Lawrence Sanders
McNallys Geheimnis
Inhaltsangabe Lady Cynthia Horowitz gehört zur feinen Party-Gesellschaft Floridas...
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Lawrence Sanders
McNallys Geheimnis
Inhaltsangabe Lady Cynthia Horowitz gehört zur feinen Party-Gesellschaft Floridas. Das ehemalige Topmodell ist noch immer für seine Schönheit berühmt, aber die inzwischen Siebzigjährige ist auch zu einer zynischen und rücksichtslosen Tyrannin geworden, die ihre Umwelt mit ihren Launen terrorisiert und quält. Eines Tages wird ein Viererblock der berühmten Briefmarken ›Inverted Jennies‹ aus ihrem Safe gestohlen. Kurz zuvor hatten ähnliche Marken auf einer Auktion bei Christie's einen Preis von über einer Million Dollar erzielt. Zur vermutlichen Tatzeit hielten sich zwölf Gäste in Lady Cynthias Haus auf: ihre Kinder, ihr Personal und ein alter Freund. Da sie bei einer offiziellen polizeilichen Untersuchung unangenehmen Presserummel befürchtet, beauftragt Lady Horowitz Archibald McNally, Sohn eines angesehenen Rechtsanwalts, den Dieb aufzuspüren. Kaum stößt er während seiner Ermittlungen bei einem Briefmarkenhändler auf eine erste Spur, wird dieser ermordet aufgefunden...
Genehmigte Sonderausgabe 1999 für Serges Medien GmbH, Köln © der deutschsprachigen Ausgabe 1994 bei Wilhelm Goldmann Verlag Die Originalausgabe erschien unter dem Titel ›McNally's Secret‹ bei G.P. Putnam's Sons, New York. © der Originalausgabe 1992 bei Lawrence A. Sanders Enterprises Inc. Übersetzung: Hartmut Huff Printed in Germany Alle Rechte vorbehalten Dieses eBook ist umwelt- und leserfreundlich, da es weder chlorhaltiges Papier noch einen Abgabepreis beinhaltet! ☺
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I
ch goß ein paar Tropfen eines 87er Mondavi Chardonnay in ihren Nabel und beugte mich nieder, um ihn auszuschlürfen. Jennifer schloß ihre Augen und schnurrte. »Magst du das?« keuchte sie. »Natürlich«, sagte ich. »Siebenundachtzig war ein ausgezeichnetes Jahr.« Sie riß die Augen auf. »Stinker«, sagte sie. »Kannst du eigentlich nie ernst sein?« »Nein«, sagte ich. »Kann ich nicht.« Das zumindest war die Wahrheit. In meinen derzeit siebenunddreißig Lebensjahren hatte ich genug schreckliche Warnungen vor Nuklearkatastrophen, weltweitem Temperaturanstieg, Ozonschwund und der Invasion von Killerbienen mitbekommen. Nach einer gewissen Zeit hörte mein Blut auf zu rasen, und mir wurde schlagartig klar, daß mich all diese schrillen Vorhersagen langweilten, denen zufolge Armageddon am nächsten Dienstag fällig sei. Es war ja noch nicht passiert, oder? Die alte Welt drehte sich torkelnd weiter, und ich war's zufrieden, mit ihr torkeln zu können. Ich bin ein Bursche von liebenswürdigem, sonnigem Temperament, und ich sehe keinen Anlaß, mir wegen Katastrophen Sorgen zu machen, die nie passieren. Die Welt ist voll von Nörglern, und ich habe keine Ambitionen, dem Verein beizutreten. Dies alles hätte ich Jennifer erklären können. Aber ich tat es nicht. So machte ich da weiter, wo ich aufgehört hatte, und die nächste 1
Stunde war ein irres Wechselspiel von Gelächter und Gestöhn. Es war das erste Mal, daß wir miteinander schliefen, und ich weiß, daß ich begeistert war. Es war eine dieser seltenen sexuellen Tollereien, bei denen die Wirklichkeit die Erwartungen übertrifft. Zum Teil war meine Freude auf angenehme Überraschung zurückzuführen. Jennifer Towley war fast so groß wie ich, und sie hatte mich als eine eher zurückhaltende, elegante und irgendwie herbe Frau beeindruckt, die hübsch, aber gewöhnlich schwarz gekleidet war – und das in Südflorida, wo jeder Pastellfarben bevorzugte. Das war die bekleidete Jennifer. Bis auf ihr gelbbraunes Evaskostüm ausgezogen und bar ihrer grauen Kontaktlinsen, vollzog sie die Verwandlung in eine völlig andere Frau. Unglaublich, welch irre Frau in ihr steckte! Enthusiastisch. Kooperativ. Akrobatisch. Kurz nach Mitternacht entzog ich mich bedauernd ihrer warmen Umarmung und kleidete mich an. Sie stand auf und legte einen enormen weißen Morgenmantel an, der das Emblem eines Hotels in Monte Carlo trug. »Dank für einen Superabend«, sagte ich höflich. »Das Abendessen war hervorragend«, erwiderte sie. »Und das Dessert war sogar noch besser. Aber warte: Ich habe ein Geschenk für dich.« Ich kam mir wie der perfekte gemeine Kerl vor. Ich machte dem armen Mädchen etwas vor, und sie wollte mir ein Geschenk geben. Vielleicht ein goldenes Feuerzeug oder einen Kaschmirpullover – etwas Teures, das sie sich kaum leisten konnte. Ich schämte mich. Doch statt dessen brachte sie mir ein Bündel Briefe, das mit einem Gummiband zusammengehalten wurde. Sie hatte ihre Kontaktlinsen wieder eingesetzt und warf mir einen direkten, eisigen Blick zu – sehr heftig. Ich schaute auf die Briefe und wußte sofort, was das war: der Grund meiner Falschheit. »Ich glaube, das ist es, was du willst«, sagte sie streng. Ich sah sie an. »Wie lange hast du das schon gewußt?« fragte ich. 2
»Ich hab's von Anfang an vermutet«, sagte sie. »Gewöhnlich erwecke ich nicht die Aufmerksamkeit gutaussehender, charmanter Männer meines Alters. Die meisten von denen achten mehr auf junge Mädchen, wie man sie zum Ausklappen in Herrenmagazinen findet. Und dann hast du behauptet, du seist Tennisprofi. Dein Spiel ist gut, aber so gut nun eben nicht. Also hab' ich mir heute abend deine Brieftasche angesehen, während du auf dem Klo warst.« »Das kann nicht dein Ernst sein!« »Doch!« sagte sie fest. »Und ich entdeckte, daß du Archibald McNally bist, Rechtsanwalt.« »Keineswegs«, sagte ich kopfschüttelnd. »Wenn du meine Visitenkarte genau anschaust, wirst du sehen, daß McNally und Sohn, Rechtsanwalt, darauf steht, nicht Rechtsanwälte. Singular, nicht Plural. Mein Vater, Prescott McNally, ist der Anwalt. Ich bin keiner.« »Was bist du denn dann?« »Ich bin der Sohn, verantwortlich für eine Abteilung mit der Bezeichnung ›Diskrete Ermittlungen‹. Sie besteht aus mir.« »Aber warum bist du kein Anwalt?« beharrte sie. »Weil ich wegen fehlenden Ernstes aus der juristischen Fakultät von Yale geworfen wurde. Während eines Konzerts der New Yorker Philharmonie bin ich über die Bühne stolziert, nackt, bis auf eine Richard-M.-Nixon-Maske.« Dann lachte sie, und ich wußte, daß alles gut werden würde. »Hättest du gleich zu Anfang um die Briefe gebeten«, sagte sie, »hätte ich sie dir nur allzu gern übergeben. Der Mann ist offensichtlich wahnsinnig. Aber ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was du im Schilde führtest, und ich war neugierig.« Ich seufzte. »Unser Klient, Clarence T. Frobisher, ist ein netter alter Herr, aber eben nicht so zugeknöpft, wie du bemerkt hast. Wie hast du ihn kennengelernt?« »Bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung. Er wirkte ganz harmlos. War vielleicht ein bißchen sonderbar, aber nicht so, daß ein Mäd3
chen es mit der Angst zu tun bekommen müßte. Als ich feststellte, daß er Geld hatte, dachte ich, er käme vielleicht als Käufer für meine Antiquitäten in Frage. Wir haben ein paarmal zusammen zu Abend gegessen – mehr nicht –, und dann bekam ich plötzlich diese unglaublichen Briefe von ihm. Er liebe mich leidenschaftlich, wolle mich heiraten, wolle mir so viel Geld geben, wie ich haben wolle, wenn ich ihn nur an meinen wundervollen rosa Zehen lutschen ließe. Ob meine Zehen nun wundervoll sind oder nicht – das liegt allein am Betrachter –, rosa sind sie nun wirklich nicht, wie du wohl weißt.« Ich nickte. »Mr. Frobisher steht auf Zehen. Ich muß dir sagen, Jennifer, es ist nicht das erste Mal, daß er an jüngere Frauen geschrieben und ihnen angeboten hat, ihre Zehen zu kaufen oder zu mieten. In drei anderen Fällen haben wir seine Briefe zurückgekauft, um zu verhindern, daß er verklagt wird oder daß die Geschichte publik wird. Damit würde er zum Gespött von Palm Beach werden. Es ist eine erfreuliche Überraschung, daß eines seiner Zehenopfer seine Briefe freiwillig zurückgibt. Ich danke dir.« Sie schaute mich nachdenklich an. »Hätte ich dir die Briefe nicht gegeben oder dir nicht zurückverkauft, hättest du sie dann gestohlen?« »Wahrscheinlich«, sagte ich. »Zum Schluß wäre noch eines zu klären.« »Ach? Und das wäre?« »Wann kann ich dich wiedersehen?« fragte ich. Wieder war dieser kühle, gelassene Blick auf mich gerichtet. »Ich werde darüber nachdenken«, sagte sie. Ich fuhr in meinem roten Mazda Miata, einem der ersten in Südflorida, nach Hause. Während ich ostwärts fuhr, pfiff ich die ersten Takte von Beethovens Fünfter. Ich war vor Befriedigung förmlich 4
geschwollen: Ein Auftrag beendet, ein exzellentes Abendessen und, am wichtigsten, ich war mit einer herrlichen Frau intim gewesen. Ich will nicht sagen, daß ich verknallt gewesen wäre. Das wäre ein bißchen zu viel des Guten. Meine Neigung zur Trivialität als Lebenseinstellung hatte mich gelehrt, gegenüber starken Gefühlen automatisch mißtrauisch zu sein und sie zu meiden. Dennoch war ich von Miss Jennifer Towley beeindruckt. Daran bestand kein Zweifel. Ich wollte sie wiedersehen. Wieder mit ihr zu Abend essen. Und zudem, das muß ich gestehen, kam mir der Gedanke, daß Clarence T. Frobisher vielleicht eine absolut vernünftige und verständliche Phantasie gehabt haben könnte. Wir wohnten an der A1A, direkt jenseits der Straße am Atlantik. Unser Landhaus unterschied sich völlig von den Nachbarhäusern. Das waren überwiegend zweigeschossige spanische Pseudo-Haziendas mit roten Ziegeldächern. Unser Haus war ein dreistöckiger Pseudo-Tudorbau mit Sprossenfenstern und einem undichten kupfernen Mansardendach. Wir hatten fünf Schlafzimmer, die genügten, um meine verheiratete Schwester aus Tucson mit ihrer Familie bei ihren jährlichen Besuchen zu beherbergen. Zudem stand auf unseren fünf Morgen eine zweistöckige Garage, in der drei Wagen Platz fanden. Unser Diener und die Köchin und Haushälterin, ein verheiratetes Paar skandinavischer Herkunft, hatten ihre Wohnung im obersten Stock. Es gab ein kleines Gewächshaus, in dem meine Mutter Begonien kultivierte, dazu einen Ziergarten, einen Töpferschuppen, ein Gartenhaus im viktorianischen Stil und eine Hundehütte, in der einst ein Golden Retriever sein Domizil hatte. Er war in die ewigen Jagdgründe eingegangen, doch sein Heim blieb. Einen Swimming-pool gab es nicht. Eigentlich fand ich das Anwesen der McNallys ziemlich erstklassig. Das Haupthaus war gedrungen, von unbeholfener Linienführung, aber Efeu verdeckt unendlich viele Sünden. Die verwitterten 5
Gebäude und das weitläufige Grundstück verrieten alte Familie und alten Reichtum. Das war natürlich alles Kulisse, doch das wußte nur ich. Ich parkte den Miata zwischen dem schwarzen Lexus LS-400 meines Vaters und der alten Holzkarosse meiner Mutter. In den Räumen des Personals brannte kein Licht und ebenso wenig in den oberen Stockwerken des Haupthauses. Doch die Lampe im Säulengang war an, und ich sah, daß Lichtschimmer durch die zugezogenen Vorhänge aus dem Arbeitszimmer meines Vaters im ersten Stock fiel. Ich ging dorthin. Die schwere Eichentür war weit geöffnet, und als ich hineinschaute, sah ich ihn bequem in seinem Lieblingsledersessel sitzen, eine Karaffe mit Port und ein Glas neben seinem Ellenbogen. Er las in einem ledergebundenen Band, und ich wäre jede Wette eingegangen, daß es Dickens war. Seit Jahren wühlte er sich durch das Gesamtwerk. Er schaute auf, als ich eintrat. »Guten Abend, Archy.« »Abend, Vater«, sagte ich und warf das verschnürte Päckchen auf seinen Schreibtisch. »Die Frobisher-Briefe«, erklärte ich. »Exzellent«, sagte er. »Wieviel haben sie gekostet?« »Ein Abendessen im Café ›L'Europe‹. Die Dame gab sie freiwillig heraus. Ohne Berechnung.« »Sie ist eine Dame«, sagte er. »Wird sie ein kleines Zeichen der Dankbarkeit akzeptieren?« »Das denke ich schon«, sagte ich. »Sie ist ein Tennisfreak, aber ihr Schläger sieht wie ein altes Banjo aus. Ich denke, ein neuer Spalding-Graphit würde hochwillkommen sein.« Er nickte. »Kümmere dich darum. Du siehst mitgenommen aus. Einen Port?« »Danke«, sagte ich und schenkte mein Glas voll. »Setz dich lieber«, riet er mir. »Ich habe einen neuen Auftrag für dich, und dazu muß ich dir einiges erzählen.« 6
»Kann das nicht bis morgen warten?« »Nein«, sagte er kurz, »kann es nicht. Das ist etwas, was ich nicht im Büro besprechen möchte.« Also ließ ich mich schlaff in einen Armsessel fallen und schlug die Beine übereinander. Er warf einen bösen Blick auf meine lavendelblauen Socken, gab aber keinen Kommentar ab. Er hatte mich nie dazu überreden können, es ihm gleichzutun und schwarzwollene Kniestrümpfe, breite derbe Straßenschuhe und einen Anzug aus grauem Kammgarn zu tragen. Er saß einen Augenblick schweigend da, und ich wußte, daß er überlegte, was er sagen sollte und wie. Mein Vater denkt immer lange und gründlich nach, bevor er spricht. Es war eine mir vertraute Angewohnheit, aber es verursachte manchmal peinliche Situationen, weil die Klienten fürchteten, der alte Herr spintisiere oder sei verrückt geworden. »Lady Cynthia Horowitz kam heute abend ins Büro«, sagte er. »Nachdem du gegangen warst.« »O Gott!« rief ich. »Erzähl mir bloß nicht, daß die alte Krähe schon wieder ihr Testament ändern will.« »Heute nicht«, erwiderte er mit einem leichten Lächeln. »Sie hatte etwas Dringenderes zu besprechen. Sie wollte nicht hochkommen – du weißt ja, wegen der Klimaanlage –, also mußte ich runtergehen und mich zu ihr in ihren antiken Rolls setzen. Platz genug bietet er ja, ist aber sehr stickig. Sie schickte ihren Chauffeur auf einen Spaziergang, während wir unter vier Augen sprachen. Sie war ziemlich aufgeregt.« »Und was macht ihr jetzt Sorgen?« Mein Vater seufzte und nahm einen kleinen Schluck von seinem Port. »Sie behauptet, daß ein wichtiger Teil ihres Besitzes verschwunden sei.« »Ach? Verloren, weggelaufen oder gestohlen?« »Sie glaubt, er wurde gestohlen. Er war in einem Wandsafe in 7
ihrem Schlafzimmer. Da ist er nicht mehr.« »Und was genau ist es?« »Ein Block von vier amerikanischen Briefmarken.« Ich lachte. »Und das war ein wichtiger Teil ihres Besitzes?« Mein Vater schaute mich nachdenklich an. »Ein ähnlicher Viererblock wechselte kürzlich auf einer Auktion bei Christie's in New York für eine Million Dollar den Besitzer.« Ich nahm hastig einen Schluck Brandy. »Dann darf ich annehmen, daß es sich kaum um diese Art Briefmarken handelt, die man auf einen Brief ans Finanzamt klebt.« »Schwerlich. Sie sind Teil eines Hunderterbogens von Vierundzwanzig-Cent-Luftpostbriefmarken, die 1918 herausgegeben wurden. Die Briefmarken sind rot, mit einem gerahmten blauen Doppeldecker in der Mitte. Durch einen Druckfehler wurde das Flugzeug auf diesem speziellen Bogen auf dem Kopf stehend wiedergegeben. Da der abgebildete Doppeldecker als Jenny sehr bekannt war, ist der Fehldruck in philatelistischen Kreisen als Inverted Jenny, als umgekehrte Jenny, berühmt. Warum lachst du?« »Die Dame, mit der ich heute zu Abend aß«, sagte ich, »die uns Frobishers Briefe zurückgab – offensichtlich erinnerst du dich nicht, Vater, aber sie heißt Jennifer Towley. Ich könnte mir denken, daß manche Leute sie mit Jenny anreden.« Er hob eine Augenbraue – ein Trick, den ich nie beherrschen werde. »Und stand sie auf dem Kopf?« fragte er. Dann, offensichtlich aus Furcht, eine unkluge Frage gestellt zu haben, fuhr er hastig fort: »Jedenfalls möchte Lady Horowitz sich mit diesem Problem nicht an die Polizei wenden.« Ich starrte ihn an. »Sie glaubt, jemand aus ihrem Haus könnte die Marken genommen haben?« »Ich habe sie nicht gefragt. Das ist deine Aufgabe.« »Warum, zum Henker, hat sie die nicht in ihrem Banktresor aufbewahrt? Da lagert sie im Sommer doch auch ihre Pelze.« 8
»Sie hat sie aus dem gleichen Grund zu Hause behalten«, erklärte mein Vater geduldig, »aus dem sie ihren Schmuck dort behält. Sie trägt ihre Diamanten gerne, und sie genoß es, die Fehldrucke Gästen zu zeigen.« Ich stöhnte. »Dann wußte also jeder in Palm Beach, daß sie einen Block von Inverted Jennies besaß?« »Vielleicht nicht jeder, aber ganz sicher sehr viele.« »Waren sie versichert?« »Für eine halbe Million. Sie hat den Verlust noch nicht gemeldet und keinen Schadenersatz gefordert, weil sie hofft, die Briefmarken werden wieder auftauchen. Da sie um keinen Preis Öffentlichkeit haben will, ist dies offensichtlich eine Aufgabe für die Abteilung ›Diskrete Ermittlungen‹. Archie, fang bitte morgen früh damit an. Oder genauer, heute morgen.« Ich nickte. »Ich schlage vor«, fuhr er fort, »du beginnst mit einem Gespräch mit Lady Horowitz. Sie wird dir mehr Einzelheiten über den angeblichen Diebstahl sagen können.« »Auf diese Begegnung freue ich mich nicht gerade«, meinte ich und trank meinen Brandy aus. »Du weißt doch, wie die Leute sie nennen? Lady Horrorwitz.« Mein Vater schenkte mir ein frostiges Lächeln. »Nur wenige von uns sind, was sie scheinen«, sagte er. »Wenn wir's wären, wäre die Welt schrecklich langweilig.« Er widmete sich wieder seinem Dickens, und ich stieg die Stufen zu meiner Suite im dritten Stock hoch: Schlafzimmer, Wohnzimmer, Garderobe und Bad. Klein, aber sehr gemütlich. Ich duschte, zog einen Morgenmantel über und zündete mir eine Zigarette an, erst meine dritte in den letzten vierundzwanzig Stunden, weshalb ich mich entsprechend tugendhaft fühlte. Ich bin ein ziemlich zerstreuter Knabe, und kurz nachdem ich in die Kanzlei meines Vaters eingetreten war und mir die Verantwor9
tung für ›Diskrete Ermittlungen‹ übertragen worden war, hielt ich es für klug, ein privates Tagebuch zu führen. Auf diese Weise würde ich keine scheinbar unwichtigen Dinge vergessen, die sich später als bedeutsam herausstellen konnten. Ich versuchte, meine Eintragungen täglich zu machen, aber an diesem besonderen Abend saß ich nur da, starrte auf mein Tagebuch und dachte über die Bemerkung meines Vaters nach: »Nur wenige von uns sind, was sie scheinen.« Das war sicher wahr, was Prescott McNally anbelangte. Der Vater meines Vaters, Frederick McNally, war nicht, wie viele glaubten, ein wohlhabendes Mitglied des britischen Landadels gewesen, sondern ein Varieté-Komiker, Markenzeichen: weite Hose und Knollennase. Zu Starruhm gelangte er nie, aber sein Geschick im Umgang mit Dialekten und seine vulgäre Lache hatten ihm den Ruf eingebracht, der zweitbeste Spaßmacher im Varietégeschäft zu sein. Neben seiner Gewandtheit beim Auf-den-Hintern-Fallen und mit Seltersflaschen und seiner Fähigkeit, wie eine erschreckte Gazelle zu hüpfen, wenn er auf der Bühne fertiggemacht wurde, zeigte sich, daß er ein bemerkenswert raffinierter Immobilieninvestor war. Während des Erschließungsbooms in Florida in den zwanziger Jahren erwarb mein Großvater Häuser an der Küste – die in jenen Tagen geradezu wundervoll billig waren – und viele Grundstücke. Als er sich schließlich aus der Welt der Schminke zurückzog, verfügte er über bescheidenen Wohlstand, war dabei aber reich genug, um ein Haus in Miami zu erwerben und seinen Sohn, meinen Vater, nach Yale zu schicken, damit dieser ein Herr und schließlich ein Rechtsanwalt wurde. Kurz nachdem mein Großvater seinen letzten Abgang gemacht hatte, verschwand seine Frau, ein ehemaliges Revuegirl, ebenfalls von der Bühne. Worauf mein Vater das Haus in Miami verkaufte – mit beachtlichem Gewinn – und mit seiner Familie nach Palm Beach zog. Er hatte seine Zulassung bei den Gerichten von Florida 10
bekommen und wußte genau, wie er leben wollte. Tatsache war, daß er das bereits als Student im ersten Semester gewußt hatte. Die Welt, die meinem Vater vorschwebte, war die von Herrenhäusern, Krocket, Polo, schönen Gärten, einem Weinkeller, viel Chintz, abgewetztem Leder, silbergerahmten Fotografien von Familienangehörigen und Gurkensandwiches zum Tee. Das war das Leben, das er für sich selbst und seine Familie in Palm Beach schuf. Er war Gutsherr, und wenn das erforderte, einen antiken Marmorkamin nebst Einfassung von einem Londoner Händler zu kaufen, ihn zu irrsinnigen Preisen in Kisten verpacken und nach Florida verschiffen zu lassen, dann veranlaßte er das. Er glaubte an seinen Traum, und er verwirklichte ihn. Vornehmheit? Die kam uns aus den Ohren raus. Das machte mich nicht nur zum Sohn, sondern auch zu einem Erben. Und wenngleich ich den gekünstelten Lebensstil meines Vaters schon in frühem Alter durchschaute, hinderte mich das nicht daran, die damit gebotenen Vorteile voll zu nutzen. Aber jetzt wandte ich mich der Aufgabe zu, Eintragungen in mein Tagebuch zu machen. Um das zu tun, war ich gezwungen, eine Lesebrille aufzusetzen. Ja, im zarten Alter von siebenunddreißig zeigte sich, daß meine Augen im Nahbereich etwas an Scharfsicht vermissen ließen, und ich brauchte die horngeränderten Gläser, um auf kurze Entfernung Durchblick zu haben. In aller Öffentlichkeit trug ich die natürlich nie. Wer will schon freiwillig wie ein Atomphysiker aussehen? Ich machte Notizen zu der Wiedererlangung der Briefe von Clarence T. Frobisher. Dann schrieb ich das wenige nieder, was ich von meinem Vater bezüglich des angeblichen Diebstahls der InvertedJenny-Briefmarken aus dem Wandsafe im Schlafzimmer von Lady Cynthia Horowitz erfahren hatte. Ich kritzelte nieder, daß ich die Horowitz anrufen und mit ihr schnellstens einen Termin vereinbaren müsse. 11
Dann, auf mein Tagebuch starrend, machte ich eine letzte Notiz, die mich erstaunte. Sie lautete: »Jennifer Towley!!!«
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I
ch verschlief, und als ich schließlich treppabwärts marschierte, war mein Vater bereits zum Büro aufgebrochen (gewöhnlich fahren wir gemeinsam dorthin), und meine Mutter töpferte in der Töpferei herum. All dies erfuhr ich von Olson, unserem Diener, der in der Küche saß, eine Pfeife rauchte und eine Tasse schwarzen Kaffee trank, in den er vielleicht einen Schuß Aquavit gegeben hatte. Er erzählte mir auch, daß Ursi, seine Frau, den Kombi genommen habe, um für unser heutiges Abendessen frischen Grouper zu kaufen. Natürlich werden Sie glauben, daß ein Mann, durch dessen Adern die roten Blutkörperchen von Wikingern tanzen, einen Namen wie Lars oder Sven hat. Aber Olsons Vorname war Jamie, und das war nicht die Koseform von James. Er hieß ganz einfach Jamie. Er war ein runzliger alter Kauz, etwa so alt wie mein Vater, und er und seine Frau waren bei uns gewesen, seit ich denken konnte. Sie waren kinderlos, und beide schienen damit zufrieden, bei uns zu arbeiten, solange sie morgens aus dem Bett kommen konnten. »Eier?« fragte Jamie. Ich schüttelte den Kopf. »Roggentoast und Kaffee, ich bin auf Diät.« Er machte sich auf seine bedächtige Art an die Arbeit. Beide Olsons waren gute Köche, aber für einen Job in einem Schnellimbiß 12
hätten sie sich nie qualifizieren können. Nicht, daß sie trödelten, sie waren einfach energielos. »Jamie«, sagte ich, »kennst du Kenneth? Er fährt für Lady Horowitz.« »Ich kenne ihn.« »Wie heißt er mit Nachnamen?« »Bodin.« »Was ist er für ein Typ?« »Groß.« Ich seufzte. Es ist nicht schwer, Informationen von Olson zu bekommen, aber es dauert seine Zeit. »Wie lange ist er schon bei der Horowitz – weißt du das?« Er schwieg einen Augenblick, um nachzudenken. »Vielleicht fünf, sechs Jahre.« »Das könnte hinkommen«, sagte ich. »Vor ein paar Jahren wurde gemunkelt, daß er mehr als nur ihr Chauffeur sei. Hast du darüber was gehört?« »Ja«, sagte Jamie. Er brachte mein Frühstück und schenkte sich selbst noch Kaffee nach. »Glaubst du, daß da was dran war?« Ich blieb hartnäckig. »War vielleicht«, sagte er. »Damals. Aber nicht mehr.« Ich ließ mich durch seine Verschlossenheit nicht täuschen. Er genoß Klatsch ebenso wie ich. Dazu müssen Sie wissen, daß Palm Beach ein Klatschparadies ist. Tatsächlich ist es sogar die Klatschmetropole der ganzen Welt. In Palm Beach klatscht jeder. »Ist dieser Kenneth Bodin verheiratet?« drängte ich ihn weiter, wobei ich meinen Toast mit der Mangomarmelade bestrich, die Jamie vorsorglich herausgestellt hatte. »Nee.« »Freundin?« »Vielleicht.« 13
»Jemand, den ich kennen könnte?« Langsam nahm er seine erkaltete Pfeife aus dem Gebiß und betrachtete mich ernst. »Sie gibt Massagen«, sagte er. »Ehrlich?« fragte ich interessiert. »Also im Augenblick habe ich keine Bekanntschaft mit irgendwelchen Masseusen. Arbeitet sie in West Palm Beach?« »Hat sie«, sagte Olson. »Bis die Bullen ihr den Laden dichtgemacht haben.« »Und was macht sie jetzt?« Er starrte mich noch immer an. »Dies und das«, meinte er. »Na schön«, sagte ich eilig. »Ich hab' verstanden. Versuche bitte, ihren Namen und ihre Anschrift herauszubekommen.« Er nickte. Ich beendete mein Frühstück und ging ins Arbeitszimmer meines Vaters, um sein Telefonbuch und sein Telefon zu benutzen. Der alte Herr steckt seine Telefonbücher in Hüllen. Natürlich machen das andere Leute auch, aber die meisten benutzen Klarsichthüllen. Mein Vater hingegen ließ seine Telefonbücher in echtes Leder einbinden. Ich suchte die Nummer von Lady Cynthia Horowitz heraus und wählte sie. Ich bekam den Diener an die Strippe, sagte, wer ich war, und bat darum, mit der gnädigen Frau verbunden zu werden. Statt dessen – mir war klar, daß das so kommen würde – hatte ich Consuela Garcia am Apparat. Sie war Lady Cynthias Privatsekretärin und Faktotum. Ich kannte Consuela, die während der Mariel-Aktion aus Havanna herübergekommen war. Ein paar Jahre zuvor hatten sie und ich eine leidenschaftliche Romanze, die immerhin drei Wochen währte. Dann fand sie heraus, daß ich für Hochzeitsglocken stocktaub bin, und gab mir den Korb. Das war fair. Aber wir waren noch immer Freunde, glaubte ich, obwohl wir uns, wenn wir uns jetzt auf Partys und Bällen treffen, nur die Hände schütteln, statt uns zu küssen. 14
»Archy«, sagte sie, »wie schön, von dir zu hören.« »Wie geht's dir, Connie?« »Sehr gut, danke.« »Ich hab' dich letzten Samstag im ›Wellington‹ gesehen«, erzählte ich ihr. »Du warst da in Begleitung eines sehr stattlichen Burschen. Ist der neu?« »Nicht direkt«, sagte sie lachend. »Er ist gebraucht. Was kann ich für dich tun, Archy?« »Einen Termin mit Lady C. Eine halbe Stunde, allenfalls eine Stunde.« »Worum geht es?« »Eine Wohltätigkeitsspende«, sagte ich, da ich nicht wußte, ob die Horowitz ihr vom Verschwinden der Inverted Jennies erzählt hatte. »Wir müssen einfach etwas tun, um die Spitznasengerbilen zu retten.« »Die was?« »Die Spitznasengerbilen. Das sind entzückende kleine Tiere, aber vom Aussterben bedroht, Connie, wirklich bedroht.« »Ich weiß nicht«, sagte sie zweifelnd. »In letzter Zeit tritt jeder an sie heran, damit sie hilft, dies oder das zu retten.« »Versuch's einfach«, drängte ich. Ein paar Augenblicke später kam sie wieder ans Telefon. »Wenn du sofort rüberkommen kannst«, sagte sie, wobei sie sehr überrascht wirkte, »empfängt Lady Cynthia dich.« »Danke, Connie«, erwiderte ich unterwürfig. Ich kann mich sehr unterwürfig geben. Der Miata ist kein Wagen, bei dem man die Tür öffnet, um einzusteigen. Wie bei dem alten MG schwingt man sich auf den Fahrersitz, als besteige man ein Schlachtroß. Also schwang ich mich und fuhr auf der A1A nordwärts. Das Anwesen von Lady Horowitz lag nur ein Stück die Straße hinauf, wie man in Florida sagt, und der Verkehr war freundlicherweise so gering, daß ich mein Schlacht15
roß galoppieren lassen konnte. Während ich fuhr, überdachte ich, was ich über die Frau wußte, mit der ich mich gleich unterhalten würde. Ihr vollständiger Name lautete Lady Cynthia Kirschner Gomez Stanescu Smythe DuPey Horowitz. Neben dem Sternenbanner flatterten um ihren Swimming-pool die sechs Flaggen der Heimatländer ihrer Ex-Männer. Jeder fand, dies sei eine nette Geste. Durch die Abfindungen bei ihren Scheidungen war sie in der Tat eine sehr wohlhabende Frau geworden. Ihren Titel hatte sie durch ihren letzten Gatten gewonnen, Leopold Horowitz, der dafür zum Ritter geschlagen worden war, daß er sein ganzes Leben der Erforschung der Paarungsgewohnheiten fliegender Käfer gewidmet hatte. Er war ein Jahr nach seinem Ritterschlag bei dem Versuch, ein Paar der schwer faßbaren Viecher in flagranti mit seinem Netz zu erhaschen, von einem sehr hohen Baum am Amazonas gestürzt. Seine Witwe flog unverzüglich nach Paris, um bei Christian Lacroix ein schwarzes Kleid zu erwerben. Lange bevor ich Lady Cynthia begegnete, hatte ich gehört, daß viele Leute sie als ›große Schönheit‹ bezeichneten. Aber als ich ihr dann schließlich vorgestellt wurde, fiel es mir schwer, meinen Schreck zu verbergen. Es wäre nicht gentlemanlike, eine Frau als häßlich zu bezeichnen. Ich möchte deshalb nur sagen, daß ich sie ungewöhnlich reizlos fand. Wenngleich sie auch nicht direkt ein altes Weib war, so hatte sie doch eine lange Nase mit hängender Spitze und ein aufwärts gerichtetes, spitzes Kinn. Ich konnte nicht verstehen, daß das Alter die Gesichtszüge einer ›großen Schönheit‹ derart verwüstet haben sollte. »Gott, sie muß ja über achtzig sein«, bemerkte ich gegenüber meinem Vater. »Unsinn«, sagte er ziemlich scharf. »Sie ist ein Jahr jünger als ich.« Dennoch konnte ich weder die Legende von der ›großen Schön16
heit‹ begreifen, noch wie sie es geschafft hatte, so viele Ehemänner zu angeln. Das Rätsel wurde gelöst, als eine Boulevardzeitung einen Sensationsartikel über Lady Cynthia und ihre Ehen und außerehelichen Affären veröffentlichte. Der Artikel war, wie man so sagt, freizügig illustriert und lieferte den Grund ihrer Anziehungskraft. Sie wurde als Cynthia DiLuca in Chicago geboren, Tochter eines Schlachters, und schon in frühester Kindheit, so wurde festgestellt, hatte sie ein Gesicht, das eine Timex zum Stillstand brachte. Als Ausgleich dafür war sie aber mit einem Körper gesegnet, der so üppig war, daß die ersten von ihr publizierten Aktfotos jeden Opa dieser Welt ausflippen ließen. Während der vierziger und fünfziger Jahre posierte sie für viele Fotografen und Künstler. Ihr Gesicht war üblicherweise abgewandt, in Schatten getaucht oder mit einem Gazeschal verdeckt. Ein Fotograf ging sogar so weit, einen attraktiven Frauenkopf auf Cynthias Körper zu montieren, aber die Betrachter ließen sich nicht täuschen. Ihre Figur war weltweit bekannt und geliebt. Selbst der unsterbliche Picasso malte ihr Porträt. Jetzt, im Alter von über siebzig, besaß sie offensichtlich noch immer den Körper, der die Welt fünfzig Jahre zuvor elektrisiert hatte. Ebenso hatte sie mehr Verrücktheiten beibehalten, als jemand, gleich ob Mann oder Frau, eigentlich haben durfte. Ihre Temperamentsausbrüche waren legendär. Sie war berüchtigt wegen einer langen Liste von Dingen, die sie verabscheute, wozu Zigarren, Hunde und Ludenringe tragende Männer gehörten. Aber ganz oben auf ihrer Verabscheuungsliste standen Klimaanlagen und direktes Sonnenlicht – was es schwer machte zu verstehen, warum sie beschlossen hatte, ihre verbleibenden Lebensjahre ausgerechnet in Südflorida zu verbringen. Alles in allem stand sie in dem Ruf, eine ekelhafte alte Dame zu sein, die reizbar und – wenn provoziert – unflätig war. Aber von der Gesellschaft in Palm Beach wurde sie toleriert, ja sogar als 17
echter ›Typ‹ geschätzt. Ihre Popularität war zum Teil auf ihre Großzügigkeit zurückzuführen. Sie veranstaltete wundervolle Partys und Galadinners, und nur wenige lehnten ihre Einladungen ab, vornehmlich, weil bekannt war, daß sie es für völlig unakzeptabel hielt, in den Häusern anderer Leute oder gar in Restaurants zu essen. Zudem erwartete sie von ihren Gästen nicht, daß ihre Gastfreundschaft erwidert wurde. Sie hatte einen ausgezeichneten Grund dafür, daß sie bei sich aß: Der beste französische Koch Südfloridas war ihr Angestellter. Nachdem ich all dies gesagt habe, muß ich noch hinzufügen, daß Lady Cynthia Horowitz die Familie McNally stets mit nichts weniger als geradezu bezaubernder Höflichkeit behandelt hat. Meine Mutter, mein Vater und ich haben mit ihr mehrere Male gegessen, und eine freundlichere Gastgeberin und faszinierendere Erzählerin bei den Brandys nach dem Essen kann es nicht geben. Ihr Heim sah wie eine Südstaatenplantage aus der Vorkriegszeit aus: Tara an Floridas Goldküste versetzt. Der einzige Anachronismus in dieser idyllischen Szenerie waren die von Stacheldraht gekrönte hohe Mauer aus Korallenblöcken und ein großer Patio und ein Swimming-pool hinter dem Haupthaus. Zu eben diesem Poolbereich führte mich der farbige Diener, und ich freute mich, als ich die Flaggen der Ex-Ehemänner fröhlich im Wind flattern sah. Lady C. streckte sich im Schatten eines Tisches mit Sonnenschirm auf einer Chaiselongue. Sie lag nicht nur im Schatten, sondern war in einen weißen Flanellmantel gehüllt, trug weiße Socken, um Füße und Knöchel zu schützen, und lange weiße Handschuhe, um ihre Handgelenke und die Hände vor der Sonne zu beschirmen. Und sie hatte natürlich einen breitkrempigen Panamastrohhut auf. Beim Näherkommen sah ich, daß sie zwei Telefone, ein Funktelefon und ein normales, in Reichweite hatte. Sie benutzte das normale und winkte mich zu einem Regiestuhl, der neben ihr stand, 18
während sie ihr Gespräch fortsetzte. Ich hörte es zwangsläufig mit. »Nein, nein und nochmals nein«, sagte sie aufgebracht. »Vergiß das. Ich will kein Wort mehr darüber hören. Hör zu, Süße, wenn ich glaubte, es sei menschenmöglich, würde ich dir sagen: Fick dich. Habe ich mich klar und deutlich genug ausgedrückt?« Sie legte auf und funkelte mich wütend durch ihre grüngefärbte Sonnenbrille an. »Kennen Sie Mercedes Blair?« wollte sie wissen. »Ich glaube, das Vergnügen hatte ich noch nicht«, erwiderte ich. »Glauben Sie mir, mein Junge«, sagte sie bitter, »ein Vergnügen ist das nicht. Diese Frau ist eine der größten Spinnerinnen von Palm Beach. Als ich das letzte Mal in Kairo war, habe ich diesen absolut göttlichen Elfenbeindildo gekauft. Nach meiner Rückkehr machte ich den Fehler, ihn Mercedes zu zeigen, da ich nicht wußte, daß sie zu diesen Rettet-die-Elefanten-Leuten gehört. Gut, sie wurde fuchsteufelswild und hackt seitdem wie verrückt auf mir herum. Sie will, daß ich ihn wegwerfe! Können Sie sich das vorstellen? Ich kann ihr einfach nicht in ihr winziges Spatzenhirn einbläuen, daß dieser Elefant schon vor Jahrhunderten über den Jordan gegangen ist. Dieser Elfenbeindildo ist altägyptisch, eine wundervolle Antiquität und außerdem recht nützlich. Aber sie besteht darauf, daß ich mich von ihm trenne. Solange ich lebe, werde ich mit dieser Dumpfnase nicht mehr sprechen.« Schon vor Jahren bin ich zu der Erkenntnis gekommen, daß das Leben doch seltsam ist. Daraufhin kam ich zu dem Schluß, der einzige Weg, bei Verstand zu bleiben, sei, die Unbegreiflichkeit des Lebens als gegeben hinzunehmen. Alles zu akzeptieren und einfach verstehend zu nicken. Also lauschte ich der Geschichte des Elfenbeindildos, nickte verstehend und gab mitleidsvolle Geräusche von mir. Lady Cynthia beendete ihre Tirade und beugte sich vor, um nach einem Glas zu greifen, das neben ihrer Chaiselongue stand. Es enthielt ihren ersten Gin-Bitter-Lemon des Tages, wie ich vermutete. 19
Sie nahm einen Schluck und entspannte sich sichtlich. »Wollen Sie einen Drink, mein Junge?« fragte sie freundlich. »Im Augenblick nicht, danke.« »Diese Geschichte, die Sie Connie von den Spitznasengerbilen erzählt haben – das war doch völliger Unsinn. Richtig?« »Richtig«, sagte ich. »Und Sie wollen Fragen wegen meiner verschwundenen Briefmarken stellen. Prescott sagte, Sie würden sich darum kümmern. Also fragen Sie.« »Wer weiß vom Verschwinden der Inverted Jennies?« »Ich, Ihr Vater und Sie.« »Sie haben es nicht jemand von Ihrem Personal erzählt?« Sie schüttelte den Kopf. »Vielleicht hat einer von ihnen die Marken geklaut«, sagte sie düster. »Vielleicht«, meinte ich. »Lassen Sie mich mal überlegen... Außer Connie haben Sie einen Butler, eine Haushälterin, zwei Dienstmädchen, einen Koch und einen Chauffeur. Richtig?« »Falsch«, sagte sie. »Der Butler und eines der Dienstmädchen sind vor zwei Wochen gegangen. Sie behaupteten, sie könnten den Sommer in Florida nicht ertragen. Idioten!« »Bleiben also fünf vom Personal«, fuhr ich fort. »Lebt sonst noch jemand im Haus?« »Mein Sohn Harry Smythe und seine Frau Doris. Außerdem mein Sohn Alan DuPey und seine Frau Felice. Die sind erst seit einem Monat verheiratet. Und meine Tochter Gina Stanescu. Dazu Angus Wolfson, ein alter Freund. Er kommt aus Boston und bleibt ein paar Wochen hier. Er ist schwul – aber was soll's?« »Volles Haus«, bemerkte ich. »Waren alle hier, als die Briefmarken verschwanden?« Sie nickte. »Wer, außer Ihnen, kannte die Kombination des Wandsafes?« »Niemand. Aber das ist unwichtig. Ich verschließe ihn nie.« 20
Ich schaute sie an und seufzte. »Ich hätte jetzt doch gerne den Drink«, sagte ich. »Aber natürlich. Was?« »Wodka mit Tonic wäre schön.« Sie benutzte das Funktelefon, um ihre Küche anzurufen und meinen Drink zu bestellen. »Lady Cynthia«, sagte ich, »warum haben Sie Ihren Wandsafe nicht verschlossen?« »Mich langweilt das furchtbar«, sagte sie. »Diese dämliche Kombination – die habe ich ständig vergessen und mußte meinen Schreibtisch durchwühlen, um sie wiederzufinden. Außerdem habe ich den Menschen vertraut.« Darauf gab ich nicht die naheliegende Antwort. Wir warteten schweigend, bis Mrs. Marsden, die Haushälterin – ein mütterlicher Typ –, kam und meinen Drink brachte. Darin lag eine dicke Limonenscheibe – genau so, wie ich's mochte. Nachdem die Haushälterin gegangen war, sagte ich: »Ich will nicht unhöflich sein. Wenn Sie sich nicht an die Safekombination erinnern konnten, ist es dann nicht möglich, daß Sie einfach vergessen haben, wo Sie die Briefmarken hingelegt haben?« Sie schüttelte den Kopf. »Die steckten nicht in einem Umschlag. Die befanden sich zwischen Plastikseiten in einem kleinen Buch, das ungefähr die Größe eines Tagebuchs hatte. Es war ein kleines Buch, in rotes Leder gebunden, eigens für die Inverted Jennies hergestellt. So etwas verlegt man nicht leicht. Außerdem habe ich das Haus auf den Kopf gestellt, als ich danach suchte. Das Buch ist einfach verschwunden.« »Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich Sie fragen würde, wie Sie in den Besitz dieser Briefmarken gelangt sind?« »Nein«, sagte sie, »dagegen habe ich nichts. Schießen Sie los und fragen Sie.« Ich lachte. »Lady Cynthia, Sie ziehen mich auf.« 21
»Das würde ich nur zu gerne, mein Junge«, erwiderte sie, wobei sie mich anzüglich angrinste, »aber die Leute würden vielleicht reden. Diese blöden, auf dem Kopf stehenden Briefmarken waren Bestandteil meiner Scheidungsabfindung nach der Trennung von meinem ersten Mann Max Kirschner. Der gute alte Max. Er trug meine Unterwäsche so gerne, aber er verstand es wirklich, eine Bank zu managen. Er hat die Briefmarken in Triest gekauft. Für den Viererblock hat er, glaube ich, zehntausend Dollar bezahlt. Aber das ist natürlich eine mittlere Ewigkeit her.« »War er Briefmarkensammler?« »Nein, er liebte nur seltene Dinge. Wie mich.« »Also schön«, fuhr ich fort, »wenn die Briefmarken nicht verlegt wurden, wollen wir annehmen, sie seien geklaut worden. Gibt's eine bestimmte Person, von der Sie fürchten, daß sie klebrige Finger hat?« Die Frage beunruhigte sie. »Ich hasse die Vorstellung, daß es jemand von meinem Personal war. Die sind alle seit Jahren bei mir.« »Aber Sie sagten, der Butler und eines der Dienstmädchen seien gegangen. War das, bevor die Marken verschwanden oder nachdem Sie den Verlust bemerkt hatten?« Sie dachte einen Augenblick nach. »Nein, die Briefmarken waren noch da, nachdem der Butler und das Dienstmädchen gegangen waren. Ich erinnere mich jetzt: Sie gingen, und am nächsten Tag tauchte Alan DuPey mit seiner Frau auf. Felice hatte die Briefmarken noch nie gesehen. Deshalb holte ich sie an diesem Abend während des Essens herunter, um sie ihr zu zeigen. Dann, nach dem Abendessen, brachte ich sie wieder nach oben und legte sie in den Wandsafe. Da habe ich sie zum letzten Mal gesehen.« »Gab's am Haus irgendwelche Spuren eines Einbruchs? Aufgebrochene Türen oder eingeschlagene Fenster – irgendwas in der Richtung?« 22
»Nein. Und Mrs. Marsden schaltet immer das elektronische Alarmsystem ein, sobald das Tor nachts verriegelt worden ist.« »Sind Sie sicher, daß sie es jede Nacht einschaltet?« »Absolut. Wenn's um Mitternacht nicht eingeschaltet ist, erinnert mich der Sicherheitsdienst telefonisch daran.« »Und was machen Sie, wenn Sie eine Party geben, die bis in die frühen Morgenstunden dauert?« »Für solche Anlässe engagiere ich immer ein oder zwei Wachmänner. Dann, wenn alle heimgegangen und die Wachmänner abgezogen sind, wird das Tor verschlossen und die Alarmanlage aktiviert.« »Ausgesprochen effizient«, sagte ich und schaute in mein halbleeres Glas. Darin gab's keine Spuren. »Also gut, vergessen wir mal den Gedanken an einen Einbruch oder daß jemand vom Personal die Marken geklaut haben könnte. Aber wie sieht's mit den Gästen in Ihrem Haus aus?« »Nun werden Sie aber nicht albern«, schnappte sie. »Mein Gott, Junge, die gehören zur Familie. Mal abgesehen von Angus Wolfson, und den kenne ich seit Jahren.« »Oha«, sagte ich. »Und die sind alle gutsituiert?« »Von denen darbt keiner.« Sie legte eine Pause ein, um ihr Glas zu leeren, und zerbiß knirschend das Eis. »Aber natürlich, wenn's um Geld geht, ist genug nie genug – wenn Sie wissen, was ich meine.« Ich nickte. »Lady Cynthia, wenn Sie wollen, daß McNally und Sohn diese Angelegenheit vollständig untersuchen, müssen Sie Ihrem Personal und Ihren Gästen von dem Diebstahl erzählen.« Sie starrte mich empört an. »Wenn ich das tue, ist das binnen zwei Stunden in Palm Beach herum.« »Stimmt«, bemerkte ich, »aber das ist nicht zu ändern.« »Aber genau darum habe ich mich nicht an die Polizei gewandt. Ich wollte, daß die ganze Angelegenheit vertraulich behandelt wird.« »Das ist nicht drin«, meinte ich kopfschüttelnd. »Wie, zum Teu23
fel, soll ich diskret ermitteln, wenn die Leute nicht wissen, wovon ich überhaupt rede?« Sie dachte darüber nach. »Ich glaube, Sie haben recht«, sagte sie schließlich seufzend. »Aber das bedeutet Bullen, Reporter, das Fernsehen. Was soll ich denen erzählen?« »Lügen«, rief ich. »Erzählen Sie ihnen, die Briefmarken seien überhaupt nicht gestohlen worden, sondern an ein Auktionshaus in New York geschickt worden, wo sie geschätzt werden sollen.« Sie lachte. »Sie sind ein gerissenes Kerlchen, wissen Sie das? Schön, ich werde das dem Personal und den Gästen sagen.« »Gut. Und dann kann ich endlich loslegen.« Ich setzte mein Glas auf dem Tisch unter dem Sonnenschirm ab und erhob mich. »Noch eine Bitte. Ich würde mir gerne einmal den sogenannten Tatort ansehen, falls ich darf. Haben Sie was dagegen, wenn ich mich ein paar Minuten in Ihrem Schlafzimmer umschaue?« »Schauen Sie«, sagte sie. »Sie kennen sich doch im Haus aus, oder?« »Nur im Erdgeschoß.« »Mein Schlafzimmer liegt im zweiten Stock. Südflügel. Erstreckt sich übers ganze Haus. Von den Ostfenstern aus schaut man auf den Ozean. Die Westfenster sind auf den Pool und den Patio gerichtet.« Sie zeigte nach oben, und ich schaute zum zweiten Stock hinauf, wo die geöffneten Fenster, vergittert, von Fensterläden umrahmt waren. »Sie können überall reinschauen, wo Sie wollen«, sagte sie. »Verschlossen ist nichts.« »Es wird nicht lange dauern«, versprach ich. »Danke für den Drink.« Ich wollte gehen, aber sie rief: »Archy«, und ich drehte mich um, überrascht, weil sie mich beim Namen genannt hatte. Gewöhnlich war ich der ›Junge‹ oder, wenn sie zu anderen von mir sprach, 24
›Prescotts Sohn‹. Sie starrte mich einen Augenblick an, und ich wartete. »Gestern abend haben Sie im ›L'Europe‹ gegessen«, sagte sie, fast anklagend. »Mit Jennifer Towley.« »Oho«, erwiderte ich, »die Buschtrommel hat sich aber schnell gerührt.« »Haben Sie ein Verhältnis mit ihr?« wollte sie wissen. »Noch nicht.« »Seien Sie vorsichtig, Junge«, fuhr sie fort. »An der ist mehr, als man sieht. An Ihrer Stelle würde ich diese Verbindung schnellstens beenden. Die Dame könnte sich als ein Problem entpuppen.« Ich setzte den Weg zum Hause fort, überlegte, was, zum Henker, sie damit andeuten wollte, und kam zu dem Schluß, daß es sich um Palm-Beach-Klatsch handelte. Das Innere des Hauses war großartig und umso beeindruckender, als ich wußte, daß die Dame des Hauses die Einrichtung selbst ausgewählt hatte. Es war eine Mischung aus viktorianischem, LouisQuinze- und frühamerikanischem Stil, und auch ein paar BauhausElemente fehlten nicht. Ich weiß, daß das nach Mischmasch klingt, aber alles paßte, nichts biß sich. Die vorherrschenden Farben waren volle Weintöne, eine willkommene Abwechslung von den Sorbetpastelltönen der meisten Landhäuser Südfloridas, von denen viele der Lobby eines Miami-Beach-Hotels ähneln. Lady Cynthias Schlafzimmer war groß genug, um ein enormes, bordeauxrot lackiertes Himmelbett, einen riesigen, mit Schnitzereien verzierten Kleiderschrank aus Pinienholz, ein mit tanzenden Putten bemaltes Schreibpult und noch viel, viel mehr aufzunehmen. Der begehbare Schrank ihres Ankleideraumes enthielt genügend Kostüme, um die weiblichen Mitwirkenden von ›My Fair Lady‹ auszustatten, und beim Anblick der Reihen von Schuhen hätte Imelda Marcos nur noch mit den Zähnen knirschen können. Das Bade25
zimmer war goldgelb: Kacheln, Wanne, Waschbecken, Toilette, Bidet – alles. Die Wasserhähne waren mattgolden. Ich durchsuchte weder den Schreibtisch, noch drehte ich die Sesselkissen um – nichts dergleichen. Ich war nur an dem Wandsafe interessiert, und der war leicht zu finden, weil er nicht hinter einem Gemälde verborgen oder auf irgendeine andere Weise versteckt war. Er ragte unmittelbar links neben dem Himmelbett etwas aus der Wand. Er war nichts Besonderes: ein einziges Rad, ein einziger Handgriff. Die Tür öffnete sich leicht und geräuschlos. Drinnen lagen mehrere Umschläge, die mit etwas zusammengeschnürt waren, das wie alte Schuhbänder aussah. Ich sah mir den Inhalt nicht an, sondern schloß die Safetür wieder und verriegelte sie mit einer Drehung des Chromstahlgriffes. Mich interessierte die Entfernung von der Schlafzimmertür zum Wandsafe. Ich schritt sie ab. Vierzehn große Schritte. Ich schätzte, daß ein Eindringling binnen einer Minute in das Schlafzimmer huschen, die Safetür öffnen, das kleine rotlederne Buch, das die Inverted Jennies enthielt, herausnehmen, die Safetür schließen und sich wieder aus dem Schlafzimmer entfernen könne. Allenfalls brauchte man zwei Minuten. Dann stieß ich auf ein anderes Problem. Auf einem Nachttisch, fast direkt unter dem Wandsafe, stand eine große schweinslederne Schmuckkassette. Ich hob den Deckel: Es war, als blicke man in eine Präsentationsvitrine von Tiffany. Frage: Welcher Gauner, der auch nur etwas auf sich hielt, würde die Marken einstecken und dann keine Sekunde stehen bleiben, um eine Handvoll dieser glitzernden Steine mitgehen zu lassen? Ein Rätsel. Die Hände in den Taschen, schlenderte ich durch das Schlafzimmer. Ich glaube, ich pfiff: ›Ich war noch nie verliebt‹, als ich zu den Westfenstern spazierte und nach unten schaute. Lady Cynthia paddelte im Swimming-pool herum, offensichtlich nackt, trug aber noch immer ihren Panamahut und die Sonnenbril26
le. Mrs. Marsden stand wartend auf der gefliesten Einfassung des Pools und hielt ein großes Badetuch bereit. Während ich zuschaute, kam Lady Cynthia langsam herausgestiegen. Ihr weißer Körper glänzte feucht, und ich sah, wie außergewöhnlich sie war. Schade, daß ich vierzig Jahre zu spät geboren war.
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nter den Städten Floridas ist Palm Beach die Metropole der Clubs. Es gibt sie im Überfluß: Golfclubs, Tennisclubs, Jachtclubs, Poloclubs. Die wahrscheinlich elegantesten und exklusivsten Clubs auf Palm Beach Island sind der Bath & Tennis und der Everglades. Aber vor ungefähr fünf Jahren tat ich mich mit einigen meiner Saufgefährten zusammen, und da wir übereinstimmend zu der Erkenntnis kamen, daß die Stadt einen anderen Club brauche, beschlossen wir, einen aus der Taufe zu heben. Wir nannten ihn Pelican Club, zu Ehren von Floridas typischem Vogel. Dazu kam, daß die meisten der großmäuligen Gründungsmitglieder dem Pelikan ähnelten: anmutig und zauberhaft im Flug, schwerfällig und mürrisch im Ruhezustand. Wir fanden ein altes, zweistöckiges Holzhaus in Flughafennähe, das wir uns leisten konnten. Es hatte den Vorteil, etwas isoliert zu liegen. Es gab keine direkten Nachbarn, die sich über den Rummel hätten beschweren können. Wir warfen zusammen, kauften das Haus, renovierten es, und der Pelican Club öffnete seine Pforten. Er hätte sie sechs Monate später fast wieder geschlossen. Wir waren Anwälte, Bankiers, Börsenmakler, Immobilienmakler, Ärzte 27
und so weiter, hatten aber keine Ahnung, wie man eine Clubbar und ein Restaurant betrieb. Da hatten wir das unglaubliche Glück, die Pettibones anstellen zu können, eine afro-amerikanische Familie, die in einem der lauten Viertel von West Palm Beach gewohnt hatte und da heraus wollte. Alle hatten in Restaurants und Bars gearbeitet und wußten, wie ein Etablissement, das Speise und Trank bot, geführt werden mußte. Sie zogen in unseren ersten Stock ein, und der Vater, Simon Pettibone, wurde Clubmanager und Barkeeper. Sohn Leroy war unser Koch, die Tochter Priscilla unsere Bedienung, und Frau Jas (das steht für Jasmine) wurde Haushälterin und Mutter der Höhle. Innerhalb eines Monats hatten die Pettibones den Club geradezu bewundernswert ins Laufen gebracht, und derart viel Möchtegern-Pelikane beantragten die Mitgliedschaft, daß wir die Schotten dicht machten und eine Warteliste auflegten. Der Pelican Club widmete sich selbstredend nicht ausschließlich dem Feiern. Wir engagierten uns für gute Taten. Einmal im Jahr veranstalteten wir einen Kostümball, unsere Riesenfete des Jahres. Sämtliche Erlöse aus dieser Orgie kamen einem Heim für unverheiratete Mütter zugute, da viele unserer Mitglieder eine persönliche Verantwortung dafür fühlten. Außerdem gründeten wir eine sechsköpfige Jazz-Combo, und wir traten nur zu gern – ohne Gage – bei öffentlichen Veranstaltungen und in Altenpflegeheimen auf. Ein Musikkritiker aus Palm Beach schrieb über eine unserer Vorstellungen: »Es verschlägt mir die Sprache.« Eine bessere Kritik kann man sich nicht wünschen. Nach diesem anregenden Morgen bei Lady Horowitz steuerte ich mit dem Miata den Pelican Club an. Es war inzwischen fast halb zwölf, doch der Verkehr über die Royal Park Bridge am Lake Worth war dicht, und als ich im Club ankam, war es kurz nach Mittag. Als ich eintrat, waren keine Mitglieder anwesend, doch Simon Pettibone stand hinter der Bar, polierte Gläser und schaute dabei 28
auf den Fernseher, wo gerade die Aktienkurse gesendet wurden. Ich schwang mich auf einen Barhocker. »Gewinnen oder verlieren Sie, Mr. Pettibone?« forschte ich. »Ich verliere, Mr. McNally«, erwiderte er. »Aber ich werte dies als Lehre.« »Sehr weise«, sagte ich. »Einen Wodka-Tonic, bitte, mit einem Limonenschnitz.« Er begann den Drink zuzubereiten, und ich ging zu der Telefonzelle im hinteren Teil der Bar. Ich rief das Palm Beach Police Department an, kurz und bündig PBPD. Ich ließ mich mit Sergeant Al Rogoff verbinden. »Rogoff«, meldete er sich mit seiner matten Reibeisenstimme. »Archy McNally hier«, sagte ich. »Sir, was kann ich für Sie tun?« Wenn Al so redet, weiß ich, daß jemand neben ihm steht – wahrscheinlich sein Lieutenant oder sein Captain. »Ist dir nach was Beißbarem?« fragte ich. »Ich spendiere dir einen erstklassigen Hamburger und dazu einen Eimer Dröhnwasser.« »Ihr Alfa-Romeo ist verschwunden, Sir?« fragte er. »Das tut mir leid. Einen Autodiebstahl müssen Sie schriftlich melden. Wo befinden Sie sich, Sir?« »In der Bar des Pelican Club.« »Dieses Bürogebäude kenne ich«, erwiderte er. »Ich denke, ich kann in einer halben Stunde bei Ihnen sein. Dann können Sie mir alle Einzelheiten des vorgeblichen Diebstahls nennen.« »Beeil dich«, bat ich. »Ich bin hungrig.« Ich kehrte an die Bar zurück, wo mein Drink auf einem Untersetzer wartete. Ich nahm einen Schluck. Genau richtig. »Mr. Pettibone«, sagte ich, »das Leben ist seltsam.« »Bizarr ist das richtige Wort, Mr. McNally«, erwiderte er. »Exakt«, meinte ich. Sergeant Al Rogoff war der eigentliche Besitzer dieses Adjektivs. 29
Ich hatte in der Vergangenheit bei ein paar Fällen mit ihm zusammengearbeitet – zu unserem beiderseitigen Nutzen – und kannte ihn inzwischen besser als die meisten meiner Kollegen. Er spielte den guten alten Jungen: einen rüden, profanen ›Kumpel‹, der Frauen ›Bräute‹ nannte und vorgab, nichts mehr zu lieben als ein Wochenende auf einem Luftkissenboot in den Everglades, BudweiserDosen aufzureißen und mit dem Lasso Alligatoren zu fangen. Er fuhr sogar einen Lieferwagen. Ich glaube, daß er sich hinter dieser Schluckspecht-Maske verbarg, weil er dachte, dies sei seiner Karriere als Gesetzeshüter in Südflorida dienlich und werde ihn weiterbringen. Tatsächlich wußte er, wer Heidegger war, und fand an Vivaldi Gefallen. Das Gesicht hinter der Maske hatte er nicht freiwillig enthüllt. Ich hatte langsam und geduldig herausgefunden, wer er wirklich war. Er wußte das, und statt beleidigt zu sein, war er heimlich erleichtert, denke ich. Es mußte ungeheure Mühe kosten, fortwährend eine Rolle zu spielen, immer in der Angst zu leben, einen Fehler zu machen, der die Täuschung verriet. Mir gegenüber brauchte er nicht zu schauspielern, und ich glaube, dies war der Grund, warum er bereit war, mir offiziell Hilfe zu geben, wenn meine ›diskreten Nachforschungen‹ das erforderlich machten. Als er schließlich in sauber gebügelter Uniform durch die Eingangstür marschiert kam, war der Barraum des Pelican Club mit der Menge gefüllt, die hier zu Mittag essen wollte, und die Leute bewegten sich bereits zu dem hinteren Bereich, wo ein Schild an einem Pfosten nichts über Jackett- und Krawattenzwang sagte, sondern verkündete: ›Mitglieder und ihre Gäste werden gebeten, im Restaurant Schuhe zu tragen.‹ Ich merkte, daß ein paar Gäste vorsichtige Blicke auf den uniformierten Bullen warfen, der hier eingedrungen war. Befürchteten sie eine Razzia, oder waren sie einfach von diesem bewaffneten Eindringling verwirrt, der wie ein Boxer gebaut war? 30
Ich führte ihn ins Restaurant, wo Priscilla einen Ecktisch für mich reserviert hatte. Wir bestellten beide Hamburger, die mit Fritten und hausgemachtem Kohlsalat serviert wurden. Wir bestellten außerdem zwei Krüge frisch gezapftes Heineken. Während wir darauf warteten, daß das Essen serviert wurde, knabberten wir an eingelegten Dillgurken, die in Steinkrügen auf jedem Tisch standen. Der Pelican Club bot keine Haute cuisine, aber Leroy Pettibones Speisen setzten an den Rippen an. »Wieviel Zeit hast du?« fragte ich Al. »Maximal eine Stunde«, sagte er. »Was liegt an?« »Ich möchte ein Verbrechen melden.« »Ach?« sagte er. »Hast du eine Kaffeekanne sexuell mißbraucht?« »In jüngster Zeit nicht«, sagte ich. »Aber dies ist vielleicht überhaupt kein Verbrechen. Und das angebliche Opfer will es nicht der Polizei melden. Wenn du davon hörst oder darüber liest und das angebliche Opfer verhörst, wird es erklären, daß kein Verbrechen begangen worden sei.« »Ich liebe das«, sagte Al. »Ich liebe das einfach. Angebliches Verbrechen. Angebliches Opfer. Und ich muß mir diesen Scheiß für einen Gratis-Hamburger anhören? Okay, ich bin nicht hochmütig. Wer ist das angebliche Opfer?« »Lady Cynthia Horowitz.« Er spitzte die Lippen zu einem lautlosen Pfeifen. »Mrs. Oberscharf persönlich? Das dickt den Käse aber gewaltig. Sie ist einflußreich. Und was ist das angebliche Verbrechen?« »Der mögliche Diebstahl wertvollen Eigentums.« »Der Koh-i-noor-Diamant?« »Nein«, sagte ich. »Vier Briefmarken.« Er schaute mich sorgenvoll an. »Mit einfachen Sachen kommst du nie«, sagte er. »Etwa mit Massenmord oder einem Bombenattentat auf einen Supermarkt. Bei dir muß immer alles so raffiniert sein. Na schön, Sportsfreund, erzähl mir von den vier Briefmarken.« 31
Aber in dem Augenblick wurde unser Essen serviert, und wir schwiegen, bis Priscilla gegangen war. Zwischen Beißen und Schlucken erzählte ich ihm die ganze Geschichte der Inverted Jennies und daß ein Viererblock des Briefmarkenfehldrucks aus dem Wandsafe im Schlafzimmer von Lady Horowitz verschwunden sei. Al hörte zu, ohne mich zu unterbrechen. Dann, als ich fertig war, erwiderte er: »Weißt du, dieser Hamburger ist wirklich super. Was mischt Leroy unters Fleisch?« »Zu dieser Jahreszeit wahrscheinlich gehackte Vidaliazwiebeln. Manchmal nimmt er gehackte rohe und gelbe Pfefferschoten. Der Mann ist der Edison der Hamburger. Und was ist mit den Inverted Jennies?« »Was soll damit sein? Was sollen wir tun?« »Nichts«, sagte ich. »Wenn du zu Lady Cynthia gehst, wird sie dir erzählen, die Briefmarken seien nicht gestohlen worden, sondern zwecks Schätzung an ein New Yorker Auktionshaus geschickt worden.« »Oha«, sagte Al. »Und wer hat sie auf die Idee gebracht? Als ob ich das nicht wüßte.« »Ich«, gab ich zu. »Aber sie will keine Öffentlichkeit.« Al schob seinen leeren Teller zurück und starrte mich an. »Du bist ein gerissenes Kerlchen, weißt du das?« »Du bist die zweite Person, die mir das heute gesagt hat.« »Wer war die erste – Lady Horowitz?« Ich nickte. »Aber das ist nicht wahr«, protestierte ich. »Ich bin nicht gerissen. Ich will nur die Höflichkeit auf der Welt erhalten.« »Natürlich«, meinte Al. »Und ich bin die Märchenfee. Also wenn du nicht willst, daß das PBPD sich einschaltet, was willst du dann?« »Eine kleine Information.« »Das paßt«, sagte er bekümmert. »Mittagessen gibt's nicht umsonst.« »Trink noch ein Bier«, drängte ich ihn. 32
»Nee. Kaffee und ein Stück von Leroys Zitronenkuchen wären eine nette Geste. Das hab' ich mir verdient, dafür, daß ich mir deinen Schmäh anhöre.« Priscilla räumte unseren Tisch ab, und ich gab Als Bestellung auf. Ich begnügte mich mit Kaffee. Schwarz. »Setzest du etwa an?« frozzelte sie. »Unsinn«, meinte ich. »Ich bin noch immer der alte, schlanke, geschmeidige, bronzebraune Apoll.« »Aber sicher«, erwiderte sie, »und ich bin die Märchenfee.« »Zwei ›gerissene Kerlchen‹ an einem Tag«, beklagte ich mich bei Al. »Und jetzt zwei Märchenfeen an einem Tag. Sind aller guten Dinge zwei?« »Aller guten Dinge sind drei«, sagte er. »Das solltest du aber wissen. Und jetzt laß den Quatsch. Was für eine Information willst du?« »Diese Inverted-Jenny-Briefmarken sind höchst selten. Nur hundert wurden ursprünglich verkauft. Ich stelle mir vor, daß sämtliche Briefmarkenhändler und die meisten Sammler sie kennen. Kürzlich ist ein Viererblock für eine Million Dollar weggegangen. Ich will damit sagen, sie sind wertvoll, und sie sind berühmt. Also, einmal angenommen, Lady Cynthias Marken seien wirklich geklaut worden, was will der Dieb damit machen? Das beschäftigt mich, seit ich den Auftrag bekommen habe. An einen normalen Händler kann er sie nicht verkaufen. Der würde wissen wollen, woher er sie hat. Das gilt auch für Auktionshäuser. Wie also profitiert der Verbrecher von seinem Verbrechen?« Schweigen, während Priscilla unseren Kaffee und Als Dessert servierte. »Gibt eine Menge Möglichkeiten«, meinte Al, der sich in seine Torte grub. »Eine ist Lösegeld. Der Halunke setzt sich mit Lady Cynthia in Verbindung und bietet an, ihr die Briefmarken zum Preis X zurückzuverkaufen. Waren sie versichert?« 33
»Für eine halbe Million.« »Wenn die Horowitz sich darauf nicht einläßt, ruft der Gauner die Versicherungsgesellschaft an und versucht, ein Geschäft zu machen. Die Versicherungsleute würden eher hundert Riesen als eine halbe Million zahlen. Eine weitere Möglichkeit wäre, daß es sich um einen Auftragsdiebstahl handelt. Irgendein Sammler mußte diese albernen Briefmarken haben. Eine Million auf einer Auktion kann er sich nicht leisten, aber er kann sich, sagen wir mal: fünfzigtausend leisten und damit einen erfahrenen Knacker anheuern, der sie klaut. Glaub mir, solche Sammler gibt es. Öffentlich würden die die Jennies nie zur Schau stellen. Denen reicht es, wenn sie sich allein daran aufgeilen können. Die dritte Möglichkeit ist die, daß ein Dieb die Briefmarken als Sicherheit für ein Bankdarlehen nutzen will. Du kannst mir glauben, daß es hier und da einige Banken gibt, die gestohlene Inhaberaktien als Sicherheit akzeptieren, ohne näher nachzufragen, wie der Darlehensnehmer in deren Besitz gekommen ist. Also bekommt der Gauner sein Darlehen, setzt sich ab, und die heiße Ware bleibt bei der Bank hängen, während der Gauner seine Haut an der französischen Riviera bräunt.« »Faszinierend«, sagte ich. »Mir war nicht klar, daß es so leicht sein kann, die Briefmarken in Bargeld umzuwandeln.« »Leicht nicht«, erwiderte Al, »aber machbar. Der einfachste Weg wäre natürlich, die Marken an einen unsauberen Händler zu verkaufen.« »Da wir gerade von Händlern sprechen«, sagte ich, »kennst du irgendwelche Experten, die mehr Informationen über die Inverted Jennies geben könnten?« Er überlegte einen Augenblick. »Auf der Insel gibt's einen Knaben namens Bela Rubik. Er hat einen Briefmarken- und Münzenladen bei der Worth Avenue. Er versteht sein Handwerk. Ich hab' ihn mal eingesetzt, um gestohlenes Eigentum zu identifizieren.« »Ist er sauber?« fragte ich. 34
»Soweit ich weiß.« »Danke, Al. Du warst eine große Hilfe. Damit komme ich weiter.« Er starrte mich an. »Warum hab' ich dieses seltsame Gefühl, daß ich nicht zum letzten Mal von den Inverted Jennies gehört habe?« »Frag mich was Leichteres«, antwortete ich schulterzuckend. »Ich wüßte nicht, warum das Department da reingezogen werden sollte.« »Als du mir das das letzte Mal gesagt hast, endete ich in einer Schießerei mit zwei Fixern. Erinnerst du dich daran?« »Ich erinnere mich«, sagte ich. »Du hast eine großartige Vorstellung geliefert.« »Oh, sicher. Und wäre fast umgelegt worden. Danke für das Bankett. Und ruf uns nicht an. Wir melden uns bei dir.« Wir schüttelten uns die Hände, und er ging. Ich unterschrieb die Rechnungen für das Essen und meine Drinks an der Bar und fuhr nach Palm Beach zurück. Ich war zufrieden mit dem, was ich von Al erfahren hatte. Ich fand Rubiks Briefmarken- und Münzenladen ohne große Schwierigkeiten. Er hatte die Größe eines begehbaren Kleiderschranks. Doch die Tür war verschlossen. Ich rüttelte ein paarmal am Drehgriff, bevor der Mann drinnen herbeikam und mich gründlich durch die Scheibe musterte. Dann schloß er auf, ließ mich eintreten und verschloß die Tür hinter mir. Er begab sich wieder hinter den Tresen und schob seine Brille, zwei auf seltsame Weise miteinander verbundene Juwelierlupen, auf seinen kahlen Schädel. »Mr. Rubik?« fragte ich. Er nickte. Ich fischte eine Visitenkarte aus der Tasche und reichte sie ihm hinüber. Er las sie langsam und gab sie mir dann zurück. »Ich brauch' kei35
nen Anwalt«, sagte er. »Mein Testament hab' ich schon gemacht.« Ich lächelte, so freundlich ich konnte. »Ich bin nicht hier, um Kunden zu werben, Mr. Rubik. Ich brauche nur eine kleine Information.« Er starrte mich schweigend und ausdruckslos an. Ich schätzte ihn auf Mitte Sechzig, und wenn ich seine fahle Gesichtsfarbe richtig deutete, würde er die Siebzig nie erreichen. Er hatte ein aufgedunsenes Gesicht, und sein Blick war unkonzentriert. Er erinnerte mich an jemand, den ich schon einmal gesehen hatte. Plötzlich fiel's mir ein. Er war Mr. Magoo. »Information?« fragte er schließlich. »Anwälte stellen doch Rechnungen nach Stundenaufwand auf, oder?« »Das stimmt.« »Bei Information«, sagte er, »mache ich das Gleiche. Mein Honorar beträgt fünfzig Dollar die Stunde. Zahlbar im voraus.« Ich nahm meine Brieftasche, holte einen Fünfziger heraus und reichte ihn ihm. »Dafür brauche ich eine Quittung«, fügte ich hinzu und versuchte nicht zu zeigen, wie sauer ich war. »Natürlich«, erwiderte er. »Welche Information wollen Sie?« »Ich möchte etwas über die Inverted-Jenny-Luftpostmarken erfahren.« Sein Starren machte mich nervös. »Warum wollen Sie gerade darüber etwas wissen?« fragte er. Ich hätte dagegen halten können: »Was, zum Teufel, geht Sie das an? Sie wurden doch dafür bezahlt, oder?« Statt dessen sagte ich: »Meine Kanzlei vollstreckt das Testament eines Bauunternehmers aus Boca Raton, der unlängst verstorben ist. Zu seinem Besitz gehört ein Block von vier Inverted Jennies. Wir möchten eine annähernde Schätzung dafür haben.« »Sie wollen, daß ich eine Schätzung mache, ohne daß ich die Marken gesehen habe? Unmöglich. In welchem Zustand sind sie? Sind sie in ein Album eingeklebt? Sind sie verblaßt, eingerissen, ge36
knickt? Alle diese Dinge beeinträchtigen den Wert.« Ich seufzte. »Ich möchte nicht, daß Sie diesen speziellen Markenblock schätzen, Mr. Rubik. Ich möchte nur einige grundsätzliche Informationen über Inverted Jennies.« »Neun Bogen der Vierundzwanzig-Cent-Luftpostbriefmarken wurden 1918 ausgegeben. Die Druckplatte des blauen Doppeldeckers in der Mitte war falsch herum in die Presse eingelegt worden. Acht Bogen wurden nach Entdeckung des Fehlers vernichtet. Der neunte wurde in einem Postamt in Washington für vierundzwanzig Dollar an den Angestellten eines Maklers verkauft. Eine Woche später verkaufte er den Hunderterbogen für fünfzehntausend an einen Händler. Dann wurde der Bogen in Blöcke und Einzelmarken aufgelöst. Im Lauf der Jahre hat der Wert erheblich zugenommen. Der Viererblock, der kürzlich auf einer Auktion in New York für eine Million den Besitzer wechselte, trug die Plattennummer. Ein Viererblock mit einer Druckstandmarke in der Mitte ging für weniger als die Hälfte dessen weg.« »Werden im Augenblick Inverted Jennies zum Verkauf angeboten?« Rubik zuckte die Schultern. »Zu verkaufen ist alles – wenn der Preis stimmt. Doch viele Jennies sind im Wert gemindert. Wie ich Ihnen sagte, der Wert hängt vom Zustand der Marken ab.« »Sind im Augenblick welche auf dem Markt?« »Das kann ich nicht sagen.« »Könnten Sie das feststellen? Ich nehme an, daß Sie in Verbindung mit anderen Händlern stehen. Haben Sie einen Berufsverband?« »Ja.« »Würden Sie nachfragen und sich erkundigen, ob Inverted Jennies zum Verkauf angeboten werden?« »Das ist eine gewaltige Arbeit«, sagte er. »Das wird Zeit brauchen.« 37
»Fünfzig Dollar die Stunde«, erinnerte ich ihn. »In Ordnung«, sagte er widerwillig, »ich höre mich um.« Ich wartete geduldig, während er seine verrückte Brille vor die Augen schob und in Krakelschrift eine Quittung über fünfzig Dollar ausstellte. Genau gerechnet hatte er mir Zeit im Wert von zwanzig Dollar zur Verfügung gestellt. Aber ich sagte nichts. Wenn er sich der Illusion hingeben wollte, er habe mich über den Tisch gezogen, umso besser. Ich habe schon reichlich davon profitiert, daß Menschen mich für einen tölpelhaften Tänzer halten, obwohl ich in Wirklichkeit den ›Schwanensee‹ aufs Parkett legen kann. Ich nahm die Quittung und gab ihm meine Visitenkarte. »Falls Sie von Jennies hören, die zum Verkauf angeboten werden«, sagte ich, »rufen Sie mich an. Falls ich nichts von Ihnen höre, werde ich etwa in einer Woche mal wieder vorbeischauen.« »Meine Rechnung wird fertig sein«, sagte er, ohne zu lächeln. Mein nächster Schritt war der Besuch eines Sportkaufhauses. In der Tennisabteilung wählte ich einen Spalding-Graphit-Schläger aus, von dem ich glaubte, daß er Jennifer Towley gefallen würde. Der Verkäufer versprach, ihn umzutauschen, falls das Gewicht und die Balance ihr nicht zusagten. Ich ließ ihn als Geschenk verpacken, warf ihn in den Miata und fuhr nach Hause. Ich kam gerade rechtzeitig, um mich umzuziehen und zum Meer hinunterzugehen, wo ich mein tägliches Schwimmen absolvierte. Wenn die Brandung nicht zu hoch war, versuchte ich, eine Meile küstenaufwärts und wieder zurück zu schwimmen. Ich bin zugegebenermaßen kein anmutiger Schwimmer, aber ich schaufele mich durch, und ich komme hin. Am Nachmittag zwei Meilen zu schwimmen ist eine außerordentlich gesunde Übung und steigert die Vorfreude auf die Cocktailstunde ungemein. Meine Mutter, mein Vater und ich trafen uns im Wohnzimmer des zweiten Stocks, und dort vollzog McNally senior das Ritual, einen Krug Gin-Martinis zu mixen. Seine Martinis waren nach der 38
klassischen Formel gemixt: drei Teile Gin, ein Teil Wermut. An diesem Tag war mein Vater früh nach Hause gekommen, um die Cocktailstunde im Familienkreise zu genießen und dann eine schwarze Krawatte anzulegen, da er an diesem Abend Hauptredner beim Festessen der hiesigen Anwaltsvereinigung war. Nach Vollzug des Martini-Rituals entschwand mein Vater, und meine Mutter und ich aßen unten allein. An diesem Abend hatten wir, wie ich mich erinnere, Lammkoteletts mit frischer Minzsoße. Etwas ganz anderes als Leroy Pettibones Hamburger, aber nicht unbedingt besser. Einfach anders. Jetzt muß ich Ihnen von meiner Mutter erzählen, da das Schicksal ihr eine wichtige Rolle in der Angelegenheit zugedacht hatte, die ich später einmal den ›schrecklichen Fall der Inverted Jennies‹ nannte. Ihr Name war Madelaine, und sie war die liebenswerteste Frau, die je gelebt hat, aber, wie alle Mütter, ein wenig bescheuert. Sie war in Florida geboren, was selten ist. Die Einwohner Floridas werden gemeinhin in Ohio geboren. Sie lernte meinen künftigen Vater kennen, als sie in der Sozietät in Miami arbeitete, in die er eintrat, nachdem er zugelassener Anwalt geworden war. Das erwies sich als prächtige Partnerschaft. Nicht, daß es keine Mißklänge gegeben hätte, aber die waren zumeist unwichtiger Art. Meine Eltern konnten sich niemals auf die angemessene Temperatur der Klimaanlage in ihrem Schlafzimmer einigen. Mein Vater mißbilligte die Beharrlichkeit meiner Mutter, zu Fleisch und Fisch Sauterne zu trinken, wohingegen sie nie verstehen konnte, warum er um alles in der Welt darauf beharrte, daß Kragen und Manschetten seiner Anzugshemden gestärkt sein mußten. Ein weit ernsteres und persönliches Problem war Madelaine McNallys Gesundheitszustand. Meine Mutter war übergewichtig. Dazu kam, daß sie unter hohem Blutdruck litt, was mutmaßlich Ursache 39
ihrer gelegentlichen Kurzatmigkeit war. Unser Hausarzt hatte sie auf strikte Diät gesetzt, und wir waren befremdet, daß diese nicht zu einer Gewichtsabnahme führte. Dann entdeckten wir, daß sie Schokoladentrüffel naschte, wenn sie im Gewächshaus ihre Begonien goß. Aber sie war wirklich eine wundervolle Frau, und ich liebte sie. Ich werde immer den tiefschürfenden Rat hochschätzen, den sie mir in dem ersten Brief gab, den ich in New Haven erhielt. »Archy«, schrieb sie, »lebe, als ob jeder Tag dein letzter wäre, und trage immer saubere Unterwäsche.« An diesem Abend plauderten Mutter und ich über dies und das, lachten und klatschten dann in die Hände, als Ursi Olson uns frische, gekühlte Himbeeren mit einer geradezu sündhaft großen Sahnehaube auftischte. »Kalorienarm«, versicherte Ursi meiner Mutter. »Ist mir egal«, meinte sie. »Einfach egal. Das Leben ist zu kurz.« Beim Kaffee erwähnte ich, daß ich an diesem Morgen Lady Cynthia Horowitz besucht hatte. »Ach? Ich hoffe, du hast ihr unsere besten Grüße ausgerichtet.« »Natürlich habe ich das«, erwiderte ich, obwohl ich das nicht getan hatte. »Welch unglückliche Frau«, sagte meine Mutter plötzlich sehr betrübt. »Sie tut mir ja so leid.« »Mutter, diese Frau hat alles!« »Nein«, meinte sie, »hat sie nicht. Sie will alles, und niemand kann alles haben.« Ich glaubte, sie rede einfach Unsinn, und ging nicht weiter darauf ein. Wir erhoben uns von der Tafel, und Mutter begab sich wieder ins Wohnzimmer, um einen Fernsehabend zu verbringen. Ich ging nach oben in meine Suite, um die Ereignisse des Tages in mein Tagebuch einzutragen. Zuerst aber rief ich Jennifer Towley an. Ich bekam ihren Anruf40
beantworter an die Strippe, und ich sagte: »Jennifer, hier ist Archibald McNally. Es ist lebenswichtig, daß ich mit dir spreche. Bitte, ruf mich zurück, zu jeder Tages- oder Nachtzeit.« Dann nannte ich meine Geheimnummer, sagte: »Danke« und legte auf. Ich steckte mir die erste Zigarette des Tages an und dachte wieder darüber nach, was die Anspielung von Lady Horowitz hinsichtlich Jennifers zu bedeuten haben mochte. Ich fühlte mich unwohl ob der Tatsache, daß sie Gegenstand des Palm-Beach-Klatsches war. Über eine Stunde arbeitete ich an meinem Tagebuch und hielt fest, was ich an diesem Tag erfahren hatte, als gegen halb zehn mein Telefon klingelte. Ich nahm ab und sagte: »Hallo.« »Jennifer Towley«, erwiderte sie munter. »Was, zum Himmel, ist so lebenswichtig?« »Hast du schon entschieden, ob du mich wiedersehen willst?« fragte ich eifrig. »Ich denke noch darüber nach.« »Das mußt du«, sagte ich. »Der Aufsichtsrat von McNally und Sohn hat nämlich in geschlossener Sitzung einstimmig entschieden, dich mit einem Geschenk für deine hervorragende Arbeit in Sachen der Frobisher-Briefe zu beglücken. Ich habe die Geschenkauswahl getroffen und muß jetzt auch liefern. Und darum ist es wichtig, dich schnellstmöglich zu sehen.« Sie lachte. »Du bist ein gerissenes Kerlchen.« »Drei«, erwiderte ich. »Al hatte recht. Und jetzt erzähl mir nicht auch noch, du seist die Märchenfee.« Ein kurzes Schweigen. Dann: »Was laberst du da eigentlich rum?« »Nichts«, meinte ich. »Ich plaudere nur so vor mich hin. Also, wann soll's sein?« »Ich weiß nicht«, sagte sie zweifelnd. »Ich hab' schrecklich viel zu tun. Ich habe eine neue Kundin, die ihr Schlafzimmer im ArtNouveau-Stil eingerichtet haben möchte. Ich werd' eine Ewigkeit brauchen, die passenden Stücke zu finden.« 41
»Dann brauchst du ein paar Stunden Entspannung. Ein Abendessen morgen wäre schön. Bist du je im Pelican Club gewesen?« »Nein, aber ich hab' eine Menge merkwürdiger Dinge darüber gehört.« »Das stimmt alles«, versicherte ich ihr. »Kleidung leger. Ich hol' dich gegen sieben ab. Okay?« »Einverstanden«, antwortete sie leise. »Und ich bring' dein Geschenk mit«, sagte ich. »Falls ich drei Männer auftreiben kann, die mir helfen, das auf den Laster zu laden.« Sie kicherte, als ich auflegte. Es war entzückend, diese zurückhaltende Frau kichern zu hören. Freudigen Herzens setzte ich mich wieder an mein Tagebuch. Ich beendete meine Notizen und erstellte einen provisorischen Plan für mein Vorgehen bei den Nachforschungen in Sachen Inverted Jennies. Dann schenkte ich mir einen sehr kleinen Marc aus meinem Privatfundus an Spirituosen ein, den ich in einer alten Seekiste in meinem Wohnzimmer aufbewahrte. Den Drink in der Hand, machte ich's mir bequem. Noch einen Marc und noch eine Zigarette, und ich war bereit, mich vom Tag zu verabschieden. Ich zog mich aus, putzte mir die Zähne und duschte. Sollte ich an Jennifer Towley gedacht haben – und das tat ich fortwährend –, waren das völlig unschuldige Gedanken. Überwiegend jedenfalls. Ich zog meine kurze Pyjamahose an, stellte die Klimaanlage auf vierundzwanzig Grad, schaltete das Licht aus und ging ins Bett. Ich schlief den ungestörten Schlaf dessen, der reinen Herzens ist.
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ch rief Lady Horowitz nach dem Frühstück an und fragte sie, ob sie ihren Angestellten und Gästen erzählt habe, daß die Inverted-Jenny-Briefmarken verschwunden seien. Sie sagte, das habe sie. »Und jetzt weiß das jeder«, meinte sie bitter. »Ich habe bereits ein Dutzend Beileidsanrufe bekommen, darunter einen von einem Vetter in Sarasota. Schlechte Nachrichten verbreiten sich schnell.« »Das war schon immer so«, sagte ich fröhlich. »Es gibt nichts Erfreulicheres als die Probleme anderer Menschen.« Dann fragte ich, ob sie damit einverstanden sei, wenn ich mich den größten Teil des Tages in ihrem Hause aufhalten würde, um diskrete Erkundigungen einzuziehen. Sie sagte, ich solle kommen. Sie werde jeden darüber informieren, daß ich herumschnüffle. Aber sie werde nicht anwesend sein. »Ich bin den ganzen Tag weg, Junge«, sagte sie. »Ich hab' eine Menge Dinge zu erledigen.« Ich fragte, ob das bedeute, daß Kenneth, der Chauffeur, ebenfalls abwesend sei. »Nein«, erwiderte sie, »ich nehme den Jag.« Ich liebe das. Dieses beiläufige »Ich nehme den Jag« bedeutete, daß sie sich nicht in ihrem antiken Rolls-Royce, einem seltenen Tourer aus dem Jahre 1933, chauffieren ließ, sondern ihr funkelnagelneues, bronzefarbenes Jaguar XJ-S-Cabrio selbst fahren würde. Ich sinnierte über die besonderen Merkmale der Wohlstandsgesellschaft, während ich auf die weißgekieste Zufahrt der Villa Horowitz abbog. Ich fuhr nach links, an dem Gästehaus vorbei, zu dem breiten Wendeplatz vor der Garage, die fünf Fahrzeuge faßte. Dort 43
befand sich jetzt ein erstklassiges Beispiel für augenfälligen Konsum. Als das langgestreckte, niedrige Gebäude in den frühen zwanziger Jahren errichtet worden war, war es als Stallung zur Unterbringung der Reit- und Kutschpferde des ursprünglichen Besitzers entworfen worden. Können Sie sich vorstellen, daß der Boden dieser Behausung von Gäulen mit prächtigen Fliesen aus dem Palazzo eines bankrotten venezianischen Edelmannes ausgelegt war und Eichenpaneele aus einem verlassenen spanischen Kloster die Wände zierten? Geld, finde ich, hat weder ein Gewissen noch ein Gedächtnis. Ich stieg aus dem Miata und schlenderte in die schattige Garage, wo ein großer, muskulöser junger Mann etwa in meinem Alter den Rolls mit einem Schwamm reinigte. Er trug die Hose einer Chauffeuruniform, hatte die Jacke dazu aber abgelegt. Sein Oberkörper steckte in einem dieser enganliegenden T-Shirts, das Bodybuilder bevorzugen, um ihre Bizepse zur Schau zu stellen. »Kenneth Bodin?« fragte ich. Er schaute mich an, und einen Augenblick war ich mir nicht sicher, ob er antworten oder mir nur so zum Spaß das Rückgrat brechen werde. »Das ist richtig«, erwiderte er schließlich mit hoher Fistelstimme, die, von diesem Mastodon ausgestoßen, schockierend anzuhören war. »Ich bin Archibald McNally«, sagte ich. »Hat Lady Horowitz Ihnen erzählt, daß ich vorbeikommen würde, um Fragen wegen ihrer verschwundenen Briefmarken zu stellen?« »Sagte sie«, verkündete er und versuchte zu lächeln. »Ich hoffe, sie glaubt nicht, daß ich sie geklaut habe.« »Natürlich nicht«, versicherte ich ihm. »Sie glaubt ohnehin nicht, daß jemand aus dem Haus etwas mit der Geschichte zu tun hat. Wahrscheinlich war's jemand von draußen.« »Sicher«, stimmte er zu. »Ein Fassadenkletterer.« Als ich nickte, 44
fuhr er damit fort, den Rolls zu waschen. »Nur ein paar Fragen, Mr. Bodin«, sagte ich. »Wann haben Sie die Marken zum letzten Mal gesehen?« Er hielt in seiner Arbeit inne und schien einen Augenblick nachzudenken. »Diese Dinger hab' ich seit Jahren nicht gesehen. Vielleicht zwei oder drei ist das her.« »Wohnen Sie hier im Haus?« »Nee.« Er deutete auf das Ende der Garage, wo ein lavendelblauer 69er VW-Käfer friedlich auf den venezianischen Fliesen schlummerte. »Das ist meiner.« »Wundervolles Auto«, sagte ich höflich. »Ich halte ihn instand«, meinte er stolz. »Jedenfalls fahre ich jeden Tag rein. Ich wohne in Delray.« »Langer Weg zum Pendeln«, stellte ich fest. »Eigentlich nicht. Ich fahre früh los. Nicht viel Verkehr, deshalb komme ich schnell durch. Das ist ein Miata, den Sie da haben – richtig?« »Ja.« »Nett. Ich wünschte, ich könnte mir einen leisten.« »Mr. Bodin«, sagte ich, »Sie erwähnten, die Marken könnten von einem Fassadenkletterer entwendet worden sein. Haben Sie in letzter Zeit jemand das Haus ausbaldowern sehen? Sie wissen schon – daß hier jemand rumlungerte oder häufig vorbeifuhr?« Er schüttelte den Kopf. »Nein, niemand. Sie könnten die Beach Patrol fragen.« »Eine gute Idee«, sagte ich. »Können Sie sich jemand vorstellen – vom Personal oder von den Gästen –, der in Versuchung gekommen sein könnte?« Er hörte auf, den Rolls mit einem Wildlederlappen abzuwischen, und wandte mir sein Gesicht zu. Gott, er war ein Koloß! »Aber nein«, sagte er. »Soweit ich denken kann, ist hier niemand, der die Lady berauben würde. Sie ist eine gute Chefin, und die Gäs45
te gehören alle zur Familie.« »Und was ist mit dem Freund, Angus Wolfson?« »Scheiße!« sagte er mit unnötiger Heftigkeit. »Der alte Knabe ist eine Schwuchtel. Aber er scheint Kohle zu haben. Warum sollte er die Marken klauen?« »Ja, warum eigentlich?« wiederholte ich, und mir fielen keine weiteren Fragen ein. »Danke, daß Sie mit mir gesprochen haben, Mr. Bodin. Es hat mich gefreut.« »Sicher«, sagte er. »Warum nicht? Ich hab' nichts zu verbergen.« Ich wanderte ins Sonnenlicht hinaus, hörte leises Gelächter vom Pool und ging dort hinüber. Ein Mann und eine Frau saßen an einem Tisch unter einem Sonnenschirm und widmeten sich etwas, das nach eisgekühltem schwarzen Kaffee und Mini-Croissants aussah. Sie blickten auf, als ich mich näherte, und der alte Mann erhob sich langsam. »Guten Morgen«, sagte ich, nahm meine weiße Leinenmütze ab und schenkte ihnen ein Lächeln. »Ich störe Sie ungern, aber ich wollte fragen, ob ich mich für ein paar Augenblicke zu Ihnen gesellen darf. Mein Name ist Archibald McNally. Ich hoffe, Lady Horowitz hat Sie vorgewarnt, daß ich vorbeikommen würde, um Fragen wegen der verschwundenen Inverted Jennies zu stellen.« »Natürlich, mein lieber Junge«, sagte der Mann und schüttelte mir schlaff die Hand. »Ich bin Angus Wolfson, ein alter Freund von Cynthia. Aber verlangen Sie nicht von mir, daß ich präziser werde, was mein Alter anbelangt. Alt werden ist etwas Schreckliches – bis man die Alternative in Betracht zieht!« »Eine wundervolle Jacke tragen Sie da, Mr. Wolfson«, meinte ich. Sie war's wirklich: burgunderroter Samt im Norfolk-Stil. Er trug sie über einer cremefarbenen Flanellhose. »Danke«, sagte er, seine gute Laune wiedergewinnend. »Und diese entzückende Dame ist Gina Stanescu, Tochter von Cynthia und ihrem – der wievielte war's, mein Herz? Der dritte oder der vierte 46
Ehemann?« »Der dritte«, sagte Miss Stanescu leicht lächelnd und reichte mir zur Begrüßung eine kühle Hand. »Nett, Sie kennenzulernen, Mr. McNally. Setzen Sie sich doch zu uns.« Ich zog einen Terrassenstuhl heran und plazierte ihn so, daß ich beide ansehen konnte. »Wir trinken Eiskaffee«, sagte Wolfson. »Möchten Sie auch ein Glas?« »Danke, nein«, erwiderte ich. »Im Dienst trinke ich nie.« Das meinte ich natürlich als Scherz, aber darauf wurde mir nicht mal ein Kicherer gegönnt. »Schockierend, diese Sache mit den Briefmarken«, meinte Wolfson. »Absolut schockierend.« »Es ist so unerfreulich«, sagte Miss Stanescu mit dünner Stimme. »Das bringt einen dazu, andere Menschen in neuem Licht zu sehen.« »Könnten Sie mir erzählen, wann Sie die Briefmarken zum letzten Mal gesehen haben?« Sie sahen sich an. Dann erwiderte Wolfson: »Lassen Sie mich überlegen ... Es war beim Abendessen an dem Tag, als Alan DuPey und seine Frau eintrafen. Felice hatte die Inverted Jennies noch nie gesehen, deshalb holte Cynthia sie herunter und zeigte sie ihr. Nicht wahr, Gina?« Sie nickte. »Haben alle die Marken beim Abendessen gesehen?« »Ich glaube ja«, meinte Wolfson. »Das Buch wurde um den Tisch gereicht.« »Ja«, stimmte Miss Stanescu zu. »Ich hab' sie mir angesehen und das Buch weitergereicht.« »Und nachdem alle die Marken angesehen hatten?« »Ich kann's nicht beschwören«, erwiderte Wolfson, »aber ich glaube, daß Cynthia sie wieder in ihr Schlafzimmer hinaufbrachte, 47
nachdem wir den Tisch verlassen hatten.« »Das hat sie«, sagte Miss Stanescu bestimmt. »Ich bin mit ihr die Treppe hinaufgegangen. Ich bin auf mein Zimmer, um mir einen leichten Pullover anzuziehen, weil wir alle beschlossen hatten, noch eine Weile draußen zu sitzen und einen Brandy zu trinken. Ich sah, wie Mutter das kleine rote Buch ins Schlafzimmer trug.« »Und danach hat keiner von Ihnen mehr die Briefmarken gesehen?« »Nein«, sagten beide unisono. »Hat einer von Ihnen irgendwelche Fremde bemerkt, die hier herumgeschlichen sind? Jemand, der offensichtlich nichts auf dem Grundstück zu suchen hatte?« Wolfson lachte. »Sie meinen so einen Einbrecher, der schwarz gekleidet ist und eine Maske trägt? Nein, ich habe niemand gesehen, der Ähnlichkeit mit einem Ganoven hatte. Gina?« »Nein«, sagte auch sie, »niemand. Alles ist ganz normal gewesen.« »Hat einer von Ihnen irgendwelche Zweifel bei einem Angehörigen des Personals? Ich versichere Ihnen, daß jeder Verdacht, den Sie äußern, strikt vertraulich behandelt wird.« »Ich bezichtige den Koch, gestern abend zu viel Safran in den Reis gegeben zu haben«, erwiderte Wolfson, »aber das ist ja wohl kaum kriminell. Nein, ich kann besten Wissens sagen, daß das gesamte Personal ehrlich ist – und bemerkenswert tüchtig, wie ich hinzufügen möchte.« »Ich bin völlig Angus' Meinung«, sagte Miss Stanescu ihrerseits. »Alle Angestellten von Mutter scheinen sehr vertrauenswürdig zu sein und stehen loyal zu ihr.« Wolfson schenkte mir ein spöttisches Lächeln. »Wir sind keine große Hilfe, nicht wahr?« »Nein«, stimmte ich zu, »nicht sehr.« Er nahm einen Schluck von seinem Eiskaffee und griff nach einem weiteren Croissant, und ich hatte einen Augenblick Gelegen48
heit, ihn direkt anzusehen. Vor fünfzig Jahren mußte er ein schöner Mann gewesen sein. »Mr. Wolfson«, sagte ich, »die folgende Frage hat nichts mit den Briefmarken zu tun, und wenn Sie das Gefühl haben, daß sie unnötig ist, sagen Sie mir das bitte. Sind Sie pensioniert?« »Halb«, sagte er. »Ich war so etwas wie ein Buchhändler, hatte einen hübschen, kleinen Laden. Ich bin auch so etwas wie ein Bibliophiler und etwas wie ein Antiquar. Mein Leben lang bin ich ein Etwas von allem gewesen, Mr. McNally, und habe all dies sehr gut gemacht, wie ich hinzufügen möchte. Heute sind meine beruflichen Aktivitäten sehr begrenzt. Gelegentlich werde ich als Berater von privaten und öffentlichen Bibliotheken herangezogen oder um seltene Bücher zu schätzen, die verkauft oder versteigert werden sollen.« »Interessant«, sagte ich. »Ich besitze die Erstausgabe von Mad Comics. Soll ich die verkaufen?« »Nein«, sagte er. »Behalten.« Wir lachten alle. »Was ist mit mir?« fragte Miss Stanescu. »Ich fühle mich übergangen. Wollen Sie nichts über mich wissen?« »In der Tat, das möchte ich«, erwiderte ich. »Ich bin einundvierzig und unverheiratet«, stellte sie gleichmütig fest, »und auf bestem Wege, das zu werden, was als alte Jungfer bezeichnet wird. Das seltsame Schicksal der Tochter einer Frau, die sechsmal verheiratet war – nicht wahr? Ich lebe in Frankreich, in Rouen, wo ich Direktorin eines Waisenhauses bin. Und das ist die ganze Geschichte meines Lebens.« »Ein Waisenhaus?« sagte ich. »Das muß eine sehr lohnende Arbeit sein.« »Lohnend und enttäuschend. Wir haben nie genug Geld.« »Das hättest du nicht sagen sollen, Gina«, schalt Wolfson. »Jetzt wird Mr. McNally dich verdächtigen, die Briefmarken deiner Mut49
ter gestohlen zu haben, um dein Haus für Bastarde finanzieren zu können.« Ich war beleidigt, sie aber nicht. Sie streckte eine weiche Hand aus und legte sie auf eine seiner Klauen. »Lieber Angus«, sagte sie zärtlich, »du sprichst wie ein Teufel, aber ich weiß, daß du ein Herz aus Gold hast.« Er schnaubte. »Aus Messing«, sagte er und hob ihre Hand, um ihre Knöchel zu küssen. Diese Gina Stanescu schien eine seltsame Frau zu sein. Sie war in ein Sommerkleid gehüllt, das aus weißem Chiffon bestand, und trug einen Webstrohhut mit einer breiten, biegsamen Krempe, der ihre dunklen Augen zuweilen verdeckte. Wolfson wandte sich plötzlich an mich. »Sie sind doch der Sohn von Prescott McNally, Cynthias Anwalt?« »Ja.« »Ich habe Ihren Vater kennengelernt«, fuhr er fort. »Ein Gentleman der alten Schule.« »Das ist er«, sagte ich und erhob mich, um mich zu verabschieden. Ich dankte ihnen für ihre Hilfe und wies darauf hin, daß ich eventuell mit weiteren Fragen wiederkäme. Sie waren außerordentlich wohlwollend, doch als ich zu meinem Miata zurückkehrte, hörte ich ihr gedämpftes Gelächter über den Rasen klingen. Da mich niemand eingeladen hatte, zu einem kleinen Lunch zu bleiben, raste ich nach Hause, gepeinigt von dem schrecklichen Verlangen nach einem kalten Ale und Corned-Beef auf Sauerrogenbrot, das Ursi Olson einmal wöchentlich backte. Im Kühlschrank war kein Corned-Beef, aber Ursi lieferte geräucherten Lachs, von Zwiebelscheiben gekrönt, was ein sehr zufriedenstellender Ersatz war. Das Sandwich in der Hand, schlenderte ich zur Garage, wo Jamie einige Zwergpalmen pflanzte, damit der Platz nicht wie ein Kasernenhof aussah. »Was gibt's Neues?« fragte ich Jamie. 50
»Nichts.« »Ich hab' heute morgen mit Kenneth Bodin gesprochen«, sagte ich. »Du hattest recht. Er ist groß.« »Hm.« »Und hat nicht allzu viel zwischen den Ohren«, fügte ich hinzu. »Seine Freundin heißt Sylvia«, sagte Jamie schließlich. »Sylvia Montcliff oder Montgrift oder Montgrief. Wohnt in Delray Beach.« »Sicher«, erwiderte ich. »Er wohnt da ja auch. Danke, Jamie.« Ich begab mich mit den Resten meines Sandwiches in meine Höhle und kritzelte eine Weile in meinem Tagebuch. Ich malte mir aus, ich hätte später nicht mehr die Energie dazu – weil ich an diesem Abend auf eine Verabredung mit Jennifer Towley hoffte. Gegen halb drei war ich wieder auf dem Grundstück von Lady Horowitz, betrat dieses Mal das Hauptgebäude durch die Hintertür und ging direkt in die Küche. Jean Cuvier, der beleibte Koch, saß an einem Chromtisch, und die übliche Gitane baumelte von seiner Unterlippe. Er brütete über einem Blatt, auf dem die Handicaps für die Rennen in Calder aufgeführt waren. Statt der weißen Mütze seiner Zunft trug er eine weiße Baseballmütze der New York Yankees, den Schirm im Genick. »Bonjour, Maître«, sagte ich. Er schielte durch einen Wirbel blauen Rauches zu mir auf. »Bonjour, Archy«, erwiderte er. Die folgende Konversation erfolgte gänzlich auf französisch. Meine Jahre in Yale waren nicht völlige Verschwendung gewesen. Ich fragte ihn, wann er die Inverted-Jenny-Marken zum letzten Mal gesehen habe. Er zuckte die Schultern und meinte, das sei eine Ewigkeit her. Ich fragte ihn, ob er gesehen habe, daß an dem Abend, als Alan DuPey und seine Frau eintrafen, bei Tisch ein kleines rotes Buch herumgereicht wurde. Er zuckte die Schultern und sagte nein. Ich fragte ihn, ob er glaube, daß jemand vom Personal die Briefmarken entwendet habe. Er zuckte die Schultern. Ich fragte, ob 51
er irgendwelche Typen habe herumschleichen sehen, die wie Tunichtgute aussahen. Er zuckte die Schultern und sagte nein. Dann fragte ich ihn, ob er glaube, daß einer der Gäste des Hauses zu einer so schändlichen Tat fähig sei. Dieses Mal zuckte er nicht die Schultern, sondern drückte den verbliebenen winzigen Stummel seiner Gitane in einer weißen Porzellansauciere aus. »Vielleicht«, sagte er. »Wer?« »Der englische Sohn«, sagte er. »Harry Smythe und seine Frau.« »Warum die?« »Es sind sehr kühle Leute. Und als sie das letzte Mal hier waren, haben sie mir kein Trinkgeld gegeben. Einen ganzen Monat lang Mahlzeiten und dann kein Trinkgeld. Ich dachte, sie seien knausrige Leute. Kalt und knausrig. Aber vielleicht brauchen sie Geld. Sie sehen die Briefmarken und denken, die gnädige Frau ist reich und wird sie nicht vermissen. Also klauen sie die Marken. Einfach, nicht?« Eine junge Frau in Dienstmädchenkleidung betrat die Küche. Ich kannte sie von den Essen, die meine Familie bei Lady Horowitz genossen hatte. Ich wußte, daß sie mit Clara angeredet wurde, kannte aber ihren Nachnamen nicht. Ich stellte mich vor und erfuhr, daß sie Clara Bodkin hieß. Sie war ein überaus appetitliches Geschöpf, ein bißchen mollig, aber exzellent proportioniert. Ich ging meinen Fragenkatalog auf englisch durch. Mit mageren Ergebnissen. Ja, sie hatte gesehen, daß die Marken bei Tisch herumgereicht wurden. Nein, sie glaube nicht, daß jemand vom Personal oder von den Gästen des Hauses zu diesem Diebstahl fähig sei. Und da sie keine Unbekannten hatte herumlungern sehen, hatte sie die Theorie, daß ein Bösewicht sich heimlich ins Haus geschlichen habe, während alle schliefen, und die Inverted Jennies aus dem Wandsafe der gnädigen Frau entwendet hatte. Sie, Clara, erschau52
erte bei dem bloßen Gedanken daran. Ich hörte all dem etwas abwesend zu. Meine Aufmerksamkeit war von etwas ganz anderem gefesselt. Denn während Clara so fließend sprach, stand sie neben Jean Cuviers Stuhl, und er streichelte fortwährend auf sehr aufmerksame Weise ihr Gesäß. Er mußte das Erstaunen in meinem Gesicht gesehen haben, denn nachdem Clara zu reden aufgehört hatte, steckte er sich eine neue Gitane an und sagte auf französisch zu mir: »Das ist in Ordnung, Archy. Clara und ich werden heiraten.« »Meinen Glückwunsch«, erwiderte ich. »Für eine Nacht«, fügte er hinzu und brüllte vor Lachen. »Was hat er gesagt?« wollte Clara von mir wissen. »Macht dieser Fettsack wieder schmutzige Bemerkungen?« »Keineswegs«, sagte ich hastig. »Er erzählte mir nur, daß ich jedes Ihrer Worte als Evangelium werten darf, da Sie alles wissen, was im Haus vorgeht.« »So ist es«, meinte sie nickend. »Aber ich sehe nichts Böses, höre nichts Böses und sage nichts Böses.« »Sehr klug«, versicherte ich ihr. Als ich ging, streichelte sie seinen fetten Nacken. Ich fand, daß ich mein Gehalt für diesen Tag verdient hatte. Ich fuhr heim, zog mich um und ging zum Schwimmen zum Strand hinunter. Entschlossen schaffte ich meine zwei Meilen und kehrte gerade rechtzeitig nach Hause zurück, um mich für die FamilienCocktailstunde umziehen und meine Verabredung mit Jennifer Towley wahrnehmen zu können. Mutter bemerkte, wie stattlich ich aussähe, Vater starrte angewidert auf mein giftgrünes Polohemd, und ich nahm meinen Anteil vom Inhalt des Martinikruges. Dann wünschte ich ihnen eine gute Nacht und entschwand zu einem Abend, der, wie ich hoffte, köstlich würde. Ich vergaß Jennifers Tennisschläger nicht. Sie wohnte auf der anderen Seite des Lake Worth, südlich der 53
Royal Park Bridge. Es war ein altes Viertel mit kurzen Straßen. Die Häuser waren klein, aber hübsch, die Grundstücke schmal, doch sehr gepflegt. Jennifer hatte das Erdgeschoß eines zweistöckigen Gebäudes gemietet, das himmelblau gestrichen war. Ihre Wohnung war ihr Antiquitätenladen. Alles darin stand zum Verkauf – bis auf die Dame selbst natürlich. Sie empfing mich an der Tür, und ich wurde ins Wohnzimmer geführt. Ich hatte ihr gesagt, sie solle sich formlos anziehen, doch sie war tadellos von einem schwarzen Kleid umhüllt, das so schlicht war, daß es ein Vermögen gekostet haben mußte. Der einzige Schmuck, den sie trug, war eine blasse Amethysthalskette. Der Tennisschläger war auf Anhieb ein Erfolg. Nachdem sie ihn in die Hand genommen und ein paar Schläge versucht hatte, erklärte sie, Gewicht und Balance seien perfekt. Zum Dank erhielt ich einen Kuß. Es war ein kurzer, doch äußerst willkommener Kuß. Ich öffnete ihr die Tür des Miata, und sie glitt hinein, wobei ihre nackten, gebräunten Beine derart blitzten, daß ich sie am liebsten gleich auf dem Rasen genommen hätte. Aber ich beherrschte mich, und wir rasten los, zum Pelican Club. Ich machte sie auf den Vollmond aufmerksam, den ich eigens zu diesem Anlaß bestellt hatte. »Ich könnte mich in einen Werwolf verwandeln«, warnte ich sie. »Ich werde im Restaurant etwas Knoblauch nehmen«, sagte sie. »Knoblauch ist gegen Vampire«, behauptete ich. »Schutzmittel gegen Werwölfe sind nicht bekannt.« »Ich habe einen schwarzen Gurt in Karate«, erwiderte sie. »Ich habe einen weißen Gurt im indischen Ringen«, sagte ich. »Vielleicht erlaubst du mir, dir das zu demonstrieren.« Sie lachte. »Was soll ich mit dir anfangen?« fragte sie. »Liebe mich«, erwiderte ich, aber das sagte ich nicht laut. Wir trafen früh genug vor der Menge ein, die sich üblicherweise zum Abendessen drängte, und Priscilla führte uns an meinen bevorzugten Ecktisch. 54
»Es erinnert an ein Vereinshaus«, sagte Jennifer. »Das war so beabsichtigt«, meinte ich. »Nur für Männer. Aber kurz nachdem der Club gegründet worden war, drohten die Freundinnen und Ehefrauen mehrerer Gründungsmitglieder mit einer Klage, falls sie das Lokal nicht betreten dürften. Sie sagten, sie würden wegen Diskriminierung von Frauen klagen, weil wir im Club Geschäftsgespräche führten. Jetzt ist der Pelican Club eine Einrichtung für beide Geschlechter. Wir sind ausgebucht, aber ich bin Vorsitzender des Mitgliederausschusses und könnte dir eine Karte beschaffen, falls du an einem Beitritt interessiert bist.« »Danke«, sagte sie, wobei sie mir einen kühlen, gelassenen Blick zuwarf. »Aber wenn ich herkommen möchte, werde ich dich bitten, mich einzuladen.« »Hervorragende Idee«, erwiderte ich und schaute mich nach Priscilla um. Diese stand an der Küchentür, und als sie meinen Blick sah, deutete sie auf Jennifer und schloß Daumen und Zeigefinger zum Super-Okay-Zeichen. Ich war's zufrieden, ihre Zustimmung gefunden zu haben. Sie kam an den Tisch. »Etwas zum Anfeuchten der Gurrbänder, Leute?« fragte sie. »Wir nehmen Champagnercocktails, Priscilla«, bestimmte ich. »Und was hat Leroy heute zu bieten?« »Schweinebraten oder gegrillte Filetspitzen.« »Wie sind die Filetspitzen?« »Vorzüglich.« Wir nahmen sie beide, teilten einen großen Cäsar-Salat und aßen Limoneneis als Dessert. Jennifer aß mit großem Appetit – was den Knaben, der die Rechnung zu zahlen hat, immer freut. Sie redete wenig, aber das war okay. Ich rede gerne und brachte sie während des Essens ständig zum Lachen. Wir begaben uns an die Bar, wo wir einen Brandy Stinger tran55
ken. Ich hatte die romantische Idee, eine lange Fahrt an der Küste vorzuschlagen, zu der der Vollmond, der auf die ruhige See fiel, mit seiner Magie seinen Teil beitragen würde. Jennifer indes, die plötzlich ernst war, wenn nicht sogar feierlich, sagte, sie würde gerne nach Hause fahren, da sie am nächsten Morgen eine wichtige Verabredung habe. Der Mond verzog sich prompt hinter einer Wolke. Also fuhr ich sie zu ihrer Wohnung zurück, enttäuscht, aber nicht umgehauen. Nicht nur, daß man den Clown spielen muß, man muß auch endlose Reserven an Geduld haben. Wir hielten vor ihrem schmucken kleinen Haus, und ich stellte den Motor ab, hoffte allen Chancen zum Trotz, daß sie mich auf einen Schlaftrunk hereinbitten würde. Sie sah mich an und ergriff meine Hand. Das fing ja gut an. »Archy«, sagte sie, »es gibt etwas, das ich dir sagen muß.« »Ach?« »Ich bin geschieden.« Jetzt war ich mit Lachen dran. »Jennifer, du sagst das, als sei das schrecklich pervers. Eine Menge Leute sind geschieden. Einige meiner besten Freunde sind geschieden. Das ist nun wirklich keine Todsünde.« »Ich wollte nur, daß du es weißt.« »Danke. Jetzt weiß ich's.« Sie zögerte; schließlich sagte sie: »Dann ändert das zwischen uns nichts?« Ich starrte sie an. »Natürlich nicht. Ich wüßte nicht, warum das etwas ändern sollte.« »Möchtest du auf einen Schlummertrunk hereinkommen?« fragte sie. Seltsame, rätselhafte Frau!
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m folgenden Morgen fuhr ich mit meinem Vater ins Büro. Er fuhr seinen Lexus auf die Weise, wie er alles andere tat: langsam, vorsichtig und mit tiefem Respekt vor Du-sollst-nicht-Schildern. Ich meine, wenn wir an eine rote Ampel kamen und in beiden Richtungen kein Verkehr zu sehen war, hielt er an und wartete auf Grün. Welch ein aufrechter Mann er war! Aber niemals ein Pedant. Er war einfach gesetzestreu. Sein Grabstein könnte einmal völlig zu Recht die Inschrift tragen: ›Prescott McNally. Er stahl nie ein Hotelhandtuch.‹ »In Sachen der verschwundenen Briefmarken«, fragte er, den Blick entschieden auf die Straße gerichtet, »machst du da Fortschritte?« »Nicht direkt«, erwiderte ich. »Bisher habe ich mit drei Angestellten und zwei Gästen des Hauses gesprochen und sehr wenig erfahren.« Er schwieg einen Augenblick, und ich wußte, daß sein Hirngetriebe arbeitete. Die Zahnräder faßten noch nicht, drehten sich aber. »Welches Gefühl hast du bei der Geschichte, Archy? Wurden die Briefmarken einfach verlegt, oder sind sie gestohlen worden?« »Im Augenblick kann ich nur mutmaßen«, meinte ich. »Ich glaube, sie sind geklaut worden.« Jetzt faßten die Zahnräder in seinem Hirn, und er nickte. »Ich glaube, es wäre ratsam, auf der Grundlage dieser Vermutung zu handeln. Ich werde Lady Cynthia anrufen und ihr vorschlagen, das Verschwinden der Inverted Jennies sofort der Polizei zu melden. Oder, falls sie das vorzieht, daß ich das für sie erledige.« »Vater!« rief ich gekränkt. »Ich habe doch gerade erst mit meiner Untersuchung begonnen.« 57
Er warf mir einen kurzen Blick zu, richtete dann seine Aufmerksamkeit wieder hastig auf die Straße. »Archy, ich habe nicht die Absicht, dein Ego anzukratzen, aber wenn die Briefmarken nicht aufgefunden werden – immerhin eine Möglichkeit, wie du zugeben wirst – und Lady Horowitz ihre Schadensersatzforderung an die Versicherung stellt, ist es wichtig, daß eine Polizeiakte existiert, die die Tatsache bescheinigt, daß sie den Diebstahl gemeldet hat. Das kannst du doch verstehen, oder?« »Ja«, sagte ich ergeben. »Heißt das, ich bin den Fall los?« »Überhaupt nicht. Ich möchte, daß du deine ›diskreten Nachforschungen‹ fortsetzt.« »Das bedeutet, die Bullen und ich werden uns in die Hacken treten«, wandte ich ein. »Du hast schon früher mit der Polizei gearbeitet«, betonte er. »Und sehr erfolgreich, wie ich hinzufügen möchte. Außerdem ist es häufig klug, wie du wohl weißt, einen Zeugen zu bitten, seine oder ihre Geschichte zweimal oder noch häufiger zu erzählen. Es ist eine sehr wirksame Methode, Widersprüche aufzudecken.« »Also gut«, erwiderte ich. »Ich bleibe dran. Du könntest Lady Cynthia vorschlagen, den Diebstahl Sergeant Al Rogoff zu melden. Wenn er den Schrei aufnimmt, wird ihm vielleicht der Fall übertragen. Al und ich kommen gut miteinander aus.« Ich hielt es nicht für nötig, ihm zu erzählen, daß Al bereits von dem Diebstahl wußte. Wir fuhren ein paar Minuten schweigend weiter, während ich überlegte, ob die Einbeziehung der Bürokratie in das, was ich als meinen Fall betrachtete, sich als Hilfe oder als Hindernis erweisen würde. »Angenehmer Abend gestern?« fragte mein Vater nebenher. »Wie?« fragte ich verwirrt. »O ja, sehr angenehm.« »Jemand, den deine Mutter und ich kennen?« »Ich glaube nicht. Jennifer Towley, die Dame, die die Briefe von Frobisher zurückgegeben hat. Ich habe ihr den Tennisschläger überreicht.« 58
»Und hat sie das gewürdigt?« »Sehr.« »Du fühlst dich zu ihr hingezogen?« »Außerordentlich.« Er seufzte. »Mir scheint, als hätte ich das früher häufiger gehört.« Ich lachte. »Vater, ich weiß sehr wohl, daß du und Mutter mich nur allzu gern glücklich verheiratet und gesetzt sähet und daß ich in regelmäßigen Abständen Enkel produziere. Die Zeit wird kommen – aber noch nicht jetzt.« »Wir versuchen geduldig zu sein«, meinte er trocken. McNally & Sohn war kein billiges Unternehmen. Wir belegten (und besaßen) einen fünfstöckigen Bau aus Glas und Edelstahl am Royal Palm Way. Die Architektur war nicht nach dem Geschmack meines Vaters, doch er gab zu, daß der funkelnde Modernismus Klienten, potentielle Klienten und die Finanzbehörde zu beeindrucken schien. Die Hauptaufgaben der Firma waren Konkursverwaltung, Steuerberatung, Treuhandverwaltung und dergleichen Kram. Aber wir hatten auch Mitarbeiter, die Prozeßspezialisten waren. Für Grundstücke, Urheberrechte, Warenzeichen und Patente, für Scheidung, ärztliche Kunstfehler, Personen- und Sachhaftpflicht. Und es gab sogar einen alten Kauz, der mehr über Seerecht als sonst jemand südlich von Washington wußte. McNally & Sohn war tatsächlich ein juristischer Supermarkt. Mein Büro war wahrscheinlich das kleinste im ganzen Gebäude, und ich dachte oft, daß ich deshalb in diese Zelle verdammt worden war, damit mein Vater mögliche Vorwürfe von Verwandtenwirtschaft zurückweisen konnte. Aber in Wirklichkeit war mir das völlig egal, da ich mich selten in dem Büro aufhielt. Natürlich hatte ich keine Sekretärin, doch bei den seltenen Anlässen (etwa einmal im Jahr), wenn ich einen Brief aufzusetzen hatte, half mir die Privatsekretärin meines Vaters, Mrs. Trelawney, aus und verbesserte meine 59
Rechtschreibung. Der Grund, warum ich das Hauptquartier an diesem Morgen besuchte, war, daß ich meine monatliche Spesenabrechnung aufsetzen wollte. Ich kramte meine ganzen Bar- und Restaurantrechnungen heraus, die Quittung für Jennifers Tennisschläger, die unterzeichnete Quittung von Bela Rubik, dem Briefmarken- und Münzenmann, Quittungen für Beiträge an verschiedene Clubs. Ich zählte das alles zusammen, und die Endsumme schien mir niedrig zu sein. Also heftete ich einige imaginäre Barauslagen dazu: Taxifahrten, die ich nie gemacht hatte, Schmiergelder für Informanten, die ich nie gezahlt hatte. Tankquittungen für den Miata. Ich arbeitete noch an meiner Schwindelabrechnung, als mein Telefon klingelte. »Archibald McNally«, meldete ich mich. »Der Machiavelli von Palm Beach?« fragte Sergeant Al Rogoff. »Ich wollte nur hören, ob du da bist. Welch freudige Überraschung! Ich bin gleich bei dir.« »Weshalb?« fragte ich. »Ha!« war alles, was er sagte, bevor er auflegte. Eine halbe Stunde später rutschte er auf dem unbequemen, einzigen Blechklappstuhl hin und her, der mir für Besucher zugestanden worden war, und betrachtete mich mehr verärgert als sorgenvoll. »Du Ratte«, sagte er anklagend. »Oh, entschuldige. Ich hätte natürlich jemand, der Kumpel von Lady Horowitz ist, als Mister Ratte anreden müssen.« Ich hob ergeben die Hände. »Al, ich schwöre dir, daß ich bis heute morgen nicht gewußt habe, daß sie Strafanzeige stellen würde. Ich habe wirklich geglaubt, das werde mein Problem sein. Ich hatte keine Ahnung, daß das auf deinem Tisch landen würde.« »Ach ja?« sagte er und starrte mich an. »Du hast nachgeforscht?« »Nur zwei Tage.« »Was hast du herausgefunden?« wollte er wissen, während er sein Notizbuch zückte. 60
Ich nannte ihm die Namen des Personals und der Gäste, die sich im Haus Horowitz aufhielten. Ich gab den Inhalt der Gespräche wieder, die ich mit Kenneth Bodin, Angus Wolfson, Gina Stanescu, Jean Cuvier und Clara Bodkin geführt hatte. Ich beschrieb Lady Cynthias Schlafzimmer und erzählte ihm von der unverschlossenen Schmuckschatulle in der Nähe des Wandsafes. Er machte sich in seinem kleinen Buch eilig Notizen, und als er fertig war, blickte er mich mißtrauisch an. »Und das ist alles, was du herausbekommen hast?« »Das ist alles.« »Archy, versuche nicht, einen Trickser auszutricksen. Du verschweigst mir was.« Ich hatte den Knochen, den ich ihm vorzuwerfen gedachte, bereits poliert. »Also schön, da ist noch etwas«, sagte ich zögernd, »aber ich denke nicht, daß das wichtig ist.« »Laß mich den Richter spielen. Was ist es?« Ich erzählte ihm, daß ein Butler und ein Dienstmädchen bei Lady Horowitz einige Wochen vor dem Verschwinden der Briefmarken gekündigt und erklärt hatten, sie vertrügen die Sommerhitze in Florida nicht. »Aber die Inverted Jennies waren noch da, nachdem sie gegangen waren«, betonte ich, »sie können deshalb nicht in den Diebstahl verwickelt sein. Es sei denn, sie haben sich wieder ins Haus geschlichen.« »Oh, oh«, meinte Al. »Oder sie haben einem langfingerigen Kumpel von den Briefmarken erzählt. Okay, ich werde mich darum kümmern.« Er klappte sein Notizbuch zu und schlang ein Gummiband darum. »Wirst du in der Angelegenheit weiter herumschnüffeln?« Ich nickte. »Ich hatte vor, heute nachmittag dorthin zu fahren und einige der Leute zu überprüfen, mit denen ich noch nicht gesprochen habe.« Er dachte eine Weile darüber nach, und ich wartete ab, wie er 61
sich entscheiden würde. Wenn er mir Anweisung gab, mich aus dem Fall rauszuhalten, hatte ich mich zu fügen. Er trug den Sheriffstern, nicht ich. »Also gut«, sagte er schließlich, »du schnüffelst weiter herum, und wir vergleichen unsere Notizen. Zurückgehalten wird nichts. Ist das klar?« »Natürlich«, erwiderte ich. »Anders wollte ich's gar nicht haben.« Er seufzte und raffte sich auf. »Ich hasse diese Fälle«, meinte er. »Diese reichen Nichtsnutze behandeln mich wie einen Hilfsarbeiter.« »Denk nicht weiter drüber nach«, riet ich ihm. »Sie sind ebenso unschuldig und genauso schuldig wie jeder andere. Und vergiß die Weihnachtsgeschenke nicht.« »Ja«, sagte er mürrisch. »Eine Schachtel geschmackloser Kekse, von Pfadfinderinnen gebacken.« Er begab sich zur Tür, blieb dann stehen und schaute sich in meinem kleinen Büro um. »Du bist wirklich was wert«, sagte er. »Der Sohn des Bosses«, erinnerte ich ihn. Er lachte und ging. Was ich ihm natürlich nicht gesagt hatte, war das Gerücht, daß Lady Horowitz ein paar Jahre zuvor Spaß und Spiele mit ihrem Chauffeur genossen hatte. Ich hatte den Eindruck, daß die Hausherrin der Typ Frau war, die diese Beziehung beendet hatte. Kenneth Bodin würde sie bestimmt nicht an den Nagel gehängt haben. Kohle ließ der nicht einfach sausen. Es war möglich, daß er Rachegedanken gegen die wohlhabende Frau nährte, die sich plötzlich von ihm verabschiedet hatte, entweder aus Langeweile oder weil sie einen anderen Liebhaber gefunden hatte, der körperlich ebenso aufregend war, doch dazu den Grips besaß, der Bodin fehlte. Also hatte der Muskelprotz, dessen Männlichkeit einen Knacks bekam, beschlossen, die Inverted Jennies zu kassieren, um der reichen Schlampe eine Lektion zu erteilen. 62
Eine dünne Geschichte? Natürlich war sie das. Aber sie war alles, was ich bisher hatte, und ich wollte das überprüfen, bevor ich die Ergebnisse an Al weiterreichte. Ich schloß meine Spesenrechnung ab, reichte sie in die Buchhaltung und schaute dann in die Kantine. Ich trank ein Glas ungesalzenen Tomatensaft und aß zwei Reiskuchen. Ich fühlte mich ungemein gesund, als ich den Raum verließ, sprang in den Miata und fuhr zum Haus Horowitz. Ich klingelte an der Eingangstür, und das Eichenportal wurde, wie ich gehofft hatte, von der Haushälterin geöffnet, Mrs. Marsden. Wir wechselten Höflichkeiten, und ich fragte sie, ob wir uns einen Augenblick privat unterhalten könnten. »Ich habe mich schon gefragt, wann Sie zu mir kommen würden«, sagte sie und ging ins Wohnzimmer auf dem ersten Stock voraus. Wir nahmen in einer abgeschiedenen Ecke in chintzbezogenen Armsesseln Platz, steckten die Köpfe zusammen und sprachen so gedämpft, als ob wir Staatsgeheimnisse austauschten. Sie war eine Frau mit der Haltung und dem Gebaren eines Hauptfeldwebels. Sie war Witwe, und ich wußte zufällig, daß sie zwei Kinder durchs College geschleppt hatte, indem sie alle Verrücktheiten der Horowitz' über sich ergehen ließ. Sie stand schon lange im Dienste von Lady Cynthia, und ich bezweifelte, daß irgendein Wutausbruch ihrer Herrin sie noch überraschen konnte. Sie wußte, daß sie für eine Irre arbeitete, und fand sich damit ab. Ich stellte ihr die üblichen Fragen, und sie antwortete auf alle negativ. Dann lehnte ich mich zurück und schaute sie ernst an. »Mrs. Marsden, Sie wissen, daß ich kein Anwalt bin, aber ich repräsentiere meinen Vater, Lady Cynthias Rechtsanwalt. In gewisser Hinsicht bin ich an die gleichen Regeln gebunden, was das Vertrauensverhältnis Anwalt – Klient betrifft. Damit versuche ich zu sagen, daß es Aufgabe von McNally und Sohn ist, die Interessen von Lady Horowitz zu wahren. Wenn Sie dies berücksichtigen, gibt es da 63
irgend etwas, was Sie mir zum Verschwinden der Briefmarken erzählen könnten? Ich versichere Ihnen, daß es streng vertraulich behandelt wird.« Sie schwieg sehr lange, was an sich schon Bände sprach. Hätte es nichts gegeben, hätte sie das sofort gesagt. Schließlich bewegte sie sich unruhig. »Es ist nichts, was ich direkt aussprechen könnte«, sagte sie. »Nichts Eindeutiges – verstehen Sie?« Ich nickte. »Ein Gefühl«, fuhr sie fort. »Das ist alles. Ein Gefühl. Ich sehe Leute reden, und sie verstummen, wenn ich näher komme. Und Leute treffen sich mit Leuten, mit denen sie sich nicht treffen sollten.« »Welche Leute?« fragte ich. Aber sie ignorierte meine Frage. »Es ist einfach diese Stimmung«, sagte sie fast nachdenklich. »So, als ob etwas geschieht, etwas vorgeht, aber ich weiß nicht, was es ist. Das ist keine große Hilfe, nicht wahr?« »Mehr als Sie glauben«, meinte ich. »Ich vertraue auf Ihre Instinkte. Wenn die Dinge ein wenig klarer werden, rufen Sie mich dann an?« »Ja, das könnte ich tun.« »Ich weiß, daß Sie unsere Telefonnummer haben, die Privatnummer und die vom Büro. Ich würde es wirklich begrüßen, wenn Sie mich anriefen. Das ist eine widerliche Geschichte.« »Das ist sie«, sagte sie heftig nickend. »Die gefällt mir absolut nicht.« »Ich will Ihnen nicht noch mehr Zeit rauben, Mrs. Marsden. Ist noch jemand anwesend, mit dem ich sprechen könnte?« »Harry Smythe und seine Frau sind auf der Nordterrasse. Sie spielen Schach.« »Nette Leute?« fragte ich sie. »Es steht mir nicht an, das zu sagen«, erwiderte sie als perfekte 64
Angestellte. Ich fand den Weg zur Nordterrasse allein und geriet in einen Familienstreit. Nichts Vulgäres, aber als ich dort ankam, fegte er mit einer Armbewegung die Figuren vom Schachbrett, und sie funkelte ihn erbost an. Wenn Blicke töten könnten, wäre er auf der Stelle tot gewesen. Und dies waren die Leute, die Jean Cuvier, der Koch, ›kalt‹ genannt hatte? Ich bückte mich, um einen Turm und einen Bauern aufzuheben, und stellte beide auf das Brett. »Schachmatt«, sagte ich mit einem, wie ich hoffte, besänftigenden Lächeln. Das war's aber nicht. »Und wer sind Sie, zum Teufel?« wollte er wissen. Ich war versucht, ihm eine barsche Antwort zu geben. »Archibald McNally«, sagte ich. »Und Sie müssen Doris und Harry Smythe sein. Sicher hat Lady Horowitz Ihnen gesagt, daß ich komme, um Fragen wegen ihrer verschwundenen Briefmarken zu stellen.« »Das hat mit uns überhaupt nichts zu tun«, gab die Frau auf die mürrischste Weise, die man sich vorstellen kann, zurück. »Also verschwinden Sie.« Unaufgefordert zog ich einen Stuhl heran, setzte mich, schlug die Beine übereinander und gab ihnen eine Kostprobe McNallyscher Dreistigkeit. »Natürlich betrifft Sie das«, sagte ich. »Sie waren im Haus, als die Inverted Jennies verschwanden. Folglich sind Sie verdächtig. Der Diebstahl ist inzwischen den hiesigen Behörden gemeldet worden. Falls Sie sich weigern, meine Fragen zu beantworten, sehe ich mich gezwungen, Ihr unkooperatives Verhalten Sergeant Al Rogoff zu melden, der die offizielle Untersuchung leitet. Er ist dafür bekannt, widerspenstige Zeugen zum Reden zu bringen, indem er ihre Nieren mit einem Hartgummiknüppel malträtiert.« Ich glaubte wirklich, zu weit gegangen zu sein, und erwartete, daß sie mich auf der Stelle als ausgeflippten Irren verjagen würden. Aber vielleicht war's der Einfluß amerikanischer Filme und Fernsehserien, der sie veranlaßte, mich in entsetztem Erstaunen anzusehen und zu 65
überlegen, ob ich vielleicht die Wahrheit sagte, was die Verhörmethoden der Bullen in Florida anbelangte. »Wir wissen absolut nichts darüber«, sagte Harry Smythe, wobei er an seinem dünnen Bart zupfte. »Überhaupt nichts«, fiel seine Frau ein. Ich betrachtete sie. Das war ein Paar für sich! Beide lang und dürr, blaß und abgeschlafft. Beide trugen ihr Haar in der Mitte gescheitelt, doch seins war schütter und strohgelb, wohingegen das ihre dick, kastanienbraun und recht lang war. Und beide hatten die trüben Augen und die verkniffenen Unterkiefer der Glücklosen. Ich hoffte, Mrs. Marsden zählte das Tafelsilber, bevor sie abreisten. Ich verbrachte unerfreuliche zwanzig Minuten mit meiner Inquisition der Smythes. Doch da ich ihre Antworten scheinbar widerspruchslos hinnahm, fanden sie ihr Selbstbewußtsein wieder, und Harry starrte unverwandt mit eisiger Verachtung auf mein pastellfarbenes, seidenes Sportjackett. Er trug einen Harris-Tweed mit Wildlederflecken an den Ellenbogen – und das in Südflorida! »Und es gibt nichts, was Sie dem hinzufügen könnten, was Sie mir bereits erzählt haben?« fragte ich schließlich. »Ich vermute, daß jemand vom Personal die Marken genommen hat«, war sein Beitrag. »Ich danke Ihnen beiden sehr«, sagte ich und erhob mich. »Wahrscheinlich werde ich wiederkommen, um weitere Fragen zu stellen, und ich könnte mir vorstellen, daß auch Sergeant Rogoff Ihre Geschichte hören will. Sie können jetzt weiter Schach spielen. Ein wundervoller Tag dafür.« Ich marschierte durch den Hintereingang ins Haus zurück und begegnete Lady Cynthia Horowitz, die durch die Vordertür eingetreten war. Sie sah wie hundert Millionen Dollar aus, was, dem Klatsch in Palm Beach zufolge, ihr geschätztes Nettovermögen war. Jedenfalls trug sie einen umwerfenden Donna-Karan-Fetzen aus beigem Leinen. 66
Und um einen ihrer bloßen Knöchel schlang sich ein Diamantenkettchen. »Hallo, Junge«, sagte sie munter. »Wie kommt die Schnüffelei voran?« »Langsam«, sagte ich. »Ich habe gerade mit Doris und Harry Smythe gesprochen.« »Das sind Monster, nicht wahr?« fragte sie. »Ich kann einfach nicht glauben, daß dieser Langweiler mein Sohn ist. Und diese Xanthippe, die er geheiratet hat! Die beiden sind schrecklich.« »Sie haben sie eingeladen«, erklärte ich. »Kommen Sie mit«, befahl sie, wobei sie einen Zeigefinger krümmte. Ich folgte ihr durch den langen Korridor zu einem schattigen Spielzimmer, das komplett mit Billardtisch, Kartentischen und einem kleinen Rouletterad ausgestattet war. Dazu war in eine Wand eine große Bar eingebaut, und genau dorthin begab sich Lady Cynthia. »Was möchten Sie?« fragte sie. »Nichts, danke«, erwiderte ich. »Aber greifen Sie ruhig zu.« »Die Absicht habe ich«, sagte sie, und ich schaute fasziniert zu, wie schnell und geschickt sie ihren Gin-Bitter mixte. »Lassen Sie mich von meinem Sohn Harry erzählen«, fuhr sie fort, »und von meiner süßen Schwiegertochter. Die beiden sind von Beruf Gäste. Und so leben sie: von London nach Paris nach Antibes nach Monte Carlo nach Palm Beach nach Newport – wo immer sie Bekannte, Freunde oder Verwandte haben, die sie für ein Wochenende, eine Woche, einen Monat aufnehmen. Weder Harry noch Doris haben je gearbeitet und werden das wahrscheinlich auch nie. Ihr ganzer Besitz paßt in vier Koffer. Harry bekommt von mir jährlich einmal eine Geldzuwendung, gerade so viel, damit sie in der Touristenklasse zu ihrer nächsten Einladung fliegen können. Die beiden sind Parasiten.« »Eine traurige Lebensweise«, stellte ich fest. »Was für eine Zu67
kunft können die haben?« Sie grinste mich verschlagen an. »Sie warten auf meinen Tod«, sagte sie und nahm dann ihr Glas. »Prost!« »Lady Cynthia«, sagte ich, »ich würde Sie gern etwas fragen, das Sie hoffentlich nicht kränkt. Wenn die Smythes ständig so knapp bei Kasse sind, wie Sie sagen, halten Sie es für möglich, daß sie die Inverted Jennies gestohlen haben?« Sie dachte einen Augenblick darüber nach, den Kopf zur Seite geneigt. »Nein«, sagte sie schließlich. »Das paßt nicht zu ihnen. Kleinkram vielleicht, aber nicht ein großes Verbrechen. Dazu fehlt denen einfach der Mumm. Das sind wirklich kleine Leute, Junge. Was auch der Grund ist, warum ich Mrs. Marsden angewiesen habe, das Silber zu zählen, bevor sie abreisen.« Ich lachte. »Die Idee ist mir auch schon gekommen. Sie und ich denken gleich.« Sie schaute mich seltsam an. Ich konnte diesen Blick nicht deuten. »Tun wir das?« fragte sie. Bald danach verschwand ich, da ich mein Tagessoll im Fall der Inverted Jennies erfüllt hatte. Ich fuhr nach Hause, schwamm meine Meilen, ging zur Cocktailstunde der Familie und aß mit meinen Eltern zu Abend. Ich verkündete meine Absicht, den Abend in meiner Suite zu verbringen, um meine persönliche Korrespondenz zu erledigen. Mein Vater schlug vor, ich könne ja nachher auf einen Schlummertrunk in sein Arbeitszimmer herunterkommen, falls ich eine Pause einlegen wolle. Prescott McNally befahl niemals, er schlug vor. Ich brachte mein Tagebuch auf den neuesten Stand, bezahlte eine Rechnung für eine Gobelinweste und schrieb ein paar kurze Briefe. Ich rief auch Jennifer Towley an und erreichte ihren Anrufbeantworter. Ich hinterließ eine Nachricht, womit ich mich für einen belebenden Abend bedankte, und bat sie anzurufen, damit wir einen 68
weiteren arrangieren konnten. Ich legte auf, neugierig, wo sie zu dieser späten Stunde sein mochte. Konkurrenz fürchte ich nicht, aber ich würde es doch sehr bevorzugen, wenn der kühle TowleyBlick allein auf mich gerichtet wäre. Und mein Ego ist so ausgeprägt, daß ich mich weigerte zu glauben, sie könne einen leidenschaftlicheren Liebhaber gefunden haben. Vor Verärgerung knurrend, stiefelte ich treppabwärts zu besagtem Schlummertrunk ins Arbeitszimmer meines Vaters. Er kämpfte sich noch immer durch ›Little Dorrit‹, legte den Band aber beiseite, als ich eintrat, und lud mich ein, mich aus seiner Portkaraffe zu bedienen. Er wartete, bis ich getankt und mich gesetzt hatte, bevor er sagte: »Ich nehme an, du weißt, daß die Polizei über das Verschwinden von Lady Horowitz' Briefmarken informiert ist.« Ich nickte. »Wie du gehofft hast, ist Sergeant Rogoff mit den Ermittlungen beauftragt worden.« »Ja«, sagte ich. »Ich hatte heute morgen ein Gespräch mit ihm und erzählte ihm, was ich habe, und das ist nicht viel.« Er sah mich durchdringend an. »Du hast ihm alles gesagt?« »Nicht alles«, erwiderte ich und legte meinem Vater die wilde Theorie dar, die ich entwickelt hatte, wonach Kenneth Bodin, der Chauffeur, die Briefmarken geklaut haben könnte, um sich an der reichen Dame zu rächen, die eine Affäre mit ihm gehabt und ihm dann den Laufpaß gegeben hatte. Mein Vater erhob sich aus seinem Clubsessel und schritt zu dem Pfeifenständer hinüber, der auf einem von einer Marmorplatte gekrönten Tischchen stand. Er entschied sich für eine edle, silberberingte Comoy und begann, sie aus einem Walnußhumidor zu stopfen. Er hatte mir den Rücken zugewandt. »Glaubst du das wirklich, Archie?« fragte er. »Die Geschichte mit dem Chauffeur?« »Ich muß das überprüfen«, meinte ich, »aber im Augenblick ist 69
das alles, was ich habe.« Er entzündete seine Pfeife mit einem Streichholz und begab sich paffend zu seinem Sessel zurück. »Klingt für mich weithergeholt«, sagte er. »Ja, so ist es«, stimmte ich zu. »Und wenn ich etwas Besseres hätte, würde ich es auch gleich vergessen. Aber ich muß noch mit drei weiteren Leuten sprechen, und vielleicht ergibt sich dabei etwas. Übrigens, ich sprach heute nachmittag mit Lady Horowitz. Sie wirkte bemerkenswert munter.« »Der Verlust scheint sie nicht deprimiert zu haben«, gab er zu. »Aber ich bin sicher, du weißt sehr wohl, daß der nur einen Bruchteil ihres Nettovermögens darstellt. Könnte dieses Gerücht über Lady Cynthia und ihren Chauffeur nicht einfach nur Klatsch sein, an dem nichts ist?« »Das könnte sein«, räumte ich ein. »Aber ich bin immer wieder darüber erstaunt, wie oft sich herausstellt, daß in Klatsch doch ein Quentchen Wahrheit steckt. Und sie steht in dem Ruf, mit ihren Gunstbeweisen sehr freigiebig zu sein, mal abgesehen von ihren sechs Ehemännern.« »Ja«, sagte er, »das denke ich mir.« Und dann sagte er nichts mehr über den Fall Inverted Jennies. Ich plauderte über die Zwergpalmen, die Jamie um die Garage gepflanzt hatte, und er antwortete mechanisch. Ich trank meinen Port aus, bedankte mich und erhob mich zum Gehen. Er drängte mich nicht zum Bleiben. Er sagte nur: »Bleib dran, Archy.« Ich ging wieder nach oben und machte mich bettfertig. Mein Vater ist ein scharfsinniger Mann, und ich wunderte mich, warum er mich in allen Einzelheiten nach den verschwundenen Briefmarken befragt hatte. Normalerweise gibt er mir einen Auftrag und stellt nie Fragen, bis ich die Ergebnisse bringe. Ich konnte nur vermuten, daß er einem geschätzten Klienten durch McNally & Sohn beispielhaften Service bieten wollte. Es gibt eine Menge hungriger Anwälte 70
in Südflorida, wo viele reiche Leute ihre Anwälte ebenso oft wechseln wie ihr Hemd.
6
A
m folgenden Morgen verschlief ich und schoß in die Küche hinunter, wo ich Ursi Olson fand, die heftig mit einem Topf Jamswurzeln hantierte. Unsere Köchin und Haushälterin ist eine stämmige Frau, die aussieht, als könne sie ein Feld pflügen. »Frühstück?« fragte sie. »Sicher«, sagte ich. »Aber ich bin auf Diät.« »Keine Eier Benedict?« »Ich hab' dich belogen«, sagte ich. »Ich bin nicht auf Diät. Eier Benedict, um jeden Preis.« »Aus dem Büro Ihres Vaters ist ein Anruf für Sie gekommen. Mrs. Trelawney. Sie bittet um Rückruf.« Während Ursi meine Eier zubereitete, rief ich übers Küchentelefon die Sekretärin meines Vaters an. »Ich habe den Scheck für Ihre Spesenabrechnung«, erzählte sie mir. »Gott segne Sie!« rief ich. »Können Sie ihn abholen?« »Worauf Sie sich verlassen können«, erwiderte ich. »Im Laufe des Tages. Okay?« »Wann Sie wollen«, meinte sie. Das klingt, als sei's ein harmloser Anruf gewesen, nicht wahr? Später aber sollte ich darüber nachdenken, als wie wichtig er sich 71
herausstellte. Denn wenn Mrs. Trelawney mich nicht angerufen und ich nicht gesagt hätte, daß ich ins Büro komme, um meinen Scheck abzuholen, dann hätte ich – aber ich eile den Dingen voraus. Zu der Zeit, als das geschah, empfand ich nichts als Freude darüber, daß Geld auf mich wartete. Mein Konto war ein wenig ausgemergelt. Womit ich nicht sagen will, daß Armut drohte, aber man schläft besser, wenn man ein paar Scheine unter der Matratze hat, nicht wahr? Nach dem Frühstück sauste ich zur Villa Horowitz. Ich wollte mit den übrigen Bewohnern sprechen, bevor Al und seine Gefolgsleute sie mit Beschlag belegten. Al ist ein sehr fähiger Ermittler, aber Einfühlungsvermögen ist nicht seine Stärke. Zunächst einmal wirkt er bedrohlich, was eine Menge Leute dazu bringt, den Mund zu halten – vor allem die schuldigen. Ich wirke wie ein Trottel, was viele täuscht und dazu bringt, mir mehr zu erzählen, als sie beabsichtigen. Ich begab mich in das Büro von Consuela Garcia, Lady Cynthias Privatsekretärin und meiner verflossenen Liebe. Sie telefonierte, als ich eintrat, und winkte mich auf einen Stuhl. »Aber ich habe die Einladung persönlich zur Post gebracht, Mrs. Blair«, log sie aalglatt. »Ich verstehe wirklich nicht, warum Sie sie nicht bekommen haben. Unsere Post ist einfach schrecklich! Also, Lady Horowitz plant eine Riesenparty für den vierten Juli, und ich werde alles tun, um sicherzustellen, daß Sie eine Einladung bekommen. Und ich kann nur wiederholen, es tut mir leid, daß Sie beim letzten Mal so enttäuscht waren.« Sie legte auf und grinste mich an. »Lügen, lügen und betrügen«, sagte ich. »Jetzt hör mal zu«, erwiderte sie. »Ich hörte, du bist mit einer sehr attraktiven Frau im Pelican Club gewesen. Wer war das?« »Meine Schwester«, sagte ich. »Und seit wann spendiert ein Mann seiner Schwester Champagnercocktails?« »Oha«, murmelte ich. »Priscilla hat geplaudert.« 72
Connie, die Mitglied des Pelican Club ist, sagte: »Priscilla plaudert nie. Das weißt du sehr gut. Aber meine Spione sind überall. Wie geht's dir, Archy?« »Wenn ich mich noch besser fühlte, wäre ich bewußtlos. Und du?« »Ich überlebe so gerade. Die Hälfte der Anrufe bekomme ich von Schwätzern, die wissen wollen, wer Lady Cynthias Briefmarken geklaut hat. Ich nehme an, daß du deshalb hier bist.« »Du nimmst richtig an. Waren die Bullen schon da?« »Noch nicht.« »Sie werden kommen.« »Das hat mir noch gefehlt«, sagte sie bekümmert. »Die Reporter sind schon schlimm genug. Na gut, bringen wir's hinter uns.« Ich ging mit ihr die Kurzversion meiner zwanzig Fragen durch und erfuhr nichts von Wichtigkeit. Consuela hatte die Inverted Jennies zuletzt vor sechs Monaten gesehen, als Lady Cynthia sie bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung herumreichte. Jedermann wußte, daß sie sie in einem unverschlossenen Wandsafe aufbewahrte, und wirklich jeder konnte sie sich unter den Nagel gerissen haben: Personal, Gäste des Hauses und sogar Kurzbesucher. Ich starrte sie an, während sie sprach, und sah, was mich ursprünglich so angezogen hatte: Sie war eine ziemlich kleine, selbstbewußte junge Dame mit lang fallendem schwarzen Haar. Während unserer kurzen Eskapade hatte ich einmal das Vergnügen gehabt, sie in einem Bikini zu sehen. Die Erinnerung blieb. Aber an ihr war mehr als nur ihr Körper. Sie hatte Köpfchen. »Connie«, sagte ich, »gib mir einen Anhaltspunkt, egal wie verrückt. Wer, glaubst du, hat diese dämlichen Briefmarken gestohlen?« Sie überlegte eine Weile. »Kein Fremder«, meinte sie schließlich. »Garantiert kein Einbrecher. Das schlucke ich nicht. Es war jemand aus dem Haus.« Ich stöhnte. »Vielen herzlichen Dank«, sagte ich. »Fünf Leute 73
vom Personal, sechs Gäste. Macht elf Verdächtige.« »Mich eingeschlossen.« Sie grinste wieder. »Das ist richtig«, stimmte ich zu. »Und die Bullen wissen das.« »Wie wundervoll.« »Was ist mit Harry Smythe und seiner Frau?« »Was soll mit ihnen sein?« »Ich mag sie nicht«, sagte ich. »Wer tut das schon?« fragte sie sehr vernünftig. »Aber wenn ich mutmaßen sollte, dann stünden die auf meiner Liste nicht obenan. Sie sind zu gewöhnlich.« »Wer würde denn oben auf der Liste stehen?« Sie zögerte nur einen Augenblick. »Alan DuPey und seine Frau.« »Warum die?« »Die sind zu nett.« Ich hätte mir vor Freude fast auf die Schenkel geschlagen. »Das FBI könnte dich brauchen, Connie. Du bist ja eine tolle Detektivin!« »Na ja, du hast mich nach verrückten Ideen gefragt.« »Hab' ich«, sagte ich. »Ich habe noch nicht mit den DuPeys gesprochen. Sind sie da?« »Niemand ist da. Lady Cynthia ist beim Friseur, und der Rest der Bande ist ausgeflogen, um einen Tag auf Phil Meechams Jacht zu verbringen.« »Dieser alte Roué?« sagte ich. »Der wird hinter allen Frauen her sein – und hinter den meisten Männern. Na schön, die DuPeys nehme ich mir ein andermal vor. Danke für deine Hilfe, Connie.« Ich war im Begriff zu gehen, als sie »Archy« rief, und ich drehte mich um. »Wer ist sie?« fragte sie. »Du gibst wohl nie auf, was?« erwiderte ich. »Also gut, es ist kein Geheimnis. Sie heißt Jennifer Towley.« Connies Lächeln schwand. »Oh, oh«, sagte sie. »Du bekommst 74
Probleme, Kleiner.« Ich starrte sie an. »Was hat denn das zu bedeuten?« wollte ich wissen. »Du bist die zweite Person, die mich warnt. Warum bekomme ich Probleme? Was stimmt bei meiner Freundin Jennifer nicht?« »Nichts«, sagte sie, während sie sich mit den Papieren auf ihrem Schreibtisch beschäftigte. »Und jetzt scher dich hier raus. Ich hab' viel zu tun.« Ich wußte, daß es keinen Sinn hatte, sie zu drängen, also verschwand ich. Ich fuhr zum Büro und überlegte dabei, welches Rätsel unerträglicher sei: die verschwundenen Briefmarken oder Jennifer Towley. Beide hielten sich in etwa die Waage, fand ich. In der kühlen Eingangshalle des McNally-&-Sohn-Gebäudes reichte mir der Empfangschef, ein weißer Heterosexueller (wir sind Arbeitgeber, die jedem die gleichen Chancen geben), eine Nachricht auf einem rosa Zettel. Darauf stand, daß Bela Rubik mich vor etwa einer Stunde angerufen habe und schnellstmöglich um meinen Rückruf bitte. Ich ging nach oben und holte bei Mrs. Trelawney meinen Scheck ab. Sie trug offensichtlich eine Perücke und sah wie die typische unverheiratete Tante aus. Aber sie liebte unanständige Witze, weshalb ich zehn Minuten bei ihr verbrachte und ihr die erzählte, die ich in letzter Zeit gehört hatte. Sie selbst hatte auch ein paar gute auf Lager. Dann ging ich in mein Büro und rief Rubik an. »Archibald McNally«, sagte ich. »Ich rufe wegen Ihres Anrufes an. Haben Sie was für mich, Mr. Rubik?« »Ja«, erwiderte er, »etwas Wichtiges.« »Was?« »Nicht am Telefon. Kommen Sie her, so schnell Sie können.« Ich fuhr zu meiner Bank, die einen Block entfernt ist, und reichte den Spesenscheck ein. Ich hätte gemächlich zu Rubiks Laden schlendern können, aber der Tag wurde geradezu grauenhaft heiß, weshalb ich zu fahren beschloß. Ich fand einen Parkplatz nahe der 75
Worth Avenue, spazierte zu dem Briefmarken- und Münzenladen hinüber und wünschte, ich hätte meinen Pyjama angezogen. An der Glastür klebte ein Pappschild: ›Bin in einer Stunde zurück.‹ Gewöhnlich bin ich nicht ordinär, aber ich gebe zu, daß ich einen milden Fluch ausstieß, als ich das las. Aus dem Schild ging nicht hervor, wann Rubik gegangen war. ›Bin in einer Stunde zurück‹ konnte bedeuten, daß ich drei Minuten zu warten hatte oder fünfzig. Überhaupt nicht sauer, wollte ich mich entfernen, blieb dann aber stehen. Plötzlich wurde mir klar, daß das blöde Schild von außen auf die Glastür geklebt war. Wie oft hat man schon gesehen, daß ein Händler das macht? Noch nie. Die befestigen ihre Schilder innen an der Scheibe, damit man sie abnehmen und wieder verwenden kann. Klebt man sie außen drauf und irgendein Schwachkopf kommt vorbei, reißt der's ab und wirft's nur so zum Spaß in die Gosse. Ich machte kehrt und inspizierte das Schild aufmerksamer. Es schien hastig hingekritzelt zu sein und war mit einem zerfetzten Stück Klebeband am Glas befestigt. Ich beschattete meine Augen und versuchte, ins Ladeninnere zu schauen. Ich sah keine Bewegung, entdeckte jedoch auf dem Fliesenboden neben der Vitrine die verrückte Brille des Briefmarkenhändlers, die mit der Doppellupe. Sie war verbogen, und eine der Linsen war herausgesprungen. »O Gott«, sagte ich laut. Ich griff nach dem Türknopf. Er ließ sich leicht drehen. Ich öffnete die Tür ein paar Zentimeter. »Mr. Rubik«, rief ich, »sind Sie da?« Keine Antwort. Ich trat vorsichtig ein, bewegte mich sehr langsam. Er lag hinter der Vitrine auf dem Boden. Sein kahler Schädel war so oft angeknackst worden, daß er wie eine zerknüllte Papiertüte aussah. Neben seinem zerschmetterten Schädel lag das, was wohl die Waffe gewesen war: ein Kristallbriefbeschwerer. Aus dem zerschmetterten 76
Schädel kam sehr wenig Blut. Gewaltsamer Tod ist mir nicht unvertraut, aber ich glaube nicht, daß ich mich je daran gewöhnen werde. Ich hoff's jedenfalls nicht. Ich schaute mich um, trat dann vorsichtig über die Leiche in das Büro hinten im Laden, das einen großen zweitürigen Tresor enthielt. Zu sehen war niemand, und niemand hockte hinter dem Schreibtisch, bereit, hervorzuspringen und »Buh!« zu rufen. Die winzige Toilette war ebenfalls leer. Ich benutzte das Telefon auf Rubiks Schreibtisch, faßte es vorsichtig mit meinem seidenen Einstecktuch an. Ich rief das PBPD an und betete, daß Al da sein möge. Er war da. »Sergeant Rogoff«, sagte er. »Archy McNally«, erwiderte ich. »Ich bin in Rubiks Briefmarkenund Münzenladen. Rubik liegt auf dem Boden und wartet auf den Leichenwagen. Jemand hat ihm den Schädel eingeschlagen.« Al schaltete sofort. »Okay«, sagte er. »Ich komme.« »Mach schnell, Al«, drängte ich. »Faß nichts an«, befahl er. »Geh raus und warte auf dem Bürgersteig auf mich.« Ich ging nach draußen und bewachte die Tür. Ich steckte meine Hände in die Taschen, um das Zittern zu verbergen. Spaziergänger gingen vorbei, und einige von ihnen schenkten mir ein freundliches Nicken, wie's die Menschen in Florida eben tun. Mir kam's wie eine Ewigkeit vor, aber wahrscheinlich dauerte es kaum mehr als zehn Minuten, bis ich das Gejaule einer nahenden Sirene hörte. Dann hielt der Streifenwagen mit quietschenden Bremsen. Al und ein anderer uniformierter Beamter stiegen gemächlich aus. Der andere Bulle war mir fremd, aber er wirkte auf mich schrecklich jung, was bedeutete, daß ich alt werde. Jedenfalls versuchte er streng und sehr dienstlich dreinzuschauen und hatte eine Hand auf den Kolben seines Revolvers gelegt. Wir begaben uns in den Laden und blickten auf die Überreste 77
Bela Rubiks. »Vielen Dank, Archy«, sagte Al zu mir. Der junge Beamte hockte sich neben die Leiche und tastete nach deren Hals. Möglich, daß er nach der Halsschlagader suchte. Er blickte zu Al auf. »Er ist tot, Sergeant.« »Ehrlich?« sagte Al. »Bist du sicher, daß er nicht simuliert?« Er wandte sich an mich. »Geh du in dein Büro, Archy«, befahl er, »und verlaß es nicht. Nicht mal zum Pinkeln. Wenn ich hier alles angeleiert habe, rufe ich dich an, und dann kommst du und diktierst deine Aussage.« Ich kehrte nicht direkt in mein Büro zurück. Ich stiefelte in die nächste Bar und nahm einen doppelten Pinch. Mein Zittern hörte endlich auf. Als ich im Hauptquartier eintraf, ging ich zum Büro meines Vaters, aber Mrs. Trelawney sagte, er sei mit einem Klienten zum Mittagessen gegangen. Also zog ich mich in mein Kämmerchen zurück und steckte mir die erste Zigarette des Tages an. Ich fand, die hatte ich verdient. Ich saß da über eine Stunde, zählte die Wände und versuchte, an nichts zu denken. Aber das klappte nicht. Ich mußte ständig über den Zufall nachdenken. Hätte Mrs. Trelawney mich nicht wegen des Spesenschecks angerufen, wäre ich an diesem Morgen nicht ins Büro gekommen. Und wenn ich nicht ins Büro gekommen wäre, hätte ich nicht die Nachricht erhalten, daß Mr. Rubik angerufen habe. Und hätte ich keine Zeit damit vergeudet, mit Mrs. Trelawney Witze zu tauschen, wäre ich eher gegangen. Und hätte ich nicht angehalten, um den Scheck einzureichen, sondern wäre sofort zu Rubiks Laden gesaust, wäre ich möglicherweise Zeuge eines entsetzlichen Mordes geworden. Aber was nützte es, sich das auszumalen? Das Leben besteht nur aus Wenns, oder? Dann rief Al an. »Also«, sagte er, »komm jetzt herüber.« Ich fuhr zu dem Gebäude an der County Road, das Al gerne den ›Palast‹ zu nennen pflegt. Sein Büro war größer als meins und die 78
Einrichtung Polizeiwachen-Moderne. Ich saß auf einem unbequemen hölzernen Armstuhl und diktierte meine Aussage in einen Kassettenrekorder, wobei Al und zwei Zeugen mir zuhörten. Diesmal verschwieg ich absolut nichts. Ich erzählte von meinem ersten Treffen mit Bela Rubik und daß er sich bereit erklärt hatte, andere Händler zu fragen, ob ein Block von vier Inverted-JennyBriefmarken plötzlich auf den Markt gekommen sei. Dann sagte ich aus, daß er mich an diesem Morgen angerufen und gesagt habe, er habe mir etwas Wichtiges zu erzählen, worüber er aber nicht am Telefon sprechen wolle. Ich schilderte, daß das außen an dem Glas angebrachte Schild meine Neugier geweckt hatte. Ich sagte, daß ich eingetreten sei, nachdem ich Rubiks verbogene Brille auf dem Boden liegen sah. Ich merkte an, daß bei meinem ersten Besuch des Ladens die Tür verschlossen gewesen war und daß der Besitzer wohl keinen Unbekannten einließ, den er für gefährlich hielt. Ich sagte, daß ich außer dem Türknopf und dem Telefon auf Rubiks Schreibtisch nichts angefaßt hatte. Ich hatte niemand den Laden verlassen sehen, als ich kam. Ich hatte kein Parfüm oder einen anderen Geruch im Laden wahrgenommen. Mir gegenüber hatte der Briefmarkenhändler nichts von früheren Überfällen oder Angriffen erwähnt. Und das war alles, was ich wußte. Das Band wurde zum Abtippen ins Schreibbüro gebracht, und Al und ich blieben allein zurück. Er nahm eine Zigarre heraus, schnitt die Spitze mit einem Federmesser ab und begann daran herumzulutschen. »Meinst du, das hatte was mit den Inverted Jennies zu tun?« fragte er. »Ich halte das für eine naheliegende Vermutung«, erwiderte ich. »Es sei denn, es war ein Raubüberfall. Fehlte was?« »Sah nicht so aus. Die Vitrine war verschlossen und unversehrt. Ebenfalls der Safe hinten im Büro. Rubik hatte seine Brieftasche noch bei sich. War nicht angetastet.« 79
»Al, war er verheiratet?« »Ja. Seine Frau ist in einem Pflegeheim. Alzheimer. Er hat eine Tochter, die ist beim Friedenskorps in Afrika. Wir versuchen, sie zu benachrichtigen. Er hatte zwei Söhne, aber beide kamen im letzten Jahr beim Absturz eines Sportflugzeugs ums Leben. Meinst du, es sei jemand gewesen, den er kannte?« »Jemand, den er erkannte«, sagte ich. »Jemand, mit dem er schon vorher zu tun gehabt hat.« »Und was war deiner Meinung nach das Wichtige, worüber er mit dir reden wollte?« Ich zuckte die Schultern. »Ich bat ihn herauszufinden, ob irgendwo Inverted Jennies zum Verkauf angeboten wurden. Vielleicht hat er das herausbekommen.« »Und deshalb wurde er ermordet?« »Es ist möglich.« Al grinste mich an. »Alles ist möglich. Es ist sogar möglich, daß du mir etwas verschweigst.« »Das würde ich niemals tun«, protestierte ich. »Nicht bei einem Mord.« Al überlegte einen Augenblick. »Wie kommst du mit dem Horowitz-Clan zurecht?« fragte er plötzlich. »Bin noch dran. Da gibt's nichts zu berichten.« »Bleib dran«, sagte er. »Kümmere du dich um den Briefmarkendiebstahl – diese Leute werden dir mehr erzählen als uns –, und ich konzentriere mich auf den Mord an Rubik. Wie findest du das?« »Leuchtet ein«, meinte ich. »Und ich glaube, am Ende stellen wir fest, daß wir am selben Fall arbeiten.« »Du meinst, jemand aus dem Horowitz-Verein hätte Rubik kaltgemacht?« »Ja«, erwiderte ich. »Du nicht?« Aber »Könnte sein« war alles, was er sagte. Die Stenografin kam mit meiner getippten Aussage: ein Original 80
und vier Fotokopien. Ich unterschrieb sie, und Al gab mir eine Kopie. »Wenn dir sonst was einfällt«, sagte er, »laß es mich wissen.« »Mir fällt gerade was ein«, antwortete ich. »Dieses Schild an der Tür – hat der Mörder das mitgebracht? Ich meine, war die ganze Sache geplant?« Al schüttelte den Kopf. »Das bezweifle ich. Ein Stapel dieser Pappen lag in der untersten Schublade von Rubiks Schreibtisch. Wahrscheinlich hat er die zur Verstärkung der Umschläge benutzt, wenn er Briefmarken verschickte. Da lag auch eine Rolle Klebeband.« »Dann war das also ein ganz spontaner Mord?« »Würde ich sagen. Er und der Killer bekamen wegen irgendwas Streit, und der endete damit, daß ihm der Schädel eingeschlagen wurde.« »Und der Mörder klebte das Schild an, um mehr Zeit zum Verschwinden zu bekommen?« »So sehe ich das.« »Wurde das Schild auf Fingerabdrücke untersucht? Das Klebeband? Der Briefbeschwerer?« »Die Jungs sind noch dabei«, erwiderte Al. »Kann ich jetzt gehen?« fragte ich. »Ja«, sagte er. »Geh nach Hause, genehmige dir einen und leg dich hin. Du siehst nicht gerade gut aus.« »Ich fühl' mich nicht gut«, antwortete ich. »Danke für die prompte Hilfe, Al. Tut mir leid, daß ich dir das aufgehalst habe.« »Wär's das nicht gewesen«, meinte er seufzend, »dann was anderes. Es hört eben nie auf.« Er schwieg einen Augenblick. »Ich hab' Rubik nicht sehr gemocht. Du?« »Nein«, sagte ich. »Aber trotzdem...« Ich fuhr langsam zum Haus meines Vaters zurück. Ich überlegte, warum ich im Krankenwagenstil fuhr, und begriff dann, daß die Erkenntnis von menschlicher Sterblichkeit diese Vorsicht ausgelöst 81
hatte. Ich fuhr den Miata in die Garage und betrat das Haus durch den Seiteneingang. Meine Mutter stand in der Küche an der Spüle und arrangierte Schnittblumen aus unserem Garten in einer Kristallvase. Sie blickte auf, als ich eintrat. »Hallo, Archy«, sagte sie strahlend. »Das ist doch ein prachtvoller Tag!« Sie hielt zweifelnd inne. »Habe ich das richtige Wort benutzt?« »Genau das richtige Wort«, versicherte ich ihr. »Gut! Und was hast du heute gemacht?« »Oh«, meinte ich, »dies und das. Aber jetzt ziehe ich mich erst mal um und gehe schwimmen.« »Sei vorsichtig«, antwortete sie. »Ja, das sind die letzten Rosen, Archy. Die Hitze frißt sie einfach auf.« Ich schaute ihr einen Augenblick bei der Arbeit zu, wie sie da über die Spüle gebeugt stand und lächelte, während sie die Stiele schnitt und die Blumen in die Vase steckte. »Mutter«, sagte ich, »wie fühlst du dich in letzter Zeit?« »Tiptop«, sagte sie. »Könnte nicht besser sein.« »Nimmst du auch deine Medizin?« »Natürlich. Jeden Tag.« Ich stürzte plötzlich zu ihr hin, um sie auf die Wange zu küssen, und sie sah mich freudig überrascht an. »Ach!« fragte sie. »Wofür war das?« »Es überkam mich einfach«, erwiderte ich und ließ sie mit ihren Blumen stehen. Ich zog mich um, nahm meine Strandtasche und das Handtuch und trabte über die A1A zum Strand. Es war rauh draußen, eine tosende Brandung und große Seegrasteppiche, die sich auf den Wellen hoben und senkten. Ich beschloß, es nicht zu wagen. Also schmierte ich mich mit Sonnenöl ein und setzte mich im Gitterschatten einer Palme in den Sand. Ich starrte auf die wo82
gende See hinaus und versuchte, die Ereignisse des Tages Revue passieren zu lassen. Das gelang mir ganz gut, bis ich zu der Filmstelle kam, wo ich im Laden gestanden und auf Bela Rubiks eingeschlagenen Schädel geschaut hatte. Von da an kam ich nicht weiter. Ich hätte nie geglaubt, daß ich an einem heißen Nachmittag in Südflorida frieren könnte. Aber so war es. Es kostete mich fast körperliche Überwindung, diese makabre Szene aus meiner Erinnerung zu verdrängen. Ich tat das, indem ich meine Gedankenkamera entschlossen auf positivere Bilder richtete. Auf Jennifer Towleys klassische Eleganz. Auf Consuela Garcia in ihrem Bikini. Auf ähnliche Erinnerungen von Liebe, Lust und ruhiger See. Und dies alles, um das Bild plötzlichen Todes zu bannen. Wissen Sie, ich bin kein Held.
7
M
eine Eltern hatten an diesem Abend ein Ehepaar zu einer Partie Bridge zu Gast, und ich fand keine Gelegenheit, mit meinem Vater zu sprechen. Doch nach dem Frühstück am nächsten Morgen fragte ich ihn, ob wir ein paar Minuten miteinander reden könnten, bevor er ins Büro fuhr. Er ging in sein Arbeitszimmer voraus. »Was ist, Archy?« fragte er ziemlich gereizt. Der Herr des Hauses haßte es, wenn seine Routine gestört wurde. Ich erzählte ihm von der Ermordung Bela Rubiks. Sein Gesicht verdüsterte sich. Er dachte lange nach. »Beklagenswert«, verkündete er schließlich. »Glaubst du, daß der Mord in Zu83
sammenhang mit dem Diebstahl der Briefmarken von Lady Horowitz steht?« »Ja«, sagte ich. »Darauf wette ich.« »Glaubt Sergeant Rogoff das auch?« Ich nickte. Er bewegte sich langsam durch sein Arbeitszimmer, hob Gegenstände auf und stellte sie wieder ab. »Ich hoffe, er wird der Presse nicht sagen, daß es möglicherweise eine Verbindung gibt.« »Ich bezweifle, daß er das tun wird, Vater. Al ist ein intelligenter Mann und sehr besonnen, was den Umgang mit Strandmillionären anbelangt. Er wird den Reportern erzählen, Rubiks Tod sei wahrscheinlich die Folge eines versuchten Raubüberfalls. Der Briefmarkenhändler hat sich auf einen Kampf eingelassen und ist dabei ermordet worden. Das wird Lady Horowitz schützen und den Täter zudem in falscher Sicherheit wiegen. Rogoff stellt sich gern als Brecher dar, aber wenn's nötig ist, kann er sehr raffiniert sein.« »Freut mich, das zu hören. Willst du deine ›diskreten Ermittlungen‹ angesichts des Mordes fortsetzen?« Ich war beleidigt. »Natürlich«, rief ich hitzig. Mein Vater drehte sich zu mir um und sah mich an. »Ich stelle nicht deinen Mut in Frage, Archy«, sagte er. »Ich will damit nur zum Ausdruck bringen, daß dieser Fall eine Schwere angenommen hat, mit der wir nicht gerechnet haben. Unsere Firma wird ihr Bestes tun, die Interessen unserer Klienten zu schützen, aber ich bin nicht sicher, ob das die Untersuchung eines Mordfalles einschließt.« »Al wird sich darum kümmern«, fuhr ich fort, »und ich werde versuchen, den Diebstahl der Inverted Jennies aufzuklären. Al und ich haben das so vereinbart.« »Also gut«, sagte der Herr des Hauses schließlich. »Verfahren wir so. Halte mich bitte auf dem laufenden.« Ich nickte, und er machte Anstalten, das Zimmer zu verlassen, 84
blieb dann aber stehen und drehte sich nochmals zu mir um. »Sei vorsichtig« war alles, was er sagte, aber ich war ihm selbst für diesen kleinen Ausdruck der Sorge dankbar. Ich wartete ein paar Augenblicke und schaute aus dem Fenster. Als ich den Lexus wegfahren sah, zog ich seine Telefonbücher heraus. Dieses Mal nahm ich mir das Branchenverzeichnis des North Broward County vor. Darin war ein halbes Dutzend Briefmarkenhändler aufgeführt. Ich riß die Seite aus dem Telefonbuch und steckte sie in meine Tasche. Wenn Rubik herausgefunden hatte, daß der Block der Inverted Jennies plötzlich zum Verkauf angeboten wurde, gab es keinen Grund zu der Annahme, daß nicht auch ein anderer Briefmarkenhändler das feststellen konnte. Aber ich wollte nicht den Schädel eines weiteren ortsansässigen Philatelisten gefährden. Ich glaubte, ein vom Tatort meilenweit entfernter Händler sei ungefährdet – es sei denn, ich würde verfolgt werden. Und ich hatte die Absicht, dafür zu sorgen, daß ich das nicht wurde. Normalerweise ist die Fahrt von Palm Beach nach Fort Lauderdale über die A1A eine der beeindruckendsten Touren durch den Sonnenschein-Staat. Wenn man weiter nach Süden kommt, liegt der Atlantische Ozean zur Linken, und zur Rechten erstrecken sich die feudalen Anwesen der reichen Reichen. Auf der einen Seite Natur, auf der anderen Zivilisation. Während ich ziemlich schnell dahinfuhr, ging ich die Tagesordnung durch, die ich mir für meine Nachforschungen gegeben hatte. Der brutale Mord an Bela Rubik hatte sie geändert, und trotz meiner Vereinbarung mit Al beschloß ich, dem Mord Vorrang vor dem Diebstahl zu geben. Während meiner Fahrt nach Süden kam ich zufällig durch Delray Beach, und ich beschloß, Kenneth Bodin unter Druck zu setzen, um mir zu beweisen oder zu widerlegen, daß er in diesen Wahnsinn verwickelt war. Ich dachte auch daran, regelmäßig in meinen Rückspiegel zu schauen, um einen möglichen Verfolger zu entdecken. 85
Nichts. Ich hatte ›Laterne, Briefmarken und Münzen‹ in Fort Lauderdale nur ausgewählt, weil ich den Namen attraktiv fand. Und als ich den Laden am East Commercial Boulevard fand, freute ich mich, eine antike Laterne über der Tür hängen zu sehen. Ich fand das sehr schön, weil ich ein großer Fan von Diogenes bin. Doch auf dem Flachglasfenster stand in goldener Schrift: ›Inhaber: H. Lantern.‹ Was schlicht und ergreifend ›Laterne‹ heißt. Offensichtlich war der Laden nach dem Inhaber und nicht nach der Lampe benannt worden. Die Tür war verschlossen, und als ich am Türknopf rüttelte, trat eine stattliche Dame in den Fünfzigern an die Glasscheibe und schaute mich an. Ich hielt meine Visitenkarte so, daß sie sie lesen konnte. Sie schloß die Tür auf und ließ mich eintreten. »Ja?« fragte sie. »Könnte ich bitte den Inhaber sprechen?« Sie erstarrte. »Ich bin die Inhaberin«, erwiderte sie aufgebracht. »Verzeihen Sie«, sagte ich. »Ich habe angenommen –« »Ich weiß, was Sie angenommen haben«, unterbrach sie mich. »Daß eine Frau unmöglich ein eigenes Geschäft besitzen und führen kann, und deshalb muß ich eine Verkäuferin sein oder die Frau oder die Tochter des Inhabers.« »Nichts dergleichen«, meinte ich. »Es ist ganz einfach so, daß –« »Ich will Ihnen mal was sagen«, fuhr sie fort. »Es gibt absolut keine Geheimnisse in Sachen Geschäftsführung, die nur dem männlichen Geschlecht vertraut wären. Es gibt viele Frauen, die Unternehmen besitzen und erfolgreich führen.« »Sehr bewundernswert. Dessen bin ich sicher«, sagte ich, »aber Sie ziehen eine Schlußfolgerung aus einem Vorurteil, das einfach nicht existiert. Ich habe in meinem Leben eine Menge Briefmarkenhändler kennengelernt, und das waren ausnahmslos launische alte Herren. Deshalb war ich natürlich überrascht, in diesem Gewerbe eine 86
junge, attraktive Frau zu finden.« Und ich schenkte ihr ein Lächeln, das aber keine Wirkung zeigte. Sie starrte mich mit zusammengekniffenen Augen an und war offensichtlich hin- und hergerissen, ob ich sie belog oder nicht. Natürlich tat ich das. Schließlich ließ sie sich erweichen. »Also gut«, sagte sie. »Ich akzeptiere Ihre Entschuldigung.« Ich war mir nicht bewußt, eine angeboten zu haben, wagte aber nicht, die Wut dieser Furie herauszufordern, indem ich das erwähnte. »Nun«, fuhr sie fort, »was kann ich für Sie tun?« Ich erzählte ihr die gleiche Geschichte wie Bela Rubik: Meine Kanzlei verwaltete den Nachlaß eines unlängst verstorbenen Bauunternehmers aus Boca Raton. Zu seinem Vermögen gehörte ein Viererblock von Inverted-Jenny-Briefmarken. Aus steuerlichen Gründen wollten wir den Wert der Marken feststellen, auf der Grundlage des Marktpreises eines ähnlichen Blocks, der unlängst zum Verkauf angeboten wurde. H. Lantern schüttelte den Kopf. »Das geht nicht«, sagte sie entschieden. »Briefmarken haben immer einen verschiedenen Wert, selbst die der gleichen Auflage. Der Wert hängt vom Zustand der Marken ab.« »Das wissen Sie«, sagte ich, »und ich weiß das, aber die Finanzbehörde weiß das nicht. Ganz ehrlich gesagt, wir fürchten, daß die herausbekommt, daß ein Block von vier Inverted Jennies kürzlich auf einer Auktion für eine Million Dollar wegging, und sie ist imstande, die Briefmarken, die zum Vermögen unseres verblichenen Klienten gehören, mit diesem Wert zu bemessen.« »Ich könnte sie für Sie schätzen«, bot sie an. Ich stieß ein kurzes, bitteres Lachen aus. »Meinen Sie, die Finanzbehörde würde das akzeptieren? Niemals! Im Augenblick basiert deren Schätzung des Marktwertes auf dem Million-Dollar-Verkauf, der unlängst in New York so aufsehenerregend über die Bühne ging. 87
Für uns besteht der einzige Weg, dem vorzubeugen, darin, den Preis zu nennen, zu dem Inverted Jennies derzeit zum Verkauf angeboten werden. Wir zahlen Ihnen fünfzig Dollar Stundenhonorar, wenn Sie die Aufgabe übernehmen herauszufinden, ob irgendwelche Blocks von Inverted Jennies in letzter Zeit auf den Markt gekommen sind und welcher Preis dafür verlangt wurde. Ich bin sicher, daß der unter einer Million Dollar liegt.« Ich konnte sehen, daß sie von meinem Schwindel nicht völlig überzeugt war, doch die fünfzig Dollar die Stunde waren verlockend, und ich bin sicher, daß sie sich fragte, welchen Schaden sie hatte, wenn sie sich auf meinen Vorschlag einließ. Ich hätte sie selbstredend aufklären können, tat das aber nicht. »Eine Anzahlung?« fragte sie, und ich wußte, daß ich sie hatte. Ich gab ihr fünfzig in bar, nahm eine unterschriebene Quittung entgegen und hinterließ ihr meine Visitenkarte. Sie versprach anzurufen, sobald sie nachgeforscht, mit anderen Händlern gesprochen und philatelistische Zeitschriften zu Rate gezogen hatte. Wir reichten uns die Hände, und sie lächelte, bevor ich ging. Welch erfreuliche Überraschung! Da ich gerade in der Nähe war, fuhr ich zum Oakland Park Boulevard. Ich beschloß, im ›Ireland's Inn‹ ein kleines Mittagessen einzunehmen, einem Restaurant, an das ich mich von früheren Ausflügen nach Lauderdale erinnerte. Der Tag hatte klar und freundlich begonnen, doch das Wetter in Florida ist sehr wechselhaft, und jetzt zog aus dem Süden eine dunkle Wolkenbank heran. Ich bestellte ein Truthahn-Sandwich, das ich über alles liebe, und eine Flasche alkoholfreies Bier. Ein dickes Sandwich kann man nicht behutsam essen. Man muß es hinunterschlingen. Während ich also schlang und mein Buckler schluckte, überdachte ich das Gespräch mit H. Lantern, deren Vorname Hilda lautete, wie sich herausgestellt hatte. Sie war eine empfindliche Frau, doch ich hielt sie für kompetent genug und war 88
überzeugt, daß sie gewissenhaft arbeiten würde. Der Regenguß kam herunter, während ich aß. Es schüttete wirklich, hörte dann plötzlich auf, und der Himmel erblaute, und die Sonne schien. Ich bezahlte meine Rechnung, ging hinaus und entdeckte zu meiner Freude, daß der Parkplatzwächter so viel Umsicht besessen hatte, meinen offenen Miata unter den Vorbau zu fahren, bevor es zu pladdern begann. Ich gab ihm ein dickes Trinkgeld und versicherte ihm, daß er eines Tages Präsident werden würde. Gegen drei Uhr war ich wieder in Palm Beach, fuhr an meinem Zuhause vorbei, bewunderte dabei das würdevolle, stattliche Anwesen und bog in die Zufahrt zum Horowitzschen Machtbereich ab. Ich fragte Mrs. Marsden, ob die DuPeys anwesend seien, und sie wies mich zu einem von einem Flaschenpalmenhain umsäumten Pavillon im georgianischen Stil hinter dem Pool. Dort fand ich die beiden Neuvermählten auf gußeisernen Gartenmöbeln ruhend. Auf dem Tisch stand ein Krug, der mit gekühlter Sangria gefüllt zu sein schien, dazu ein Stapel Plastikbecher. Ich stellte mich vor, sie stellten sich vor und luden mich zu einem Drink ein. Ich bediente mich und nippte vorsichtig daran. Es war wirklich eine Sangria, aber mit einem widerlichen Fusel zubereitet. Ich gratulierte den DuPeys zu ihrer Eheschließung, und sie lachten herzlich, gerade so, als ob die Heirat ein Jux gewesen sei und niemand den Witz prächtiger finde als sie. Sie hielten Händchen, als ich kam und weiterhin während des ganzen Gesprächs. Es war unschwer zu sehen, daß die beiden vor Liebe safteten. Ich sprach sie auf französisch an, doch Felice bat mich liebenswürdig, Englisch zu sprechen, da sie die Syntax nicht beherrschte und zudem so viele amerikanische Redewendungen wie möglich lernen wollte. Ich gehorchte. Ich hätte ihr jeden Wunsch erfüllt, da sie bezaubernd war, ein Kätzchen mit einem schelmischen Lächeln, das über das ganze Register von Schmollmund und Miauen verfügte. 89
Alan, der Gesegnete, war die personifizierte Zwiebelsuppe. Ich meine damit, daß man, versah man ihn mit einer Baskenmütze und einem bleistiftdünnen Schnurrbart, den fleischgewordenen glücklichen Franzosen vor sich hatte. Er schäumte vor Fröhlichkeit, die nicht selten in Ausgelassenheit ausartete. Sie waren bereit, jede Frage zu beantworten, die sie persönlich betraf. Er schrieb Buchkritiken für ein Pariser Literaturjournal, sie war bei Chanel in der Lehre, und war das Leben nicht wundervoll? Ich begann zu verstehen, was Consuela Garcia meinte, als sie über beide das Urteil ›zu nett‹ gefällt hatte. Die Fröhlichkeit der DuPeys wirkte übertrieben. Entschlossen kam ich aufs Geschäft zu sprechen, fragte die üblichen Fragen und hörte nichts Neues. Der lachende Alan hatte die fehlgedruckten Briefmarken seiner Mutter früher mehrere Male gesehen. Die kichernde Felice hatte sie zum ersten Mal während des Essens am Abend ihrer Ankunft gesehen. Keiner der beiden hatte den leisesten Verdacht, wer sich die Inverted Jennies unter den Nagel gerissen haben könnte. Und aus ihrem Verhalten ließ sich unschwer erkennen, daß der Diebstahl auf der Liste ihrer Sorgen weit unten rangierte. Es schien, als ob von diesen verliebten Vögeln nichts zu erfahren sei, und ich wollte mich schon zurückziehen, als ich beiläufig fragte, ob sie die Kreuzfahrt am Tag zuvor auf Phil Meechams Jacht genossen hätten. Meine unschuldige Frage löste einen weiteren Ausbruch hemmungsloser Fröhlichkeit aus. »Wir sind überhaupt nicht hinausgefahren«, erklärte Alan, nachdem sein Heiterkeitsanfall sich weitgehend gelegt hatte. »Der Kapitän der Jacht sagte, die See sei viel zu rauh und wir würden alle unter der Seekrankheit leiden. Deshalb schlug Monsieur Meecham vor, am Kai zu bleiben und die Party gleich dort zu feiern.« »Olala!« rief seine Frau. »Und was für eine Party«, fuhr Alan fort, wobei er die Augen ver90
drehte. »Vier Kisten eines sehr guten Champagners – Moet Brut Imperial, wissen Sie – und das Essen! Eine Orgie!« »Vier Kisten für Sie sechs?« fragte ich. »Ich würde sagen, das war üppig.« »Mehr als sechs«, warf Felice ein. »Es waren noch vierzehn andere Gäste da.« »Zehn«, berichtigte ihr Gatte sie behutsam. »Weil die Smythes, Gina und Angus gingen, nachdem die Kreuzfahrt abgesagt worden war. Aber ich kann Ihnen sagen, daß diejenigen von uns, die geblieben sind, Monsieur Meechams Weinvorräte ziemlich reduziert haben.« »Er war so lustig«, fügte seine Frau hinzu. »Er wollte uns alle lieben!« »Das kann ich mir vorstellen«, meinte ich, verabschiedete mich und ging, während sie sich vor Lachen bogen. Ich versuchte meine Gedanken zu ordnen und erkannte, daß die letzte Information eine einzelne Socke war. Hier ist das Szenario: Die Mordzeit lag ziemlich genau fest. Die Ermordung Bela Rubiks war zwischen dem Augenblick erfolgt, als ich mit ihm aus meinem Büro telefonierte, und dem Augenblick, als ich ihn tot fand. Alle sechs Gäste des Hauses Horowitz waren am Tag zuvor an Bord von Phil Meechams Jacht. Das bedeutete, daß, wenn jemand aus dem Horowitzschen Haushalt der Mörder war, es jemand vom Personal sein mußte. Jetzt aber hatte ich erfahren, daß Doris und Harry Smythe, Gina Stanescu und Angus Wolfson die festgemachte Jacht verlassen hatten, nachdem die Kreuzfahrt abgesagt worden war. Was bedeutete, daß ich sie wieder auf die Liste der Verdächtigen setzen mußte. Ich tröstete mich mit der Überlegung, daß die ursprüngliche Zahl von elf Verdächtigen immerhin auf neun geschrumpft war. Das nennt man Fortschritt. Ich fuhr in recht melancholischer Stimmung fort und fragte 91
mich, ob ich vielleicht ein erfüllteres Leben finden würde, wenn ich wie jeder andere in Südflorida als Grundstücksmakler arbeitete. Dann kam mir ein anderer Gedanke: Wäre Lady Cynthias Butler nicht zwei Wochen, bevor die Verbrechen verübt wurden, gegangen, wäre er der Hauptverdächtige gewesen. Meine Laune hob sich, als ich zu Hause eintraf, da Mrs. Olson mich informierte, daß Jennifer Towley angerufen hatte, als sie meine Suite saubermachte. »Sie klingt nett«, sagte sie. »Sie ist nett«, rief ich zurück, während ich die Treppe zum Telefon hinauflief. Ich lag auf meinem Bett, während ich mit Jennifer sprach, und strampelte mit den Hacken in der Luft, wobei ich dachte, daß die Fröhlichkeit der DuPeys vielleicht ansteckend sei. Wir sprachen über so schwerwiegende Dinge wie das Wetter, die Preise für frischen Snapper und die unverschämten Versuche des Staates Florida, Bikinis an öffentlichen Stränden zu verbieten. »Genug von diesem müßigen Geplauder, Jennifer«, sagte ich schließlich. »Wann kann ich dich wiedersehen?« »Deshalb habe ich angerufen«, erwiderte sie. »Ich esse mit einem Kunden zu Abend, müßte aber spätestens um zehn zu Hause sein. Könntest du auf einen Drink herkommen? Ich habe dir etwas sehr Wichtiges zu sagen.« »Willst du mir einen Heiratsantrag machen?« fragte ich. »Nein«, sagte sie, ohne zu lachen. »Das ist sehr ernst, Archy. Ich hätte dir das schon früher sagen sollen, aber ich hatte nicht den Mut dazu. Jetzt hab' ich beschlossen, dir das zu erzählen, bevor du's von jemand anderem hörst.« »Also gut, ich bin um zehn da.« »Ich werde dich nicht lange aufhalten«, versprach sie. »Halte mich auf, solange du willst.« Darauf lachte sie, aber ziemlich lahm. 92
Ich legte etwas beunruhigt auf. Es war ihre Feststellung: »Das ist sehr ernst, Archy«, die meinem kurzen Glücksgefühl einen Dämpfer aufsetzte. Ich weiß, daß ich an diesem Abend ungewohnt verschlossen und schweigsam war, weil meine Mutter eine Bemerkung dazu machte. Sie fragte mich, ob ich eine Krankheit ausbrüte. Ich war versucht, mit ›Liebe‹ zu antworten, versicherte ihr aber statt dessen, daß ich völlig gesund sei und mich lediglich die anstrengende Arbeit ermüde. Ich glaube nicht, daß Mutter genau wußte, was ich tat, aber sie akzeptierte meine Erklärung, obwohl sie mir riet, vorm Schlafengehen ein Glas warme Milch zu trinken, da ich dann besser schlafen könne. Ich war ein paar Minuten nach zehn bei Jennifer Towley, und sie hatte Besseres als warme Milch anzubieten: einen Liter Wodka, der in einem eisgefüllten Kristallkübel steckte. Sie hatte zwei große Gläser bereitgestellt, die wie Knospenvasen aussahen. Sie trug eines ihrer eleganten kleinen Schwarzen. Es wirkte sehr konservativ, mit hochgeschlossenem Kragen und langen Ärmeln. Aber als sie sich umdrehte, sah ich, daß es absolut rückenfrei war. »Deinen ersten Drink schenke ich dir ein, Archy«, sagte sie, »aber dann mußt du dich selbst bedienen. Ich glaube, du wirst das brauchen.« »Oha«, erwiderte ich, »das klingt ominös.« »Nicht ominös«, sagte sie. »Vielleicht erschütternd.« Sie setzte sich auf einen niedrigen Sessel und zupfte am Saum ihres Kleides, um ihre nackten Knie zu bedecken. »Ich habe dir schon erzählt, daß ich geschieden bin«, begann sie. »Towley ist mein Mädchenname. Ich war eine verheiratete Bingham. Mein Mann war Thomas Bingham. Sagt dir der Name etwas?« Ich schüttelte den Kopf. Sie seufzte. »Vor mehreren Jahren wurde er verhaftet und wegen schweren Diebstahls verurteilt. Er hatte seinem Arbeitgeber, einem 93
Großhändler für Installationsbedarf, an die fünfzigtausend Dollar gestohlen.« Ich nahm einen tiefen Schluck von meinem Wodka. »Wo geschah das?« »In Boca Raton. Er hat drei Jahre und vier Monate in Raiford gesessen.« Jetzt war ich mit Seufzen dran. »Jennifer, bist du vor oder nach seiner Verurteilung geschieden worden?« »Etwa ein Jahr vorher«, sagte sie. »Gott sei Dank. Hätte ich das nicht getan, hätte ich mich doch sicher nicht scheiden lassen, als er im Gefängnis saß, oder?« »Ich denke nicht«, erwiderte ich. »Er war ein Spieler«, fuhr sie fort. »Absolut süchtig. Er sah gut aus, war wohlerzogen, sprachgewandt und eine Verkaufskanone. Auf einer Party erzählte mir der Präsident des Unternehmens eines Abends, daß Tom eine großartige Zukunft habe: Verkaufsleiter und dann rein in die Geschäftsleitung. Er könnte vielleicht sogar Geschäftsführer werden. Das alles hätte er haben können, aber er konnte mit dem Spielen nicht aufhören.« »Was hat er gespielt?« »Alles. Er wettete bei Pferderennen, Hunderennen, bei Baseball, Football und Basketball. Er spielte bei Lotterien, wettete bei Wahlen, auf das Wetter – was du willst. Und seine Geschäftsreisen richtete er immer so ein, daß er nach Las Vegas oder Atlantic City kam.« »Warst du dir seiner Sucht bewußt?« »Natürlich war ich mir der bewußt«, erwiderte sie ärgerlich. »Wie hätte ich das nicht merken sollen? Ich sah an unserem Bankkonto, einer zweiten Hypothek auf unserem Haus, den Mahnungen der Kreditgeber, was geschah. Und an den Zinsen bei seinen Kreditkartenabrechnungen! Es war eine entsetzliche Situation. Ich flehte ihn an, irgendwo Hilfe zu suchen – bei einem Psychologen, den Ano94
nymen Spielern, mit unserem Geistlichen zu sprechen – irgend etwas zu tun. Aber er weigerte sich zuzugeben, daß er ein Problem hatte, daß er hoffnungslos süchtig war. Du hast doch keine Sucht, Archy, oder?« »Eine«, sagte ich. »Dich.« Ich glaube, sie errötete, aber es kann das rosa Licht der Tiffanylampe gewesen sein, die auf dem Tisch stand. Ich schenkte mir Wodka nach. Jennifer konnte ich nicht bedienen. Sie hatte ihr volles Glas nicht angerührt. »Ich tat alles, was ich konnte«, fuhr sie fort. »Ich liebte Tom, liebte ihn wirklich. Er konnte ein wundervoller Ehemann sein: freundlich, höflich, verständnisvoll. Nur daß er diese schreckliche Krankheit hatte. Aus unserem Haus begannen Dinge zu verschwinden, Kristall, Silber, einige meiner Antiquitäten. Er verkaufte sie. Er hatte sich mit Kredithaien eingelassen, und dann kamen finstere Typen in unser Haus oder parkten die ganze Nacht davor. Ich konnte das einfach nicht mehr ertragen und reichte die Scheidung ein. Er weinte und bettelte und schwor, er werde mit dem Wetten aufhören. Aber das hatte er schon ein dutzendmal zuvor versprochen, und ich wußte, daß es sinnlos war. Ich glaube, ausschlaggebend war, daß er Geld aus meinem Portemonnaie stahl. Also ließ ich mich von ihm scheiden. Und ein Jahr später kam er ins Gefängnis.« »Eine traurige Geschichte«, sagte ich. »Eine Seifenoper«, meinte sie mit gezwungenem Lächeln. »Das geschieht ständig, überall im Land. Ich habe mit einem Spezialisten für Suchtberatung gesprochen, und er sagte mir, daß keine Besserung zu erwarten sei, solange der Süchtige sich selbst gegenüber nicht eingesteht, daß er die Kontrolle über sich verloren hat, und freiwillig Hilfe sucht. Tom wollte das nicht tun.« Eine Weile herrschte Schweigen. Sie saß mit gesenktem Kopf da, und ich hoffte, sie werde nicht anfangen zu weinen. Im Umgang mit weinenden Frauen bin ich absolut unbeholfen. 95
»Etwas, was ich dich noch nicht gefragt habe«, sagte ich. »Hast du Kinder?« »Nein«, erwiderte sie und hob das Kinn, um mich anzuschauen, und ich sah, daß ihre Augen klar waren. Sie hatte wieder diesen ruhigen, direkten Blick. »Glaubst du, es hätte Tom verändert, wenn wir welche gehabt hätten?« »Ich weiß nicht«, sagte ich. »Wer kann schon menschliches Verhalten voraussagen? Sagtest du, er ist aus dem Gefängnis?« »Ja. Er wurde vor ungefähr einem Monat entlassen.« »Hast du ihn besucht, als er dort war?« »Nein.« »Ihm geschrieben?« »Nicht direkt«, erwiderte sie. »Nur Geburtstags- und Weihnachtskarten. Aber er hat mir häufig geschrieben. Er sagte, hinter den Gittern sei ihm klar geworden, wie er sein Leben vermasselt habe – und meins. Er schwor, er sei ein ganz anderer Mann, und wenn er erst mal draußen wäre, würde er nie wieder spielen, solange er lebe.« »Glaubst du ihm, Jennifer?« »Nein.« »Hat er dich angerufen, seit er draußen ist?« »Viermal.« »Und er will wieder zu dir zurück?« Ihre Augen wurden rund. »Woher weißt du das?« fragte sie. »Weil das genau das ist, was ich täte, wenn ich an seiner Stelle wäre. Wirst du ihn wieder nehmen?« »Niemals!« schrie sie. »Archy, hast du je Alpträume gehabt?« »Nicht oft. Vielleicht ein halbes dutzendmal in meinem Leben.« »Ja, aber ich hatte einen Alptraum, der fast vier Jahre dauerte. Ich will das nicht wieder durchmachen.« Fast gedankenlos fragte ich: »Von wo hat er dich angerufen – aus Boca?« »Nein«, sagte sie, »er wohnt in Delray Beach.« 96
»Delray Beach?« wiederholte ich. »Was macht er da?« »Er sagt, er habe einen tollen Job als Verkäufer von hurrikansicheren Fensterläden. Die verkauft er vor allem an Leute, die in Hochhäusern wohnen. Er behauptet, sein Chef wisse, daß er vorbestraft sei, wolle ihm aber eine Chance geben. Tom sagt, er bekomme ein niedriges Grundgehalt, aber viel Provision. Ich glaube das. Er ist ja ein Superverkäufer.« Ich nickte. Sie beugte sich vor und ergriff meine Hände. »Archy«, sagte sie, »tut mir leid, daß ich dich damit belasten muß. Ich weiß, daß das deprimierend ist. Aber ich weiß, wie die Leute reden, und ich wollte dir das selbst sagen, bevor du's aus zweiter Hand hörst.« »Dafür danke ich dir«, erwiderte ich. Sie lehnte sich zurück. »Ich fühle mich völlig leer. Allein das Sprechen darüber bringt so viele Erinnerungen zurück. Sie sind alle schmerzlich.« »Das kann ich verstehen.« Ich stand auf. »Du willst sicher, daß ich jetzt gehe.« Endlich, endlich nahm sie einen Schluck von ihrem Wodka und schaute dann mit diesem kühlen, gelassenen Blick zu mir auf. »Wie kommst du denn auf diese dumme Idee?« fragte sie. In dieser Nacht war etwas Dämonisches in ihrem Liebesspiel, als ob sie versuchte, damit ihre schmerzlichen Erinnerungen zu verdrängen. Ich profitierte schamlos von ihrem Schmerz. Im Volksmund heißt es, daß der Weg zum Herzen eines Mannes durch seinen Magen führt. Glauben Sie das bloß nie.
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Ü
bers Wochenende verdrängte ich all meine Probleme und führte das Leben eines Knaben, der gesellschaftlich überall mitmischt. Am Samstag spielte ich auf dem Privatplatz eines Freundes Tennis. Nachdem er mich hintereinander in mehreren Sätzen abserviert hatte, rief er zwei unternehmungslustige Damen an. Sie kamen, hüpften in seinem Pool herum, nahmen ein paar Drinks und lachten viel. Am Samstagabend fuhr ich nach dem Essen zum Pelican Club. Ein paar meiner Mitschlucker waren bereits vor Ort, und ich gewann fünf Dollar beim Pfeilwerfen. Damit war ich natürlich der große Sieger und mußte eine Runde Drinks spendieren, die mich zwanzig kostete. Am Sonntag brachte ich mein Bad im Meer zeitig hinter mich und fuhr dann nach Wellington, wo ich vom Platz meines Vaters ein Polospiel verfolgte. Ich hatte mein Taxco-Fernglas mitgenommen, sah aber auf der Tribüne niemand, der übermäßig mein Interesse weckte. Jennifer Towley, das stellte ich fest, hatte meinen Geschmack offensichtlich verbessert. Am Sonntagabend fuhren meine Eltern und ich ein kurzes Stück über die A1A zu einer Villa im palladianischen Stil, die einem reichen Klienten von McNally & Sohn gehörte. Gemeinsam mit dreißig anderen Gästen genossen wir eine ausgelassene Cocktail- und Grillparty, bei der es Hummer aus Maine und Krabben aus Louisiana gab. Der Grill wurde von einem uniformierten Butler überwacht, der weiße Handschuhe und einen Zylinder trug. Doch der Montag nahte allzu schnell, und dann begann wieder die Sturm- und Drangzeit. 98
Sie glauben vielleicht, der beste Freund eines Detektivs sei sein Revolver, sein Vergrößerungsglas oder sein Bluthund. Irrtum. Das ist ein Telefonbuch – die nützlichste Hilfe bei jeder Nachforschung. Ich suchte die Privatanschrift und die Telefonnummer von Kenneth Bodin in Delray Beach heraus und kritzelte beides auf die Innenseite eines Streichholzheftes. Dann riß ich, nur zum Spaß, die gelben Seiten heraus, auf denen Geschäfte aufgeführt waren, die hurrikansichere Rolläden verkauften. Davon gab's eine Menge, aber die meisten befanden sich nördlich von Boynton Beach. Im Bereich Delray – Boca Raton entdeckte ich nur wenige. Um zehn Uhr war ich wieder auf der Straße. Der Himmel hatte die Farbe und Schwere einer feuchten Armeedecke, kein Lüftchen regte sich, und selbst die Palmwedel sahen niedergeschlagen aus. Es war eine bedrückende Atmosphäre, so, als ob ein Sturm lauere und jeden Augenblick losbrechen könne. Ich hielt in Delray Beach zum Tanken und rief von der Zapfstation in Kenneth Bodins Wohnung an. Wie ich gehofft hatte, meldete sich eine Frau. »Hallo?« sagte sie mit einem schrillen Stimmchen. »Sylvia?« fragte ich. »Ja. Wer spricht denn da?« »Mein Name ist Dooley, und ich bin auf einem Kongreß in Südflorida. Ich hab' mir den Rücken verrenkt und brauche eine Massage. Ein Freund meinte, daß Sie mir vielleicht helfen könnten.« »Ach ja?« meinte sie mißtrauisch. »Welcher Freund?« Ich nannte den Namen des aktivsten Roué, den ich kannte: »Phil Meecham.« Das wirkte. Sie quietschte vor Entzücken. »Dieser verrückte Kerl!« sagte sie. »Wie geht's Phil?« »Prächtig«, sagte ich. »Was ist mit dieser Massage?« »Ach, tut mir wirklich leid, Dooley, aber in dem Gewerbe bin ich nicht mehr. Mein Freund läßt mich nicht.« 99
»Tja, das kann ich verstehen. Aber ist er denn jetzt zu Hause?« »Nein. Er arbeitet in Palm Beach.« »Ja, aber dann...?« schlug ich vor. »Unmöglich«, erwiderte sie entschlossen. »Ich hab' ihm mein heiliges Versprechen gegeben. Und außerdem könnte er überraschend nach Hause kommen.« »So ein Pech aber auch«, seufzte ich und heuchelte den Enttäuschten. »Dann hab' ich die Fahrt umsonst gemacht.« »Hör zu, Dooley«, sagte sie. »Ich arbeite als Serviererin in einem hübschen Restaurant am Strand. Wir machen mittags auf. Warum kommst du nicht einfach vorbei und trinkst was? Vielleicht können wir bei der Gelegenheit was ausmachen.« »Hört sich gut an«, gab ich zu, und sie nannte mir den Namen des hübschen Restaurants am Strand und beschrieb mir, wie ich's finden würde. Ich schlug eine Stunde damit tot, daß ich zu Läden fuhr, die hurrikansichere Rolläden verkauften und installierten. Beim vierten traf ich ins Schwarze. Ja, Thomas Bingham arbeitete hier, war aber im Augenblick unterwegs, um einen Kostenvoranschlag zu machen. Ich war erleichtert, als ich das hörte, da ich nicht die leiseste Ahnung hatte, was ich ihm hätte sagen sollen. Ich glaube, ich wollte ihn nur abschätzen, sehen, wie ein Mann aussah, der Jennifer Towley für die Spannung eines Hunderennens opferte. Ich hinterließ keine Nachricht für Bingham, sondern sagte, ich würde wieder reinschauen. Dann fuhr ich zu Sylvias Arbeitsplatz und wünschte, ich wüßte, was ich da eigentlich tat. Aber manchmal zeigt sich, daß Glück und Zufall wertvoller als der ausgeklügeltste Plan sind. Das jedenfalls sagte ich mir. Zumindest hatte ich genug Verstand, meinen Wagen ein paar Blocks entfernt zu parken und das Stück zurückzulaufen. Ich hatte nicht den Wunsch, daß Sylvia beiläufig zu Bodin bemerkte: »Heute war ein junger Bock da, der einen knallroten Miata fuhr.« Seine 100
Stachelschweinlauscher wären sofort in die Senkrechte gegangen. Hammerhead's Bar & Grill war von einer Art Bruderschaft von Bauarbeitern und Berufsfischern umlagert. Ich nahm an einem taschentuchgroßen Ecktisch Platz, und in dem Augenblick kam eine üppige, blonde junge Dame zu mir hergewackelt. Sie trug einen grellrosa Minirock und ein grellgrünes Top, das mutmaßlich mit einem Zerstäuber aufgetragen worden war. »Hallo«, sagte sie. »Sylvia?« fragte ich. »Ich bin Dooley.« »Oh!« sagte sie und schenkte mir ein wirklich nettes Lächeln. »Freut mich, deine Bekanntschaft zu machen, ehrlich. Bleibst du lange in der Stadt?« »So ungefähr eine Woche«, erwiderte ich. »Ich wohne in Boca bei einem Freund.« »Mann oder Frau?« fragte sie, wobei sie mir einen anzüglichen Blick zuwarf. »Ein Mann«, sagte ich. »Unglücklicherweise.« »Vielleicht können wir was dagegen tun.« Sie zwinkerte mir tatsächlich zu. »Was darf ich dir bringen?« Ich wußte, daß in einer derartigen Kneipe das einzig Sichere eine verschlossene Flasche war. Doch ich fürchtete, daß der Besitzer wie die Gäste mich den vor der Küste schwimmenden Haien vorwerfen würden, wenn ich um ein alkoholfreies Bier bat. »Eine Flasche Bier, bitte«, sagte ich. »Habt ihr Heineken?« »Natürlich. Das ist ein erstklassiger Laden hier.« Sie brachte mein Bier und ein Schälchen mit gesalzenen Erdnüssen. Dann nahm sie ungebeten auf dem Stuhl mir gegenüber Platz, und ich merkte, daß mir ein paar Gäste von der Bar aus neidische Blicke zuwarfen. »Für einen Kumpel von Phil Meecham bist du schrecklich jung«, sagte sie. »Du kennst doch Phil«, meinte ich. »Er diskriminiert niemand wegen seines Alters, seines Geschlechts, seiner Hautfarbe, seines 101
Glaubensbekenntnisses, seiner Herkunft oder Nationalität.« »Das kannst du wohl laut sagen.« Sie lachte. »Ich hab' mal gesehen, wie er versuchte, einen Schimpansen zu spielen. Kannst du dir das vorstellen?« »Sicher doch. Darf ich dir einen Drink spendieren?« »Eine Diät-Cola vielleicht. Ich versuche abzunehmen.« »Mach das bloß nicht.« »Ach du!« Sie kam mit ihrem Drink wieder und machte sich über mein Schälchen mit Erdnüssen her. »Wann hast du Feierabend, Sylvia?« fragte ich. »Na ja, das ist das Problem«, erwiderte sie. »Ich gehe gegen acht, wenn das Mädchen kommt, das Spätdienst hat. Dann muß ich sofort nach Hause fahren, weil sonst mein Freund ausflippt. Manchmal, wenn er dienstfrei hat, kommt er her, und dann fahren wir zusammen nach Hause. Er hält mich an der kurzen Leine.« »Was liegt an?« fragte ich sie. »Hochzeitsglocken?« »Vielleicht«, sagte sie, während sie weitere Erdnüsse in sich reinschob. »Hängt von meiner Stimmung ab.« »Dann hast du eigentlich nur vormittags richtig frei?« »So in etwa«, stimmte sie zu. »Ken fährt sehr früh zur Arbeit, um nicht in den Berufsverkehr zu kommen. Und ich muß früh aufstehen, um ihm das Frühstück zu machen.« »Ich bin ja noch 'ne Weile im Land«, sagte ich. »Soll ich dich mal vormittags anrufen?« »Sicher kannst du das, Dooley«, erwiderte sie. »Wir könnten zu der Wohnung deines Freundes in Boca fahren.« »Gute Idee«, meinte ich und trank mein Bier aus. »Ich ruf dich an.« Ich stand auf. »Was macht das, Sylvia?« »Geht aufs Haus«, sagte sie. »Vielleicht kommst du wieder. Du hast Klasse. Das spür' ich.« »Danke«, antwortete ich und steckte ihr für ihre scharfe Beobach102
tungsgabe einen Zehner zu. Ich winkte und wollte gehen. Dann hatte ich eine dieser verrückten Ideen, die mich immer schockieren, weil ich nicht weiß, woher sie kommen. »Übrigens«, sagte ich und wandte mich wieder ihr zu, »mein Freund in Boca wohnt in einem Hochhaus. Er will sich hurrikansichere Rolläden einbauen lassen. Kennst du jemand hier, der so was verkauft?« »Sicher«, erwiderte sie. »Tom Bingham. Er schaut fast jeden Abend hier rein, wenn er von der Arbeit kommt.« »Schön«, sagte ich. »Wenn du ihn das nächste Mal siehst, kannst du mir eine Visitenkarte von ihm besorgen?« »Mit Vergnügen. Tom ist ein Prachtkerl. Er und Ken und ich verbringen viel Zeit miteinander.« Verstehen Sie jetzt, was ich mit Glück und Zufall meine? Aber manchmal muß man beides etwas forcieren. Ich fuhr durch einen dunklen Tag nach Hause. Es hatte noch nicht zu regnen angefangen, doch der Himmel hing tiefer, und die Möwen begannen gegen einen auffrischenden Wind anzukämpfen. Ich dachte, daß, wenn Kenneth Bodin, seine Freundin Sylvia und Thomas Bingham Kumpel waren, vielleicht alle drei – oder zumindest die beiden Männer – den Diebstahl der Inverted Jennies geplant und ausgeführt hatten. Mein Hauptgrund, eine solche Möglichkeit in Betracht zu ziehen, war, daß Bingham wegen Diebstahls von fünfzigtausend Dollar gesessen hatte. Ich war nur noch ein kurzes Stück von zu Hause entfernt, als die ersten Regentropfen fielen. Ich ließ den Miata volles Rohr sausen und erreichte unsere Garage, bevor die Sintflut begann. Als Lastwagen stand auf dem Kies, und Al kurbelte die Scheibe so weit herunter, daß er mich zu sich hinüberwinken konnte. Ich sauste durch den Regen und stieg in den Wagen. Er hatte eine Klimaanlage, doch die Karre stank nach abgestandenem Zigarrenrauch. »Du brauchst dir keine neue Zigarre anzustecken«, sagte ich zu 103
ihm. »Inhaliere einfach den Rauch von gestern.« »Da wir gerade von Zigarren sprechen«, erwiderte er, »ich hab' den ganzen Tag im Horowitzschen Haus verbracht, und diese verrückte Dame wollte mich nirgendwo eine Zigarre anstecken lassen. Nicht nur im Haus, sondern auch nirgendwo auf dem Grundstück. Sie hat doch an die hundert Morgen, nicht wahr?« »Vielleicht ein bißchen weniger.« »Schön, jedenfalls konnte ich mich nicht mal in die Büsche schlagen und eine paffen. Die ist schon ein komischer Vogel.« »Ein reicher Vogel«, verbesserte ich. »Trägst du deshalb Zivil und fährst mit deiner eigenen Mühle herum?« »Ja. Sie will weder Uniformen noch Polizeiwagen sehen. Ich vermute, sie glaubt, das schädige ihr Ansehen in der Nachbarschaft. Wo hast du gesteckt?« »Ich war unten in Delray Beach und hab' Kenneth Bodin überprüft, den Chauffeur.« »Was rausgefunden?« »Nicht die Bohne. Er lebt mit einer Teilzeitnutte zusammen – aber wenn das ein Verbrechen ist, müßte die Hälfte aller Knaben in Südflorida eingebuchtet werden. Weder Anzeichen von plötzlichem Reichtum noch Gerede darüber.« »Hohe Schulden?« »Das kann ich durch Banken und Kreditagenturen überprüfen. Wie bist du mit dem Mord vorangekommen?« »Nicht schlecht«, erwiderte Al. »Wir haben insofern Glück, als die Mordzeit auf etwa eine Stunde eingegrenzt werden kann. Zu der Zeit befanden sich fünf Angehörige des Personals auf dem Grundstück. Ich gebe zu, daß sie sich gegenseitig Alibis geliefert haben, was eine Verschwörung sein könnte. Lady Horowitz sagt, sie sei beim Friseur gewesen. Das muß ich überprüfen. Und was die Gäste des Hauses anbelangt, so behaupten die DuPeys, sie hätten eine Party auf einer Jacht im Hafen gefeiert und seien von Dutzenden 104
von Leuten gesehen worden. Das muß jemand anders überprüfen. Bleiben Mr. und Mrs. Smythe, Gina Stanescu und Angus Wolfson. Alle vier behaupten, sie hätten die Jacht verlassen, nachdem die Kreuzfahrt abgesagt worden war, und hätten einen Schaufensterbummel auf der Worth Avenue zu der Zeit gemacht, als Bela Rubik ins große Briefmarkenalbum im Himmel geklebt wurde. Der tatsächliche Aufenthaltsort dieser vier zur Todeszeit Rubiks wird schwer feststellbar sein, aber ich denke, das läßt sich mit viel Beinarbeit herausbekommen.« »Du bist davon überzeugt, daß der Mord und der Diebstahl der Inverted Jennies zusammenhängen?« »Das einzige, wovon ich überzeugt bin, ist, daß ich nichts anderes habe. Es gibt absolut keine Hinweise, die auf einen versuchten Raubüberfall hindeuten. Diese verschwundenen Briefmarken und das, was Rubik dir am Telefon sagte, sind die einzigen Spuren, die ich habe. Archy, was glaubst du – war's ein Mann oder eine Frau?« Ich dachte einen Augenblick nach. »Ich nehme an, es war ein Mann. Sieh mal, der menschliche Schädel ist ja keine Eierschale, wie du weißt. Man kann da ziemlich heftig draufklopfen, ohne ihn zu zertrümmern. Der Schlag mit dem Briefbeschwerer muß ziemlich heftig gewesen sein.« »Es hätte eine starke Frau sein können.« »Hätte«, gab ich zu, »aber eben mal so einen Schädel einschlagen scheint mir einfach nicht typisch für eine Frau zu sein, selbst wenn sie außer sich vor Wut war.« »Ja«, meinte Al. »Das scheint ziemlich ungewöhnlich. Übrigens, an dem eingeschlagenen Schädel ist er nicht gestorben.« Ich starrte ihn an. »Könntest du das bitte für mich wiederholen?« »Bela Rubik ist nicht an den Schlägen auf seinen Schädel gestorben. Dem Gerichtsmediziner zufolge hätten die ihn zwar ins Jenseits befördert, und sie haben sein Hirn lädiert, aber er ist an Herzschlag gestorben, an massivem Herzversagen, das durch den Angriff 105
herbeigeführt wurde. Was natürlich nichts an der Tatsache ändert, daß es sich um einen Mord handelt.« »Natürlich«, warf ich ein. »Aber damit ergeben sich völlig neue Perspektiven. Vielleicht hatte der Angreifer gar nicht die Absicht, ihn zu töten. Er wollte ihn nur k.o. schlagen oder ihn verletzen.« »Die Absicht des Mörders interessiert mich nicht«, widersprach Al. »Das hat das Gericht zu entscheiden. Ich will den Kerl haben, und dann sollen sich die Anwälte über seine Absichten streiten.« »Ich bin mir nicht sicher, ob das die richtige Vorgehensweise ist«, sagte ich langsam. »Vielleicht findet man den Mörder nur, wenn man seine Absicht kennt.« Al stöhnte. »Du hast wirklich eine Begabung, Dinge kompliziert zu machen. Ich wette, du liebst auch schwarze Oliven.« »Und wie«, gab ich zu. »Na schön, der Regen läßt nach, und du kommst ins Haus, ohne naß zu werden. Ich muß wieder an die Arbeit. Wir bleiben in Verbindung.« »Ja«, schloß ich. »Ich bin den ganzen Abend hier. Ruf mich an, wenn was anliegt.« An diesem Abend waren meine Eltern bei einem Paar in den Siebzigern eingeladen, das seinen fünfzigsten Hochzeitstag feierte. Ich war ebenfalls eingeladen, hatte aber abgesagt. Stundenlang Bowle trinken und mich von Scharaden erheitern zu lassen war an diesem Abend nicht unbedingt mein Wunsch. Also nahm ich das Abendessen in der Küche mit den Olsons ein. Ursi tischte ein Gericht auf, das sie McNally-Eintopf nannte: eine würzige Mischung aus Fleischstücken, Hühnchen, scharfer italienischer Wurst und Krabben, dies alles in Rotweinsoße und auf breiten Nudeln serviert. Lebe wohl, Diät! Nach diesem üppigen Mahl ging ich nach oben und machte mich an mein Tagebuch, nachdem ich noch Jennifer Towley angerufen, ihren Anrufbeantworter zu hören bekommen und aufgelegt hatte, 106
ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Ich kritzelte noch immer, als mein Telefon klingelte. Es war Al. »Hab' ich dich geweckt?« fragte er. »Nun mach's halblang, Al«, erwiderte ich. »Es ist ja nicht mal elf Uhr. Was liegt an?« »Nach unserem Rendezvous hab' ich mich mal umgeschaut. Zuerst habe ich den Friseur besucht, bei dem Lady Horowitz angeblich zu dem Zeitpunkt war, als Rubik kaltgemacht wurde.« »Und?« »Sie hatte einen Termin, das stimmt, aber sie war nicht da.« Ich schwieg. »Hallo?« fragte Al. »Bist du noch dran?« »Ja«, meinte ich. »Ich versuche nur, das zu verdauen.« »Ja«, sagte er, »das ist schon ein bißchen seltsam, was? Archy, tu mir bitte einen Gefallen. Ich will die alte Dame nicht mit dem in Verlegenheit bringen, was ich weiß, und sie zwingen, die Wahrheit auszuspucken. Sie macht mir Angst. Das gebe ich zu. Sie hat viel Einfluß in dieser Stadt und kann mir das Leben ziemlich schwermachen, wenn sie das will. Kannst du mir folgen?« »Ich folge dir«, versicherte ich ihm. »In Ordnung, Al. Ich werde versuchen herauszufinden, wo sie zum Zeitpunkt von Rubiks Ermordung war. Hast du ihr gesagt, daß der Diebstahl ihrer Briefmarken in Zusammenhang mit dem Mord steht?« »Teufel, nein! Ich hab' weder ihr noch sonst irgendwem gesagt, daß es da möglicherweise eine Verbindung gibt. Ich habe nur gesagt, daß wir eine Spur hätten, was den Briefmarkendieb anbelangt, und daß ich überprüfen müßte, wer zu einem bestimmten Zeitpunkt wo war, um Unschuldige auszusortieren.« »Glaubst du, die haben das geschluckt?« »Alle, bis auf den Mörder. Sprich du mit der alten Schachtel, Archy, ja? Sie mag dich.« »Ehrlich?« 107
»Sicher. Das hat sie mir selbst erzählt. Du könntest noch was für mich tun ...« Ich seufzte. »Und dafür trittst du mir etwas von deinem Gehalt ab, ja?« »Nein. Dein Vater hat doch Lady Horowitz' Testament aufgesetzt, nicht wahr?« »Das ist richtig«, sagte ich, wohl wissend, was kommen würde. »Kannst du herausfinden, wer erbt, wenn sie in die Kiste wandert?« »Wahrscheinlich«, erwiderte ich, »aber das werde ich dir nicht sagen. Das ist eine sehr vertrauliche Information.« »Was muß ich tun, um die zu bekommen?« »Ihre Erlaubnis einholen. Ich werde meinen Vater fragen.« »Das machst du doch, oder?« »Sicher. Aber warum willst du wissen, wer sie beerbt?« »Weil vielleicht irgend jemand von der Familie oder den Freunden nicht erbt, das weiß und deshalb die Briefmarken gekrallt hat, um zu bekommen, was gerade da ist. Und das führte zu dem Mord.« »Al«, sagte ich, »du bist brillant.« »Hast du wirklich so lange gebraucht, um das herauszufinden? Sag mir, was dein Vater meint.« Es war etwa halb elf, als ich das Knirschen des Kieses hörte, ans Fenster trat und den Lexus in die Garage rollen sah. Ich wartete noch eine halbe Stunde, rauchte die erste Zigarette des Tages und sann über das nach, was Al mir erzählt hatte. Ich hatte nicht die Absicht, Lady Cynthia zu erzählen, daß sie bei einer Lüge erwischt worden war. Sie war durchaus dazu fähig, McNally & Sohn sofort zu kündigen. Die Tür des Arbeitszimmers meines Vaters war geschlossen, doch als ich klopfte, hörte ich sein gemurmeltes »Herein«. Er saß in seinem Clubsessel, trug noch immer seine Dinnerjacke, hatte aber 108
Fliege und Kragen gelöst. Er wirkte alt und müde auf mich. »Schöne Party?« fragte ich. »Ermüdend«, antwortete er mit einem schwachen Lächeln. »War klug von dir, nicht mitzukommen. Es gab absolut keinen Wodka.« »Da wir gerade davon reden«, sagte ich, »darf ich dir ein Glas Port bringen? Du wirkst ein bißchen groggy.« Er starrte einen Moment vor sich hin. »Ein Schluck Cognac wäre, glaube ich, besser. Danke, Archy, und schenk dir auch einen ein.« Ich goß uns einen kleinen Schluck ein und setzte mich in den Sessel ihm gegenüber. Wir hoben die Gläser und tranken bedächtig. »Tut mir leid, dich zu dieser Stunde zu behelligen, Vater«, sagte ich, »aber Sergeant Rogoff rief vorhin an und bat mich, mit dir zu sprechen.« Ich erklärte, was Al wollte und warum er es wollte. Mein Vater hörte aufmerksam zu. »Diese Information kann ich nicht weitergeben«, sagte er, »jedenfalls nicht ohne die Erlaubnis von Lady Horowitz.« »Das habe ich Al gesagt. Er möchte, daß du versuchst, diese Erlaubnis zu bekommen.« Eine lange Pause folgte, in der er angestrengt nachdachte. Dann antwortete er: »Ich verstehe Rogoffs Überlegung. Ist ein interessanter Aspekt: Ein enterbter Verwandter oder Freund möchte sofort profitieren. Du hattest recht, Archy. Der Sergeant ist ein schlauer Mann.« »Ja. Wirst du Lady Horowitz fragen, ob die Polizei Einzelheiten ihres Testaments erfahren darf? Höchst vertraulich, versteht sich.« Er seufzte matt. »Also gut, ich werde fragen.« »Glaubst du, sie wird damit einverstanden sein?« Er schaute mich belustigt an. »Wer kann schon vorhersagen, was diese außergewöhnliche Frau tun oder lassen wird? Ich werde sie fragen. Mehr kann ich dir nicht sagen.« »Das genügt«, meinte ich, trank meinen Cognac aus und erhob 109
mich. »Tut mir leid, dich gestört zu haben.« »Überhaupt nicht«, sagte er. Ich ging nach oben.
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A
m nächsten Morgen hatte ich eine Menge wichtiger Dinge zu tun – beispielsweise den Inhalt meines geflochtenen Schmutzwäschekorbs in einen großen Leinenbeutel umzufüllen, vier Hosen für die chemische Reinigung dazuzupacken und alles nach unten zu schleppen, wo es von unserem Reinigungsservice abgeholt werden würde. Und ich bestellte bei einem Blumenhändler ein Arrangement von Schnittblumen – zur Lieferung an Jennifer Towley. So war es etwas nach halb elf, bevor ich zum Horowitzschen Imperium losfuhr. Ich wußte sehr wohl, daß all dieses Rumgemache, mit dem ich mich am Morgen aufgehalten hatte, reine Feigheit war, ein Versuch, den Augenblick hinauszuzögern, in dem ich Lady Cynthia gegenüberstand und sie fragen mußte: »Warum haben Sie Sergeant Rogoff belogen?« Als Al mir erzählte, sie mache ihm Angst, konnte ich ihm das nachfühlen. Sie machte auch mir Angst. Sie war eine Frau von unumstößlichen Ansichten und wilder Entschlossenheit. Ich fand sie auf einer Liege am Pool ruhend. Natürlich im Schatten. Sie trug einen minzgrünen Seidenburnus, und ich stellte bald fest, daß sie in ausgesprochen gereizter Stimmung war. »Dieser Polizist«, sagte sie wütend, »dieser unerträgliche Bulle stinkt fürchterlich nach Zigarrenrauch.« 110
»Ich weiß«, sagte ich, »aber er –« »Und seine idiotischen Fragen«, wetterte sie weiter. »Warum behandelt er mich eigentlich wie einen ganz gewöhnlichen Verbrecher?« »Er versucht doch nur, seine Arbeit zu tun«, erwiderte ich so beschwichtigend, wie ich konnte. »Er ist wirklich auf Ihrer Seite, wissen Sie. Er möchte die Briefmarken wiederfinden, genau wie Sie.« »Unsinn!« rief sie. »Er versucht nur, mir das Leben schwerzumachen, weil ich ihm Arbeit aufgehalst habe. Er würde viel lieber irgendwo herumsitzen, Bier schlucken und rülpsen.« »Er ist aber wirklich ein sehr tüchtiger Polizeibeamter.« Sie starrte mich an. »Ist er ein Freund von Ihnen, Junge?« wollte sie wissen. »Wir haben mehrere Male zusammengearbeitet«, gab ich zu. »Und das erfolgreich, wie ich hinzufügen möchte.« Aber das zog bei ihr nicht. »Das hat mir gerade noch gefehlt«, schäumte sie, »zwei Amateurdetektive, die plattfüßig herumlatschen. Ich nehme an, Sie sind hier, um weitere Fragen zu stellen.« Sie hatte mich nicht gebeten, Platz zu nehmen. Also blieb ich stehen. Aber ich trat in den Schatten eines Sonnenschirms, lehnte mich auf eine Sessellehne und blickte auf sie hinab. »Nun ja«, gab ich zu. »Ich möchte in einer Sache Klarheit schaffen, die Sie Sergeant Rogoff erzählt haben.« »Klarheit?« sagte sie mißtrauisch. »Worin?« »Der Sergeant hat einige Spuren, was die Identität des Diebes betrifft, muß aber den Aufenthaltsort aller Beteiligten zur mutmaßlichen Zeit des Verbrechens wissen. Sie haben ihm erzählt, Sie seien beim Friseur gewesen. Als Sergeant Rogoff das aber nachprüfte, stellte er fest, daß Sie zum entsprechenden Zeitpunkt nicht dort gewesen sind. Würde es Ihnen etwas ausmachen, dazu etwas zu sagen?« »Ich sage dazu zunächst mal, daß ich mir einen neuen Friseur 111
nehmen werde«, sagte sie. »Dieser dämliche Schwätzer.« »Bitte, Lady Horowitz«, sagte ich, »wo waren Sie?« »Ich hatte Arthritis in meinen Knien und wollte nicht, daß jemand mitbekommt, daß ich bei meinem Akupunkteur war. Dort war ich nämlich.« Sie schaute mich an. »Das kaufen Sie mir nicht ab, was?« »Nein«, sagte ich. »Na gut«, sagte sie fast fröhlich, »versuchen wir's mal damit: Ich hab' in einer Bar am Deich gesessen und Cocktails geschluckt. Auch nicht? Wie wär's damit: Es war ein so herrlicher Tag, daß ich mich entschloß, mit dem Jag in einen Country Club zu fahren. Wie gefällt Ihnen das?« Ich seufzte. »Ich darf annehmen, daß Sie mir nicht erzählen werden, wo Sie waren.« »Sie nehmen richtig an, Junge. Die ganze Geschichte ist so schwachsinnig, daß sie mich ankotzt. Glaubt dieser Rogoff vielleicht, ich hätte meine Briefmarken selbst geklaut?« »Natürlich nicht.« »Warum, zum Henker, sollte ich ihm dann erzählen, wo ich dann und dann war? Mein Privatleben ist mein Privatleben, und ich bin niemand Rechenschaft darüber schuldig. Punktum und Schluß. Das gilt auch für Sie, Junge.« Ich nickte. »Danke, daß Sie mir Ihre Zeit geopfert haben.« Sie versuchte zu lächeln, aber das mißlang. »Sie sind sauer auf mich, nicht wahr?« »Irgendwie schon«, gab ich zu. »Ich habe den Eindruck, Sie machen aus einer Mücke einen Elefanten.« »Das glauben Sie«, erwiderte sie. Als sie mich mit einer entlassenden Geste bedachte, ging ich. Normalerweise bin ich ein ausgeglichener Typ. Aber dieser Zirkus mit Lady Cynthia warf zweifelsfrei einen Schatten auf mein sonst sonniges McNally-Gemüt. Ich hatte das Gefühl, daß dies einfach 112
nicht mein Tag war. Wie recht ich hatte! Ich begab mich auf der Suche nach Mrs. Marsden ins Haupthaus, in der Hoffnung, sie sei bereit, mir die Einzelheiten der von ihr erwähnten Vorahnungen zu schildern. Doch als ich am Spielzimmer vorbeikam, hörte ich das unmißverständliche Geräusch des Schluchzens einer Frau, und da die Tür weit offen stand, hatte ich keine Bedenken, einzutreten und dem Schluchzen auf den Grund zu gehen. Ich fand Gina Stanescu am Billardtisch lehnend. Sie versuchte einen Tränenschwall mit einem Tüchlein zu hemmen, das nicht größer als eine Cocktailserviette war. »Hallo, Miss Stanescu«, sagte ich, »was fehlt Ihnen?« Sie antwortete mit weiteren Schluchzern, und ich reagierte auf diese Krise auf meine gewohnte Weise, indem ich zur nächstgelegenen Quelle geistiger Ermunterung schritt – in diesem Falle zur Bar. Die erste Flasche, die ich ertastete, enthielt Ouzo. Ich goß davon in ein Glas, trat zu ihr und drückte es ihr in die Hand. »Was fehlt Ihnen?« fragte ich. »Kann ich Ihnen irgendwie helfen?« Sie schüttelte den Kopf und nahm dann einen großen Schluck von dem Ouzo, womit sie das Glas leerte. »Mehr?« Sie räusperte sich. »Danke, nein. Sie waren äußerst freundlich, Mr. McNally. Ich hätte die Tür schließen sollen. Aber es kam sehr plötzlich über mich. Hätten Sie bitte ein Taschentuch für mich? Ich fürchte, meins ist unbenutzbar.« Ich reichte ihr mein Leinentuch, das frisch und faltenlos war. Sie tupfte damit ihre Augen trocken, aber sie blieben geschwollen. »Ich habe sehr schlechte Nachrichten erhalten«, sagte sie. »Die Behörden von Rouen wollen mein Waisenhaus schließen. Das Dach leckt schrecklich, müssen Sie wissen, und die Wasserleitungen sind in sehr schlechtem Zustand. Außerdem müssen die elektrischen Leitungen dringend erneuert werden. Das alles würde sehr viel Geld 113
kosten.« »Das ist schrecklich«, meinte ich und war plötzlich sehr vorsichtig, da ich fürchtete, dies könnte die Einleitung zu einer Bitte um finanzielle Unterstützung sein. »Aber sicher werden Ihre Förderer oder Gönner bereit sein, die erforderlichen Mittel aufzubringen.« »Das glaube ich nicht«, erwiderte sie bestimmt. »Wir haben uns immer mit dem begnügt, was da war. Die Menschen geben, was sie geben können. Ich will nicht betteln.« »Sehr bewundernswert«, sagte ich, »aber manchmal ist das nötig. Wie sieht's mit Ihrer Mutter aus?« Sie sah mich an, als stelle sie meine Intelligenz in Frage. »Was glauben Sie, wer all die Jahre für die Verluste aufgekommen ist? Ich kann sie nicht um mehr bitten. Ich kann's nicht. Sie ist so großzügig gewesen. Einfach unglaublich.« Warum hatte ich das Gefühl, daß dies die erste Unwahrheit war in dem, was sie mir erzählte? Ich wußte, daß ihre Mutter jährlich kleine Beiträge für wohltätige Zwecke spendete, aber sie war Lady Horowitz und nicht Lady Großzügig. Es sei denn natürlich, sie stiftete für das Waisenhaus ihrer Tochter mehr. Das war möglich, doch nach dem lebhaften Gespräch an diesem Morgen fiel es mir schwer, ihrer Mutter jedwede Form von Großzügigkeit, des Geistes oder des Geldbeutels, zuzubilligen. »Ich kenne Frankreich nicht«, sagte ich, »aber in diesem Land gibt es Organisationen, die Spenden beschaffen. Für ein bestimmtes Honorar empfehlen sie Methoden zur Steigerung der Einnahmen förderungswürdiger Unternehmungen, Werbebriefe zum Beispiel, sogar Lotterien.« Sie schüttelte wieder den Kopf. »Wir sind zu klein«, erwiderte sie, »und arbeiten nur lokal. Wir können nur durch die Großzügigkeit unserer Gönner existieren. Doch die Reparaturkosten überschreiten bei weitem das, was wir erwarten dürfen.« »Aber Sie haben doch sicher nicht die Absicht zu schließen?« »Nein«, meinte sie entschlossen, »noch nicht.« Und ihre scharfen 114
Gesichtszüge verhärteten sich. Jetzt ähnelte sie ihrer Mutter sehr. »Nur, wenn es keine andere Möglichkeit mehr gibt. Es besteht noch eine winzige Chance, daß wir es schaffen.« »Und was ist das für eine winzige Chance?« »Ein Wunder. Mr. McNally, danke für Ihr Interesse und für Ihr Taschentuch. Ich werde es reinigen lassen und Ihnen dann zurückgeben.« »Nicht nötig«, antwortete ich, aber sie huschte bereits aus dem Raum. Das alles ergab nicht sonderlich viel Sinn. Zuerst verweigerte Lady Cynthia Auskünfte über ihren Aufenthaltsort zu dem Zeitpunkt, als Bela Rubik ermordet worden war. Und jetzt weigerte sich Gina Stanescu, ihre Mutter um Mittel zur Instandsetzung ihres Waisenhauses zu bitten, obwohl eben diese Mutter ihren Auskünften zufolge in der Vergangenheit großzügig gespendet hatte. Ich vermutete, daß Miss Stanescu mir nicht die ganze Wahrheit erzählt hatte. Was ich im Augenblick benötigte, waren einer von Leroy Pettibones köstlichen Hamburgern und ein Eimer Hopfengebrautes. Ein derartiges Mittagessen würde meine Verfassung enorm steigern und wieder Rot auf meine Wangen bringen. Doch als ich im Pelican Club eintraf, drängte sich darin die offensichtlich dem Verhungern nahe mittägliche Menge, denn beim Blick in den Speiseraum vermochte ich keinen leeren Tisch zu entdecken. Daraus schloß ich, daß ich gezwungen sei, an der Bar zu essen. In diesem Augenblick aber hob sich ein Frauenarm und winkte mich heran. Ich sah, daß es Consuela Garcia war, die allein an einem Tisch für zwei saß. Sofort trabte ich zu ihr hin. »Hallo, Baby«, sagte ich heiser und zwirbelte einen imaginären Schnurrbart. »Kommen Sie oft hierher?« »Ach, halt den Mund und setz dich«, gab sie zurück. »Du siehst hungrig aus.« »Und durstig.« Ich setzte mich. »Wie geht's dir, Connie?« 115
»Erbärmlich.« »Aber du siehst toll aus«, versicherte ich ihr. Das war die Wahrheit. Sie trug ein weißleinenes Strandkleid, das ihre dunkelbraune Haut wundervoll betonte. An ihren Ohren baumelten goldene Ringe, und ihr glänzendes schwarzes Haar trug sie offen. Priscilla kam, um unsere Bestellung aufzunehmen, und funkelte mich an. »Connie«, sagte sie, »es ist im Club nicht gestattet, fremde Männer anzusprechen.« »Ich werd's dir zeigen«, drohte ich ihr. »Das hoffe ich«, erwiderte sie. »Aber wann?« Connie und ich lachten, bestellten Hamburger und Bier und begannen, an unseren Gurkenstückchen zu nagen. »Warum geht's dir erbärmlich?« fragte ich sie. »Es ist dieses Irrenhaus, in dem ich arbeite«, murrte sie. »Ich mußte eine Stunde raus, sonst wäre ich die Wände hochgegangen.« »Was ist das Problem? Lady Cynthia?« »Du hast's erfaßt, Archy. In letzter Zeit ist sie ständig auf achtzig.« »Ach? Seit wann? Seit ihre Briefmarken gestohlen wurden?« »Nein, das scheint sie nicht weiter zu beunruhigen. Erst in den letzten Tagen ist sie so unerträglich geworden. Rate mal, wie sie gestern genannt wurde.« »Lady Horrorwitz?« »Das ist doch uralt. Ich war auf einer Cocktailparty und hörte, wie eine alte Schlampe sie als Lady Hurwitz bezeichnete. Menschen können schrecklich grausam sein.« »Schrecklich und grausam«, sagte ich. »Ah, da kommt unser Essen.« Connie bat um heiße Salsa für ihren Hamburger, aber ich paßte. Ich erinnerte mich, daß sie mich während unserer Rendezvous damit erstaunt hatte, daß sie Chipolatas kaute, diese gepfefferten 116
Würstchen, die einem die Geschmackspapillen wegätzen können. Connie naschte sie wie Erdnüsse. »Verrate mir mal was«, sagte ich beiläufig, während ich mein Essen bearbeitete. »Wenn die Lady allein mit ihrem Jag wegfährt, erzählt sie dir dann, wohin sie fährt?« »Manchmal«, erwiderte Connie, »und manchmal auch nicht. Sie haßt es, wenn jemand danach fragt. Sie ist wirklich eine sehr verschlossene Person.« »Vielleicht zu verschlossen. Sergeant Al Rogoff fragte sie, wo sie zu einem bestimmten Zeitpunkt gewesen ist, und sie belog ihn. Dann fragte ich sie, und sie erzählte mir ebenfalls Unsinn.« »Das ist typisch für sie.« »Dich hat sie auch belogen.« »Wann war das?« »An dem Tag, als alle auf Phil Meechams Jacht rausfahren sollten. Du erzähltest mir, sie sei zu ihrem Friseur gegangen.« »Sie hat mir gesagt, daß sie dahin gehen wolle.« »Dessen bin ich sicher. Aber sie ist nicht im Salon aufgetaucht.« »Das ist eigenartig«, sagte Connie stirnrunzelnd. »Aber wie ich dir erzählte, entweder sagt sie mir, wohin sie geht, oder sie sagt's nicht. Jedoch erinnere ich mich nicht, daß sie mich je belogen hat. Was hältst du davon?« »Ich weiß nicht. Vielleicht hat sie Spaß daran, sich als geheimnisvolle Frau zu geben.« »Archy, das ist Unsinn. Mach alles genauso, wie sie's verlangt, und dann kommst du bestens mit ihr aus.« »Ich nehme an, du wirst sie nicht fragen wollen, wohin sie gefahren ist, statt zum Friseur zu gehen?« »Nein, das werde ich nicht«, erwiderte Consuela bestimmt. »Trotz meines Gejammers mag ich meinen Job, und ich will ihn behalten.« Wir aßen unsere Teller leer und saßen einen Augenblick schweigend da, während wir unser Bier austranken. 117
»Du triffst dich noch mit Jennifer Towley?« fragte Connie unvermittelt. Ich nickte. »Hat sie dir ihre Geschichte erzählt?« »Hat sie.« »Daß ihr Ex-Mann auch ein Ex-Sträfling ist?« »Hat sie mir auch erzählt«, sagte ich geduldig. »Hast du ihn je kennengelernt, Archy?« »Nein, bisher nicht.« »Ich aber«, sagte Connie. »Er wurde mir am letzten Samstag vorgestellt.« »Ach?« fragte ich interessiert. »Was für ein Typ ist er?« »Also er sieht wirklich nicht wie einer aus, der gesessen hat. Ich meine, er ist gut gekleidet, hat eine gesunde Hautfarbe und scheint in Form zu sein. Ich schätze, er ist zwei bis vier Zentimeter kleiner als du. Hat keinen Bauch, sieht nett aus, vorzeigbar. Er lacht viel.« »Wo hast du ihn gesehen, Connie?« »Unten in Dania Jai Alai.« »Was hast du denn da gemacht?« »Mein wichtiger Anderer und ich hatten beschlossen, am Samstag mal was anderes zu tun, also sind wir hingefahren, um uns die Spiele anzusehen.« »Und dort bist du Thomas Bingham begegnet?« »Oho«, sagte sie, »du kennst also seinen Namen. Ja, er war da. Mein Begleiter wußte, wer er war.« »Connie«, fragte ich, »hat er gewettet?« »Bingham? Als ob's kein Morgen gäbe.« Ich unterschrieb die Rechnung, wir verließen den Club, Connie gab mir einen Kuß auf die Wange und bedankte sich für das Mittagessen. Ich winkte ihr nach, als sie mit ihrem Subaru fortfuhr. Eine Klassefrau – unsere kurze Affäre war etwas, woran ich mich noch erinnern werde, wenn ich im Altersheim Dame spiele. 118
Ich stieg in den Miata und machte es mir auf den sonnenwarmen Polstern bequem. Ich gönnte mir eine Zigarette und dachte über meinen nächsten Schritt nach. Al irrte sich. Von komplizierten Dingen hielt ich überhaupt nichts. Ich mag's, wenn die Dinge klar und unkompliziert sind. Aber jetzt schien ich in einem Labyrinth von Vielleichts zu stecken. Die Ungewißheiten waren so überwältigend, daß ich versucht war, sofort nach Hongkong zu starten und erst zurückzukehren, wenn alle Probleme gelöst waren. Doch statt nach Hongkong zu fliegen, fuhr ich zu einer Autovermietung in West Palm Beach. Ich ließ meine Kreditkarte blitzen und mietete für eine Woche einen schwarzen Ford Escort GT. Ich fragte den Angestellten, ob ich ihn hier auf dem Parkplatz stehen lassen könnte. Der Angestellte sah mich an, als sei ich eine neue Art von Bescheuertem. »Eine Woche lang?« fragte er ungläubig. Ich nickte. »Ich werde ihn dann und wann holen. Wenn ich das Bedürfnis verspüre.« Und ich gab ihm zwanzig Dollar Trinkgeld. »Natürlich, Sir!« rief er herzlich. »Absolut kein Problem.« Ich hatte nicht die Absicht, ihm mein Motiv darzulegen. Der Miata ist ein prächtiger kleiner Wagen, der ins Auge fällt, vor allem, wenn er knallrot ist. Falls ich jemand verfolgen mußte, brauchte ich einen fahrbaren Untersatz, den man mit keinem zweiten Blick bedachte. Ich fuhr zum McNally-&-Sohn-Gebäude zurück und parkte den Miata in unserer Tiefgarage. Ich ging nach oben und fragte Mrs. Trelawney, ob mein Vater da sei. Sie sagte, er sei da, konferiere aber mit einem Klienten. Sie werde mich anrufen, sobald er frei sei. Also begab ich mich in mein Büro. Ich saß über eine halbe Stunde da und überdachte die vormittäglichen Gespräche mit Lady Cynthia, Gina Stanescu und Consuela Garcia. Sehr enttäuschend. Statt Dinge zu klären, hatten die drei Frauen dazu beigetragen, meine Sorgen zu vertiefen. Sie hatten mir 119
eigenartig gestaltete Stückchen auf den Tisch geworfen, das Puzzle weiter vergrößert, und ich hatte noch keine zwei Teile gefunden, die zusammenpaßten. Mrs. Trelawney rief an und sagte, der Chef habe vor seinem nächsten Termin fünfzehn Minuten Zeit für mich. »Also machen Sie's schnell!« Mein Vater stand neben seinem großen Rollschreibtisch, als ich sein Büro betrat. »Tut mir leid, dich stören zu müssen«, sagte ich, »aber ich wollte wissen, ob du Gelegenheit hattest, mit Lady Horowitz über ihr Testament zu sprechen.« »Die hatte ich«, erwiderte er. »Sie weigert sich, auch nur einen Bruchteil seines Inhalts der Polizei zugänglich zu machen.« »Das hatte ich erwartet«, sagte ich, »aber wie du festgestellt hast, ist sie unberechenbar, und deshalb hätte durchaus die Chance bestanden, daß sie ihr Einverständnis gibt. Sergeant Rogoff wird enttäuscht sein.« Darauf herrschte Schweigen. »Ich vertraue auf deine Diskretion, Archy«, äußerte er sich schließlich. »Täte ich das nicht, würdest du nicht die Position in dieser Organisation innehaben, die du einnimmst. Zu deiner Information – und ich betone: ausschließlich zu deiner Information –, daß schätzungsweise die Hälfte von Lady Horowitz' Vermögen wohltätigen Zwecken zugeführt wird. Dann gibt es eine lange Liste spezieller Zuwendungen an Einzelpersonen, einschließlich des Personals, an Freunde und sogar an all ihre Ex-Ehemänner, die noch leben. Der Rest ihres Besitzes geht zu gleichen Teilen an ihre fünf Kinder, von denen derzeit drei ihre Gäste sind.« Ich nickte. »Ich danke dir für dein Vertrauen auf meine Diskretion, Vater. Ohne Sergeant Rogoff gegenüber Einzelheiten zu nennen, darf ich ihm sagen, daß du mich dahingehend informiert hast, daß Lady Cynthias Testament nichts enthält, was ihm bei seinen Nachforschungen helfen könnte?« 120
Wieder eine lange Pause, während der er alle möglichen Folgen in Erwägung zog, die eine Einwilligung in meine Bitte mit sich bringen konnte. »Ja«, meinte er schließlich, »das kannst du ihm sagen. Aber nicht mehr. Wie kommen die Ermittlungen voran? Keine Verdächtigen?« »Zu viele Verdächtige«, erwiderte ich. »Einschließlich Lady Horowitz selbst.« Er erstarrte und funkelte mich fast wütend an. »Du willst damit doch nicht andeuten, daß unsere Klientin ihre eigenen Briefmarken gestohlen und den Händler ermordet hat?« »O nein«, sagte ich hastig, »nichts dergleichen. Aber sie weigert sich, Auskunft über ihren Aufenthaltsort zum Zeitpunkt von Rubiks Ermordung zu geben.« Dann berichtete ich ihm, daß es Sergeant Rogoff unmöglich sei festzustellen, wo sie sich aufgehalten hatte, und krönte das Ganze mit meinem Mißerfolg an diesem Morgen. »Eine letzte Frage«, fuhr ich fort. »Du sagtest mir, daß die Hälfte von Lady Horowitz' Vermögen an mehrere wohltätige Organisationen geht. Erinnerst du dich zufällig daran, ob eine davon ein Waisenhaus in Rouen ist, das ihre Tochter Gina Stanescu leitet?« »Nein«, sagte er entschieden. »Das ist nicht darunter.« »Danke, Vater.« Ich fuhr in ziemlich ernster Stimmung nach Hause. ›Ernst‹ heißt in diesem Fall, daß ich keinen Gedanken dem Fall der Inverted Jennies widmete, sondern mein Hirnschmalz allein an die Überlegung verschwendete, ob ich Jennifer Towley erzählen sollte, daß ihr Ex wieder spielte. Sollte ich sie vor einem möglicherweise gebrochenen Herzen retten oder meinen romantischen Ambitionen eine Zukunft geben? Das würde eine beachtliche moralische Entscheidung werden – ich löste das Problem auf meine gewohnte Weise, indem ich die Entscheidung auf später verschob. Ich fand meine Mutter an der hölzernen Werkbank im Töpferschuppen stehend. Sorgenvoll betrachtete sie die vielleicht herun121
tergekommenste Pflanze, die ich je gesehen habe: ein total geschwächter Stengel, welke Blätter und die Erde im Topf ausgetrocknet und rissig. »Mutter«, fragte ich, »was, um Himmels willen, ist dieses Ding?« »Eine Begonie. Sarah Bogart brachte sie mir und fragte, ob ich sie retten könne.« »Was hat sie ihr angetan? Sie mit Drano gedüngt?« »Vernachlässigung«, erwiderte meine Mutter aufgebracht. »Einfach brutale Vernachlässigung. Das kranke kleine Ding liegt in den letzten Zügen.« »Kannst du's retten?« »Das werde ich ganz bestimmt versuchen«, sagte sie entschlossen. »Ich werde es in frische Erde umtopfen, gießen und düngen, es umhegen – und natürlich mit ihm reden.« Sie machte sich mit Gartengeräten aus rostfreiem Stahl an die Arbeit, die mein Vater ihr während einer Geschäftsreise aus Edinburgh geschickt hatte. Ihre Bewegungen waren langsam, behutsam und zielstrebig. Ich zweifelte nicht daran, daß die Begonie binnen vierzehn Tagen wieder aus dem Stengel sein würde. »Mutter«, fragte ich, »ist dir aufgefallen, daß Vater in letzter Zeit ungewöhnlich besorgt wirkt?« »Das arme Ding«, erwiderte sie – sie meinte die vernachlässigte Begonie. »Mir ist klar, daß er schwer arbeitet«, fuhr ich fort, »und er steht wahrscheinlich unter großem Streß. Aber das ist nichts Neues, und ich hatte schon immer das Gefühl, daß er zu viel macht.« »Zärtliche, liebevolle Zuwendung wird hier gebraucht«, sagte meine Mutter. »Aber in letzter Zeit«, fuhr ich weiter fort, »wirkt er fast verstört. Weißt du vielleicht, was ihm Sorgen macht?« »Dir wird's bald wieder richtig gut gehen«, versprach meine Mutter der Pflanze. »Du wirst prächtige, gesunde Blätter bekommen und alle Blüten, die du dir nur wünschest.« 122
Ich gab's auf und ging, aber sie rief mich zurück. »Du mußt positiv denken, Archy«, sagte sie, »und immer das Schöne bei allen Dingen sehen.« »Ja, Mutter«, gab ich kurz zur Antwort.
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ch wollte Consuela Garcia nicht beschwindeln. Ich hielt sie für eine wundervolle Frau, und sie hatte nichts Böses an sich. Ich wußte, daß sie ihrer Arbeitgeberin trotz ihrer Klagen ergeben war. Also mußte ich mir einen Schwindel ausdenken und proben, bevor ich am Mittwochmorgen zum Horowitzschen Anwesen fuhr. Ich fand Connie in ihrem Büro, wo sie wie gewöhnlich telefonierte. Sie winkte mich auf einen Stuhl und setzte ihr Gespräch fort. Offensichtlich ging es um einen Empfang, den Lady Cynthia anläßlich des Besuchs eines berühmten Tenors in Palm Beach plante. Connie legte auf und verdrehte die Augen himmelwärts. »Die erste Krise dieses Morgens«, sagte sie, »und jetzt du. Was liegt an, Archy?« »Eine Bitte«, erwiderte ich. »Aber laß mich ausreden, bevor du eine Entscheidung triffst. Gestern hast du mir beim Mittagessen erzählt, daß Lady Cynthia dir manchmal nicht sagt, wohin sie fährt, wenn sie mit ihrem Jag allein verschwindet. Ja?« Connie nickte. »Ich möchte dich um folgendes bitten«, fuhr ich fort. »Wenn sie das nächste Mal verschwindet, ruf mich sofort an.« 123
»Damit du ihr folgen kannst?« fragte sie aufgebracht. »Du weißt, daß ich wegen des Diebstahls der Inverted Jennies eng mit der Polizei zusammenarbeite. Wir haben Grund zu der Annahme, daß Lady Horowitz erpreßt wird und die Briefmarken als Teilzahlung übergeben hat.« »Erpressung!« keuchte Connie entsetzt. Sie wohnte lange genug in der Gegend, um zu wissen, daß Palm Beach das Gleiche für Erpresser ist wie eine Hühnerfarm für Füchse. »Alle Anzeichen deuten darauf hin«, log ich weiter. »Beispielsweise regelmäßige Barabhebungen von ihrem Bankkonto. Und jetzt weißt du, daß sie sagen wird, wir sollen uns trollen, wenn die Bullen oder ich sie direkt fragen: ›Werden Sie erpreßt?‹ Unsere beste Chance, dieser Gemeinheit ein Ende zu setzen, ist, ihr zu den Erpressern zu folgen, sie zu identifizieren und sie entweder hinter schwedische Gardinen zu bringen oder aus dem Land zu jagen. Ohne Aufsehen zu erregen. Das kann ich dir versprechen.« Sie schaute mich an und holte dann tief Luft. »Ich weiß nicht«, sagte sie langsam. »Ich nehme an, daß sie einiges in ihrem Leben getan hat, weswegen sie erpreßt werden könnte.« »Haben wir das nicht alle?« erwiderte ich. »Wirst du's tun, Connie? Wirst du mich in dem Augenblick anrufen, wenn du merkst, daß sie mit dem Jag wegfahren will?« »Ich werde darüber nachdenken.« »Bitte, tu das.« Ich stand auf. Als ich sie verließ, war sie völlig durcheinander und suchte mit zitternden Händen nach einer Zigarette. Fühlte ich mich schuldig, weil ich diese Nummer abgezogen hatte? Nein. Das Ergebnis rechtfertigt nicht immer die Mittel, aber manchmal schon. Ich verließ das Haupthaus und hörte Gelächter und Geplansche vom Pool. Ich schlenderte dorthin und entdeckte Felice und Alan DuPey, die wie Delphinbabys im Wasser herumtollten. Die Neuvermählten trugen malvenfarbene Badeanzüge und Badekappen. 124
Ich winkte ihnen zu, und sie winkten zurück. Ihre Bademäntel hatten sie auf einen Tisch unter einem Sonnenschirm gelegt, und ich zog einen Stuhl heran und setzte mich in den Schatten. Ich beobachtete sie, wie sie kreischten und einander untertauchten. Warum fühlte ich mich so alt? Und warum empfand ich so etwas wie Neid, als ich ihnen zusah? Sie stiegen lachend aus dem Pool und nahmen ihre Kappen ab. Sie schlüpften in ihre Bademäntel, gesellten sich zu mir, und wir begrüßten uns. »Geht's Ihnen gut?« fragte ich. Eine dämliche Frage. Die beiden sahen aus, als hätten sie das Paradies gefunden. »Oh, es ist so wundervoll hier«, sagte Felice, die sich mit leuchtenden Augen umschaute. »Ich möchte niemals von hier fort.« »Das müssen wir aber!« entgegnete ihr Gatte, wobei er ihre Hand ergriff. Er wandte sich zu mir. »Wir reisen am Samstagmorgen ab.« »Das tut mir aber leid«, meinte ich. »Können Sie nicht noch ein bißchen bleiben?« Er schüttelte den Kopf. »Leider nein. Wir müssen wieder an die Arbeit. Zurück ins Bergwerk.« »Fahr du, Alan«, sagte sein Weib keck, »und ich bleibe hier. Mr. McNally wird sich um mich kümmern.« »Es wäre mir eine Freude«, bemerkte ich, und wir lachten. Aber es beunruhigte mich. Die DuPeys waren auf meiner Liste der Verdächtigen ziemlich weit unten plaziert, doch ich wollte nicht, daß sie einfach verschwanden. Wenn sie in den Diebstahl und den damit zusammenhängenden Mord verwickelt waren, würde es ausgesprochen schwierig, wenn nicht unmöglich werden, ihre Schuld zu beweisen, wenn sie einen halben Globus entfernt waren. Noch wichtiger schien mir, daß sie vielleicht über Informationen verfügten, die sie noch nicht preisgegeben hatten, Informationen, die sie für unbedeutend hielten, die aber nützlich sein konnten. Alan kam mir auf erfreuliche Weise entgegen. »Verraten Sie mir, 125
Mr. McNally«, sagte er, »ob Sie herausgefunden haben, wer die Briefmarken meiner Mutter gestohlen hat?« »Noch nicht«, widersprach ich. »Die Ermittlungen dauern noch an. Vielleicht können Sie und Felice helfen. Als Sie alle an Bord von Phil Meechams Jacht gingen, wurde Ihnen gesagt, die Kreuzfahrt finde wegen zu hohen Seegangs nicht statt. Stimmt das?« »Ja«, erwiderte er, »aber wir sind auf der Party geblieben.« »Sie und Felice«, sagte ich. »Doch die Smythes, Gina Stanescu und Angus Wolfson gingen. Ich glaube, das haben Sie gesagt. Habe ich das richtig verstanden?« Die beiden nickten. »Haben die anderen Ihnen gesagt, wohin sie gingen?« »Einkaufen«, sagte Felice prompt, hielt inne und redete auf ihren Ehemann so schnell auf französisch ein, daß ich ihr nicht folgen konnte. »Sie haben einen Schaufensterbummel gemacht«, erklärte Alan. »Ich glaube nicht, daß sie etwas kaufen wollten, aber sie sagten, sie wollten sich die Läden an der Worth Avenue ansehen.« »Sehr teure Läden!« ergänzte seine Frau. »Olala!« »In der Tat«, stimmte ich zu. »Soweit Sie wissen, bummelten sie einfach und schauten sich um?« Die beiden nickten wieder. »Und sie verließen die Jacht gemeinsam – alle vier?« Alan runzelte die Stirn und versuchte sich zu erinnern. Aber seine Frau gab die Antwort. »Nein«, sagte sie. »Nicht alle zusammen. Gina und Angus gingen zuerst und dann, vielleicht eine halbe Stunde später, die Smythes. Ich erinnere mich daran, weil –« Plötzlich platzten beide vor Lachen über etwas, das sie als ungemein komisch in Erinnerung hatten. »Was ist so amüsant?« fragte ich. »Ich sollte mich darüber nicht lustig machen«, erwiderte Alan, »aber als Harry und Doris gingen, nahmen sie eine Flasche von Mr. 126
Meechams Champagner mit.« »Wir haben's gesehen«, sagte Felice. »Es war so lustig. Harry versuchte, sie unter seiner Jacke zu verstecken.« »Für den Fall, daß sie beim Schaufensterbummel durstig wurden«, warf ich ein. »Aber ich bin sicher, Phil Meecham wird die Flasche nicht vermißt haben. Sind Gina und Angus gemeinsam gegangen?« »O ja«, sagte Alan. »Die beiden stehen sich sehr nah.« »Glaubst du –«, setzte seine Frau an, hielt dann inne und biß sich auf die Knöchel. »Was soll er glauben?« drängte ich sie. »Das ist Unsinn«, meinte Alan, der seine Frischangetraute zärtlich ansah. »Felice meint, daß mehr als Freundschaft zwischen den beiden sein könnte.« »Das ist kein Unsinn«, protestierte Felice, die sehr hübsch schmollte. »Eine Frau merkt so etwas, und ich sage, daß da eindeutig ein Gefühl zwischen den beiden ist.« »Unmöglich«, widersprach der Ehemann. »Erst mal ist er mindestens zwanzig Jahre älter als sie, und außerdem ist er stockschwul.« »Diese Dinge sind unwichtig«, sagte seine Frau. »Vielleicht sind sie beide einsam.« »Das ist möglich«, gab ich zu. »Ich habe gehofft, heute morgen mit Mr. Wolfson sprechen zu können. Wissen Sie, ob er da ist?« »Nein, ist er nicht«, sagte Alan. »Er ist vor etwa einer Stunde zum Strand hinuntergegangen.« »Ich hoffe, er wird nicht schwimmen wollen«, erwiderte ich. »Es ist ziemlich kabbelig draußen, und im Rundfunk wurde vor Unterströmungen gewarnt.« »Nun«, sagte Felice, »er kann nicht schwimmen. Das hat er uns erzählt. Er sagte, er wolle nur einen Spaziergang machen und vielleicht ein paar Muscheln sammeln.« Ich nickte und stand auf. »Mal sehen, ob ich ihn finde. Danke für die Unterhaltung. Ich bin sicher, ich werde Sie wiedersehen, 127
bevor Sie abreisen.« »Sie sind nicht verheiratet, Mr. McNally?« fragte Felice. »Nein«, sagte ich. »Bin ich nicht.« Felice sah mich abschätzend an. »Ich habe eine sehr hübsche Base, etwa in Ihrem Alter, würde ich sagen. Ebenfalls unverheiratet.« »Felice!« rief ihr Gatte und legte ihr eine Hand auf den Mund. »Ich bitte, das zu entschuldigen«, sagte er zu mir. »Sie ist eine typische Kupplerin.« Seine Frau nahm seine Hand weg. »Ich will nur, daß alle so glücklich sind wie wir«, entgegnete sie ihm. Ich verließ sie. Das Horowitzsche Anwesen grenzte an den Ocean Boulevard. Auf der anderen Straßenseite rankten an einem Gitter Trauben, und dahinter erhob sich eine hüfthohe Betonmauer. Dahinter wiederum erstreckten sich der Strand und der Atlantische Ozean. Ich spazierte nordwärts zu einem Durchbruch in der Mauer, wo eine verwitterte Holztreppe zum Strand hinunterführte. Ich erblickte die näher kommende Gestalt eines einsamen Spaziergängers, der durchaus Angus Wolfson sein konnte. Ich streifte meine Schuhe ab (Socken trug ich nicht) und stapfte durch den Sand. Während wir uns einander näherten, stellte ich fest, daß es sich tatsächlich um den Bibliophilen aus Boston handelte. Er trug seine Sandalen in der Hand und platschte durch das seichte Wasser wie ein Kind, das durch Regenpfützen läuft. Er trug eine weiße Flanellhose und ein Seidenhemd mit extravagantem Kragen und weiten Ärmeln. Seinen Kopf krönte ein gelber Südwester, mit einem zerzausten Band festgezurrt. Er trug ihn mit einer Sorglosigkeit, die ich bewunderte, und er stach mit einem Stock in den Sand. Als ich näherkam, erkannte er mich, nahm seinen lächerlichen Hut mit einer Geste gespielter Höflichkeit ab und schwenkte ihn. 128
»Mr. McNally«, sagte er, »welch freudige Überraschung!« »Geplant. Ich hörte, daß Sie am Strand Spazierengehen, und hoffte, mit Ihnen sprechen zu können. Darf ich Sie begleiten, Sir?« »Nur wenn Sie endlich aufhören, mich ›Sir‹ zu nennen. Das ist nicht viel besser als ›Alter‹.« »Alte Gewohnheiten gewöhnt man sich nur schwer ab. Man hat mich gelehrt, ältere Männer zum Zeichen der Ehrerbietung mit ›Sir‹ anzureden.« »Manchmal verdienen wir das nicht«, sagte er leichthin. »Aber trotzdem, begleiten Sie mich. Ein wirklich prächtiger Tag.« Das war's in der Tat. Eine Brise vom Meer her nahm der Sonne etwas von ihrer stechenden Hitze, und der blaue Himmel war von Wölkchen übersät. Doch die See war unzweifelhaft kabbelig, kam mit einer ständigen Brandung, die in einem Wirbel milchigen Schaumes unsere nackten Knöchel umschlang. Wir wanderten langsam südwärts, wobei Wolfson sich gelegentlich schwer auf seinen Stock stützte. Das hängende Fleisch seines Gesichts hatte einen gräulichen Farbton, und ein- oder zweimal preßte er seine freie Hand auf seinen Unterleib, als wolle er einen hartnäckigen Schmerz unterdrücken. »Fühlen Sie sich nicht gut, Mr. Wolfson?« fragte ich. »Eine vorübergehende Erkrankung«, erwiderte er munter. »Sie wird bald vorüber sein.« »Was ist es?« »Leben«, sagte er und sah mich, ein zustimmendes Kichern heischend, an. Ich entsprach dem, so gut ich konnte. Er fragte: »Und Sie schnüffeln noch immer wegen dieser albernen Briefmarken herum?« Ich war wegen dieser herablassenden Beurteilung meiner ›diskreten Nachforschungen‹ beleidigt, verdrängte das aber. »Ich ermittle noch immer, ja.« 129
Er blieb einen Augenblick stehen, um sich auf seinen Stock zu stützen und auf den trüben Horizont zu starren. »Ich verstehe wirklich nicht, warum Sie einen solchen Wirbel um diese vier falsch bedruckten Papierfetzen machen. Ich versichere Ihnen, daß Lady Cynthia wegen dieses Verlustes nicht an Schlaflosigkeit leidet.« »Wenn die Briefmarken nicht wiedergefunden werden, wird es eine Schadensersatzforderung an die Versicherung geben. Mein Vater will sichergehen, daß sowohl sein Büro als auch die Polizei alle Anstrengungen unternommen haben, die Briefmarken oder den Dieb oder beides zu finden.« Er antwortete darauf nicht, sondern ging langsam weiter. Er hatte den Kopf gesenkt, und die breite Krempe seines Hutes beschattete seine Augen. »Und warum wollten Sie mit mir sprechen?« fragte er. »Ich habe Ihnen das wenige, das ich über die Geschichte weiß, bereits erzählt.« »Nur noch ein paar Fragen«, sagte ich. »Sie haben Phil Meechams Jacht mit Gina Stanescu verlassen, nachdem die Kreuzfahrt abgesagt worden war. Würden Sie mir sagen, wohin Sie gegangen sind?« »Nein«, erwiderte er. »Ich lehne dieses Verhör ab, da es den Eindruck erweckt, daß mein Tun und Lassen an jenem Tag verdächtig ist. Aber ich habe nichts zu verbergen und werde deshalb antworten. Gina und ich sind zur Worth Avenue gegangen und haben dort mehrere Läden besucht. Wir haben uns in einem Kaufhaus getrennt, da ich des Laufens müde war. Wir vereinbarten, uns eine Stunde später zu treffen. Ich ging kurz in eine Buchhandlung, fand aber nichts, was mich interessierte. Daraufhin begab ich mich ins Café ›L'Europe‹, setzte mich an die Bar und nahm einen ausgezeichneten Wodka-Gimlet zu mir, eiskalt und rasiermesserscharf. Gina gesellte sich schließlich zu mir und trank ein Glas Weißwein. Dann riefen wir Kenneth an. Er holte uns in seinem Rolls ab, und wir fuhren stilvoll nach Hause. Zufrieden?« »Bin ich«, meinte ich. »Aber Sie wissen ja, wie die Polizei ist. Die 130
wird Ihre Geschichte mit Gina überprüfen, mit dem Verkäufer im Buchladen, mit dem Barkeeper im ›L'Europe‹ und mit Kenneth.« »Sollen die doch überprüfen, was sie wollen!« schrie er mit überraschender Heftigkeit. »Das ist mir doch ganz egal!« Ich schaute ihn erstaunt an. Der plötzliche Wutausbruch schien ihn geschwächt zu haben. Er schwankte, und ich fürchtete, er könnte umfallen, und legte deshalb eine Hand unter seinen Ellenbogen, um ihn zu stützen. »Ist alles mit Ihnen in Ordnung?« fragte ich besorgt. »Ich merke langsam die Hitze«, erwiderte er mit einem Grinsen, das ich nur als wölfisch bezeichnen kann. »Ich denke, es ist besser, wenn wir zurückgehen.« »Natürlich«, sagte ich. »Stützen Sie sich auf meinen Arm.« Er funkelte mich an. »Ich bin stärker, als Sie vielleicht denken«, meinte er kühl. »Ich bin noch nicht altersschwach, das versichere ich Ihnen.« Aber wir gingen langsam zurück. Wolfson hielt den Kopf gesenkt und stützte sich auf seinen Stock. Plötzlich blieb er stehen und starrte auf den Sand. »Sehen Sie sich das an!« sagte er. »Eine wundervolle Muschel! Würden Sie die bitte für mich aufheben?« Ich bückte mich, hob sie auf, schüttelte den Sand heraus und reichte sie ihm. Es war eine ganz gewöhnliche Wellhornschnecke, angeschlagen und verkrustet, aber er drehte sie so zärtlich zwischen den Fingern, als hätte er einen Schatz gefunden. »Ist sie selten?« fragte er. Ich konnte nicht lügen, aber ich konnte heucheln. »An diesem Stück Strand sind alle Muscheln selten«, sagte ich. »In den letzten Jahren haben wir hier nur wenige gefunden.« »Ich werde sie Gina schenken«, erwiderte er. »Sie wird sie lieben.« Schließlich erreichten wir die Horowitzsche Villa, und Wolfson verließ mich, um auf sein Zimmer zu gehen. »Ein kurzes Nicker131
chen«, sagte er, »um meine Batterien aufzuladen.« Ich ging zum Miata und sah Kenneth Bodin in der Garage rummachen. Er trug eines seiner bunten T-Shirts und ließ die Muskeln in allen Richtungen spielen. Ich gesellte mich zu ihm und hielt ihm meine Zigarettenschachtel hin. Er nahm eine Zigarette heraus und musterte sie aufmerksam. »English Ovals, was?« fragte er. »Ich hab' noch nie eine geraucht. Importiert?« »Ja«, sagte ich. »Aus Virginia.« »Die rauch' ich nach dem Mittagessen«, fuhr er fort und steckte sich die Zigarette hinters Ohr. »Haben Sie die Briefmarken schon gefunden?« »Noch nicht. Aber vielleicht können Sie mir helfen. An jenem Tag sollten alle Gäste des Hauses eine Kreuzfahrt auf einer Jacht machen. Haben Sie gegen eins einen Anruf bekommen, daß Sie Gina Stanescu und Angus Wolfson abholen sollten?« »Das stimmt. Die Kreuzfahrt wurde abgesagt. Deshalb sind die einkaufen gegangen. Dann wollten sie zurückfahren. Sie hätten ja ein Taxi bestellen können, denke ich, aber fürs Fahren bin ich ja da.« »Wo haben Sie die beiden abgeholt?« »Vorm Café ›L'Europe‹. Sie haben auf dem Bürgersteig auf mich gewartet.« »Und Sie haben sie direkt hierher zurückgefahren?« »Sicher. He, hat das was mit den Briefmarken zu tun?« »Man kann nie wissen, oder?« fragte ich ihn und ließ ihn reichlich verwirrt stehen. Zum Mittagessen kehrte ich nach Hause zurück. Aber bevor ich mich auf den Salat stürzte, den Ursi zubereitet hatte, führte ich zwei Telefonate. Das erste mit Al. »Hallo, Sherlock«, sagte er. »Was liegt an?« »Du ißt gerade zu Mittag«, stellte ich fest. »Ich kann dich kauen 132
hören. Was ißt du Schönes?« »Anchovis-Pizza.« »Nichts für mich. Kannst du Pizza kauen und dir gleichzeitig Notizen machen?« »Sicher.« Ich wiederholte, was Angus Wolfson mir über seine Beschäftigung zu dem Zeitpunkt erzählt hatte, als Bela Rubiks Schädel zertrümmert worden war. »Okay«, sagte Al. »Danke. Ich prüf das nach.« »Ich habe bereits den Chauffeur befragt«, fuhr ich fort. »Er sagt, er habe Miss Stanescu und Wolfson gegen ein Uhr aufgegabelt. Glaubst du ihm?« »Ich glaube niemandem«, erwiderte Al. »Schließt mich das ein?« »Dich ganz besonders.« Mein zweiter Anruf galt Jennifer Towley, und ich war freudig überrascht, als sie sich statt des Anrufbeantworters meldete. »Wie wär's mit einem Abendessen heute?« »Sehr gerne«, stimmte sie sofort zu. »Bist du sicher, daß du nicht darüber nachdenken willst, sagen wir – für zwei Sekunden?« »Habe ich bereits«, antwortete sie, »und ich würde sehr gern mit dir zu Abend essen. Was soll ich anziehen?« »Ein Kleid wäre ganz hübsch – aber wenn du lieber...« »Ich werde ein Kleid tragen«, sagte sie entschlossen. »Hör zu. Mir kommt da gerade eine umwerfende Idee. Ich bin seit Jahren nicht mehr festlich gewandet zum Essen gegangen. Warum machen wir uns nicht fein, einfach so zum Spaß?« »Klasse.« »Ich seh' dich so gegen sieben«, schloß ich. »Gut«, erwiderte sie fröhlich. Bei der Familiencocktailstunde an diesem Abend beäugte mein 133
Vater mein weißes Dinnerjacket mit dem gewöhnlichen Mißfallen für meinen Aufzug. Er hatte einmal festgestellt, daß ein Mann, der ein weißes Dinnerjacket trug, wie ein Trompeter von Guy Lombardos Band aussehe. Meine Mutter hatte Neuigkeiten. Sie hatte eine handgeschriebene Einladung von Lady Cynthia Horowitz vorliegen. Wir drei waren zu einem zwanglosen Abendessen für Felice und Alan DuPey am Freitag eingeladen. Es sollte eine Abschiedsparty werden, da sie am Samstagmorgen nach Frankreich abreisten. »Sollen wir zusagen, Prescott?« fragte meine Mutter. »Ich meine, ja«, erwiderte mein Vater und wandte sich an mich. »Hast du die DuPeys kennengelernt, Archy?« »Ja. Ich habe heute mit ihnen gesprochen.« »Ein nettes Paar?« »Frisch verheiratet und geradezu widerlich verliebt. Das kann nicht lange dauern.« »Sei dessen nicht so sicher, Archy«, sagte meine Mutter und nippte an ihrem Martini. Ich weiß, daß es Mode ist, sich zu verspäten, doch bereits zu Beginn unserer Beziehung hatte ich gespürt, daß Jennifer eine Frau war, die Pünktlichkeit bei geschäftlichen wie privaten Terminen schätzte. Also klingelte ich eine oder zwei Minuten nach sieben bei ihr, wie versprochen herausgeputzt mit Dinnerjacket, schwarzer Schleife und Kummerbund. Sie kam an die Tür, und ich geriet vor Entzücken fast außer mir. Das perlenbesetzte Kleid fiel ihr bis auf die Knöchel und sah aus, als sei's von van Gogh gemalt, vielleicht als eine Studie für ›Sternennacht‹. Es war eine Orgie schillernder Farben, die das Licht fingen und es verstärkt wiedergaben. Jennifer mußte meine Bewunderung gesehen haben, da sie die Pose eines Modells einnahm und sich drehte. »Schick genug für dich?« fragte sie. 134
»Großartig! Ist wohl besser, ich sage unsere Reservierung bei Burger King ab. Wir nehmen ein besseres Lokal.« »Das will ich hoffen. Für diese Vorstellung habe ich mein Bankkonto überzogen.« Tatsächlich hatte ich einen Tisch im ›Ocean Grand‹ reserviert, einem neuen Hotel. Das ist ein sehr eleganter Laden. Ich werde unser Abendessen nicht weiter beschreiben, weil Sie allein durchs Lesen ein paar Pfunde zunehmen würden. Nach Dessert und Espresso begaben wir uns in die Bar. »O Archy«, sagte Jennifer seufzend, »welch üppiges Abendessen! Ich muß fünf Pfund zugenommen haben.« »Unsinn«, erwiderte ich. »Das war absolut kalorienfrei.« »Lügner«, rief sie. »Aber es ist mir egal. Ab morgen mache ich Diät.« »Die berühmten letzten Worte. Spiel einfach ein paar Sätze Tennis in der heißen Sonne. Das wird das Übergewicht schmelzen lassen. Übrigens, hast du schon mit deinem neuen Schläger gespielt?« »Noch nicht. Du glaubst gar nicht, wieviel ich zu tun hatte. Ich wollte mir gestern eine Stunde frei nehmen, um mit dem Clubtrainer zu üben, aber es kam was dazwischen.« Ich fragte nicht, was. »Tatsache ist«, fuhr sie fort, wobei sie auf ihren Drink schaute, »daß mein Ex anrief. Er komme nach West Palm Beach, sagte er, und wolle mit mir zu Mittag essen.« »Oh, oh«, machte ich. »Und hast du mit ihm gegessen?« Sie nickte. »Ich fand, es gebe keinen Grund, unhöflich zu sein. Schließlich waren wir ja mal verheiratet gewesen. Und mit Tom zu Mittag essen ist ja wohl kein Hinweis darauf, daß ich ihn wiederhaben will, oder?« »Es ist deine Entscheidung«, antwortete ich, aber plötzlich fand ich den Abend nicht mehr ganz so perfekt, wie er zehn Minuten zuvor gewesen war. 135
»Na ja, ich hab' mich also mit ihm getroffen«, fuhr sie fort. »Ich glaube, es war mehr Neugier als was anderes. Ich wollte wissen, ob die Jahre im Gefängnis ihn verändert haben.« »Und?« Sie lachte kurz auf. »Ich glaube, es hat geholfen. Körperlich zumindest. Er ist schlanker und hat eine gesunde Hautfarbe. Er sieht gut aus. Und er ist so optimistisch wie immer. Ich glaube, Verkäufer müssen so sein.« »Und was ist mit seiner Spielleidenschaft?« »Er sagte, das sei endgültig vorbei. Er behauptete, seit seiner Entlassung habe er kein einziges Mal gewettet, und er schwor, daß er nie wieder spielen wird, solange er lebt.« »Glaubst du ihm?« »O Archy, wie kann ich das? Er hat mir dasselbe so oft erzählt, als wir noch verheiratet waren, und er hat sein Versprechen immer wieder gebrochen. Nein, ich glaube ihm nicht.« »Ich glaube, das ist klug.« »Ich hoffe, er meint's diesmal ernst«, fuhr sie nachdenklich fort. »Um seinetwillen. Aber ich möchte nicht darauf wetten.« »Gut«, sagte ich. »Fang nicht zu wetten an.« Sie schenkte mir ein trauriges Lächeln. Wir leerten unsere Drinks und gingen. Ich fuhr langsam nach Hause, während Jennifer über ihre verrückten Kunden und ihre ausgeflippten Einrichtungsvorstellungen plauderte. Ich hatte sie noch nie so redselig erlebt, und plötzlich kam mir der Gedanke, daß sie – wie Gina Stanescu und Angus Wolfson – einsam sein könne. Einsam in dem Sinne, daß sie jemand in ihrem Leben vermißte, mit dem sie Intimitäten teilen konnte, selbst wenn es nur die Banalitäten des Lebens waren: Was hast du zu Mittag gegessen? Bist du in den Regen gekommen? Sind deine Kopfschmerzen weg? Hast du daran gedacht, die Wäsche aus der Reinigung zu holen? Mit anderen Worten, ihr fehlte ein Partner. Aber ich war nicht 136
sicher, ob ich mich für die Position bewerben sollte. Sie lud mich auf einen Schlummertrunk ein, und ich nahm dankbar an, weil ich diese Frau bewunderte. Sie verlangte wirklich nichts von mir, und ich wußte, sie würde das auch nie tun. Sie gab großzügig und wollte umgekehrt, glaube ich, daß ich ihre Unabhängigkeit akzeptierte. An diesem Abend war ihre Liebe so leidenschaftlich wie immer. Zumindest antwortete ihr Körper begeistert auf den meinen. Aber ich hatte das Gefühl, daß sie mit ihren Gedanken ganz woanders war.
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D
en Donnerstag hatte ich sorgfältig verplant. Und dann löste sich meine sorgfältig vorbereitete Planung in Wohlgefallen auf, und Zufall und Glück mischten wieder mit, ohne daß ich diesmal nachgeholfen hätte. Ich wollte nach dem Frühstück zur Garage, als das Telefon klingelte. Ich eilte mit der Vorahnung in die Küche zurück, daß der Tag nicht so ablaufen würde, wie ich ihn geplant hatte. »McNally«, sagte ich. »Könnte ich bitte Mr. Archibald McNally sprechen?« Eine Frauenstimme, tief und kehlig. Ich hatte sie schon einmal gehört, konnte sie aber nicht unterbringen. »Am Apparat«, sagte ich. »Wer spricht da?« »Hier ist Mrs. Agnes Marsden.« »Mrs. Marsden! Wie schön, von Ihnen zu hören! Tut mir leid, 137
daß ich Sie nicht gleich erkannt habe. Wie geht's Ihnen?« »Sehr gut, danke. Mr. McNally, kommen Sie heute zu uns?« »Die Absicht habe ich«, erwiderte ich, »aber erst am späten Nachmittag.« »Könnten Sie nicht gleich kommen?« fragte sie fast flehentlich. »Da ist etwas, was ich Ihnen erzählen muß, und ich will's jetzt gleich los werden. Wenn ich bis heute nachmittag warte, habe ich vielleicht meine Meinung geändert.« »Tun Sie das nicht«, sagte ich. »Ich werde in zehn Minuten bei Ihnen sein. Danke, Mrs. Marsden.« Sie öffnete in dem Augenblick die Tür der Horowitzschen Villa, als ich meine Hand hob, um den mächtigen Messingtürklopfer zu betätigen, den Kopf eines von Weinblättern umrankten Bacchus. Sie führte mich in das gewaltige Wohnzimmer im ersten Stock, und wir nahmen in der Ecke Platz, in der wir schon beim letzten Mal gesessen hatten. Sie saß aufrecht da und verschränkte ihre Finger ineinander. »Junger Mann«, begann sie, »kann ich Ihnen vertrauen?« »Natürlich können Sie das«, erwiderte ich und troff dabei vor Aufrichtigkeit. »Was Sie mir auch erzählen werden, es ist absolut vertraulich. Niemand wird davon erfahren. Das verspreche ich Ihnen.« »Dann hoffe ich, daß Sie Ihr Versprechen auch halten«, sagte sie streng. »Ich habe erwähnt, daß ich seltsame Dinge erlebt habe, die mich beunruhigen.« Ich nickte. »Ich habe mich entschlossen, Ihnen davon zu berichten. Vielleicht bedeuten sie nichts, was ich hoffe. Aber in diesem Haus ist ein Verbrechen begangen worden, Mr. McNally, und etwas von großem Wert ist gestohlen worden. Als Schwarze bin ich natürlich diejenige, die die Polizei verdächtigen wird.« 138
»Nein, nein«, protestierte ich. »Doch, doch«, gab sie ironisch zurück. »Versuchen Sie nicht, mir was über die Welt zu erzählen, junger Mann. Ich habe persönliche Gründe, Ihnen bei Ihren Ermittlungen auf jede erdenkliche Art zu helfen.« »Ich danke Ihnen dafür«, meinte ich, »und begrüße das sehr. Aber glauben Sie mir, Mrs. Marsden, Sie sind keine Verdächtige und waren nie eine.« Sie überhörte das, weil sie mir offensichtlich nicht glaubte. »Zunächst einmal«, sagte sie, »Gina Stanescu und Angus Wolfson sind sich sehr nahegekommen. Näher, als man bei zwei Menschen erwarten sollte, die sich erst so kurze Zeit kennen. Ich sehe sie häufig zusammen: Sie machen Spaziergänge, sitzen auf der Terrasse oder im Spielzimmer. Ein- oder zweimal weinte sie, und er hat sie getröstet.« Ich nickte wieder, da ich sie nicht unterbrechen wollte. »Das könnte völlig harmlos sein«, fuhr sie fort. »Ein Mann und eine Frau, die sich näherkommen – das ist ja nichts Schlimmes. Aber was nicht in Ordnung ist, ist die Art, wie Wolfson Ken Bodin anmacht, den Chauffeur.« Ich war über Wolfsons Kühnheit überrascht, aber keineswegs schockiert. »Anmacht?« fragte ich. Ihr Rücken wurde stocksteif, und sie sah mich streng an. »Was Menschen tun, geht nur sie etwas an. Ich mische mich da nicht ein und erwarte dafür, daß sie sich in mein Privatleben auch nicht einmischen. Aber private Dinge sollten privat bleiben. Jeder kann machen, was er will, aber ich will nichts davon wissen. Verstehen Sie, was ich damit sagen will?« »Ja, Mrs. Marsden, ich denke schon.« »Diesem Mr. Wolfson ist scheinbar völlig egal, wer sieht, was er tut, oder wer hört, was er zu Kenneth sagt. Ich mag das nicht.« »Und wie reagiert Kenneth darauf?« 139
Sie schnitt eine Grimasse. »Der Junge ist ein Dummkopf«, sagte sie. »Er hat nichts zwischen den Ohren. Er schluckt's einfach, wenn Mr. Wolfson ihn anmacht. Er grinst und lacht und läßt seine Muskeln spielen.« »Ich bin im Bild«, erwiderte ich. »Glauben Sie, daß Wolfson Kenneth Geld gibt?« »Das würde mich überhaupt nicht überraschen«, sagte die Haushälterin, stand plötzlich auf und glättete ihr weites Kleid. Ich erhob mich ebenfalls. »Danke für die Information, Mrs. Marsden. Sie könnte nützlich sein. Eine letzte Frage: Finden Sie, daß Lady Cynthia sich in letzter Zeit seltsam verhalten hat?« Sie starrte mich ausdruckslos an. »Seltsam?« fragte sie. »Was meinen Sie damit?« »Oh, allein im Jaguar wegzufahren, ohne jemand zu erzählen, wohin sie fährt.« »Nein«, antwortete sie. »So etwas ist mir nicht aufgefallen.« Und sie huschte eilends aus dem Zimmer, ließ mich mit weiteren zusammenhanglosen Teilen meines Puzzles stehen. Ich fuhr mit dem Miata zum McNally-Gebäude am Royal Palm Way und glaubte törichterweise, nunmehr mein Planungssoll erfüllen zu können. Ich parkte in der Tiefgarage und schlenderte zu dem Glaskasten hinüber, in dem Herb saß, unser Wachmann. Er ist ein dürrer, hüftenloser Knabe, dessen Revolvergurt immer über seine Knie zu rutschen droht. »Herb«, sagte ich, »kann ich bei Ihnen mal telefonieren?« »Aber sicher, Mr. McNally«, erwiderte er. »Ist ja heute eine Affenhitze draußen.« »Stimmt«, sagte ich. »Im Sommer wird's immer brüllheiß und im Winter saukalt. Ich versteh' das einfach nicht.« Ich bestellte mir ein Taxi. Während ich wartete, plauderte ich mit Herb über tropische Fische. Wie ich gehört hatte, war sein Wohnmobil mit Aquarien vollgestopft, und er mochte nichts lieber, als 140
über tropische Fische zu debattieren. Schließlich kam das Taxi, und ich bat den Fahrer, mich zu der Autovermietung in West Palm Beach zu fahren, wo ich den schwarzen Ford Escort holen wollte, den ich zu Verfolgungszwecken angemietet hatte. Ich plante folgendes: Wenn ich von Consuela Garcia einen Anruf bekam, mit dem sie mir mitteilte, daß Lady Horowitz allein mit ihrem Jaguar, Ziel unbekannt, losgefahren sei, wollte ich meinen anonymen Wagen näher als in West Palm Beach zur Hand haben. In der Zufahrt zu unserem Gebäude konnte ich den Wagen schlecht parken, da mich mein Vater andernfalls gefragt hätte, wozu ich ihn brauchte. Und wenn ich ihm erzählt hätte, daß ich ihn gemietet hatte, um den reichsten Klienten von McNally & Sohn zu verfolgen, ohne dabei entdeckt zu werden, hätte er mich glatt angezeigt. Ich stieg vom Taxi in den Escort um und fuhr zum Royal Park Way zurück. Ich parkte neben dem Miata und sagte Herb, daß ich nach oben ginge, um mir einen Parkschein für Angestellte zu besorgen. Alle Wagen in unserer Tiefgarage müssen so ein Ding an der Windschutzscheibe haben. Andernfalls werden sie abgeschleppt. Draußen hatten wir einen kleinen Parkplatz für Besucher und Klienten. Ich bat Mrs. Trelawney um einen Parkschein, und sie wollte wissen, wofür ich den brauche, da ich doch bereits einen für den Miata hätte. Ich erzählte ihr, er sei für mein neues Skateboard. Sie lachte und gab mir den Wisch. Ich ging in mein Büro und fand zwei Anrufnotizen auf meinem Schreibtisch. Die eine war von Al, die andere von Hilda Lantern, der Briefmarkenhändlerin aus Fort Lauderdale. Beide baten mich schnellstmöglich um Rückruf. Ich rief zuerst Hilda Lantern an. Für eine so selbstbewußte Frau klang sie recht aufgeregt, und sie sagte mir, daß sie etwas bezüglich des derzeitigen Marktwertes eines Viererblocks von Inverted-JennyBriefmarken zu berichten habe und es für wichtig halte, mich so141
fort zu informieren. »Das ist schön«, sagte ich. »Worum geht's?« »Nicht am Telefon«, erwiderte sie scharf. »Kommen Sie lieber her.« Ich hatte nicht die Absicht, mich mit dieser resoluten Dame zu streiten, und versicherte ihr, es sei mir eine ganz besondere Freude, nach Fort Lauderdale zu fahren, um zu hören, was sie mir zu erzählen hatte. Ich stopfte Als Nachricht in meine Jackentasche, kehrte in die Garage zurück und klatschte den Parkschein in eine Ecke der Windschutzscheibe des Escort. Dann steuerte ich den Mietwagen südwärts nach Lauderdale und grübelte über den Sinnspruch nach, demzufolge der beste Plan nichts nützt, wenn was dazwischen kommt. Die Fahrt nach Süden trug auch nicht zur Steigerung meiner Stimmung bei. Es war ein heißer Tag, sicher, aber schwül und wolkig. Der Verkehr war abnorm, und als ich schließlich den East Commercial Boulevard erreichte, war ich ebenso streitsüchtig wie Hilda Lantern und überzeugt davon, ihr Gleiches mit Gleichem vergelten zu können. Hingegen fand ich die Dame in lieblicher Stimmung, was natürlich auf die Rechnung zurückzuführen sein mag, die sie mir, ausgestellt auf McNally & Sohn für geleistete Dienste, überreichte. Das Honorar, das sie forderte, war für Zeitaufwand und Telefonate, die sie mit Briefmarkenhändlern geführt hatte, um den gegenwärtigen Marktpreis für einen Viererblock von Inverted-Jenny-Briefmarken zu ermitteln. »Eine solche Rarität hat keiner von denen je gehandelt«, berichtete sie. »Ich konnte keine Preise erfahren.« Das war verständlich. Einen normalen Briefmarkenhändler danach zu fragen, was er für eine Inverted Jenny zahlen wolle, kam ungefähr der Frage an einen normalen Juwelier gleich, was er für 142
einen Stern von Indien zu zahlen gedenke. »Dann aber«, fuhr sie fort, »bekam ich einen Rückruf von einem Händler draußen an der Powerline Road bei Palm Aire. Er sagte, daß heute morgen, sofort nachdem er geöffnet hatte, eine Frau mit einem Viererblock Jennies aufgetaucht sei und ihn gefragt habe, ob er sie kaufen wolle.« Ich suchte meine Freude zu verbergen. »Erwähnte er, wieviel sie verlangte?« »Eine halbe Million. Er sah sich die Briefmarken an und sagte ihr, sie seien für ihn eine Nummer zu groß. Er könne das Geld einfach nicht aufbringen.« »Wie wurden die Briefmarken präsentiert? Im Rahmen? In einem Umschlag? Oder wie?« »Zwischen Plastikseiten in einem kleinen roten Buch«, erwiderte Hilda Lantern. »Es hatte ungefähr die Größe eines Tagebuchs.« »Aha«, sagte ich. »Und hat der Händler die Möchtegern-Verkäuferin beschrieben?« Hilda Lantern gab ein verächtliches Lachen von sich. »Es war nicht der übliche Typ von Briefmarkensammlerin. Eine junge blonde Frau, die Minishorts und ein trägerloses Top trug. Ich nehme an, sie war das, was ihr Männer als gutbestückt bezeichnen würdet.« »Das könnte ich mir vorstellen«, stimmte ich zu. »Hat der Händler zufällig gesehen, welchen Wagen sie fuhr?« »Das hat er nicht erwähnt«, sagte Hilda Lantern und sah mich neugierig an. »Warum fragen Sie?« »War nur so ein Gedanke«, meinte ich. Natürlich hatte ich gehofft, es sei ein lavendelblauer VW-Käfer gewesen. »Sie ist also mit ihren Briefmarken gegangen. Und das war's?« »Nicht ganz«, sagte sie fast triumphierend. »Der Block der vier Inverted Jennies, den sie zu verkaufen versuchte, war gefälscht.« Ich biß die Zähne zusammen, um zu verhindern, daß mir der 143
Kiefer herunterfiel. »Gefälscht?« Sie nickte. »Eine richtige Fälschung?« »Absolut. Daran besteht kein Zweifel.« »Wie konnte der Händler so sicher sein, da er sie nur kurz gesehen hat?« »Kennen Sie die Geschichte der Inverted Jennies?« fragte sie. »Einen kleinen Teil«, erwiderte ich. »Der Originalbogen von hundert Marken wurde 1918 auf einem Postamt in Washington, D.C. vom Angestellten eines Maklers gekauft. Er zahlte vierundzwanzig Dollar dafür. Etwa eine Woche später verkaufte er den Bogen für fünfzehntausend an einen Briefmarkenhändler.« »Das stimmt«, sagte Hilda Lantern. »Und eine Woche darauf verkaufte der Händler die Marken für zwanzigtausend an einen Sammler. Doch der Sammler behielt nur zwanzig Briefmarken und gab dem Händler die Erlaubnis, den Rest des Bogens in Einzelmarken und Blöcke zu zerlegen und sie zu verkaufen. Als der Händler das tat, kennzeichnete er die Rückseite jeder Briefmarke mit einer feinen Bleistiftmarkierung, dem Namen des Käufers. Praktisch alle noch vorhandenen Inverted Jennies tragen diese Bleistiftkennung auf der Rückseite. Ist das nicht der Fall, ist ziemlich wahrscheinlich, daß es sich um eine Fälschung handelt. In diesem Fall, erzählte mir der Händler aus Palm Aire, der mich anrief, seien keine Markierungen auf der Rückseite der Marken gewesen. Und als er die Vorderseite unter einem Vergrößerungsglas betrachtete, schien der Druck ihm ein wenig unsauber, und der auf dem Kopf stehende Doppeldecker in der Mitte stand nicht passergenau. Zudem wiesen die Ränder jeder Briefmarke einen Zahn weniger auf, als Briefmarken üblicherweise haben. Diese Briefmarken waren gefälscht.« Ich holte tief Luft. »Hat der Händler das der Frau erzählt, die die Marken zu verkaufen versuchte?« »Nein. Er wollte nicht in die Sache hineingezogen werden. Er hat 144
ihr nur gesagt, er könne sich das nicht leisten, und komplimentierte sie so schnell wie möglich aus seinem Laden.« »Das war möglicherweise das Klügste, was er tun konnte«, sagte ich. »Ich glaube zwar nicht, daß wir den verlangten Preis für die gefälschten Briefmarken als Maßstab für den Viererblock unseres verblichenen Klienten nehmen können, aber ich danke Ihnen für Ihre Information. Ich möchte Sie bitten, Ihre Nachforschungen fortzusetzen.« »Wenn Sie das wollen«, meinte sie. »Wann kann ich mit dem Geld rechnen?« »Sie haben binnen einer Woche einen Scheck«, versprach ich. »Wenn Sie's vorziehen, kann ich auch sofort per Kreditkarte bezahlen.« »Ich warte auf den Scheck«, erwiderte sie, und wir verabschiedeten uns mit einem festen Händedruck. Ich fuhr so schnell nach Delray Beach zurück, wie es der Verkehr und das Gesetz erlaubten. In ganz Südflorida konnte es nur eine blonde junge Frau geben, die Minishorts und ein trägerloses Top trug, ›gut bestückt‹ war und zudem versuchte, einen Viererblock Inverted-Jenny-Briefmarken zu verhökern. Und dazu befanden sich diese zwischen Plastikseiten in einem kleinen roten Buch. Juhu! Ich betrat Hammerhead's Bar & Grill und sah mich nach Sylvia um. Sie war nicht anwesend, was mich freute. Ich trat an die Bar und bestellte bei einem ein T-Shirt tragenden Barkeeper, der in der vollen Blüte seiner Flegeljahre zu stecken schien, ein Bier. »Ist Sylvia da?« fragte ich beiläufig. »Nein«, antwortete er, »die hat heute frei.« »Oh«, sagte ich, »das wußte ich nicht. Vielleicht sollte ich bei ihr zu Hause vorbeischauen.« »Wird nicht viel nützen«, meinte der andere mit einem dreckigen Lachen. »Ihr Freund hat heute auch frei. Sie wollten an die Keys fahren.« 145
»Vielen Dank«, sagte ich und meinte das ehrlich. Ich trank mein Bier aus, legte ein Trinkgeld auf den Tisch und fuhr zu dem Laden mit den hurrikansicheren Rolläden, in dem Thomas Bingham beschäftigt war. Wenn auch er frei hatte, war mein Glück vollkommen. Mein Motiv war verachtenswert, das gebe ich zu. Ich wollte Bingham unbedingt in den Diebstahl von Lady Cynthias Briefmarken und den damit zusammenhängenden Mord an Bela Rubik verstricken. Meine Entschuldigung war einfach die, daß ich in Jennifer Towley verknallt war. Gegenüber anderen Frauen hatte ich schon ähnliche Gefühle gehegt – ähnlich, aber weit weniger intensiv. Nur war das seinerzeit vornehmlich eine Frage des Testosterons gewesen. Diesmal war es eine Herzensangelegenheit. Ich wollte diese kühle, elegante Frau ganz für mich allein haben, und der Ex-Mann war eine Bedrohung für mein Glück. Thomas Bingham war im Laden, und als ich nach ihm fragte, kam er lächelnd nach vorn. »Sir«, fragte er, »was kann ich für Sie tun?« Verschwinden, wollte ich sagen, sagte es aber nicht. »Mr. Bingham«, sagte ich statt dessen, »ich bin von auswärts, wohne aber bei einem Freund in Boca. Er hat eine Wohnung in einem Hochhaus und möchte hurrikansichere Rolläden haben. Er bat mich, mal herumzuhören, wer solche Arbeiten ausführt.« »Und wie sind Sie auf mich gekommen?« fragte Bingham noch immer lächelnd. »Ich habe im ›Hammerhead's‹ einen Drink genommen«, sagte ich, »und Sylvia schlug mir vor, mit Ihnen Kontakt aufzunehmen.« »Nett von Sylvia«, bemerkte er. »Ist eine tolle Frau, nicht wahr?« »Aber sicher.« »Ich bin oft mit ihr und ihrem Freund zusammen«, fuhr er auf die offenste und ehrlichste Weise fort, die man sich überhaupt nur vorstellen kann. »Wir haben viel Spaß zusammen. Soll ich in die 146
Wohnung Ihres Freundes kommen und einen Kostenvoranschlag machen? Kostet Sie nichts.« »Das Problem ist, daß er tagsüber arbeitet«, erklärte ich, »und ich bin jetzt gerade auf dem Weg nach Norden. Könnten Sie vielleicht abends kommen?« »Natürlich«, sagte er prompt. »Jederzeit. Und das schließt Samstag und Sonntag ein. Was ihm am angenehmsten ist.« Connie Garcia hatte recht gehabt. Er war ein sehr freundlicher Mann, nicht schrecklich gut aussehend, aber mehr als nur nett. Ich konnte verstehen, warum er ein erstklassiger Verkäufer war. Er vermittelte den Eindruck, daß es sein wichtigstes Anliegen war, einem jeden Wunsch zu erfüllen. »Mein Freund wird Sie anrufen«, sagte ich. »Dann können Sie ja mit ihm einen Termin vereinbaren.« »Sehr gerne«, erwiderte er, und ich fragte mich, ob er mit diesem blendenden Lächeln auch schlief. »Danke, Mr. Bingham«, sagte ich und machte Anstalten zu gehen. Dann drehte ich mich wieder um. »Ach, übrigens«, sagte ich, »kann ich hier irgendwo Lotterielose kaufen?« Das Lächeln wurde noch breiter. »Sie spielen in der Lotterie?« Ich nickte. »Seit ich in Florida bin, stehe ich darauf.« »Ich auch«, sagte er fröhlich. »Ich bin ganz süchtig danach. Dadurch bleib' ich arm. An der Ecke ist ein Schnapsladen. Da bekommen Sie so viele Lose, wie Sie haben wollen. Wie's in der Werbung heißt: ›Man kann nie wissen.‹« »Das ist richtig«, stimmte ich zu. »Mit einem Volltreffer fürs ganze Leben ausgesorgt.« »Jetzt sprechen Sie meine Sprache«, sagte er, und als ich ihn verließ, strahlte er noch immer. Seine Komplizenschaft bei dem Horowitz-Raub mochte ich noch immer nicht ausschließen. Wenn er durchs Spielen in der Lotterie arm blieb, konnte er ebenso tief drinstecken wie Kenneth Bodin 147
und Sylvia, und die beiden Männer hatten vielleicht die Frau dazu verdonnert, die Beute zu verscherbeln. Aber eines war mir sonnenklar: Thomas Bingham war von seinem Spieltrieb durch die Jahre, die er im Knast verbracht hatte, nicht geheilt worden. Über diese Dinge dachte ich auf der Heimfahrt nach. Ich fand, daß folgendes das größte aller Rätsel war: Was fand Jennifer Towley, eine Frau mit Geschmack und Urteilsvermögen, an diesem Knaben? Ich konnte nichts Außergewöhnliches an ihm entdecken. Er war ein Verlierer, ein Verkäufer von Installationsmaterial und hurrikansicheren Rolläden, ein Ex-Häftling, der süchtig war. Aber Jennifer hatte ihn geheiratet, ihm Geburtstagsgrüße in den Bau geschickt, nach seiner Entlassung mit ihm telefoniert und war mit ihm essen gegangen. Sie erniedrigte sich, und ich konnte das nicht begreifen. Ich fuhr direkt zum Pelican Club. Es war gegen halb vier, und der Laden war bis auf Simon Pettibone, der hinter der Bar saß, leer. Er las das ›Wall Street Journal‹. Ich winkte ihm zu, ging zum Fernsprecher und rief Al an. »Wundervoll, von dir zu hören«, sagte er. »Hattest du einen schönen Tag? Vielleicht ein bißchen Tennis gespielt? Oder eine Partie Polo?« »Ach, halt den Mund. Wir sollten uns lieber treffen und miteinander reden.« »Ehrlich? Eine brillante Idee. Wo steckst du jetzt?« »In der Bar des Pelican Club.« »Ich hätt's wissen müssen. Kannst du die halbe Stunde nüchtern bleiben, die ich brauche, um hinzukommen?« »Ich trinke nie übermäßig«, sagte ich förmlich. »Jetzt machst du Witze. Sollte ich je eine Lebertransplantation brauchen, bekomme ich bei meinem Glück garantiert deine. Warte auf mich.« Ich kehrte an die Bar zurück und schwang mich auf einen Ho148
cker. »Mr. Pettibone«, sagte ich, »Sie sind ein paar Jahre älter als ich und verfügen über unendlich mehr Weisheit. Was tun Sie, wenn das Leben unerträglich zu werden droht und die Probleme derart zunehmen, daß Sie damit nicht mehr fertig werden?« Er überlegte einen Augenblick und schaute mich über die Ränder seiner eckigen Brille an. »Normalerweise trete ich meiner Katze in den Arsch, Mr. McNally«, meinte er dann. »Ein guter Vorschlag«, erwiderte ich. »Ich muß mir wohl eine Katze zulegen. Aber bis dahin werde ich mir einen gönnen, und zwar in Form eines Wodka auf Eis, mit einem Schuß Wasser und einem Limonenscheibchen. Und falls ich versuche, einen nachzubestellen, seien Sie so nett und schmeißen mich raus. Ein Gesetzeshüter hat gerade meine Leber verunglimpft.« Ich setzte mich mit meinem Drink in eine Ecke und widmete mich ihm, bis Al hereinkam. Er sah sich um, entdeckte mich und nahm mir gegenüber Platz. »Was nimmst du?« fragte ich. »Den Schierlingsbecher«, sagte er. »Ich weiß, daß ich dir nicht alles zum Vorwurf machen kann, aber jedesmal, wenn du mit irgendwas kommst, denke ich an vorzeitige Pensionierung. Weißt du, wie ich den gestrigen Tag verbracht habe?« »Ich hab' nicht die leiseste Ahnung.« »Zunächst mal hab' ich überprüft, wo Doris und Harry Smythe zu dem Zeitpunkt waren, als Rubik kaltgemacht wurde. Sie behaupteten, sie hätten Meechams Jacht verlassen und seien zu ›Testa's‹ gefahren. Kalter Kaffee! Bei ›Testa's‹ erinnerte sich niemand an sie. Also faßte ich bei den Smythes nach, und dann gaben sie schließlich zu, daß sie im ›Pizza Hut‹ zu Mittag gegessen hätten. Ich habe das dann überprüft, und das Personal im ›Pizza Hut‹ erinnerte sich an sie. Und weißt du, warum?« »Weil sie einen Nickel Trinkgeld gegeben haben.« »Das auch. Vor allem aber erinnerte man sich an die Typen, weil 149
sie zwei Plastikbecher verlangten und dann eine Flasche Champagner entkorkten, die sie mitgebracht hatten. Archy, kannst du dir so was an Verrücktheit vorstellen?« »Aber sicher«, sagte ich lachend. »Das Sprudelwasser haben sie von Meechams Jacht mitgehen lassen. Du meinst also, sie sind sauber?« »Sieht so aus.« »Al, hast du schon Gina Stanescu und Wolfson überprüft?« »Noch nicht. Glaubst du Wolfsons Geschichte?« »Nicht ganz«, sagte ich. »Er wurde ziemlich sauer, als ich anfing, Fragen zu stellen. Dafür gab's absolut keinen Grund, wenn er wirklich völlig unschuldig wäre. Aber vielleicht war er einfach quengelig. Ich glaube, der Mann ist krank.« »Krank?« »Ja, schwerkrank. Er scheint Schmerzen zu haben. Al, zieh dein Notizbuch, ich hab' noch mehr für dich.« Während ich die Bestellung für ihn aufgegeben hatte und behutsam an meinem Wodka nippte, hatte ich beschlossen, wieviel ich ihm erzählen würde. Alles über Hilda Lantern, Kenneth Bodin und Sylvia, aber nichts über Thomas Bingham. Das hätte Al nur zu hören brauchen: ein Ex-Knasti, der möglicherweise an einem Verbrechen beteiligt war, das er aufzuklären hatte. Er wäre wie ein Schießhund auf Bingham losgegangen. Und ich wollte keinesfalls, daß Jennifer Towley in die Sache hineingezogen wurde. Nachdem ich ihm berichtet hatte, schaute Al mich nachdenklich an. »Wieso bist du zu dieser Briefmarkenhändlerin in Fort Lauderdale gegangen?« Ich überlegte angestrengt, bevor ich antwortete. Ich brauchte die Hilfe Als wirklich und wollte ihn weder verärgern noch auf eine falsche Spur ansetzen. Aber es gab Dinge, die ich bei diesem Stand der Ermittlungen nicht preisgeben wollte. »Laß dir ruhig Zeit«, sagte Al, wobei er das Zellophan von einer 150
Zigarre pellte. »Denke nach. Ich kann warten.« »Sieh mal«, sagte ich und beugte mich vor, »als ich Rubik anheuerte, hab' ich ihm ein Märchen aufgetischt. Ich hab' ihm erzählt, meine Firma verwalte einen Nachlaß, zu dem Inverted-Jenny-Briefmarken gehören, und daß wir den Marktwert ermitteln wollten. Ich habe Rubik gebeten, nachzuforschen und festzustellen, ob er den derzeitigen Kaufpreis herausfinden könne. Ich habe gehofft, er werde erfahren, daß ein Block Inverted Jennies vor kurzem auf den Markt gekommen sei. Kannst du mir folgen?« »Ich bin dir meilenweit voraus«, erwiderte Al, der seine Zigarre ansteckte. »Du hast geglaubt, der Dieb werde versuchen, seine Beute schnellstmöglich zu verhökern. Richtig?« »Richtig. Und offensichtlich hatte Rubik etwas Wichtiges in Erfahrung gebracht, wurde aber ermordet, bevor er mir das mitteilen konnte. Also kam ich auf die Idee, daß, wenn Rubik an diese Informationen herankam, auch ein anderer Briefmarkenhändler dazu Zugang hatte. Ich habe Hilda Lanterns Namen zufällig den gelben Seiten entnommen, und sie kam mit einer Information. Was hältst du von der Auskunft, daß die Briefmarken eine Fälschung sind?« »Ich liebe das«, sagte Al. »Meinst du, das sei die wichtige Information, die Bela Rubik hatte und dir mitteilen wollte, bevor er umgelegt wurde?« »Möglicherweise.« Al blies eine blaue Rauchwolke über meinen Schädel. »Dieser Briefmarkenhändler aus Palm Aire, der die Marken untersucht hat – glaubst du, er hat Bodins Freundin gesagt, daß es Fälschungen sind?« »Hilda Lantern sagte nein.« »Das bedeutet, die Ganoven glauben noch immer, Beute im Wert von einer halben Million zu besitzen. Ich halte es für richtig, Kontakt mit jedem Briefmarkenhändler von Miami bis Fort Pierce aufzunehmen, und werde sie bitten, jeden hinzuhalten, der versucht, 151
einen Block Inverted Jennies zu verkaufen. Sie könnten sagen, daß sie einen oder zwei Tage brauchen, um die nötige Kohle in bar aufzutreiben. Dann kann der Briefmarkenhändler, zu dem die Ganoven Kontakt aufgenommen haben, mich anrufen, und ich werde jemand im Laden postieren und ihn von außen bewachen lassen, wenn die Gauner wiederkommen. Wie findest du das?« »Müßte sich machen lassen«, stimmte ich zu. »Ist 'ne Riesenaufgabe, aber durchführbar. Ich nehme an, daß du Bodin und Sylvia schnappen wirst – das ist meine Meinung. Aber dem Staatsanwalt kannst du damit nicht kommen. Anklage ist nur möglich, wenn du die Diebe bei dem Versuch erwischst zu verkaufen. Die Tatsache, daß die Briefmarken Fälschungen sind, ändert überhaupt nichts. Sie sind gestohlenes Eigentum.« »Ja«, seufzte Al, »und die ganze Arbeit für ein paar Fetzen wertlosen Papiers. Schön, ich begebe mich in den Palast zurück und werfe die Maschine an.« »Nur noch zwei Kleinigkeiten«, sagte ich. »Ich hatte eine Auseinandersetzung mit Lady Cynthia. Sie will mir einfach nicht sagen, wo sie war, als Bela Rubik ermordet wurde. Und sie weigert sich auch, dich einen Blick in ihr Testament werfen zu lassen. Aber mein Vater sagte, ich dürfe dir mitteilen, daß in diesem Dokument nichts steht, was Einfluß auf deine Nachforschungen haben könnte.« »Woher weiß er das denn?« fragte Al bitter. »Er ist kein Bulle.« »Stimmt«, antwortete ich, »aber er ist auch kein Dummkopf. Und außerdem ist er ein rechtschaffener Mann, der höchste Achtung vor dem Gesetz hat. Glaub mir, Al, wenn irgend etwas in dem Testament stünde, was helfen würde, einen Diebstahl und einen Mord aufzuklären, würde er es sagen. Selbst wenn das bedeutete, daß er das Vertrauensverhältnis Klient – Anwalt brechen müßte. Die sittlichen Ansichten meines Vaters sind schwindelerregend. Manchmal glaube ich, er übt dafür, Gottes Job zu übernehmen, für den Fall, daß Er sich zur Ruhe setzt.« 152
Al lachte, winkte mir kurz zu und trabte hinaus. Ich ging an die Bar zurück und schob Mr. Pettibone mein leeres Glas zu. »Noch einen, bitte.« »Sie haben mir gesagt, ich soll Sie rausschmeißen«, erinnerte er mich. »Ich hab' gelogen.« Doch der zweite reichte. Die Polizei von Florida verfährt ziemlich hart bei auch nur leicht berauschten Fahrern, und ich hatte nicht die Absicht, wegen Trunkenheit am Steuer vor den Kadi gebracht zu werden. Ich fuhr mit dem Escort zum McNally-Gebäude, parkte ihn an einer ruhigen Stelle, stieg in den Miata um und setzte meine Heimfahrt fort. Mir blieb Zeit für ein verkürztes Schwimmen im Meer, und ich kam gut aufgelegt zur Cocktailstunde der Familie. An diesem Abend aß ich mit meinen Eltern und machte einen ziemlich dämlichen Witz, daß ich mich nämlich genau wie unsere Vorspeise fühlte, gedünstete Krabben. Mutter und Vater lächelten höflich. Ich zog mich in meine Suite zurück und kritzelte wild in meinem Tagebuch herum, bis ich alle Ereignisse festgehalten hatte, einschließlich meiner letzten Unterhaltung mit Al. Dann rief ich Jennifer Towley an und war froh, sie zu erwischen. »Du fehlst mir«, sagte ich zu ihr. »Du fehlst mir auch«, erwiderte sie. Göttliche Frau! »Gut«, fuhr ich fort. »Wie wär's, wenn wir dann morgen zusammen zu Mittag essen?« »Ach, Archy, das würde ich nur zu gerne«, sagte sie, »aber es geht einfach nicht. Ich muß meine Buchführung nachhalten: Rechnungen, Mahnungen, mein Scheckbuch und diesen ganzen Kram. Ich muß einfach den Tag dafür opfern.« Mißtrauen kam in mir auf, und ich fragte mich, ob sie sich vielleicht mit ihrem Ex-Mann zum Essen verabredet hatte. »Bei deiner Buchhalterei mußt du auch mal Pause machen«, sagte ich. »Ich 153
könnte doch irgendwo was Eßbares aufgabeln und gegen Mittag bei dir vorbeischauen. Dann könnten wir zusammen essen, und anschließend verschwinde ich und überlasse dich deinem Papierkram.« »Eine wundervolle Idee«, erwiderte sie. »Absolut genial.« »Hab' ich mir gedacht«, sagte ich beträchtlich erleichterten Herzens. »Dann sehen wir uns morgen mittag. Schlaf schön, Liebes.« »Du auch«, sagte sie ihrerseits und fügte leise hinzu: »Liebling.« Erfreut über ihre Antwort legte ich auf und schämte mich meiner eifersüchtigen Regung. Ich muß, dachte ich, lernen, dieser Frau zu vertrauen. Es war zwar noch nicht die ganz große Leidenschaft, aber meine Liebe brauchte nur, ähnlich wie die Begonien meiner Mutter, zärtlich sorgende Liebe, um zu erblühen. Ich durchblätterte die Seiten meines Tagebuchs und konzentrierte meine Gedanken entschlossen auf den Diebstahl der Inverted Jennies. Vielleicht, so gestand ich mir ein, hatte Al recht, und ich fuhr doch auf komplizierte Dinge ab. Denn ich stellte fest, daß ich nicht glauben konnte, daß es sich bei diesem ganzen Zauber nur um den Fall eines dämlichen, rachsüchtigen Chauffeurs handelte, der seine Arbeitgeberin bestohlen hatte. Ich wollte das vielleicht deshalb nicht glauben, weil das meine Ermittlungen auf Banales reduzierte und meine eigene Rolle auf die eines Bürovorstehers, der einen Angestellten beim Klauen von Büroklammern erwischt.
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A
m Freitag frühstückte ich mit meinen Eltern. Dann fuhr mein Vater in seinem Lexus ins Büro, und Mutter wandelte ins Gewächshaus, um ihren Begonien einen »Guten Morgen!« zu entbieten. Und ich verzog mich in die Küche, um ein sehr offenes Gespräch mit unserer Köchin und Haushälterin zu führen. »Ursi, meine Liebste«, sagte ich, »ich bin heute zu einem Picknick verabredet – einem Picknick für zwei. Was schlägst du vor?« Sie wertete meine Frage erwartungsgemäß als echte Herausforderung und inspizierte ihren Kühlschrank und die Fächer ihrer Regale. »Hühnchen auf Limone«, entschied sie. »Gebacken, dann gekühlt. Deutscher Kartoffelsalat. Dazu unbedingt ein Arugula und Radicchio. Und als Dessert vielleicht etwas von den Schokoladenmakronen, die Ihre Mutter gekauft hat.« »Klingt wahnsinnig gut«, erwiderte ich. »Ich hab' jetzt schon Hunger. Wo steht unser Picknickkorb?« »Im Gerätekeller«, sagte sie, »und vergessen Sie nicht, eine Flasche Wein einzupacken.« »Höchst unwahrscheinlich«, gab ich zurück. Ich brachte ihr den Picknickkorb, der sich seit dem Jahr Eins im Familienbesitz befindet und genug Geschirr für eine flotte Orgie zu acht enthält. Dazu wählte ich eine Flasche weißen Zinfandel aus, die ich aus dem untersten Fach des Kühlschranks holte. Unser Tafelwein wurde im Gerätekeller eingelagert. Die edleren Tropfen hingegen steckten in einem massiven, temperaturgeregelten Schrank im Arbeitszimmer meines Vaters, geschützt durch ein Kombinationsvorhängeschloß, wie ich wohl wußte. Ich sprang in den Miata und richtete seinen Bug Richtung Villa 155
Horowitz. Es gab da eine Frage, die ich Lady Cynthia unbedingt stellen mußte. Sie quälte mich seit dem Gespräch mit Al. Ich schlug den messingnen Bacchus gegen die Eingangstür, die schließlich von dem Hausmädchen Clara Bodkin geöffnet wurde. Sie hatte noch Schlaf in den Augen und sah deshalb noch attraktiver aus. »Guten Morgen, Clara«, sagte ich. »Hallo, Mr. McNally«, erwiderte sie und gähnte. »Die Party findet erst heute abend statt.« »Ich weiß«, meinte ich lächelnd, »und wir werden ganz bestimmt kommen. Ist Lady Horowitz schon auf?« »Sie ist in der Sauna.« »Oh«, sagte ich enttäuscht. »Dann ist es wohl besser, wenn ich ein anderes Mal komme.« »Sie können über die Wechselsprechanlage mit ihr reden«, schlug Clara vor. »Im Nordflügel, an der Terrasse.« »Danke«, antwortete ich. »Ich werd's finden.« »Ich mag Ihren Duft«, sagte sie plötzlich. »Das bin nicht ich, das ist Royal Copenhagen. Aber ich weiß den Gedanken zu schätzen.« Lady Cynthia besaß zwei Saunen, eine trockene und eine Feuchtsauna, und das rote Licht brannte über der Tür der letzteren. Die Tür selbst bestand aus dicken Mammutbaumbrettern, in die in Augenhöhe ein mit dickem Glas verschlossenes Guckloch eingelassen war. Die Wechselsprechanlage war im Korridor an der Wand befestigt, ein rundes Metallding. Ich versuchte, durch das Glas zu spähen, doch es war so mit Dampf beschlagen, daß ich nichts sehen konnte. Ich sprach also in die Wechselsprechanlage. »Lady Horowitz«, rief ich, »hier ist Archy McNally. Kann ich Sie einen Augenblick sprechen?« Eine kurze Stille, und dann antwortete sie, und ihre Stimme klang dünn und blechern. »Sie brauchen nicht zu schreien«, sagte sie. 156
»Ich kann Sie sehr gut verstehen. Wie geht's Ihnen, Junge?« »Sehr gut, danke«, erwiderte ich und sah, wie sie mit ihren Fingern den Dampf an der Innenseite des Glases wegwischte und zu mir herausschaute. »Wollen Sie mir nicht Gesellschaft leisten?« fragte sie. »Im Augenblick nicht«, meinte ich lachend. »Nur eine kurze Frage, und dann bin ich wieder weg.« Sie verschwand von dem Fenster. Ich starrte bedenkenlos weiter hinein, sicher, daß sie meinen prüfenden Blick bemerkte; aber ihr war das egal. Sie bewegte sich langsam durch wirbelnde Dampfwolken, zog ihre Knie hoch und schwenkte ihre ausgestreckten Arme. »Was wollen Sie wissen?« fragte sie. »Haben Sie sich die Rückseite dieser Inverted-Jenny-Briefmarken angesehen?« Ihr Gesicht kam wieder dicht an das Glas, und sie starrte mich an. »Die Rückseite? Wozu? Sind Sie verrückt geworden, Junge?« »War nur so ein Gedanke«, erwiderte ich hastig. Einen Augenblick später war das Glas wieder beschlagen, und sie verschwand aus meinem Blickfeld. Ich fuhr in die Stadt und fragte mich, ob Lady Cynthia mir die Wahrheit gesagt hatte. Menschen lügen, ich auch. Ich war von meinen Eltern beauftragt worden, ein preiswertes Abschiedsgeschenk für Felice und Alan DuPey zu erwerben, das ihnen an diesem Abend auf der Party überreicht werden sollte. Also spazierte ich über die Worth Avenue, betrachtete und verwarf all den glitzernden Flitter, den diese Straße der unmöglichen Träume zu bieten hatte. Schließlich fand ich in einem winzigen Laden an der Hibiscus Avenue etwas für die DuPeys, das sie meiner Meinung nach in Ehren halten würden: zwei wundervoll polierte Muscheln als Erinnerung an ihren Aufenthalt in Südflorida. Die eine war eine gestreifte 157
Tulpenmuschel, die andere eine geflammte Bohrmuschel. In Größe und Form hatten diese Muscheln eine eindeutig physische Symbolik, und ich fand, sie seien ein passendes Geschenk für geile Jungverheiratete. Ich gebe zu, daß mein Humor manchmal an Verdorbenheit grenzt. Ich kehrte nach Hause zurück und half Ursi beim Packen des Picknickkorbes, wozu auch ein leinenes Tischtuch und Servietten gehörten. Ich stellte die gekühlte Flasche Zinfandel hinein, vergaß auch einen Korkenzieher nicht und fuhr zu Jennifer Towley auf der anderen Seite des Sees. Ihre Reaktion auf den Picknickkorb war genauso, wie ich's erhofft hatte. »Du Schuft!« rief sie. »Du hast gesagt, du würdest was aus einem Schnellimbiß mitbringen.« »So ist es auch«, erwiderte ich. »Aus der makellosen Küche der McNallys.« »Wie wundervoll das alles aussieht«, meinte sie, während sie die Wegzehrung inspizierte, die sauber in geschlossenen Behältern verpackt war. »Soll ich den Tisch im Eßzimmer decken?« »Wag das bloß nicht. Das ist ein Innen-Picknick. Wir werden auf dem Boden essen.« Und das taten wir auch und breiteten das Tischtuch über den verschlissenen Läufer in ihrem Arbeitszimmer. Wir saßen im Schneidersitz, umgeben von Regalen, Stoff- und Tapetenmusterbüchern, einem mit Papier überfrachteten Schreibtisch, ihrem Computer und all dem Kram eines unaufgeräumten Raumes, der üblicherweise nur zum Arbeiten da ist. Wir aßen voller Hingabe, priesen den Geschmack des Hühnchens auf Limone, den Hauch Oregano im Salat und das Tüpfelchen Knoblauch im deutschen Kartoffelsalat. Wir hatten uns zu den Makronen vorgearbeitet und zu dem restlichen Wein, bevor wir gegen das Mobiliar sanken und träge über dies und das sprachen. 158
Jennifer sah an diesem Nachmittag besonders attraktiv aus; sie hatte das Haar hochgesteckt und mit einem malvenfarbenen Band gebunden. Ihr Gesicht zeigte keine Spur von Make-up, und sie trug ein Sweatshirt, dessen Vorderseite unbedruckt war, und gefältelte Bermuda-Shorts. Ihre Füße waren bloß, und ich erblickte wieder einmal die Zehen, die Clarence T. Frobisher vor Verlangen wahnsinnig gemacht hatten. »Hast du mal wieder was von deinem Ex gehört?« fragte ich beiläufig. »Ein paarmal«, erwiderte sie ebenso beiläufig. »Es scheint ihm sehr gut zu gehen. Der Mann, für den er arbeitet, will eine Filiale in West Palm Beach eröffnen und hat Tom gefragt, ob er die Leitung übernehmen will.« »Klingt, als sei das eine tolle Gelegenheit. Hat er etwas von seiner Spielleidenschaft gesagt?« »Er versichert mir dauernd, daß er geheilt ist.« »Aber derartige Versicherungen hast du doch auch früher gehört, nicht wahr?« »Ja«, sagte sie. »Könnte ich bitte noch eine Makrone haben?« Ich beobachtete sie, als sie in das Gebäckstück biß, und trug den inzwischen vertrauten inneren Kampf mit mir aus: Soll ich's ihr erzählen oder nicht? Wenn sie mir nichts bedeutet hätte, hätte ich ihr sofort erzählt, daß Thomas Bingham wieder voll auf dem alten Dampfer war. Aber sie bedeutete mir etwas, sehr viel sogar, und deshalb wäre meine Enthüllung von Egoismus diktiert gewesen. »Er möchte mit mir zu Abend essen«, fuhr Jennifer fort, ohne mich anzusehen. »Und er will mich besuchen. Hier.« »Ach? Und wie fühlst du dich dabei?« »Ich weiß es nicht«, meinte sie fast ärgerlich und hob den Blick. »Aber ich will nicht mehr darüber reden.« »In Ordnung«, erwiderte ich gelassen. »Dann lassen wir das.« »Reden wir über dich«, sagte sie. »Was willst du aus deinem Le159
ben machen, Archy?« »Ich kann weder schreiben noch malen oder bildhauern und komponieren oder Pikkoloflöte spielen. Deshalb werde ich mein Leben zu einem Kunstwerk machen.« Sie lachte. »Du veralberst mich.« Ich hob eine Hand. »Nein, großes Pfadfinderehrenwort. Und jetzt laß uns über dich reden. Was willst du aus deinem Leben machen?« »Ich weiß nicht. Ich bin hin- und hergerissen. Darf ich den Wein austrinken?« »Natürlich. Aber es ist nur noch ein Tropfen in der Flasche. Ich hätte zwei Flaschen mitbringen sollen.« »O nein. Das hätte mich völlig umgehauen. Und ich muß mich wieder an meine Buchhaltung machen. Ich brauche einen klaren Kopf.« Ich nickte. »Ich pack' alles zusammen und verschwinde.« Sie starrte mich an, und ich konnte ihren Blick nicht deuten. »Nein«, sagte sie schließlich mit ruhiger Stimme, »tu das nicht. Noch nicht.« Es wurde ein köstlicher Nachmittag, wie sich ergab, der paradiesischste, den ich je in meinem Leben verbracht habe. Das war vor allem natürlich auf Jennifer zurückzuführen. Ich kehrte so müde nach Hause zurück, daß ich mich ins Bett legte. Ich erwachte rechtzeitig genug, um mich zu duschen, mich anzuziehen und mich zum zeremoniellen Cocktail bei meinen Eltern einzufinden. Dann brachen wir zu Lady Horowitz' Party auf. Es war eine prächtige Nacht, fast wolkenlos. Und da kein Vollmond schien, funkelten die Sterne am Himmel. Eine laue Meeresbrise fächelte. Der Bereich um den Pool und den Patio war mit Lampions beleuchtet. Auf jedem Tisch stand ein Windlicht mit einer Duftkerze und dazu eine Schale mit frischen Narzissen. In einer Ecke war eine kleine Bar aufgebaut. Aushilfskräfte be160
dienten. Jean Cuvier, der eine hohe weiße Mütze trug, hatte am Grill das Kommando. Alle anderen Angehörigen des Personals waren anwesend, dazu die Gäste des Hauses und etwa ein Dutzend geladener Paare, auf unterschiedlichste Weise ›zwanglos‹ gekleidet, von Designerjeans bis hin zu paillettenbesetzten Minikleidern. Ich trug meine silbergraue Ultrasuede-Jacke. Eine dreiköpfige Combo spielte unter den Palmen alte Show-Melodien, und über der Bar verkündete ein rotes Neonzeichen: ›Rauchen verboten‹. Da die McNallys die meisten anderen Gäste kannten, gab es viele Küßchen und reichlich Händegeschüttel. Meine Mutter überreichte Felice und Alan DuPey unser Geschenk, und sie waren von den Muscheln begeistert. Ich sah, daß sie sich höflich bemühten, ihre Heiterkeit zu verbergen, da sie als Franzosen natürlich sofort die Symbolik dieser Formen erkannten. Ich war froh darüber, daß sie ihre Fröhlichkeit unter Kontrolle behielten. Mutter wäre entsetzt gewesen, hätten sie zu erklären versucht, warum die Muscheln so amüsant waren. Ich begab mich an die Bar, um in Partystimmung zu kommen, und wartete darauf, daß der Barkeeper mir einen Wodka Gimlet mixte, als jemand an meinem Ellenbogen zupfte. Es war die Gastgeberin, strahlend in einem geblümten Abendpyjama und einem Seidenturban. »Guten Abend, Lady Cynthia«, sagte ich. »Eine schöne Party.« »Wirklich? Ist mir noch gar nicht aufgefallen. Hören Sie, Junge, was hatte das heute morgen zu bedeuten, als Sie fragten, ob ich mir mal die Rückseite meiner Inverted Jennies angesehen hätte?« »Ach, das war einfach Unsinn«, meinte ich. »Natürlich war's das«, erwiderte sie. »Sie Dussel.« Und sie streichelte meine Wange mit einem so absichtlichen Lächeln, daß ich wußte, sie log. Nur konnte ich nicht ergründen, zu welchem Zweck. Sie entfernte sich, und ich nahm meinen Drink entgegen. Mein 161
Glas tragend, gesellte ich mich zu der plaudernden Menge und begrüßte mehrere Freunde und Bekannte. Ich erntete zwei Einladungen zum Abendessen. Ich entdeckte Angus Wolfson etwas abseits, der die Szene aus, wie es schien, amüsierter Distanz beobachtete. Er trug ein besticktes Guayaberahemd, das in Falten um seine Gestalt hing. Er hielt eine geöffnete Flasche Perrier in der Hand, und ich fragte mich, ob er vielleicht aus ihr trank. Ich schlenderte zu ihm hin. »Guten Abend, Mr. Wolfson«, sagte ich. »Wie fühlen Sie sich heute abend?« Er funkelte mich an. »Sie scheinen ein geradezu zwanghaftes Interesse an meiner Gesundheit zu haben, McNally.« »Nicht zwanghaft«, erwiderte ich, »sondern nur besorgt.« Ich dachte, er werde mich erdolchen, doch er faßte sich, lachte auf und nahm einen Schluck aus seiner Flasche. »Wenn man nicht gemein und ekelhaft werden kann«, sagte er, »was für einen Sinn hat's dann, alt zu werden?« »Das werde ich mir merken«, meinte ich lachend. »Oh, Sie haben noch ein paar Jahre vor sich«, sagte er und sah mich mit einem eigenartigen Gesichtsausdruck an. »Nutzen Sie sie weise. Versuchen Sie nicht, die Welt in Ordnung zu bringen. Das kann niemand. Akzeptieren Sie sie einfach.« Ich hatte nicht das Verlangen, noch mehr von seinen Predigten zu hören. Also lächelte ich, nickte und schlenderte davon. Zudem hatte ich noch eine Menge zu tun. Als wir in dem Lexus durch das geöffnete Tor gefahren waren, stellten wir fest, daß Kenneth Bodin die Wagen der Gäste einparkte. Er erledigte seine Arbeit gut, manövrierte all diese Cadillacs, Lincolns und BMWs so auf die Auffahrt, daß sie dicht nebeneinander standen, ohne daß auch nur die Stoßstangen verkratzt wurden. Ich fand ihn am Kofferraum eines weißen Excalibur lehnend, wo er eine Zigarette rauchte. »Amüsieren Sie sich, Mr. McNally?« fragte er mich. 162
»Noch nicht, aber ich hab's vor.« »Was macht der Miata?« »Der nimmt die Sprünge wie ein Vollblüter«, sagte ich, froh darüber, einen vernünftigen Ansatzpunkt für die Frage gefunden zu haben, die ich stellen wollte. »Ich überlege ernsthaft, mal runter zu den Keys zu fahren. Waren Sie je da?« »Noch nie, und ich will da auch nicht hin. Mir gefällt Disney World. Ich war letztes Jahr da. Das war riesig. Wußten Sie schon, daß man da ...« Doch blieb's mir erspart, hören zu müssen, wie er Mickymaus die Hand geschüttelt hatte, da in diesem Augenblick der melodiöse Klang des Essensgongs vom Patio herüberwehte. »Muß mich beeilen«, sagte ich hastig, »solange es Essen gibt.« »Es gibt Rippen«, erwiderte er. »Mein Lieblingsgericht. Ich bekomme meine später.« Er hatte recht: Jean Cuvier grillte Unmengen von Spareribs und dazu reichlich Maiskolben. Es gab Unmengen von Zwiebeln, Champignons, Peperoni und Kirschtomaten, dazu einen Romaine-und Escarole-Salat mit Anchovis-Soße und stangenweise Baguettes, auf dem Grill angebacken. Und außerdem Flaschen eines sehr anständigen Merlot. Ich kehrte in den Patio zurück und sah, daß die meisten Tische besetzt waren. Ich suchte nach einem Platz bei freundlichen Gefährten, als Consuela Garcia meinen Arm ergriff. Sie trug einen langärmeligen, schulterfreien purpurroten Kaschmirpullover, der in der Oberschenkelmitte endete. Sie sah sensationell aus, und ich wollte ihr das auch sagen, aber sie schnitt mir das Wort ab. »Hör mal, Archy«, murmelte sie und beugte sich dicht zu mir, »du mußt mit Harry und Doris Smythe essen.« Ich sah sie entsetzt an. »Warum muß ich mir einen prächtigen Abend dadurch verderben, daß ich mit den Smythes esse?« »Weil niemand sonst mit ihnen essen will.« 163
»Nein, nein und nochmals nein!« rief ich. »Was bin ich eigentlich – ein Bürger zweiter Klasse?« Sie starrte mich an. »Willst du, daß ich dir mitteile, wenn Lady Horowitz allein mit ihrem Jag wegfährt?« Ich seufzte. »Ich verstehe, Connie. Du bist sehr grausam. Na schön, wo sind sie?« Und so wurde ich gezwungen, ein kulinarisches Meisterwerk von Jean Cuvier mit ihnen zu genießen. Die Grillsoße war scharf, ohne überwürzt zu sein. Später erfuhr ich, daß sie durch einen oder zwei Spritzer Bourbon so zungenfreundlich war. Ich wünschte nur, meine Tischpartner wären ebenso angenehm gewesen. Die Smythes schaufelten sich wie ein Heuschreckenpaar durchs Essen, indem sie alles vertilgten, was in Sicht war. Und während sie mampften, schmatzten und rülpsten, beklagten sie sich. Nichts gefiel ihnen. Die Rippen waren zu fett, die Grillsoße zu mild, die Salatsoße zu salzig, das Brot nicht warm genug und der Wein zu korkig. Der vierte Stuhl an unserem Tisch gehörte Connie Garcia, aber sie mußte Gesellschaftsdame spielen und verschwand ständig, um kleinere Krisen zu schlichten. Also war ich allein und mußte das endlose Gemotze der Smythes ertragen. Das Dessert wurde serviert – warme New-Orleans-Pralinen –, und ich entschuldigte mich. Ich trabte mit einer Handvoll des köstlichen Konfekts und einem champagnergefüllten Glas zu dem Tisch, an dem meine Eltern allein saßen. Das Paar, mit dem sie gegessen hatten, hatte sich erhoben, um zur Musik der Combo zu tanzen. »Hat dir das Essen gemundet?« fragte ich Mutter. »Sehr gut«, erwiderte sie, »aber ich fürchte, ich habe zu viel gegessen und getrunken.« »Mutter fühlt sich ein bißchen schwach«, sagte mein Vater, der sie besorgt anschaute. »Ich glaube, es ist besser, wir fahren nach Hause.« 164
»Bist du wirklich krank?« fragte ich und ergriff ihre Hand. »Soll ich Doktor Semple anrufen?« »Sei nicht albern«, meinte sie. »Ich hab' mich nur zu voll gestopft, das ist alles. Ich werde eine Tasse heißen Tee trinken, und dann bin ich wieder taufrisch.« »Bist du sicher?« »Ja. Mach dir keine Sorgen, mein Lieber.« Sie streckte eine Hand aus, um meine Wange zu streicheln, und dann erhoben sich meine Eltern, um zur Gastgeberin zu gehen und sich zu verabschieden. Ich aß meine Pralinen auf, kehrte mit meinem leeren Champagnerglas an die Bar zurück und bat um Nachfüllung. Ein paar Augenblicke sah ich angesäuselten Paaren zu, die am Rand des Pools tanzten, und fragte mich, wer der erste Betrunkene sein würde, der hineinfiel oder -sprang. Ich verlangte nach einer Zigarette, doch das rote Neonzeichen warnte mich. Also wanderte ich zu dem bewaldeten Teil des Anwesens und hoffte, mich so weit vom Patio entfernen zu können, daß Lady Cynthia meine Übertretung nicht witterte. Dieser Bereich des Horowitzschen Imperiums wurde von seiner Herrscherin ›der Dschungel‹ genannt. Er war kunstvoll aus Hunderten tropischer Pflanzen zusammengesetzt. Pfade schlängelten sich hindurch. Statuen waren halb vom dichten Laubwerk verborgen, und Bänke aus verwittertem Teakholz standen hier und da, um den Ermatteten zur Ruhe zu laden. Auf einem dieser Sitze ließ ich mich nieder, um zu rasten, mir eine Zigarette anzuzünden, an meinem Krug zu nippen und zu überlegen, was das Leben mehr bieten mochte. Ich sollte das bald herausfinden. Bald nahm ich ein Gemurmel wahr, das vom See her zu mir drang. Einmal hörte ich ein rauhes Lachen und einmal einen Schrei, der so klang, als hätte jemand einen plötzlichen Schmerz erlitten. Ich drückte meine Zigarette aus und begab mich langsam in die 165
Richtung, aus der die Stimmen kamen, sorgsam darauf achtend, mich dem kiesbestreuten Weg fernzuhalten und nur auf der weichen Erde zu gehen. Vorsichtig näherte ich mich einer Stelle, in der alte, knorrige Feigenbäume eine Grünfläche umstanden, in deren Mitte sich eine Vogeltränke befand. Im Schatten verborgen konnte ich die Leute sehen, die ich so deutlich gehört hatte: Angus Wolfson und Kenneth Bodin in leidenschaftlicher Umarmung, die Lippen aufeinander gepreßt. Ich trat so geräuschlos wie möglich den Rückweg an, kehrte zu der Party zurück und tauschte mein leeres Glas gegen einen mit Remy Martin gefüllten Schwenker. Ich leerte ihn mit zwei Schlucken. »Noch einen«, sagte ich heiser zu dem Barkeeper. Er schaute mich aufmerksam an, schenkte aber noch einen ein. »Fahren Sie heute abend, Sir?« fragte er. »Natürlich nicht«, erwiderte ich. »Ich bin zum Alkoholtrinken bestimmt. Die Leute, mit denen ich gekommen bin, dürfen nur Pepsi trinken.« Ich ging und begab mich in eine ruhige Ecke, wo ich mich hinsetzen, die Beine ausstrecken und nachdenken konnte. Doch im Augenblick war ich unfähig nachzudenken. Und so fand mich Connie Garcia eine halbe Stunde später, in meinen leeren Cognacschwenker starrend und darüber nachgrübelnd, ob ich meinen Job als ›diskreter Ermittler‹ aufgeben und lieber bei McDonald's lernen sollte, wie man Hamburger wendet. »Hier bist du also«, sagte sie. »Das Essen mit den Smythes war doch gar nicht so schlecht, oder?« »Ich war hellauf begeistert. Connie, wann brichst du auf?« »Sehr bald. Warum fragst du?« »Kannst du mich nach Hause bringen? Meine Eltern sind schon gegangen.« »Natürlich. Gib mir nur noch ein paar Minuten, damit ich mich vergewissern kann, ob alles gut läuft.« Ich wollte meine Dankbarkeit zum Ausdruck bringen und meiner 166
Gastgeberin zärtlich Lebewohl sagen, doch Lady Cynthia hatte ihren Turban abgelegt und tanzte einen irren Charleston mit einem Partner, der zwei Meter zehn groß zu sein schien. Ich spazierte langsam zu der verlassenen Auffahrt. Connie tauchte etwa zehn Minuten später auf, und wir stiegen in ihren Subaru. Sie sah mich an. »Alles in Ordnung?« fragte sie. »Tiptop. Eine wundervolle Party.« »Meinst du das wirklich? Ich fand, alles lief sehr gut.« »Eine Freude«, versicherte ich ihr. »Ein absolutes Vergnügen.« Wir fuhren schweigend nach Hause. Ich lehnte mich zurück und schloß die Augen. Connie bog auf die Einfahrt zum Haus meiner Eltern ab, stellte den Motor ab und wandte sich mir zu. »Heute abend bist du aber ungewöhnlich ruhig, Archy«, sagte sie. »Bist du sicher, daß mit dir alles in Ordnung ist?« »Bin nur ein bißchen müde.« »Was ich dir sagen wollte – ich glaube, deine Idee, daß Lady Horowitz erpreßt wird, kannst du abhaken.« »Wohin fährt sie denn dann bei ihren Solotouren?« »Ich glaube, sie hat einen neuen Liebhaber.« »Ach? Mann, Frau oder Cockerspaniel?« »Nein, ich mein's ernst. Wahrscheinlich hältst du nicht die Bohne von weiblichem Instinkt, aber ich habe das Gefühl, daß sie einen Neuen gefunden hat. Sie kauft Reizwäsche, das kannst du dir überhaupt nicht vorstellen. Abartiges Zeug.« »Na und? Das Recht hat sie. Das Recht haben wir alle. Das garantiert die Unabhängigkeitserklärung. Leben, Freiheit und das Streben nach Glück – erinnerst du dich? Natürlich garantiert das nicht, daß man es findet, aber immerhin kann man bis zum Gehtnichtmehr danach streben.« Connie lachte und streckte eine Hand aus, um meine Wange zu streicheln. Dann reckte sie sich, um mich zu küssen, was weitaus 167
netter war. »Paß auf dich auf, Archy«, sagte sie heiter. »Du bedeutest mir viel.« »Du mir auch, Süße«, erwiderte ich. »Danke fürs Heimbringen.« Ich ging in mein Zimmer, zog mich aus und kroch unter die Decke. Schlaf war eine Gnade.
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n diesem Wochenende gewann bei mir Verwirrung die Oberhand, und ich latschte mit einem glasigen Lächeln herum, das meine Golf-, Tennis- und Pokerpartner wahrscheinlich zu der Überzeugung brachte, daß McNally endgültig ausgeflippt sei. Nun, das war ich nicht – aber ich war hin- und hergerissen. Es gab zu viele Puzzlestücke, und ich sah keinen Plan im Fall der Inverted Jennies – wenn es überhaupt einen gab. Am Sonntag kam ich spätabends nach einem recht ruhigen Essen mit Kumpeln aus dem Pelican Club nach Hause. Ich war in derart absonderlicher Stimmung, daß ich, um mich der Illusion hinzugeben, konzentriert arbeiten zu können, fast eine Stunde Eintragungen in mein Tagebuch machte und alles zu Papier brachte, was seit dem letzten Eintrag geschehen war. Dann verbrachte ich eine weitere Stunde damit, alles zu lesen, was ich bisher über die Inverted Jennies geschrieben hatte. Doch mir ging kein Licht auf. Ich stöhnte und ging zu Bett. Es muß ein leichter Schlaf gewesen sein, denn als mein Telefon klingelte, wachte ich fast sofort auf. Ich warf einen Blick auf die Uhr neben dem Bett. Die Leuchtanzeige verriet mir, daß es zehn 168
vor fünf war. Um diese Zeit konnte es sich bei dem Anruf nur um die Mitteilung handeln, daß jemand verstorben war. Argwöhnisch meldete ich mich. »Hallo?« »Archy? Hier Al. Ich bekam gerade einen Anruf von der Strandwache. Nahe der Villa Horowitz wurde eine Wasserleiche aus der Brandung gefischt. Ein älterer Weißer. Er war nackt, aber seine Kleidung lag zusammengefaltet am Strand. Man hat ihn vorläufig als Angus Wolfson identifiziert.« Ich schluckte. »Tot?« »Ja. Willst du dich dort mit mir treffen und die Leiche auch deinerseits identifizieren?« »Ja. Ich ziehe mich nur an.« »Laß dir Zeit«, meinte Al. »Ich brauche mindestens zwanzig Minuten. Sag mal, kannst du heißen Kaffee mitbringen?« »Ja, das läßt sich machen. Wir haben eine Thermosflasche.« »Gut. Kein Zucker und keine Milch. Schwarz ist bestens.« Ich zog mich an, so leise ich konnte, da mein Schlafzimmer über dem meiner Eltern liegt, schlich mich auf Zehenspitzen in die Küche hinunter, schaltete das Licht ein und setzte einen Kessel Wasser auf den Herd. Ich ging in die Kammer, um die Thermosflasche und ein paar Plastikbecher zu holen. Als ich in die Küche zurückkehrte, stand mein Vater da. »Probleme, Archy?« fragte er. Ich wiederholte, was Al mir berichtet hatte. »Halte mich auf dem laufenden«, sagte mein Vater, machte kehrt und ging wieder zu Bett. Eine halbe Stunde nach Als Anruf war ich am Tatort. Der war nicht schwer zu finden: Drei Polizeiwagen, ein Feuerwehrwagen und ein Notarztwagen standen am Ocean Boulevard geparkt. Ich hielt an, und Al kam herbei, bevor ich aus meinem Miata steigen konnte. »Hast du den Kaffee mitgebracht?« fragte er erwartungsvoll. 169
Ich nickte. »Dann laß uns erst mal einen Schluck nehmen. Unten am Strand weht ein kalter Wind.« Er schenkte ein, wofür ich dankbar war. Ich wollte nicht, daß er sah, daß ich den Tatterich hatte. »Wie ist er gefunden worden?« fragte ich. »Ein Zahnarzt aus Lake Worth wollte seinen neuen Strandflitzer ausprobieren, ein Dreirad. Er dachte, wenn er um vier Uhr morgens über den Strand rase, erwische man ihn nicht. Er entdeckte die Leiche im seichten Wasser und beschloß, ein guter Bürger zu sein. Er hatte ein Funktelefon dabei und rief die Strandwache an. Guter Kaffee, Archy.« »Danke. War's Selbstmord?« »Könnte sein. Aber stapelt ein Selbstmörder seine Kleidung sauber gefaltet unter einer Palme, bevor er sich auf den langen Weg macht?« »Ich glaube nicht, daß Selbstmörder in ihren letzten Minuten rational denken.« »Du könntest recht haben. Aber da sind noch andere Dinge.« »Was für Dinge?« »Du wirst schon sehen. Fertig mit deinem Kaffee? Dann los!« Wir gingen dieselbe hölzerne Treppe hinunter, die ich genommen hatte, um mit Angus Wolfson am Strand entlang zu spazieren. Dabei hatte er wie ein flotter Boulevardbummler ausgesehen. Ich versuchte mir nicht vorzustellen, wie er jetzt aussehen mochte. Die Leiche lag, mit einer blauen Decke verhüllt, auf dem Sand. Eine Gruppe von Polizisten stand in der Nähe, Zigaretten rauchend, sich unterhaltend, zuweilen lachend. Al hatte recht gehabt: Hier unten, nahe dem Wasser, war es kalt. Der Wind wirbelte weiße Schaumkronen auf, und Wolken zogen schnell über den nächtlichen Himmel. »Kann ich mal Licht haben?« rief Al. 170
Eine Frau kam mit einer großen Lampe vom Feuerwehrwagen her. Sie richtete den Lampenstrahl auf die zugedeckte Leiche. Al bückte sich und enthüllte die nackte Leiche bis zur Hüfte. Das Gesicht war bemerkenswert friedlich, fast gelassen. Ein paar feuchte Strähnen dünnen grauen Haares klebten an seinen Wangen. Er war blaß, aber ich hatte den Eindruck, daß er tot jünger als im Leben aussah. »Ja«, sagte ich gelassen, »das ist die Leiche des Mannes, den ich als Angus Wolfson kannte. Er war Gast im Haus von Lady Cynthia Horowitz.« Al wandte sich an die Frau, die die Lampe hielt. »Haben Sie das gehört?« wollte er wissen. Sie nickte. »Al«, sagte ich, »was sind das für Flecken an seinem Hals und seiner Brust?« »Die Dinge, die ich erwähnte – Druckstellen. Könnten dadurch verursacht worden sein, daß die Leiche durch die Brandung herumgeworfen wurde. Aber sieh dir das an.« Er winkte mich heran, und wir hockten uns beide neben den Verblichenen. »Was hältst du davon?« fragte er, wobei er auf etwas deutete. Vier feine Kratzer verliefen auf dem Torso vom Schlüsselbein zum Nabel. Ich musterte sie. »Sieht aus, als sei das durch Fingernägel verursacht worden.« Al knurrte. »Könnte sein. Hat er sich selbst beigebracht in dem Augenblick, als er zum letzten Mal nach Luft schnappte, oder sind ihm durch einen anderen beigebracht worden. Oder vielleicht waren's Muscheln auf dem Sand. Das soll der Gerichtsmediziner herausfinden. Gehen wir und trinken unseren Kaffee aus. – Bringt ihn weg«, rief er den wartenden Polizisten zu und folgte mir auf die Straße. Wir setzten uns in den Miata und tranken den Kaffee. 171
»Und jetzt«, sagte Al, »muß ich zur Villa der Horowitz fahren, sie aufwecken und ihr erzählen, was passiert ist. Hast du Lust mitzukommen?« »Nein, danke.« Er lachte. »Das habe ich auch nicht erwartet. Ich möchte einfach herausfinden, ob er einen Abschiedsbrief hinterlassen hat. Nicht, daß das viel bedeutete. Manchmal tun sie's, manchmal tun sie's nicht.« »Du glaubst also an Selbstmord?« »Das habe ich nicht gesagt. Aber du hast mir erzählt, daß er krank war.« »Das war so ein Gedanke. Er hat's mir nicht gesagt, und ich bin kein Arzt.« »Wie alt war er?« »Ich weiß es nicht. Aber ich schätze ihn auf etwa fünfundsiebzig.« Al wandte sich mir zu und starrte mich an. »Das ist erstaunlich.« »Fünfundsiebzig zu sein? Was ist daran erstaunlich?« »Weil wir bei der Durchsuchung der Kleider in der Hüfttasche seiner Hose ein Kondom fanden.« »O Gott.« »Unbenutzt«, fügte Al hinzu. »Noch versiegelt.« Ich holte tief Luft. »Ich sollte dir wohl besser was erzählen, Al. Am Freitagabend war ich mit meinen Eltern auf einer Party bei Lady Cynthia. Nach dem Abendessen...« Ich schilderte die Szene zwischen Angus Wolfson und Kenneth Bodin im ›Dschungel‹ des Horowitzschen Anwesens, deren Zeuge ich geworden war. Al hörte aufmerksam zu, ohne mich zu unterbrechen. Als ich fertig war, trank er seinen Kaffee aus und warf den Plastikbecher auf die Straße. »Umweltverschmutzer«, erklärte ich. »Ich weiß«, erwiderte er. »Hör mal zu. Ich möchte, daß du folgendes jetzt sofort machst, noch bevor du nach Hause fährst. Fahr 172
zum Palast und diktiere deine Aussage. Ich werde die anfunken und alles vorbereiten lassen. Ich möchte, daß du das sagst, was du mir gerade über Wolfson berichtet hast, und alles, was du mir im Pelican Club über Bodin, seine Freundin Sylvia und diese Briefmarkenhändlerin aus Fort Lauderdale erzählt hast – wie heißt sie gleich?« »Hilda Lantern.« »Gut. Schildere haargenau deine Absprache mit ihr: was du sagtest und was sie sagte. Geh in Einzelheiten. Schildere auch das Zeug, das du für unwichtig hältst. Ich will alles.« »Al, das wird Stunden dauern!« »Sicher wird's das. Aber du kassierst ja auch 'ne Menge Schotter, oder? Also verdien ihn dir jetzt.« Trotz seiner Anweisungen fuhr ich zuerst nach Hause, um mich zu duschen, zu rasieren, meine Kleidung zu wechseln und mit den Olsons am Küchentisch ein sehr frühes Frühstück einzunehmen. Gerade als ich zum ›Palast‹ aufbrach, um meine Aussage zu Protokoll zu geben, begegnete ich meinem Vater, der die Treppe herunterkam, um seinerseits zu frühstücken. Er grüßte mich, indem er eine Augenbraue hob, und ich berichtete ihm kurz über Wolfsons Tod und was am Tatort passiert war. »Schreckliche Sache«, sagte er kurz. »Ich denke, daß ich heute morgen von Lady Horowitz hören werde.« »Das glaube ich sicher«, meinte ich. »Sollte ich mehr von Sergeant Rogoff erfahren, lasse ich's dich wissen.« »Ja, tu das. Danke, Archy.« Während ich durch die Morgendämmerung fuhr, erwog ich, was ich bei meiner Aussage preisgeben würde. Mir schien, daß ich bis jetzt vergleichsweise offen zu Al gewesen war. Ich hatte ihm alle Fakten mitgeteilt, die mir bekannt waren, mit der einen Ausnahme, daß ich Thomas Bingham nicht erwähnt hatte. Seine Beteiligung an den Verbrechen schien mir zweifelhaft. Was ich Al nicht erzählt hatte, waren meine persönlichen Eindrü173
cke von den beteiligten Personen, meine zweifellos vorurteilsbehafteten Reaktionen auf diese Personen und gewisse verrückte Mutmaßungen, die ich anstellte, aber durch keinerlei Beweise erhärten konnte. Ich war sicher, daß Al ebenso viele ganz persönliche Überlegungen anstellte. Es hatte wenig Sinn, diese Vermutungen öffentlich auszusprechen, solange sie unbelegbar waren. Ich hatte recht damit, daß die Aufnahme der Aussage Stunden dauern würde. Als ich mit dem Diktat fertig war, wartete ich auf die Abschrift. Dann las ich das achtseitige Manuskript gründlich durch, nahm ein paar kleine Änderungen vor, ließ etwas streichen und fügte etwas hinzu. Ich unterschrieb gerade die acht Seiten, als Al hereinkam und sich müde auf den hölzernen Lehnsessel hinter seinem Schreibtisch fallen ließ. »Nicht mal Mittag«, sagte er, »und schon ist mein Arsch wundgescheuert.« »Hast du mit Lady Horowitz gesprochen?« Er nickte. »Weißt du, was ihr am meisten Sorge macht? Nicht der Tod eines alten Freundes. Sie gab sich vielmehr erregt darüber, wie diese ›Unerfreulichkeit‹ sich auf den Empfang auswirken könne, den sie morgen für einen italienischen Tenor veranstaltet, der auf Gastspielreise ist. Kannst du dir das vorstellen?« »Lady Cynthia«, erwiderte ich bedächtig, »ist eine ziemlich egozentrische Frau.« »Nur das? Sie ist ein egoistisches Miststück. Jedenfalls habe ich keinen Abschiedsbrief gefunden. Aber wie ich dir gesagt habe, bedeutet das absolut nichts.« »Wer sind die nächsten Angehörigen?« »Eine Schwester in Boston. Die Horowitz rief deinen Vater an, während ich da war, und er erklärte sich bereit, die Schwester zu benachrichtigen. Danke ihm in meinem Namen dafür. Die nächsten Angehörigen von Opfern zu informieren ist nicht mein Steckenpferd. Bist du hier fertig?« 174
»Alles erledigt«, sagte ich und schob ihm die unterschriebene Aussage über den Schreibtisch. »Das ist alles.« Er starrte mich an. »Bist du sicher?« »Absolut. Al, hast du dich schon mit den hiesigen Briefmarkenhändlern in Verbindung gesetzt?« »Daran arbeiten wir. Aber einige sind beim Mittagessen, andere machen Urlaub, und manche haben sich zur Ruhe gesetzt. Ist ein Scheißjob. Aber in ein oder zwei Tagen müßten wir damit durch sein.« »Gut. Ich glaube, du wirst auf Kenneth Bodin oder Sylvia oder auf beide stoßen.« Al sah mich nachdenklich an. »Du glaubst, Wolfson sei daran beteiligt gewesen?« »Die Möglichkeit ging mir durch den Kopf«, gab ich zu. »Wolfson stiehlt die Briefmarken und gibt sie Bodin, damit der sie verkauft. Dann teilen sie sich den Kies. Nur stimmt bei diesem Drehbuch eins nicht.« »Was?« »Wolfson war kein Dieb. Er war zwar nicht unbedingt mein Typ, aber er bemühte sich, ein Gentleman zu sein. Er hat einfach nicht gestohlen.« Al starrte mich an. »Würde er töten?« »Jeder kann morden, wenn die Zeit und die Umstände stimmen. Das hast du oft genug selbst gesagt.« »Das habe ich«, erwiderte Al seufzend. »Danke für deine Aufmerksamkeit, Hercule Poirot. Ich wünsche von ganzem Herzen, daß wir uns bald wiedersehen.« »Darum bitte ich, Inspektor Maigret«, sagte ich und verschwand. Ich fuhr zum McNally-Gebäude in der Absicht, meinen Vater zu bitten, mir von seinem Gespräch mit Lady Cynthia zu erzählen. Doch der Empfangsmensch in der Lobby überreichte mir eine Nachricht: Consuela Garcia hatte angerufen und um sofortigen 175
Rückruf gebeten. »Sie sagte, es sei wichtig«, fügte er hinzu. »Sie hat gesagt: ›Dringend! Dringend! Dringend!‹« Ich rief Connie aus meinem Büro an. »Archy«, sagte sie atemlos, »hast du das von Angus Wolfson gehört?« »Ja, hab' ich gehört.« »Und zu allem Überfluß«, fuhr sie fort, »hat der Partyservice angerufen und gesagt, sie bekämen für den Empfang morgen keine frische Ananas. Ist das ein Morgen!« »Und deshalb rufst du an?« fragte ich. »Um mir von Ananas zu erzählen?« »Ach, sei doch nicht so blöd. Ich habe angerufen, um dir zu sagen, daß Lady Cynthia gegen ein Uhr verschwindet. Sie sagte, sie werde ein paar Stunden weg sein. Sie hat mir nicht gesagt, wohin sie fährt, und ich hab' sie nicht gefragt.« »Danke, Connie«, erwiderte ich dankbar. »Wenn du ihr folgst, wirst du mir später verraten, wohin sie gefahren ist?« »Nein.« »Das habe ich mir gedacht«, sagte sie. »Triffst du dich noch immer mit dieser Jennifer Towley?« »Gelegentlich.« »Na ja, mein Kerl hat mir den Laufpaß gegeben.« »Warum hat der Idiot das getan?« »Er hat 'ne Tussi mit viel Kohle gefunden. Ihr Vater hat einen Gebrauchtwagenladen.« Ich lachte. »Ich suche nach einer Nymphomanin, deren Vater Schnapsladenbesitzer ist.« Connie kicherte. »Also, wenn du mit dieser Towley Schluß machst, trag mich wieder in dein kleines schwarzes Buch ein.« »Du stehst noch immer drin«, versicherte ich ihr. Ich schaute auf meine Armbanduhr und sah, daß es kurz nach 176
halb zwölf war. Deshalb beschloß ich, mit dem Gespräch mit Vater zu warten. Ich ging in die Garage hinunter, winkte Herb zu und bestieg meinen gemieteten Ford Escort. Ich fuhr Richtung Ocean Boulevard in der Hoffnung, daß Lady Cynthia sich nicht entschlossen hatte, allzu früh loszufahren. Während ich fuhr, fragte ich mich, wie ich vorgehen sollte. Ich behaupte nicht, Experte im Beschatten von Autos zu sein, aber ich hatte genug Spionageromane gelesen, um zu wissen, wie das läuft – oder wie es nach Ansicht der Autoren zu laufen hat. Man klemmt sich hinter ein Auto, läßt zuweilen einen oder zwei Wagen zwischen sich und dem Verfolgten fahren oder fährt sogar vor ihm. Das schien so einfach, daß ich sicher war, nichts falsch zu machen. Ich fuhr an der Horowitzschen Villa vorbei. Das Tor stand weit auf, aber drinnen regte sich nichts. Ich fuhr ein paar hundert Meter nordwärts, wendete verbotenerweise wieder und fuhr in Südrichtung am Haus vorbei. Dieses Manöver wiederholte ich noch zweimal ergebnislos. Bei meiner vierten Fahrt in Südrichtung beobachtete ich, wie der bronzefarbene Jaguar langsam aus der Einfahrt des Hauses rollte, abbog und ebenfalls Richtung Süden fuhr. Ich sah deutlich, daß Lady Cynthia den Wagen fuhr; ihr Haar war mit einem veilchenblauen Seidentuch zusammengebunden. Sie fuhr an der Küste entlang und überraschte mich, weil sie sich an die Geschwindigkeitsbegrenzung hielt. Ich blieb mehrere Wagenlängen hinter ihr. Sie wandte kein einziges Mal den Kopf und ließ nicht erkennen, daß sie spürte, daß ihr jemand folgte. Der Jag fuhr weiter und weiter, und ich begann mich langsam zu fragen, ob Miami unser Ziel sei. Aber dann erreichten wir die Gegend südlich von Manalapan Beach. Lady Horowitz fuhr langsamer, und ich verlangsamte mein Tempo ebenfalls. Dann schaltete sie den rechten Blinker ein und bog durch ein offenes Tor in eine Einfahrt ab. Ich fuhr im Schritt177
tempo vorbei und atmete tief durch. Es war ein armseliger Schuppen, ein Haus, das verrottete. Das gußeiserne Tor war verrostet, und Gras schoß aus der Auffahrt. Als ich vorbeifuhr, war der Jaguar nirgendwo zu sehen; daraus schloß ich, daß die Zufahrt zur Rückseite des Hauses führte. Vielleicht befand sich dort eine Garage und wahrscheinlich ein Rasen, ein Patio oder eine Terrasse, von wo aus man eine herrliche Aussicht auf den nahen Lake Worth hatte. Ich wendete wieder und fuhr nordwärts. Dieses Mal bemerkte ich die ungestutzten Hecken, ein zerbrochenes Fenster und daß die Farbe von den Säulen des Hauses abblätterte. Noch verwirrender war, daß es unbewohnt schien. Ich merkte mir die Hausnummer, die auf eine verwitterte Schindel gemalt war, die an einem Nagel von einer der verschmutzten Säulen baumelte. Ich fuhr sehr ruhig nach Hause, wobei ich über meinen nächsten Schritt nachdachte. Ich hatte nicht die Absicht, in Manalapan herumzuhängen, bis Lady Cynthia nach Palm Beach zurückkehrte. Statt dessen zog ich die Möglichkeit in Betracht, mich bei ihrem nächsten Besuch dem Haus von der Seeseite zu nähern und zu beobachten, was auf der Rückseite des Hauses vor sich ging. Aber selbst wenn Connie mich vorher informierte, würde ich kaum rechtzeitig zur Stelle sein. Was, um alles in der Welt, tat die reiche Lady Horowitz in einer solchen Ruine? Traf sie sich wirklich mit Erpressern, um Geld zu übergeben? Die ganze Idee war absurd, aber mir fiel keine bessere ein. Die Wahrheit sollte viel unglaublicher sein.
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ch kehrte zum McNally-Gebäude zurück, stellte den Ford Escort in der Tiefgarage ab und winkte dem Wachmann zu. Dann fuhr ich mit dem Lift in den zweiten Stock, auf dem sich unsere Immobilienabteilung befand. Wir verkauften keine Häuser oder Wohnungen, sondern berieten unsere Klienten bei Vermietungen und schlugen auf Wunsch Investitionen in Grundstücke und gewerbliche Immobilien vor. Die Frau, die ich aufsuchte, Mrs. Evelyn Sharif, war Leiterin dieser Abteilung. Sie war mit einem Libanesen verheiratet, der in einem sehr eleganten Laden an der Worth Avenue Orientteppiche verkaufte. Zur Zeit war Evelyn schwanger. »Archy«, sagte sie, »wenn Sie mich fragen, ob ich eine Wassermelone verschluckt habe, werde ich kein Wort mehr mit Ihnen reden, solange ich lebe.« »Eines derart vulgären Humors wäre ich nie fähig«, erwiderte ich. »War's eine Zuckermelone?« Sie lachte und drückte meinen Arm. »Wann ist der Kleine fällig?« fragte ich sie. »In etwa sechs Wochen. Sind Sie gekommen, um sich nach Einzelheiten meiner morgendlichen Übelkeit zu erkundigen?« »Nein. Ich bitte Sie nur um einen kleinen Gefallen.« Ich erklärte, daß ich die Hausnummer eines Anwesens am Ocean Boulevard in der Nähe von Manalapan hätte und herausfinden wolle, wem das Haus gehöre. Bei ihren Kontakten zu den Maklerkreisen von Palm Beach County müsse das für sie ein Kinderspiel sein. »Warum wollen Sie das wissen?« fragte sie. »Diskrete Ermittlungen«, erwiderte ich. »Höchst vertraulich.« 179
Sie grinste. Ich wußte, was sie dachte: daß ich gesehen hatte, wie das Covergirl eines Männermagazins das Haus betreten hatte, und daß ich ihren Namen wissen wollte. Sie schwieg einen Augenblick, und ich konnte sehen, daß sie überlegte, ob sie meine Bitte erfüllen solle oder nicht. Aber schließlich war ich Prescott McNallys Sohn, und sie wollte ihren bezahlten Mutterschaftsurlaub nicht gefährden. »Also gut, Archy«, seufzte sie. »Sagen Sie mir die Hausnummer, und ich sehe, was ich tun kann. Vielleicht hab' ich morgen was für Sie.« »Danke, meine Liebe«, sagte ich. »Und möge Ihr gesegnetes Ereignis gleich doppelt gesegnet sein.« »Ist es«, gab sie grinsend zurück. »Der Arzt sagt, es sind Zwillinge.« Ich rief das Büro meines Vaters an. Mrs. Trelawney sagte mir, er sei mit einem Klienten zum Mittagessen gegangen. Also fuhr ich wieder in die Garage hinunter und winkte Herb zum dritten Mal an diesem Tag zu. Ich fuhr mit dem Miata an den Strand und grübelte dabei über Lady Cynthias Motive nach, meilenweit zu fahren, um einen sonnigen Nachmittag in einem heruntergekommenen Haus zu verbringen. Schon vor geraumer Zeit habe ich gelernt, daß es bei jeder Ermittlung falsch ist, früh eine Theorie zu entwickeln und dann zu versuchen, die Fakten der Theorie anzupassen. So bringt man sich dazu, wichtige Beweise schlicht zu mißachten, weil man sich von der Idee, in die man sich verbissen hat, nicht lösen kann. Die bei weitem beste Methode ist es, so viele Fakten wie möglich zu sammeln, selbst die banalsten, und sie ihr eigenes Muster bilden zu lassen. Logik ist Mutmaßungen stets weit überlegen. Ich befand mich noch in der Faktensammelphase, als ich in die Horowitzsche Einfahrt einbog. Das Anwesen schien verlassen zu sein. Keine Seele in Sicht und kein Geräusch, das auf die Gegenwart von Menschen schließen ließ. 180
Auf mein Klopfen an der Eingangstür erfolgte keine Reaktion, weshalb ich außen herum zum Swimming-pool spazierte. Gina Stanescu saß an einem der sonnenschirmbestückten Tische. Ein breitkrempiger Panama beschattete ihre Augen. Sie blickte auf, als ich mich näherte. »Miss Stanescu«, sagte ich, »das mit Mr. Wolfson tut mir sehr leid. Ich bin sicher, daß Sie und alle anderen von dem, was geschehen ist, völlig niedergeschmettert sind.« Sie nickte wortlos und winkte mir, mich zu setzen. Ich zog einen Regiestuhl heran und drehte ihn so, daß ich sie ansehen konnte. »Das Leben ist traurig, Mr. McNally«, sagte sie. »Finden Sie nicht?« »Häufig«, erwiderte ich. »Ich möchte Ihr Leid nicht vertiefen, aber mir schien, daß sich in der kurzen Zeit, die Sie Mr. Wolfson kannten, eine ganz besondere Beziehung zwischen Ihnen und ihm entwickelt hat.« »Ja, ja«, meinte sie eifrig. »Er war ein lieber Mann. Er spielte gerne das Schreckgespenst, aber in Wirklichkeit war er freundlich und verständnisvoll. Er war krank – wußten Sie das?« »Dafür hielt ich ihn«, sagte ich und fand, daß die Trauer ihre scharfen Gesichtszüge weicher gemacht hatte. »Er wollte nicht darüber reden, aber ich habe mehrmals gesehen, daß er Schmerzen hatte. Er war ein Kavalier.« Sie lächelte leicht. »Ein alter Kavalier.« »Genau das war mein Eindruck«, stimmte ich zu. »Daß er trotz seiner Probleme entschlossen war, die Welt mit einer frischen Blume im Knopfloch anzugehen.« Aber ich wollte weg von den Grabreden auf Wolfson und fragte, ob sie etwas trinken wolle. Ich würde es ihr aus der Küche holen. Sie lehnte ab, was mich enttäuschte. »Als wir das letzte Mal miteinander sprachen«, fuhr ich fort, »im Spielzimmer, erwähnten Sie die Möglichkeit eines Wunders, das 181
Ihr Waisenhaus retten könne. Ich hoffe, es ist eingetreten.« Was sie einen Augenblick zuvor an Lebhaftigkeit gezeigt hatte, verschwand, und ihr Gesicht wurde ernst. »Nein«, sagte sie, »das Wunder löste sich in nichts auf, als Angus starb.« »Ich verstehe nicht.« Sie versuchte vergeblich zu lächeln. »Ich habe mit Angus über meine Probleme mit dem Waisenhaus gesprochen. Er sagte, er könne helfen. Ein Verwandter sei vor kurzer Zeit gestorben und er, Angus, werde ziemlich viel Geld erben. Er sagte, er brauche es nicht und werde es sehr gern den Waisenkindern von Rouen spenden. War das nicht prächtig von ihm?« »Sehr«, meinte ich. »Hat er vielleicht erwähnt, wie hoch die Erbschaft ausfallen könne?« »Ja«, sagte Miss Stanescu. »Vielleicht eine halbe Million Dollar. Das wäre meine Rettung gewesen.« »Ja, jetzt verstehe ich.« »Mr. McNally, Sie sind doch Anwalt, oder?« »Leider nein. Aber mein Vater ist Anwalt. Ich arbeite für ihn, und ich habe Jura studiert. Warum fragen Sie?« »Dieses Versprechen, das Angus mir gegeben hat, daß er seine Erbschaft dem Waisenhaus spenden werde, ist das eine rechtsverbindliche Zusage? Kann ich sein Erbe beanspruchen?« »Hat Mr. Wolfson seine Absicht schriftlich niedergelegt?« »Nein.« Ich verzog das Gesicht. »Dann fließt das Geld in seinen Nachlaß ein, um seinem letzten Willen entsprechend verteilt zu werden.« »Ja, das habe ich mir gedacht. Dann muß ich wohl ein anderes Wunder für meine Kinder erhoffen.« »Miss Stanescu«, sagte ich, »erinnern Sie sich an den Tag, an dem Sie eine Kreuzfahrt mit der Jacht machen wollten, die dann wegen hoher See abgesagt wurde?« »Ja«, antwortete sie und schaute mich neugierig an, »natürlich 182
erinnere ich mich daran.« »Mr. Wolfson erzählte mir, daß Sie und er die Party früh verließen, auf der Worth Avenue einen Schaufensterbummel machten und sich später im Cafe ›L'Europe‹ trafen.« »Ja«, gab sie zu, noch immer verwirrt, »das ist richtig.« »Könnten Sie mir verraten, in welchem Zustand Mr. Wolfson war, als Sie sich mit ihm zum Drink trafen.« »Oh, er war in schrecklicher Verfassung. Es war ein außerordentlich heißer Tag. Er war erschöpft, hatte offensichtlich Schmerzen, und ich mußte ihn stützen, während wir darauf warteten, daß Kenneth uns abholte. Warum fragen Sie?« »War er erregt?« drängte ich. »Beunruhigt? Irgendwie anders?« Sie dachte einen Augenblick nach. »Ja, das würde ich sagen. Er war blaß und zitterte. Ich schlug ihm vor, zu einem Arzt zu gehen, aber das wollte er nicht. Aber noch mal, warum fragen Sie?« Ich schüttelte den Kopf. »Das weiß ich wirklich nicht. Wir versuchen noch immer, den Diebstahl der Briefmarken Ihrer Mutter zu lösen, und dies hat möglicherweise damit zu tun. Miss Stanescu, ich danke Ihnen dafür, daß Sie so offen mit mir gesprochen haben. Ich hoffe, ich werde Sie unter erfreulicheren Umständen wiedersehen.« Sie lächelte. »Das hoffe ich auch, Mr. McNally. Ich genieße Ihre Gesellschaft. Sie sind sehr freundlich.« »Danke«, sagte ich und verließ sie. Ich bestieg wieder meinen Miata und wollte abfahren, als der bronzene Jaguar hereinkam. Ich hielt an, und Lady Horowitz brachte ihren Jag neben mir zum Stehen. »Hallo, Junge«, rief sie. »Was machen Sie hier – schnüffeln Sie noch immer herum?« Ich war gekränkt. »Ich kam, um mein Beileid zu bekunden«, sagte ich. »Wegen des Todes von Angus Wolfson.« »Ach ja, Menschen sterben nun mal«, meinte sie munter. »So 183
oder so.« »Was ich gerne fragen würde – wußten Sie, daß Wolfson krank war.« »War er das?« erwiderte sie. »Nun, wahrscheinlich. Der Idiot hat einfach nicht auf sich achtgegeben. Ich hab' mal gesehen, wie er einen lebendigen Goldfisch verschluckte. Er war natürlich betrunken – aber das ist keine Entschuldigung. Ich hab' die Absicht, ewig zu leben. Ich bin zu gemein, um zu sterben.« Ich hielt ihre Munterkeit für ziemlich geschmacklos, aber ich wußte, daß es töricht war, von dieser Frau auch nur eine Spur von Sensibilität zu erwarten. »Lady Cynthia«, fragte ich, »was hat Wolfson eigentlich hier gemacht? Urlaub?« »Natürlich«, sagte sie rasch. »Ferien. Der arme Mann konnte sich Antibes nicht leisten. Also nutzte er die Gelegenheit, ein paar Wochen an der Goldküste zu verbringen.« »Konnte er sich das nicht leisten? Ich meine, Sie hätten mir erzählt, er sei gutbestückt.« »Hab' ich das? Das glaube ich nicht. Wahrscheinlich habe ich gesagt, er leide keinen Mangel, womit ich ausdrücken wollte, daß er nicht in Mülltonnen rumwühlen muß. Aber sein Kleingeld mußte er schon zählen. Warum dieses plötzliche Interesse an seinen Finanzen?« »Ich hab' mich nur gefragt, ob er unter Geldmangel litt. Und wenn's so war, ob er Ihre Marken geklaut hat.« Sie zuckte die Achseln. »Ich hätte ihm deshalb keinen Vorwurf gemacht. Er liebte das große Leben, konnte es sich aber einfach nicht leisten. Glücklicherweise kann ich das. Aber ich hab' meine Schulden bezahlt. Über mein Leben könnte ich ein Buch schreiben.« »Kann ich mir vorstellen.« »Nein, das können Sie nicht. Aber jetzt muß ich erst mal baden.« Ich fuhr nach Hause. 184
Vor der Familiencocktailstunde hatte ich reichlich Zeit zum Schwimmen. Das Meer lag ruhig und strahlend unter der Sonne, die im Westen stand. Warum empfand ich dann eine solche Abneigung dagegen, ins warme Wasser zu tauchen? Weil ich, das wurde mir klar, durch das hartnäckige Bild des blassen Leichnams aus der Fassung gebracht war, den man aus eben diesem Meer gezogen hatte. Aber wenn ich diese Furcht nicht überwand, würde ich mich nie wieder ins Meer wagen. Also zog ich mich entschlossen um, ging zum Strand hinunter und schwamm hartnäckig meine zwei Meilen. Ich kann nicht sagen, daß ich das genossen hätte, und als ich aus dem Wasser stieg, war das Bild des toten Angus Wolfson nicht gebannt. Das Essen an diesem Abend war sehr eigenartig. Mein Vater und ich waren in ziemlich gedämpfter Stimmung, wogegen meine Mutter wie aufgedreht war, lachte und unentwegt von einer Blumenausstellung erzählte, die sie an diesem Nachmittag besucht hatte. Sie war eine der drei Preisrichterinnen gewesen, und offensichtlich hatte ein Teilnehmer einen Aufstand gemacht und die Jury laut rassistischer Vorurteile gegen afrikanische Veilchen bezichtigt. Mein Vater und ich lauschten diesem Bericht mit leisem Lächeln. Ich glaube, wir waren beide froh, daß Mutter die Konversation allein führte. Wäre sie nicht gewesen, wäre das Essen in sonderbarer Stille verlaufen, und Mrs. Olson hätte sich sicher gefragt, ob wir mit ihrem pochierten Lachs und der Dillsoße unzufrieden seien. Nach dem Kaffee und einem Dessert von frischen Stachelbeeren nahm mein Vater mich beiseite. »Hast du vor, heute abend auszugehen, Archy?« fragte er. »Nein. Ich bleibe hier.« »Gut. Ich hab' einige Arbeit mit nach Hause genommen, müßte aber so gegen zehn damit fertig sein. Könntest du dann herunterkommen? Es gibt da ein paar Dinge, die ich mit dir besprechen 185
möchte.« »Ich werde kommen«, versprach ich. Ich ging nach oben und beschäftigte mich eine Weile ziemlich sprunghaft mit meinem Tagebuch. Dann nahm ich meine Lesebrille ab und starrte die gegenüberliegende Wand an. Die eine Sache, die mich beschäftigte, war, daß Lady Cynthia so rasch eingeräumt hatte, daß Angus Wolfson ihre Briefmarken gestohlen haben könnte. Sie hatte ihn als ›alten Freund‹ bezeichnet. Sicher wußte sie ebenso gut wie ich, daß dieser Mann eines Verbrechens unfähig war. Und ich erinnerte mich an die unverschlossene Schmuckschatulle neben dem geplünderten Wandsafe. Sicher wäre ein Ganove, gleich ob Mann oder Frau, lange genug geblieben, um den Deckel zu heben und eine Handvoll Schmuck mitzunehmen. Es gab noch ein drittes Rätsel, auf das ich Al noch nicht aufmerksam gemacht hatte. Es betraf den mörderischen Angriff auf Bela Rubik. Kenneth Bodin war ein möglicher Verdächtiger, da die entwendeten Inverted Jennies jetzt offensichtlich entweder in seinem Besitz oder dem seiner Freundin Sylvia waren. Doch wie ich wohl wußte, hatte der Briefmarkenhändler seine Tür verschlossen gehalten und Besucher sehr aufmerksam gemustert, bevor er ihnen Zutritt gewährte. Hätte er Bodin aufgeschlossen, der selbst in seiner Chauffeursuniform wie ein Gorilla aussah? Ein paar Minuten nach zehn ging ich nach unten. Ich fand den Herrn des Hauses im Studierzimmer hinter seinem Schreibtisch sitzend. Er sah müde aus, war aber wie gewöhnlich so gekleidet, als erwarte er jeden Augenblick den Besuch eines Richters des Obersten Bundesgerichts. Als ich eintrat, legte er gerade Akten in seinen kalbsledernen Aktenkoffer zurück. »Ich bin fertig, Archy«, sagte er. »Ich habe alles getan, was ich heute abend tun kann. Ein interessanter Fall. Es geht um den Besitz des verstorbenen Peter Richardson. Kanntest du ihn?« 186
»Nein. Aber ich kenne Eddie Richardson. Ich glaube, er ist der jüngste Sohn von Peter Richardson.« Mein Vater nickte. »Drei Söhne und zwei Töchter. Sie fechten Peter Richardsons Legat von schätzungsweise zwei Millionen Dollar an eine kalifornische Firma an, die angeblich den jüngst Verstorbenen in Flüssigstickstoff eingefroren hat, damit er zu einem späteren Zeitpunkt aufgetaut und zu empfindungsfähigem Leben wiedererweckt werden kann. Die Kinder fechten dies an und wollen, daß das Legat für ungültig erklärt wird.« »Wie ist deine Meinung?« »Oh, wir haben gerade erst angefangen. Das wird umfangreiche Untersuchungen erfordern.« Er lächelte kühl. »Und viele honorarpflichtige Stunden. Ich glaube, ich habe mir ein Glas Port verdient. Würdest du bitte einschenken, Archy? Und bedien dich bitte auch.« Ein paar Augenblicke später saß ich in einem Ledersessel neben seinem Schreibtisch. Wir hoben einander die Gläser zu und nippten daran. Ich fand den Port ein wenig muffig, gab aber keinen Kommentar dazu ab. »Wie wir erwartet haben«, begann mein Vater, »bekam ich heute morgen einen Anruf von Lady Horowitz. Sie informierte mich über den Tod ihres Gastes Angus Wolfson. Durch deinen Bericht wußte ich das natürlich bereits, hielt es aber nicht für nötig, ihr das zu sagen. Sie nannte mir Namen, Adresse und Telefonnummer des nächsten Angehörigen und bat uns, die ›grausigen Einzelheiten zu erledigen‹. Das waren ihre Worte.« »Sie läßt sich einfach durch nichts aufregen«, sagte ich. »Ich glaube, du hast recht. Jedenfalls ist der nächste Angehörige eine unverheiratete Schwester, Roberta Wolfson, die zusammen mit ihrem Bruder in Boston wohnte. Sie fliegt her, um die Leiche zu identifizieren, seine persönliche Habe abzuholen und die Bestattungsformalitäten zu erledigen.« »Und du möchtest, daß ich die Dame begleite?« 187
»Ja, Archy, das wünsche ich. Lady Horowitz hat sich freiwillig bereit erklärt, alle Kosten zu übernehmen, einschließlich der Bestattungskosten.« »Das war anständig von ihr.« »Ja. In gewisser Hinsicht ist sie eine sehr großzügige Frau. Mrs. Trelawney hat ein Rückflugticket für Miss Wolfson gebucht. Soweit ich erfahren habe, ist sie eine ältere Dame, ein Jahr älter als ihr Bruder. Ich weiß, daß du ihr so einfühlsam helfen wirst, wie du kannst.« »Selbstverständlich. Wann trifft sie ein?« »Morgen gegen neun. Mrs. Trelawney wird dir alle Einzelheiten mitteilen.« »Wird sie bei Lady Cynthia wohnen?« Er schwieg einen Augenblick. »Nein«, sagte er schließlich. »Offensichtlich ist Miss Wolfson Lady Horowitz einmal begegnet und war nicht sonderlich beeindruckt. Sie wohnt lieber woanders. Mrs. Trelawney hat für sie eine angenehme Suite im ›The Breakers‹ gebucht.« »Scheint mir, als hätte Mrs. Trelawney die meiste Arbeit erledigt«, meinte ich. »Was ist mit dem Bestattungsunternehmen? Wird Angus auf Eis gelegt und für den Versand verpackt?« Mein Vater seufzte. »Das sind nicht Worte, die ich benutzt hätte. Miss Wolfson besteht auf Verbrennung. Sie sagt, das sei der Wunsch ihres verstorbenen Bruders gewesen; er habe das auch in seinem letzten Willen festgelegt. Sie wird seine Asche nach Boston mitnehmen.« »Wie hat sie sich verhalten?« »Sie wirkte bemerkenswert beherrscht. Als ob sie schon seit geraumer Zeit einen Anruf wie den meinen erwartet hätte. Sehr kühl, sehr förmlich. Eine typische Bostonerin. Sie behandelte mich auf eine Weise, die ich nur als herablassend bezeichnen kann.« »Also gut, ich werde Miss Wolfson abholen und begleiten. Wie lange will sie bleiben?« 188
»So kurz wie möglich. Sie hofft, am Mittwoch nach Boston zurückkehren zu können.« »Ich bin nicht sicher, daß die Polizei die Leiche so schnell freigeben wird. Ich werde das morgen früh mit Sergeant Rogoff besprechen.« »Das wäre klug. Die andere Sache, über die ich mit dir reden wollte, ist der Diebstahl von Lady Horowitz' Briefmarken und die Ermordung von Bela Rubik. Wie kommen die Ermittlungen voran?« Ich erzählte ihm von Kenneth Bodin und Sylvia, Hilda Lantern und dem Versuch, die Inverted Jennies an einen Händler in Palm Aire zu verkaufen, der erklärte, daß es sich um Fälschungen handle. Mein Vater wirkte betroffen. »Ich glaube, uns täte noch ein Glas gut, Archy«, sagte er. Während ich einschenkte, stand er auf und ging zu dem Tischchen mit den Tabakspfeifen. Er begann eine zu stopfen, den Rücken mir zugewandt. »Hast du Lady Horowitz erzählt, daß ihre Briefmarken eine Fälschung sind?« »Nein.« »Warum nicht?« fragte er scharf. »Weil ich nicht sicher weiß, ob es Fälschungen sind. Wenn die Inverted Jennies wiedergefunden sind, können Experten sie untersuchen.« Er kam wieder zu seinem Sessel zurück und entzündete die Pfeife. Ich wertete das als Signal, meinerseits eine Zigarette anzünden zu können, und tat das. »Aber wenn die Briefmarken nun nicht wieder aufgefunden werden?« fragte er. »Ich denke, das werden sie«, versicherte ich und setzte hinzu, Sergeant Rogoff habe die Händler längs der Goldküste informiert. »Ich hoffe, er hat Erfolg«, sagte mein Vater, der sich beruhigte, während er paffte. »Der Grund, warum ich so besorgt bin, ist, daß 189
Lady Horowitz jetzt hartnäckig darauf drängt, den Verlust als Versicherungsfall zu melden. Sie hat das heute morgen wieder gefordert. Aber wenn die Briefmarken Fälschungen sind, kann keine Schadensersatzforderung über eine halbe Million Dollar gestellt werden.« »Kannst du sie noch eine Weile hinhalten? Wenn die Briefmarken wiederbeschafft sind und sich als Fälschungen erweisen, kann sie in der Tat keinen Schadensersatz fordern. Wenn ihre Echtheit bestätigt wird, kann sie ebenfalls keinen Schadensersatz fordern, da sie sie wiederbekommen hat.« »Ja, das ist wahr«, meinte er. »Ich werde versuchen, sie dazu zu überreden, daß sie mit der Forderung wartet. Aber sie ist eine sehr willensstarke Frau.« »Das weiß ich sehr wohl«, sagte ich. »Aber an diesem Fall beschäftigt mich noch etwas anderes, Vater, und ich wüßte gern deine Meinung dazu.« Er nickte. Ich schilderte die leidenschaftliche Umarmung zwischen Angus Wolfson und Kenneth Bodin, deren Zeuge ich in der Nacht von Lady Cynthias Party gewesen war. Dann berichtete ich, wie Wolfson gefunden worden war: nackt, die Kleider ordentlich zusammengelegt, ein unbenutztes Kondom in der Jackentasche. Das waren Einzelheiten, die ich meinem Vater bisher nicht erzählt hatte, und er hörte aufmerksam zu. »Willst du damit sagen«, fragte er, als ich fertig war, »daß der Chauffeur Angus Wolfson ermordet hat?« »Ich sehe das als eine Möglichkeit.« »Hast du Sergeant Rogoff informiert?« »Ja.« »Und was war seine Reaktion?« »Sofort kam gar nichts. Aber da ich ihn kenne, bin ich sicher, daß er daran arbeitet. Wenn er freilich keinen Zeugen findet oder 190
wenn Bodin kein Geständnis ablegt, bezweifle ich, daß er daraus einen Mordfall machen kann. Dann wird er es als Selbstmord abhaken und die Akte schließen.« Mein Vater versank in ein Grübeln, und ich wartete geduldig. »Ich hoffe, Rogoff schließt die Akte«, sagte er schließlich. »Wozu sollte es gut sein, die Vergangenheit des armen Mannes publik zu machen? Er ist jetzt tot. Ich lege keinen Wert darauf, die Einzelheiten seines Lebens in der Sensationspresse ausgewalzt zu sehen.« Er überraschte mich. »Du würdest einen Mörder entkommen lassen?« fragte ich. »Wenn er ermordet wurde. Du bist dir nicht sicher, und nach dem, was du sagst, wird die Polizei einen Mord nicht beweisen können.« »Vielleicht doch«, widersprach ich. »Etwa wenn der Bericht des Gerichtsmediziners auf einen Kampf hindeutet.« Er schaute mich ernst an. »Archy, benutze deinen gesunden Menschenverstand und laß dich nicht von deinem Wunsch nach Gerechtigkeit leiten. Mir scheint, daß dies eine Angelegenheit ist, die unter den Teppich gekehrt werden sollte. Wir machen uns im Lauf unseres Lebens alle schuldig, durch die Handlungen, die, wenngleich nicht ungesetzlich, so doch moralisch verwerflich sind und die wir ganz gewiß nicht veröffentlicht haben wollen.« Ich war schockiert. Mein Vater ist normalerweise der gesetzestreueste Mensch, jetzt aber schien mir seine Argumentation wirr. Ich konnte dieses Abweichen von seinen Grundsätzen nicht verstehen. »Mord ist illegal«, erinnerte ich ihn. »Dessen bin ich mir wohl bewußt«, erwiderte er. »Ich versuche dir nur zu verdeutlichen, daß das Gesetz manchmal hinter dem Anstand und dem Schutz menschlicher Würde zurückzustehen hat. Ich gebe zu, daß das ein schöner Satz ist, aber es gibt eine Grauzone, in der die Rechte der Gesellschaft mit den Rechten des Individuums in Konflikt geraten. Versuche nicht, bei der Verteidigung 191
der Gesellschaft zu streng zu sein. Vielleicht kommt der Tag, Archy, an dem du für dich selbst um Gnade bittest, statt um Gerechtigkeit.« Ich kehrte in mein Zimmer zurück, mir wohl bewußt, daß es mir allein die Großzügigkeit meines Vaters erlaubte, einen schicken Sportwagen zu fahren und junge Damen zum Essen auszuführen. Ich rief Jennifer Towley an und weckte sie zu meinem Bedauern auf. »Tut mir leid«, sagte ich. »Ganz ehrlich. Bitte, leg dich sofort wieder hin. Ich rufe dich morgen an.« »Nein, nein«, erwiderte sie. »Ich bin jetzt wach, und ich hab' seit Freitag nicht mehr mit dir gesprochen.« »Gewiß«, stimmte ich zu. »Wie wär's denn morgen mit einem Abendessen?« Pause. Dann: »Oh, ich kann nicht, Archy. Es tut mir leid, aber ich hab' einer Kundin zugesagt, daß sie kommen und einen Stoff für ihre Louis-Soundsoviel-Couch aussuchen kann.« »Pech«, sagte ich. »Kann ich dich denn morgen sehr spät anrufen? Vielleicht ist dir zu fortgeschrittener Stunde nach einer kleinen Erfrischung im Pelican Club zumute.« »Nun ja«, meinte sie zweifelnd. »Ich müßte gegen neun fertig sein.« »Ich werde anrufen«, versprach ich. »Schlaf gut, Liebes.« »Du auch«, murmelte sie. Dieses Mal fügte sie nicht ›Liebling‹ hinzu. Sie legte auf, und ich saß da, den stummen Telefonhörer in der Hand. Erst nach einer Weile gelang es mir, mich zu überreden, daß sie den Abend wirklich mit einer Kundin verbringen werde, um über den Bezug einer Couch zu sprechen.
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achdem mein Vater am Dienstagmorgen zur Arbeit aufgebrochen war, begab ich mich in sein Arbeitszimmer und setzte mich hinter seinem großen, lederbezogenen Schreibtisch in seinen Drehsessel und fühlte mich wie ein Thronfolger. Mein erster Anruf galt Mrs. Trelawney. Sie nannte mir Nummer und Ankunftszeit von Miss Roberta Wolfsons Flug aus Boston, ebenso die Nummer der Suite im ›The Breakers‹, die für sie reserviert worden war. »Diese Kosten werden der Firma direkt in Rechnung gestellt«, erklärte Mrs. Trelawney. »Sollten weitere Kosten anfallen, bezahlen Sie die bitte mit Ihrer Kreditkarte und setzen sie auf Ihre nächste Schwindelspesenabrechnung.« »Seien Sie gesegnet«, erwiderte ich, »ich werde Sie aus Saint-Tropez anrufen.« Dann rief ich beim ›The Breakers‹ an und veranlaßte, daß in Miss Roberta Wolfsons Suite frische Blumen gestellt wurden. Ich fand, es gebe keinen Grund, knauserig zu sein, wenn Lady Horowitz die Rechnung übernahm. Mein dritter Anruf galt Al, der ungemein griesgrämig klang. Daraus schloß ich, daß er an diesem Morgen noch nicht seine vierte Tasse Kaffee getrunken hatte. »Irgendwas Neues über Wolfson?« fragte ich. »Etwas«, gab er zu. »Der Doktor sagt, er sei ertrunken. Das stimmt. Aber er war mit schmerzstillenden Mitteln vollgepumpt. Du hast mir erzählt, daß du ihn für krank hieltest. Vielleicht ist er um Mitternacht schwimmen gegangen und konnte gegen die Unterströmung nicht ankämpfen. Der Doktor sagt, daß das Zeug, das 193
er nahm, ihn geschwächt haben könnte.« »So ist es nicht passiert, Al«, widersprach ich. »Wolfson konnte nicht schwimmen. Das haben mir die DuPeys erzählt. Er hätte nie ein Bad genommen, ganz sicher nicht nachts im Meer.« »Dann war es eindeutig Selbstmord«, meinte er. »Sei nicht so sicher«, sagte ich. »Was ist mit den Prellungen?« »Der Doktor sagt, sie könnten durch die Brandung entstanden sein.« »Und die Kratzer, die aussahen, als seien sie durch Fingernägel verursacht worden?« »Er hat sich möglicherweise selbst gekratzt.« »Habt ihr den Strand abgesucht?« »Natürlich«, sagte er säuerlich. »Eine Meile nach Norden und eine nach Süden. Nichts. Übrigens, Wolfson hatte eine Operationsnarbe am Bauch. Der Doktor schätzt, daß die Operation vor etwa einem Jahr stattgefunden hat. Er konnte nicht eindeutig sagen, was da gemacht worden ist.« »Aber Wolfson ist ertrunken?« »Das sicher.« »Al, könnte er nicht unter Wasser gezogen worden sein?« »Was ist mit dir los, Archy?« wollte er wissen. »Du versuchst dem Chauffeur einen Mord anzuhängen, nicht wahr? Was hast du gegen den Burschen?« »Bodin ist ein Taugenichts. Ich weiß das einfach.« »Wundervoll. Ich gehe zu meinem Chef und sage ihm, daß ich Bodin wegen Mordes verhaften werde, weil Archibald McNally sagt, er sei ein Taugenichts. Würdest du bitte, um Gottes willen, vernünftig reden?« »Ich denke, du hast recht«, seufzte ich. »Vielleicht versuche ich nur, die Sache zu dramatisieren.« »Du versuchst die Dinge zu komplizieren. Das machst du. Wie gewöhnlich.« 194
Ich teilte ihm mit, daß die nächste Angehörige, eine Schwester, Miss Roberta Wolfson, ein paar Minuten nach Mittag auf dem Palm Beach International Airport eintreffen werde. Ich würde sie dort abholen und zum ›The Breakers‹ fahren. Sobald sie sich frisch gemacht hatte, würde ich sie zum Polizeipräsidium bringen. »Sie will die Leiche und seine persönliche Habe abholen«, sagte ich. »In Ordnung?« »Ich denke schon«, erwiderte Al langsam. »Wann, denkst du, wirst du hier sein?« »Etwa gegen zwei.« »Schön. Wenn ich nicht da bin, werde ich veranlassen, daß eine Polizistin da ist, die ihr beim Papierkram hilft.« »Und du wirst die Leiche freigeben?« »Dafür muß ich noch das Okay der Obermotze einholen, aber ich glaube nicht, daß die irgendwas dagegen haben werden. Ich glaube noch immer, daß es Selbstmord war, und als das werde ich's auch verkaufen.« »Al, es ist nur die Zweideutigkeit, die mich stört.« »Zweideutigkeit? Wenn du damit nicht leben kannst, solltest du dir wirklich einen anderen Beruf suchen.« Zuletzt rief ich die Fluggesellschaft an, mit der Roberta Wolfson flog. Man sagte mir, die Maschine sei pünktlich. Ich hatte mich so konservativ angezogen, wie es meine Garderobe erlaubte: marineblauer leichter Kammgarnanzug, weißes Hemd, kastanienbraune Krawatte, schwarze Slipper. Ich stopfte sogar ein weißes Taschentuch in die Brusttasche meiner Jacke. Mein anspruchsvoller Vater wäre stolz auf mich gewesen. Ich fand, daß der knallrote Miata für diesen Anlaß ein wenig zu schrill sei. Deshalb fuhr ich zur Garage des Büros und stieg auf den schwarzen Ford Escort um. Ich hätte mir keine Gedanken machen müssen. Roberta Wolfson erwies sich als eine derart beherrschte Frau, daß ich glaube, sie hätte es auch hingenommen, wenn ich mit 195
einer zweispännigen Kutsche vorgefahren wäre. Ich traf so rechtzeitig am Flughafen ein, daß ich ihren Flieger zum Flugsteig rollen sah. Ich wartete darauf, daß die Passagiere ausstiegen, und hoffte, es werde nicht nötig sein, sie ausrufen zu lassen. Das war's nicht. Alle anderen trugen T-Shirts und Bermudas, und dann tauchte eine große, stattliche Dame auf. Ich näherte mich ihr. »Miss Roberta Wolfson?« fragte ich. »Das bin ich«, erwiderte sie mit tiefer, volltönender Stimme. »Und wer sind Sie, junger Mann?« »Archibald McNally. Ich glaube, Sie haben gestern mit meinem Vater gesprochen.« Ich zückte eine Visitenkarte. Sie trug ein leichtes Tweedkostüm, dazu passende Schuhe und unter der Jacke ein mit Rüschen besetztes Jabot mit hohem Spitzenhalsbändchen. Um ihren Hals hing ein goldgefaßtes Pincenez. Sie benutzte die kleine Brille, um meine Karte zu mustern. »McNally und Sohn, Rechtsanwalt«, las sie laut. Sie erfaßte es auf Anhieb. »Zwei Personen, ein Anwalt. Wer ist es?« »Mein Vater.« Sie verlangte keine weiteren Auskünfte, wofür ich dankbar war. »Miss Wolfson«, fuhr ich fort, »ich möchte Ihnen zum Tode Ihres Bruders das Beileid meines Vaters und auch meines ausdrücken.« »Danke«, erwiderte sie. »Ich weiß das zu schätzen. Können wir jetzt gehen?« Ich versuchte, ihr die große Tasche abzunehmen, die sie mit sich schleppte, aber sie wollte sie nicht loslassen. Also gingen wir zu dem Escort. Sie machte keine Bemerkung über die Hitze, was überraschend war. Normalerweise sagen ankommende Besucher: »Uff!« Während wir ostwärts fuhren, schaute sie sich interessiert um. »Ist das Palm Beach?« »West Palm Beach, Miss Wolfson.« »Erzählen Sie mir etwas über diese Gegend.« 196
»Wir befinden uns in Palm Beach County. Dies ist die Stadt West Palm Beach auf dem Festland. Wir fahren zur Insel Palm Beach, die durch den Lake Worth vom Festland getrennt ist. Über den See führen Brücken. Außerdem gibt es North Palm Beach und South Palm Beach.« »Aber kein East Palm Beach?« »Nein. Im Osten ist nur der Atlantik.« »Und wie viele Einwohner hat Palm Beach?« »Zu dieser Jahreszeit, also außerhalb der Saison? Etwa zehntausend.« »Und während der Saison?« »Millionen«, sagte ich, und sie lachte zum ersten Mal, ein angenehmes, kehliges Geräusch. Wir sprachen erst wieder, als wir ›The Breakers‹ erreichten, diese großartige Erinnerung an vergangene Zeiten. Ich überließ den Wagen dem Parkservice und begleitete Miss Wolfson zum Empfang, wo sie sich eintrug. »Miss Wolfson«, fragte ich, »möchten Sie zu Mittag essen, bevor ich Sie zu Ihren Verabredungen fahre?« »Nein danke. Ich habe im Flugzeug gefrühstückt.« »Das war sicher nicht sehr befriedigend.« Sie sah mich an, als ob ich wahnsinnig sei. »Natürlich habe ich mein eigenes Essen mitgebracht. Joghurt, ein Gurkensandwich und Kräutertee, den die Stewardess mir freundlicherweise aufgebrüht hat. Aber ich würde gern ein Glas Sherry trinken, wenn ich mich frisch gemacht habe.« »Natürlich«, erwiderte ich. »Ich schlage vor, wir treffen uns in der Alcazar Lounge. Das Hotelpersonal wird Ihnen gern zeigen, wo sie ist.« »Ich werde nicht lange brauchen.« Sie ging, noch immer ihre Tasche schleppend. Sie weigerte sich, sie dem Hotelboy zu übergeben. 197
Ich schlenderte zur Alcazar Lounge und setzte mich an der Bar auf einen Hocker. Ich bestellte bei einem gutaussehenden Barmädchen einen Wodka-Tonic mit Limone. Ich hatte knapp die Hälfte meines Drinks zu mir genommen, als Miss Wolfson auftauchte. Ich stieg vom Barhocker und fragte, ob sie an einem Tisch sitzen wolle. »Nein.« Sie schwang sich mit einer geübten Bewegung auf den Hocker neben meinem, was mich auf den Gedanken brachte, daß Barhocker ihr nicht unvertraut waren. Sie bestellte ein Glas Harvey's Bristol Cream, nahm einen kleinen Schluck, als es serviert worden war, und nickte zustimmend. Sie schaute durch die Panoramafenster aufs Meer hinaus, äußerte sich aber nicht zu der Schönheit dieses Bildes. Schließlich kam sie ja aus Boston und hatte den Atlantischen Ozean schon früher gesehen – wenn auch nicht von Palmen umrahmt. »Miss Wolfson«, sagte ich, »sind Sie mit Ihrer Unterkunft zufrieden?« »Sehr. Die Blumen sind wundervoll. War das Ihre Idee?« Ich nickte. »Sie sind ein sehr netter junger Mann.« Sie nahm wieder einen Schluck von ihrem Sherry. »Danke«, erwiderte ich, froh darüber, daß diese echte Bostonerin mich nicht für einen Bauern hielt. »Miss Wolfson, ich würde Ihnen gern eine Frage, Ihren Bruder betreffend, stellen, aber wenn es Sie bekümmert, über ihn zu sprechen, werde ich nichts mehr sagen.« »Das bekümmert mich nicht. Kannten Sie Angus?« »Flüchtig. An ihm war einiges bewundernswert.« Sie schaute mich mit einem ironischen Lächeln an. »Und viel, was nicht bewundernswert war, dessen bin ich sicher. Mein Bruder war ein schwieriger Mann, Mr. McNally. Er wäre der letzte gewesen, der das geleugnet hätte. Was wollten Sie fragen?« »War er krank?« »Todkrank. Vor einem Jahr wurde er wegen Prostatakrebs ope198
riert. Die ganze Geschwulst konnte nicht entfernt werden, da sonst vielleicht andere Organe beschädigt worden wären. Aber der Arzt meinte, daß sein Leben durch Bestrahlung und Chemotherapie verlängert werden könne. Angus hingegen sperrte sich gegen eine Behandlung.« Ich war entsetzt. »Warum hat er das getan?« »Er sagte, es sei unwürdig. Er sagte, er habe gut gelebt und es sei demütigend zu versuchen, das Leben wegen ein paar elender Jahre mit medizinischen Mitteln zu verlängern. Man hat ihm gesagt, daß er ohne Behandlung wahrscheinlich binnen eines Jahres sterben werde. Er hat das akzeptiert.« Ich leerte meinen Drink mit zwei Schlucken und bestellte noch einen, dazu einen zweiten Sherry für Miss Wolfson. Sie erhob keine Einwände. »Ja«, sagte ich, »das klingt typisch für ihn. Er war ein tapferer Mann.« »War er das? Möglicherweise. Ganz sicher war er ein törichter Mann, weil er den Schmerz unterschätzt hat, obwohl die Ärzte ihn gewarnt hatten. Der Schmerz wurde stärker. Die Medikamente verloren ihre Wirkung, bis er ständig Qualen litt, wie ich glaube.« »Es muß sehr schwer für Sie gewesen sein.« Sie zuckte kaum wahrnehmbar die Schultern. »Ich habe meine Eltern während ihrer langen Krankheit gepflegt. Ich bin gegen Leiden abgehärtet.« Ich glaubte ihr keinen Augenblick. Sie ist eine Frau, dachte ich, die sich an ihren Verstand klammert. Und vielleicht an eine Flasche Sherry. »Dann war sein Selbstmord wirklich kein Schock für Sie?« fragte ich. »Überhaupt nicht.« Sie trank ihren Sherry jetzt schneller. »Ich war überrascht, daß das nicht früher geschah. Er hat häufig davon gesprochen. Ich habe nicht versucht, es ihm auszureden. Er hätte das als Einmischung betrachtet. ›Wer kann den Schmerz eines anderen 199
empfinden?‹ sagte er einmal.« »In der Tat«, erwiderte ich, »wer kann das? Miss Wolfson, ich denke, wir trinken besser aus und machen uns auf den Weg. Ich habe mir die Freiheit genommen, der Behörde mitzuteilen, daß wir gegen zwei Uhr bei ihr sind.« »Natürlich.« Sie leerte ihr Glas. Ihre Stimme war noch immer klar, und sie ließ durch nichts erkennen, daß sie in kurzer Zeit zwei Gläser Sherry getrunken hatte. Wir fuhren langsam zum Polizeipräsidium, wobei ich sie auf Sehenswürdigkeiten aufmerksam machte und sie intelligente Fragen stellte. Ich hoffte, daß, wenn ich in ihrem Alter war, ich meinen Schnaps auch so gut wegdrücken konnte wie sie ihren Sherry. »Übrigens«, bemerkte ich so beiläufig wie möglich, »Lady Horowitz hat sich bereit erklärt, die Kosten Ihrer Reise nach Palm Beach zu übernehmen, außerdem sämtliche Bestattungskosten.« Ihr Gesichtsausdruck änderte sich kaum merklich, und ich hatte das Gefühl, daß diese Neuigkeiten für sie eine große Erleichterung waren. Doch die einzigen Worte, die sie ausstieß, waren ein gemurmeltes: »Schreckliche Frau.« Al war nicht da, um uns zu begrüßen, aber wir wurden zu einer Polizeibeamtin geführt, die ich kannte, Tweeny Alvarez. Al hätte keine bessere Frau zu Roberta Wolfsons Unterstützung wählen können, da Tweeny leise sprach und ›muy simpática‹ war. »Sie sind in guten Händen«, versicherte ich Miss Wolfson. »Ich gehe jetzt in mein Büro. Rufen Sie mich bitte an, wenn Sie ins Hotel zurück wollen oder irgendwohin gebracht werden müssen. Ich stehe Ihnen zur Verfügung.« »Sie sind sehr freundlich«, erwiderte Miss Wolfson leise. Um die Wahrheit zu sagen, ich war erleichtert darüber, daß ich nicht dabei war, als sie die Leiche identifizierte und Vorbereitungen für die Einäscherung ihres Bruders traf. Als ich in mein Büro kam, fand ich eine Nachricht von Evelyn 200
Sharif vor: »Habe eine Antwort auf Ihre Anfrage. Schauen Sie vorbei. Evelyn.« Ich trabte die Treppe zu der Immobilienabteilung hinunter, wo ich Mrs. Sharif bei einer Art esoterischer Körperübung antraf. »Das stärkt die Bauchmuskulatur«, informierte sie mich. »Bleiben Sie dran«, erwiderte ich, »dann können Sie Ihre Zwillinge auf dem Fax absetzen. Was haben Sie über das Anwesen bei Manalapan herausgefunden?« »Interessante Geschichte.« Sie begab sich hinter ihren Schreibtisch und begann einen Stapel Notizen zu durchwühlen. »Ende der fünfziger Jahre kam ein pensioniertes Paar aus Michigan hierher. Sie hatten eine Menge Geld. Er hatte ein Vermögen mit der Herstellung transportabler Toiletten gemacht. Sie kauften das unbebaute Land zwischen dem Meer und dem See und ließen sich ein Haus bauen, das sie Hillcrest nannten. Der Mann starb in den siebziger Jahren und die Witwe vor etwa drei Jahren. Sie hatten zwei erwachsene Kinder, die eine schöne Stange Geld erbten. Aber das Haus und das Grundstück gingen an ein kleines College in Ohio, wo die Frau studiert hatte. Die Kinder fochten dieses Legat an. Sie wollten das Haus als Ferienhaus für ihre Kinder. Da der Rechtsstreit seit fast drei Jahren läuft und niemand dort gewohnt hat, wurde das Haus baufällig, praktisch eine Ruine. Vor einem Jahr jedoch kamen die streitenden Parteien überein, das Haus bis zur Gerichtsentscheidung mit monatlicher Kündigungsfrist zu vermieten. Das ist der jetzige Stand der Dinge.« »Wie hoch ist die monatliche Miete?« fragte ich. »Fünftausend.« »Das ist billig für diesen Laden, auch wenn er schäbig aussieht. Wer ist jetzt der Mieter?« Sie befragte wieder ihre Notizen. »Eine alleinstehende Frau, Clara Bodkin. Sagt Ihnen der Name etwas?« »Absolut nichts«, log ich aalglatt. »Hab' ich noch nie gehört. Vie201
len Dank, Evelyn. Sie haben Ihre Arbeit wie immer super erledigt.« »Dann erzählen Sie das mal Ihrem Papi«, erwiderte sie nur halb scherzend. »Das werde ich«, versprach ich. Ich lachte erst, als ich wieder in meinem Büro war. Clara Bodkin, unglaublich! Lady Cynthias Hausmädchen konnte sich fünftausend im Monat ebenso wenig leisten wie ich. Es war offensichtlich, daß Lady Horowitz das Anwesen unter dem Namen ihres Mädchens gemietet hatte. Ein alberner Betrug – aber andererseits hatte sie nicht erwartet, daß ein Schnüffler wie ich sich umschauen würde. Es dauerte mindestens neunzig Minuten, bevor Roberta Wolfson anrief. Ich verbrachte die Zeit damit, mir alles zu vergegenwärtigen, was sie mir über die Krankheit ihres Bruders und seinen Geisteszustand erzählt hatte. Ich kam zu dem Schluß, daß ich mich geirrt und Al recht gehabt hatte. Angus Wolfson hatte den Gang ins Meer absichtlich angetreten. Und unter den gegebenen Umständen konnte man ihm deshalb kaum einen Vorwurf machen. Gewöhnlich sagen Menschen über Selbstmörder: »Er hatte doch noch das ganze Leben vor sich.« Von Angus Wolfson konnte man das schwerlich behaupten. Nachdem seine Schwester angerufen hatte, fuhr ich zum Polizeipräsidium zurück. Dieses Mal aber nahm ich den Miata, da ich das Temperament der Dame inzwischen kannte. Miss Wolfson wartete auf dem Bürgersteig auf mich und betrachtete mein Gefährt mit einigem Erstaunen. »Besitzen Sie zwei Wagen, Mr. McNally?« fragte sie. »Nein. Der schwarze Escort gehört der Firma. Der Miata gehört mir.« »Sehr hübsch«, meinte sie und rutschte in den Schalensitz. Auf der Rückfahrt zum ›The Breakers‹ sagte ich: »Ich hoffe, alles ist so gelaufen, wie man es unter diesen Umständen erwarten kann.« »O ja«, erwiderte sie. »Die Leute waren sehr hilfsbereit. Und mit 202
Frau Alvarez hatten Sie völlig recht. Sie ist ein Schatz. Sie bestand darauf, mich zum Bestattungsunternehmen zu fahren. In einem Polizeiwagen – das muß man sich mal vorstellen!« Überraschend lachte sie. »Das muß ich meinen Freunden in Boston erzählen, daß ich in einem Polizeiwagen vor einem Bestattungsunternehmen vorfuhr! Die werden sehr amüsiert sein. – Jedenfalls«, fuhr sie fort, »ist alles geregelt. Angus wird heute abend eingeäschert werden, und seine Asche wird morgen früh ins Hotel gebracht.« Sie sagte das ganz sachlich. Ich habe die Erfahrung gemacht, daß Frauen mit Krankheit und Tod viel besser umgehen können als Männer. Aber ich muß sagen, daß Roberta Wolfsons Verhalten von einer Kaltblütigkeit war, die ich irgendwie abstoßend fand. Wir hielten vor dem Hotel. »Miss Wolfson«, sagte ich, »darf ich Sie heute abend zum Essen einladen?« »Nein. Vielen Dank, aber nein. Es war ein langer, anstrengender Tag, und ich will mir das Essen aufs Zimmer bringen lassen, ein paar Briefe schreiben und dann zu Bett gehen.« »Wie Sie wünschen. Dann komme ich morgen um eins, um Sie zum Flughafen zu fahren.« »Um eins? Aber meine Maschine geht um zwei.« »Eine Stunde genügt völlig, um zum Flughafen zu kommen.« »Ich ziehe es vor, nichts zu riskieren«, sagte sie bestimmt. »Ich schlage vor, wir brechen mittags auf.« »Gut«, stimmte ich zu. »Ich werde um zwölf hier sein.« Sie legte eine Hand auf meinen Arm. »Ich weiß das alles sehr zu schätzen, was Sie für mich tun, junger Mann.« »Ich freue mich, wenn ich Ihnen behilflich sein kann. Schlafen Sie gut.« »Die Absicht habe ich«, erwiderte sie entschlossen, und ich zweifelte nicht daran, daß sie gut schlafen würde. Ich fuhr nach Hause, schwamm meine zwei Meilen und erstattete 203
nach dem Abendessen meinem Vater Bericht über die Ereignisse des Tages. Er hörte aufmerksam zu. »Dann bist du davon überzeugt, daß Angus Wolfson Selbstmord begangen hat?« fragte er, als ich geendet hatte. »Ja.« »Freut mich, das von dir zu hören, Archy. Es hat genug Geschwätz und Gerüchte über diese Geschichte gegeben. Wie nimmt Miss Wolfson das alles auf?« »Bemerkenswert gut. Eine unerschütterliche Dame.« »Ja. Ich habe einen Freund in Boston angerufen, um mich nach ihrer Familie zu erkundigen. Sie kommt aus sehr gutem Hause. So etwas ist angeboren.« Ich verzog mich in meine Suite unter dem Dach, um eine Stunde lang Tagebuch zu führen, bis es Zeit war, Jennifer Towley anzurufen. Die Ereignisse des Tages waren ermüdend gewesen, und ich brauchte dringend Entspannung. Ein wundervoller Abend mit Jennifer schwebte mir vor. Doch das sollte nicht sein. Sie kam völlig aufgelöst und den Tränen nah ans Telefon. »Was ist los?« fragte ich. »Nichts. Oder alles. Ich glaube, es ist besser, wenn ich dich heute abend nicht sehe, Archy.« »Das glaube ich aber doch. Ich kann gut zuhören.« Einen oder zwei Herzschläge lang sagte sie nichts. Dann: »Ja, ich brauche ein verständnisvolles Ohr. Kommst du bald?« »Ich fahre gleich los.« Ich raste zu ihrer Wohnung, wobei ich über den Grund ihres Kummers nachdachte. Das hatte etwas mit ihrem Ex-Mann zu tun, daran zweifelte ich nicht. In mir wuchs die Erkenntnis, daß sie ebenso süchtig war wie er – selbstredend in anderer Hinsicht. Ich wußte sofort, daß sie geweint hatte: die Augen geschwollen, 204
zerknüllte Papiertaschentücher in einer Faust. Wir saßen einander in ihrem dunklen Wohnzimmer gegenüber. Sie bot mir nichts zu trinken an, und ich wollte nichts. »Ich habe dich belogen«, sagte sie auf einmal. »Ich habe den Abend nicht mit einer Kundin verbracht. Ich habe mit Tom zu Abend gegessen, und dann sind wir hierher gegangen, um zu reden. Nur zum Reden. Er ist erst vor ein paar Minuten gegangen.« »Er will wieder zu dir?« »Ja. Archy, er hat geweint, er hat wirklich geweint. Er hat da gesessen, wo du jetzt sitzt, und er hat herzerweichend geweint.« »Und du auch«, meinte ich. »Eine tränenreiche Zusammenkunft.« »Ich hab' erst geweint, als er fort war. Ich war stolz darauf, mich beherrscht zu haben, solange er hier war. Aber danach, als er fort war, ging's nicht mehr. Mein Gott, ich weiß nicht, was ich tun soll.« »Jennifer, ich kann dir das nicht sagen. Das kann niemand. Du mußt die Entscheidung treffen. Das weißt du. Hat er etwas über seine Spielleidenschaft gesagt?« »Er sagte, er habe seit seiner Entlassung nicht mehr gespielt. Er hat das fest überzeugt gesagt, hat unbedingt gewollt, daß ich ihm glaube.« »Und glaubst du ihm?« fragte ich. Thomas Bingham war in der Tat ein großartiger Verkäufer. »Ich weiß nicht, was ich glauben soll. In meinem Kopf dreht sich alles. Alles läuft durcheinander. Archy, bitte, hilf mir.« Ich beugte mich vor, um ihre Hand zu nehmen. In diesem Augenblick wußte ich, daß ich nicht gewinnen konnte. Wenn ich ihr erzählte, daß ihr Ex so heftig wie immer spielte, hätte sie ihn vielleicht sausen lassen – aber sie hätte auch geglaubt, ich hätte aus Eifersucht gehandelt und sie eines möglichen Glücks beraubt. Denn was hatte ich zu bieten? Es war ein recht freudloser Tag gewesen, und ich war ziemlich ge205
schafft, körperlich und seelisch. »Jennifer«, sagte ich schließlich, »ich kann dir nicht helfen. Ich wünschte, ich könnte das, aber ich kann's nicht. Es ist dein Leben, und du mußt entscheiden, wie du es leben willst.« Sie versuchte zu lächeln. »Ja«, erwiderte sie, »natürlich. Ich benehme mich wie ein Einfaltspinsel. Ich bin für mein Leben verantwortlich, nicht wahr?« »Ganz bestimmt«, sagte ich. »Und du mußt entscheiden, was für dich das Beste ist. Denke dabei nicht an die Wünsche oder Bedürfnisse von Thomas Bingham oder Archibald McNally. Entscheide, was du wirklich willst – und handle dann danach.« Sie nickte stumm, und ich stand auf, um zu gehen. Es gab nichts mehr zu sagen. Stunden später, als ich wach im Bett lag und darauf wartete, daß der Schlaf kam, erinnerte ich mich plötzlich daran, daß Lady Cynthia und Connie Garcia mich Wochen zuvor darauf hingewiesen hatten, daß Jennifer Towley ein Problem für mich werden würde. Wie konnten sie das wissen? Wie wissen Frauen so etwas im voraus?
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A
m Mittwochmorgen, während ich ziemlich spät, etwa gegen zehn Uhr, mit Jamie Olson in der Küche frühstückte, rief Al an. »Hallo, Sherlock«, sagte er munter, »wir haben das große Los gezogen, ohne überhaupt eins gekauft zu haben. Gerade erhielt ich den Anruf eines Briefmarkenhändlers aus Stuart. Heute, am frühen Morgen, kam ein Traummädchen zu ihm hereingeschneit, kaum 206
daß er den Laden geöffnet hatte, und versuchte, ihm einen Block von vier Inverted-Jenny-Marken zu verkaufen. Er beschrieb sie als jung, blond, hübsch. Scheint, als handle es sich um unseren Vogel.« »Richtig. Das muß Sylvia sein.« »Sie verlangte eine halbe Million für die Briefmarken. Der Händler hat zu ihr gesagt, er müsse sehen, ob er den Schotter auftreiben könne. Sie solle gegen Mittag wiederkommen. Sie sagte, das werde sie. Ich selbst hab' auch gerade mein Blauzeug gewechselt und mach' mich auf die Socken. Ich werde im Laden einen Verkäufer spielen, und die anderen übernehmen die Sicherung. Wie klingt das?« »Toll. Gute Jagd, Al, und ruf mich an, sobald die Sache vorbei ist.« »Ja doch. Ich hätte dir noch was anderes zu erzählen, aber das kann warten.« Er legte auf, und ich beendete mein Frühstück. Al war ein cleverer Bulle, und ich war zuversichtlich, daß er Sylvia in flagranti ertappte bei dem Versuch, gestohlenes Eigentum zu verkaufen. Aber was dann? Würde sie reden oder nicht? Ich schätzte, sie hatte Erfahrung genug, sich auf einen Handel mit dem Staatsanwalt einzulassen, und hoffte, daß sie Kenneth Bodin verpfiff. Ich hatte noch Zeit, bevor ich zu ›The Breakers‹ fahren mußte, um Roberta Wolfson abzuholen. Deshalb spazierte ich zum Gewächshaus, wo meine Mutter eine Gießkanne schwenkte und zufrieden vor sich hin summte. »Guten Morgen, Mutter«, sagte ich. »Tut mir leid, daß ich verschlafen habe. Hattest du eine gute Nacht?« »Eine ausgezeichnete. Und jetzt gib mir einen Kuß.« Sie neigte mir ihr Gesicht zu, und ich küßte sie auf eine Wange. »Danke«, sagte sie. »Ich sage immer, man soll den Tag mit einem Kuß beginnen. Das bringt Glück.« Ich lachte. »Wer hat dir denn das erzählt?« »Niemand«, erwiderte sie kichernd. »Ich bin selbst darauf gekom207
men. Archy, triffst du dich noch immer mit dieser netten Dame, von der du uns erzählt hast? Dieser Innenarchitektin?« »Sie ist Antiquitätenhändlerin. Nun, ich treffe mich noch immer mit ihr.« »Ist es was Ernstes?« »Für mich ja«, meinte ich, ohne nachzudenken. Und dann erkannte ich plötzlich: Mir war es ernst mit Jennifer. »Aber ich bin mir nicht sicher, was sie für mich empfindet. Sie trifft sich auch mit einem anderen.« »Hast du ihr gesagt, was du für sie fühlst?« »Nein, nicht direkt.« Meine Mutter hielt in ihrer Arbeit inne und drehte sich zu mir um. »Ach, Archy«, sagte sie besorgt, »wenn es dir mit ihr ernst ist, solltest du ihr das sagen.« »Meinst du das wirklich?« »Ja. Wenn du das nicht tust, wirst du sie verlieren.« »Wahrscheinlich hast du recht. Ich werde darüber nachdenken. Danke für den Rat.« »Dafür sind Mütter da«, rief sie mir fröhlich nach. Ich dachte wirklich darüber nach – dachte, was für eine Niete ich sei, weil ich nicht von allein darauf gekommen war. Eine ernste, leidenschaftliche Liebeserklärung, gefolgt von einem Heiratsantrag, könnte Jennifers Problem und mein Dilemma sehr wohl lösen. Doch ich war mir nicht sicher, ob ich dazu bereit war. Ich liebte die Frau, liebte sie wirklich, aber ich konnte mich noch nicht entschließen, die Genüsse eines Lebemanns für die Partnerschaft mit einer einzigen Frau aufzugeben. Als ich vor dem Hotel eintraf, wartete Miss Wolfson draußen. Ich warf ihre Reisetasche auf den Rücksitz des Miata. »Seien Sie vorsichtig«, protestierte sie. »Angus ist da drin!« »Was?« »Nun ja, ich fand die Urnen in dem Bestattungsunternehmen 208
reichlich geschmacklos. Angus wäre sicher entsetzt. Ich werde in Boston etwas Passenderes finden.« »Ich verstehe. Und worin befindet sich die Asche jetzt?« »In einem Steinkrug. Aber können wir fahren?« Auf der Fahrt zum Flughafen war sie außerordentlich redselig. Sie sagte, daß das ihre erste Reise in eine Gegend mit subtropischem Klima sei und daß das Wetter, die Pflanzen, die Kleidung der Einwohner und die Farben der Häuser völlig neu für sie seien. Ihre Kommentare waren sehr kritisch. Sie registrierte sogar, daß der Schritt, mit dem die Fußgänger sich über die Straßen bewegten, erheblich langsamer als im Nordosten sei. Natürlich trafen wir reichlich früh am Flughafen ein. Wir stellten die Nummer ihres Flugsteiges fest und setzten uns dann in eine nahe gelegene Cocktaillounge, um einen Abschiedsdrink zu nehmen. Ich wählte einen Wodka Gimlet, und sie bestellte ein Glas ihres Sherrys. »Ich danke Ihnen und auch Ihrem Vater«, sagte sie. »Sie sind beide ungemein freundlich zu mir. Ich habe auch die Absicht, einen Brief an den Bürgermeister von Palm Beach zu schreiben und darin die Hilfe zu loben, die mir Frau Alvarez geleistet hat.« »Das ist sehr freundlich von Ihnen«, erwiderte ich. »Ich bin sicher, daß dieser Brief zu ihrer Akte genommen wird und ihre Karriere fördert.« »Ich finde, man sollte Ehre geben, wem Ehre gebührt«, stellte sie fest. »Ich zögere auch nicht, Kritik auszusprechen, wenn sie angebracht ist.« Das glaubte ich gerne. Ich wollte keinesfalls ein Kellner sein, der ihr lauwarmen Kaffee servierte. »Ich bedaure nur«, sagte ich, »daß wir uns unter so unglücklichen Umständen kennengelernt haben. Schlimm, daß die Ferien Ihres Bruders so enden mußten.« Ich schwöre, daß das alles war, was ich sagte. Ich hatte nicht die Absicht, irgendwelche Fragen zu stellen. Ich versuchte nur, einer äl209
teren Dame ganz konventionell mein Mitgefühl auszudrücken, einer Dame, die trotz ihres Mutes offensichtlich unter großer Anspannung stand. Doch was meine Bemerkung bewirkte, war ein Hammer. »Oh, Angus hat keine Ferien gemacht«, bemerkte sie beiläufig, »es war eine Geschäftsreise.« »Eine Geschäftsreise?« »Ja«, meinte sie und nippte an ihrem Sherry. »Lady Horowitz hatte ihm einige alte Briefmarken aus ihrem Besitz geschickt. Sie wollte, daß Angus sie in Boston schätzen ließ. Ich glaube, sie hatte die Absicht, einen privaten Käufer dafür zu finden oder sie auf eine Auktion zu geben.« »Ach? Und hat Angus sie schätzen lassen?« »Das brauchte er nicht. Mein Bruder war Antiquar und auf seinem Gebiet sehr erfahren. Er sah sofort, daß die Briefmarken, die Lady Horowitz ihm geschickt hatte, gefälscht waren.« »Gütiger Himmel«, murmelte ich. »Ja, es waren Fälschungen und die Marken daher wertlos. Welchen Gewinn sich diese unangenehme Frau von ihnen auch versprochen haben mag – er löste sich einfach in Luft auf.« Sie äußerte diese Worte mit einer gewissen Befriedigung. »Dann ist Angus also hierher gekommen, um Lady Horowitz die Briefmarken zurückzugeben und ihr die schlechte Nachricht zu überbringen?« »Kann ich noch ein Glas Sherry haben?« fragte sie, anstatt zu antworten. »Natürlich«, sagte ich, »und ich werde Ihnen Gesellschaft leisten.« Wir sprachen erst, nachdem ihr neuer Drink serviert worden war, und dann setzte sie ihre Erzählung fort. Sie wußte nichts vom Diebstahl der Inverted Jennies und hatte nicht die leiseste Ahnung von der Rolle, die ihr Bruder gespielt hatte und die ich spielte. »Ja, er reiste nach Palm Beach, um die Briefmarken zurückzuge210
ben und Lady Horowitz zu sagen, daß es sich um Fälschungen handle. Er kannte die Launenhaftigkeit dieser Frau und fürchtete, sie werde den Überbringer der Nachricht für deren Inhalt verantwortlich machen.« »Ja«, sagte ich, »das kann ich mir vorstellen.« »Jedoch«, fuhr sie fort, »alles ging gut. Angus rief mich ein paar Tage nach seiner Ankunft hier an. Er sagte, er habe Lady Horowitz bereits gesagt, daß ihre Briefmarken Fälschungen seien und sie habe das aufgenommen, ohne ungerecht zu werden. Sie habe ihn sogar eingeladen, eine oder zwei Wochen zu bleiben, damit er wieder zu Kräften käme.« »Sehr rücksichtsvoll von ihr«, lobte ich. »Miss Wolfson, ich glaube, ich habe eben den ersten Aufruf für Ihren Flug gehört. Vielleicht sollten wir uns lieber zum Flugsteig begeben.« »Gehen wir«, erwiderte sie und trank ihren zweiten Sherry aus. »Miss Wolfson«, sagte ich, »ich komme eines Tages vielleicht nach Boston. Darf ich Sie dann anrufen? Vielleicht könnten wir gemeinsam zu Abend essen.« »Sehr gern«, meinte sie lächelnd. »Sie sind ein sehr lieber junger Mann.« Und sie hauchte mir einen Kuß auf die Wange. Ich schaute zu, wie sie sich von mir entfernte, erhobenen Kopfes. Sie schleppte die Reisetasche, in der sich Angus Wolfson in einem Steinkrug befand. Ich fuhr in grüblerischer Stimmung zum McNally-Gebäude und versuchte zu verdauen, was Roberta Wolfson mir erzählt hatte. Einige der Puzzlestücke, die mich so lange irritiert hatten, begannen nun zusammenzupassen. Und das Bild, das dabei entstand, war nicht schön. In meinem Büro fand ich eine Nachricht von Al vor; er bat mich, ihn sofort anzurufen. Das tat ich eilends, ohne auch nur meinen Panama abzunehmen. »Ich hab' sie!« sagte er jubelnd. »Vollständiger Name: Sylvia Mont211
grift. Und weißt du, was? Sie hat eine Akte. Wußtest du das?« »Nein«, log ich. »Was hat sie verbrochen?« »Sie hat einen unlizensierten Massagesalon betrieben. Die Bullen in West Palm Beach haben ihren Laden dichtgemacht. Sie ist mit einer Bewährungsstrafe davongekommen.« »Al, kann ich zu dir kommen?« »Sicher. Aber misch dich nicht ein. Wir warten darauf, daß ihr Anwalt auftaucht, Lou Everton. Kennst du ihn?« »Natürlich. Er hat ein Handicap von sechs Schlägen. Hat mich schon mehrfach abserviert. Und außerdem ist er ein gerissener Hund.« »Das ist er«, stimmte Al zu, »aber ich hab' schon früher mit ihm zusammengearbeitet, und er wird sich auf ein Geschäft einlassen. Er liebt Schnellverfahren genauso wie ich. Er wird ihr raten, ein Geständnis abzulegen. Tut er das nicht, bekommen wir ein Problem. Ich meine, was ist, wenn sie hartnäckig behauptet, sie habe die Briefmarken im Rinnstein gefunden? Was machen wir dann? Einbruchsdiebstahl können wir ihr nicht nachweisen.« »Schön«, sagte ich, »wenn sie redet, solltest du sie etwas fragen. Ich komme.« Das letzte, was ich wollte, war eine Konfrontation mit Sylvia. Ich fuhr zum Präsidium und fand Al im Korridor, auf einer kalten Zigarre herumkauend. »Wo ist sie?« fragte ich. »Im Augenblick? Auf dem Klo. Tweeny Alvarez ist bei ihr, damit sie nicht auf die Idee kommt, aus dem Fenster zu steigen.« »Wie ist die Festnahme verlaufen?« »Aalglatt. Sie tauchte ein paar Minuten nach zwölf mit den Briefmarken bei dem Händler in Stuart auf. Ich ließ meine Marke blitzen und faßte sie. Das war's. Überhaupt kein Wirbel.« »Hat sie was gesagt?« »Ja, sie sagte: ›Scheiße.‹« »Wo sind die Briefmarken jetzt?« 212
»Die haben wir. Verrückte kleine Dinger. Ich hab' Kontakt mit einem pensionierten Professor in Lantana aufgenommen, der ein Superspezialist für zweifelhafte Dokumente sein soll. Er wird sich die mal ansehen – kostet uns keinen Cent.« In diesem Augenblick kam Sylvia vom Örtchen. Tweeny Alvarez hielt sie am Ellenbogen fest, und sie gingen auf uns zu. Sylvia warf mir einen Blick zu und keuchte: »Dooley! Was machst du denn hier? Haben sie dich auch verhaftet?« Aber Tweeny Alvarez eskortierte sie entschlossen in Als Büro und schloß die Tür hinter sich. Al sah mich an. »Dooley?« fragte er. »Was geht hier vor? Du hast dir doch nicht irgendwelche Massagen verabreichen lassen, oder?« »Nein, nein«, erwiderte ich eilig, »das ist nur der Name, den ich in Delray Beach benutzt habe.« »Dooley«, wiederholte Al grinsend. »Wundervoll.« »Hör zu, Al«, sagte ich, »wenn Lou Everton dich sie in seiner Anwesenheit verhören läßt, frage sie, ob Thomas Bingham in der Geschichte drinhängt.« »Wer?« »Thomas Bingham.« »Wer zum Teufel ist denn das?« »Ein Freund von Bodin. Er könnte mitgemischt haben.« Al sah mich vorwurfsvoll an. »Hast du mir wieder mal was vorenthalten?« »Al«, fuhr ich fort, »dieser Bingham ist nur ein Statist. Er könnte dran beteiligt sein oder auch nicht. Frag Sylvia. Machst du das?« »Na schön«, sagte er mürrisch. »Ich werde fragen.« Ich sah Lou Everton durch die Vordertür kommen, nahm den Hinterausgang und überließ den Rechtsanwalt und Al ihrem fröhlichen Plausch. Ich hatte vor, etwas ausgesprochen Unbesonnenes zu tun. Hätte ich das Al erzählt, wäre er sauer geworden. Ich fuhr zur Villa Horowitz. Als ich den messingnen Türklopfer 213
an die Eingangstür fallen ließ, öffnete Mrs. Marsden. »Ich höre, die Polizei hat die Briefmarken wiederbeschafft«, sagte sie sofort, »und denjenigen verhaftet, der sie gestohlen hat.« »Mrs. Marsden«, meinte ich, »die Buschtrommel in dieser Stadt ist wahrhaft erstaunlich. Die NASA sollte sich ihrer bedienen, dann gibt's binnen Sekunden das Neueste vom Jupiter.« »Es ist also wahr?« Ich nickte. »Die Inverted Jennies sind wiedergefunden worden. Zufrieden?« »Sehr«, sagte sie und ging in das Foyer voraus. Ich sah eine Reihe Koffer neben der Tür gestapelt. »Reist jemand ab?« fragte ich. »Miss Stanescu«, erwiderte Mrs. Marsden. »Ken Bodin fährt sie zum Flughafen.« »Dann kann ich sie vielleicht einen Augenblick sprechen und mich verabschieden, wenn ich darf.« »Sicher, Mr. McNally. Sie ist oben.« Sie packte mich am Arm und schaute mir direkt in die Augen. »Wird alles wieder in Ordnung sein?« wollte sie wissen. »Alles wird wieder in Ordnung sein«, versicherte ich ihr und wünschte dabei, ich würde die Wahrheit sagen. »Genauso, wie's war, bevor alles begann.« Sie nickte, aber ich wußte, daß sie mir nicht glaubte. Die Dinge wurden niemals genauso wieder, wie sie zuvor gewesen waren. Die Tür zu Gina Stanescus Schlafzimmer stand weit offen, und ich sah, daß sie ihre Toilettensachen in eine kleine Ledertasche packte. Ich pochte an den Türrahmen. Sie blickte auf, lächelte und winkte mich zu sich. »Ich habe gehört, Sie reisen ab, Miss Stanescu«, sagte ich, »und wollte nur vorbeischauen, um Lebewohl zu sagen.« »Nicht Lebewohl«, erwiderte sie. »Auf Wiedersehen.« »O ja«, sagte ich, »ich hoffe, das werden wir. Ich wünsche Ihnen eine angenehme Heimreise, und –« Ich schwieg, da ich kein Ver214
sprechen geben wollte, das ich vielleicht nicht halten konnte. »Ja?« »Glauben Sie auch weiterhin an Wunder, auch wenn's nur ein kleines ist. Manchmal geschehen sie, wie Sie wissen.« Wir reichten uns die Hände und trennten uns. Ich ging hinunter und zur Garage. Kenneth Bodin putzte den Rolls so sanft, wie ein Stallbursche einen Derbysieger striegeln würde. Als ich näher trat, drehte er sich zu mir um, schaute mich an und widmete sich wieder seiner Arbeit. Er hatte seine Jacke abgelegt und sah in seinem figurbetonenden T-Shirt mit den abgeschnittenen Ärmeln wie ein Boxer aus. »Ich hörte, daß die Bullen die Briefmarken wiedergefunden haben«, sagte er abgewandt zu mir. »Das ist richtig«, erwiderte ich munter, »und sie haben die Frau geschnappt, die die Marken verkaufen wollte, Sylvia Soundso. Im Augenblick wird sie verhört. Sie glauben nicht, daß sie die Diebin war, deshalb wollen sie wissen, wer ihr die Marken zum Verkaufen gegeben hat. Ich hab' gehört, daß sie wie ein Vogel singt.« Ich hatte ihn als Burschen eingestuft, der nichts als Luft in der Birne hatte. Ich wollte ihn dazu anreizen, etwas ungemein Dummes zu tun, beispielsweise schnellstmöglich zu verschwinden – ein zusätzlicher Beweis für seine Schuld. In seinem lavendelblauen VWKäfer würde er nicht schwer zu verfolgen sein. Und wenn ich etwas Glück hatte, würde er sich vielleicht sogar seiner Verhaftung widersetzen. Das wäre das Sahnehäubchen auf der Torte. »Wie haben die Bullen sie geschnappt?« fragte er leise, während er das Chrom des Rolls polierte. »Oh, dafür habe ich gesorgt«, prahlte ich in der Hoffnung, meine Angeberei werde ihn noch wütender machen. »Ich habe der Polizei empfohlen, alle Briefmarkenhändler in Südflorida zu informieren. Ich dachte mir, daß der Bursche, der die Inverted Jennies hatte, ein so totaler Schwachkopf ist, daß er versuchen würde, sie schnellst215
möglich in Bares umzuwandeln. Und genau das hat dieser Kopfkranke getan.« Dann rief ich fröhlich – in der Annahme, ihn so voll getroffen zu haben, wie ich's konnte –: »Bis später« und spazierte höchst zufrieden mit mir davon. Ich schaute in Consuela Garcias Büro einfach deshalb rein, weil ich sie wiedersehen wollte. Sie baute mich immer auf. Jennifer Towley war eine recht kühle Frau, Connie hingegen ein warmer, kuscheliger Typ. Sie telefonierte wie üblich und winkte mich auf einen Stuhl. »Ja, das ist richtig«, sagte sie in dem kühlen, offiziellen Tonfall, den sie immer Reportern gegenüber drauf hatte. »Wir haben erfahren, daß die Polizei die gestohlenen Briefmarken aufgefunden hat. Natürlich ist Lady Horowitz beglückt. Ja, Sie können mich zitieren. Vielen Dank für Ihren Anruf.« Sie legte auf und grinste mich an. »Ende gut, alles gut.« »Nun«, fragte ich, »wie hat Lady Cynthia wirklich auf die Nachricht reagiert, daß ihre Briefmarken gefunden worden sind?« Connie runzelte die Stirn. »Sie ist nicht gerade in Jubel ausgebrochen. Ich hatte sogar den Eindruck, sie sei schockiert. Sie schnappte: ›Wen interessiert das schon?‹ Sag mal, Archy, wenn die Briefmarken wieder da sind, dann ist es doch offensichtlich, daß sie sie nicht benutzt hat, um einen Erpresser zu bezahlen. Damit ist doch deine ganze Überlegung hin – richtig?« »Falsch«, erwiderte ich. »Es gibt noch reichlich Beweise, daß jemand sie unter Druck setzt.« »Und du wirst ihr weiter folgen?« »Wann ich kann. Es ist in ihrem eigenen Interesse, Connie«, fügte ich ernst hinzu. »Sie könnte in Gefahr sein.« Sie schaute mich mißtrauisch an – aber was hätte ich ihr erzählen sollen? Daß ich noch immer neugierig war zu erfahren, warum Lady Horowitz nichts über ihren Aufenthaltsort zur Zeit von Bela Rubiks Ermordung sagen wollte? Wenn ich Connie das erzählt hätte, 216
hätte sie mir empfohlen, schnellstens zu verschwinden. »Na gut«, sagte sie zögernd. »Sie fährt morgen um eins weg. Ziel unbekannt – mir jedenfalls.« »Danke, Connie. Ich weiß das zu schätzen. Triffst du dich derzeit eigentlich regelmäßig mit jemand?« »Ja«, meinte sie traurig, »mit meinem Zahnarzt – und das ist nicht die wahre Freude. Für den Fall, daß du mit dieser Towley je Schluß machen solltest – ich bin frei.« »Ich werd's mir merken«, sagte ich. »Noch eine Frage: Die DuPeys sind abgereist, und Gina Stanescu ist dabei, es zu tun. Wann werden denn Doris und Harry Smythe Florida durch ihre Abwesenheit beglücken?« Connie kicherte. »Hör dir folgendes an, Archy. Lady Horowitz kennt ein pensioniertes britisches Paar, das in Kaschmir lebt. Die beiden sind Pferdenarren, und seit Jahren versuchen sie, Lady Horowitz dazu zu bringen, ihnen eine Remington-Bronze zu verkaufen, die sie besitzt. Bis jetzt hat sie sich geweigert, aber gestern rief sie an und sagte, sie werde ihnen die Bronze verkaufen, jedoch nur unter der Bedingung, daß sie die Smythes auf zwei Wochen zu sich einlüden. Beginn sofort. Also reisen Doris und Harry am Montag nach Kaschmir ab.«
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A
m Donnerstagmorgen war ich in selbstgefälliger Stimmung und glaubte, ich könne die Welt ins Lot bringen und schließlich im Himmel meine Belohnung erhalten. Sicherlich gab es etwas, mit 217
dem ich für die guten Taten belohnt werden würde, die ich tun wollte. Ich beschloß, in aller Ruhe ins Büro zu fahren und meinen Spesenschwindel auf den neuesten Stand zu bringen. Ich hatte Quittungen über alle Sherrys, die Roberta Wolfson getrunken harte, dazu Belege über Geld, das ich für Benzin und die Miete des Ford Escort ausgegeben hatte. Und natürlich über ein paar andere Ausgaben. Ich kam in einen totalen Un-Morgen hinaus. Der Himmel war bleigrau, die Luft unbewegt und feucht. Es war tierisch heiß, und ein Wolkenbruch wäre ein Segen gewesen. Ich fuhr in die Stadt und überlegte, wie ich meine Beschattungstechnik verbessern könnte, wenn ich im Lauf des Tages Lady Horowitz zu ihrem Rendezvous in dieser Bruchbude bei Manalapan folgte, falls diese wieder ihr Ziel sein sollte. Ich beschloß, mein Zoomfernglas aus dem Handschuhfach des Miata zu nehmen und in das des Escort zu legen. Ich fuhr in die Tiefgarage und warf einen Blick auf den Glaskasten, in dem Herb, der Wachmann, saß. Ich winkte, erhielt aber keine Antwort. Er hatte seine Nase tief in ein Taschenbuch gesteckt. Ich hielt neben dem Escort und stieg aus dem Miata. Während ich das tat, richtete sich Kenneth Bodin hinter einem geparkten Wagen auf und kam auf mich zu. Er trug Jeans und eine schwarze Lederjacke, die mit Stahlnieten besetzt war. Doch dann nahm er seine Hände hinter dem Rücken hervor, und ich sah, daß er einen Baseballschläger umklammerte. Er trat dicht zu mir, holte aus und schlug zu. Ich vermute, er wollte mir an die Nieren gehen. Er war groß und muskulös, aber entsetzlich langsam. Ich wich nach hinten aus, und sein Schläger zischte vorbei. Ich bewegte mich wieder vor, verlagerte mein Gewicht auf mein linkes Bein und trat ihm heftig in die Hoden. 218
Bodin ließ den Schläger fallen und stürzte auf den Betonboden der Garage. Er krümmte sich und umklammerte seinen Bauch. »Herb!« schrie ich, so laut ich konnte, und der Wachmann kam herbeigelaufen. Er blickte auf den Mann, der sich am Boden krümmte, sah neben ihm den Baseballschläger liegen und zog dann seinen Colt aus dem Halfter. Er richtete ihn auf Bodin. »Alles in Ordnung mit Ihnen, Mr. McNally?« fragte er ängstlich. »Mir geht's gut. Danke.« Bodin blickte anklagend zu mir auf. »Sie haben mir weh getan«, wimmerte er. »Das war meine Absicht«, erwiderte ich. »Herb, ich werde jetzt die Bullen anrufen. Du bleibst hier und hältst deine Flak auf diesen gemeinen Meuchelmörder gerichtet.« »Wenn er Ärger macht«, sagte der Wachmann, »wo soll ich hinschießen?« »Ich weiß nicht. Nun, die Kniescheiben genügen völlig.« »Kleines Ziel«, meinte Herb zweifelnd. »Wie wär's mit der Brust?« Bodin stöhnte. Al war zu meiner Erleichterung im Büro. Ich berichtete kurz, was gerade passiert war. »Wie fühlst du dich?« fragte er. »Ein kleiner Schock«, gab ich zu. »Aber keine Verletzungen.« »Gut«, sagte Al. »Du hast uns eine Menge Ärger erspart. Wir suchen diesen Knaben nämlich seit gestern abend. Sylvia hat geplaudert. Bleib bei ihm. Ich komme sofort.« Herb und ich standen neben dem liegenden Angreifer und nahmen seinen körperlichen Schmerz mit einer gewissen Befriedigung zur Kenntnis. Wir sprachen darüber, wie es ihm gelungen war, sich in die Garage zu schleichen. Der Wachmann glaubte, daß das wahrscheinlich während einer seiner regelmäßigen Patrouillen durch das Gebäude geschehen war. Ich widersprach dem nicht. Herb war 219
ein wirklich netter Bursche, aber nicht sehr wachsam. Zwei Polizeiwagen kamen die Rampe heruntergerollt, und ihre Sirenen erstarben zu einem Flüstern. Al stieg aus dem ersten Wagen und zwei seiner Gefolgsleute aus dem zweiten. Die drei Beamten traten zu uns, so daß wir im Kreis um den am Boden Liegenden standen, seine Zuckungen interessiert verfolgten und seinem Gejammer lauschten. »Was ist mit ihm?« fragte Al mich. »Hodentrauma«, meinte ich, »infolge eines plötzlichen, scharfen Tritts mit der Spitze eines Schuhs.« Al grinste mich an. »Danke. Ich wette, daß er dich wegen seelischer Grausamkeit verklagt.« Er wandte sich an die beiden anderen Bullen. »Schafft den Halunken hinaus. Buchtet ihn ein.« Wir schauten zu, wie sie Bodin auf die Beine stellten und ihn zu ihrem Wagen zerrten. Er ging gebückt und winselte noch immer. »Danke, Herb«, sagte ich zu dem Wachmann. »Du hast dich hervorragend verhalten.« »Stets zu Diensten, Mr. McNally«, erwiderte er. Al und ich setzten uns in den Miata. Al steckte sich eine Zigarre an. »Die Freundin hat ausgepackt?« fragte ich ihn. »Ja. Aber sie hat nicht viel von sich gegeben, was wir nicht ohnehin wußten. Sie behauptet, Bodin habe ihr die Briefmarken gegeben, damit sie sie verkaufe.« »Wußte sie, daß sie gefälscht waren?« »Hat sie nicht gesagt, und ich hab's ihr nicht erzählt. Aber ich glaube, die beiden waren überzeugt, was Echtes zu haben. Nebenbei, diese Inverted Jennies sind Fälschungen, das hat der Experte festgestellt, den wir herangezogen haben.« »Hat Sylvia dir erzählt, wo Bodin die Marken herhatte?« »Sie sagte, ein älterer Mann, der in der Horowitzschen Villa gewohnt hat, habe sie ihm gegeben. Das müßte Angus Wolfson gewe220
sen sein. Abgemacht war, daß Bodin zehn Prozent von dem bekommen sollte, was er für die Marken bekäme.« »Willst du damit sagen, daß Wolfson die Inverted Jennies geklaut hat?« Al lachte. »Ich weiß, was für ein Kenner der menschlichen Natur du bist. Du hast mir erzählt, daß es für Wolfson völlig untypisch wäre, etwas zu stehlen. Aber in diesem Fall, fürchte ich, hast du dich getäuscht. Wolfson hat sie gekrallt, ja.« Ich war überzeugt, daß er sich irrte, aber ich hatte nicht vor, ihm das zu sagen. »Da wir gerade von Wolfson sprechen«, meinte ich, »so gestehe ich hiermit, daß ich mich geirrt habe, was seinen Tod anbelangt. Du hattest recht. Es war Selbstmord.« Er schaute mich fragend an. »Was hat dich überzeugt?« Ich gab wieder, was Roberta Wolfson mir von der tödlichen Krankheit ihres Bruders erzählt hatte, seine Weigerung, Bestrahlung und Chemotherapie über sich ergehen zu lassen. Ich sprach von dem ständigen Schmerz, unter dem er gelitten hatte. »Grund genug für einen Menschen, sich seiner sterblichen Hülle zu entledigen«, sagte ich. »Nun ja«, stimmte Al zu. »Aber er hatte noch einen anderen Grund.« »So? Welchen?« »Schuldgefühl. Als wir Wolfsons Leiche hatten, haben wir seine Fingerabdrücke genommen. Sie stimmten mit den Fingerabdrücken überein, die wir an dem gläsernen Briefbeschwerer gefunden haben, der Bela Rubiks Schädel zertrümmerte.« Das hatte ich nicht erwartet. »Du bist da sicher, Al?« »Fünfundsiebzigprozentig. Und das reicht mir völlig. Der Mord an Rubik ist aufgeklärt. Der Mörder, Wolfson, ist tot. Lady Horowitz bekommt ihre gefälschten Briefmarken wieder. Bodin wird vielleicht eine Weile sitzen. Aber lange sicher nicht.« »Tu mir einen Gefallen«, drängte ich ihn. »Erzähl mir, wie deiner 221
Ansicht nach die ganze Sache gelaufen ist. Von Anfang an.« Er paffte an seiner Zigarre. »Wolfson hatte eine Menge Arztkosten, und er war kein reicher Mann, um das mal vorwegzunehmen. Also klaute er die Inverted Jennies, da er dachte, daß Lady Horowitz Millionen besitze und den Verlust verschmerzen könne. Dann machte er etwas Dummes: Er versuchte, die Briefmarken an einen hiesigen Händler zu verhökern. Ich glaube, er hat die Inverted Jennies bei Bela Rubik gelassen, um dem Gelegenheit zu geben, sie zu schätzen. Rubik hatte die Briefmarken bereits, als du ihn das erste Mal besuchtest. Wolfson geht an dem Nachmittag, als die Kreuzfahrt mit der Jacht abgesagt wurde, wieder in Rubiks Laden. Rubik erzählt ihm, daß die Briefmarken Fälschungen sind. Wie ich Rubik kannte, war er sauer darüber und drohte, der Polizei zu erzählen, daß Wolfson versucht habe, Fälschungen zu verkaufen. Wolfson geriet in Panik und zog Rubik den Briefbeschwerer über den Schädel. Ich glaube nicht, daß er ihn töten wollte. Er wollte ihn nur außer Gefecht setzen, seine Briefmarken wiederhaben und verschwinden. Dann liest Wolfson die Zeitungen und stellt fest, daß er ein Mörder ist. Er hat keinen fahrbaren Untersatz, um zu anderen Händlern zu gelangen, und er weiß, daß er schwächer wird. Also macht er mit Bodin ein Geschäft. Dieser erklärt sich bereit, die Briefmarken für einen Teil der Kohle zu verkaufen. Es ist das Beste, was Wolfson tun kann. Den Rest kennst du. Wie klingt das?« »Hat Wolfson Bodin gesagt, daß die Briefmarken Fälschungen sind?« »Nein. Bodin und Sylvia glaubten, sie hätten was Echtes in der Hand. Vielleicht hat sogar Wolfson geglaubt, Rubik habe sich geirrt und seine Beute sei echt.« In einigen Punkten hatte er recht, aber nicht in allen. Doch ich hatte nicht das Verlangen, ihn auf seine Fehler aufmerksam zu machen. Die meisten dieser Fehler waren auf Informationen zurückzuführen, die ich ihm verschwiegen hatte. »Ja«, sagte ich, »das alles 222
klingt sehr einleuchtend.« »Keine Einwände?« Ich wußte, daß er mißtrauisch werden würde, wenn ich ihm völlig zustimmte. »Ein paar kleine Fragen«, fuhr ich fort. »Beispielsweise die nach der Beziehung zwischen Wolfson und Bodin. Ich glaube, Wolfson hatte wirklich Bock auf den Typen.« »Sicher hatte er den«, nickte Al. »Darum hat er ihn ja als Komplizen gewählt und ihm ein Stück vom Kuchen angeboten. Er hoffte als Gegenleistung auf Gefälligkeiten.« »Ja, das ergibt Sinn. Wollte Bela Rubik Wolfson wirklich hochgehen lassen?« Al schenkte mir ein schiefes Lächeln. »Bestimmt erst nachdem er die Briefmarken untersucht hatte und sah, daß es Fälschungen waren. Wären sie echt gewesen, hätte er das Geschäft selbst dann gemacht, wenn er gewußt hätte, daß sie gestohlen waren. So ein Typ war er.« Ich seufzte. »Na ja, ich denke, das war's dann. Tut mir leid, daß ich dich mit diesem Kram behelligt habe.« »Ich überlasse es deinem Vater, Lady Horowitz mitzuteilen, daß ihre Briefmarken Fälschungen sind. Ich mache eine Woche Urlaub. Morgen geht's los. Ich will aus der Stadt sein, wenn sie das erfährt. Ihre Versicherungsforderung ist damit zum Teufel!« Ich fiel in sein lautes Gelächter ein. Er stieg aus dem Miata, hob zum Abschied grüßend eine Hand und ging zu seinem Streifenwagen, wobei er noch immer auf seiner Zigarre kaute. Ich hatte kurz Gewissensbisse, weil ich ihm nicht die ganze Wahrheit gesagt hatte, tröstete mich aber mit dem Gedanken, daß es ihm nicht schadete und anderen vielleicht zugute kam. Aber dann rief ich: »Al!« Ich stieg aus und lief ihm nach. »Hast du daran gedacht, Sylvia wegen Thomas Bingham zu fragen?« »Hab' ich. Sie behauptet, Bingham sei ein Saufkumpan, wisse aber nichts über die Inverted Jennies. Enttäuscht?« 223
»Ja«, gab ich zu. »Wirst du Bodin fragen?« »Du gibst wohl nie auf, was? Na schön, ich werde den Kerl fragen.« Er stieg in seinen Wagen und fuhr rückwärts die Rampe hinauf. Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr, murmelte einen Fluch und brachte mein Fernglas eilends zum Ford Escort. Dann machte ich mich an die Verfolgung von Lady Cynthia Horowitz. Ich schaffte es gerade noch rechtzeitig. Ich fuhr auf dem Ocean Boulevard nordwärts, und als ich das Tor der Villa Horowitz passierte, sah ich den Jaguar herausfahren, Lady Cynthia am Lenkrad. Sie bog nach Süden ab, und ich wandte den Kopf ab, damit sie mich nicht erkannte. Ich fuhr noch fünfzig Meter weiter, wendete mit jaulenden Reifen und hängte mich an den Jag. Es war nicht schwer, ihn im Blickfeld zu behalten. Das Haar der Dame war mit einem fuchsienroten Schal zusammengebunden, und an diesem düsteren Tag funkelte er wie ein Signalfeuer im Nebel. Es herrschte nicht viel Verkehr, und ich hielt es für klug, Abstand zu halten. Ich wußte, wohin sie fuhr. Ich brauchte nicht dicht aufzufahren. So sicher wie das Amen in der Kirche, bog sie schließlich in die Einfahrt von Hillcrest ab. Ich fuhr langsam vorbei und war erfreut über das, was ich sah: Der Jaguar war nicht auf die Rückseite des Hauses zum See hin gefahren worden, sondern stand vorn auf der Auffahrt. Lady Cynthia war ausgestiegen und trat gerade in die Eingangstür, als ich vorbeifuhr. Ich fuhr einmal hin und her und überlegte, welche Möglichkeiten ich hatte. Nicht viele. Meine Absicht, mit dem Fernglas bewaffnet durchs Gebüsch zu pirschen, war verrückt. Die Häuser nördlich und südlich von Hillcrest waren bewohnt, und wenn ich beim Spannen gesehen wurde, würde ganz bestimmt die Polizei alarmiert werden. Schließlich fand ich, daß mein ursprünglicher Plan, den ausgeflippten Vogelbeobachter zu mimen, eigentlich gar keine schlechte 224
Idee war. Also fuhr ich nordwärts zu einer kleinen Stelle, die Strandbesuchern eine Parkmöglichkeit bot. Ich schloß den Wagen ab und trabte nach Hillcrest zurück. Das Fernglas baumelte an einem Riemen um meinen Hals. Zuweilen blieb ich stehen, um es zu benutzen, schaute auf alles, was sich im Umkreis zum Ansehen anbot, und spähte gelegentlich westwärts, als suchte ich nach Seevögeln. Ich erreichte Hillcrest und musterte beiläufig die umstehenden Bäume. Dabei schaute ich natürlich aufmerksam in das Haus selbst hinein. Der Jaguar stand noch immer davor geparkt, aber ich konnte keine Menschen entdecken. Hinter keinem der Fenster bewegte sich jemand. Ich setzte mein Spiel als Vogelbeobachter fort, wanderte nach Norden und Süden und benutzte mein Fernglas, bis meine Augen zu schmerzen begannen. Ich fragte mich, wie lange ich meine Rolle spielen sollte – eine Stunde? Zwei? Drei? Wie sich zeigte, dauerte sie genau eine Stunde und dreiundvierzig Minuten. Ich befand mich nach deren Ablauf südlich des Hauses, am Ostrand des Anwesens, teilweise von wildem Wein verborgen. Ich beobachtete das Haus, als die Vordertür sich öffnete und Lady Cynthia heraustrat. Ihr Haar war offen, den fuchsienroten Schal hielt sie in der Hand. Sie blieb unter den Säulen stehen, drehte sich um und sprach angeregt durch die offene Tür mit jemand, der drinnen war. Ich drehte an meinem Fernglas, um sie schärfer im Blickfeld zu haben. Sie lachte, schüttelte anmutig den Kopf, schmollte und stampfte mit dem Fuß auf. Ich sah, daß sie die Hände zu der Person im Haus ausstreckte. »Komm heraus, komm heraus, wer du auch bist«, sang ich laut. Und heraus kam er – mein Vater. Ich beobachtete mit leicht zitterndem Fernglas, wie die beiden sich innig umarmten und küßten. Das war keine nette, freundliche Verabschiedung zwischen Rechtsanwalt und Klientin, sondern ein leidenschaftliches Handgemenge und schien eine Ewigkeit zu dau225
ern. Schließlich lösten sie sich bedauernd voneinander. Lady Horowitz ging zu ihrem Jaguar und winkte Vater zum letzten Mal zu. Er winkte zurück, trat wieder ins Haus und schloß die Tür. Sie bog Richtung Norden ab, fuhr nach Hause. Ich rannte zu meinem Escort. Ich vermutete, daß mein Vater den Lexus hinter dem Haus geparkt hatte und bald nordwärts fahren würde. Bevor er das tat, wollte ich weg sein. Ich fuhr mit unzulässiger Geschwindigkeit zum McNally-Gebäude, und ständig mußte ich darüber nachdenken, daß ich in jüngster Zeit Zeuge zweier unerlaubter Umarmungen gewesen war: Angus Wolfson – Kenneth Bodin und Cynthia Horowitz – Prescott McNally. Ich fuhr in die Garage, und Herb kam herbei, bevor ich aus dem Escort steigen konnte. »Fühlen Sie sich gut, Mr. McNally?« fragte er besorgt. »Danke, Herb. Könnte überhaupt nicht besser sein.« »Freut mich, das zu hören. Ich hätte diesen Tunichtgut erschießen sollen. Verdient hätte er's.« Noch immer murmelnd ging er in sein Kabuff zurück. Ich stieg in den Miata und steckte mir eine Zigarette an. Mich freute, daß mein Hände ruhig waren. Ich sank in mich zusammen, reckte den Kopf nach hinten und starrte die Sprinklerdüsen über mir an. Ich stellte fest, daß meine Reaktionen auf das, was ich gerade gesehen hatte, sich als eine Art Verhör artikulierten, als ein persönliches Frage-und-Antwort-Spiel. »Was erstaunt dich an dieser Affäre am meisten?« »Die dazu erforderliche Planung! Sie mußten einen Ort finden, der relativ sicher vor der Öffentlichkeit und damit vor Klatsch war. Also mietete sie ein altes Haus, weit entfernt von Palm Beach. Und er erklärte seine Abwesenheit vom Büro so, daß niemand Verdacht schöpfen konnte.« 226
»Und warum hast du keinen Verdacht geschöpft? Schließlich war er mindestens zweimal nicht zu sprechen, als auch sie mysteriöserweise verschwunden war. Und er hat dich sehr schnell korrigiert, als du sie für älter hieltest, als sie wirklich ist.« »Das stimmt, aber ich wäre doch nie auf die Idee gekommen, daß die was miteinander haben.« »Warum nicht? Wegen ihres Alters?« »Sei nicht albern. Glaubst du, es gibt in jedermanns Leben einen bestimmten Schlußpunkt, wo die Träume aus und vorbei sind? Die enden nie.« »Wie lange, meinst du, dauert ihre Liaison schon?« »Ich weiß nicht. Wahrscheinlich Monate. Ich könnte das herausbekommen, indem ich Evelyn Sharif frage, seit wann Hillcrest vermietet ist. Aber wozu soll das gut sein?« »Sei mal ehrlich: Du hegst doch, wenn auch widerwillig, Bewunderung für deinen Vater, nicht wahr?« »Ich denke schon.« »Wirst du ihm sagen, daß du es weißt?« »Gütiger Himmel, nein! Ich liebe diesen Mann nun mal, trotz seiner Fehler.« »Wirst du's deiner Mutter sagen?« »Sie weiß das längst. Das ist mir jetzt klar, wegen mancher Dinge, die sie in letzter Zeit gesagt hat. Woher wissen Frauen so etwas? Sie besitzt eine Klugheit, die meine weit übersteigt. Und sie hat Liebe und Geduld. Sie weiß, daß er zu ihr zurückkommen wird.« »Du wirst es also niemand sagen?« »Das habe ich nicht gesagt.« Das Verhör endete, und ich wußte, was ich zu tun hatte. Ich war merkwürdig belustigt bei der Erinnerung an den Schwindel, den ich Connie Garcia aufgetischt hatte – daß jemand Lady Horowitz erpresse. Es hatte sich herausgestellt, daß das zutraf. Der Erpresser war ich. 227
Ich fuhr in einen Nieselregen hinaus, der die Welt in einen trüben Nebel von der Farbe alten Zinns tauchte. Er wurde stärker, als ich mich der Küste näherte, und als ich auf die Auffahrt zum Horowitzschen Anwesen abbog, fuhr ich direkt in die Garage, um den Miata ins Trockene zu bringen. Ich betrat das Haus durch die Hintertür und fand den Koch Jean Cuvier und das Hausmädchen Clara Bodkin in der Küche. Ihr flirtendes Geplänkel wirkte so, als könne jeden Augenblick Ernst daraus werden. »Archy«, rief Cuvier, »sagen Sie dieser Unschuldigen, daß sie keine Angst haben muß vor dem Leben, der Liebe, der Leidenschaft, der Romantik.« »Und sagen Sie diesem Walroß, daß ich das alles bestens kenne«, meinte sie, »und daß ich sehr wählerisch in der Wahl derer bin, denen ich meine Gunst schenke.« Ich hob abwehrend die Hände. »Friede«, sagte ich. »Ich weigere mich, in diesen Krieg einzugreifen. Ich bin nur vorbeigekommen, um mit der Hausherrin ein paar Worte zu wechseln. Empfängt sie Besucher?« »Ich weiß nicht«, erwiderte Clara zweifelnd. »Ich glaube, sie badet gerade. Warum gehen Sie nicht nach oben und klopfen an ihre Tür?« »Das werde ich tun«, sagte ich. »Und versucht, nett zueinander zu sein, Kinder. Was die Welt braucht, ist Liebe, süße Liebe.« »Genau das versuche ich ihr ja die ganze Zeit klarzumachen«, setzte Cuvier hinzu. Ich ging in den Korridor hinaus und dann die großartige Treppe hoch, die zum zweiten Stock führte. Ich pochte behutsam an die Tür von Lady Cynthias Gemach. »Wer ist da?« rief sie. »Archy McNally. Kann ich Sie einen Augenblick sprechen?« »Kommen Sie rein.« 228
Sie ruhte auf einer Chaiselongue, in ein Negligé aus einem durchsichtigen Stoff gehüllt. Es enthüllte fast ebenso viel, wie es verbarg. Ein Bein war ausgestreckt, und der nackte Fuß berührte den Boden. »Ziehen Sie sich eine Sitzgelegenheit heran«, sagte sie träge. Ich rückte eine samtbezogene Ottomane so in Position, daß ich sie direkt ansehen konnte. »Was geht Ihnen durch den Kopf, Junge?« »Im Augenblick? Sie. Ich bin sicher, Sie haben inzwischen gehört, daß die Polizei Ihre gefälschten Briefmarken wiederbeschafft hat.« »Meine was?« rief sie. »Ach, lassen Sie doch den Blödsinn«, sagte ich so rüde, wie ich konnte. »Sie sind eine großartige Schauspielerin, aber so großartig nun doch nicht. Sie haben seit Wochen gewußt, daß die Inverted Jennies Fälschungen waren, und meinen Vater dennoch gedrängt, wegen des Verlustes von der Versicherung Schadensersatz zu fordern. So etwas nennt man Betrug, meine Werteste.« Sie warf mich nicht sofort hinaus. Sie wandte nur den Kopf zum Fenster, um in den Regen hinauszustarren. »Sie phantasieren«, meinte sie schließlich. »Natürlich haben Sie überhaupt keinen Beweis.« »Natürlich habe ich den. Sie haben die Briefmarken nach Boston geschickt und Angus Wolfson gebeten, sie schätzen zu lassen. Sie hatten gelesen, daß dieser Block von vier Inverted Jennies auf einer Auktion für eine Million Scheinchen versteigert worden war, und dachten: Warum nicht auch meine? Aber dann kam Wolfson nach Palm Beach, um Ihnen die Briefmarken zurückzubringen und Ihnen zu sagen, daß es Fälschungen seien.« »Nur Vermutungen. Das ist kein Beweis. Gehen Sie!« »Halten Sie mich für einen Idioten? Wolfson erzählte seiner Schwester, daß die Inverted Jennies gefälscht seien. Roberta Wolfson hat keine gute Meinung von Ihnen. Wenn's zur Sache geht, wird sie mit Freuden bezeugen, daß ihr Bruder die Briefmarken als 229
Fälschungen bezeichnet hat. Und außerdem hat er sie ein paar Tage nach seiner Ankunft hier angerufen und ihr gesagt, daß er Sie davon informiert habe, daß die Briefmarken wertlos seien, und daß Sie diese schlechte Nachricht sehr ruhig aufgenommen haben.« Lady Cynthia wandte mir ihr Gesicht zu. »Das hat er seiner Schwester erzählt? Was war dieser Mann doch für ein Narr!« »Ich habe mich gefragt, warum Sie unbedingt einen Versicherungsbetrug begehen wollten. Ihr Vermögen ist ja wohl kaum ein Geheimnis. Dann erinnerte ich mich an etwas, das Sie mir während unserer ersten Unterhaltung gesagt haben. Sie sagten: ›Wenn's um Geld geht, ist genug nie genug.‹ Gierig, gierig, gierig.« »Sie wissen, was mit gierigen Menschen passiert?« fragte sie. »Sie werden reich. Verraten Sie mir etwas, Junge. Nehmen wir einmal an, Sie entdeckten, daß eine Zwanzigdollarnote, die Sie ausgeben wollen, gefälscht ist. Würden Sie die abgeben und den Verlust in Kauf nehmen, wie das Gesetz es verlangt, oder würden Sie versuchen, sie weiterzugeben? Seien Sie ehrlich!« Darauf antwortete ich nicht. Ich hatte Angst davor. »Das sind zwanzig Dollar«, rief ich. »Aber wir reden über eine halbe Million.« »Da gibt's keinen Unterschied«, erwiderte sie. »Sie würden versuchen, sie weiterzugeben. Das wissen Sie ganz genau. Und mehr habe ich auch nicht getan. Warum sollte ich die Suppe auslöffeln? Die Versicherungsgesellschaft weiß gar nicht, wohin mit ihrem Geld. Die sollen zahlen. Meine Prämien sind schließlich hoch genug.« »Aber es wäre vorsätzlicher Betrug«, wandte ich ein. »Betrug!« Sie zuckte die Schultern. »Was soll das?« Ihre Gelassenheit irritierte mich. Ich hatte energisches Leugnen erwartet. Aber sie gab alles mit einer kalten Ruhe zu, die ich einfach verrückt fand. »Ich will Ihnen sagen, was meiner Ansicht nach passiert ist«, sagte ich und versuchte so, die Initiative wiederzugewinnen. »Wolfson erzählte Ihnen, daß die Briefmarken gefälscht seien. Sie haben vielleicht drei Sekunden gebraucht, um auf die Idee mit 230
dem vorgetäuschten Diebstahl und der Schadensersatzforderung an die Versicherung zu kommen. Wolfson hat die Briefmarken nicht gestohlen. Sie haben sie ihm geschenkt, und er beschloß, sie zu verkaufen.« »Ich sagte Ihnen doch, daß der Mann ein Narr war. Es zeigte sich, daß er gieriger als ich war.« »Keineswegs. Er wollte das Geld nicht für sich haben. Er wollte Ihre Tochter unterstützen, Gina Stanescu. Sie erzählte ihm, daß ihr Waisenhaus in Schwierigkeiten steckt, und er hoffte ihr helfen zu können, indem er die Briefmarken einem ahnungslosen Händler verkaufte und den Erlös ihr gab. Er war genauso diebisch wie Sie, aber aus lauteren Motiven.« Endlich war sie aus der Fassung gebracht. »Ginas Waisenhaus braucht Geld? Warum hat sie mir das nicht erzählt?« »Sie hat Angst vor Ihnen.« Ihre Augen wurden groß. »Warum sollte jemand vor mir Angst haben?« »Vielleicht, weil man glaubt, Sie seien ein Barrakuda, der Geld hat – eine unheimliche Kombination. Jedenfalls hat sie's Angus erzählt, und er war entschlossen, ihr zu helfen oder es zu versuchen. Was hatte er zu verlieren? Er wußte ja, daß er todkrank war. Aber die Briefmarken wurden von den Händlern als Fälschungen erkannt. Jetzt hält die Polizei ihn natürlich für den Dieb.« Das nackte Bein rutschte etwas weiter aus seiner durchsichtigen Hülle. »Ach ja?« sagte sie. »Ich nehme an, Sie werden hingehen und die Wahrheit sagen.« »Nicht unbedingt.« Sie war amüsiert. »Oho«, sagte sie, »jetzt geht's um ein Geschäft, was? Na schön, Junge, was schlagen Sie vor?« »Zwei Dinge. Zuerst einmal geben Sie Gina Stanescu genug Geld, damit sie ihr Waisenhaus retten kann.« »Einverstanden. Das kann ich von den Steuern absetzen. Und das 231
zweite?« »Lassen Sie meinen Vater in Ruhe.« Ich hatte mich geirrt, was ihre theatralischen Talente anbelangte. Sie war eine großartige Schauspielerin. Ihre Miene zeigte allenfalls ein feines, ironisches Lächeln. »Sieh an, sieh an«, meinte sie. »Sie sehen sich um, nicht wahr?« Ich nickte. »Lassen Sie ihn in Ruhe«, drängte ich. »Sie wissen, wie wenig er Ihnen bedeutet. Er ist nur eine erfreuliche Abwechslung an ein paar Nachmittagen in der Woche. Sie werden einen anderen finden.« »Und Ihr Vater?« »Wahrscheinlich wird er eine Weile leiden – das verdient er –, aber am Ende wird er sich fassen. Sie zu verlieren wird bei ihm keine tödliche Wunde hinterlassen.« »Und wenn ich Ihre Forderung nicht erfülle?« fragte sie ruhig. »Dann sehe ich mich verpflichtet, meinen Vater darüber zu informieren, daß Sie ein Kapitalverbrechen zu begehen versucht haben.« Ihr Gesicht war ausdruckslos. »Ich nehme an, daß sich das herumsprechen würde.« »Dafür würde ich sorgen.« »Wissen Sie, Junge, ›raffiniert‹ ist nicht das richtige Wort für Sie. Sie sind ein goldiger Scheißkerl.« »Ich geb' mir alle Mühe«, meinte ich bescheiden. Dann entstand ein langes Schweigen, während sie wohl über das Kosten-Nutzen-Verhältnis nachdachte. »Ihr Vater ist so was von Langweiler«, sagte sie schließlich. »Ich weiß«, stimmte ich zu. »Ach wirklich?« fragte sie herausfordernd. »Wissen Sie auch, daß er ein sehr leidenschaftlicher Liebhaber ist?« »Woher, um alles in der Welt, soll ich das wissen?« Sie traf ihren Entschluß. »Also gut«, sagte sie. »Ich gebe Ihrem Vater den Laufpaß. Dafür werden Sie Ihren Mund halten und sich 232
der Meinung der Polizei anschließen, daß Angus der Dieb war.« »Einverstanden.« »Und daß ich nicht wußte, daß die Inverted Jennies Fälschungen waren.« »Einverstanden.« »Dann betrachten wir dieses Abkommen als unterzeichnet.« Sie hob die Arme und streckte sie über ihren Kopf. Das Negligé öffnete sich. Sie schaute mich nachdenklich an. »Jetzt muß ich Ersatz finden. Sie haben nicht den Wunsch, für Ihren Vater einzuspringen?« »Ich denke nicht. Ich bin nicht Ihre Klasse, Lady Cynthia. Ein Leichtgewicht würde ja auch nicht gegen ein Schwergewicht antreten, oder?« Sie grinste mich an. »So viel wiege ich nicht.« »Erzählen Sie das der Marineinfanterie«, bemerkte ich höhnisch. »Das habe ich schon oft getan. Sind wir noch Freunde, Junge?« »Ich hoffe es«, sagte ich und meinte das auch so. »Ich versichere Ihnen, daß ich den größten Respekt vor Ihnen habe.« Das nackte Bein rutschte unaufhaltsam auf totale Enthüllung zu. »Nun, das ist ein Anfang«, meinte sie, und ich sah zu, daß ich hinauskam, so schnell ich konnte.
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I
ch hatte das Techtelmechtel meines Vaters mit Lady Horowitz zum Wohl der Familie McNally zu Ende gebracht. Aber wie, wenn dieses Techtelmechtel eine große Romanze gewesen war? Mit 233
anderen Worten, wer gab mir das Recht, andere Menschen zu manipulieren? Es war ein elender Tag und meine Stimmung entsprechend. Regenschauer kamen von der See hereingeweht. Nach dem Frühstück begab ich mich wieder in meine vier Wände und schlich eine Weile herum. Ich kam zu dem Entschluß, daß es keinen Sinn hatte, ins Büro zu fahren und mich in mein vollgestopftes Wohnklo zu setzen, um Ausgaben für meine Spesenabrechnung zu ersinnen. Vielmehr gelangte ich zu der Überzeugung, daß ich unbedingt mit Jennifer Towley zu Mittag oder zu Abend essen mußte. Diese wundervolle Frau würde mich trösten. Ich rief sofort an und wurde von ihrem Anrufbeantworter empfangen. Ich bat sie darum, mich so schnell wie möglich zurückzurufen. Nachdem ich aufgelegt hatte, überlegte ich, wo sie an einem so widerlichen Tag zu derart früher Stunde sein mochte. Ich redete mir ein, daß Eifersucht ein überflüssiges Gefühl sei. Das wollte ich keineswegs haben. Also stürzte ich mich entschlossen auf mein Tagebuch, um die Aufzeichnungen über den Fall der Inverted Jennies zu vervollständigen. Fast eine Stunde rief ich nicht wieder bei Jennifer an. Dann meldete ich mich in der Hoffnung, sie sei zu Hause und habe vergessen, ihren Anrufbeantworter abzuhören. Aber ich bekam wieder die Maschine an die Strippe. Den Apparat verfluchend legte ich auf. Kurz vor Mittag klingelte das Telefon dann doch, und ich sprang zu ihm hin. »Hallo!« trällerte ich so melodisch wie möglich. »Was ist denn jetzt los?« fragte Al. »Jodelst du oder was?« »Hallo, Al«, erwiderte ich verlegen. »Ich habe mich nur geräuspert. Was hast du von Bodin erfahren?« »Die gleiche Geschichte wie von Sylvia. Er sagt, Wolfson habe ihm die Briefmarken zum Verkaufen gegeben und ihm zehn Prozent Provision versprochen.« »Hat Wolfson ihm erzählt, wie er an die Marken herangekommen 234
ist?« »Er behauptet, Wolfson habe gesagt, Lady Horowitz habe sie ihm geschenkt.« »Glaubst du das?« »Natürlich nicht. Der Kerl wußte verdammt gut, daß Wolfson die Briefmarken gestohlen hatte. Aber das war ihm egal. Er wollte einfach einen Teil von der Kohle.« »Ja. Und was wirst du mit Sylvia und Bodin machen?« »Überhaupt nichts. Willst du vielleicht eine Klage gegen sie einreichen?« »Himmel, nein.« »Na, dann werden wir ihm einfach sagen, er soll sich seine Gespielin krallen und sich formlos verabschieden, denke ich. Wenn wir die beiden aus dem County bekommen, bin ich völlig zufrieden. Übrigens, er sagt, Thomas Bingham habe mit der ganzen Geschichte nichts zu tun. Ich glaube, er sagt die Wahrheit.« »Wahrscheinlich. Danke, daß du das nachgeprüft hast. Du schließt also die Akte?« »Worauf du dich verlassen kannst. Ich hab' die Briefmarken deinem Vater gegeben. Er wird sie heute nachmittag Lady Horowitz überreichen und ihr sagen, daß es Fälschungen sind.« »Wann fährst du in Urlaub?« »Sobald der Regen aufhört. Und so, wie's jetzt gießt, wird das wahrscheinlich nächstes Jahr sein.« »Wohin fährst du?« »Nach Lourdes. Meine Hämorrhoiden bringen mich noch um.« Es war zum ersten Mal, daß ich an diesem Tag lachte. »Ich wünsch' dir viel Spaß, Al«, sagte ich. »Ruf mich an, wenn du wieder im Land bist, und dann knallen wir uns im Pelican Club einen rein.« »Machen wir«, meinte er und legte auf. Es war nicht der Anruf, den ich erhofft hatte, aber er tröstete 235
mich ein wenig. Um halb eins ging ich zum Essen hinunter. Mutter und ich saßen mit den Olsons in der Küche, und wir bedienten uns gemeinsam aus einer riesigen Salatschüssel voller Shrimps, Garnelen und sautierter Jakobsmuscheln sowie einem Korb Knoblauchbutter. Mutter war in ausgelassener Stimmung und trank ein Glas Wein. Ich ging wieder hinauf, schaute aus dem Fenster und sah, daß der Regen nachließ. Aber der Himmel war immer noch wolkenverhangen, und im Osten donnerte es, und gelegentlich war ein Blitz zu sehen. Ich beschloß, Jennifer noch einmal anzurufen, nur ein einziges Mal, und falls sie nicht da war, war die Lösung einfach: Ich würde mir die Handgelenke aufschlitzen. Ihr Telefon klingelte zweimal, wurde dann abgenommen, und sie sagte atemlos: »Hallo?« »Hier Archy. Wieso läufst du in diesem Monsunregen draußen herum?« »Archy, bitte, ich rufe dich gleich zurück, ich bin klatschnaß und muß mich umziehen. Bist du zu Hause oder im Büro?« »Zu Hause.« »Ich rufe dich in fünf Minuten an«, erwiderte sie und legte auf. Es dauerte länger als fünfzehn Minuten, aber ich wartete geduldig. Ich hatte keine Wahl. »Hör zu, Archy«, sagte sie sehr geschäftsmäßig. »Ich weiß, es ist ein mieser Tag, aber ich muß mit dir reden. Könntest du zu mir kommen?« »Jetzt? Wie wär's zum Abendessen?« »Nein«, meinte sie entschlossen, »kein Abendessen. Ich möchte mit dir so schnell wie möglich reden.« »Stimmt was nicht?« »Archy«, sagte sie nervös, »laß uns darüber nicht am Telefon reden. Kannst du sofort oder nicht?« 236
»Na schön«, antwortete ich und fragte mich, welche Krise sich da zusammenballte. »Ich bin in einer Stunde da.« Ich zog eine Nylongolfjacke an und setzte meinen Regenhut auf. Ich ging nach unten und fand meine Mutter und die Olsons noch immer in der Küche. Sie lachten wie verrückt und naschten von einem Teller Ursis sündhafte Schokoladenkekse. »Mutter«, sagte ich, »ich muß wegfahren und will keine Zeit damit vergeuden, das Dach auf den Miata zu setzen. Kann ich den Kombi nehmen?« »Bei diesem Wetter, Archy? Wozu denn das?« »Ein mildtätiger Gang.« Sie schaute mich plötzlich besorgt an. »Das hoffe ich«, erwiderte sie. »Natürlich, nimm den Ford.« Sie überlegte kurz. »Ich weiß nicht, ob der Tank voll ist«, meinte sie zweifelnd. »Etwas Benzin ist noch drin. Aber schau lieber nach.« »Das werde ich«, versprach ich, küßte sie auf die Wange und ließ zwei Kekse mitgehen. Sie hatte recht mit dem Benzin. Die Tankuhr zeigte nur noch Einviertelvoll an. Doch die Instrumente dieses Uraltvehikels waren im Lauf der Jahre verwittert, und ich konnte ebenso gut mit Voll oder Leer losfahren. Ich wagte es und tröstete mich mit der alten Maxime, daß Gott die Narren und die Betrunkenen beschützt. Trotz einiger asthmatischer Schnaufer verhielt sich der alte Kombi mit der Holzkarosse bewundernswert, und ich gelangte durch überflutete Straßen zu Jennifers Heim. Es hatte aufgehört zu regnen, aber ich war gezwungen, über ein paar Pfützen zu springen, um zu ihrer Tür zu kommen. Jennifer und ich musterten einander mit einem zaghaften Lächeln. Sie trug einen Morgenmantel mit dem Signet des Hotels Monte Carlo. Es war dieselbe Bekleidung, die sie an jenem Abend getragen hatte, als wir das erste Mal intim waren. Ich versuchte verzweifelt, das als gutes Omen zu werten, doch ihr 237
besorgtes Verhalten überzeugte mich, daß es keine sofortige Wiederholung unseres ersten Spiels geben würde. Sie führte mich in ihr Wohnzimmer, das an diesem jämmerlichen Tag mit plumpem Mobiliar und Uraltkram vollgestopft zu sein schien. Bevor ich überhaupt wußte, was geschah, hatte sie mich Platz nehmen lassen und mir ein riesiges Glas in die Hand gedrückt, das Eiswürfel und einen halben Liter Wodka zu enthalten schien. »Archy«, sagte sie ohne Vorrede – sie stand noch immer –, »ich kann mich nicht mehr mit dir treffen.« »Wie? Was?« Keine brillante Antwort, das gebe ich zu, aber ich fühlte mich, als sei ich gerade von einem Arzt untersucht worden, der anschließend fragte: »Mr. McNally, haben Sie Ihr Testament gemacht?« Ich meine, ich war am Boden zerstört. Und das völlig. »Warum nicht?« brachte ich schließlich heraus. »Ich war mit Tom zusammen. Die letzte Nacht und heute den ganzen Vormittag. Ich habe versprochen, ihn wieder zu heiraten.« Ich starrte sie an. Plötzlich wurde mir klar, daß sie fürchtete, ich könnte verletzt sein. Das war natürlich sehr freundlich von ihr; aber das letzte auf der Welt, was ich in diesem Augenblick wollte, war ihre Furcht. »Jennifer«, sagte ich so gelassen, wie ich konnte, »warum willst du ihn wieder heiraten?« Sie hob das Kinn ein wenig und war wieder die kühle Frau, die sie immer gewesen war. »Weil ich ihn liebe«, meinte sie. »Hast du darüber nachgedacht?« fragte ich. »Zu sehr. Ich war völlig durcheinander. Und dann wurde mir klar, daß einen nur Nachdenken und Logik soweit bringen können. Aber wenn sie dich nicht glücklich machen, was soll's dann? Dann ist es an der Zeit, sich auf Gefühle und Vertrauen zu verlassen. Ich muß das tun, was mein Herz mir sagt.« Dann, als sie merkte, wie sehr ihre letzte Bemerkung nach Seifenoper geklungen hatte, versuchte sie ein schüchternes Lächeln. »Jennifer, du hast mir erzählt, daß das Leben mit ihm ein Alp238
traum gewesen ist.« »Das war es. Aber ich bin bereit zu wetten, daß er sich geändert hat. Er hat mir versichert, daß die Jahre im Gefängnis ihn zu einem völlig anderen Mann gemacht haben.« »Du bist bereit zu wetten?« fragte ich und versuchte weder bitter noch vorwurfsvoll zu klingen. »Du tust genau das, weshalb du dich von ihm hast scheiden lassen – du wettest unter Zwang.« Sie wirkte betroffen, als ob ihr die Idee noch gar nicht gekommen sei. »Ich glaube, du hast recht«, erwiderte sie. »Doch selbst, wenn du recht hast, beeinträchtigt das meine Gefühle nicht. Und wenn er wieder anfängt zu spielen, dann ist das auch gut. Dieses Mal bleibe ich bei ihm. Das muß ich. Verstehst du das nicht, Archy? Weil das Leben ohne ihn für mich einfach unerträglich ist. Leer und bedeutungslos. Das weiß ich jetzt.« Ich hörte dieser intelligenten, selbstbewußten Frau ruhig zu, als sie mir sagte, was sie zu tun beabsichtigte, und ich konnte es nicht glauben. Wo war ihre Würde, ihre Selbstachtung, ihre Unabhängigkeit, ihre kritische Intelligenz? Alles ausgeschaltet durch den Virus der Liebe, gegen den es, soweit ich gehört hatte, kein Mittel gab. Ich hätte ihr sagen können, daß Menschen unterschiedliche Qualitäten haben. Thomas Bingham, so schien mir, war ein schlichter Bursche, der Jennifers Klasse nicht hatte. Und wenn das Snobismus ist, bekenne ich mich schuldig. Doch diese Topfrau war willens – nein, sie brannte darauf! –, ihr Leben für einen Mann zu opfern, der ihr das Wasser nicht reichen konnte. Ich schwöre, daß ich die Launen der menschlichen Natur nie ganz begreifen werde. Das alles sagte ich Jennifer natürlich nicht, und ebenso wenig sagte ich ihr, daß Bingham seine alten Gewohnheiten längst wieder aufgenommen hatte. Ich begriff, daß die Wahrheit für sie in diesem Augenblick unbrauchbar war. Ich stand auf und wünschte Jennifer alles Glück der Welt und dankte ihr für die Freude, die sie mir gegeben hatte. 239
Tränen traten ihr in die Augen. Sie eilte zu mir und umarmte mich, küßte meine Lippen und streichelte meine Wange. Ich nahm meinen Regenhut und winkte Jennifer zum letzten Mal zu. Wie tapfer wir doch lächelten! Dann fuhr ich nach Hause, brachte den Kombi in die Garage und betrat das Haus durch die Küche. Ursi bereitete in einem riesigen gußeisernen Topf eine Bouillabaisse zu. »Duftet toll«, sagte ich zu ihr, »aber unglücklicherweise gehe ich heute abend zum Essen aus. Falls was übrigbleibt, kannst du's für mich zum Frühstück aufbewahren?« »Natürlich«, erwiderte sie und fand nichts Ungewöhnliches dabei, daß jemand ihren Fischeintopf als Frühstück wünschte. »Und noch was, Ursi«, fügte ich hinzu, »sag bitte meinen Eltern, daß ich mich nicht gut fühle und die Cocktailstunde nicht mit ihnen verbringen kann.« Ich stapfte zu meiner Zuflucht hoch und fühlte mich ganz übel. Nachdem ich die Tür verschlossen hatte, was ich selten tue, legte ich meine Jacke und den Hut ab, streifte die Schuhe von den Füßen und zog meine Socken aus. Dann legte ich mich auf mein Bett und wünschte mir einen schnellen und gnädigen Exitus. Die Leute würden munkeln und sagen: »Er starb an unerwiderter Liebe«, ohne die geringste Ahnung zu haben, daß ich wegen chronischer Unentschlossenheit das Zeitliche gesegnet hatte. Nach etwa zwanzig Minuten der Selbstbemitleidung beschloß ich, vernünftig zu werden. Ich stand auf und schenkte mir einen kleinen Marc ein. Dann legte ich zu Ehren von Jennifer Towley eine Kassette von Frank Sinatra auf, der sang: ›Es war ein sehr schönes Jahr.‹ Das mußte ich einfach hören. Während ich die Kassette hörte, duschte ich, wusch mir das Haar, schnitt mir die Zehennägel und strukturierte vor allem mein Leben um. Die Cocktailstunde verstrich, ebenso die Stunde des Abendessens, und ich zog mich an und überlegte, ob ich in den Pelican Club gehen sollte, als ich ein zögerndes Klopfen an der Tür hörte. 240
Ich schloß auf und sah meinen Vater auf dem Treppenabsatz stehen. Ich war überrascht, ihn zu sehen, weil er sehr selten in meine Zuflucht eindrang. Ich starrte ihn an und fragte mich, ob seine buschigen Augenbrauen und sein Schnurrbart entmutigt gesenkt seien. Das waren sie, fand ich, und das bedeutete, daß Lady Horowitz ihm den Laufpaß gegeben hatte – nicht als ihrem Anwalt, sondern als ihrem Liebhaber. »Ursi meinte, du fühlst dich nicht gut«, sagte er. »Mutter bat mich, nach dir zu sehen. Darf ich hereinkommen?« »Natürlich«, erwiderte ich. »Aber jetzt geht's mir besser.« »Freut mich, das zu hören«, sagte er und trat ein. Er hatte zwei kristallene Weingläser dabei und eine geöffnete Flasche Port. Er schenkte beide Gläser randvoll und nahm dann auf dem Sessel hinter meinem Schreibtisch Platz. Ich saß auf der Bettkante. »Ich habe mich heute mit Lady Horowitz getroffen«, begann er. »Ich habe ihr die Inverted Jennies zurückgegeben und sie informiert, daß es Fälschungen sind.« »Und wie hat sie das aufgenommen?« »Erstaunlich gut. Natürlich war sie enttäuscht, aber dennoch bereit, den Verlust hinzunehmen. Wir haben darüber gesprochen, ob der Spender – ihr erster Ehemann, Max Kirschner – sie betrogen hat oder ob er beim Erwerb der Marken einem Schwindel aufgesessen ist.« »Vielleicht trifft beides zu«, merkte ich an. Mein Vater lächelte und strich über seinen Schnurrbart. »Das ist durchaus möglich, aber eine offene Frage. Ich habe Lady Horowitz erläutert, daß die Versicherungsgesellschaft benachrichtigt und die Fälschungen aus der Liste ihres, Lady Horowitz', versicherten Eigentums entfernt werden müssen. Sie fragte, ob das eine Prämiensenkung zur Folge habe. Ich riet ihr, damit nicht zu rechnen.« 241
Ich lachte. »Sie ist wunderbar. Sie läßt nichts aus.« »Ja«, sagte mein Vater. »Archy, ich hatte heute morgen eine kurze Unterhaltung mit Sergeant Rogoff. Offensichtlich will er in Urlaub fahren und hatte es eilig fortzukommen. Er erzählte mir, daß die offiziellen polizeilichen Untersuchungen beendet sind und der Fall abgeschlossen ist. Könntest du mir die Einzelheiten der Affäre schildern?« Ich wiederholte die Polizeiversion der Ereignisse: Angus Wolfson hatte die Inverted Jennies gestohlen und versucht, sie an Bela Rubik zu verkaufen. Der Händler hatte sie als Fälschungen erkannt und gedroht, die Polizei zu informieren. In Panik hatte Wolfson ihn mit dem Briefbeschwerer niedergeschlagen, die Briefmarken wieder an sich genommen und war geflohen. Als er merkte, daß er kräftemäßig nicht mehr in der Lage war, die Marken selbst zu veräußern, zog er Kenneth Bodin hinzu und versprach dem Chauffeur zehn Prozent des Verkaufserlöses. Bodin bat seinerseits seine Freundin Sylvia, die Briefmarken zu verkaufen. Bei ihrem ersten Versuch in Fort Lauderdale scheiterte sie, und bei ihrem zweiten, in Stuart, wurde sie verhaftet. Inzwischen hatte Wolfson, vom Krebs gepeinigt und unter Schuldgefühlen leidend, weil er Rubiks Tod auf dem Gewissen hatte, Selbstmord begangen. »Das ist die Rekonstruktion der Polizei«, schloß ich. Mein Vater schaute mich aufmerksam an. »Aber du bist nicht völlig der Meinung der Polizei?« »Ein paar Dinge stören mich«, gab ich zu. »Welches Motiv hatte Wolfson für den Diebstahl? Schließlich war Lady Cynthia eine alte Freundin. Die Polizei sagt, er habe wegen der Arztkosten dringend Geld gebraucht und habe seine Schwester nicht mit Schulden belasten wollen. Ich halte das für möglich.« »Natürlich ist es das«, sagte Vater entschieden. »Für mich ist das völlig einleuchtend. Was stört dich sonst noch?« »Die Umstände von Wolfsons Selbstmord. Die Polizei führt die242
sen auf seinen verschlechterten Gesundheitszustand zurück und auf die Reue über seinen Überfall auf den Briefmarkenhändler. Ich bin sicher, daß diese Faktoren unwichtig waren, und glaube, daß es einen anderen Grund gab. Ich bin davon überzeugt, daß er sich zu dieser späten Stunde mit Bodin an dem verlassenen Strand verabredet hatte und auf ein sexuelles Erlebnis hoffte. Ich glaube, daß Bodin dort hingekommen ist, aber den alten Mann auslachte und ihm sagte, daß er, Bodin, die Absicht habe, die ganze Summe zu behalten, die er für die Inverted Jennies bekommen würde. Und Wolfson konnte nichts dagegen tun. Wenn er sich an die Bullen gewandt hätte, hätte Bodin ihn als den eigentlichen Dieb verpfiffen. Also blieb Wolfson nichts. Seine Liebesträume hatten sich zerschlagen, er wußte, daß er bald sterben werde, wußte, daß er einen Mann getötet hatte, wenn auch nicht vorsätzlich. Deshalb ging er nackt ins Meer.« Mein Vater nippte an seinem Port. »Sehr phantasievoll«, verkündete er. »Aber doch etwas weit hergeholt. Findest du nicht? Du hast keinen Beweis dafür, daß das, was du glaubst, zwischen Wolfson und Bodin tatsächlich geschehen ist.« »Ja, keinen Beweis«, stimmte ich zu. Mein Vater lächelte schwach. »Aber es ist nicht völlig unwahrscheinlich«, fuhr ich fort. »Es basiert auf dem, was ich über die Persönlichkeit und Schwächen der Beteiligten weiß.« Er schüttelte zweifelnd den Kopf. »Mir scheint dieses Verhalten doch recht seltsam. Doch selbst, wenn du recht hast, beeinträchtigt das doch nicht das Endergebnis, oder? Die Briefmarken sind wieder da, der Dieb ist entlarvt, der Fall offiziell abgeschlossen. Vielleicht war die Arbeit der Polizei nicht so gründlich, wie du sie dir gewünscht hättest, aber bei diesen Dingen bleiben immer ein paar Fragen offen.« »Ja.« 243
Er trank seinen Port aus und saß einen Augenblick ernst da, während er in sein leeres Glas starrte. »Eine vertrackte Geschichte«, sagte er schließlich. »Ich finde die ganze Sache ekelhaft. Ich habe mich schon gefragt, ob es nicht klug wäre, unsere Beziehungen zu Lady Horowitz zu beenden und ihr zu raten, sich einen anderen Rechtsbeistand zu suchen. Was meinst du dazu, Archy?« »Oh, das würde ich nicht tun. Zugegeben, sie kann zuweilen sehr schwierig sein. Aber welche unserer Klienten sind das nicht? Es gehört nun mal zu unserem Job, Ärger und das zuweilen etwas verrückte Verhalten der Leute zu ertragen, die wir vertreten. Wären sie vernünftige, intelligente, ehrliche Menschen, würden du und ich wahrscheinlich sehr kleine Brötchen backen.« Er lächelte mich schief an und stand auf. »Ich denke, du hast recht. Na gut, behalten wir Lady Horowitz auf unserer Liste geschätzter Klienten.« Er schien zum ersten Mal zu bemerken, wie ich angezogen war. »Du wirkst heute abend sehr dandyhaft, Archy«, stellte er fest. »Hast du die Absicht, deine junge Dame zu besuchen?« »Nein. Das ist vorbei.« »Oh«, sagte er bedauernd, »tut mir leid für dich. Na ja, solche Dinge passieren nun mal. Aber du gehst aus?« »Ich wollte im Pelican Club vorbeischauen und sehen, ob da was los ist.« Er schaute mich aufmerksam an und sagte etwas, das mich anrührte: »Ja, ich denke, das würde dir gut tun.« Hörte ich da so etwas wie Neid in seiner Stimme? Egal. In diesem Augenblick fühlte ich mich ihm so nahe wie schon lange nicht mehr. Zwei Verlierer. Stimmt doch, oder? Er nahm seine Flasche Port mit, als er ging. Wahrscheinlich, weil er annahm – meiner Ansicht nach völlig zu Recht –, daß er sie nötiger hatte als ich. Ich verbrachte ein paar Augenblicke damit, mich im Spiegel meines Kleiderschranks zu mustern, und fragte mich, ob ich wirklich 244
dandyhaft aussah. Eigentlich, das fand ich, war ich konservativ gekleidet. Ich hatte mich silberweiß in Schale geworfen, dezent, aber elegant: Ultrasuede-Jacke, weißes Polohemd, schwarze Seidenhose. Ich hatte das Gefühl, daß ein Farbtupfer vielleicht nicht schaden könne, und setzte deshalb vorsichtig meinen Strohhut auf, den ich erst vor kurzem gekauft hatte. Er war mit einem kirschroten Band aus Shantungseide versehen, das ich für irre stark hielt. Ich ging nach unten. Auf dem Weg treppabwärts kam ich am Wohnzimmer im zweiten Stock vorbei, hörte ein Geräusch aus dem Fernseher und warf einen Blick in die gute Stube. Meine Mutter und mein Vater saßen auf der Couch und sahen sich eine Wiederholung von ›Mrs. Miniver‹ an. Sie hielten Händchen. Der Nachthimmel war nicht völlig klar, aber die Wolkendecke riß auf, und als ich den Miata über die Royal Palm Bridge lenkte, freute ich mich darüber, daß ein paar blasse Sterne gelegentlich zwinkerten. Am schönsten aber war, daß die Luft sich abgekühlt hatte. Eine Brise wehte mit etwa fünf Knoten von der See herein und ließ Gutes für ein Golf- und Tennis-Wochenende erhoffen. Es war relativ früh, doch der Pelican Club war rammelvoll. Als ich eintrat, drehten sich die Köpfe in meine Richtung, und mein Strohhut mit dem kirschroten Seidenband bewirkte allgemeine Heiterkeit. Ich nahm das Getue meiner Freunde ruhig hin und begab mich an die Bar. »Guten Abend, Mr. McNally«, sagte Simon Pettibone. »Ein hübscher Hut.« »Danke«, meinte ich. »Sie sind ein Mann von erlesenem Geschmack. Was wissen diese Bauern schon von lässiger Eleganz? Mr. Pettibone, heute abend lechze ich nach etwas Exotischerem als Wodka, nach etwas, das meine Geschmacksknospen packt und nicht mehr losläßt. Was schlagen Sie vor?« »Eine Margarita.« »Ausgezeichnet! Aber mit viel Salz bitte.« 245
Ich nahm meinen Hut ab und legte ihn auf den Barhocker neben mir. Einen Augenblick später verschwand er, und als ich mich umdrehte, sah ich, daß Consuela Garcia mein Schmuckstück in leichter Schräge auf dem Kopf trug. Sie sah bezaubernd aus. »Archy«, sagte sie. »Ich muß diesen Hut haben. Was willst du dafür?« »Deine Unschuld.« »Bedaure, damit kann ich nicht dienen, wie du wohl weißt.« »Dann nimm einen Drink mit mir, und der Hut gehört dir.« »Kein Problem«, erwiderte sie und schwang sich auf den Hocker neben mir. Mr. Pettibone servierte meine Margarita. Consuela ergriff sie unverzüglich und trank. »Göttlich«, meinte sie. »Und was trinkst du?« Seufzend bestellte ich eine weitere Margarita und wandte meine Aufmerksamkeit Connie zu. Sie sah absolut umwerfend aus. Ihr langes schwarzes Haar fiel offen über einen gehäkelten Rollkragen aus weißer Wolle. Ihre Jeans saßen so eng, daß sie eigentlich gar keine Jeans sein konnten, sondern eine Tätowierung von der Hüfte bis zu den Knöcheln sein mußten. Mein neuer Hut war die perfekte Ergänzung ihres Kostüms. Sie war einfach ein Prachtweib! »Bist du allein hier?« fragte ich sie. »Ja, verdammt. Und zu allem Überfluß mußte ich auch noch ein Taxi nehmen. Mein Wagen ist in der Werkstatt.« »Was ist kaputt?« »Die Lichtmaschine ist nicht in Ordnung.« Ich schaute sie hochmütig an. »Ich glaube, ich möchte mit einer Frau nichts zu tun haben, deren Lichtmaschine defekt ist.« »Ach, halt die Klappe. Warum begleitest du heute abend nicht Jennifer Towley?« In diesem Augenblick kam meine Margarita. Sie kam genau richtig. 246
»Jennifer?« meinte ich. »Das ist vorbei.« »Wirklich? Willst du darüber reden?« »Nein.« »Okay«, sagte sie gleichmütig, »dann eben nicht. Aber erzähl mir von Lady Horowitz. Du bist ihr zweimal gefolgt. Wohin ist sie gefahren?« »Oh, das war falscher Alarm. Sie wurde nicht erpreßt.« »Das hab' ich doch gewußt! Aber weshalb war sie unterwegs?« »Du wirst es kaum glauben, Conny, aber sie arbeitet freiwillig in einem Obdachlosenasyl.« »Du machst Witze!« »Pfadfinderehrenwort. Dahin fährt sie ein paarmal die Woche. Sie verteilt Käseschnitten an die Hungrigen und hilft beim Suppekochen.« »Und was ist mit den regelmäßigen Abhebungen von ihrem Bankkonto, von denen du mir erzählt hast?« »Spenden für das Obdachlosenheim.« »Ich kann's einfach nicht glauben«, staunte Connie. »Warum hat sie nichts davon gesagt? Das ist doch nichts, weswegen sie sich schämen müßte.« Ich zuckte die Schultern. »Ich nehme an, sie will ihr Wohltun verheimlichen. Vielleicht genießt sie ihren Ruf und möchte nicht, daß die Leute erfahren, wie großzügig sie ist.« »Erstaunlich. Die ganze Zeit hat sie geholfen, die Not der Bedürftigen zu lindern.« »Genau das.« »Sie hat wirklich ein goldenes Herz. Ich wette, sie hat eine Menge guter Taten getan, von denen niemand etwas weiß.« »Ich wäre nicht im mindesten überrascht.« Nachdenklich schluckten wir unsere Margaritas. Der Club füllte sich. Es wurde lauter, Gelächter brandete auf, und ein paar Stimmen begannen ein unanständiges Lied zu singen. 247
»Archy«, sagte Conny, »ich bin hungrig. Essen wir an der Bar einen Hamburger?« »Ich hab' eine bessere Idee«, erwiderte ich. »Es klart auf, und draußen weht eine angenehme Brise. Laß uns die Küste entlangfahren. Wir halten an dem ersten guten Restaurant an, das wir finden, essen zu Abend, trinken was und lachen. Was hältst du davon?« »Wundervoll«, sagte sie. »Gehen wir.« Wir tranken unsere Margaritas aus. Ich unterschrieb die Rechnung, und wir gingen hinaus. Connie trug meinen neuen Hut. Mich ärgerte es ein bißchen, daß er ihr besser stand als mir. Ich hielt ihr die Tür des Miata auf, aber sie blieb stehen und ergriff meinen Arm. Sie schaute mir in die Augen und fragte: »Glaubst du, wir könnten wieder zueinanderfinden?« »Warum nicht?« antwortete ich. »Es ist ja so vieles möglich.«
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