentlich angenehmer, was, wie?« Carberry brach in ein dröhnendes Gelächter aus, das erst ein weiterer Schluck aus der Rumbuddel erstickte. Luke Morgan grinste ebenfalls. »Darauf kannst du einen Furz lassen, Ed«, sagte er nur, nachdem er die Flasche wieder abgesetzt hatte. »Und in Zukunft werde ich auch ganz artig die Leine nehmen, zufrieden?« Carberry hieb ihm grunzend die Pranke auf die Schulter, dann kehrte er zum Vorderkastell zurück. Der Vorfall schien die Stimmung an Bord bereinigt zu haben. Die Männer hatten wieder durchweg fröhliche Gesichter und rissen ihre derben Witze. Insgeheim atmeten der Seewolf und Ben Brighton auf, aber sie taten es zu früh. Denn gegen Ende der dritten Woche, eines Nachmittags, als sie sich der engsten Stelle der Windward-Passage näherten, haute die ›Isabella‹ Crew das, was sie sah, fast um. Und das war bei diesen Mannern bestimmt nicht so einfach.
6. Noch am Abend zuvor, nach einem langen Schlag nach 82
Osten, war Jean Ribault, der Franzose, die Stufen zum Achterkastell emporgeturnt. Der Seewolf hatte ihn nur angesehen und gewußt, daß Ribault ihm etwas Wichtiges zu sagen hatte. »Du weißt«, hatte der Franzose begonnen, »daß ich dieses Seegebiet hier recht gut kenne. Wenn der Wind anhält, dann werden wir uns morgen nachmittag der engsten Stelle der Windward-Passage nähern und am kommenden Morgen bereits durch den Atlantik segeln. Trotzdem möchte ich dir einen Rat geben: Segle nicht zu dicht an Haiti heran. Dort liegt Tortuga, der Schlupfwinkel, in dem sich die meisten Piraten der Karibik aufhalten. Es könnte gut sein, daß Caligu dort ist und versucht, sie gegen uns aufzuhetzen. Wir haben ein starkes Schiff, aber viele Hunde sind nun mal des Hasen Tod. Wenn du auf mich hörst, dann nimmst du Kurs auf die Südspitze von Cuba und von dort aus direkt auf die Bahamas. Ich glaube, das wäre die beste Möglichkeit, aus dieser Mausefalle endgültig zu entwischen.« Hasard und Ben Brighton schossen diese Worte des Franzosen durch den Kopf, als sie jetzt ziemlich fassungslos auf die kleine Armada starrten, die sie dort an der Südspitze Cubas erwartete und auch sofort damit begannen, der ›Isabella‹ den Weg ins offene Wasser, in den Atlantik, zu verlegen. Der Seewolf brauchte dieses Mal eine ganze Weile, bis er die grausame Konsequenz dessen, was sich vor seinen Augen abspielte, vollständig begriffen hatte. Er zog sein Spektiv aus der Tasche und enterte wie der Blitz in den Großmars auf, in dem Dan schon seit Stunden hockte. »Eine ganz verdammte Sauerei ist das«, sagte Dan O’Flynn in die Stille hinein. »Das hat uns dieser Dreckskerl, dieser Caligu eingebrockt! Der hat wahrscheinlich das ganze Piratengesindel mobilisiert, das sich in dieser Ecke der Karibik herumdrückt. Ich könnte diesem Kerl den Hals umdrehen!« Hasard antwortete nicht. Er hielt das Spektiv vors linke Auge 83
und begann systematisch Schiff für Schiff einer genauen Musterung zu unterziehen. Er zählte drei Karavellen, in einer von ihnen erkannte er auf Anhieb seine alte ›Isabella IV.‹, das Schiff Caligus. Die Karavellen wurden von etlichen Schaluppen verstärkt, und Hasard hütete sich, die Gefährlichkeit dieser kleinen, schnellen Segler zu unterschätzen. Wie hatte Jean Ribault gesagt? Viele Hunde sind schließlich des Hasen Tod ... Aber dann erschrak er wirklich. Denn hinter den drei Karavellen schoben sich jetzt auch zwei schwere und ganz bestimmt entsprechend bestückte Galeonen in das Gesichtsfeld seines Spektivs. Rank gebaute Schiffe, die bestimmt schneller waren als seine ›Isabella V.‹, das erkannte sein Seemannsauge auf den ersten Blick. Hasard stieß einen ellenlangen Fluch aus. Dann gab er Dan sein Spektiv. »Paß auf die Schiffe auf, Dan. Ich will über jede ihrer Bewegungen informiert werden!« Er warf abermals einen Blick zu der Armada hinüber, die Caligu mobilisiert hatte, um ihm endlich die Beute abzujagen. »Da, Dan, die Schweinerei geht schon los!« Ein paar Schaluppen und zwei der Karavellen lösten sich aus dem Verband und nahmen Kurs auf die ›Isabella‹. »Die werden uns von nun an nicht mehr aus der Zange lassen, und wir haben uns drei Wochen lang völlig umsonst geschunden. Wir müssen umdrehen, wir schaffen es niemals, in den Atlantik durchzubrechen. Dieser verfluchte Pirat ist ein schlauer Patron, er weiß genau, wie das Umkehren unsere Crew demoralisieren wird. Er weiß auch, welche Schinderei die letzten drei Wochen der Ostnordost für die Crew und für die ›Isabella‹ bedeutet hat. Himmelarsch, das hat mir gerade noch gefehlt, so dicht vor dem Ziel, nach all dieser dreimal verfluchten Knüppelei. Alles für die Katz!« 84
Hasards Augen funkelten vor Zorn, er hieb die Rechte auf den Rand der Marsverkleidung und umklammerte die Brüstung, bis seine Knöchel weiß unter der tief braunen Haut hervortraten. Auch Dan starrte fassungslos zu den Schiffen hinüber. »Umkehren?« fragte er schließlich leise und sah den Seewolf an. »Das kann doch nicht dein Ernst sein. Das kannst du der Crew nicht antun, nicht einmal du! Du verlierst dabei glatt dein Gesicht ...« Der Seewolf fuhr herum. »Wir können nichts anderes tun, Dan. Absolut nichts. Dieser Übermacht wäre kein Schiff gewachsen, auch nicht, wenn es die beste Crew der Welt hätte und jeder einzelne Schuß voll im Ziel läge. Du vergißt die schnellen Schaluppen, die Karavellen, die viel beweglicher sind als wir. Sie werden Brandpfeile schießen, von allen Seiten zugleich. Sie werden uns angreifen, von achtern, von vorn, in den Flanken. Wir haben zwar ein großes und ein starkes Schiff, aber wir sind nur sechsundzwanzig Mann. Damit sind wir nicht einmal in der Lage, alle Geschütze und alle Drehbassen zu bemannen, von den notwendigen Segelmanövern ganz abgesehen. Ich erkläre dir das, mein Junge, damit du den Ernst der Lage erkennst. Hier helfen keine Wunder. Hier hilft nur eins: umdrehen und so rasch wie möglich vor dem Wind zurücklaufen. Das wird Caligu und seinen Genossen die Sache erschweren. Denn in die Reichweite unser Siebzehnpfünder darf er sich nicht wagen, die erste Breitseite, die im Ziel liegt, bedeutet das Ende seines Schiffes.« Der Seewolf schwieg eine Weile und starrte verbissen auf die beiden Karavellen und Schaluppen, die mit hoher Fahrt heranliefen. Dann fuhr er Dan plötzlich mit der Hand durch das blonde Haar. »Aber was wir auch tun, um diesmal zu entwischen, dafür brauchen wir wahrhaftig ein Wunder. Nur eines schwöre ich dir: von unserem Gold, von all dem Juwelen und dem Schmuck 85
in unseren Laderäumen, von allem, auf was dieser Scheißkerl so gierig ist, kriegt er nichts. Nichts, Dan.« Der Seewolf schwang sich über den Rand des Marses. »Wenn’s losgeht, enter sofort an Deck, verstanden? Dein Platz ist hinten bei mir auf dem Achterkastell.« Der Seewolf sauste die Wanten hinunter. Er sah die Augen der Männer, die stumm auf ihn gerichtet waren. Hasard war mit einem Satz auf dem Hauptdeck, dort, wo sich die zwanzig schweren Geschütze befanden. »Klar Schiff zum Gefecht!« befahl er. »Alle Mann an die Brassen, neuer Kurs Südsüdwest. Klar bei Halse, beeilt euch, Männer, von jetzt an zählt jede Minute. Caligu will unser Fell, er soll sich’s holen. Mal sehen, ob er das schafft!« Die Crew, die sonst zustimmend losgebrüllt hätte, schwieg. Den Männern stand die Erschöpfung der letzten Wochen noch im Gesicht. Smoky, der Decksälteste, trat auf Hasard zu. »Kurs Südsüdwest, haben wir das richtig verstanden? Jetzt, nach dieser elenden Schinderei? Jetzt, da wir schon fast im Atlantik sind? Heißt das, wir kehren um?« Der Seewolf hielt seinem Blick stand. »Ihr habt richtig gehört, wir kehren um. Wir haben keine Wahl, wenn wir nicht Selbstmord begehen wollen. Ich denke gar nicht daran, es diesem Schuft von Caligu so leicht zu machen. Der Kerl wird sich an uns die Zähne ausbeißen - wie bisher. Los jetzt, an die Brassen! Ferris, Al, ihr kümmert euch sofort um das Geschützdeck. Dem ersten, der uns zu nahe rückt, verpassen wir eine volle Breitseite. Dann wissen die anderen auch gleich, daß wir heute nicht unseren witzigen Tag haben, und das verschafft uns dann vielleicht wieder etwas Luft.« Smoky, dessen Gesicht anfangs immer länger geworden war, grinste plötzlich. »Hört sich doch gar nicht so schlecht an, was?« fragte er die Crew. »Ich will euch etwas sagen, Freunde!« schrie er 86
plötzlich. »Bisher sind wir noch mit jedem Gegner fertiggeworden. Wetten, daß uns dieser Caligu und seine ganze verdammte Piratenbrut auch nicht daran hindern wird, eines Tages dem alten Nathaniel Plymson in Plymouth die Bude mal wieder gründlich umzudrehen?« Über die Gesichter der Männer lief ein Grinsen. Es gab keinen an Bord, der nicht irgendwann mal aus Erzählungen der anderen erfahren hatte, was es für eine Bewandtnis mit der alten Hafenspelunke Nathaniel Plymsons hatte. Die Männer, die eben noch mit finsteren, enttäuschten und völlig erschöpften Gesichtern dagestanden hatten, gerieten in Bewegung. Irgendeiner stimmte den alten Kriegsruf der ›Isabella‹-Crew an - und dann dröhnte es plötzlich über die Decks: »Arwenack!« Der Schimpanse, den die Neugier ebenfalls aufs Hauptdeck getrieben hatte, floh mit empörtem Gekeffer in die Takelage. Dort blieb er zähnefletschend sitzen und starrte auf die Männer hinunter, die jetzt wie die Wilden auf dem Schiff hin und her zu rennen begannen und an den Brassen zerrten. Erst dann entschloß er sich, zu Dan aufzuentern, der noch im Großmars hockte. Der Schimpanse schmiegte sich ängstlich an den Jungen, auch er fühlte, daß der ›Isabella‹ schlimme Stunden bevorstanden. Dan streichelte ihn und versuchte ihn zu beruhigen, aber er spürte selbst ein flaues Gefühl in der Magengrube, als er sah, wie rasch die beiden Karavellen und die drei Schaluppen sich der ›Isabella‹ näherten, während sie noch dabei war, auf Südsüdwestkurs zu gehen. * Caligu stand an Deck seines Schiffes. In seinen Zügen loderte der Triumph. 87
»Sie drehen ab, jetzt hat dieser Seewolf die Schnauze voll, jetzt scheißt er sich vor Angst in die Hosen! Ja, mein Freund, diesmal ist es aus mit dir! Wir haben dich, wir werden dich jetzt in Stücke schießen, wir ...« Maria Juanita trat an den Piraten heran. »Und die Schätze? Wie willst du an die heran, wenn der Seewolf mit Mann und Maus absäuft oder in die Luft fliegt? Sei kein Narr, Caligu, gib deinen Rachegelüsten jetzt nicht nach. Ihr seid so viele, ihr könnt den Seewolf jagen und immer weiter jagen, bis seine Männer vor Erschöpfung zusammenbrechen. Ihr habt die schnelleren Schiffe, er kann nichts gegen euch unternehmen, wenn ihr nicht so dumm seid, in die Reichweite seiner schweren Geschütze zu geraten. Gerade du solltest doch noch wissen, wie gut dieser Bastard schießt! Denke an Grand Cayman!« Caligu wirbelte herum. Er starrte Maria Juanita an, in seinem Gesicht zuckte es. Er hatte schon eine scharfe Zurechtweisung auf der Zunge, aber er beherrschte sich. »Wir werden sein Schiff lahmschießen, Juanita«, sagte er grimmig. »Eine Breitseite ins Heck - und das Ruder zersplittert. Dann ist er geliefert, dann muß er aufgeben, und wir entern sein Schiff. Ich werde ihm den Schädel eigenhändig spalten, denn fangen läßt dieser Kerl sich nicht.« Wieder zuckte es wild in den Zügen des Piraten. Eine heftige Bewegung Juanitas ließ ihn jedoch herumfahren. »Da, dieser Dummkopf!« Paß auf, was jetzt passiert!« Maria Juanita hatte diese Worte herausgeschrien, gleichzeitig starrte sie zur ›Isabella‹ hinüber. Eine der Karavellen hatte die ›Isabella‹ erreicht. Deutlich erkannten Juanita und Caligu die Absicht des Kapitäns. Er wollte dicht hinter dem Heck der Galeone vorbeilaufen und dann eine Breitseite auf das Ruder abfeuern. Aber der Seewolf durchkreuzte seinen Plan. Die ›Isabella‹ schwang herum. Viel schneller, als Caligu das 88
jemals für möglich gehalten hätte. Sie drehte hart nach Steuerbord und gleich darauf wiesen ihre offenen Stückpforten auf die Karavelle. Donnernd entluden sich die schweren Geschütze. Lange Stichflammen zuckten aus den Stückpforten über die See, pechschwarzer Qualm wölkte auf. Die Breitseite hatte die Karavelle voll erwischt. Fock und Großmast zersplitterten, gingen über Bord, die gesamte Takelage einschließlich der Segel mit sich reißend. Doch dann geschah noch etwas - etwas, mit dem nicht einmal Caligu gerechnet hatte. Eine Stichflamme sprang auf dem Hauptdeck hoch, lief rasend schnell nach achtern weiter, und im nächsten Moment stand über der See ein einziger, gigantischer Feuerball, aus dem brennende Trümmer nach allen Seiten davonflogen und schließlich irgendwo ins Wasser klatschten. Das infernalische Geschrei der Seewölfe drang an Caligus Ohren, noch bevor er wirklich begriffen hatte, daß die Karavelle gleich nach der ersten Breitseite, die die ›Isabella‹ auf sie abgefeuert hatte, in die Luft geflogen war. Caligu wurde blaß. Er packte Juanitas Arm und preßte ihn zusammen. »Das was Jose, Juanita!« stieß er heiser hervor. »Dieser Bastard hat meinen Freund Jose in die Luft geblasen!« In ohnmächtiger Wut ballte er die Hände, aber das half ihm nichts. Er war mit seiner Karavelle noch zu weit weg, um in den jetzt entbrennenden Kampf eingreifen zu können. Denn die ›Isabella‹ feuerte bereits wieder eine Breitseite ab. Diesmals aus den Backbordgeschützen auf eine der Schaluppen, die ihr genau vor die Rohre gelaufen war. Auch diese Breitseite lag voll im Ziel, und die Folgen für die Schaluppe waren verheerend. Die Stangenkugeln rasierten Masten, Segel, Wanten und alles andere weg. Männer schrien und wälzten sich in ihrem Blut. Steuerlos trieb sie an Backbord 89
der ›Isabella‹ durch die See. Und Al Conroy nutzte seine Chance. Er ließ die Geschütze nachladen. Dann feuerte er die zweite Breitseite auf den schwer angeschlagenen Gegner ab. Die schweren, siebzehnpfündigen Kugeln zerschmetterten den Rumpf des wesentlich kleineren Schiffes. Gurgelnd schoß das Wasser durch die Lecks. Minuten später legte sich die Schaluppe auf die Seite, kenterte und verschwand in der Tiefe. Unterdessen ließ die ›Isabella‹ unter vollem Zeug nach Südsüdwest. Sie hatte der Meute, die sie verfolgte und einzukreisen versuchte, eine erste Lektion erteilt. Die zweite Karavelle sackte achteraus, die restlichen Schaluppen drehten ab, gingen zusammen mit der Karavelle auf neuen Kurs und passierten die durch die See pflügende ›Isabella‹ erst eine ganze Weile später in respektvollem Abstand. Hasard beobachtete das voller Grimm, aber konnte nichts dagegen tun. Es war klar, sie würden sich für die nächste Zeit hüten, in die Reichweite seiner schweren Geschütze zu geraten, aber sie würden ihn einkreisen, ihm den Weg verlegen und mehr und mehr Schiffe um ihn herum zusammenziehen. Vor allem die beiden Galeonen, die zwar nur langsam, aber dafür unaufhaltsam von achtern aufsegelten, bereiteten ihm Sorgen. Wenn die ihn richtig in die Zange nahmen, dann blieb ihm vielleicht noch die Zeit, eine von ihnen zu erledigen, aber die zweite schoß ihm unterdessen die Masten ab. Er hatte einfach nicht genügend Männer, um alle Geschütze gleichzeitig einzusetzen und in schneller Folge an Backbord und Steuerbord Breitseiten abfeuern zu können. Die Karavelle und die Schaluppen hatten sich vor ihn gesetzt. Jetzt verringerten sie ihre Geschwindigkeit. Aber nur um so viel, daß er ihnen zwar nicht näher kommen, sie ihn aber selbst bei Dunkelheit nicht aus den Augen verlieren konnten. Hinter ihm begannen sich unterdessen die anderen Schiffe zu formieren. Die beiden großen Galeonen, die beide mit Vollzeug durch das blaugrüne Wasser pflügten, waren jetzt 90
schon mit bloßem Auge auch in Einzelheiten gut zu erkennen. Aber auch sie schienen ihre Geschwindigkeit etwas zu drosseln, und Hasard wußte auch warum. Im Westen versank die Sonne, die ersten Vorboten der Nacht zogen auf. Es war dem Seewolf völlig klar, daß Caligu und seine Halsabschneider, die er wohl alle auf Tortuga aufgetrieben und denen er wahrscheinlich unvorstellbare Beute versprochen hatte, während der Nacht nichts gegen die ›Isabella‹ unternehmen würden. Sie konnte ihnen nicht entwischen, dafür würden schon die Fühlunghalter voraus und achtern sorgen. Der Seewolf kochte, wie er noch nie in seinem Leben zuvor gekocht hatte. Da halfen ihm nicht einmal die beiden Anfangserfolge. Das waren höchstens Tropfen auf einen heißen Stein, auch wenn sie die Kampfmoral seiner Männer erheblich stärkten. »Ben!« Der Seewolf blieb stehen. Sein langjähriger Gefährte ging auf ihn zu und sah in fragend an. »So beschissen wie diesmal war unsere Lage noch nie«, sagte der Seewolf in das Knarren der Takelage und das Rauschen der Bugwelle und das Singen des Windes hinein. »Dieser Caligu hat uns in eine tödliche Falle gelockt, wir haben keine Chance. Wir können nur noch eins - sterben wie Männer. Gib heute abend eine gehörige Portion Rum an die Männer aus. Sie sollen noch einmal ihren Spaß haben. Morgen, sobald die Sonne hoch ist, geht der Tanz los. Ich denke, das Gros der Schiffe wird sich über Nacht dichter und dichter an uns heranschieben. Die Fühlunghalter vor uns werden den anderen die ganze Nacht über ihre Position signalisieren. Was uns helfen könnte, wäre ein prächtiger Sturm, aber danach sieht es absolut nicht aus. Ich möchte, daß du unauffällig mit Ferris sprichst. Er soll alles zur Versenkung der ›Isabella‹ vorbereiten. In die Hände der Piraten fällt dieses Schiff schon wegen der Ladung nicht. Diesen Triumph gönne ich weder Caligu noch seinen Spießgesellen.« 91
Ben Brighton nickte. »Ich werde mit Ferris sprechen. Es ist bestimmt besser, wenn ich das tue, das fällt nicht so auf. Aber wie ich unseren guten Ferris kenne, hat er die Lage bestimmt schon längst ebenso eingeschätzt wie du, und wahrscheinlich wird er sogar schon jetzt dabei sein, seine Vorbereitungen zu treffen. Ich werde dir berichten, sobald ich Näheres weiß.« Ben Brighton drehte sich um und schlenderte über das Achterkastell dem Niedergang an Steuerbord entgegen. Dabei suchten seine Blicke den Schiffszimmermann. Er fand den rothaarigen Hünen auf dem Geschützdeck damit beschäftigt, einige der Brooktaue gegen neue auszuwechseln. Als er Ben Brighton erblickte, erhob er sich. »Mach das fertig, Batuti«, sagte er zu dem Schwarzen, der ihm bis dahin geholfen hatte. Der Gambia-Neger grinste ihn an. »Batuti Brooktaue fein wieder einziehen. Morgen brauchen, kaputtschießen verdammtes Caligu! Werden sich wundern, Pirat!« Es war dunkler geworden, und Ben zog den Schiffszimmermann zur Seite. Dann übermittelte er ihm den Befehl des Seewolfs, aber Tucker grinste nur. »Sag Hasard, Ben, daß ich schon alles Notwendige unternommen habe. Wenn der Fall eintritt, daß wir die ›Isabella‹ versenken müssen, dann beeilt euch beim Vonbordgehen ein bißchen, klar? Die wird schneller wegsacken, als ihr denken könnt. Im übrigen - diesmal kann uns wirklich nur noch ein Wunder retten, und es müßte morgen früh kurz nach Sonnenaufgang stattfinden, sonst hilft es uns nicht mehr!« Er deutete unauffällig nach achtern, wo ein ganzer Pulk von Schiffen deutlich zu erkennen war. Nur daß sie sich inzwischen wesentlich näher herangeschoben hatten als noch vor einer knappen Stunde. Allen voraus jedoch die Karavelle Caligus, ihre einstige ›Isabella IV.‹. Selbst an den Flanken, wenn auch 92
in gehörigem Abstand, wurden sie ständig von kleineren, schnellen Seglern begleitet und beobachtet. »Trinkst du einen mit?« fragte der rothaarige Hüne und stieß sich von einem der schweren Geschütze ab. »Klar, Ferris«, erwiderte der Bootsmann. »Hol Carberry und noch ein paar der alten Leute dazu. Am besten hier, zwischen den Geschützen, dann können wir ein wenig darauf achten, daß sich unsere Kerle nicht sinnlos besaufen.« Eine halbe Stunde später war das schönste Gelage an Bord der ›Isabella‹ im Gange. Caligu, der noch vor Anbruch der Nacht einmal dichter aufsegelte, sah das durch sein Spektiv. Seine Kohleaugen glühten zur ›Isabella‹ hinüber. »Saufen und Singen wird euch vergehen - morgen früh!« brüllte er. Und in der Vorfreude auf das gewaltige Schlachtfest, das mit Sonnenaufgang in Szene gesetzt werden sollte, rieb er sich die Hände. Aber er rieb sie sich zu früh, denn ihm und seinen Spießgesellen stand eine üble Überraschung bevor.
7. Die Nacht blieb ruhig, aber der Seewolf fand keinen Schlaf. Beide Ausgucks waren besetzt mit je zwei Mann. Kriegsmäßige Wachen patrouillierten über die Decks, die Geschütze und die Drehbassen waren geladen und die ›Isabella‹ damit in ständiger Gefechtsbereitschaft, auch wenn ein Teil der Männer neben den Geschützen schliefen. In der zweiten Nachthälfte, nachdem die beiden Fühlunghalter, die der ›Isabella‹ zusammen mit der Karavelle voraussegelten, wieder einmal ihre Signale an das nachfolgende Gros der Streitmacht abgesetzt hatten, glitt die Karavelle Caligus dichter an die ›Isabella‹ heran. Sofort gellten die Alarmrufe über die Decks der Galeone, und schon eine knappe Minute später feuerte Ferris Tucker eine 93
ganze Breitseite auf den Piraten ab. Er hatte Glück, auch wenn sich Caligu nicht in grünstiger Schußposition befunden hatte, einige der Stangenkugeln erreichten ihr Ziel und zerschmetterten den Fockmast seines Schiffes. Der Pirat brüllte auf vor Wut. Er jagte vom Achterkastell auf das Vorschiff und schlug wie wahnsinnig auf seine Leute ein, als sie die Taue des im Wasser hängenden Mastes nicht schnell genug kappten und die Karavelle aus dem Ruder lief. Eine zweite Breitseite dröhnte auf. Die gewaltigen Mündungsflammen der Siebzehnpfünder stachen durch die Nacht, und diesmal fetzten die Stangenkugeln den Hauptmast über Bord. Caligu rettete sich mit einem gewaltigen Sprung vor einer niederstürzenden Stenge, die ihn aber doch noch an der Schulter erwischte. Dann wurde er von den Segeln begraben. Maria Juanita schrie auf. Wie eine Wilde kämpfte sie sich durch das Chaos an Deck und schaffte es schließlich sogar, Caligu unter dem Wust von Trümmern, Tauen und Pardunen mit Hilfe einiger seiner Männer hervorzuziehen. Dabei stießen sie auf den Unterführer Caligus, auf das Messer. Dem war nicht mehr zu helfen, eine Kette von den Stangenkugeln hatte ihm das Genick gebrochen. Seine blicklosen Augen starrten die entsetzte Juanita im Schein der Deckslaternen an. Caligu richtete sich ächzend auf. Wie durch ein Wunder hatte er lediglich Prellungen erlitten. Mit schmerzverzerrtem Gesicht stürzte er zur Reling und stolperte durch die herumliegenden Stengen und Wanten des Großmastes. Aber so sehr er sich die Augen aus dem Kopf starrte, die Dunkelheit hatte die Galeone des Seewolfs längst wieder verschluckt. Caligu erlitt in dieser Nacht einen wahren Tobsuchtsanfall, während die anderen Schiffe an ihm vorbeiglitten. Er konnte und wollte es nicht wahrhaben, daß er wieder nicht dabeisein 94
würde, wenn der Seewolf, dieser verhaßte Bastard, starb. Dabei hatte ihm das Schicksal lediglich eine Frist gegeben, aber das wußte Caligu nicht. Er stutzte erst, als er plötzlich im ersten Morgengrauen den Kanonendonner hörte, der sein dahintreibendes Schiff erreichte. Breitseite über Breitseite dröhnte über die See, und das feine Gehör des Piraten registrierte sofort, daß es nicht nur die Breitseiten des Seewolfs oder der zwei Galeonen seiner eigenen Bundesgenossen waren, die er hörte, sondern daß da noch ein anderes großes Schiff mitkämpfen mußte. Aber welches, und auf welcher Seite? Wieder begann Caligu an Deck zu wüten, und diesmal wagte sich auch Maria Juanita nicht mehr in seine Nähe. Erbarmungslos trieb Caligu seine Männer an, die damit beschäftigt waren, Notmasten zu errichten und Notsegel zu setzen, um wenigstens wieder etwas Fahrt und etwas Manövrierfähigkeit ins Schiff zu bringen. Er platzte beinahe vor Ungeduld, als seine Karavelle sich endlich wieder in Bewegung setzte und dem Ruder zu gehorchen begann. Er verließ das Achterdeck nicht mehr, je lauter der Kanonendonner wurde, desto mehr packte Caligu die Unruhe. Da war etwas schiefgelaufen, irgend etwas stimmte nicht mehr, denn schon sichtete er die ersten brennenden Schaluppen, die von ihrer Mannschaft verlassen durch die See trieben. Was war geschehen? * Nach der zweiten Breitseite, deren Erfolg Hasard vom Achterkastell aus noch deutlich beobachten konnte, meldete sich plötzlich der Ausguck des Vortopps. »Galeone voraus! Segelt auf Kollisionskurs. Nähert sich schnell!« Der Seewolf fuhr herum. Er starrte Ben Brighton an, der ihn 95
aus seinem rauchgeschwärzten Gesicht fragend anblickte. Aber auch er zuckte nur mit den Schultern. Gleich darauf enterte er zum Vortopp auf, nachdem auch Dan aus dem Großmars die Meldung Stenmarks bestätigt hatte. Im Osten kündete ein heller Streifen über dem Horizont das Nahen des Morgens an. Und dann geschah etwas, was Hasard in seinem ganzen Leben nicht wieder vergaß. Die Karavelle, die eben noch vor seiner Galeone mit den anderen beiden Fühlunghaltern durch die Windward-Passage gesegelt war, eröffnete plötzlich das Feuer auf ein Schiff, das Hasard nicht zu sehen vermochte. Gleichzeitig versuchte sie, nach Steuerbord wegzulaufen, aber der unsichtbare Feind mußte schneller gewesen sein, er mußte ihr den Weg verlegt haben. Die Karavelle, aus deren Toppen nunmehr aufgeregt signalisiert wurde, fuhr eine Halse nach Steuerbord. Dabei rammte sie jedoch eine der Schaluppen, die ihren blitzschnellen Manövern nicht mehr schnell genug auszuweichen vermochte. Die beiden Schiffe krachten ineinander, und die Karavelle drückte die Schaluppe mit ihrem scharfen Bug sofort unter Wasser. Auch Hasard brüllte inzwischen Segelkommandos. Er lief jetzt selber Gefahr, in die beiden havarierten Segler hineinzulaufen und schor deshalb mit Hartruder nach Backbord. Erst im letzten Moment sah er den dunklen Schemen, der vor seiner Galeone aus dem Dunkel zu einem wahren Gebirge von Segeln, Rumpf und brüllenden Männern heranwuchs. Wieder schrie Hasard Kommandos in die Dunkelheit, und was niemand mehr an Bord der ›Isabella‹ für möglich gehalten hätte, die Männer an den Brassen und am Kolderstock schafften es, um Haaresbreite der drohenden Kollision zu entgehen. Dann aber, als die beiden großen Schiffe mit nur knapp zwanzig Yards Zwischenraum aneinander vorbeiglitten, blieben dem Seewolf buchstäblich die Flüche, mit denen er die 96
Männer auf der fremden Galeone bedenken wollte, im Halse stecken. Er erkannte die Männer in ihren schweren Kupferhelmen, die ihre breiten, schwertähnlichen Waffen im Licht der Bordlaternen schwangen. »Bei allen Stürmen der Karibik!« stöhnte Carberry, der dieses unheimliche Schauspiel ebenfalls vom Vorkastell aus beobachtete und spürte, wie ihm vor Schreck der Schweiß in Strömen über den Körper rann. »Das ist beim Satan dieser verrückte Wikinger!« Gleich darauf dröhnte auch schon eine Stimme durch die Nacht: »Ho, Seewolf, mir scheint, wir sind zur richtigen Zeit erschienen. Ich werde dir deine Verfolger vom Halse schaffen, mit diesen Kerlen räumen wir auf, das war schon lange fällig! Ho, diese verfluchte Piratenbrut kenne ich, sind sie endlich aus ihren Löchern gekrochen, um zu kämpfen?« Die letzten Worte verstand Hasard nur noch mit Mühe, aber sein Entschluß war blitzschnell gefaßt. Der Wikinger war genau das, was er in diesem Moment brauchte - eine Verstärkung wie er und seine Männer sie sich gar nicht besser wünschen konnten. Dreimal waren sie sich nun schon unverhofft begegnet. Das erste Mal vor der bretonischen Küste, da hatte er den Wikinger und seine Männer aus einer üblen Lage befreit - zum zweiten Mal vor einigen Wochen in der Karibik auf Little Cayman, wo der Wikinger offenbar seinen ständigen Schlupfwinkel hatte, und jetzt hier, in jener Nacht, die nach dem Willen seiner Verfolger für ihn und seine Männer die letzte werden sollte! »Alles klar bei Halse!« rief er in die Dunkelheit, die nur ganz knapp vom ersten Morgengrauen aufgehellt wurde. »Wir haben Hilfe, der Wikinger wird mit uns zusammen gegen die Piraten kämpfen! An die Brassen, Männer, jetzt rechnen wir mit Caligu und seinem Gelichter endgültig ab!« Die Männer auf dem Hauptdeck brüllten vor Begeisterung, und dann schwang die ›Isabella‹ auch schon herum. 97
Noch bevor sie das Gros der Piratenflotte erreicht hatten, dröhnten die Breitseiten der ›Thor‹ vor ihnen auf. Der Wikinger war sofort über eine der großen Galeonen hergefallen und schoß sie jetzt, seinen Überraschungseffekt voll ausnutzend, systematisch zusammen. Hasard zögerte keine Sekunde, er segelte geradewegs auf die zweite Galeone los, deren Besatzung offenbar so verwirrt war, daß sie ihr Heil in der Flucht suchte. Der Seewolf nutzte seine Chance eiskalt. Unter vollen Segeln rauschte er von Backbord heran. »Aufgepaßt!« schrie er zum Hauptdeck hinunter. »Ruder hart Steuerbord, Feuer!« Die Siebzehnpfünder entluden sich. Das Deck zwischen den Geschützen war eine Hölle von Rauch und Pulverschleim, aber die Breitseite lag im Ziel. Durch den Pulverdampf sah Hasard, wie dem Piratenschiff das Schanzkleid weggerissen wurde und Männer kopflos über das Deck zum Achterkastell flohen, dann lief die ›Isabella‹ auch schon hinter dem Heck der Galeone vorbei. »Klar zur Wende!« durchdrang Hasards Stimme das Siegesgebrüll seiner Mariner, und gleichzeitig beobachtete er, wie auch der Wikinger zu einem neuen Angriff herumschwang. Aber ihm blieb keine Zeit, sich weiter um Thorfin Njal und seine Männer zu kümmern, denn eine Karavelle, die er bisher noch nicht gesehen hatte, schoß von achtern auf ihn zu. Der Seewolf erkannte sofort, daß es unmöglich sein würde, ihrem Angriff noch auf irgendeine Weise auszuweichen, seine ›Isabella‹ befand sich mitten in der Wende. Er sah die Mündungsfeuer aufblitzen, hörte die Einschläge der Kanonenkugeln und gleich darauf auch das Gebrüll der Verwundeten. Blut und Pulverschleim vermischten sich auf dem Geschützdeck, durch den Qualm und das Durcheinander erkannte er den hünenhaften Ferris Tucker und Carberry. Sie brüllten die Männer an, trieben sie wieder an die 98
Geschütze, während die ›Isabella‹ Fahrt aufnahm und auf ihren angeschossenen Gegner zulief. Die Karavelle reagierte sofort, sie änderte ihren Kurs, schwang herum, viel schneller, als das der ›Isabella‹ jemals möglich gewesen wäre, und wieder blitzten ihre Geschütze auf. Diesmal hatten die Piraten Stangenkugeln geladen. Hasard hörte die Einschläge und sah, wie ein Teil seiner Takelage in Stücke ging, wie Pardunen rissen und unter ihm die Beplankung des Achterkastells zerfetzt wurde. Aber dann sah er noch etwas, und ihm stockte das Blut in den Adern. Der Wikinger hatte ebenfalls seinen Kurs geändert. Mit vollen Segeln rauschte er auf die Karavelle zu, und genau in diesem Moment feuerte Ferris Tucker auch schon seine Breitseite ab. Alles andere geschah dann so schnell, daß später eigentlich niemand mehr recht zu sagen wußte, wie alles passiert war. Die Breitseite der ›Isabella‹ lag voll im Ziel. Die schweren Geschütze fetzten dem Piratenschiff die Masten weg, durchschlugen die Bordwand der Karavelle in ihrer ganzen Länge wie Papier und setzten das Schiff augenblicklich in Brand. Die ›Thor‹ des Wikingern rauschte heran, unfähig, ihren Kurs noch zu korrigieren und der drohenden Kollision auszuweichen. Ihr massiger Bug bohrte sich in das brennende Schiff. Bugspriet und Blinde knickten weg, der Fockmast krachte samt den Rahen auf die brennende Karavelle, der Bug und das Vorkastell wurden durch die Wucht des Zusammenpralls eingedrückt. Die Karavelle, von der massigen Galeone des Wikingern herumgedrückt, schor bei der ›Thor‹ längsseits. Hasard und ein Teil seiner Männer sahen noch, wie der Wikinger über das Deck seines Schiffes stürmte und seine Männer mit gezogenen Schwertern die Karavelle enterten, indem sie einfach auf das kleinere Schiff hinuntersprangen. 99
Noch einmal vernahmen sie das dröhnende Lachen des Wikingers - und in der nächsten Sekunde flog die Karavelle in die Luft. So gewaltig war diese Explosion, daß Hasard über das Achterkastell gefegt wurde, Ferris Tucker rücklings in die Geschütze krachte und Carberry vom Vorderkastell aufs Hauptdeck hinunterstürzte. Die ›Thor‹ sackte zur Seite, In ihrer Bordwand klaffte ein riesiges Loch, durch das die See gurgelnd ins Innere des Schiffes schoß. Aber auch die ›Thor‹ brannte, aus dem Achterkastell loderten die Flammen, während sie mehr und mehr nach Steuerbord krängte. Der Galeone blieb nicht einmal mehr die Zeit, zu kentern. Eine zweite, noch gewaltigere Explosion erschütterte die See. Sekundenlang stand ein Feuerball über der Windward-Passage, und die Druckwelle wirbelte die Männer der ›Isabella‹ durcheinander, wie ein Herbststurm welke Blätter über den Boden fegte. Einige von Hasards Männern schrien, andere krallten sich an den Planken fest, danach herrschte plötzlich wieder Stille. Als einer nach dem anderen langsam seinen Kopf über das demolierte Schanzkleid steckte, war von der ›Thor‹, der Karavelle und dem Wikinger samt seiner Besatzung nichts mehr vorhanden. Ein paar Trümmer trieben auf der See, mehr nicht. Der Seewolf starrte auf die Stelle, an der eben noch die gewaltige Galeone gelegen hatte. Er brachte kein Wort heraus, statt dessen registrierte er lediglich, daß die Schiffe der Piraten in wilder Flucht durch die Windward-Passage davonsegelten. Eine lichterloh brennende Galeone trieb querab von ihnen an Steuerbord durch die See. Die Besatzung hatte die Boote zu Wasser gelassen und pullte in wilder Flucht davon. Rauch breitete sich über der See aus. Die Schlacht in der Windward-Passage, in die die ›Thor‹ des 100
Wikingers wie ein plötzlich vom Grunde des Meeres aufgetauchtes Gespensterschiff eingegriffen hatte, war zu Ende. Noch lange wußte die Legende von diesem unheimlichen Schiff zu berichten, das schließlich wieder in den Tiefen des Meeres verschwunden sein sollte. Mit voller Fahrt, unter vollen Segeln - und diese Legende ließ den Seewolf und seine Männer zu Verbündeten des Teufels werden, die kein Sterblicher je zu besiegen oder zu töten vermochte. Nur einer der Piraten wußte es besser: Caligu. Unter Notsegeln lief seine Karavelle nach Tortuga zurück. Dort ging er sofort daran, sein Schiff wieder instand zu setzen und seine Mannschaft zu ergänzen. Denn eins stand für Caligu fest: Er würde den Seewolf weiterjagen, ob er nun mit dem Teufel im Bunde war oder nicht. Und er würde die Schätze, die jene Galeone in ihren Laderäumen barg, erbeuten. Caligu glaubte ganz fest daran. Eines Tages würde er der Sieger in diesem Kampf sein - und der Herr der Karibik. * Auch Hasard hatte die Stätte des Grauens verlassen. Er war nicht dumm genug gewesen, mit der ›Isabella‹ abermals Kurs auf die Windward-Passage zu nehmen. Aus Erfahrung wußte er, daß der Schreck, den die Geschehnisse der Schlacht den Piraten eingejagt hatten, nicht von langer Dauer sein würde. Nicht bei der Ladung, die die ›Isabella‹ mit sich führte und die sie kannten. Aus diesem Grunde war Hasard das ganze Stück, das sie sich mühsam drei Wochen lang erschuftet hatten, zurückgesegelt mit Kurs auf Jamaica. Er wußte nicht, ob die Piraten ihm immer noch jagten oder nicht, denn in der Nacht zum fünften Tag seit Beginn der Schlacht in der Windward-Passage kam Nebel auf. Die ›Isabella‹ lief unter vollem Zeug in die Nebelwand hinein, und 101
damit hatte sie sich etwaigen Verfolgern oder Fühlunghaltern endgültig entzogen. Drei Tage später ankerte Hasard in einer kleinen, versteckten Bucht an der Südküste Jamaicas. Er hatte fünf Verwundete an Bord, die Takelage war zum Teil nur notdürftig wieder zusammengeflickt und mußte dringend überholt werden. Auf Ferris Tucker warteten Schäden am Rumpf und in der Beplankung des Achterkastells. Vor allem aber brauchten seine Männer endlich mal Ruhe. Die Geschehnisse in der Windward-Passage hatten sie geschafft, und das grauenhafte Ende des Wikingers, der mit seinen Männern gerade noch zur rechten Zeit wie aus dem Nichts aufgetaucht war und ihnen beigestanden hatte, das steckte ihnen allen auch noch in den Knochen. Der Seewolf wußte, daß er seiner Crew etwas Zeit geben mußte, sich zu erholen. Und wenn er ehrlich gegen sich selber blieb, dann mußte er zugeben, daß auch seine eigenen Nerven in den letzten Wochen gehörig strapaziert worden waren. Er grinste Ben Brighton, Ed Carberry, Ferris Tucker und Smoky zu, als er die Whiskyflasche auf den großen Tisch seiner Kammer stellte. »So, dann wollen wir mal«, sagte er. »Wir knobeln jetzt aus, wer von uns die Wache übernimmt und für die nächsten Stunden für Schiff und Besatzung verantwortlich ist. Die anderen können sich anschließend mit mir bis zur Mastspitze vollaufen lassen.« Carberry stutzte: »Mit dir bis zur Mastspitze vollaufen lasse? He, Hasard, bist du etwa schon raus?« Der Seewolf nickte und grinste dabei süffisant. »Du sagst es, Ed. Also fangt endlich an und knobelt es aus!« Der Profos murmelte zwar etwas von Haut und Affenarsch und kielholen lassen, aber dann griff er grinsend zum Knobelbecher, den der Seewolf ihm reichte ...
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ENDE
Die Insel des Columbus von Roy Palmer
Die Mannschaft der ›Isabella V.‹ kann keine Hilfe leisten, als eine Galeone bei schwerem Sturm in Seenot gerät. Alle beobachten das Drama, wie der Großmast über Bord geht und wie die Galeone zwischen Korallenbänken auseinanderbricht. Zwei Begleitgaleonen kümmern sich nicht um das Unglücksschiff - und das macht den Seewolf mit seiner Crew stutzig. Am nächsten Morgen entdecken sie Schiffbrüchige und lernen ihr grausames, erschütterndes Schicksal kennen. In Hasard beginnt es zu kochen ...
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