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Vertrauen, Betrug, Verrat: Die Saga von „Dark Angel“ geht weiter! Die offizielle Fortsetzung der Kultserie Der Stoff der 3. TV-Staffel: jetzt exklusiv als Buch! In einer Welt, in der die Grenzen zwischen Gut und Böse verschwimmen, in der brutale Anarchie und grausame Unterdrückung alltäglich geworden sind, können Geheimnisse tödlich sein. Durch Zufall entdeckt Max, dass Logan ihr jahrelang eine schreckliche Wahrheit verheimlicht hat. Wie konnte er das tun? Wo sie ihm doch blind vertraute! Sein ungeheuerlicher Verrat droht ihre Freundschaft zu zerstören. Als Logan entführt wird, ist Max hin- und hergerissen. Doch dann beschließt sie, ihm zu helfen. Ihre Suche nach ihm führt Max schließlich zurück in den Schatten des Schlangenkults. Hier wartet bereits ein gefährlicher Feind aus der Vergangenheit auf sie: Ames White. Im Kampf ihres Lebens stößt Max schließlich auf einen Gefangenen des Schlangenkults: Donald Lydecker. Kann sie ihm vertrauen? Ihr bleibt keine Wahl. Denn Lydecker ist der Einzige, der ihr eine Antwort auf die Frage geben kann, die Max seit ihrer Flucht aus Manticore beschäftigt...
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Dark Angel Tödliches Geheimnis Roman von
Max Allan Collins Ins Deutsche übertragen von Rita Koppers Basierend auf der TV-Serie von James Cameron und Charles Eglee
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Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei der Deutschen Bibliothek erhältlich.
In neuer Rechtschreibung. DARK ANGEL™ & © 2003 Twentieth Century Fox Film Corporation. All Rights Reserved © 2003 für die amerikanische Originalausgabe „Dark Angel – After the Dark“ by Max Allan Collins This translation published by arrangement with The Ballantine Publishing Group, a division of Random House, Inc. Vox-Logo: © Vox 2003 Dark Angel Bd. 3: Tödliches Geheimnis Deutsche Ausgabe 2003 by Panini Verlags GmbH, Rotebühlstraße 87, 70.178 Stuttgart Alle Rechte vorbehalten Redaktion: Claudia Weber Lektorat: Ray Bookmiller Umschlaggestaltung: TAB Werbung, Stuttgart, basierend auf dem US-Cover von Chris Cowell Satz: Greiner & Reichel, Köln Druck: GGP Media, Pößneck ISBN: 3-89.748-764-0
www.panini-dino.de
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For the DARK ANGEL fans, who keep the Freak Nation flag flying MAC & MVC
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DANKE Mein Dank gilt auch diesmal wieder Matthew V. Clemens, mit dem ich schon viele Kurzgeschichten veröffentlicht habe. Er hat mich tatkräftig unterstützt. Matt, ein bekennender Fan von Dark Angel, hat mit mir zusammen die Geschichte konzipiert und ein detailliertes Handlungsgerüst erstellt, aus dem ich Tödliches Geheimnis entwickelt habe. Auch mein Lektor Steve Saffel hat mich unermüdlich unterstützt, nicht nur, was das Lektorat betrifft. Ihm habe ich viele kreative Ideen zu verdanken. Ich möchte mich auch bei den Schöpfern von Dark Angel, James Cameron und Charles Eglee, bedanken, die uns ermöglicht haben, die Geschichte fortzusetzen. Des Weiteren möchte ich mich bei der Autorin Moira Kirland Dekker bedanken, die eine Episode zu Dark Angel beigetragen hat. Mein Dank geht an Debbie Olshan von 20th Century Fox, Wendy Cheseborough von Lightstorm. Außerdem an Gillian Berman, Colette Russen und Colleen Lindsay von Ballantine Books. Und nicht zuletzt möchten wir den vielen Fans von Dark Angel danken, die uns mit ihrer Korrespondenz, der lebhaften Diskussion im Internet und dem Vertrieb unterstützt haben. Offen gesagt, es war teilweise gar nicht so einfach, die Geschichte weiterzuspinnen, weil die Fans manchmal besser Bescheid wussten als wir selbst. Matt, Steve und ich hoffen, dass den begeisterten DarkAngel-Anhängern die Fortsetzung der Saga gefällt. Und wer weiß, vielleicht geht die Geschichte ja noch weiter...
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„Love sickness needs a love cure.“ Chinesisches Sprichwort
„Love hurts.“ Phil & Don
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1. Kapitel__________________________ EIN EISKALTER TAG IN DER HÖLLE Meander River, Alberta 18. Dezember 2021 Sechs Monate auf der Flucht. Sechs Monate in kleinen Orten und großen Städten, Motels, Hotels, Campingwagen und öffentlichen Parks, gemeinsam mit Gesindel und Obdachlosen. Schnorren. Überleben... Welch eine Erniedrigung war das gewesen – in der Zeit nach dem Puls, in den Ruinen, die jetzt das Bild Amerikas prägten – für einen Mann wie Ames White, mit seinen Fähigkeiten und Empfindungen. Doch White war ein Mann, der schwierige Situationen aushielt. Der jedes Elend bewältigen konnte und mit jeder Notlage zurechtkam. Geduld war sicherlich nicht seine Stärke. Daran hatte es ihm schon immer gemangelt, genauso wie an Würde, wenn er Misserfolg hatte. Oder an Nachsicht, wenn es um Mittelmäßigkeit ging. Auch Mitleid war für ihn ein absolutes Fremdwort. Deshalb erschien er zweit- und drittklassigen Zeitgenossen – von denen es jede Menge gab – grausam, ja eiskalt. Aber diese – laut White – fälschlicherweise angenommene Grausamkeit und Kälte zeugte nur von seiner geistigen Überlegenheit, ein Resultat jahrtausendelanger selektiver Zucht, die ihm letztendlich ermöglichte, zu überleben. Wie auch immer, Ames White war jedenfalls frei von den meisten dieser primitiven „menschlichen“ Emotionen. Auch wenn – zugegebenermaßen – noch ein Hauch davon übrig geblieben war, denn er hatte einmal eine Frau geliebt. Und er liebte seinen Sohn. 8
Was die Familie betraf, die Zucht also, ging das auch in Ordnung und wurde sogar gefördert. Ames White hatte einen ziemlich dunklen, bösen Sinn für Humor. Deshalb war er sehr wohl in der Lage, die Ironie dieser Situation zu erkennen. Dass nämlich ein „eiskalter“ Typ wie er in Kanada Zuflucht gesucht hatte. Genauer gesagt, im bitterkalten Meander River – eine Siedlung des Stammes der Dene Tha. In dem kleinen Ort, weit oben im Norden, wohnten nicht mehr Menschen, als man an einem Sonntag auf einem Marktplatz in Seattle finden konnte. Die Leute hier lebten so fernab der Zivilisation, dass White sich fragte, ob diese Untermenschen überhaupt jemals etwas vom Puls gehört hatten, ganz zu schweigen von dessen Auswirkungen. Die Wirtschaft in Meander River beruhte auf Tauschhandel. Computer waren für die Einwohner etwas Fremdes. Seit der Katastrophe in den nahen Vereinigten Staaten hatte sich hier kaum etwas verändert. Als Terroristen damals im Jahr 2009 einen elektromagnetischen Impuls an der Ostküste auslösten, hatten die USA alles verloren. Die Supermacht war mit einem Schlag auf den Status eines Dritte-Welt-Landes herabgesunken. Für Meander River allerdings war dieses Ereignis genauso alltäglich gewesen wie ein Stromausfall bei einem Sturm. Begraben unter Schneemassen war der kleine Ort der ideale Unterschlupf für jemanden, der sich vor heiklen Typen verstecken wollte... den Bossen der NSA beispielsweise, die sicher sauer waren, dass ein Agent sich als Schurke herausgestellt hatte. Oder vor den Familiars, Whites Schlangenkultfamilie, die sicherlich darüber verärgert waren, dass einer aus ihren Reihen bei all seinen Aufträgen versagt hatte, und die ihn bestimmt gerne auf üble Weise – vielleicht sogar mit dem Tode – bestraft hätten.
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Wenn man vor solchen Leuten in Urlaub flüchten wollte, dann hatte Meander River eine Menge zu bieten. Nicht nur die beißende Kälte und die beängstigenden Schneemassen. Der Ort war mehr als drei Stunden vom nächsten Behelfslandeplatz entfernt und gute zwölf Stunden von Edmonton mit seinem ausgebauten Flugplatz. All das machte eine Reise in dieses eiskalte Aussteigerparadies nicht einfach, insbesondere nicht eine Woche vor Weihnachten, bei Tageshöchsttemperaturen von weit unter null Grad. Meander River lag mitten im Dene Tha-Reservat. In den USA hatten in vergleichbaren Reservaten ziemlich erbärmliche Zustände geherrscht. Verantwortlich dafür war der jahrhundertelang andauernde Völkermord durch die Regierung. Die Bedingungen hier waren jedoch ein wenig besser. Es gab eine Schule, ein Feuerwehrhaus, eine Gemischtwarenhandlung und etwa einhundert Schindelhäuser, alle einigermaßen gut erhalten. Auch die Umgebung war ansprechender hergerichtet, als White es aus den US-Reservaten kannte – ohne Schrottautos oder heruntergekommene Gebäude. Vor allem bot die Rassenzusammensetzung in Meander River sozusagen eine umgekehrte Tarnung für ihn. Er war einer von vier oder fünf Personen ohne die dunkle Haut und die flachen breiten Gesichtszüge des Dene Tha-Stammes. Und das gab ihm den unbestreitbaren Vorteil, weißhäutigen Ärger schon von weitem erkennen zu können. Die Familiars waren grundsätzlich weiß. Rassenreinheit war ein Element des Zuchtprinzips gewesen, das über die Jahrhunderte perfektioniert worden war. Und die US-Regierungen – im Besonderen die Geheimdienstorganisationen – waren auch nicht gerade berühmt dafür, dass sie Farbige in ihre Reihen aufnahmen. Deshalb fühlte sich White zwar nicht sicher, aber er war darauf vorbereitet, jeder Schwierigkeit in der kleinen kanadischen Stadt ins Auge sehen zu können. 10
Whites weiße Hautfarbe hatte aber auch eine Schattenseite. Unter all den dunkelhäutigen Menschen stach White hervor wie ein fehlgeschlagenes Experiment aus Manticore. So wie der geistig minderbemittelte Hundejunge oder jener psychotische Eidechsenmann. Auch wenn ihn das für seine Verfolger leicht erkennbar machte, so brachte es ihm doch einen gewissen Frieden zu wissen, dass er zumindest im gleichen Boot saß wie sie. Nämlich in dem der Weißen. Allerdings war White inzwischen schwieriger zu erkennen als noch vor einem halben Jahr, als sein Bild über alle Fernsehkanäle in Nordamerika gelaufen war. Sein kurzes braunes Haar war gewachsen und bedeckte seine Ohren. Ein sorgfältig gestutzter Bart zierte sein ehemals sauber rasiertes Gesicht und gab ihm das Aussehen eines gepflegten Bergbewohners. Allein seine stechenden dunklen Augen waren noch unverkennbar. Die geschmeidige, muskulöse Gestalt versteckte er unter einem Parka, auch wenn er darin schmächtiger und weniger kraftvoll aussah, als er es tatsächlich war. White betrachtete sich selbst als eine Art sanfter Clark Kent, der nur seine Brille abnehmen und seine Kleidung abstreifen musste, um Superman zum Vorschein zu bringen. Andererseits brauchte er weder eine Brille – da er durch die Zucht mit einem scharfen Blick ausgestattet war – noch hatte jemals einer von ihm behauptet, dass er – wenn es drauf ankam – sanft oder etwas Ähnliches sei. Als White vor vier Monaten hier angekommen war, hatte der ehemalige NSA-Agent sich ein kleines blaues Haus gemietet. Es hatte einem Lehrer gehört, der eine Stelle in Calgary angenommen hatte. Das einstöckige Haus hatte zwei Schlafzimmer, einen ab und zu funktionierenden Fernseher, ein Badezimmer, in dem ständig nur kaltes Wasser aus der Leitung kam und einen Kamin im Wohnzimmer, der zumindest einen Teil der Kälte abhielt. Er hatte genug Geld, um hier behaglich 11
wohnen zu können, dank der Zuwendungen zweier Regierungsstellen und dem Geld, das die Familiars ihm für seine Operationen zur Verfügung stellten. Da er mehr als ein halbes Jahrzehnt für zwei Geheimdienstorganisationen gearbeitet hatte, verfügte er über eine Menge Geld, das er unter verschiedenen Namen auf zahlreichen Konten deponiert hatte. Die NSA hatte nichts von den Familiars gewusst, und so konnte er für beide Seiten arbeiten. Die reichen Familiars gab es allerdings schon viel länger, als sich irgendjemand vorstellen konnte, und sie wollten, dass White seinen Posten bei der NSA behielt. Der Verlust der Stelle durch den Verrat seines Untergebenen Otto Gottlieb hatte die Konklave sicherlich in Wut versetzt und White letztlich dazu veranlasst, in dem weiten kanadischen Niemandsland unterzutauchen. Irgendwann jedoch musste er sich mit den Familiars treffen, um Frieden zu schließen, auch wenn er damit sein Leben riskierte. Überleben stand für ihn in den letzten Monaten an oberster Stelle. Und mit seiner schärfsten Waffe, dem Verstand, begann er eine Lösung auszuarbeiten, um dieser ausweglos scheinenden Situation zu entkommen. Klar, er hatte seine eigenen Vorstellungen und Wünsche, vor allem was seinen Sohn betraf, teilte jedoch immer noch den Glauben und die Ziele der Gemeinschaft. Und sein Ziel war es, sie davon zu überzeugen, ihm eine zweite Chance zu geben. Dass er immer noch in Meander River war, hatte seiner Meinung nach den Grund, den Familiars die Möglichkeit zu geben, sich erst einmal zu beruhigen und Abstand zu gewinnen zu seinen fehlgeschlagenen Operationen, damit er seine Sache eines Tages vor uneingenommenen Richtern darstellen konnte. Ihm selbst gab das Leben hier ein Gefühl der Ruhe, mochte es auch noch so hart sein. Außerdem war er stolz darauf, dass er nicht nur überlebte, sondern sich auch ziemlich gut seiner Umgebung anpasste. Der Stress seines Doppellebens war von 12
ihm abgefallen. Und eines Tages, wenn sein Sohn und er wieder zusammen sein würden, konnten sie hier vielleicht gemeinsam leben. Selbst die unerträglichen Kopfschmerzen, unter denen White während seiner Arbeit für die Bundesbehörde ständig gelitten hatte – diese Dummköpfe dort hätten selbst Jesus Christus Kopfschmerzen bereitet –, quälten ihn hier lange nicht mehr so stark. Schmerz war etwas, das White und seine Genossen weitestgehend überwunden hatten, dank jahrhundertelanger Zucht. Dennoch gab es ein paar Überreste, die die Natur als Warnsystem vorgesehen hatte. Bestimmte Arten von Schmerz konnten sich daher, trotz der Genmanipulation, bei White und den anderen einstellen. Die Kopfschmerzen waren ein Beispiel dafür. White hüllte sich in seinen Parka, zog die Stiefel an und setzte die Skimaske auf. Er wollte zu Malcolm’s, zwei Blocks weiter. Malcolm’s war eine Kombination aus Restaurant und Bar und der einzige Platz im Ort, an dem man eine heiße Mahlzeit oder einen anständigen Drink bekommen konnte. Kochen gehörte ohnehin nicht zu Whites herausragenden Fähigkeiten, und er hatte auch keine Lust, daran etwas zu ändern. Deshalb verbrachte er viel Zeit bei Malcolm’s. Sowohl die Aushilfe als auch der Besitzer selbst hatten lange gebraucht, bis sie ihn als regelmäßigen Gast akzeptierten. Sie waren stoische, mürrische Leute, die ihn immer noch wie einen Fremden und Außenseiter behandelten. Vielleicht lag es an der unterschiedlichen Rasse. Jedenfalls hatte White das sichere Gefühl, dass keiner der Crew bei Malcolm’s ihn mochte. Das überraschte ihn aber nicht im Mindesten, denn Menschen schienen allgemein ihm gegenüber ein Gefühl der Antipathie zu haben, wahrscheinlich deshalb, weil sie seine Überlegenheit spürten. White war es jedoch vollkommen egal, ob diese Wilden ihn mochten oder nicht. Es hatte ihm noch nie etwas bedeutet, von 13
irgendjemandem gemocht zu werden. Wenn er nicht mit seinesgleichen zusammen sein konnte – zum Beispiel mit seinem Sohn –, kam er auch ohne Gesellschaft ganz gut alleine zurecht. Wenn er überhaupt etwas an Malcolm’s mochte, dann die Tatsache, dass ihm dort keiner einen Smalltalk aufdrängte. So wie er es früher lange genug hatte ertragen müssen. Während er durch die Tundra stapfte, dachte er an all das, was in den letzten zwölf Monaten schief gelaufen war. Ganz oben auf der Liste der Schmach stand ein Transgeno namens Max. White hatte zahlreiche Gelegenheiten verpasst, die X5 – oder genauer gesagt X5-452– zu fangen oder zu töten. Sie hatte ihm das Leben zur Hölle gemacht. Zudem hatte Otto Gottlieb, sein Partner bei der NSA, sich nicht nur gegen ihn gewandt, sondern White darüber hinaus an den einzigen Feind verpfiffen, der gefährlicher war als 452: Eyes Only, der Cyberterrorist aus dem Untergrund. Der rebellische Journalist, dessen wahre Identität im Verborgenen lag, hatte ständig in brisanten Angelegenheiten herumgeschnüffelt. Die meisten dieser Störaktionen waren zwar lästig gewesen, sie hatten White jedoch keineswegs von seinen geheimen Plänen abgebracht. Alles hatte sich jedoch geändert, als Eyes Only eines seiner für ihn typischen Videos gesendet hatte, dessen Gegenstand Ames White war. Mit voller Absicht hatte dieser Rebell anhand jener Übertragung Whites Karriere zerstört und dafür gesorgt, dass sowohl die NSA als auch die Familiars sich gegen ihn stellten. Eyes Onlys Sendung hatte Insiderinformationen verbreitet, die von dem feigen NSA-Handlanger Sage Thompson und Whites ehemaligem Partner Otto Gottlieb geliefert worden waren. Auch wenn dies der Hauptgrund gewesen war, der ihn in die Anonymität getrieben hatte, traf ihn der Verlust seines Sohnes Ray weit härter. 452 und ein nicht identifizierter Mann hatten Ray aus der Brookridge Academy, der Schule der Familiars, gekidnappt. Der Junge wurde vermisst, und White hatte keine 14
Ahnung, wo er jetzt steckte. Letztlich hatte er nicht nur Ray verloren, sondern auch seine Frau Wendy. Sicher, er selbst hatte Wendy getötet. Eine Notwendigkeit, da sie ihn verraten hatte, aber das machte den stechenden Schmerz des Verlustes nicht besser. Seine Frau war eine gute Freundin gewesen, mit vielen schätzenswerten Qualitäten, außer dass sie nie gewusst hatte, wann sie den Mund zu halten hatte. Auf lange Sicht gesehen wären er und Ray sicher besser ohne sie dran gewesen. Denn sie war im Grunde nur das Medium für Rays Erzeugung gewesen und hatte auch nicht die Erziehung wie White und sein Sohn. Das Wichtigste war jetzt, Ray zu finden. White wusste, dass er seinen Sohn eines Tages zurückbekommen würde. Aber er konnte sich erst auf die Suche nach ihm machen, nachdem er Frieden mit den Familiars geschlossen hatte. Und eines Tages – er wünschte, dass er dann mit seinen Brüdern zusammen sein konnte – würde ein Ereignis stattfinden, das seine Leute an die Spitze der Welt brächte. Vielleicht würde die Konklave ja seinen unschätzbaren Wert erkennen, wenn er demnächst den Verantwortlichen seine Expertise und sein Wissen über X5-452 darlegte. Selbst an den besten Tagen war in Meander River nicht viel los. Als er jetzt jedoch durch die verlassene Straße stapfte, dämmerte ihm, dass es noch ruhiger war als üblich. Und üblich hieß eben verdammt ruhig. Der Wind wirbelte Schneeböen auf und peitschte ihm ins Gesicht. White hatte das Gefühl, durch eine schneebedeckte, eiskalte Stadt zu wandern. Seine Pistole steckte wie üblich in seinem Halfter am Rücken. Der kalte Stahl gab ihm irgendwie ein Gefühl der Sicherheit. Eine zweite Waffe befand sich griffbereit in seiner Parkatasche, wo er sie jederzeit sofort herausziehen konnte. Es gab also keinen Grund zur Besorgnis. Du bist zu lange in schlechter Gesellschaft gewesen, sagte er zu sich selbst. 15
Der Schnee knirschte unter seinen Stiefeln, und die kalte Luft wehte den angenehmen Geruch von Malcolm’s Rinderschmortopf herüber. Er war noch etwa einen Block von der Kneipe entfernt und rief sich jetzt das ins Gedächtnis, was sie vor dem Puls gepredigt hatten: „Nur weil du paranoid bist, heißt das noch lange nicht, dass sie nicht hinter dir her sind.“ Whites neue Version hieß jetzt allerdings: „Nur weil sie hinter dir her sind, musst du noch lange nicht paranoid sein.“ Er lächelte bei dem Gedanken. Dann überquerte er die Straße, die an Malcolm’s vorbeiführte. In diesem Augenblick erklang eine tiefe Stimme. Sie war weder bedrohlich noch irgendwie laut. Aber sie dröhnte: „Fe’nos tol.“ White erstarrte. Das war der Gruß der Familiars. Sie hatten ihn gefunden, nach so vielen Monaten. Nur weil du nicht paranoid bist, dachte er, heißt das nicht, dass sie dich nicht kriegen. Wie sie es geschafft hatten, war ihm egal. Schlimm war nur, dass sie nun hier waren und in die Stadt gelangt waren, ohne dass er es bemerkt hatte. Er bemühte sich, langsam und ruhig zu atmen. Dann drehte er sich in Richtung der Stimme um. „Fe’nos tol“, antwortete er und seinem Mund entwich kalter Dampf. Zwei Männer standen ihm gegenüber, beide dick vermummt in Parkas, so wie er selbst. Sie trugen ebenfalls Skimasken. Doch es war egal, ob er sie erkennen würde oder nicht, wenn sie ihre Masken abnähmen. Es war nicht wichtig, wer sie waren, sondern nur, wen sie repräsentierten. Offensichtlich waren die Familiars stärker an ihm interessiert, als er gedacht hatte. So viel zum Thema: In Ruhe überwintern bis der Frühling kommt. Obwohl sein Blick noch immer auf die zwei Männer vor ihm gerichtet war, spürte White, dass drei weitere Typen hinter ihm 16
aufgetaucht waren. Seine Fähigkeiten lagen, genau wie die seiner Jäger, weit über dem Durchschnitt normaler Menschen. White musste die drei Männer hinter sich nicht sehen, um zu wissen, dass sie da waren. Er spürte sie, denn sein Radarsystem, das ständig auf Kampf eingestellt war, hatte ihm das Zeichen gegeben. Und dennoch hatten sie ihn überrascht, hatten sich von hinten auf der menschenleeren, verschneiten Straße an ihn herangeschlichen, ohne dass er etwas bemerkt hatte. Sie waren gut. Die Familiars hatten ihre besten Spürhunde auf ihn angesetzt. Tausend Jahre Ausbildung durch die Familiars hatten die stärksten Menschen hervorgebracht, Übermenschen, um genau zu sein. Nur der künstlich erschaffene Abschaum von Manticore konnte ihnen in gewisser Weise das Wasser reichen. White blieb regungslos stehen, um die anderen nicht zu provozieren, und sagte: „Von unseren Vorfahren. Für unsere Kindeskinder.“ Der Typ mit der Skimaske zu seiner Linken antwortete: „Von meinem Vater vor mir. Für meine Söhne.“ Dann zogen die beiden Männer ihre Pistolen aus der Tasche, schmale silberne Waffen mit Schalldämpfer. So viel zum Thema: Freundliche Begrüßung. White ließ seine behandschuhten Hände locker an den Seiten baumeln, als Zeichen dafür, dass er nicht zur Waffe greifen würde, und überlegte seinen nächsten Schritt. Das waren Spürhunde, keine Mörder. Natürlich hätten sie ihn falls nötig getötet. Wenn sie jedoch den Auftrag gehabt hätten, ihn umzulegen, hätte es zur Begrüßung anstatt der Worte längst Kugeln gehagelt. Aber es war zwecklos, mit ihnen zu reden, zu argumentieren oder sie irgendwie hinzuhalten. Keiner dieser Männer wäre in diesem Moment mit Worten zu beeinflussen gewesen, selbst
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eine Bestechung wäre nur auf taube Ohren gestoßen. Denn Tatsache war, dass es fünf gegen einen stand. Kampfregel Nr. 101: Wenn du in Unterzahl bist, greife an. White trat schnell einen Schritt vor und sprang mit weit ausgestreckten Beinen hoch. Der Typ links stöhnte, als Whites Stiefel ihn an der Brust traf. Ein Schuss löste sich aus seiner Pistole und die Kugel flog über sie hinweg. Dann sackte der Mann zusammen und landete mit einem dumpfen Aufprall im Schnee. Der andere hatte nicht einmal Zeit zu stöhnen, als Whites Stiefel ihn mitten ins Gesicht traf und seine Nase brach. Bewusstlos fiel er in einen Schneehaufen und die Waffe glitt aus seiner Hand. Geschickt landete White wieder auf den Füßen, dann schwang er ein Bein mit einer solchen Geschwindigkeit herum, dass selbst derart durchtrainierte Typen wie diese nur unbeholfen zurückweichen konnten. Kaum berührte sein Fuß wieder den Boden, rannte er die Straße hinunter. Die zwei ausgeknockten Spürhunde blieben im Schnee zurück, die drei anderen folgten ihm. Er spürte das Atmen seiner Verfolger förmlich im Nacken. Obwohl er schnell war, wusste White, dass er dem Trio nicht entkommen konnte. Das waren keine normalen Männer, sondern Familiars wie er selbst. Er hoffte, mit etwas Glück einen guten Platz zu finden, um sich ihnen entgegenzustellen zu können. Es überraschte und ermutigte ihn, dass sie nicht auf ihn schossen. Sie hätten ihre Waffen schon längst zücken können. Dass sie es nicht taten, konnte demzufolge nur einen Grund haben: Ihr Befehl lautete, ihn zu fassen. Und nicht, ihn zu vernichten. Er lief mit langen, gleichmäßigen Schritten, ohne große Anstrengung. Wieder einmal zahlte sich die jahrhundertelange Zucht aus. Schließlich warf er einen Blick über die Schulter, bevor er links um eine Ecke bog. Er sah, dass die drei noch im 18
gleichen Abstand von etwa fünfzehn oder zwanzig Metern hinter ihm waren. Schließlich wandte er sich nach rechts, presste sich in eine Einfahrt und wartete. Die Waffen ließ er an ihrem Platz. Schnell ging er in Gedanken seine Möglichkeiten durch. Eins war ihm vor allem klar: Er wollte um keinen Preis die Waffe benutzen. Da seine Aktien bei der Konklave, dem Kontrollorgan der Familiars, schlecht standen, durfte er keinen seiner Brüder töten. Denn dann gäbe es kein Zurück mehr, außer in einem Leichensack. Jetzt tauchte einer der Männer an der Ecke auf. White sprang aus dem Eingang, verpasste ihm einen Tritt an den Kopf und schickte ihn zu Boden. Der zweite Typ erschien gerade in dem Augenblick, als White wieder auf dem Boden landete. Der Mann griff ihn an, auch er hatte keine Waffe in der Hand. Aber White war bereit. Er wich aus, wehrte ab. Als der Angreifer mit der Skimaske einen kunstvollen Schwinger nach dem anderen setzte, wich White geschickt aus. Schließlich raste der dritte Mann um die Ecke, und White sah seine Chance. Er wirbelte weg von Nummer zwei, verpasste dem Solarplexus von Nummer drei einen Tritt. Der Mann atmete schwer auf und eine dampfende Wolke entstieg seinem Mund, als er in den Schnee sackte. Jetzt wandte White sich wieder Typ Nummer zwei zu und verpasste ihm einen perfekten Tritt mit dem Bein. Auch er ging zu Boden. White nutzte seinen Vorteil, erwischte den Mann mit einem gezielten Hieb gegen das Schlüsselbein und hörte ein scharfes Knacken, als der Knochen brach. Der Mann schrie jedoch nicht. Schmerz stand nicht auf dem Programm, dafür aber eine andere physische Reaktion, die in seinem Falle Ohnmacht hieß. White hielt einen Moment inne und dachte an seine drei geschlagenen Gegner. Keiner von ihnen hatte ihn mit der
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Waffe in der Hand verfolgt. Ganz offensichtlich wollte die Konklave ihn lebend, und das war ein gutes Zeichen. War dies wirklich ein gutes Zeichen? Mit einem Schaudern beantwortete er sich die Frage selbst, rannte in die Richtung, aus der er gekommen war, wandte sich dann nach rechts und überlegte fieberhaft seinen nächsten Schachzug. In diesem Augenblick tauchte aus einem dunklen Eingang ein weiterer Familiar auf. Er hatte eine elektrische Hochspannungswaffe – einen so genannten Tazer – in der rechten Hand. Wie Schneeflocken wirbelten die Fragen durch Whites Kopf. Woher war dieser Mann mit der Skimaske gekommen? Wie hatte er ihn überholen können? Diese und ein Dutzend andere Gedanken blitzten in Whites Hirn auf, genau in dem Moment, als zwei Pfeile aus dem Tazer schossen und Whites Parka durchbohrten. Er spürte zwei scharfe Stiche in der Brust, dann zitterten seine Gliedmaßen unkontrolliert, seine Beine verloren die Kraft und er sackte zu Boden, seine Augen zum pistolengrauen Himmel gerichtet. Selbst die jahrhundertelange Schmerzunterdrückungs-Schulung konnte den Elektroschock nicht aufhalten, der durch seinen Körper jagte und ihn innerlich fast zu verbrennen schien. Dann gab es keine Fragen mehr, nur noch den Himmel, der langsam schwarz wurde. Und die Stille. Nur wenige Sekunden später ergab sich White dem ihm fremden Gefühl extremen Schmerzes. Danach verblasste es wieder und White fühlte sich selbst aus Meander River, Alberta, verschwinden, als ob er über den Rand einer Klippe gesprungen und in einen Abgrund gefallen wäre. Ein Abgrund, der noch kälter war als sein Zufluchtsort im ehemaligen Indianerreservat. Und noch dunkler als seine schwärzesten Gedanken.
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Noch bevor er seine Augen öffnete, realisierte Ames White, dass seine Waffe verschwunden war. Der kalte Stahl der Pistole, die normalerweise in seinem Hosenbund steckte, hatte ihm immer ein Gefühl der Beruhigung gegeben. Jetzt kam er sich vor, als hätte ein Taschendieb seine Brieftasche gestohlen. Er griff nach hinten, um sich zu versichern, dass sie tatsächlich nicht mehr da war. Trotz allem, was er erlebt hatte, fühlte White keinen Schmerz, keine Wunde, so wie ein normaler Mensch es getan hätte. Aber er spürte eine unangenehme Schwäche, eine gewisse bleierne Schwere, und seine Brust kribbelte dort, wo die Pfeile eingedrungen waren, wie ein lästiges Jucken. Dieses Gefühl brachte schlagartig Klarheit in seine Gedanken, und er erinnerte sich nun wieder, dass er von den Familiars aufgespürt worden war. Irgendwie war er überrascht, dass er noch am Leben war, obwohl die Aktionen seiner Verfolger hatten erkennen lassen, dass die Familiars ihn fassen und nicht liquidieren wollten. Wie auch immer, es war jedenfalls eine angenehme Überraschung. White öffnete die Augen und schaute sich in dem dämmrigen Licht erst einmal um. Er befand sich in einer spärlichen grauen Zelle und lag ausgestreckt auf einem kalten Steinfußboden. Das kleine Fenster in der Tür war vergittert. Ansonsten gab es nichts, kein Bett, keine Toilette. Die Zelle war sauber, und der beißende Geruch von Reinigungsmittel stieg ihm in die Nase. Das einzige Licht kam von einer einfachen Glühbirne draußen auf dem Gang durch das kleine Türfenster. Irgendwo tropfte Wasser. Er trug – und das war eine weitere Überraschung – immer noch seine Kleidung. Nur sein Parka, der Gürtel und die Stiefel waren verschwunden. Er spähte durch die Gitterstäbe in den Gang. Doch es gab keine weiteren Zellen, nur eine nackte Steinwand, auf der gespenstische Schatten tanzten. White wusste, dass die meisten der Mittelmäßigen – so nannten sowohl die Familiars als auch die Transgenos alle „normalen“ 21
Menschen – gelähmt gewesen wären vor Angst, wenn sie sich in einem solch feuchten, dunklen Loch wiedergefunden hätten. Sie hätten sicherlich jeden Winkel nach Mäusen, Ratten oder etwas noch Schlimmerem abgesucht. White jedoch fand die Zelle durchaus in Ordnung. Eine derartige Umgebung war für ihn kein Problem. Seine einzige Sorge war der Gedanke an einen Plan, der ihn hier herausbringen konnte. Wie trübe auch immer seine Zukunft erscheinen mochte, es blieb doch eine positive Tatsache übrig: Die Familiars hatten ihn nicht umgehend getötet, nachdem sie ihn aufgestöbert hatten. „Sie haben schon wieder versagt, Bruder White.“ Die Stimme brachte selbst die Gitterstäbe zum Zittern. Es war ein dröhnender tiefer Bass, der in der Dunkelheit von der Zellendecke zu ihm drang. White schreckte zusammen, aber nur für einen kurzen Augenblick. Obwohl man ihn offensichtlich einschüchtern wollte, war dies nicht die Stimme Gottes, es sei denn, Gott sprach mit deutschem Akzent. Und da White dies für sehr unwahrscheinlich hielt, vermutete er, dass die Stimme jemandem aus der Konklave gehörte. „Das stimmt“, sagte White ruhig. „Ich nehme an, Sie kennen den Preis für Ihr Versagen.“ Die Stimme hatte in etwa die Wärme eines Wintermonats in Meander River. „Ja. Aber...“ „Aber was? Wollen Sie etwa über diesen Punkt mit uns verhandeln? Nach all den Fehlschlägen?“ White wusste, dass es klüger war, darauf besser nicht zu antworten. „Haben Sie irgendetwas in der Hand, das Sie uns anbieten könnten?“ Trotz des sarkastischen Tons schien der Mann ihm einen Weg weisen zu wollen, als ob er ihm helfen wollte. 22
Aber warum? White wusste, dass dieser Mann eine Schlüsselstellung innerhalb der Konklave hatte und weit mehr Macht besaß, als er selbst jemals für sich erhoffen konnte. Und dennoch, der ehemalige NSA-Agent konnte nicht verstehen, warum dieser wichtige Mann versuchte, ihm in dieser dunklen Stunde den Weg zu weisen. White überlegte genau, was er antworten sollte. Denn die richtige Antwort konnte eine weitere Chance für ihn bedeuten. Und die Falsche, nun ja, die würde ziemlich sicher zum sofortigen Tod führen, den er ohnehin erwartete, seit die Männer mit den Skimasken ihn in Meander River verfolgt hatten. Er versuchte, seiner Stimme die nötige Zuversicht zu geben. „Ich kann X5-452 liefern.“ Zuerst war es still. Dann dröhnte ein schreckliches, hämisches Lachen aus dem Lautsprecher an der Decke. White erstarrte förmlich. Er begriff mit einem Schlag, dass er einen tragischen – vielleicht sogar tödlichen – Fehler begangen hatte. Seine Antwort schien offensichtlich nicht das zu sein, was der Mann hatte hören wollen. Aber was außer 452 konnte er ihnen anbieten? Alle Pläne, die die Konklave für die Zukunft entworfen hatte, hingen von der Auslöschung dieses Miststücks ab! In wenigen Tagen würde der Komet aufsteigen und eine neue Ära beginnen. Eine Ära, die nur durch die Existenz von X5-452 bedroht werden konnte. Was zum Teufel konnte also von größerer Bedeutung sein als „Max“? Entsetzen packte ihn, eine Panik, die ihn drängte zu schreien und um sein Leben zu betteln. Eine innere Kraft hielt ihn zurück, einen Ton von sich zu geben. Aber der logische Teil in ihm, seine scharfe Intelligenz, versagte. Er wusste einfach nicht, was er sagen sollte, was er ihnen hätte anbieten können.
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„Sie können uns X5-452 liefern? Wie oft haben Sie uns genau das schon versprochen?“ „Mehr als einmal, ich weiß.“ „Und wie oft hat sie Sie übertrumpft? Wie oft haben Sie Ihre Brüder enttäuscht?“ „Zu... zu oft.“ „Warum also sollten Sie diesmal Erfolg haben? Weshalb sollte es diesmal anders laufen als sonst?“ Hastig sagte White: „Der Plan, den ich im Kopf habe, ist...“ „Idiotensicher? So wie all Ihre anderen klugen Pläne? Sie hatten so viele Pläne, nicht wahr, Bruder White...? Und sie hat Sie dennoch jedes Mal besiegt.“ „Ich will nicht respektlos sein“, sagte White. „Aber sie hat uns besiegt... uns alle... oft genug. Auch wenn wir sie, und das was sie repräsentiert, noch so sehr verachten, so ist sie doch eine würdige Gegnerin.“ „Würdig?“ „Wenn sie nur ein bedeutungsloses Hindernis wäre, könnte sie nicht eine solche Bedrohung für unsere Sache sein.“ Eine schreckliche Stille folgte. White fragte sich, ob er zu offen gewesen war, ob seine Forschheit dazu führen würde, endgültig von der Konklave verstoßen zu werden, mit tödlicher Konsequenz. „Ihre früheren ,Pläne’ haben viel zu wünschen übrig gelassen, Bruder. Wie können Sie uns wieder von Ihren Fähigkeiten überzeugen? Wie können Sie uns den Glauben zurückgeben, dass Sie es diesmal schaffen werden?“ „Sie könnten mir erlauben, meinen Plan vorzustellen. Ich muss Sie sicher nicht daran erinnern, dass uns nur noch wenige Tage bleiben.“ „Also, sprechen Sie.“ Er atmete tief ein, dann langsam wieder aus und zwang sich, ruhig zu bleiben. Die Fassung zu verlieren hätte ihn in diesem Moment das Leben kosten können. White erklärte seinen Plan 24
in breiten – aber wohl durchdachten – Zügen. Er wusste zwar noch nicht jedes Detail, aber die wichtigsten Punkte waren vorhanden, und er fand Anklang damit. Davon abgesehen war es besser, wenn die Konklave über bestimmte Aspekte nichts wusste, zumindest jetzt noch nicht. Doch der Zweck heiligt bekanntlich die Mittel. Das einzig Wichtige für die Familiars war im Moment, dass er ihnen 452 liefern konnte... und die Wiederkunft würde sicher nach Plan verlaufen. „Und dieser Plan wird zu der erfolgreichen Ergreifung von X5-452 führen?“ „Darauf verwette ich mein Leben“, sagte White. „Garantiert.“ Murmelndes Flüstern folgte, als die Stimme und andere Mitglieder der Konklave Whites Vorschlag diskutierten. „Haben Sie Geld?“ Ein Hoffnungsschimmer. „Ja“, sagte White. „Ein bisschen.“ „Dann werden Sie damit die Operation finanzieren.“ White konnte nicht anders, sondern polterte los: „Mit meinem eigenen Geld?“ Die Stimme blieb ruhig. „Welches Geld auch immer Sie haben mögen, Sie haben es nur dank uns.“ Das sollte er besser nicht anfechten. „Nun, das wäre geregelt“, sagte die Stimme. „Wie sieht es mit dem Zeitplan aus?“ White massierte seine Stirn, um die Kopfschmerzen zu vertreiben. „Wir können anfangen, sobald Sie es für richtig halten, Sir. Vielleicht könnten wir uns ja unter besseren Bedingungen treffen?“ „Sie wissen, dass Sie es sich nicht erlauben können, noch einmal zu scheitern.“ „Das weiß ich, Sir.“ „Sollten Sie diesmal versagen, gibt es keine Gnade mehr.“ 25
„Ja.“ „Nur Ihre Familiengeschichte mit der Konklave erlaubt Ihnen diese weitere Chance.“ „Danke.“ White blieb ruhig. Er wusste, dass sie ihn von irgendwoher beobachteten und sehr wohl erkannten, dass er es hasste, zurechtgewiesen zu werden, genauso wie er es hasste, zu versagen. Er würde ihnen ganz sicher den Triumph nicht gönnen, mitzuerleben, wie er seine Fassung verlor. Kurz darauf hörte er das Geräusch eines Schlüssels in der Tür. Es klang für ihn wie eine Fanfare, denn es war das Zeichen, dass er in die Gemeinschaft der Konklave zurückkehren durfte. Er zwang sich, tief und langsam zu atmen, und konzentrierte sich auf den hämmernden Schmerz in seinem Schädel. Langsam begriff er, dass dieser Schmerz einen Sinn hatte. Er half ihm, sich zu konzentrieren. Was allerdings 452 betraf, so hätten ihre Schmerzen ihm nichts als schiere Freude bereitet. Und ihr Tod hätte ihm den kommenden Triumph der Konklave gesichert.
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2. Kapitel__________________________ FRECHHEIT SIEGT Seattle, Washington 20. Dezember 2021 Auszug aus der New World Weekly: Sketchys Sketchbook Von C.T. „Sketchy“ Simon „Stilles Entsetzen“ Wenn man noch vor nicht allzu langer Zeit den Bewohnern der Smaragdstadt erzählt hätte, dass an den Umzäunungen von Terminal City bald weihnachtliche Lichterketten hängen würden, wäre man auf nicht gerade freundliche Art darauf hingewiesen worden, was für ein verdammter Spinner man doch sei. Seit der so genannten „Terminal-City-Belagerung“ vor sechs Monaten hat sich jedoch eine Menge verändert. Die Belagerung ist offiziell beendet, darin stimmen die unkonventionellen Bewohner dieses Niemandslandes und die Stadtregierung überein. Und obwohl draußen vor den Toren noch einige Polizeiwagen stehen, wurde die Waffenruhe eingehalten. Diese Waffenruhe wurde kurz nach der Verhaftung von Kelpy – dem Chamäleonjungen und Serienkiller – ausgehandelt. Die Transgenos selbst hatten Kelpy damals festgenommen. Mit dieser Aktion haben sie viele in der Stadt davon überzeugt, dass die Flüchtlinge aus Manticore tatsächlich nichts anderes wollen, als sich in die Gesellschaft einzufügen. Die Nationalgarde hat sich schon vor einiger Zeit
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zurückgezogen, und auch die Bedrohung durch die US-Armee besteht nicht mehr. Dennoch bleibt ein Teil der Bevölkerung skeptisch, so dass die Polizei draußen vor den Toren immer noch Wache hält. Die neue Mission dieser Typen in Blau heißt, diejenigen zurückzuhalten, die den Frieden draußen zerstören wollen, und die Transgenos dennoch nicht einzusperren. Die Bewohner von Terminal City werden jetzt als Bürger von Seattle und als gleichberechtigte amerikanische Bürger betrachtet. Sicher, einigen ignoranten Bewohnern unserer schönen Stadt passt das nicht. Daher bleiben die meisten Bewohner von Terminal City innerhalb der Grenzen ihrer außergewöhnlichen Gemeinschaft und wagen sich nur selten heraus – außer zur Arbeit. Ihr neuer Platz in der Gemeinschaft hat den Transgenos einen umstrittenen Sitz im Stadtrat eingebracht, allerdings ohne Stimmrecht. Bei der nächsten Wahl wird Terminal City seinen eigenen Abgeordneten wählen, mit einem offiziellen Posten im Stadtrat. Die New World Weekly unterstützt diese Entscheidung. Denn die Transgenos sind schließlich auch Menschen, selbst wenn sie genetisch aufgepeppte Kreationen einer geheimen Regierungsoperation sind, die schief gelaufen ist. Momentan ist Max Guevara, die rätselhafte, schöne, schwarzhaarige X5, die den Frieden ausgehandelt hat, Bürgermeisterin von Terminal City. Die dunkeläugige Max, mit den vollen Lippen und der hinreißenden Figur, zieht die Blicke der Männer und der Frauen gleichermaßen auf sich. Sie hat eine hitzige Persönlichkeit, die ihr ermöglicht, diesen wilden Haufen in eine richtige Gemeinschaft zu verwandeln und zu leiten. Ihre Kompromisslosigkeit, ihr Mut und ihre Führungsqualitäten sind das Rückgrat und die Stütze dieser Hausbesetzer seit den ersten schwierigen Tagen der Belagerung. 28
Max Guevara, die kleine schlanke Killermaschine in schwarzem Rollkragenpullover, Weste und Stiefeln, saß in einer Nische in dem Restaurant gegenüber von Terminal City. Sie nippte an ihrem Kaffee und überflog gerade den Artikel, den ihr Freund Sketchy geschrieben hatte. Max war sich ihrer eigenen Ausstrahlung als Katzenfrau nicht bewusst, schüttelte ihren Kopf und hätte Sketchy in diesem Moment am liebsten einen Tritt in den Hintern verpasst, da er ihr eine hitzige Persönlichkeit unterstellt hatte. Ironischerweise hatte von allen Medien zuerst dieses Schundblättchen New World Weekly die Stimme der Vernunft erhoben und sich auf die Seite der Transgenos geschlagen. Hinzu kam, dass diese am wenigsten respektierte Zeitung in Seattle die Einzige mit nationaler Auswirkung war, da sie überall in Amerika an den Kassen der Supermärkte verkauft wurde. Abgesehen von den übertriebenen Darstellungen über sie selbst, konnte Max allem zustimmen, was Sketchy in seinem Artikel geschrieben hatte. Die Situation für die Transgenos hatte sich inzwischen überraschenderweise verbessert, berücksichtigte man die tödliche Bedrohung, der sie einst ausgesetzt waren. Sicher, es gab immer noch Probleme. Auch neue waren hinzugekommen. Doch die meisten waren nicht von großer Bedeutung. Max hatte allerdings in diesem Zusammenhang gemerkt, dass sie als kriegserprobte Kämpferin Schwierigkeiten damit hatte, die kleineren Probleme zu regeln. Sie war zur genetisch aufgepeppten Supersoldatin herangezüchtet worden. Das hatte zweifellos seine Vorteile. Auch wenn sie immer wieder gefordert hatte, von den Menschen draußen als gleichwertiges und friedliches Wesen akzeptiert zu werden, so verspürte sie doch in den letzten sechs Monaten oft eine Unruhe, einen Tatendrang, der sie beunruhigte. Hatte Manticore sie vielleicht so gepolt, dass ein 29
normales Leben trotz all ihrer Versuche, die sie in dieser Richtung unternahm, nicht möglich war? Diese Gedanken und Gefühle wühlten sie auf, besonders da sich für ihre Brüder und Schwestern alles geregelt zu haben schien. Anti-Transgeno-Kräfte waren nicht mehr in das Gelände eingedrungen, wenn man von ein paar gelegentlichen Protestierern absah. Außerdem passten sich die Flüchtlinge aus Manticore bestens der Gesellschaft an, zumindest ökonomisch, wenn auch nicht physisch. Zu ihrer Überraschung nutzten die hoch qualifizierten, genetisch aufgepeppten Soldaten ihre Qualitäten seit einiger Zeit dazu, sich ein Gewerbe aufzubauen. Der hübsche X5 Alec führte sie durch den Kommerzdschungel. War er in seinem früheren Leben in den 80er Jahren vielleicht ein Yuppie gewesen? Die Transgenos waren nicht nur erfolgreich, sondern konnten ihre Aktivitäten immer weiter ausbreiten. Es war eine Überraschung gewesen, zu entdecken, wie der erste Funke dieses Freudenfeuers namens „Kapitalismus“ immer weiter um sich griff. Denn es hatte sich herausgestellt, dass die erste Kreation aus Manticore – der kolossartige, liebenswerte Hundejunge Joshua – nicht der Einzige in Terminal City mit künstlerischen Fähigkeiten war. Joshua hatte mit seinen Bildern schon vorher in einer der gefragtesten Galerien in Seattle Geld verdient. Und da die Gruppe mehr brauchte, hatte er sich mit neuer Leidenschaft auf seine Projekte gestürzt. Joshua war schon erfolgreich gewesen, bevor die Zeitungen ihn mit ihren Artikeln bekannt machten. Sein Talent beruhte allein auf seinem Instinkt. Inzwischen galt er mit seinen kraftvollen, primitiven Bildern als der Star. Die Galeriebesitzer schrien nach mehr „Transgenokunst“ und die Bewohner von Terminal City gaben ihnen, was sie wollten.
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Dix – der Sicherheitsmann mit dem Kartoffelkopf und dem Monokel – und sein Partner Luke mit dem Baseballschädel hatten nicht nur das Sicherheitsnetzwerk von Terminal City zusammengeschlossen und die Fahrbereitschaft organisiert, sondern entwarfen und bauten auch ihren eigenen Stromgenerator und ein Wasserversorgungssystem. Aber nicht nur das. Sie stellten sich auch als Bildhauer heraus und schafften abstrakte Formen, bei denen die Betrachter sich ihre eigenen konkreten Bilder formten. Über Nacht war ihr Hobby zum Geschäft geworden. Und Mole, wie sich herausgestellt hatte, besaß ein Talent für Sandskulpturen. Auch die meisten anderen hatten ihre eigenen Fähigkeiten, die nicht immer dem künstlerischen Maßstab von Joshua oder den Bildhauern entsprachen, aber in ihrer Fertigkeit eine ganz eigene Qualität besaßen. Max grinste bei dem Gedanken. Gibt es irgendwo auf diesem Planeten eine großartigere Combo als die Transis? Innerhalb eines Monats hatten sie einen Straßenmarkt aus dem Boden gestampft. Die Kunst der Transgenos wurde der Renner, unterstützt von Förderern überall in der Stadt, von Kulturexperten und dem normalen Volk. Die Transgenos waren nicht nur produktiv und talentiert, sondern auch die Lieblinge der Medien. Nicht zum ersten Mal hatten die Bastarde von der Zeitung sich über Nacht auf die andere Seite geschlagen. Sie erzielten mit ihren Kunstwerken Spitzenpreise. In weniger als drei Monaten waren sie in der Lage gewesen, das siebenstöckige Gebäude an der Ecke gegenüber dem Haupttor zu mieten. Für Max war diese neue Heimat der Terminal City-Kunst voll von Erinnerungen. Vor vielen Monaten hatte sie in dem Restaurant im ersten Stock gemeinsam mit Detective Ramon Clemente der Wahrheit eine Chance gegeben. Damals ging es um die kritische Geschichte mit Kelpy. Für Max repräsentierte
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dieses Restaurant den Beginn gegenseitigen Vertrauens und der Freundschaft zwischen den Transgenos und den Normalen. Natürlich war es notwendig gewesen, den Kunsthandwerkermarkt außerhalb der Umzäunung von Terminal City aufzubauen. Denn das verseuchte Industriegelände, das sie übernommen hatten, konnte nur von den genetisch mutierten Transgenos betreten werden. Dass Terminal City hinter dem Zaun wie ein riesiges Gespenst aus Stahl und Beton aufragte, trug allerdings nur dazu bei, den Umsatz des Marktes zu steigern und so das freie Unternehmertum in seiner besten Form voranzutreiben. Die Nähe zu Terminal City sorgte für eine geheimnisvolle und ehrfürchtige Atmosphäre, die die Menschen zu diesem „exotischen“ Markt zog. Sketchy hatte in einem Artikel in der New World Weekly diesen Markt hochgejubelt, und die anderen Zeitungen hatten den Ball schnell aufgegriffen. Max gefiel die Tatsache, dass den Transgenos das Gebäude inzwischen gehörte. Logan Cale hatte ihnen Geld geliehen, und er würde es sicher bald zurückbekommen. Das Restaurant im ersten Stock war wieder eröffnet worden. Gem arbeitete hinter der Theke. Die X5 hatte während der Jam-Pony-Krise, die zu der Belagerung von Terminal City geführt hatte, ein Mädchen zur Welt gebracht. Und zwei andere X5 teilten sich die Verantwortung des Managements. Die extrem mutierten Transgenos arbeiteten nicht im Servicebereich, sondern blieben eher im Hintergrund. Die meisten der Jam-Pony-Kuriere machten hier einen Stopp, wenn sie Lieferungen für diesen Sektor hatten, um zu essen. Und die Polizisten, die immer noch draußen Wache schoben, waren eine ständige Bedrohung für den Doughnutvorrat. Der Rest des Gebäudes war in Geschäfte mit ausgewählter Kunst und Antiquitäten umgewandelt worden. Die Transgenos, die keine künstlerischen Fähigkeiten hatten, leiteten die Stände. Die ehemalige Einbrecherin Max, vor Jahren gut geschult von 32
ihrem Mentor Moody in L.A., brachte den transgenetischen Schülern bei, welche Antiquitäten wertvoll waren und welche nicht. Sie durchstöberten nicht nur die Gebäude innerhalb von Terminal City, sondern auch die Flohmärkte und Lagerhallen außerhalb. Max musste grinsen, als sie nun in dem renovierten Restaurant ihren Kaffee schlürfte. Sie hatten viel geschafft in so kurzer Zeit. „Du siehst aus wie eine Katze, die gerade einen Kanarienvogel verspeist hat“, sagte Logan Cale und trat an ihren Tisch. „Du weißt, dass ich Vegetarierin bin“, sagte sie. Logan ließ sich ihr gegenüber in der Nische nieder. „Ich weiß, dass du versuchst, vegetarisch zu essen. Wie klappt’s denn so?“ Sie grinste. „Schätze, wenn du das nächste Mal eine Ladung von deinem Chili mit Rindfleisch machst, kann ich nicht widerstehen.“ Der hoch gewachsene Logan Cale mit den streichholzkurzen dunkelbraunen Haaren, der Nickelbrille und den leuchtend blauen Augen sah körperlich fit aus. In gewisser Weise war er das auch. In seinem modernen Apartment – in einem scheinbar verlassenen Gebäude außerhalb des verseuchten Geländes von Terminal City – lebte er ein ziemlich geordnetes Leben. Unter seiner weiten braunen Hose trug er ein Exoskelett, das ihm erlaubte, sich selbstständig fortzubewegen. Die Fähigkeit zu gehen war ihm von einer Kugel genommen worden, die in sein Rückgrat eingedrungen war. Nun trug er ständig dieses mechanische Wunderding, das er größtenteils selbst entwickelt hatte. Sein Reichtum war unvorstellbar, aber er gehörte ganz sicher nicht zu denen, die sich mit all ihrem Geld auf die faule Haut legten. Stattdessen benutzte er sein Geld dazu, gegen die Regierung und private Missstände zu kämpfen und die 33
Benachteiligten zu unterstützen. Nebenbei verbrachte er fast jede freie Minute als Cyberjournalist im Untergrund. Die Menschen in der Stadt kannten ihn in diesem Zusammenhang nur als geheimnisvolle Stimme. Alles, was sie bei seinen illegalen Nachrichtensendungen von ihm sahen, waren die stechenden blauen Augen von Eyes Only. Nur eine Hand voll Leute wusste von Logans Doppelleben; ein paar andere dachten, dass er ein Mittelsmann von Eyes Only war. Max jedoch kannte die Wahrheit, denn sie arbeitete schon seit mehreren Jahren mit ihm zusammen. „Wie ich sehe, liest du Sketchys neuesten Versuch, den Pulitzerpreis zu gewinnen“, sagte Logan. „Das werde ich ihm heimzahlen.“ „Oho, du klingst so hitzig, rätselhaft, ja beinahe...“ Sie schlug mit der Zeitung nach ihm, konnte sich ein Grinsen aber nicht verkneifen. „Hat der Weihnachtsmann dir dieses Jahr Kohle statt Süßigkeiten gebracht?“ „Brennstoff können wir immer brauchen“, sagte er. „Weißt du, was ich zu Weihnachten haben will? Was ich wirklich will?“ „Nein. Aber du wirst es mir bestimmt gleich sagen.“ Er streckte seine Hand aus, die in einem Handschuh steckte, griff nach ihrer Hand im Lederhandschuh und drückte sie. „Genau das will ich“, sagte er. „Nur du und ich...“ „Ohne Handschuhe?“ Er grinste ein wenig scheu, doch seine Stimme klang zuversichtlich. „Mindestens.“ Max liebte diesen Mann. Und Logan liebte sie. Eigentlich hätten sie hier sitzen und – verdammt noch mal – Händchen halten sollen. Nach all dem was passiert war, hätten sie zusammen glücklich sein sollen. „Wir sollten eigentlich zusammen glücklich sein, nach all dem was passiert ist“, platzte sie heraus, als hätte sie seine Gedanken gelesen. 34
„Weihnachten könnte für uns aber auch viel trostloser sein.“ „... Aber was machen wir stattdessen?“, sagte sie, ohne auf seine Bemerkung einzugehen. „Wir beaufsichtigen ein verseuchtes Niemandsland, das sich in eine Art ‚Jamestown’ für Transgenos verwandelt hat.“ „Sei nicht so hart. Du hast so viel erreicht.“ Sie wusste, dass es hart war, Terminal City mit einer „Jamestown“ zu vergleichen. Der Name bezog sich auf jene modernen Slums, die nach dem Puls aus dem Boden geschossen waren und nach dem damaligen Präsidenten Michael James benannt waren. „Du hast Recht, Weihnachten könnte für uns viel trostloser sein“, gab sie schließlich zu. „Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist, Logan. Ich fühle mich so, als ob es juckt. Und ich kann nicht kratzen.“ Er warf ihr einen Blick zu. „Das Gefühl kenne ich.“ Max wäre beinahe errötet. Sie winkte Gem, Logan einen Kaffee zu bringen. Tatsächlich konnten sie und Logan nicht glücklich zusammenleben, weil eine blonde Hexe namens Renfro Max einen Strich durch die Rechnung gemacht hatte. Das war damals in Manticore gewesen, kurz bevor Max das Hauptquartier dort zerstört hatte. Renfro hatte Max ein eigens entwickeltes Virus eingepflanzt, eine tickende Zeitbombe, die Logan töten sollte. Im Grunde hatte Renfro dafür gesorgt, dass Logan gegen Max’ Berührung allergisch war, mit fatalen Auswirkungen. Weihnachten war nun einmal eine Zeit der sentimentalen Erinnerungen. Und ob es ihr gefiel oder nicht, für Max und die anderen Transgenos – sowohl die normal aussehenden X5 als auch die verrückten Joshua und Dix – war Manticore die Heimat gewesen. Das Ergebnis der genetischen Experimente war in letzter Konsequenz nie bekannt geworden. Aber die Flüchtlinge aus 35
Manticore waren Freaks und ein großer Teil der Menschen in der Stadt würde sie das nicht vergessen lassen. Nachdem Colonel Lydecker, der Ersatzvater von Manticore, sie verlassen hatte, hatte Renfro das Kommando übernommen. Sie hatte die Verantwortung, als Max geschnappt worden war. Bevor Max fliehen konnte, hatten Renfro und ein paar skrupellose Wissenschaftler (die Nazis hätten an diesen „verrückten“ Ärzten bestimmt Geschmack gefunden) Max mit einem Virus infiziert, das nur für einen einzigen Menschen auf der Welt gefährlich war: Logan Cale. Wenn Max und Logan sich in irgendeiner Weise berührt hätten, wäre das Virus sofort übertragen worden und Logan wäre innerhalb von vierundzwanzig Stunden tot gewesen. Aus diesem Grund achteten sie streng darauf, sich nicht zu berühren. Beide trugen ständig Handschuhe und lange Hosen, selbst bei sehr warmem Wetter. Besonders in intimen Situationen, wie jetzt in der Nische des Restaurants, hielten sie Abstand voneinander. Wie zwei minderjährige Kids bei ihrem ersten Date. Vor einiger Zeit hatten die beiden selbst erlebt, was das Virus anrichten konnte. Bei seiner Gefangennahme hatte sich Kelpy – der Chamäleonjunge und Serienkiller – dieses Mistding irgendwie eingefangen. Kelpy war verrückt nach Max gewesen und sein Ziel war daher, so zu sein wie Logan Cale. Er wollte auf diese Art Max’ Zuneigung gewinnen. Als Kelpy sich langsam in den zweiten Logan verwandelte, hatte Max ihn berührt. Dem Virus hatte das genügt, um „Logan“, alias Kelpy, zu infizieren und ihn schließlich auszulöschen. Das war in Logans Apartment außerhalb von Terminal City gewesen. Max und ihre Freunde – Logan, Original Cindy, Alec, Joshua und ein paar andere – waren Zeugen dieses schrecklichen Todes gewesen. Seitdem achtete Max noch strikter darauf, den Mann, den sie liebte, nicht zu berühren. Ein
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flüchtiger Kuss, die Berührung der bloßen Hände oder auch nur eine kurze Umarmung hätte für ihn den Tod bedeutet. Gem brachte Logans Kaffee, stellte die dampfende Tasse vor ihn auf den Tisch und lächelte ihn herzlich an. Logan erwiderte ihr Lächeln. „Was macht eigentlich Eve, wie geht’s ihr?“, fragte er die Kellnerin. Nach der Geiselkrise bei Jam Pony hatte Gem sich entschlossen, ihr Baby Eve – nach der ersten Frau der Welt – zu nennen. Denn sie war das erste transgenetische Baby, das in Freiheit zur Welt gekommen war. „Sie kann schon stehen und versucht zu laufen“, sagte die schlanke, attraktive Gem. „Aber sie ist noch nicht ganz so weit. Ich glaube, sie wird mich in Zukunft ganz schön auf Trab halten.“ „Sie kann schon stehen?“, fragte Logan erstaunt. „Mit sechs Monaten?“ Max lächelte nur. „Das machen die guten Gene. Sie hat wirklich sehr gute Gene. Wie alle X5.“ Logan schüttelte verwundert den Kopf. Er nippte an seinem Kaffee, und Gem ging zurück hinter die Theke. Max fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und seufzte tief. „Du siehst erschöpft aus“, sagte er. „Zu schade, dass du nicht als Bürgermeister ausgebildet worden bist, sondern als Killer.“ Sie schenkte ihm ein schwaches Grinsen. „Tja, ich bin so müde, dass selbst deine dämliche Bemerkung mich zum Lachen bringt.“ Er schnaubte. „Dämlich, ja vielleicht. Aber du hast immerhin gelacht.“ „Das habe ich“, gab Max zu. „Und wir haben so viel, wofür wir dankbar sein müssen.“ „Stimmt. Klinge ich etwa undankbar?“ „Oh ja.“
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Max schüttelte den Kopf. „Tut mir Leid, aber ich bin nicht dafür vorgesehen, das Oberhaupt zu spielen. Ich bin eine Einzelgängerin.“ Logan nahm noch einen Schluck Kaffee. „Einzelgängerin hin oder her, auf dem Dach sind eine Menge Leute, die nach dir fragen.“ „Ach ja, echt?“ „Joshua, Alec, Original Cindy und Mole. Dix und Luke sind, glaube ich auch, oben. Und übrigens auch Sketchy... falls du seinen Arsch über die Brüstung schieben willst.“ „Jetzt führst du mich aber in Versuchung. Wenn’s nur nicht so kalt da oben wäre.“ In den letzten zwei Wochen war das Wetter ziemlich schlecht gewesen, selbst für Seattles Verhältnisse. Die Temperatur bewegte sich unter dem Nullpunkt, und der Wind fegte mit sechzig bis siebzig Stundenkilometern orkanartig über die Stadt. Logan warf ihr einen Blick zu. „Was heißt hier kalt? Warst du nicht diejenige, die mir erzählt hat, dass sie es geschafft hatte, fünf Minuten lang die Luft anzuhalten? In einem gefrorenen Teich unter dem Eis? Damals, auf der Flucht aus Manticore?“ „Das heißt nicht, dass mir das gefallen hat.“ „Und wo bleibt dein Gefühl für Weihnachten?“ „Weihnachten in Manticore hat nicht gerade dafür gesorgt, dass ich mich besonders gern daran erinnere.“ „Und wie war’s bei deiner Pflegefamilie?“ „Oh, das war cool, als mein besoffener Pflegevater meine Stiefschwester in den Weihnachtsbaum geschmissen hat.“ Logan schüttelte den Kopf. „Wie war das noch? Kohle statt Süßigkeiten vom Weihnachtsmann, Fräulein Miesepeter? Du brauchst die richtige Weihnachtsstimmung.“ „Ich weiß schon, wo ich die kriege. Aber bestimmt nicht auf einem kalten Dach.“ 38
„Sondern?“ „Am offenen Kamin, mit dir. Wie heißt gleich noch mal dieses alte Weihnachtslied? Chestnuts roasting on an open fire?“ „Na siehst du“, sagte er und sein Lächeln erhellte den ganzen Raum. „Du hast ja doch etwas für Weihnachten übrig.“ Sie liebte dieses Lächeln, die Grübchen in seinen Wangen und die weißen Zähne, die dabei aufblitzten. Alles an ihm liebte sie, brachte es jedoch kaum über die Lippen, ihm das zu sagen. Logan ging es da umgekehrt nicht anders. Sie wussten allerdings beide, was sie fühlten, und vielleicht genügte das ja. Außerdem waren sie in letzter Zeit so beschäftigt gewesen, dass sie sich kaum gesehen hatten. Logan arbeitete unter dem Decknamen Eyes Only weiter als Sprachrohr für die Transgenos, und Max musste ständig irgendwelche Probleme in Terminal City lösen. Wenn es mal gerade keinen Ärger mit dem Wasserversorgungssystem gab, waren es Gesetzesübertretungen oder auch mal angenehme Dinge – wie die Auswahl eines Logos für den neuen Kunst- und Antiquitätenmarkt. Noch vor ein paar Monaten wäre sie an solchen Dingen wahrscheinlich nicht interessiert gewesen, aber inzwischen musste sie sich mit diesen ermüdenden Details beschäftigen, die sie ständig auf Trab hielten. Die paar Minuten mit Logan allein gaben ihr das Gefühl, als ob sie den Puget Sound durchschwommen hätte und endlich an der Küste angekommen wäre. „Warum gehen wir nicht einfach nach oben?“, schlug Logan vor. „Dann sehen wir nach, was sie wollen, und das wär’s dann.“ Ausgelassen schüttelte sie den Kopf. „Ich hab eine bessere Idee.“ „Welche?“ „Wir lassen sie einfach stehen.“ 39
Er sah sie ernst an. „Du weißt, dass wir das nicht bringen können.“ Sie wirkte verstimmt. „Okay, wir steigen aufs Dach, aber unter einer Bedingung.“ „Die wäre?“ „Der Rest des Abends ist nur für uns. Ein paar schöne ruhige Stunden zusammen. Und ich werde für dich kochen. Ich glaube, heute werde ich vom Vegetarierzug abspringen.“ Er sah sie mehr als interessiert an. „Nur wir beide?“, fragte er. „Stottere ich etwa? Nur wir beide.“ Sie war schon aufgestanden, kippte den letzten Schluck Kaffee hinunter und fischte einen zerknitterten Geldschein aus ihrer Tasche. „Lass uns gehen.“ Dix hatte dafür gesorgt, dass die Aufzüge in dem Gebäude wieder funktionierten. Tatsächlich war das Haus inzwischen in einem so guten Zustand, dass es seinen heruntergekommenen Charme zu verlieren drohte. Max und Logan erreichten den siebten Stock. Er wurde umgebaut und war für Besucher noch nicht zugänglich. Sie gingen den Flur entlang bis zum Ende und stiegen dann die Treppe hinauf, die zum Dach führte. Oben setzten beide ihre Mützen auf – Handschuhe trugen sie ja ohnehin. Als Max die Tür öffnete, spürte sie den scharfen Wind, der ihr die Klinke aus der Hand reißen wollte. Nur mit der ihr antrainierten Stärke schaffte sie es, die Tür so festzuhalten, dass sie nicht gegen die Wand krachte. Logan schlüpfte schnell hindurch, und sie schloss die Tür wieder. Als sie sich umdrehte, sah sie die anderen. Erwartungsvoll standen sie da, unter dem grauen Himmel. Die Dunkelheit senkte sich langsam über die Stadt wie tief hängende Wolken. Gegenüber – auf dem Hauptgebäude von Terminal City – wehte die Flagge der Freak Nation. Kerzengerade stand sie da, als wollte sie salutieren. Die roten, weißen und schwarzen 40
Streifen waren auch aus der Entfernung gut erkennbar. Und die weiße Taube auf dem roten Hintergrund sah aus, als würde sie jeden Moment gen Himmel fliegen. Die Gruppe stand in einem lockeren Halbkreis vor ihr, Logan zu ihrer Rechten. Sie alle waren nun ihre Familie. Max lächelte ein wenig bei dem Gedanken, fühlte sich aber auch schuldig, weil sie die Einladung nicht hatte annehmen wollen. Wärme durchflutete sie, trotz der bitteren Kälte, und sie schaute die anderen an. Sie hätte es wirklich schlechter treffen können. Original Cindy stand in der Mitte, die wilden Afrolocken unter einer Mütze verborgen, die sie weit über die Ohren gezogen hatte. Die Hände hatte sie hinter dem Rücken versteckt. Sie war wirklich eine Schönheit, mit lebhaften braunen Augen und einem breiten Grinsen, das die Kälte herausforderte. Sie gehörte zu den Normalen, war jedoch in keinem Punkt normal, auch wenn Original Cindy mit ihren Kräften etwas diskreter umging als Max, ihre beste Freundin und Schwester, ihre Boo. Aber Original Cindys Benehmen war alles andere als diskret. Sie trat wie ein zweihundert Kilo schwerer Tiger auf, der gerade seinen fünften Espresso in sich hineingeschüttet hatte. Und es war ihr völlig egal, ob es den Leuten gefiel oder nicht. Wahrscheinlich hatten O.C. und Max sich deshalb von Anfang an gut verstanden. Sie erkannten den Rebellen in dem jeweils anderen, und sie genossen es. Rechts neben Original Cindy stand Alec. Seine dunkelblonden Haare waren gewachsen. Normalerweise kämmte er sie nach hinten, aber jetzt flogen sie im Wind hin und her. Er hatte scharfe dunkle Augen und ein superkluges Grinsen auf den Lippen. Max wusste, dass er ein ziemlich selbstgefälliges Arschloch sein konnte, aber er hatte auch seine guten Seiten. 41
Alec war ein X5, genau wie Max. Selbst um die niedrigste Hürde machte er einen Riesenbogen. Liebend gern hätte er eine Stunde damit verbracht, einem Problem aus dem Weg zu gehen, das er in der Hälfte der Zeit mit ein bisschen Anstrengung hätte bewältigen können. Doch langsam hatte Alec kapiert, dass das, was er als Vorteil sah, auch ein Nachteil sein konnte. Und das sprach für ihn. Neben Alec stand Joshua, der hoch aufgeschossene Hundejunge. Er war der Erste in der Versuchsreihe gewesen. Nun war er ein Mann, zumindest physisch. Er hatte Grausames erlebt, eingesperrt im Keller von Manticore. Seine Entwicklung war dadurch aufgehalten worden, und auf den ersten Blick konnte man ihn durchaus für geistig zurückgeblieben halten. In Wahrheit war er jedoch sehr intelligent und hatte das größte Herz von allen. Seine lange braune Mähne flatterte wild im Wind, aber er schien es nicht zu merken. Ein glückliches Lächeln lag auf seinem Gesicht, und als er Max sah, strahlte er wie ein Leuchtturm. Gegenüber von Joshua stand Sketchy, ein Herumtreiber und Fahrradkurier, der jetzt als Journalist arbeitete. Auch er gehörte zu Max’ normalen Freunden von Jam Pony. Sketchy war allerdings alles andere als normal, abgesehen davon, dass er kein Transgeno war. Er war lang und schlaksig, hatte fransige braune Haare mit hellen Strähnen und schien nur aus Knien, Ellbogen und Kopf zu bestehen. Er wirkte wie eine Marionette, die von einem ungeschickten Puppenspieler geführt wurde. Ab und zu war er ein bisschen schwer von Begriff. So bekam er oft genug einen Witz erst dann mit, wenn die anderen schon längst nicht mehr lachten. Links neben Original Cindy standen die beiden glatzköpfigen Techniker Dix und Luke, die sich in Bildhauer verwandelt hatten. Gegenüber lümmelte der Eidechsenmann Mole herum. Selbst bei dem starken Wind steckte die obligatorische Zigarre zwischen seinen Lippen. 42
„Was gibt’s?“, fragte Max. Sie musste schreien, damit die anderen sie bei dem heulenden Sturm überhaupt verstehen konnten. Der Halbkreis öffnete sich und gab den Blick frei auf einen Weihnachtsbaum, der in der Ecke des Daches mit Stahlkabeln festgebunden war. Die große, üppige Fichte war mit Lichtern und Lametta geschmückt. Obwohl der Baum angebunden war, schien es, als ob er jeden Augenblick vom Dach gefegt werden konnte. Max schaute jetzt zu Original Cindy. Ihre Hände steckten immer noch hinter dem Rücken. „Muss das unbedingt heute sein?“, schrie Max gegen den Wind an. Original Cindys Grinsen verschwand, und die anderen sahen betreten auf ihre Schuhspitzen. Mit einem Schlag wurde Max klar, wie gefühllos sie gewesen war. „Versteht mich nicht falsch“, sagte sie. „Aber der Baum wackelt.“ Alle schauten sie jetzt wieder an, mit leuchtenden Augen und strahlendem Lachen. „Es ist nur... es ist so windig. Sieht aus, als ob der Weihnachtsmann mit seinem Schlitten jeden Augenblick aus den Latschen kippen könnte.“ Original Cindy zuckte mit den Schultern. „Der Wetterbericht sagt für später besseres Wetter voraus, also nutzen wir die Chance. Der Baum wäre hinüber gewesen, wenn Normal ihn noch einen Tag länger in seinen Klauen gehabt hätte.“ Reagan Ronald, alias Normal, war der Manager vom Jam Pony Fahrradkurierservice. Max und Original Cindy hatten bei ihm einen Job bekommen, als sie in Seattle angekommen waren. O.C. arbeitete noch immer dort, genau wie Sketchy, denn er hatte noch keinen Fulltimejob als Journalist. Max war allerdings seit der Geiselkrise nicht mehr dort gewesen.
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Als Max noch bei Jam Pony gearbeitet hatte, war Normal ein richtiger Dreckskerl gewesen, der nur an sich dachte. Er erzählte immer wieder davon, dass er eine signierte Fotografie von Präsident Bush erhalten hatte – von einem der beiden Bushs. Max wusste jedoch nicht genau, von welchem, aber das spielte auch überhaupt keine Rolle. Das war noch zu der Zeit, als Normal am College Präsident der Jungen Republikaner gewesen war. Für ihn war es jedenfalls das schönste Ereignis seines Lebens gewesen. Max deutete auf die schwankende Fichte. „Du hast zugelassen, dass Normal auf diesen Baum aufpasst?“ Original Cindy grinste wieder. „So ist es.“ „Unser Normal? Der pfeilgerade, bis oben zugeknöpfte, eiskalte Normal?“ „Sag ich doch, Boo. Seit der für die kleine Eve die Hebamme gespielt hat, ist er eine Seele von Mensch. Zum Teufel, er hat sogar den Baum gegossen.“ „Bitte sag mir, dass daran kein Haken ist.“ Max schüttelte den Kopf und schaute wieder zu dem großen Baum. Es sah aus, als ob er an den Kabeln reißen würde, um sich zu befreien. „Könnte die gleiche Krise wie bei Jam Pony werden!“ „Aber nur fast. He, wir schaukeln das Ding schon.“ „Ich kann einfach nicht glauben, dass Normal diesen Baum bei sich hatte.“ „Soll ich dir was wirklich Verrücktes erzählen?“ O.C. sah sich verschwörerisch um. „Es war Normals Einfall.“ „Normals Idee.“ „Er hat uns den Baum beschafft, das schwör ich bei meiner Mama, Boo.“ „Okay, und wo ist er jetzt?“ „He! Lass dem Typen doch ein bisschen Freiraum, damit er wenigstens weiter so tun kann, als ob er ein Arschloch wäre.“
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Max schaute zu dem Baum. Ein warmes Gefühl durchströmte sie trotz der Kälte auf dem Dach. „Gott segne Normal. Der Baum ist wunderschön.“ Jetzt tauchte eine Hand hinter Original Cindys Rücken auf und sie reichte Max einen schwarzen Metallwürfel mit einem silbernen Hebel. „Von Dix und Luke, ihre neueste Kreation, dir zu Ehren, Boo.“ Max nahm das Geschenk. Sie hatte einen Kloß im Hals und schielte zu ihren beiden eierköpfigen Freunden hinüber, die heftig nickten. Dann legte sie den Hebel um. Bunte Lichter blitzten überall an dem Baum auf, rote, grüne und blaue. Sie blinkten, glitzerten und schimmerten, und der Stern an der Spitze leuchtete hell. Bunte Christbaumkugeln schaukelten im Wind – ein glitzerndes Märchen in der Dämmerung. „Es ist wunderschön“, sagte Max mit erstickter Stimme. Sie drehte sich zu dem Mann an ihrer Seite. Logan lächelte sie an. Die anderen scharten sich um sie und umarmten sie. Selbst Alec, der ansonsten kaum jemanden berührte – außer vielleicht mal eine Frau, die er für eine schnelle Nummer aufgerissen hatte –, konnte sich nicht zurückhalten. Alle waren nah bei ihr, außer Logan. Er blieb ein oder zwei Schritte zurück, wie immer. Max fühlte schmerzlich die Distanz zwischen ihnen. „Von hier aus können wir sicher am besten den Kometen beobachten, der am Heiligen Abend aufkreuzen soll“, stellte Original Cindy fest. Das ganze Land wartete auf die Ankunft des so genannten Weihnachtssterns, der alle zweitausend Jahre als Komet über den Himmel zog. Ein paar Astronomen vermuteten, dass es sich möglicherweise um den legendären Stern von Bethlehem handelte. Max grinste. „Wenn Sketchy mit seinem Schwachsinn Recht hat, dann kündigt der Komet das Ende der Welt an.“
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„Wenn Sketchy Recht hat“, sagte Original Cindy, „dann kommt Elvis am Neujahrstag in einer fliegenden Untertasse zurück.“ Die Gruppe trat näher an den Rand des Daches heran, um einen besseren Blick auf den bunt leuchtenden Baum zu haben. Max betrachtete jedes Licht, jede Kugel. Der Baum war großartig. Sie hatte immer gedacht, Weihnachten wäre ein sentimentales Überbleibsel aus der dekadenten Zeit vor dem Puls. Aber jetzt verstand sie das Getue, das Familie und Freunde darum machten. Sie konnte sich kein schöneres Geschenk denken als dieses. Selbst die Menschen, die weit entfernt waren von Terminal City, würden diesen Baum hoch oben auf dem Dach ihres neuen Marktes sehen. Sie hatten tatsächlich einen langen Weg zurückgelegt, in einer solch kurzen Zeit. Max war noch immer in Gedanken versunken, als der Wind erneut auflebte, allerdings nicht, um die feierliche Stimmung zu unterstreichen. Er fuhr durch den Baum und schüttelte ihn heftiger als zuvor, wie grausame Eltern, die ihr vorlautes Kind misshandelten. Logan griff in einer Reflexbewegung nach dem Baum, um ihn zurückzuziehen. Aber erneut fuhr der Sturm unbarmherzig durch den Baum und warf ihn hin und her. Die dicken Zweige schlugen Logan ins Gesicht und brachten ihn aus dem Gleichgewicht. Er schwankte und riss die Augen auf, die nur noch aus Weiß zu bestehen schienen. Eigentlich konnte er sich in seinem Exoskelett gut halten, aber er war nicht geschickt genug, um seine Balance wieder finden zu können. Lautlos stürzte er über den Rand des Daches. Max hatte es kommen sehen, doch ihr war keine Zeit mehr geblieben, ihn zu warnen oder ihn festzuhalten. Sie beugte sich weit über die Dachkante und streckte die Hand aus. Im letzten Moment erwischte sie Logans behandschuhte Hand. Nun
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baumelte er sieben Stockwerke über der Stadt wie ein menschlicher Weihnachtsschmuck. Max’ Arm drohte aus der Gelenkpfanne zu springen, bei ihrem Versuch, die Schwerkraft zu besiegen und Logan hochzuziehen. Jetzt waren Alec und Joshua hinter ihr, griffen jeweils eines ihrer Beine und zogen sie langsam von der Kante weg. Original Cindy und Mole standen links und rechts von ihr und warteten darauf, Logan hochziehen zu können und ihn zurück auf das Dach zu hieven. Max konzentrierte sich darauf, den Mann festzuhalten, den sie liebte, damit er überleben würde. Solange sich nur ihre Handschuhe berührten, war alles okay. Logan kam immer näher an die Dachkante und Mole und O.C. griffen nach seinen Schultern und zogen daran. Plötzlich sah Max, dass Logan mit einem schnellen Ruck zurück auf das Dach gezogen wurde. Sein Kopf flog nach rechts, in Richtung der unbedeckten Haut in ihrem Gesicht. Schnell rollte sich Max zur Seite und zog den Kopf weg, genau in dem Augenblick, als Logan über ihr zusammenbrach. Sie berührten sich überall, aber das machte nichts aus. Denn außer an ihren Gesichtern war die Haut überall bedeckt. Vorsichtig lösten sie sich voneinander. Max sah, dass Original Cindy und die anderen schrien, doch sie konzentrierte sich so sehr darauf, Logan nirgendwo zu berühren, dass sie kein Wort verstehen konnte. Gerade als sie zur Seite glitt, kam ein Windstoß von hinten. Sie versteifte sich, doch die Bö riss ihr die Mütze vom Kopf, verwehte ihr Haar und schlug es in Logans Gesicht. Sie konnte die elektrische Spannung zwischen ihrem Haar und Logans Gesicht fühlen, als ihre manipulierte DNA die verletzliche von Logan traf. Er rang nach Luft. Genau in dem Augenblick starb Max innerlich. Sie wusste, dass ihre Haarsträhnen gerade das Todesurteil über Logan gefällt hatten. Alle erstarrten. 47
Max sah Logan an, und sein Blick verriet, dass er die Wahrheit genauso gut kannte wie sie selbst. In weniger als vierundzwanzig Stunden würde er tot sein. Sie wussten inzwischen um den Verlauf. Zwei Mal waren die Symptome schon bei ihm ausgebrochen und hatten ihn beinahe geschafft. Doch beide Male war er wie durch ein Wunder gerettet worden. Diesmal jedoch, das war ihnen klar, war kein Wunder mehr im Angebot. Es gab noch keine Heilungsmethode und das einzige Fläschchen mit den Antigenen, das es jemals gegeben hatte, war schon lange aufgebraucht. Logan fand seine Stimme als Erster wieder. „Es... es tut mir Leid.“ Max konnte es kaum noch ertragen. Sie hatte gerade das Todesurteil über ihn gefällt, ohne es zu wollen, und er entschuldigte sich bei ihr? Max erkannte bei seinen Worten, dass sie das nicht durchstehen würde. Niemals würde sie zusehen, wie Logan erneut diesen schrecklichen Weg antrat. Zuerst würde das Fieber kommen, dann der Schüttelfrost, dann die Schweißausbrüche und die Anfälle. Dann würde es rapide abwärts gehen, in einen tödlichen Abgrund. Sie überlegte nur einen Moment, dann wusste sie, dass es für sie nur einen Weg gab. Wenn Logan sterben sollte, würde sie an seiner Seite sein, bis zum Ende... ... auch wenn es sie selbst umbringen würde.
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3. Kapitel__________________________ WARTEN AUF DEN TOD Seattle, Washington 20. Dezember 2021 In Logans Apartment war es warm und gemütlich, doch Max hatte sich diesen Abend mit Logan ganz anders vorgestellt. Sie hatten den unterirdischen Tunnel von Terminal City, der zu dem versteckten Apartment führte, durchquert, doch Logan zeigte bis jetzt überraschenderweise immer noch keine Anzeichen für das Ausbrechen des Virus. Er hatte seinen alten Freund, Dr. Sam Carr, angerufen. Er war Neurochirurg am Metro Medical Hospital und Logans persönlicher Arzt. Carr gehörte zu der Hand voll Vertrauter, die wussten, dass Logan und Eyes Only ein und dieselbe Person waren. Aneinander gekuschelt lagen Max und Logan nun auf dem Bett und warteten ab. Zuerst hatte Max den üblichen Abstand gewahrt. Denn obwohl es mehr als unwahrscheinlich war, hatte sie doch gehofft, dass ein Glücksfall das Virus davon abhalten konnte, die verheerende Prozedur in Logans Körper zu starten. Doch Logan hatte gesagt: „Es gibt keinen Grund mehr, dass wir uns nicht berühren, richtig?“ Er hatte seine Arme ausgebreitet, und nun lag sie neben ihm, eingehüllt in seine Wärme, passend zu der Behaglichkeit in dem Apartment und im Schlafzimmer. Seltsamerweise erinnerte sie sich in diesem Augenblick an die Nacht, als sie und ihre Geschwister aus Manticore geflohen waren. Wie merkwürdig, denn die eiskalte Nacht in Gillette, Wyoming, schien doch nichts gemeinsam zu haben mit dem, was sie jetzt fühlte. Nur die Freundlichkeit einer Fremden hatte die junge Max damals davor bewahrt zu erfrieren, bevor sie 49
einen Hauch von Freiheit spüren konnte. Die Krankenschwester Hannah aus Manticore hatte die verängstigte X5 in ihr warmes Häuschen eingeladen. In dieser abgelegenen Hütte hatte die Neunjährige zum ersten Mal gespürt, was Leben war, und was es hieß, ein Heim zu haben, das nicht nur aus einer antiseptischen Schlafstelle bestand. Max hatte seitdem oft versucht, dieses Gefühl der Wärme wieder zu finden. Und bei Logan hatte sie es gefunden, zumindest ab und zu. Jetzt, da sie tatsächlich neben ihm lag, in seinen Armen, spürte sie die Wärme erneut. Es war wunderbar, aber irgendwie auch schrecklich. Eine Träne lief an ihrer Wange hinab. Gedankenverloren wischte Max sie weg. Im Vergleich zu der Hütte damals war das Apartment ein Palast. Das Gebäude gehörte der Cale-Familie und lag direkt vor den Toren von Terminal City. Das Bett schien beinahe so groß wie das einzige Zimmer in der Hütte in Wyoming. Die übrige Einrichtung – eine Kommode, ein Schrank und zwei Nachttische – spiegelte Logans zurückhaltend männlichen Geschmack wider. Neben der Tür stand zudem noch ein viertüriger Schrank, der die ganze Wand einnahm. Logans Laptop, der auf der Kommode stand, war eingeschaltet. Der Bildschirmschoner zeigte die Erde, vom Mond aus betrachtet. Er spendete das einzig schwache Licht in dem Raum. Neben der Kommode stand eine kleine Stereoanlage. Logan hatte ein klassisches Stück aufgelegt, das Max nicht kannte. Obwohl sie nicht bewusst zuhörte, schienen die Töne sie in seltsamer Weise zu beruhigen. Wenn sie doch nur in der Lage gewesen wäre, dieses Gefühl länger als dreißig Sekunden festzuhalten... Sie löste sich ein wenig von Logan, stützte sich auf den Ellbogen und betrachtete ihn. Er sah gut aus. Eigentlich völlig normal. Sie hasste es, ihn zu fragen, aber es musste sein. „Wie fühlst du dich?“
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Er zuckte mit den Schultern. „Ich muss sagen, okay. Wirklich. Ein bisschen mitgenommen, aber nur deshalb, weil ich daran denke, was passieren wird.“ „Beim letzten Mal ging es allerdings schneller“, sagte sie. Sie waren erst seit ein paar Minuten im Schlafzimmer, hatten jedoch mindestens fünf Minuten gebraucht, um hierher zu kommen und ein oder zwei Minuten, um Carr zu erreichen. Die beiden waren allein in dem Apartment. Der Rest der Gruppe hatte sich zurückgezogen, um sie in diesen schweren Stunden nicht zu stören. Es mochten ungefähr zehn Minuten vergangen sein, seit das verfluchte Virus in Logan eingedrungen war. Die beiden anderen Male hatte das Teufelsding sich unmittelbar gemeldet, und die Symptome waren schnell ausgebrochen. Diese Ruhe vor dem Sturm beunruhigte sie jetzt beide. Logan stützte sich ebenfalls auf den Ellbogen und sah ihr direkt in die Augen. „Vielleicht sind meine Abwehrkräfte inzwischen stärker geworden, weil das verdammte Ding schon mal in mir drinsteckte. Vielleicht braucht das Virus jetzt länger?“ Sie schüttelte den Kopf. „Glaub ich nicht. Beim letzten Mal war es auch anders.“ Logans Augen weiteten sich und er zuckte erneut mit den Schultern. „Es ist verrückt, Max, aber ich fühle mich okay. Mir geht’s wirklich gut.“ „Wie lange schon?“ „Seit wir uns zum ersten Mal berührt haben?“ Sie nickte. Er schaute auf seine Armbanduhr. „Schon fünfzehn Minuten.“ Max drehte sich der Magen um. Selbst die klassische Musik konnte sie jetzt nicht mehr besänftigen. Die Angst und Verzweiflung in ihr kämpften mit der Hoffnung. Ihr fiel ein Satz ein, doch sie wusste nicht mehr, von wem er war. „Es ist 51
nicht die Verzweiflung, denn damit kann ich umgehen. Es ist die Hoffnung!“ Trotzdem, irgendetwas war diesmal anders. Logan hätte schon längst Schweißausbrüche haben müssen. Gnadenloser Schüttelfrost und die Anfälle hätten schon an der nächsten Ecke lauern müssen. Logan fühlte sich warm an, aber er hatte kein Fieber. Er roch gut, eine Mischung aus Aftershave und Puder, die sie so gut kannte. Es schien, als ob er sich auf diesen Abend mit ihr vorbereitet hätte, in dem Wissen, dass sie sich endlich lieben könnten, wie sie es seit langem ersehnt hatten. Doch jetzt war dieser Abend zu einer verdammten Totenwache geworden. Sie liebte seinen Duft und saugte ihn tief ein. Denn sie wusste, dass sie diese Erinnerung für den Rest ihres Lebens in sich tragen würde. In diesem Augenblick hörte sie ein leises Klopfen. Logan rührte sich nicht, doch sie setzte sich auf. Wieder klopfte es, diesmal lauter. „Ich liebe Ärzte, die Hausbesuche machen“, sagte Logan und richtete sich auf. Max drückte ihn zurück in die Kissen und kletterte aus dem Bett. „Du bleibst hier, Monsieur. Du bist der Patient und ich bin die Krankenschwester. Also lass ich den Arzt herein. Das ist ein Befehl, verstanden?“ „Ja, Ma’am.“ Sie war bereits verschwunden und durchquerte das angrenzende Zimmer. Es war durch Raumteiler abgetrennt. Die Küche blinkte in rostfreiem Stahl. Rechts befand sich der Essbereich mit einem großen Eichentisch, an dem mindestens sechs Personen Platz hatten. Das Apartment sah genauso aus wie das frühere, in dem Logan gewohnt hatte, bis Ames White und seine Speichellecker von der NSA es im letzten Jahr zu Kleinholz verarbeitet hatten. Im Wohnbereich standen ein riesiges Ledersofa, drei Stühle und ein Beistelltisch. Ein riesiger Teppich bedeckte den Boden. Links, an der Rückseite 52
des geräumigen Zimmers, lag Logans Büro. Eine Tür am Ende des Raums führte zu dem Tunnel nach Terminal City. Die Tür rechts, an die Dr. Sam Carr gerade klopfte, ging zur Straße. Nachdem sie kurz den kleinen Monitor seitlich am Eingang gecheckt hatte – ein spezielles Video-Guckloch – riss Max die Tür auf. Dr. Carr stand vor ihr. Er trug einen blauen Parka und hatte die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, um sich gegen den schneidenden Wind zu schützen, der jetzt hereinfegte und Carr hineinschob. Schnell verriegelte Max die Tür, um das grässliche Wetter auszusperren. „Wo ist er?“, fragte Carr, gab Max seine Reisetasche, schlüpfte aus dem Mantel und warf ihn über einen der Esszimmerstühle. Er war groß und seine Stirn endete etwa in der Mitte seines Kopfes. Dunkles Haar bedeckte die Seiten und den Hinterkopf. Es sah aus, als hätte er sich ein Käppchen über den Kopf gestülpt. Die braunen Augen spiegelten die Traurigkeit, aber auch die Güte eines Mannes wider, der sein Berufsleben damit verbrachte, sich die Probleme anderer Menschen anzuhören. Seine Nase war lang und gerade, der Mund sensibel. „Schlafzimmer“, sagte Max. „Wie ist das passiert? Sind Sie etwa nicht vorsichtig gewesen?“ Max erzählte ihm, was geschehen war. „Seltsam, wie viele Menschen dummerweise ausgerechnet zur Weihnachtszeit sterben.“ Er schüttelte den Kopf und nahm ihr die Tasche aus der Hand. „Ehrlich, ich weiß nicht, was ich für ihn tun kann. Wir könnten es mit einer Transfusion von einem anderen Transgeno versuchen, aber...“ „Normalerweise untersuchen Sie den Patienten doch zuerst, bevor Sie die Diagnose stellen und die Behandlung festlegen, oder?“ Carr kniff die Augen zusammen. „Was ist hier los, Max?“ „Genau das will ich auch wissen. Gehen Sie zu ihm.“ 53
Sie versuchte, nicht hoffnungsvoll zu klingen. Carr schien es als ein Zeichen ihrer Verzweiflung anzusehen und schaute sie immer noch an, als er ins Schlafzimmer ging. Max ließ sich auf das Sofa fallen und zwang sich, ruhig zu bleiben. Sollte doch Dr. Carr seine Arbeit tun und den Patienten untersuchen. Allein die Wissenschaft würde dann entscheiden, ob Logan Cale noch eine Zukunft hatte oder nicht. Sie wagte es nicht, sich hoffnungsvollen Gedanken hinzugeben, um sich daran zu klammern. Es war inzwischen eine halbe Stunde her, seit ihr Haar Logans Gesicht berührt hatte. Und trotzdem schien es ihm gut zu gehen. Aber wie konnte das sein? Renfro, Manticores letzte Anführerin, hatte Max selbst erzählt, dass es keine Heilung gab und kein Gegenmittel, außer dem kleinen Fläschchen mit Antigenen, das jedoch längst aufgebraucht war. Die hassenswerte Frau hatte sich bei ihrem letzten Zusammentreffen vor Max gestellt und sie damit vor einer Kugel bewahrt. Sie hatte der X5, aus welchem Grund auch immer, das Leben gerettet. Dann war sie in Max’ Armen gestorben und hatte sie mit diesem schrecklichen Virus allein zurückgelassen. In gewisser Weise war es also gerade die Hoffnung, die Max das Leben so schwer machte. Sie hatte sich wie eine Gefangene gefühlt, die eine lebenslängliche Strafe absitzen musste, und hatte daher versucht, die Hoffnung auszumerzen. Doch das Gefühl kehrte immer wieder zurück und nagte an ihr wie ein kalter Tag im Sommer. Die naive Quelle ihrer Hoffnung war genau das, worin sie sich von ihrem Bruder Zack unterschied, der Anführer der zwölf Transgenos, die aus Manticore ausgebrochen waren. Ebenso wie von dem impulsiven Seth, der es in der ersten Nacht nicht geschafft hatte. Auch Brin, die von Renfro wieder umgepolt worden war, war anders gewesen. Oder der egozentrische Alec, der sich zwar verändert hatte, aber tief in seinem Herzen ein Zyniker blieb. 54
Unter den X5 schienen nur Jondy und Tinga das gleiche Gefühl der Hoffnung wie Max in sich zu tragen. Jondy war allerdings verschwunden – und Tinga tot. Nur Joshua, das erste Versuchskaninchen, hatte nie die Hoffnung verloren, trotz allem, was er erleiden musste. Man hatte ihn im Keller eingesperrt, ein ungewolltes Stiefkind, das seinem gütigen Vater Sandeman nach dessen Verschwinden gefolgt war. Joshua blieb nichts anderes als die Hoffnung. Max hatte Joshua immer bestätigt, dass er ein großes Herz habe. Verglichen mit ihrer Wut war die Hoffnung in ihr nur eine kleine flackernde Flamme. Joshua hingegen strahlte nichts als Hoffnung aus und keine Grausamkeit konnte dieses Licht in ihm auslöschen. Vielleicht war es für Joshua richtig, angesichts der Verzweiflung zu hoffen, doch Max hatte dieses Gefühl nur Enttäuschung eingebracht. All das hielt sie jetzt allerdings nicht davon ab, von ganzem Herzen zu hoffen, dass Dr. Carr etwas tun konnte, um Logan zu retten. Carr war schon seit einer Stunde bei Logan, und Max konnte sich kaum noch zurückhalten. Am liebsten wäre sie durch die Tür gestürmt, um nachzuschauen, was in dem anderen Zimmer vor sich ging. Aber sie zwang sich, im Wohnraum zu bleiben und tat so, als würde sie in einem von Logans Kunstbüchern lesen. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus, warf das Buch aufs Sofa und sprang auf. Rastlos ging sie auf und ab und fühlte sich allmählich ein wenig ruhiger. Alles war besser als untätig herumzusitzen. Sie ging zur Tür und lauschte. Doch ihre scharfen Ohren vernahmen nichts als leises Gemurmel. Sie stapfte zu der Tür, hinter der der Tunnel lag. Plötzlich verspürte sie den Drang, sich einfach aus dem Staub zu machen. Sie wollte wegrennen, den Schmerz hinter sich lassen. Sie wusste, dass sie nie wieder mit einem Menschen eine solche Verbindung eingehen könnte wie mit Logan. Wäre es da 55
nicht besser gewesen, einfach zu verschwinden, als seinen qualvollen Tod miterleben zu müssen? Doch es war nur ein Augenblick, nur ein flüchtiger Gedanke. Auch wenn der Drang zu fliehen noch an ihr nagte, siegte schließlich der Wunsch zu bleiben. Sie drehte sich um und näherte sich wieder dem Schlafzimmer. In diesem Augenblick öffnete sich die Tür. Logan kam heraus, gefolgt von Carr. Und Logan sah gut aus. Tatsächlich, er sah wundervoll aus. Sein Gesicht strahlte, und er breitete die Arme aus. Max warf Carr einen verwunderten Blick zu. Er zuckte nur mit den Schultern und setzte ein schiefes Lächeln auf, das einen Hauch von Ungewissheit in sich trug. „Warum grinsen Sie und Logan denn so?“, fragte sie ein bisschen verunsichert und achtete nicht auf Logans ausgebreitete Arme. Carr trat vor und hielt einen kleinen schwarzen Kasten in die Höhe, der aussah wie ein Spannungsmesser. „Der Bluttest hat kein Anzeichen für den Ausbruch des Virus ergeben.“ Max’ Blick wanderte von Carr zu Logan und wieder zurück. Sie versuchte, die Hoffnung in sich zu unterdrücken, die plötzlich wieder in ihr aufkeimte. „Wie zum Teufel kann das sein?“ Logan merkte endlich, dass Max ihm nicht in die Arme fallen würde. Seine Hände fielen wieder herab, doch sein Lächeln blieb. „Deshalb hat es so lange gedauert“, sagte er. „Wir haben nach dem Zufallsprinzip ein bisschen im Computer gestöbert, um das Ganze zu verstehen.“ „Und wie sieht’s aus?“ „Ich weiß, dass es noch eine Menge zu tun gibt, bis wir das Ganze zufrieden stellend geklärt haben“, sagte der Arzt und deutete auf das Sofa. „Und ich werde mein Bestes tun, die Theorie zu erklären, die wir aufgestellt haben.“ 56
Sie gingen in den Wohnbereich. Max war immer noch voller Zweifel und Angst. Sie ließ sich auf das Sofa fallen. Logan setzte sich ganz dicht neben sie. Max unterdrückte den Zwang von ihm wegzurutschen. Die Distanz einzuhalten war inzwischen zur Gewohnheit geworden. Carr setzte sich gegenüber auf einen der Stühle. „Wie ich schon sagte, ich habe einen Bluttest gemacht, und es gibt kein Zeichen für das Virus.“ Sie sah von Carr zu Logan, der jetzt auch schief grinste. Aus irgendeinem Grund schien er beinahe verlegen. „Sollen wir Logan in eine Spezialklinik bringen und ihn noch mal checken lassen?“, fragte sie. Carrs Augenbrauen zogen sich nach oben. „Sie meinen, ob wir eine zweite Meinung brauchen? Das haben wir uns auch gefragt, aber es ist ganz einfach. Wir brauchen keine zweite Meinung, sondern eine Erklärung.“ „Also, Sie haben im Computer nachgesehen. Und dann?“ „Zunächst haben wir alle Möglichkeiten durchgespielt“, sprang Logan ein. „Wir haben mit mehreren Theorien begonnen und sind dann weitergegangen. Das Einzige, was mir schlüssig erscheint, ist Kelpy.“ Sie runzelte die Stirn. „Was könnte er damit zu tun haben? Kelpy hat doch gerade bewiesen, wie gefährlich dieses Virus ist. Wir haben selbst gesehen, wie schnell, wie schrecklich er...“ Logan hob die Hand und brachte sie zum Schweigen. „Denk einen Augenblick nach, Max. Das einzig signifikante Ereignis in Bezug auf das Virus in all den Monaten war Kelpys Kontakt mit mir. Und mit dir. Er wurde ich, und deshalb musste er sterben. Das hat die ganze Sache verändert.“ Sie überlegte einen Augenblick. „Wir sind lange, sehr lange, vorsichtig gewesen.“ „Ja“, sagte Logan. „Wir beide waren extrem vorsichtig nach meinem letzten Ausbruch.“ 57
„Bis heute Abend.“ „Und was geschah heute Abend?“ „Wir haben uns berührt, mein Haar ist in dein Gesicht geweht und...“ „Und was?“ „Und... nichts weiter.“ „Ja. Und ich frage mich langsam, ob Kelpy an meiner Stelle gestorben ist. Vielleicht ist das Virus auf ihn übertragen worden, als er meine Gestalt angenommen hat. Denn sonst wäre er nicht gestorben.“ Sie nickte. „Kelpy ist in deinen Körper geschlüpft, und ich habe ihm das Virus übertragen?“ „Ja. Also, pass auf. Ich habe mich in die Aufzeichnungen von Manticore eingehackt und mehr über Kelpy herausgefunden. Immer wenn er sich verändert hat, scheinen sich auch seine Gene in gewisser Weise angepasst zu haben.“ Angestrengt runzelte Max die Stirn. „Eine Art biochemische Verwandlung?“ Carr nahm den Faden auf. „So könnte man das sagen. Es war keine richtige Verwandlung. In den meisten Fällen war sie nur physisch, nicht genetisch. Im Wesentlichen hat er nur die Hülle einer Person angenommen, um wie sie auszusehen.“ „Und was heißt das?“, fragte Max. „Dass immer noch genügend seiner Verwandlungen tatsächlich genetisch waren, um das Virus auszutricksen“, sagte Logan. „Das Virus... austricksen?“, sagte Max langsam, als würde sie die lächerliche Erklärung eines Kindes wiederholen. „Ja. Das Ding hat gedacht, dass Kelpy ich wäre.“ „Das Virus... dachte?“ „Das ist nur der übliche Ausdruck für das Konzept, welches das Virus dahingehend programmiert hat, Logan zu töten. Es hat in Kelpy Logan erkannt und hat ihn deshalb angegriffen. Als sein Opfer tot war, wurde es unbrauchbar.“ 58
„Ist das denn möglich?“ „Ganz bestimmt“, sagte Carr und nickte heftig. „Die Wissenschaftler in Manticore haben auf dem höchsten Level der genetischen Forschung gearbeitet. Aber das muss ich Ihnen wohl nicht erzählen.“ „Nein“, sagte Max trocken. „Die Ironie dabei ist, dass zwei ihrer Kreationen – von denen eine entworfen wurde, um Sie fertig zu machen, Max – zusammengestoßen sind und sich versehentlich selbst zerstört haben. Und damit Sie und Logan vor der unvermeidlichen Katastrophe gerettet haben.“ „Selbst mit all unseren Vorsichtmaßnahmen“, sagte Logan, „haben wir uns doch gegenseitig damit aufgezogen, dass wir uns nie berührten. Aber wir konnten uns nicht trennen, stimmt’s?“ Sie sah ihn nur an. Logan wollte seinen Arm um ihre Schulter legen. Sie sprang auf, weg von ihm. „Das ist eine Lüge“, sagte sie. „Dr. Carr, sagen Sie ihm, dass er mich nicht berühren soll. Wir können nicht sicher sein, wir können nicht wissen...“ „Logan, sie hat Recht“, sagte Carr. „Wir brauchen...“ Aber Logan war bereits aufgestanden. Er war sichtlich irritiert. „Verdammt, Max, manchmal gibt es auch gute Nachrichten. Es ist vorbei. Dieses verfluchte Virus existiert nicht mehr für uns.“ Max sah hinter Logan zu Carr. Sie war genauso verwirrt, obwohl sie wusste, dass sie eigentlich glücklich sein sollte. Dies war doch genau die Nachricht, auf die sie mehr als ein Jahr gewartet hatten. „Dr. Carr“, sagte sie kühl. „Ich möchte es ja glauben, aber ich kann nicht. Ich habe Angst, dass dieses teuflische Ding zurückkommt, dass wir... nur Glück gehabt haben, diesmal. Sie
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sagten, dass es richtig ist, vorsichtig zu sein. Wie können wir ganz sichergehen?“ Logan war enttäuscht und wandte sich an Carr. „Sie stimmen zu, dass...“ Der Arzt wedelte mit der Hand in der Luft herum. „Logan, Max ist skeptisch, und sie ist vorsichtig. Genau diese Eigenschaften haben sie bis jetzt gut durchgebracht.“ Jetzt wandte er sich an Max. „Wir könnten mit Ihnen einen Bluttest machen, dann haben wir die Antwort.“ „Eine endgültige Antwort?“, fragte sie. Logan schüttelte den Kopf. „Mein Gott, Max, du findest selbst beim klarsten Sonnenschein noch dunkle Wolken.“ „Sehr wenig ist gewiss in dieser Welt, Max“, sagte Carr. „Besonders nicht in der Welt nach dem Puls. Falls das Virus immer noch in Ihnen steckt, könnte es möglicherweise unwirksam sein oder nur schlafen.“ Sie stemmte die Hände in die Hüften. „Und Ihr kleiner Bluttest kann uns das sagen?“ „Ja.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Dann sollten wir es versuchen.“ „Schlafzimmer“, sagte Carr und deutete mit dem Finger auf die Tür. Kurz darauf saßen Logan und Max auf dem Bett, mit dem üblichen Abstand, und Carr begann mit der Prozedur. Zunächst tupfte er Max’ Arm mit Alkohol ab, dann entnahm er ihr mit einer Nadel Blut. Er gab ihr noch einen Tupfer, den sie gegen die Wunde presste. „Dauert nur eine Minute“, sagte er beruhigend. Er steckte die Nadel in einen gummierten Behälter und pumpte das Blut hinein. Seine Finger berührten verschiedene Knöpfe auf der Vorderseite des Kästchens. Dann hielt er inne, als hätte er eine Telefonnummer gewählt und wartete jetzt darauf, dass jemand am anderen Ende abhob. Carr betrachtete 60
den kleinen LCD-Bildschirm, dann drückte er einen weiteren Knopf. „Ich mache einen Ausdruck“, sagte er. „Ich weiß, dass Sie die Dinge gern schwarz auf weiß haben, Max...“ Einen Moment später kam ein Papierstreifen unten aus dem Kästchen, der aussah wie eine Quittung der Gaswerke. Carr riss ihn ab und reichte ihn Max. Links unten standen Abkürzungen, rechts Nummern. Sie überflog die Liste, aber die Zeichen sagten ihr nichts. Fragend hob sie die Augenbrauen. „Sehen Sie eine Null?“, fragte Carr. Wieder schaute sie auf das Papier. „Ja. Eine im unteren Viertel.“ „Und was steht auf der linken Seite?“ „,VI’ steht da.“ „Viren“, sagte Carr. „,VI’ heißt Viren. Und da steht außerdem eine Null. Sie haben noch nicht mal einen leichten Grippevirus in sich, Max.“ „Ich bin... sauber?“ „Das Virus ist nicht mehr in Ihrem System.“ Max saß nur da. Sie fühlte sich benommen. Plötzlich hatte sie das Gefühl, als ob Carr weit weg wäre. „Kein Virus?“ „Offensichtlich hat Kelpy ihn aus Ihrem System absorbiert. Es ist möglich, dass seine Fähigkeit, sich zu verwandeln, langsam durcheinander geraten ist. In seiner Logan-Phase haben er und Sie sich berührt. Instinktiv hat er ein paar Ihrer Eigenheiten übernommen. Und plötzlich war das menschliche Chamäleon der Überbringer und Empfänger.“ „Also hat das Virus Kelpy getötet. Und sich selbst“, sagte Logan. Carr seufzte und zuckte mit den Schultern. „Solange Sie beide sich nicht einer intensiven Forschung in einer der Topeinrichtungen unterwerfen“, sagte er, „werden wir das wahrscheinlich nie ganz sicher wissen.“ Logan lachte. „Vielleicht war es Zauberei.“ 61
Max drehte sich zu ihm um. Er grinste. Dann sah sie Carr an. Auch er strahlte. „Tatsächlich... verschwunden?“, fragte sie. Carr nickte langsam. „Falls ich etwas verordnen darf, seien Sie erleichtert... und glücklich.“ Max sah Logan an. Dann schlang sie die Arme um ihn und küsste ihn. Logan war im ersten Augenblick zu verblüfft, doch dann erwiderte er ihren heißen, langen Kuss. Schließlich sagte Carr: „He, Sie beide sollten sich ein Zimmer nehmen.“ Sie lösten sich voneinander. „Das ist mein Zimmer“, sagte Logan. „Sie sind der kranke Voyeur, Sam.“ Carr sah aus, als wollte er eine witzige Bemerkung machen, als Max vom Bett sprang, seinen Arm ergriff und ihn aus dem Schlafzimmer führte. „Halt, halt!“, protestierte er. „Meine Tasche!“ Logan nahm die Tasche, steckte das schwarze Kästchen hinein und folgte den beiden in den Wohnraum. Logan sah den Arzt an. „Sam, ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll.“ „Aber ich“, sagte Max und küsste ihn auf die Wange. Carr sah sie mit großen Augen an. Offensichtlich war er überrascht, dass eine solch harte Frau so zärtlich sein konnte. „Danke, Doc“, sagte sie. „Sie sind tatsächlich ein Lebensretter. Zu schade, dass Sie schon gehen müssen.“ Carr zwinkerte Max zu, die ihm schnell in den Parka half. Logan reichte ihm die Tasche. An der Tür küsste Max ihn noch einmal auf die Wange. „Danke, Sam.“ „Gern geschehen“, sagte er. Er hatte den Mund noch nicht zugeklappt, als Max ihn schon in die Dunkelheit und den heulenden Wind hinausschob. „Benennen Sie es nach mir“, konnte er gerade noch sagen, dann schloss sie die Tür vor seiner Nase.
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Sie schob den Riegel vor und drehte sich zu Logan um. „Ich dachte schon, der geht überhaupt nicht mehr.“ Doch nun, da sie endlich glücklich war, verschwand sein Lachen. Logan sah plötzlich sehr ernst aus. Aber sie konnte ihn verstehen. Denn das, was nun zwischen ihnen geschehen würde, war tatsächlich ernst: Die Erfüllung ihrer Liebe, die durch das tödliche Virus zur Vorhölle geworden war. Sie griff nach dem Saum ihres Shirts und wollte es über den Kopf ziehen. Logan trat einen Schritt vor, nahm ihre Hände und hielt sie fest. „Wir müssen reden.“ „Das sagen normalerweise die Frauen.“ „Ich weiß.“ „Dein Timing ist ziemlich beschissen, findest du nicht auch?“ Sein Blick war voller Liebe – und Traurigkeit. „Max, nichts bedeutet mir mehr als du... und dich zu lieben. Aber es gibt etwas...“ Sie seufzte. „Hab ich dir jemals von dem Schuss KatzenDNA erzählt, den sie mir gespritzt haben. Der mich heiß macht, drei Mal im Jahr?“ Er nickte. „Na ja, es ist wieder so weit...“ Sie hob fragend die Augenbrauen. „Was ist los, Logan? Wir haben darauf gewartet...“ „Ich weiß. Ich weiß. Aber wir sollten ehrlich zueinander sein. Das ist nicht nur animalische Anziehungskraft, Max, wenn wir zusammen sind, und ich meine damit nicht nur das eine...“ Er nahm ihre Hand, führte sie zu dem Sofa und bat sie, sich zu setzen. Die Stimmung hatte sich verändert, und Max war verwirrt. Als sie saß, fragte sie: „Was ist los?“
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Er nahm die Brille ab und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. „Es ist nicht leicht, Max... Aber ich muss dir etwas sagen.“ „Du hast mit Asha geschlafen“, stellte sie fest. Sie meinte Asha Barlow, die schlanke blonde S1WRevolutionärin, die sich mit Logan zusammengetan hatte, als man glaubte, Max sei tot. „Keine Sorge“, sagte sie. „Schnee von gestern.“ Er war verwirrt. „Worüber sprichst du eigentlich?“ „Du meinst, du hast nicht mit Asha geschlafen?“ „Nein. Zum Teufel, nein.“ „Sie sieht sehr gut aus.“ „Max, bitte. Ich habe um dich getrauert. Wie kannst du nur so etwas denken?“ Sie zuckte mit den Schultern. „Hörte sich so an, als ob du ein Geständnis ablegen wolltest. Ich dachte, ich könnte das Ganze ein bisschen beschleunigen, damit wir schneller zu den wichtigeren Dingen kommen...“ Doch Logan kapierte immer noch nicht. „Du dachtest, ich hätte mit Asha geschlafen?“ „Du hast geglaubt, dass ich tot bin, du warst allein...“ „Ich habe nicht mit ihr geschlafen.“ Sie lächelte. „Cool. Noch besser, jetzt aber...“ „Es gibt aber etwas, das ich dir gestehen muss.“ Sie lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. Für Logan gab es kein Zurück mehr. Er wollte ihr alles offen legen. „Okay“, sagte sie. „Spuck’s aus, dein schreckliches Geheimnis. Bist du bisexuell? Macht nichts. Bist du pleite? Was soll’s.“ Er schaute sie an. „Max, es geht um Seth.“ Sie straffte sich. „Seth, du meinst meinen Bruder Seth?“ „Ich habe ihn gekannt, Max.“ Seth war damals in Wyoming einer der X5 gewesen, die aus Manticore geflohen waren. Er war von den Wachen erwischt 64
worden. Später konnte er dann verschwinden und Max, die zu der Zeit in Los Angeles lebte, war ihm nach Seattle gefolgt. Sie hatten sich auf dem Dach der Space Needle wieder gefunden, zehn Jahre nachdem Max aus Manticore verschwunden war. Doch ihr Zusammensein war nur von kurzer Dauer gewesen. Seth starb in jener Nacht. Er stürzte vom Dach der Space Needle. „Als wir uns zum ersten Mal trafen, wusste ich eine Menge über die X5 und Manticore, erinnerst du dich? Nicht die Art Information, an die jeder rankommt.“ „Was meinst du damit... du hast Seth gekannt?“ „Auf der Needle in dieser Nacht, die Leute, die du überrascht hast...“ „Diese fiesen Typen?“ „Fiese Typen, richtig. Sie waren in kriminelle Machenschaften verwickelt, die Eyes Only stoppen wollte.“ „Du bist Eyes Only, Logan.“ „Ja...“ „Du meinst, Seth hat für dich gearbeitet, in dieser Nacht?“ Logan konnte nur nicken. „Ich war also nicht die erste X5, die du rekrutiert hast?“ „Nein. Das war Seth.“ Sie fühlte Tränen in ihren Augen. „In dieser Nacht auf der Needle, mit Jared Sterling und den Koreanern, hat Seth einen Auftrag für Eyes Only ausgeführt?“ Logans Stimme klang gepresst. „Ja.“ „Und er ist dabei draufgegangen, wurde umgebracht. Du bist dafür verantwortlich.“ „Ich... ich weiß. Und seither versuche ich, damit klarzukommen.“ Sie fühlte ein Brennen in ihrem Bauch, das in ihre Kehle aufstieg. Sie schluckte schwer. Das durfte einfach nicht wahr sein – warum ausgerechnet jetzt, da es das Virus nicht mehr gab und nichts mehr zwischen ihnen stand...? 65
Außer Verrat. Und Lügen. Sie erhob sich und schaute ihm herausfordernd ins Gesicht. Er sah sie voller Zärtlichkeit an, doch sie funkelte wütend zurück. „Es waren fast ein Dutzend Männer da in dieser Nacht. Die Koreaner, Sterling und seine Schläger. Und du schickst Seth alleine dorthin?“ Logan nickte. Sie sah ihn an, und ihre Lippen kräuselten sich vor Wut. „Du hast es mir bis zum heutigen Tag niemals erzählt. Warum nicht?“ Er zuckte resigniert mit den Schultern. „Wir haben beide unsere Geheimnisse, Max. Du hast mir auch nicht alles erzählt, nicht beim ersten Mal.“ „Du weißt alles, was du über mich wissen musst, seit langer Zeit. Ich habe es ehrlich gemeint mit dir. Ich habe mich dir geöffnet wie noch nie zuvor einem Menschen.“ Ihre Stimme klang jetzt hoch und schrill, aber es war ihr egal. „So etwas vergisst man nicht einfach zu erzählen. Es war kein Versehen. Es war Absicht, Logan. Du hast mich angelogen.“ Er schluckte schwer. „In gewisser Weise schon.“ „Warum?“ Sie schrie jetzt beinahe. „Warum ausgerechnet du? Warum mich?“ „Zuerst warst du... wie soll ich es sagen?“ „Versuch es.“ „Du warst erst mein zweiter Rekrut. Wenn ich dir erzählt hätte, was mit dem ersten passiert ist, hättest du...“ „Gezögert, meinen Kopf für dich hinzuhalten?“ Logan stöhnte auf. „So ähnlich. Und dann... als wir uns näher kamen... habe ich keinen Weg mehr gefunden. Du hast mir klar gemacht, wie sehr du deine Geschwister liebst. Ich hätte zugeben müssen, dass ich schuld war am Tod deines Bruders, aber ich hatte Angst...“ „Angst davor, was ich mit dir machen würde?“ 66
„Dass du mich hasst.“ „Na super.“ Er stand da und schaute sie an, als hätte sie ihn geschlagen. Jetzt liefen Tränen über ihre Wangen. Tränen der Trauer und der Wut. Sie dachte an Seth. Und an den Mann, den sie liebte, der für Seths Tod verantwortlich war, und der gerade vor ihr stand und vorgab, sie zu lieben. „Hättest du es mir jemals erzählt?“ „Max, ich habe es dir gerade erzählt.“ „Ach so, du meinst: besser zu spät als nie.“ Logan schwieg. „Du hast mir nichts erzählt, damit ich weiter deine Wünsche erfülle und deine selbstgerechten Operationen nicht verrate, genauso wie du es mit Seth getan hast. Du konntest es mir nicht sagen, weil du einen wichtigen Informanten für Eyes Onlys Kreuzzug verloren hättest.“ „Das war nicht alles.“ „Was zum Teufel war es dann?“ „Max, du weißt, was es war.“ „Tatsächlich?“ „Ich... ich habe mich in dich verliebt.“ Jetzt fühlte sie sich, als ob er sie geschlagen hätte. Aber sie schlug zurück. „Und du dachtest, dass es meine Gefühle für dich beeinträchtigen würde, wenn du es gesagt hättest?“ „Max, ich...“ „Hör auf mit Max. Ich habe genug gehört. Mir reicht’s.“ Sie durchquerte den Raum und nahm ihre Jacke vom Stuhl. Er fing sie an der Tür ab und legte eine Hand auf ihren Arm. „Soll ich sie brechen?“, fragte sie und blickte auf seine Hand. Er bewegte sich nicht. „Ich habe dich gewarnt.“ Sie griff nach seiner Hand und wollte sie zerquetschen. Logan machte keine Anstalten, sie davon abzuhalten. Er stand nur da und starrte ihr in die Augen, und der Schmerz in 67
seinem Blick hatte nichts zu tun mit dem Druck, den sie auf seine Finger ausübte. Als das erste Anzeichen von körperlichem Schmerz in seinem Gesicht aufflackerte, lockerte sie den Griff. „Verflucht“, stieß sie wütend hervor. „Ich hau ab.“ Sie riss die Tür auf und rannte hinaus in die Nacht und in den Sturm, der die gleiche Wut zu empfinden schien wie sie. Logan mit seinen Lügen und seiner Schuld ließ sie hinter sich zurück. Er stand in der Tür, und der Wind rüttelte an ihm, als wollte er ihn strafen. Er rief ihren Namen, aber sie ignorierte ihn und lief weiter in die Dunkelheit. Heute würde sie nicht zurück nach Terminal City gehen und sich nicht den Kopf zerbrechen über die anderen. Keinem von ihnen konnte sie heute nahe sein, selbst Joshua und Original Cindy nicht. Es gab nur einen Platz für sie in dieser Nacht – den Ort, an dem sie ihren Bruder getroffen hatte. Der Ort, an dem er gestorben war. Die Space Needle sah noch fast genauso aus, wie Max sie in Erinnerung hatte, obwohl sie seit der Belagerung von Terminal City nicht mehr dort gewesen war. Es gab lediglich ein paar neue Graffiti. Sie drehte den Strom an. Nur wenige außer Max wussten, dass die Aufzüge wieder funktionierten. Sie fuhr bis zur Aussichtsplattform, kletterte dann weiter hinauf, bis sie ihren Platz auf der Space Needle erreicht hatte. Oben war es noch stürmischer, aber sie war vorsichtig, und ihre Jacke war warm. Hier fühlte sie sich Seth ganz nahe und würde vielleicht eine neue Perspektive gewinnen. Etwa 150 Meter unter ihr bereitete sich die Stadt gerade auf die Nacht vor. Überall brannten Lichter, die wie kleine Pünktchen in der Ferne flackerten. Hier oben, weit weg von allem, fühlte sie sich klein und irgendwie bedeutungslos. So viele Jahre, so viele Fehler. Es waren nicht nur ihre Fehler. Manchmal, so wie heute, waren es auch die Fehler anderer. Logan hätte es mir sagen 68
können, dachte sie. Er hätte es mir sagen müssen. Verflucht, er hatte mehr als zwei Jahre Zeit gehabt, es ihr irgendwie beizubringen, und er hatte es nicht geschafft. Bis heute Abend. Tränen strömten aus ihren Augen. Du bist nicht so hart, sagte sie zu sich selbst. Die Flamme der Hoffnung, die sie in sich trug und die niemals verlöschen durfte, dieser kleine Hoffnungsschimmer war vielleicht das Einzige, was ihr jemals gehört hatte. Nun, da sie wusste, dass Logan für Seths Tod verantwortlich war, hatte er die kleine Flamme ausgelöscht. Nur noch Verzweiflung blieb und eine alles umhüllende Kälte.
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4. Kapitel__________________________ SPURLOS VERSCHWUNDEN Seattle, Washington 21. Dezember 2021 Am nächsten Morgen hatte sich der Sturm gelegt, aber die eisige Kälte war geblieben, wie ein Gast, der seine Besuchszeit überschritten hatte. Max hatte ihren Platz oben auf der Space Needle schließlich in der Morgendämmerung verlassen. Am liebsten wäre sie auf ihre Ninja gestiegen und ziellos umhergefahren. Vielleicht hätte sie dem Wunsch nachgegeben, wenn ihr Motorrad nicht ausgerechnet in Terminal City gestanden hätte. Im Moment hatte sie jedoch keine Lust, dorthin zu gehen, ihren Freunden und deren Fragen gegenüberzutreten. Die Stadt erwachte gerade und Max kaufte sich in einer Bäckerei zwei Kaffee, die sie auf einer Schachtel mit Bagels balancierte. Als ob sie von einem Autopiloten geleitet worden wäre, fand sie sich plötzlich am Eingang ihres früheren Arbeitsplatzes wieder, dem Jam Pony Xpress. Außer den pockennarbigen Einschusslöchern – eine Erinnerung an die Geiselkrise vor sechs Monaten – hatte sich an dem Gebäude nichts verändert, seit Max damals diesen Teil ihres Lebens hinter sich gelassen hatte. Der Platz war erfüllt von dem üblichen morgendlichen Lärm, einer Mischung aus Müdigkeit und Geschäftigkeit, Chaos und Organisation, wie man sie mitten am Tag an den meisten Arbeitsplätzen wiederfand. Die kleine Auffahrt vor Jam Pony war wie immer sauber gefegt. Und das Drahtgeflecht, das Normal – der Manager des Ladens – von seinen Tagelöhnern trennte, wirkte immer noch wie das Gitter im Bezirksgefängnis, 70
hinter dem die Gefangenen auf die Besucher warteten. Ob allerdings Normal der Gefangene war oder ob es die Kuriere waren, das blieb unklar. Ein paar von Normals schlampigen Kurieren – er schien einen unendlichen Vorrat an Leuten zu haben – schwirrten herum. Sie nippten an ihrem Kaffee oder redeten aufeinander ein, und einige machten sich fertig für ihre erste Tour an diesem Tag. Ein paar erkannten Jam Ponys berühmte Mitarbeiterin und starrten Max offen an. Die friedliche Beilegung der Belagerung von Terminal City hatte sie tatsächlich in gewisser Weise zu einer lokalen Größe gemacht. Max fragte sich, ob Jenny Brooks – die Wetterfee von Channel 7 – auch die neugierigen Blicke der anderen ignorierte, wenn sie durch die Straßen ging. Diese fünfzehn Minuten Ruhm, die sich ständig zu wiederholen schienen, waren für Max überraschenderweise schwer zu ertragen gewesen. Als Einzelgängerin war es ihr unangenehm, wenn alle Augen auf sie gerichtet waren. Denn den größten Teil ihres Lebens war sie auf der Flucht gewesen und fühlte sich unbehaglich, wenn sie nicht einfach verschwinden konnte, um dem Trubel zu entfliehen. Sie versuchte, die Blicke zu ignorieren und wandte sich an Normal, der hinter seinem vergitterten Fenster beschäftigt war. Er hatte sich kein bisschen verändert. Sein bräunlich blondes Haar war immer noch kurz und nach hinten gekämmt, und die schwarz umrandete Brille schien wie üblich von seiner Nase rutschen zu wollen. Und mit seinem Headset sah er aus wie der am wenigsten intellektuelle Cyborg auf dieser Welt. Jetzt setzte er sich hinter das Fenster und schaute auf, da er gemerkt hatte, dass jemand bewegungslos vor dem Gitter stand. Und das hieß für ihn natürlich, dass einer der Kuriere einen Anschiss brauchte. Dann zogen seine Mundwinkel sich hoch, und er sah aus, als ob er lächeln würde.
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„So, so, kleines Fräulein“, sagte er. Er schien seine Worte zu riechen, als ob jedes seinen Lieblingsduft tragen würde. „Kommst du schließlich doch angekrochen wegen einem Job?“ Sie schenkte ihm ein wohl wollendes Grinsen. „Stimmt, Normal. Das Geld, das wir mit unserem Markt in Terminal City unter der Hand machen, ist natürlich nichts im Vergleich zu den Cents, die ich hier hinterhergeschmissen kriege.“ Er tat so, als ob er nachdenken würde. „Nun, das ist gut. Ich habe nämlich gerade keine Stelle frei.“ „Oh, Mist. Das macht mich fertig.“ Sie setzte die Schachtel mit den Bagels auf die Theke und nahm die zwei Becher Kaffee herunter. Als sie sich umdrehte, merkte sie, dass ein halbes Dutzend Kuriere hinter ihr standen und ihren Wortwechsel mit Normal verfolgten. Max hielt inne, denn es war ihr peinlich. „Ja, ihr Faulpelze, es ist tatsächlich Max. Wir alle kennen sie aus dem Fernsehen“, sagte er vergnügt. Dann verfinsterte sich sein Blick und er schrie: „Bewegt euch! Das hier ist keine Jugendherberge. Die Pakete müssen raus, Leute. Hopp, hopp, hopp!“ Die Kuriere brummten mürrisch und brachen langsam auf. Die anderen Kids, die sich hinter ihr versammelt hatten, starrten sie noch immer an, als sie sich an ihr vorbeischlängelten. Normal warf Max einen schrägen Blick zu. Schließlich waren alle Kuriere verschwunden. Denn keiner wollte sich anstellen, um einen Verweis von Normal einzukassieren, dem kleinen Diktator mit dem Bürstenhaarschnitt. Normal lächelte Max jetzt an. „Tatsache ist, mein Fräulein, dass du immer ein Heim hier findest, wenn du willst.“ Sie legte den Kopf schräg. „Du wirst langsam menschlich, Normal.“
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„He, ich hab dir gesagt, dass ich einen Platz für dich habe, wenn es aus ist mit deiner Berühmtheit und du endlich wieder leben willst. Aber du musst dein Päckchen tragen.“ „Du hast nicht zu mir gesagt, dass du einen Platz für mich hast, Normal. Du hast Heim gesagt... und das war schön zu hören. Du hast nicht zufällig deine nubische Prinzessin rausgeworfen?“ Er deutete mit dem Kinn nach hinten zu den Spinden. „Sie ist schon da, die Grande Dame von Jam Pony.“ „Das kann nur Original Cindy sein.“ „Oh ja. Heute Morgen scheint sie allerdings etwas daneben zu sein. Vielleicht dieser Frauenkram.“ „Warum gehst du nicht rüber zu ihr, Normal, und empfiehlst ihr, etwas dagegen zu nehmen? Dann findest du heraus, was es mit diesem Frauenkram auf sich hat.“ Normal wäre fast errötet. „Ich meine nur... sie ist fertig. Am Ende. Verrückt, das kenn ich ja von ihr in dieser Bruchbude, aber heute ist es etwas anderes. Geh zu ihr.“ „He, Normal, bist du etwa besorgt wegen ihr?“ „Wenn sie einen schlechten Tag hat, habe ich auch einen, was bedeutet, dass meine Pakete nicht rechtzeitig geliefert werden.“ „Stimmt.“ Und sie grinste ihn an. Es war ansteckend und er drehte sich weg, um sich seiner Arbeit zu widmen und seine Menschlichkeit zu verstecken. Als sie nach hinten schlenderte, schüttelte Max den Kopf, überrascht darüber, wie nett es gewesen war, Normal wieder zu sehen. Wer hätte gedacht, dass sie diesen überheblichen Idioten vermissen würde? Doch trotz seiner lange bestehenden Vorurteile gegen die Transgenos hatte Normal sich tatsächlich von seiner besten Seite gezeigt, als sie und ihre Geschwister ihn wirklich gebraucht hatten. Ein Stehaufmännchen mit Herz. Erstaunlich. 73
Es fühlte sich überraschend gut an, hier zu sein, zurück in ihrem alten Revier, mit Leuten, auf die sie sich verlassen konnte, anders als ein gewisser Cyberjournalist. Als sie den großen, scharf riechenden Raum erreichte – komisch, dass sie diesen süßlichen Geruch früher nie bemerkt hatte –, entdeckte sie ihre Freundin. Sie saß auf einer Bank vor ihrem Spind und hielt den Kopf gesenkt, als ob sie beten würde. Original Cindys Afro stand heute auf Halbmast und war zurückgekämmt zu einem Knoten am Hinterkopf. Sie trug Jeans und ein graues Sweatshirt mit der Aufschrift GRRRRL POWER! Es sah zerknittert aus, als ob sie darin geschlafen hätte. Ungewöhnlich für eine Frau, deren Garderobe immer genauso scharf aussah wie sie selbst. „Will jemand einen Kaffee?“, fragte Max und hielt den Pappbecher hin. Original Cindys Blick schoss nach oben. Ihre Augen waren rot unterlaufen, entweder vom Weinen, zu wenig Schlaf oder von beidem. Dann sprang sie auf und nahm die Freundin in die Arme. Max hätte beinahe den Kaffee verschüttet. „He, he, he“, sagte Max und versuchte, die Pappbecher zu halten, als Cindy sie umarmte. „Pass auf, du verschüttest ja alles.“ „Wo hast du dich denn versteckt, Boo?“, fragte Original Cindy und trat ein kleines Stück zurück, ohne Max loszulassen. Sie sah erleichtert aber auch empört aus. „Verflucht! Die ganze Nacht haben wir deinen verdammten Arsch gesucht.“ Max zuckte mit den Schultern. „Ich musste über was nachdenken.“ „Du musstest also über was nachdenken. He, das ist cool. Aber weißt du, was nicht cool ist? Deine Brüder und Schwestern mit der verdammten Scheißangst allein zu lassen.“ „Tut mir Leid“, sagte Max. Das war ihr bis jetzt noch nicht passiert. „Es ist nur... alles etwas schief gelaufen... mit Logan.“
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„Ja, ich weiß, über die Details können wir später quatschen. Er hat sich am meisten in die Hose gemacht von uns allen. Außer Joshua vielleicht, er hält dich irgendwie für heilig. Klar, er kennt dich nicht so gut wie ich.“ „Logan war da?“ Original Cindy nickte. „Er hat mich aus meinem Bettchen geschrien und wir landeten in Terminal City, um nachzusehen, ob du da bist. Und weißt du was? Du warst nicht da.“ „Was hat er...?“ „Was er mir erzählt hat? Alles. Du hast Original Cindy einiges verschwiegen, Boo. Aber ich bin wie ein Priester, außer es geht um diesen religiösen Kram. Also, Logan tauchte auf und spulte die ganze Litanei herunter. Dann sind er und ich raus, um dein rücksichtsloses Selbst zu suchen.“ Max setzte sich auf die Bank. Sie war verlegen. „Tut mir Leid. Wirklich. Ich... wenn so ein Mist passiert, fall ich irgendwie zurück, du weißt schon...“ „Die egoistische Nummer?“ Max lachte. „Ja. Genau.“ Die schöne Lesbe lachte ebenfalls und setzte sich neben sie. O.C. nahm einen der Pappbecher mit Kaffee. „Danke, Schwester. Original Cindy lechzt nach Koffein, um diesen Mist durchstehen zu können. Du und ich, wir müssen reden.“ „Ich glaube nicht, dass ich...“ „Du willst dich verstecken? Früher oder später musst du der Geschichte ins Auge sehen. Besser jetzt, dann hast du’s hinter dir.“ „Ich weiß“, gab Max zu. „Tut mir Leid wegen gestern Nacht. Aber ich musste einfach verschwinden.“ Sie gähnte laut. „Logan hat dir... alles erzählt?“ „Du meinst, ob ich das von Seth weiß? Ja. Tut mir Leid, Süße, aber es ist schon zwei Jahre her.“
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„Klar, die Wunde ist alt, aber Logan hat sie wieder aufgerissen.“ Max schüttelte den Kopf. „Ich kann es einfach nicht glauben, dass er mich angelogen hat.“ Original Cindy schnaubte. „Er kann nichts dafür, dass er ein Sack ist. Wenn du einen hast, bist du manchmal auch einer.“ „Das siehst du genau richtig“, sagte Max und lachte wieder. Sie streckte ihr die Faust hin und O.C. schlug dagegen, allerdings nur sehr halbherzig. „He, du lässt deine Schwester hängen?“ Original Cindy schaute zu Boden, dann zurück zu Max. „Logan ist nicht immer solch ein verfluchter Sack, Max. Er ist nur ein Mensch und hat einen Fehler gemacht. Aber er ist ein guter Typ, du weißt schon, für einen Mann.“ Max ließ die Hand fallen. „Bist du etwa verknallt in ihn?“ „Wie oft warst du verliebt, Boo?“ Max schwieg. „Logan, er ist der Erste, stimmt’s?“ Trotzig platzte Max heraus: „Ich bin rumgekommen.“ „Ich meine nicht Sex, Süße. Wir reden von Liebe. Du liebst diesen Krüppel mit Brille, hab ich Recht?“ Max zuckte mit den Schultern. „Und er liebt dein jämmerliches Hinterteil.“ Wieder Schulterzucken. „Hör auf Original Cindy. Ich war öfter verliebt, als... als ich es hätte sein sollen. Du glaubst, nur weil dich jemand liebt, muss er perfekt sein? Denkst du etwa, ich wäre noch nie von jemandem angelogen worden, der mich liebt?“ „Das ist nicht nur eine kleine Lüge, Cindy.“ „Hör auf zu schmollen und komm wieder zurück auf die Erde.“ „Worüber sprichst du eigentlich?“ Original Cindy seufzte. „Ist Logan nun das Beste, was dir in dieser beschissenen, vereinsamten Welt über den Weg gelaufen ist oder nicht? Anwesende natürlich ausgeschlossen.“ 76
Max musste lachen. „Außer, dass ich dich getroffen habe, Boo... ja. Ich schätze, Logan ist der Beste. Zumindest war er das, irgendwie.“ „So! Du lässt also zu, dass ein kleiner Ausrutscher dein ganzes Leben zerstört?“ „Es ist nicht nur ein kleiner Ausrutscher“, sagte Max mit brüchiger Stimme. „Logan hat meinen Bruder in den Tod geschickt und mich angelogen.“ In diesem Augenblick erschien Normal am Ende des Ganges und sagte: „Leider muss ich eure ergreifende Versöhnung unterbrechen, aber ich habe eine dringende Lieferung, die...“ „Verschwinde“, schnappte Max und Original Cindy schrie gleichzeitig: „Nicht jetzt, du Blödmann. Siehst du nicht, dass wir beschäftigt sind?“ Normal riss die Augen auf. Doch anstatt zurückzuschlagen, strahlte er. „Genau wie früher.“ Dann drehte er sich um und stapfte davon. „Weißt du“, sagte Original Cindy mit einem Grinsen, und auf ihren Wangen erschienen kleine Grübchen. „Ich glaube, er gefiel mir besser, als er noch ein richtiger Bastard war. Dass er jetzt mal Bastard und mal ein ganz Netter ist... das macht mich völlig kirre.“ Max lachte, doch nur für einen Augenblick. „Cindy, es gibt Dinge in einer Beziehung, die kannst du nicht ungeschehen machen. Manches ist einfach... zu viel.“ „Hat er dich vielleicht betrogen oder so was?“ „Schlimmer. Viel schlimmer.“ „Entschuldige, aber ist das wirklich die Max, die den Leuten ihren Mist klaut und mit dem Zeug bei irgendwelchen Hehlern hausieren geht? Du erinnerst dich, oder? Die perfekte, fehlerlose Max?“ „Cindy, er hat mich angelogen. Wenn es kein Vertrauen gibt...“ „Er hat nicht gelogen.“ 77
„Verdammt, genau das hat er getan!“ „Es ist was anderes. Eine Unterlassungssünde, keine vorsätzliche.“ „Ich sehe keinen Unterschied.“ „Der Typ hat nicht gelogen. Er hat nur irgendwie die Wahrheit zurückgehalten.“ „Dafür gibt’s ein Wort, Cindy.“ „Bockmist?“ „Nein. Spitzfindigkeit.“ Ihr Mentor Moody hatte ihr das gesagt. „Es gibt Dinge, die man nicht vergeben kann.“ Original Cindy wich zurück, hob den Kopf und blickte hinunter auf Max, als ob sie versuchte, sie besser sehen zu können. „Du siehst aus wie Max, du hörst dich an wie Max, aber du kannst unmöglich Max sein.“ Max war nicht in der Stimmung, sich verarschen zu lassen, und drehte sich weg von der Freundin. „Wenn du nämlich die echte Max wärst, würdest du nicht so ein verdammter Idiot sein.“ „Danke vielmals.“ „Wie lange kennst du Logan schon?“ „Müssen etwa zwei Jahre sein.“ „Und wie oft wart ihr zusammen?“ „Sehr oft.“ „Und wer war immer für dich da, egal, wie beschissen die Dinge standen?“ „Du.“ O.C. grinste. „Das muss nicht extra gesagt werden. Aber wer noch?“ „Joshua.“ Original Cindy schlug ihr leicht auf die Schulter. „Danke, dass du mich zu einem verdammten Trottel machst.“ Max brachte ein halbes Grinsen zu Stande. „Logan war immer da. Für mich.“
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„Ja. Und das ist doch was in dieser verfluchten Welt nach dem Puls, oder? Hast du kapiert?“ „Hab ich.“ „Okay. Und, he, Boo, das ist eine Menge. Aber versteh mich nicht falsch, das sollte nicht alles sein, kapiert? Freundschaft ist cool, irgendwie, aber wir haben Bedürfnisse, du und ich, die wir uns gegenseitig nicht erfüllen können.“ Max gluckste. „Schätze, da hast du Recht.“ Original Cindy grinste nicht. „Ich... ich hatte Diamond. Aber sie ist nicht mehr da.“ Diamond Latrell war Original Cindys große Liebe gewesen, so hatte es jedenfalls für Max ausgesehen. Latrell war während ihrer Zeit im Gefängnis Teil eines biotechnischen Experiments gewesen. Max hatte Logan geholfen, Synthedyne – das dafür verantwortliche Unternehmen – zu Fall zu bringen. Diamond war kurze Zeit später gestorben. „Ich weiß, Cin“, sagte Max. „Tut mir Leid...“ „Wahre Liebe ist ein Scheißding, stimmt’s? Ich meine, sie in dieser Welt zu finden. Und du hast sie tatsächlich gefunden, Boo. Und nur, weil dein Liebster was verschwiegen hat, weil er Angst hatte, dich zu verletzen und nicht riskieren wollte, dich zu verlieren, nur weil er nicht perfekt ist, willst du ihn zerknüllen wie ein verfluchtes Bonbonpapier und wegschmeißen?“ „Cin, ich kann ihm nicht trauen.“ „Sicher, natürlich kannst du das nicht“, sagte O.C. und rollte mit den Augen. „Schließlich ist er ein Mann, stimmt’s?“ „Er ist ein Mann.“ „Wenn du sagst, dass du ihm nicht trauen kannst, ist das also genauso, als ob du sagst, Wasser ist nass. Deshalb steht die Scheidungsrate sechzig zu vierzig, hab ich Recht?“ „Ich schätze... ja.“ „Aber du kannst ihm wegen ein paar Sachen trauen.“ „Zum Beispiel?“ 79
Original Cindy nahm Max’ Hand und hielt sie fest. „Dass er dich liebt, bis er stirbt.“ „Du glaubst...?“ Sie nickte. „Dass er immer auf dich aufpasst und nicht zulässt, dass dir was passiert, wenn er es verhindern kann.“ „Warum hat er mir dann die ganze Zeit nichts von Seth gesagt, nur um es mir jetzt ins Gesicht zu schleudern?“ „Du glaubst, er hätte es dir nie erzählt?“ „In gewisser Weise, ja.“ „Dann ist es okay, dass du dich selbst belügst. Nur andere dürfen dich nicht belügen. Boo, der Typ hat versucht ehrlich zu sein. Er wusste, dass er was vermasselt hat, und hat versucht es zu reparieren. Er wollte es doch nicht schlimmer machen.“ „Hat er aber.“ „Oh Mann. Willst du bis zum Jüngsten Tag die Beleidigte spielen? Oder willst du einen Mann in deinem Leben, der deinen hübschen Arsch erst dann im Bett haben will, nachdem er dir was gestanden hat, das ihn innerlich halb zerfrisst? Dieser Typ hat tatsächlich ein verfluchtes Gewissen. Und du hast ihm einen Tritt in den Arsch verpasst, nicht weil er unehrlich war, sondern ehrlich!“ Max war ziemlich erstaunt über das, was Cindy von sich gegeben hatte. Sie setzte sich und dachte über die Worte der Freundin nach. Schließlich war sie in der Lage, die Dinge von außen zu betrachten. Es wäre für Logan leicht gewesen, die Lüge nicht zu gestehen. Er hätte einfach nur den Mund halten müssen. Sie wäre nie auf die Geschichte mit Seth gekommen, wenn er nichts gesagt hätte. „Hast du niemals genug davon?“, fragte Max Original Cindy. „Genug wovon?“ „Recht zu haben.“
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O.C. grinste und nahm einen großen Schluck von ihrem Kaffee. „Oh, es ist eine große Last, Baby. Also, was willst du machen?“ Die Frage war schwer zu beantworten. Original Cindy verzog das Gesicht. „Der Kaffee ist kalt. Wir sollten einen frischen holen und diesen Mist ausdiskutieren.“ Max schüttelte den Kopf. „Warum nicht?“ „Ich habe alles gehört, was du darüber zu sagen hast.“ Original Cindy sah sie besorgt an. „Das wird Original Cindy nicht davon abhalten, dich zu jagen. Am besten gibst du gleich auf.“ „Weißt du was? Ich sollte zu Logan gehen und mit ihm reden.“ Original Cindys Gesicht strahlte. „Endlich hast du’s kapiert.“ „Schätze, dass ich ihm zumindest das schuldig bin... zu versuchen, die Dinge zurechtzurücken.“ „He, vielleicht steckt diese beschissene egozentrische Bazille ja auch nicht mehr in dir drin? Vielleicht hat der alte Kelpy sie ja übernommen?“ Max lachte und schlug ihrer Freundin leicht auf den Arm. Original Cindys Lachen verwandelte sich in ein Stirnrunzeln. „Entschuldigung“, sagte Max. „Ich wollte dich nicht so hart schlagen...“ „Das ist es nicht, Boo. Es ist nur... wenn du wirklich zu Logan gehst und wir keinen neuen Kaffee holen... das ist tragisch.“ „Wieso das?“ „Es bedeutet... Original Cindy muss arbeiten.“ Beide lachten, dann umarmten sie sich. Max spürte, dass eine Träne an ihrer Wange hinunterlief... Hastig wischte sie sie weg. Aber Original Cindy hatte es bemerkt und sagte mit sanfter Stimme, die man einer harten Frau wie ihr gar nicht zugetraut 81
hätte: „Mach dir nichts draus, Boo. Ich werde schon damit fertig. Ihr seid beide zu nett, um unglücklich zu sein.“ „Ach, du“, sagte Max, nickte und versuchte zu lachen. Zu gern hätte sie die Zuversicht der Freundin geteilt. Aber in Wahrheit hatte sie wenig Hoffnung. Da war es wieder, dieses verfluchte Wort: Hoffnung. Vielleicht war es diese Erkenntnis, die sie zunächst zum Medienzentrum nach Terminal City führte, bevor sie sich zu Logan aufmachte. Sie redete sich selbst ein, dass sie es aus einem Gefühl der Verantwortung heraus tat, aber trotzdem wusste sie, dass sie den Dingen nur ausweichen wollte. Trotzdem, noch nie war sie – seit der Belagerung von Terminal City – so lange ohne Kontakt zu den anderen gewesen. Sie war ihre Anführerin und es beunruhigte sie, dass sie ihre Verantwortung einfach vergessen hatte und dass sie verschwunden war, ohne an ihre Freunde zu denken, die – wie Original Cindy – wahrscheinlich besorgt gewesen waren. Allerdings hatte sie die letzte Nacht genossen, so seltsam das auch klingen mochte. Es hatte ihr gefallen, allein zu sein, einsam, selbst als sie so etwas wie Selbstmitleid gespürt hatte. Der Ruf des Außenseiters hatte in ihr gekämpft, um sich Gehör zu verschaffen. Sie fragte sich, ob ihr Leben immer von diesen unterschiedlichen Bedürfnissen bestimmt sein würde. Sie dachte an die Zeiten, als sie Teil einer Gruppe gewesen war, so wie in Manticore oder in der Straßengang in L.A, dem Chinese Clan. Doch es gab auch die anderen Zeiten, in denen sie einsam gewesen war und um ihr Überleben gekämpft hatte, allein mit ihren Fähigkeiten und ihrer Intelligenz. Als sie in Seattle angekommen war, hatte sie die Anonymität gesucht. Nachdem sie Seth verloren hatte, wollte sie nichts anderes als in der Menge unterzutauchen. Eine Einzelgängerin, ständig auf der Hut vor ihren Verfolgern aus Manticore. Aber im Laufe der letzten zwei Jahre hatte sie eine andere Familie gefunden. Cindy, Joshua, Sketchy, Alec und die anderen 82
Transgenos. Selbst Normal gehörte dazu. Und, ja, vor allem Logan. War diese Familie ein Vorteil für sie oder würden die anderen sie ersticken? Sie ging durch das große Tor zu der Stahltür, die zum Medienzentrum führte. Die Tür schien genauso schwer zu sein wie die Last, die sie auf ihren Schultern trug. Das Medienzentrum bestand aus zwei Bereichen, einem unteren und einem oberen. Überall stand elektronische Ausrüstung herum, die Max aus Videos oder Filmen aus der Zeit vor dem Puls kannte. Hinten im unteren Teil stand ein großer Tisch, an dem die Gruppe ihre Besprechungen abhielt; im Augenblick lag darauf eine große Karte von Terminal City und dem benachbarten Gelände. Vorne standen ein Dutzend Monitore in Form einer Pyramide übereinander. Vier Transgenos überwachten an den Bildschirmen alle eingehenden Lokalnachrichten. Auf einer erhöhten Plattform standen dreizehn weitere Monitore, aufgestapelt zu einer Pyramide, die das Sicherheitssystem in und um Terminal City zeigten. Dix überwachte von hier oben das ganze Unternehmen. Gegenüber entdeckte sie Mole, Alec und Joshua an dem großen Tisch. Sie beugten sich über die Karte und waren mitten in einer Besprechung. Mole entdeckte sie als Erster. „He, Chefin, wo zum Teufel hast du gesteckt?“ Sie warf ihm ein hämisches Grinsen zu. „Schön dich zu sehen.“ „He“, sagte Mole und grinste. „Ganz meinerseits.“ „Wie ist die Lage?“, fragte Max. „Alles bestens“, sagte er. „Irgendwie haben wir diese Nacht ohne dich überlebt.“ Joshua kam um den Tisch herum und presste Max an sich. „Hallo, Kleines.“
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Der kindische, aber irgendwie liebenswerte Spitzname gab Max ein Gefühl der Wärme. Im Übrigen rang sie nach Luft, denn Joshuas Zuneigung wurde nur noch von der Stärke seiner Umarmung übertroffen. Max quetschte die Worte heraus wie die letzten Reste aus einer Zahnpastatube: „Großer, warum zitterst du so?“ Joshua lockerte seinen Schraubstockgriff und betrachtete ihr Gesicht. „Joshua hat gezittert, bis jetzt. Jetzt, da ich Max sehe, ist alles okay.“ „Tut mir Leid, dass du dir Sorgen gemacht hast“, sagte sie und meinte es auch so. „Ich musste über ein paar Dinge nachdenken.“ Plötzlich stand Alec neben ihr. Wie immer schien die Kleidung des X5 sich irgendwo zwischen Sunnyboy und Fahrradkurier zu bewegen. Er trug eine graue Lederjacke über einem T-Shirt und dunkle Jeans. „Logan hat uns von Seth erzählt.“ Max war nicht in der Lage, den Ausdruck in dem hübschen Gesicht zu deuten und fragte: „Und was hältst du davon?“ „Dass Logan Seth rekrutiert hat?“ „Nicht nur das. Dass er ihn auch in den Tod geschickt hat.“ Alec grinste verhalten. „Jetzt mach mal halblang, Max. Seth hat selbst die Verantwortung dafür. Er war ein impulsiver Typ, stimmt’s? Und er war alt genug. Er kannte das Spiel, und er kannte den Einsatz.“ „Und was ist damit, dass Logan uns angelogen hat?“ Alec brummte irgendetwas, das auch ein Lachen sein konnte. „Oh ja, ich bin ziemlich aufgewühlt deswegen. Ich meine, ich habe noch nie jemanden angelogen, in meinem ganzen Leben nicht, stimmt’s? Und ich bin sicher, du warst immer ehrlich zu Logan, hundertprozentig, vom ersten Tag an.“ Bei seinen Worten zuckte sie leicht zusammen, aber sie konnte es verbergen.
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Natürlich hatte sie Logan angelogen, oft genug, seit sie sich kennen gelernt hatten. Besonders in der ersten Zeit, bevor sie Vertrauen zueinander gefasst hatten. Aber das war etwas anderes, und nur das zählte. Diese Geschichte mit Seth war viel schwer wiegender. Trotzdem brannte in ihr das schlechte Gewissen, weil sie mit zweierlei Maß an die Sache heranging. „Sieht aus, als ob es euch ziemlich gut gegangen ist letzte Nacht... ohne mich“, sagte Max. „Klar“, sagte Alec. „Und Terminal City steht noch in seiner ganzen Pracht.“ „Könnt ihr noch eine Weile ohne mich klarkommen?“ Alec zuckte mit den Schultern. „Ein Mädchen muss tun, was ein Mädchen tun muss.“ Jetzt meldete sich Mole. „Wir kommen schon klar, Max. Lass dir nur Zeit. Kühl dich ab.“ Alec grinste breit. „So, wie du dich immer abkühlst.“ Sie ging nicht darauf ein. „Okay“, sagte sie zu den anderen. „Ich werde eine Zeit lang bei Logan sein, falls ihr mich braucht.“ „Logan ist ein guter Mann“, sagte Joshua. „Mach dich nicht verrückt wegen ihm.“ „Sei wenigstens fair und achtete darauf, dass er dieses Exoskelett trägt“, sagte Alec. „Du weißt schon, nur für den Fall, dass du ihm einen Tritt in den Arsch verpasst.“ Sie schüttelte den Kopf, konnte ein Lächeln jedoch nicht zurückhalten. „Du bist fies, Alec. Wirklich fies.“ „Das halte ich für ein Gerücht“, sagte er. Sie rannte los und nahm den Tunnel der unter den zwei ehemaligen Medtronics-Gebäuden lag. Das eine lag innerhalb der Umzäunung von Terminal City, das andere außerhalb. Beide Häuser gehörten Logan. Er führte sie unter einer Briefkastenadresse mit dem Namen Sowley Opticals. Obwohl die Belagerung beendet war und sie die Straße hätte benutzen können, zog sie diesen Geheimgang vor. 85
Die Decke und die Wände des Tunnels waren aus Beton und – genauso wie der geflieste Boden – in einem blassen Krankenhausgrün gestrichen. An der Decke waren im Abstand von jeweils etwa einem Meter Leuchtstoffröhren angebracht. Max achtete darauf, leise zu gehen. Sie atmete flach, als sie sich dem hinteren Ende des Tunnels näherte. Sie mochte die Stille hier unten. Manchmal war es so still, dass sie ihr eigenes Blut in den Adern rauschen hören konnte. Sie stieg die Treppe hinauf. Ein schwaches Licht drang unten durch die Tür, die zu Logans Apartment führte. Die Tür stand ein kleines Stück offen. Normalerweise war sie geschlossen und abgesperrt, und Max fragte sich, ob Logan vielleicht Besuch hatte. Das wäre wirklich perfekt. Hier stand sie, um ihm zu vergeben. Und er saß auf der anderen Seite der Tür und weinte sich an der Schulter irgendeiner Frau aus. Asha, vielleicht. Als sie nach dem Türknauf griff, schüttelte sie die lästigen Gedanken ab. Sie waren nichts als die Paranoia einer Verliebten. Jetzt konnte sie Stimmen hören. Aber es war nicht Logans Stimme und auch nicht die von Asha. Diese Stimmen sprachen sogar eine andere Sprache. Doch das musste nichts zu bedeuten haben. Leise öffnete sie die Tür und trat schnell ein. Ein Mann mit einer Waffe stand vor ihr. Logans „Gast“ war ein untersetzter Latino mit einem mürrischen, aufgedunsenen Gesicht. Er trug Jeans und ein schwarzes T-Shirt. Einen Mantel hatte er nicht, trotz der bitteren Kälte draußen. Ein „F“ war auf seinem rechten Unterarm eintätowiert, die Ausläufer der Buchstaben waren geballte Fäuste. Locker hielt er eine Uzi in den Händen. An dem Tattoo konnte sie erkennen, dass der Besucher ein Mitglied der Furies war, einer Gang aus Sektor 8. Er war garantiert nicht vorbeigekommen, um gemeinsam mit Logan Weihnachtslieder zu singen. Die Furies hielten sich selbst für 86
die Größten und die Fiesesten, die alle anderen fiesen Typen ausrotten wollten, aber Max glaubte, dass diese Latinos nur deshalb den Sektor 8 beherrschten, weil sie den anderen zahlenmäßig überlegen waren. Sie hatten mehr als hundert Soldaten in ihren Reihen, die in kleinere Einheiten aufgeteilt waren. Bei diesen Einheiten gab es Spezialisten für Brandstiftung, Diebstahl und Folter, aber auch Heckenschützen und verschiedene andere. Jede der Einheiten war unabhängig und konnte entsprechend ihrer Fähigkeiten ihren eigenen Spaß haben. Wenn also dieses Arschloch mit der Uzi hier war, konnte der Rest der Einheit nicht weit sein. Logan hingegen war nirgendwo zu sehen. Sie stand also allein da, und das machte den kleinen Unterschied von zehn zu eins aus. Sie überlegte, ob sie zurückgehen sollte, um Joshua und die anderen zu holen. Eine andere Möglichkeit war, ihre grauen Zellen in Gang zu bringen und zu überlegen, wie sie diese Typen alleine aus dem Weg räumen konnte. Der Latino musste sie wohl bemerkt oder gehört haben. Jetzt tauchte sein Gesicht in der Tür auf. Finster blickte er sie an. Er grunzte und vielleicht hätte er aus diesem Grunzen sogar ein Wort bilden können. Aber er schaffte es nicht rechtzeitig, denn Max machte zwei schnelle Schritte und sprang genau in dem Augenblick, als er die Waffe hob. Ihr Fuß knallte gegen seine Kehle. Er taumelte rückwärts und sackte in sich zusammen. Die Uzi flog aus seiner Hand. Glücklicherweise löste sich kein Schuss, doch sie machte genug Lärm, als sie auf dem Boden aufschlug, um Logans andere „Gäste“ zu alarmieren. Von überall her tauchten jetzt Furies auf und verteilten sich über das Apartment. Max zählte im Geiste mit, als sie einen nach dem anderen wegputzte.
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Bald merkte sie, dass zwei komplette Einheiten in Logans Apartment versammelt waren. Zwanzig zu eins, das war selbst für Max mit ihren Fähigkeiten eine Menge. Sie sprang herum wie ein Derwisch, trat den einen, fegte die Füße eines anderen vom Boden, versetzte den Dritten in eine tiefe Ohnmacht. Der Rest spielte keine Rolle. Ihr einziges Ziel war, die Eindringlinge zu bekämpfen und Logan zu finden. Es war egal, dass er sie wegen Seth belogen und dass sie einen Streit gehabt hatten. Jetzt zählte nur noch, ihn zu finden. Ihn lebend zu finden. Max trat einen Fury in die Rippen, und er ging heulend zu Boden, als zwei andere sich ihr näherten. Sie fasste beide am Hinterkopf und schlug sie mit den Gesichtern zusammen. Sie sackten auf den Boden, die Gesichter blutverschmiert, was fast einer Verschönerung ihrer hässlichen Visagen gleichkam. In diesem Augenblick entdeckte sie Logan. Fünf Furies hingen an ihm wie bewaffnete Ameisen. Sie zogen ihn aus dem Schlafzimmer zur Eingangstür. Was zum Teufel geht hier ab?, dachte Max. Was hatte eine Straßengang davon, wenn sie Logan kidnappte? Sie sprang, trat nach links und rechts, traf mit den Füßen jeweils einen der Furies und schickte die beiden an einen ziemlich dunklen Ort. Als die beiden zu Boden sackten, landete sie geschickt auf den Füßen, dann drehte sie sich zu den fünf anderen Furies um, die Logan zur Tür zerrten. Logan entdeckte sie und rief ihren Namen. In seiner Stimme lagen all seine Gefühle, sowohl Angst als auch Bedauern. Und natürlich Liebe. Aber sie konnte nichts tun. Zu viele dieser Bastarde waren hier. Immer noch teilte sie Fußtritte aus, als die fünf Typen Logan hinaus in den hellen Sonnenschein stießen, der an diesem kalten Morgen nicht im Geringsten ein Trost war.
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Max wusste, dass sie schnell handeln musste. Sekunden konnten über Leben und Tod entscheiden. Sie schlug den, der ihr am nächsten war, zu Boden und riss ihm die Waffe aus der Hand, eine kleine Maschinenpistole. Sie hasste Waffen und hatte sich vor Jahren geschworen, nie eine zu benutzen. Doch jetzt musste sie Logan retten. Obwohl sie erfüllt war von Abscheu, schien dies der einzig mögliche Weg zu sein. Sie schob den Bolzen an der Waffe zurück, aber bevor sie losfeuern konnte, stürzte sich ein aufgedunsener Haufen über sie. Sechs Furies versuchten, ihr die Waffe zu entreißen. Sie waren nicht annähernd so stark wie Max. Aber sie waren eben verdammt viele. Schließlich ließ sie die Uzi fallen und ging zum Nahkampf über. Hier war sie unschlagbar. Außerdem wusste sie, dass die Furies loyal waren. Eine Familie, so verrottet sie auch immer sein mochten. Wenn sie nahe genug bei ihnen bliebe, würden sie es nicht wagen, mit ihren Waffen in einen Haufen zu schießen, der zum größten Teil aus ihren Kumpels bestand. Doch den Tazer hatte sie nicht gesehen. Die zwei Spitzen bohrten sich in ihren Rücken und sie wusste sofort, was passieren würde, schon bevor das schreckliche Zittern begann. Der Gedanke, Logan zu retten, wurde fortgespült von einem brennenden Schmerz, der jede Zelle ihres Körpers erfüllte. Sie führte einen makabren Marionettentanz auf und die zwei Kabel in ihrem Rücken, die unablässig Strom durch sie jagten, leiteten sie an. Sie versuchte, sich fallen zu lassen, aber sie konnte nicht. Die Elektrizität hielt sie aufrecht, bis alle Furies das Gebäude verlassen hatten. Derjenige, der den Tazer kontrolliert hatte, verschwand als Letzter. Sie zuckte noch ein letztes Mal, dann sank sie zu Boden, bewusstlos.
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Als Max aufwachte, spürte sie den schrecklichen Gestank von Ammoniak in ihrer Nase. „Was... was... Logan! Sie haben Logan!“ Eine Hand legte sich auf ihre Schulter und sie drehte sich, um loszuschlagen. Da entdeckte sie Moles Eidechsengesicht. „Es ist okay“, sagte er. „Ich bin’s.“ „Sie haben ihn! Sie haben Logan!“ „Sei ruhig, ruh dich aus“, sagte Mole. Als sie sich umschaute, entdeckte sie Alec, Joshua und eine Hand voll X3 in dem Apartment. Die Furies hatten die Verwundeten bereits weggeschafft. Sie spürte einen Hauch von Stolz, dass sie viele von ihnen umgenietet hatte. Die Entführung von Logan hatte die Dreckskerle also einiges gekostet. Mole half ihr auf einen Küchenstuhl. „Wieso seid ihr hier?“, fragte sie. Der ganze Körper schmerzte unerträglich und ihr Kopf hämmerte wie ein Schlagzeug. „Luke“, sagte er und bezog sich damit auf Dix’ besten Freund. „Er war gerade dabei, Nachschub zu holen, als er sah, dass eine Horde dieser Gang-Typen in einen Truck gesprungen ist und davonjagte. Er wusste sofort, dass irgendwas faul war und hat uns gerufen.“ „Die Furies“, sagte sie. „Sie haben Logan.“ Alec kam herein und hielt ein Stück eines schwarzen T-Shirts in der Hand. „Sieht aus wie ihre Uniform. Was zum Teufel wollen diese Idioten mit Logan?“ Sie sahen sich an und zuckten mit den Schultern. „Logan ist reich, stimmt’s?“, fragte Mole. „Vielleicht ist es eine Entführung. Hat irgendjemand eine Lösegeldforderung gesehen?“ Alle schüttelten den Kopf. „Sie sind organisiert“, sagte Alec, der neben Max auf dem Tisch saß. „Aber ich glaube nicht, dass sie so gut organisiert
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sind, um ein Ding dieser Größenordnung durchziehen zu können.“ „Trotzdem, wo ist ihr Hauptquartier?“, fragte Mole. „Wir sollten hin und Logan zurückholen.“ Max schüttelte den Kopf. „Ich glaube, selbst die Furies sind nicht so dämlich, ihn in ihrer Hütte festzuhalten. Wenn sie uns kommen sehen, könnten sie ihn töten und dann verschwinden.“ Mole runzelte die Stirn. „Okay, aber was zum Teufel schlägst du dann vor?“ „Weiß ich noch nicht“, sagte Max. Sie war immer noch benommen. „Aber ich“, sagte Alec. Max schaute zu ihm auf. „Überlass es mir“, sagte er. Jede Idee war besser als die, die sie hatte – nämlich gar keine. Aber die typische Selbstgefälligkeit in Alecs Stimme machte ihr klar, dass es unter Umständen nicht besonders klug war, ihm die Sache zu überlassen. Während der Belagerung hatten Alec und Joshua auch helfen wollen und sich beinahe selbst umgebracht, als sie von Ames White erwischt worden waren. Außerdem hatten sie auf eigene Faust gehandelt und damit beinahe jede Gelegenheit zerstört, die die Transgenos hatten, um Frieden mit den Normalen auszuhandeln. So viel zum Thema: Eine Sache Alec zu überlassen. Andererseits jedoch schien Alec sich in den letzten Monaten zu seinem Vorteil verändert zu haben. Der neue Alec war inzwischen ein wertvolles Mitglied der Gemeinschaft geworden, selbst für den innersten Kreis, der die Entscheidungen fällte. Von vielen wurde er sogar als geeignetster Kandidat für den Sitz im Stadtrat angesehen und wäre damit Terminal Citys offizielle Stimme im politischen Zirkel von Seattle gewesen.
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Das war der „neue“ Alec. Aber der Schimmer in seinen Augen deutete darauf hin, dass der alte Alec sich wieder zurückgemeldet hatte, und das war beinahe so beunruhigend wie alles, was die Furies anstellen konnten. „Wir werden dir die Sache nicht überlassen“, sagte sie. „Nein?“ „Aber ich bin bereit für deine Vorschläge.“ „Du wirst es nicht bereuen“, sagte Alec großspurig und schenkte ihr sein typisches Grinsen. Er sprang vom Tisch und zog einen Stuhl neben sie. Max hörte zu, was er sich zurechtgelegt hatte. Obwohl sie es selbst kaum glauben konnte, musste sie ihm zustimmen. So schlecht standen die Dinge bereits.
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5. Kapitel__________________________ EIN VERHÄNGNISVOLLER IRRTUM Seattle, Washington 21. Dezember 2021 Alecs Plan war nicht der schlechteste. Aber auch Max hatte ihre Vorstellungen. Sie schüttelte schließlich den Schock über Logans Entführung ab, genauso wie die Nachwirkungen des Tazers. Mit zwei Plänen im Kopf müssten sie es doch gemeinsam schaffen, Logan lebend zurückzuholen. Sie saßen in Logans Apartment am Küchentisch und diskutierten die jeweiligen Vorschläge. Alle waren sich darin einig, auch die anderen Einwohner von Terminal City wie Joshua, Dix und Mole, die sie unterstützen, dass die Entführung einen ökonomischen Hintergrund haben musste. Diese Schlussfolgerung lag auf der Hand. Seit Anbeginn der Zeit wurden Menschen entführt, um Geld damit herauszuschlagen, und in den Vereinigten Staaten, in der Zeit nach dem Puls, war es gang und gäbe. Denn es war schwer, an Geld heranzukommen und noch schwerer, es zu behalten. So wurden die wenigen Reichen, die weitestgehend vom Puls verschont geblieben waren, zur Zielscheibe von Gangstern wie den Furies. Falls sie richtig lagen, musste bald eine schriftliche Lösegeldforderung eintreffen, oder die Erpresser würden sich per Anruf oder E-Mail mit ihnen in Verbindung setzen. „Wenn sie schlau wären“, sagte Alec, „hätten sie dich geschnappt, Max.“ „Du glaubst, dass sie das geschafft hätten?“
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„Wieso? Hast du etwa mit denen argumentiert, als du den Tazer-Tanz aufgeführt hast?“ Da hatte er Recht, aber sie wollte es nicht zugeben. „Warum wäre ich eine bessere Wahl gewesen als Logan?“ „Logan ist derjenige, der Geld hat. Und ihr habt noch nicht mal ein gemeinsames Girokonto.“ Auch das stimmte. „Wir haben keine Möglichkeit, an Logans Geld ranzukommen“, sagte Max „Nicht bevor wir uns in verschiedene Bankkonten oder sonst wo einhacken können.“ „Und da bist du gefragt“, sagte Alec. Während Alec seinen Plan ausführen würde, wollte Max mit der Familie von Logan Kontakt aufnehmen, um finanzielle Unterstützung zu fordern. Sie konnte nur hoffen, dass die Cales noch in der Lage waren, die Kohle bereitzustellen, um die wahrscheinlich irrsinnig hohe Lösegeldforderung der Straßengang erfüllen zu können. Die finanziellen Schwierigkeiten der Cales hatten begonnen, als Logans Onkel Jonas im Auftrag seines Geschäftspartners Gilbert Neal niedergeschossen worden war. Der Deal, den Neal kurz nach Jonas’ Tod mit der Familie gemacht hatte, kostete die Cales Millionen. Glücklicherweise war Jonas jedoch nicht der Einzige in dem Clan, der Geld gehabt hatte. Es gab noch Logans Onkel Lyman. Ein Einsiedler mit einem Milliardenvermögen. Er wurde von den Medien oft mit Howard Hughes verglichen, jenem durchgeknallten Geldsack aus der Zeit vor dem Puls. Lyman hatte seinen Besitz auf einer Privatinsel, die im Puget Sound lag. Max wusste nicht viel über den exzentrischen Onkel. Nur, dass er sich vom Rest der Familie entfremdet hatte. Mit einer Ausnahme. Es wurde erzählt, dass er seinen Neffen Logan über alles liebte. Logan hatte nur selten über ihn gesprochen, doch Max hatte gespürt, dass die beiden Männer sehr gut miteinander auskamen.
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Die Medien hatten ebenfalls berichtet, dass das Anwesen von Lyman mit den höchsten Sicherheitsstandards ausgerüstet war. Natürlich stand Lyman nicht im Telefonbuch und Logans Computer war so verschlüsselt, dass noch nicht einmal der Cyberexperte Dix eine Möglichkeit fand, an die Daten heranzukommen. Max blieb also nichts anderes übrig, als ihre Muskeln spielen zu lassen und ihre Fähigkeiten als Einbrecherin endlich einmal wieder unter Beweis zu stellen, um zu Onkel Lyman vorzudringen. Dann würde sie sich in aller Freundschaft mit ihm über seinen Lieblingsneffen unterhalten. Die Vorstellung beunruhigte sie kein bisschen, denn Moody, damals in L.A., war ein guter Lehrer gewesen, und ihre Fähigkeiten als Einbrecherin wurden nur von wenigen übertroffen. Alec wollte sich währenddessen bei den Furies einschleusen. „Ich kenne diese Typen“, sagte er. „Hab sie ab und zu in der Stadt getroffen, als ich noch bei Jam Pony gearbeitet habe. Sie wollten mich immer anheuern.“ „Will das nicht jeder?“, sagte Max mit verhaltenem Lächeln. „Das ist eine Gabe“, antwortete Alec und lächelte zurück. Es schien, als ob Alec glaubte, dass alle nur auf ihn warteten. Er dachte tatsächlich, dass jede Frau auf ihn scharf war und alle Männer so wie er sein wollten. Die Welt, in der er lebte, war klein, aber er war glücklich damit. „Vielleicht bin ich ein bisschen spät damit dran“, sagte Alec. „Aber ich schätze, ich könnte diese Typen davon überzeugen, dass ich es mir endlich anders überlegt habe und meine einzige Zukunft darin liegt, ein Fury zu werden.“ Das war Alecs Plan. Und mit seinen überzogenen Fantasien glaubte er natürlich, dass es für ihn ein Kinderspiel sein würde. Kaum eine Stunde war seit der Entführung vergangen und sie waren schon bereit, ihren Plan auszuführen. Max war nicht besonders glücklich darüber, Alec vertrauen zu müssen. Gerade erst hatte sie herausgefunden, dass der Mensch, den sie 95
für standhaft und zuverlässig gehalten hatte und der für sie immer der einzige Mensch auf dieser Welt gewesen war, dem sie vertrauen konnte, sie angelogen hatte. Und nun war sie dabei, ihr Schicksal in die Hände eines notorischen Lügners zu legen. Während Alec sofort losziehen konnte, musste Max bis zum Einbruch der Nacht warten, um zu Onkel Lyman aufbrechen zu können. Im Schutz der Dunkelheit arbeitete sie am liebsten, so wie alle Einbrecher. Zumal sie viele Eigenschaften einer Katze besaß. Sie dachte an das Grundstück von Jared Sterling, der mit Computern Milliarden gemacht hatte. Max hatte mit ihm einen Zusammenstoß gehabt, als sie nach Seattle gekommen war. Sterlings Besitz war bestens gesichert gewesen und trotzdem hatte sie die Sicherheitsvorkehrungen geknackt. Klar, sie war auch geschnappt worden und hatte vier bewaffnete Männer in einen tiefen Schlaf schicken müssen. Doch danach war sie über den Zaun gesprungen, ohne einen Kratzer davongetragen zu haben. Ob Lyman Cales Anwesen eine härtere Nuss für sie sein würde? Wahrscheinlich. Deshalb beschloss Max, ein paar Nachforschungen darüber anzustellen, was sie in der Nacht auf Sunrise Island erwarten würde. Als sie und Alec sich vom Tisch erhoben, um ihre jeweiligen Pläne auszuführen, sah Alec sie mit einer Miene an, die etwas Ähnliches wie Sympathie ausdrückte. „Ich drück dir ganz fest die Daumen, Max. Du machst das schon.“ „Logan ist nicht in Gefahr, noch nicht. Er ist zu wertvoll für diese Typen.“ Alec sah sie mit einem ernsten Blick an, den man von ihm normalerweise nicht kannte. „Max, ich hasse es, dir das sagen zu müssen. Aber in manchen Fällen erledigen die Kidnapper 96
ihr Opfer schon vorher. Eine Menge Leute haben Lösegeld für einen Toten bezahlt.“ „Und warum sagst du das?“ „Du solltest es wissen.“ „Wenn er tot ist, kann ich nichts mehr tun. Aber wenn er lebt, werden wir ihn zurückholen.“ Alec nickte und grinste, aber er sah trotzdem ernst aus. „Schätze, ich weiß, was du tun wirst, wenn er tot ist. Aber denk dran, ich bin nicht wirklich ein Fury, okay?“ Er schenkte ihr ein überhebliches Grinsen. Max lächelte ein wenig und nickte. Wahrscheinlich gab es tatsächlich ein paar Frauen, die scharf auf ihn waren... Und die tödliche Killermaschine, die X5, die tausend Möglichkeiten kannte, ihre Feinde auszuschalten, machte sich auf den Weg zu Logans Computer, um mit der Suche zu beginnen. Alec fuhr mit seinem Motorrad in Richtung Kontrollpunkt von Sektor 8. Um nicht aufzufallen, trug er eine schwarze Jeans, einen Rollkragenpullover und eine Lederjacke. Er zückte seinen alten Ausweis von Jam Pony und hielt einen Umschlag hoch, in den er Zeitungssauschnitte gestopft hatte. Der wachhabende Sektorpolizist winkte ihn ohne Zögern durch. Er war viel zu beschäftigt damit, die lange Schlange der Fußgänger abzufertigen, als dass er einem Kurier Beachtung schenken würde. Eine nette Geste, zumindest aus Alecs Sicht. Da die Benzinpreise sehr hoch und die Straßen und Highways in einem extrem schlechten Zustand waren, nutzten viele Geschäfte den Service von Kurierdiensten wie dem Jam Pony Xpress. Die Boten waren also für die Wachhabenden ein gewohntes Ärgernis und konnten meistens ohne Schwierigkeiten passieren. Alec küsste seinen Jam-Pony-Ausweis, als er den Kontrollpunkt hinter sich gelassen hatte. Das war der einfache 97
Teil, sagte er zu sich selbst. Man musste eben nur ein bisschen Glück haben. Sektor 8? Ein Kinderspiel. Aber es war kein Grund, großspurig zu werden. Denn an die Informationen zu kommen, die er brauchte und diese Geschichte lebend zu überstehen, das war eine ganz andere Sache. Der heruntergekommene Sektor 8 lag unterhalb von Portage Bay und diente mehreren Straßengangs als Operationsbasis. Die Polizei von Seattle wagte sich selten weiter als bis zu den Kontrollpunkten. Denn in den schäbigen Randbezirken weiter nördlich gab es eine Menge Plätze, um jemanden verschwinden zu lassen, ohne dass allzu neugierige Augen etwas davon mitbekamen. Die Furies hatten ihre Operationsbasis zwischen dem Lakeview Cemetery – einem Friedhof – und dem Volunteer Park, aber sie hielten sich auch in den Wäldern um Broadmoor und den Interlaken Boulevard auf. Auf dem ehemals so beliebten Golfplatz waren die Häuser inzwischen wie Pilze aus dem Boden geschossen und beherbergten eine Menge potenzieller Opfer für die unbarmherzige Gewalt der Furies. Alec wusste, dass den Furies der Wasserturm im Volunteer Park als Überwachungsstation diente. Er entschied sich dafür, mit seiner Suche an diesem Ort zu beginnen. Er würde sich nicht heimlich heranschleichen, denn er war ein Mensch, der glasklar von sich und seinem Tun überzeugt war. Er fuhr durch die Wälder, stellte sein Motorrad in der Nähe des Turms ab und ging dann zu Fuß weiter. Der Turm aus verblasstem rotem Ziegelstein hatte vier Stockwerke. Wie ein riesiger fetter Kamin ragte er zwischen den Bäumen auf. Oben thronte ein kegelförmiges Dach, das aussah wie der Bambushut eines chinesischen Farmers. Auf Alec wirkte der Bau ein wenig mittelalterlich. Die historische Komponente wurde jedoch durchkreuzt von den schwarzen Graffiti der Furies.
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Hinter der Ziegelsteinfassade lag ein riesiger Metalltank, der früher einmal mit Wasser gefüllt war. Jetzt, so munkelte man, war er mit den Leichen derjenigen voll gestopft, die den Furies im Weg gestanden hatten. Alec vermutete allerdings, dass dies eine Legende war, denn der einzige Duft, den er roch, kam von den Pinien. Jedenfalls kannte er niemanden, der mutig genug gewesen war, dieses Märchen zu überprüfen. Der Eingang bestand aus einer breiten, zurückgesetzten Tür, die ebenfalls mit den Graffiti der Furies verziert war. Zwei der Gang-Typen bewachten die Tür. Da es heller Tag war, gab es für Alec nur einen Weg, hier hineinzugelangen. Er würde so tun, als ob ihm der Laden gehörte. Für den hübschen X5 nichts Unbekanntes, um sich Zutritt zu verschaffen. Er trat aus dem Wald und marschierte geradewegs zu den zwei Wachposten. Sie trugen schwarze T-Shirts und Jeans, so wie alle Furies. Für Wachen waren sie eigentlich recht klein. Vielleicht hatten sie deshalb gleich zwei von der Sorte hier abgestellt. Beide hatten die gleiche Größe, etwa 10 Zentimeter weniger als Alec, und waren dünn wie Stöcke. Sie schienen nicht besonders hell im Kopf zu sein. Mehr als vierzig Watt würden ihre Birnen bestimmt nicht hergeben. Alec lächelte, als er näher kam, nickte und winkte lässig. Die zwei Typen schauten sich an. Anscheinend hoffte jeder, dass der andere es schaffen würde, einen Gedanken zu produzieren. Doch ihre beschränkten Hirne schienen nur eine Lösung zu kennen: Gleichzeitig zogen sie ihre Waffen aus dem Hosenbund und richteten sie auf Alec. Der Typ zur Linken hatte einen Revolver, der wahrscheinlich zum letzten Mal vor dem Puls benutzt worden war, und der Rechte schwang eine kleine Automatik, die eher in die Handtasche einer Lady gehörte. Bemitleidenswert. Das Einzige, was die Furies Furcht erregend machte, war ihre zahlenmäßige Überlegenheit. Sie
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waren die größte Gang in Seattle, die hauptsächlich aus Latinos und Russen bestand. „Halt, halt, halt“, sagte Alec und hob die Hände ein kleines Stück, als wollte er sich ergeben. Doch sein Lächeln blieb. „Ich bin ein Freund, Kumpels. Kennt ihr Manny?“ Manny war einer der beiden Furies gewesen, die er vor etwa einem Jahr getroffen hatte. Sie hatten ihm ein paar Bier spendiert und versucht, ihn auf ihre Seite zu ziehen. „Manny ist nicht da“, sagte der Linke. „Manny ist nicht da“, wiederholte der Rechte. „Siehst du Manny etwa?“ „Da muss ich euch zustimmen“, sagte Alec. „Manny ist nicht da. Wo ist Manny?“ Der zur Linken seufzte tief. „Manny ist nicht da!“ Wenn er nicht bald jemanden finden würde, der mehr Grips hatte als ein Fußschemel, würde die ganze Sache viel schwieriger werden, als er gedacht hatte. „Wie sieht’s mit Stefan aus?“, meinte Alec. Das war der andere Fury, den er kannte. Die beiden Typen sahen sich wieder an, dann kehrte ihr dämlicher Blick zu Alec zurück. „Stefan ist nicht da“, sagte einer der beiden. Alec hatte endgültig genug. Noch eine Minute mit diesen Idioten und es würde keinen Zweifel daran geben, dass er seinem eigenen Verstand einen bleibenden Schaden zufügen würde. Er brauchte nur noch eine Frage, irgendeine Frage, die er ihnen stellen musste. „Seid ihr verwandt?“ Als die zwei Typen sich diesmal anschauten, zerrte Alec ihnen mit beiden Händen die Waffen aus den Fingern und drehte sie um, so dass sie jetzt auf die Wachen gerichtet waren. Mit riesigen Augen und offenen Mündern starrten sie ihn an. „An dieser Stelle wäre es angebracht, die Hände zu heben“, riet er dem Paar. Vier Hände schossen himmelwärts. 100
„Gut Kumpels. Brav gemacht.“ Der Linke wandte sich an den Rechten. „Das hast du vermasselt.“ „Ich hab das vermasselt?“ Alec war mit seiner Geduld am Ende. „Haltet die Klappe und dreht euch um.“ Sie folgten ihm, die Gesichter jetzt zum Turm gewandt. „Es ist dumm, was du da tust“, sagte der links neben Alec stehende Typ. „Okay“, sagte Alec freundlich. „Du musst es ja wissen.“ Er holte mit beiden Händen aus und knallte die Gewehrkolben gegen die zwei Hinterköpfe. Beide Wachen fielen mit einem leisen Seufzer zur Seite und landeten am Boden, wie ein Haufen Zündhölzer. Alec steckte die Waffen in seinen Hosenbund, dann zog er die Typen nacheinander ins Unterholz. Er fesselte sie mit ihren eigenen Gürteln und T-Shirts und kehrte zu der Tür zurück, die jetzt unbewacht war. Dahinter befand sich ein Treppenhaus aus Metall. Die einzige Lichtquelle waren die Sonnenstrahlen, die durch die Tür drangen. Zu seiner Linken lag der vernietete Körper des Metalltanks, der vielleicht einmal weiß gewesen sein mochte. Aber die Zeit und der Mangel an Pflege hatten ihn grau verfärbt, und auch hier hatten die Furies ihre Graffiti hinterlassen. Die Treppe lief um den Tank herum und führte hinauf in die Dunkelheit. Alec hatte keine Ahnung, wie viele Furies dort oben sein mochten. Wenn es viele waren, gab es immerhin eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass einer davon ein wenig cleverer war als die Hohlköpfe, die die Tür bewacht hatten. Er hatte eine kleine Taschenlampe dabei und überlegte, ob er sie benutzen sollte. Doch er wollte seine Position nicht preisgeben und ließ sie in der Tasche.
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Der X5 trat jetzt nicht mehr wie der Eigentümer dieses Ladens auf, denn nun, da er die beiden Wachen aus dem Weg geräumt hatte, war er offiziell ein Eindringling. So leise wie möglich stieg er die Stufen hinauf. Glücklicherweise hatten seine Schuhe Gummisohlen, die keinen Lärm machten. Er atmete entspannt und regelmäßig. Nach vier Minuten und mehr als hundert Stufen fiel endlich Licht in das Treppenhaus. Vermutlich stand die Tür zum Überwachungsdeck weit offen. Das würde ihn nicht überraschen, denn die Furies rannten wahrscheinlich ständig auf und ab. Sie hatten ja Wachen unten an der Tür, richtig? Als Alec das Ende des Treppenhauses erreicht hatte, drückte er sich gegen die Wand und blickte in den offenen Durchgang. Der Boden war aus Beton, die Steinwände, ebenfalls mit Graffiti verziert, etwa alle drei Meter von einem Rundbogen durchbrochen. Früher mochten vielleicht Fenster darin gewesen sein, doch jetzt standen sie offen für Wind und Wetter. Der Großteil des inneren Turms bildete das Überwachungsdeck, um das ein verhältnismäßig schmaler überdeckter Gang lief. Am dritten Fenster, von Alec aus gesehen, saßen drei Furies auf Sandsäcken. Einer drehte sich jetzt zum Fenster; er hielt ein Fernglas in der Hand. Glücklicherweise schaute er nicht in die Richtung, aus der Alec gekommen war. Die anderen beiden Gang-Typen spielten Karten und hackten aufeinander herum, ohne dabei bösartig zu werden. Der mit dem Fernglas schien nicht älter als Anfang zwanzig zu sein, ein Latino mit schwarzen Haaren. So wie alle Furies trug auch er Jeans und ein schwarzes T-Shirt. Der Spieler, der links saß, war ein großer schwerer Typ mit langen, strähnigen dunklen Haaren und einem mitteleuropäischen Gesicht. Er wischte sich den Pony aus den Augen und sagte: „Los, Hutt, hau endlich die verdammte Karte drauf.“
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„Pikass“, sagte Hutt triumphierend, als er die Karte auf den Stoß warf. Er war schmaler als der andere, aber seine Haare waren genauso dunkel und zerzaust. Auch er sah mitteleuropäisch aus. Die beiden hätten Brüder sein können. „Ha“, sagte der Fette und zog eine Karte. „Schätze, du hast ein Superblatt in der Hand, Kumpel“, sagte Alec. Als der Dicke die unbekannte Stimme hörte, sah er auf. Keiner der drei hatte gehört, dass der Fremde sich ihnen genähert hatte. „Was?“ Alecs Lässigkeit ließ die drei Knallköpfe erstarren. „Ich habe aber ein noch viel besseres Blatt in der Hand“, sagte der X5, schwang seine rechte Faust und traf den fetten Typen seitlich am Kopf. Seine Augen rollten, er schwankte, die Karten tropften ihm aus der Hand. Dann sackte er bewusstlos zur Seite. Hutt war schon aufgestanden, doch Alecs Tritt erwischte ihn eiskalt. Der Wachposten, der Alec nun gegenüberstand, schleuderte sein Fernglas in seine Richtung. Alec duckte sich, trat dann vor und schloss seine Hand um die Luftröhre des Typen. „He“, sagte Alec. „Ich bin ein Gast.“ Der Kerl war fast noch ein Kind, vielleicht um die zwanzig, mit leichtem Flaum im Gesicht, blutunterlaufenen Augen und einer Haut, die aussah wie nasses Zeitungspapier. Er brachte nicht mehr als ein Piepsen heraus, und als Alec den Druck erhöhte, ging das Piepsen in Schweigen über. Schnell überdachte er seinen Plan. Die eigentliche Idee war gewesen, aus dem Wachposten herauszuquetschen, wo Cale sich befand. Doch das war jetzt nicht mehr möglich. In diesem Augenblick entdeckte er etwas, das vom Flur aus nicht sichtbar gewesen war. Links, hinter der Kurve des Turms, befand sich ein zweiter Bunker aus Sandsäcken, sechs Fenster von ihm entfernt, mit drei weiteren Furies. Zwei rannten zu 103
Alec und seinem Gefangenen, der Dritte hämmerte wild auf ein Handy ein. Alec ließ den Wachposten, den er umklammert hatte, los und verpasste ihm eine Rechte. Der Typ flog in die Sandsäcke, für ein langes Nickerchen. Alec hatte jetzt keine Zeit mehr herauszufinden, wo Cale sich befand. Für ihn ging es nun ums nackte Überleben. Die Gang-Typen verteilten sich, so dass Alec trotz der Enge nicht beide gleichzeitig erwischen konnte. Anders als die Wachen unten schienen diese beiden unglücklicherweise nicht komplett schwachsinnig zu sein. Der Linke, ein untersetzter Latino, setzte zu einem rechten Haken an, dem Alec ausweichen konnte. Er beantwortete ihn ebenfalls mit einem rechten Haken, der den Typen genau im Solarplexus traf. Die Luft entwich aus dem Fury und er landete hart auf dem Betonboden. Der Zweite, ein stämmiger Russe, zog ein Messer, kam näher und wedelte mit der Klinge hin und her. Wahrscheinlich hatte dieser Typ seine Gegner damit in der Vergangenheit einschüchtern können. Alec entwaffnete ihn, indem er ihm das Messer aus der Hand schlug. Dann landete seine Faust unter dessen Kinn. Er sackte zu Boden, um ausgezählt zu werden, und das würde sicher ziemlich lange dauern. Der Typ mit dem Handy – er war mittelgroß, hatte kurze blonde Haare und helle blaue Augen – warf einen Blick auf die Trümmer seiner Freunde und machte sich in die andere Richtung aus dem Staub. Es musste also noch eine Treppe geben. Doch vorher hatte der Kerl noch genug Schaden angerichtet, indem er über Handy die Truppen alarmiert hatte. Metallen klingende Schritte knallten auf einer der Treppen, die sich für Alec anhörten wie die Salve eines Maschinengewehrs, und eine kleine Armee steuerte auf das Überwachungsdeck zu. Doch ein X5 war in erster Linie ein Soldat, und Alec wusste ganz genau, 104
wann die Zeit gekommen war, das Feld zu räumen. Er trat zu einem der Rundbogenfenster. Ein Sprung aus dem vierstöckigen Gebäude war zu riskant, selbst für einen Transgeno. Deshalb stellte er sich auf das Fensterbrett und griff nach dem Sims des Daches, das aussah wie ein chinesischer Hut. Er beschloss, auf das Dach zu klettern und zu warten, bis die Verstärkung verschwunden war. Schnell zog er sich hoch, presste sich gegen das Dach und lauschte der Show, die die Gang-Typen auf dem Deck abzogen. Die erste Stimme, die er hörte, kannte er. Es war Manny, derjenige der Furies, den er vor etwa einem Jahr getroffen hatte. „Verdammt noch mal“, sagte Manny. „Was ist denn hier los? Ob Hutt wieder mal durchgedreht ist?“ „Nach dem, was ich am Handy mitgekriegt habe“, sagte ein anderer aufgeregt, „muss es ein einzelner Typ gewesen sein, der alle fertig gemacht hat. Wer zum Teufel kann so kämpfen?“ Die nächste Stimme klang cooler, kontrollierter. Wahrscheinlich gehörte sie dem Verantwortlichen der Truppe. „Stefan. Du und Woodrow, ihr sichert das hintere Ende.“ „Okay, Badar“, sagte Stefan. Auch diese Stimme kannte Alec. Zu schade, dass Stefan und Manny nicht schon vorher da gewesen waren, dann hätte die ganze Sache nicht so übel ausgesehen. Auf der anderen Seite hatte Alec jedoch einen Volltreffer gelandet. Badar, so vermutete er, musste Badar Tremaine sein, der Anführer der Furies, ein ziemlich schlimmer Finger. Alec hatte mit ihm nie ein Wort gewechselt, aber er hatte ihn öfter gesehen. So wie die meisten in Seattle hatte er schon viel von ihm gehört. Tremaine war groß, schlank, hatte eng stehende dunkle Augen und schwarze Haare, die er immer zu einem 105
Pferdeschwanz zusammenband. Er war ständig unrasiert, und seine Haut glänzte wie eingeöltes Leder. Die gute Nachricht war, dass dieser Typ zweifellos die Entführung von Cale genehmigt oder selbst geleitet hatte. Alec schob sich zur Kante des Daches und lauschte weiter. Jetzt hörte er, wie vier Füße auf dem Überwachungsdeck zum anderen Ende marschierten. „Verfluchte Scheiße!“, sagte jetzt Tremaine. „Du und Dante überwacht die Treppe an dieser Seite. Sorgt dafür, dass das Deck abgesichert ist.“ Jetzt kehrten die beiden Männer zu der Tür zurück. Der Wind zerrte an Alec und fuhr mit lautem Aufheulen durch die nahen Bäume. Doch sein geschärftes Gehör ließ ihn nicht im Stich. Er war in einer günstigen Position hier oben, solange keiner der Furies ihn im hellen Tageslicht entdeckte. Denn das wäre äußerst ungünstig gewesen. „Manny, das ist genau der Rückschlag, den wir jetzt überhaupt nicht brauchen können.“ „Ich weiß, Badar.“ „Sieht aus, als ob einer von Cales transgenetischen Freunden hier hereingeschneit ist. Finde den Bastard, der das gemacht hat.“ „Soll ich ihn zu dir bringen?“ „Nein. Bring ihn um.“ „Alles klar, Badar.“ „Aber vermassle es nicht! Es darf uns nichts dazwischenkommen. Cale ist viel zu wertvoll für uns. Die Lösegeldforderung ist abgeschickt, aber man kann diesen Transgenos nicht trauen. Das hier war vielleicht ihre Idee, um es uns heimzuzahlen. Gott allein weiß, ob diese mutierten Verrückten jemals begreifen, was Geld bedeutet.“ Alec unterdrückte den Wunsch, sich über das Geländer zu schwingen und Badar Tremaine fertig zu machen.
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„Falls alles nach Plan läuft heute Abend, wirst du morgen früh als Erstes Cale wegbringen“, sagte Tremaine. „Troll?“, fragte Manny. „Ja.“ Troll? Wer zum Teufel ist der Troll?, überlegte Alec. Meint er damit vielleicht Logan? „Alles durchsucht, Badar.“ Das war wieder Stefan. „Kein Zeichen von dem, der das getan hat, aber wir haben einen der Wachposten gefunden. Er hat sich auf der hinteren Treppe versteckt.“ „Bring ihn her.“ Alec überdachte schnell seine Lage. Der blonde Wachposten, der über Handy die Truppe alarmiert hatte, war auf der hinteren Treppe gewesen. Badar und seine Furies hatten die andere Treppe genommen. Bald würden sie herausfinden, dass ihr Eindringling über keine der beiden Treppen geflüchtet sein konnte, sondern nur aus einem der Fenster. Er sah nach unten und musste erneut feststellen, dass es keine gute Idee war, aus dieser Höhe zu springen. Er hätte wieder zurück können und sich den Gang-Typen entgegenstellen. Doch wenn es ihnen dann gelungen wäre, ihn zu überwältigen oder zu töten, hätte Max niemals an die Informationen kommen können, die er mitbekommen hatte. Und selbst wenn er sich behauptet hätte, hätten die Furies einfach Logan umgebracht, denn eine weitere Konfrontation wollten sie bestimmt nicht riskieren. Der Wind lebte wieder auf und fuhr durch die sonnenbeschienenen Zweige. Alec hörte das Rauschen. Er fixierte den nächsten großen Baum. Und sprang. Lyman Cales Anwesen lag auf Sunrise Island, östlich von Vashon Island im Puget Sound. Am Three Tree Point, dem am nächsten gelegenen Verbindungspunkt, konnte man leicht ein 107
Boot zu Wasser lassen. Max brauchte weniger als eine halbe Stunde, doch danach wurde die Sache ein bisschen komplizierter. Sie entdeckte, dass es Elektrozäune gab, Hunde und bewaffnete Patrouillen. Das ganze Gelände steckte voller Sicherheitsvorkehrungen. Sie war nicht besonders scharf auf diesen Trip gewesen, aber Dix hatte keine andere Möglichkeit gesehen, den alten Knaben zu treffen. Lyman, der ältere Bruder von Jonas Cale, verfügte über einen unvorstellbaren Reichtum. Max hatte ein Video über Lyman und sein Anwesen aufgestöbert, das an den Kongress adressiert war. Der alte Mann war ein Einsiedler erster Güte und hatte seit dem Puls das Festland nicht mehr betreten. In dem Video hatte er sich dröhnend darüber ausgelassen, dass „es notwendig ist, ökonomische Möglichkeiten zu eröffnen angesichts der hohen Steuern“. Und er wirkte voller Kraft mit seinem silbernen Haar und dem bemerkenswerten weißen Bart. Er hatte eine kurze gerade Nase über einem breiten dünnlippigen Mund, und seine blitzenden blauen Augen erinnerten Max an Logan. Der alte Knabe sah keineswegs schlecht aus, und Max fragte sich, ob Logan wohl in diesem Alter genauso aussehen würde. Dass sie überhaupt daran dachte, war sicher ein positives Zeichen. Vielleicht war Logan Cale es tatsächlich wert, mit ihm alt zu werden, trotz allem. Vorausgesetzt, er lebte überhaupt noch. Als die Nacht hereingebrochen war, hatte man immer noch nichts von Alec gehört. Jetzt konnte sie nicht länger warten. Die Lösegeldforderung war am frühen Nachmittag in Terminal City eingetroffen. Ausgerechnet ein Kurier von Jam Pony hatte sie abgegeben. In diesem Augenblick hatte Max gewusst, wie ernst die Lage war. Die Nachricht war an sie adressiert und großspurig unterzeichnet mit „Die Furies“. Sie forderten 4 Millionen Dollar. Falls das Geld nicht am nächsten Tag am Longview Cemetery sein würde, wäre Logan ein toter Mann. 108
Max war darüber beunruhigt gewesen, dass die Nachricht an sie adressiert worden war. Sie wussten also von ihrer Freundschaft zu Logan, wussten, das sie stark genug mit ihm verbunden war und nicht zögern würde, das Geld zu beschaffen; entweder von der Cale-Familie oder von Logan selbst, falls er ihr bei seinen Geldangelegenheiten vertraute. Vier Millionen oder vierzig Millionen, wo war da noch der Unterschied? Ohne Lyman Cale hatte sie keine Chance, Logan zu retten. Sein Cousin Bennett, der jetzt Jonas’ Millionen verwaltete, hätte Logan lieber heute als morgen tot gesehen. Wenigstens Jonas hatte früher, als er noch lebte, nichts dagegen gehabt, Logan um sich zu wissen, und war es auch nur, um ihn zu schikanieren. Doch Bennett war Logan so egal, dass er noch nicht einmal ein Gefühl wie Hass für ihn aufbrachte. Er wusste nur, dass ein Cousin weniger ihm mehr Anteile bringen würde, sollte das Vermögen von Jonas Cale aufgeteilt werden. Die Nacht war klar, aber kalt. Max hievte das „geliehene“ Boot ins Wasser. Sie war überrascht, wie schnell sie wieder in ihre alte Rolle als Einbrecherin geschlüpft war. Um das winzige bisschen Schuldgefühl in sich zum Schweigen zu bringen, sagte sie sich, dass sie es für Logan tun musste. In Wahrheit jedoch fühlte sie sich großartig in ihrer Rolle, in der Moody sie geschult hatte und die es ihr erlaubte, endlich einmal wieder die Regeln zu brechen. Das geliehene Boot hatte einen Außenbordmotor, war aber ansonsten nach dem Motto konstruiert „Je größer, desto schneller“. In Manticore hatte sie auch gelernt, mit jedem fahrbaren Untersatz umzugehen. Es war also kein Problem für sie, in dem Boot eines anderen über den Puget Sound zu jagen. Das Wasser lag wie ein gläserner Teppich vor ihr, ruhig und weich. Max’ neues Spielzeug jagte mit mehr als fünfzig Stundenkilometern dahin. Das mochte vielleicht zu schnell sein, denn es war dunkel und sie konnte nicht sicher wissen, 109
welche Hindernisse im Weg liegen würden. Aber sie wollte so schnell wie möglich Kontakt mit dem älteren Cale aufnehmen, und der Gedanke an Logan trieb sie unbarmherzig voran. Deshalb drückte sie aufs Gas und röhrte durch die Nacht. Der Mond sah aus wie ein riesiger heller Ball, ein Loch im Himmel, das ihr Licht spendete und diesen Abschnitt ihrer Reise zu einem Kinderspiel machte. Wenn sie an Land ginge, würde der helle Mondschein jedoch eher ein Problem sein. Einen Kilometer vor dem Ziel stellte sie den Motor ab, warf den Anker und setzte dann den Rest des Weges in einem kleineren Schlauchboot fort. Schließlich zog sie es an den Strand. Sie war überrascht, dass nirgends Mauern um Lyman Cales Anwesen zu sein schienen. Dem alten Mann gehörte die ganze Insel, samt einer Villa und zwei Gästehäusern. Ansonsten gab es nichts auf dem kleinen privaten Eiland. Ein dichter Wald umsäumte das Gelände. Von ihrer Recherche im Internet wusste Max allerdings, dass die Villa in der Mitte lag. Schnell suchte sie den Wald vor ihr nach Lasern, elektronischen Kameras und Hunden ab. Aber sie konnte nichts entdecken. Nach ihrer Einschätzung musste sie etwa einen halben Kilometer von der Villa entfernt sein, als sie den ersten Hinweis auf ein Überwachungssystem zu Gesicht bekam. Eine Wache in Schwarz patrouillierte mit einem Dobermann um den äußeren Bezirk. Der Mann trug den Anzug des TAC-Teams, dazu einen Kopfschützer, der den größten Teil seines Gesichts bedeckte, eine Weste aus Kevlar und eine automatische Waffe, die locker über seiner rechten Schulter hing. Max’ geschärfte Nachtsicht gab ihr einen Vorteil gegenüber dem Mann und dem Hund, doch als das Tier die Nase in die Luft streckte und kurz darauf sein Kopf in ihre Richtung schnellte, wusste sie, dass es Ärger geben würde. „Was ist los, Junge?“, fragte der Wachmann. Er wollte gerade in das Mikro sprechen, das an der linken Schulter seiner Uniform befestigt war, als Max auf sie 110
zusprang und die beiden überlistete. Sie landete direkt hinter dem Mann und tippte ihm auf die Schulter. Er drehte sich um, und sie lächelte ihn freundlich an. Der Mann war so erstaunt, plötzlich einer jungen attraktiven Frau gegenüberzustehen, dass er erstarrte und nur ein „Was? Wie?“ herausbrachte. Mehr konnte er auch nicht sagen, denn Max trat ihm in die Rippen. Ein ersticktes Keuchen drang aus seinem Mund, und er krümmte sich. Um ihn an weiteren Schmerzenslauten zu hindern, verpasste Max ihm einen Aufwärtshaken, der ihn vom Boden hob und als bewusstloses Häufchen schließlich neben den überraschten Hund beförderte, der bei dieser Aktion ein kleines Stück zurückgewichen war. Jetzt fletschte der Dobermann die Zähne und wollte zum Sprung ansetzen. Schnell zog Max einen Hamburger aus der Tasche, der etwa die Größe eines Baseballs hatte, und warf ihn dem Hund entgegen. Der fing ihn mitten im Sprung auf und schluckte das Ding mit einem Satz hinunter. Er kaute, leckte sich die Lefzen und machte dann einen bedrohlichen Schritt vorwärts. Max warf ihm noch einen Hamburger zu, bevor er zum geschäftlichen Teil übergehen konnte. Der Dobermann machte erneut ein paar bedrohliche Schritte auf sie zu. Doch plötzlich schwankte er, seine Augen wurden glasig, und er fiel auf den Bauch, als ob ihn der Drang nach einem Nickerchen überfallen hätte. Und das war tatsächlich so. Als Max zu dem hingestreckten Wachmann ging, fing der Dobermann bereits an zu schnarchen. Die Pille, die in dem Hamburger gesteckt hatte, war ein Gebräu von Luke gewesen. Er hatte versprochen, dass das Zeug völlig harmlos sei und dem Tier nichts weiter als glückliche Hundeträume für den Rest der Nacht bescheren würde. Das war okay, denn Max zog es vor, Tieren nichts anzutun; nur ein paar Menschen mussten gelegentlich dran glauben. 111
Sicher, ein Hamburger, so wie jedes Fleisch, war ein teures Vergnügen auf dem Schwarzmarkt, da die Wirtschaft auf den Stand eines Dritte-Welt-Landes abgesunken war. Doch Max wusste, als sie einen Blick auf den schlummernden Dobermann warf, dass das Geld durchaus gut angelegt war. Sie nahm dem Wachmann das Funksprechgerät ab und befestigte das Mikro an ihrer eigenen Schulter. Es konnte ja nicht schaden, zu wissen, was im Umkreis hier vor sich ging. Während sie sich weiter vorkämpfte, wiederholte sie die gleiche Prozedur mit drei weiteren Sicherheitsteams. Ihre Fußtritte schickten die Wachen zu Boden, Lukes spezielle Fleischbällchen die Hunde. Sie hatte gerade das vierte Team zur Strecke gebracht, wohl die letzte Mann-mit-Hund-Crew draußen, als der Funk krächzend zum Leben erwachte. „Posten eins – Bericht!“ Max schwieg. Selbst wenn sie gewusst hätte, was sie sagen musste, so hätte die ungewohnt weibliche Stimme sofort die rote Fahne bedeutet. Sie wusste nur zu gut, dass Posten eins nicht so schnell antworten würde. Jetzt erreichte sie das große Gebäude. Das dreistöckige Haus glich einer Plantagenvilla aus dem Bürgerkrieg. Obwohl sie in ihrem Leben noch nie östlich des Mississippi gewesen war, hatte Max doch bei ihrer Ausbildung in Manticore von diesem Krieg gehört, bei dem es um die Abschaffung der Sklaverei gegangen war. Deshalb erkannte sie das Haus eines Kriegsgegners sofort, wenn sie eines sah. „Posten eins, Bericht! Johnson, bist du da?“ Nur die Stille antwortete dem Wachhabenden. „Posten zwei, checke Posten eins... Posten zwei?“ Noch mehr knisternde Stille. Sie hörte am anderen Ende jemanden murmeln. „Was zum Teufel?“ Dann ertönte Feueralarm, und vom Dach jedes Gebäudes strahlten Scheinwerfer über das Gelände.
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Max versteckte sich hinter einer Hecke neben der Eingangstür. Die Lichter tauchten den Rasen, der sich vor dem Haus erstreckte, in helles Tageslicht. Sie schielte aus den Büschen hervor und entdeckte ein halbes Dutzend Sicherheitsleute, die durch die Tür nach draußen traten. Die ersten vier sahen wie durchschnittliche angeheuerte Schläger aus, aber die letzten zwei waren breitschultrige paramilitärische Typen. Beide hatten kurz gestutzte Haare, der eine blonde, der andere braune. Sie trugen ebenfalls TAC-Anzüge. An den beiden Typen wirkten die Anzüge jedoch anders, als ob sie wussten, wofür all das schreckliche Spielzeug vorgesehen war. Der dröhnende Alarm stoppte, als sie Richtung Wasser gingen, jeweils zwei Mann in Kampfformation. Als der letzte der Männer in der Dunkelheit verschwunden war, kroch Max aus der Hecke hervor, schlüpfte durch die Tür, schloss sie und legte dann den Riegel vor. Das würde die Wachmänner zwar nicht lange draußen halten, aber sie brauchte auch nicht viel Zeit. Sie musste nur Lyman Cale finden und ihm die Situation erklären. Das Wenige, was Logan über seinen Onkel erzählt hatte, war nur positiv gewesen, und sie wusste, dass er ihr helfen würde. Das Erdgeschoss bot nicht das, was sie erwartet hatte. Keine Möbel im Eingangsbereich, auch nicht im Wohnzimmer oder im Arbeitszimmer auf der anderen Seite. Eine Staubschicht bedeckte den Boden, außer dort, wo die Fußabdrücke der Wachmänner zu erkennen waren. Es sah aus, als ob das Haus seit Jahren nicht mehr geputzt worden war. Schlimmer, in Wahrheit wirkte es, als ob hier seit Jahren überhaupt niemand mehr gewohnt hätte. Max ging die breite Treppe in den ersten Stock hinauf und lauschte. Zunächst war es still, doch schließlich hörte sie am äußersten Ende des langen Flures mechanische, elektrische Geräusche, die durch eine geschlossene Tür drangen.
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Das Haus war nur spärlich beleuchtet, als ob niemand da wäre. Aber auf wen oder was passten die Wachen dann auf? Langsam schlich sie zu der geschlossenen Tür am hinteren Ende. Vorsichtig schob sie die Tür auf, so leise sie konnte. Dann trat sie in ein Schlafzimmer. Das einzige Licht im Raum kam von einem laufenden Fernseher, der auf einem Tisch rechts von ihr stand. Der Ton war heruntergedreht, und das Licht veränderte sich entsprechend den gezeigten Bildern. Vor ihr stand ein Krankenhausbett. Es war umgeben von surrenden Maschinen. Sie versorgten die Gestalt im Bett mit Sauerstoff und intravenös verabreichter Flüssigkeit. Der Mann sah völlig ausgetrocknet aus und lag wie leblos auf dem Rücken. Er war nicht viel größer als Max, als sie aus Manticore geflohen war. Sie trat einen Schritt vor und konnte jetzt sehen, dass der alte Knabe, der vor ihr lag, weder Haare noch Zähne hatte. Seine Augen waren nur noch kleine schwarze Punkte. Obwohl sie geöffnet waren, schienen sie nichts zu sehen, aber seine kurze gerade Nase hinter der Sauerstoffmaske bewegte sich leicht, als ob er sie hätte riechen können. Als sie erkannte, wen sie vor sich hatte, wurde ihr mulmig im Magen und sie zitterte am ganzen Körper. Plötzlich ertönte eine eiskalte männliche Stimme: „Sie dürfen ruhig Hallo sagen zu Lyman Cale.“
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6. Kapitel__________________________ DIE BOTSCHAFT DES KILLERS Seattle, Washington 22. Dezember 2021 Max wirbelte herum und sah einen blonden Mann. Er war etwa einen Meter neunzig groß und neunzig Kilo schwer, trug einen schwarzen Blazer über einem weißen Hemd ohne Krawatte, und seine graue Hose hatte eine beängstigend scharfe Falte für diese späte Stunde. „Max... Guevara, habe ich Recht?“, fragte er. Seine tiefe Stimme klang gleichzeitig weich und rau. „Kennen wir uns?“, fragte sie, stemmte die Hände in die Hüften und hob das Kinn. Doch ihre selbstbewusste Haltung entsprach nicht wirklich ihrer momentanen geistigen Verfassung. Selbst in dem dämmrigen Licht des Fernsehers leuchteten die Augen des etwa Dreißigjährigen wie stechende blaue Blitze. Es waren eiskalte Augen. Nur die Boxernase, die auch einem Schwein gut gestanden hätte, passte nicht zu seinem sonst jungenhaften Aussehen. Die dünnen Lippen zogen sich nun seitlich ein kleines Stück nach oben und deuteten ein Lächeln an, zumindest technisch gesehen. „Wir sind uns noch nicht begegnet“, gab er zu. „Aber ich erkenne Sie wieder.“ „Aus dem Fernsehen“, stellte sie fest. „Ja, und es war mir wichtig zu wissen, wer ein Freund der Cale-Familie ist und wer nicht.“ „Dann wissen Sie, dass ich ein Freund bin.“ „Eine Freundin von Logan Cale.“ „Ja.“ 115
Argwöhnisch musterte er sie und sein Lächeln wurde zu einer fast hässlichen Fratze. „Logan hatte schon immer ein Auge für Frauen.“ „Ich fühle mich geschmeichelt“, sagte sie trocken. „Sie wissen, wer ich bin. Seien Sie ein guter Gastgeber und verraten Sie mir, wer zum Teufel Sie sind.“ Drohend hob er einen Finger. „Und seien Sie ein guter Gast. Ich bin ein alter Freund der Familie. Franklin Bostock. Logan und ich waren als Kinder zusammen auf der Privatschule. Fragen Sie ihn nach mir, irgendwann. Ich bin gespannt, ob er sich gerne an mich erinnert.“ „Das werde ich. Aber warum ist ein Freund der Familie so spät noch in Lyman Cales Schlafzimmer?“ „Die Frage sollte doch eher lauten, warum eine Freundin von Logan Cale so spät noch in Lyman Cales Schlafzimmer ist. Ich bin hier als Mr Cales Privatsekretär.“ Max deutete auf das Aufgebot von Maschinen. Eine beatmete den Patienten, ein Monitor zeigte die Herzfrequenz, eine Maschine regulierte den Blutdruck. Und auf einem anderen Monitor war die Hirntätigkeit dargestellt, die nur einen winzig kleinen Ausschlag zeigte. „Was ist los mit Mr Cale?“ Bostock schnalzte mit der Zunge und schüttelte den Kopf. „Ich fürchte, Mr Cale hat eine ganze Reihe von Schwächeanfällen gehabt.“ Sie runzelte die Stirn. Wie konnte Mr Cale in so kurzer Zeit in so schlechtem Zustand sein. „Vor kurzem?“ „Ja. Den größten Teil der letzten anderthalb Jahre vegetiert er schon so dahin.“ Sie kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. „Das ist unmöglich. Ich habe gerade noch ein Video von ihm gesehen. Es ist kaum zwei Monate alt.“ Der Privatsekretär lächelte wieder und ein Hauch von Selbstzufriedenheit überzog sein Gesicht. „Die Videotechnologie hat sich sehr verbessert, stimmt’s? Dank der 116
hoch entwickelten Programme wie CGI kann man einen Menschen unsterblich machen.“ Max trat dicht neben das Bett und schaute auf die schmale, bemitleidenswerte Gestalt hinunter, die kaum noch etwas Menschliches an sich hatte. Schnell überschlug sie ihre Lage, dann ging sie zu Bostock und blieb unmittelbar vor ihm stehen. „Mr Bostock, ich bin hier, um Logans Onkel um Hilfe zu bitten. Aber es sieht ganz so aus, als ob ich Ihre Hilfe bräuchte.“ Er verbeugte sich leicht. „Da wir beide Freunde der Familie sind, versichere ich Ihnen, dass ich alles tun werde, um Ihnen beizustehen. Sollen wir in mein Büro gehen?“ Sie folgte Bostock aus dem Schlafzimmer und überließ den zerbrechlichen alten komatösen Mann sich selbst, ohne dass dieser auch nur das Geringste davon mitbekam. Dann gingen sie die Treppe hinunter und betraten Lyman Cales ehemaliges Arbeitszimmer, das sein Privatsekretär jetzt in ein HightechBüro mitsamt massivem Mahagonitisch umgewandelt hatte. Er bedeutete Max, auf einer dunklen, tiefen Ledercouch Platz zu nehmen, und setzte sich selbst auf einen Stuhl, bereit ihr zuzuhören. In weniger als fünf Minuten hatte sie die ganze Geschichte vor ihm ausgebreitet. Als sie geendet hatte, schnalzte Bostock wieder mit der Zunge. „Ich verstehe.“ Er seufzte und schüttelte den Kopf. „Offensichtlich glauben Sie, dass Mr Cale für die Lösegeldforderung aufkommen kann.“ Sie nickte langsam. „Es wäre eine große Hilfe. Wahrscheinlich können wir damit Logans Leben retten. Ich verspreche, dass ich alles tun werde, um Ihnen das Geld zurückzugeben, wenn Mr Cales Neffe wieder frei ist.“ „Soweit ich Ihre Fähigkeiten kenne“, sagte er, „glaube ich, dass Sie das Geld zurückgeben können.“ „Also...?“ 117
„Ich wünschte nur, wir könnten es beschaffen.“ Sie deutete auf den großzügig eingerichteten Raum. „Und warum können Sie nicht, Mr Bostock?“ Er hob eine Augenbraue und zuckte mit den Schultern. „Es gibt einen einfachen Grund. Wir haben das Geld nicht. Besser gesagt, ich habe keinen Zugang zu dem Geld.“ Sie rutschte vor und stieß beinahe mit ihm zusammen. „Wo ist das Problem, Mr Bostock? Sie wissen sicher, dass Logan der Lieblingsneffe Ihres Arbeitgebers ist. Und das ist eine Familienangelegenheit. Ein Notfall, Leben oder Tod...“ „Ms Guevara, bitte. Ihre Empörung ist nicht angebracht. Denken Sie bitte daran, dass ich jedes Recht hätte, die Polizei zu rufen und Sie hier hinausschaffen zu lassen, weil Sie unerlaubt in dieses Haus eingedrungen sind.“ Max blieb kerzengerade sitzen. „Was geht hier eigentlich vor, Bostock? Was zum Henker haben Sie vor?“ „Nichts Schändliches, das versichere ich Ihnen. Es ist kein Geld zu holen.“ Sie deutete mit dem Finger zur Decke. „Er liegt vielleicht im Koma, aber Lyman Cale ist verdammt reich.“ „Und er ist verdammt krank, Ms Guevara. Sein Geld wird auf Grund eines Vormundschaftsbeschlusses von der Treuhandgesellschaft der First National Bank in Seattle verwaltet. Der verantwortliche Rechtsanwalt für das Vermögen würde niemals seine Zustimmung geben, das Geld für die Lösegeldforderung bereitzustellen. Und selbst wenn er es täte, glaube ich kaum, dass das Vermögen ausreichen würde, um die Forderung zu erfüllen.“ „Aber dieses Haus...“ „Die Villa würde einen fairen Preis erzielen, selbst auf dem heutigen Markt. Aber glauben Sie wirklich, dass die Treuhandgesellschaft ihre Erlaubnis geben würde, dieses Haus auf die Schnelle zu verkaufen oder wieder zu beleihen, um die Forderungen eines Kidnappers zu erfüllen?“ 118
„Und wo ist das ganze Geld?“ „Im Koma zu liegen ist ein kostspieliges Hobby, Ms Guevara. Medikamente, Krankenschwestern, die Maschinen, die Ärzte. Nun, ich glaube, Sie haben begriffen.“ „Sterben kostet also genauso viel wie leben.“ Sein Lächeln verblasste. „In Mr Cales Fall viel mehr.“ Dieser Typ war aalglatt und er war überzeugend; aber was steckte hinter seiner Fassade? Bostock war nichts als ein verdammter Bürokrat, und sie erkannte, dass er nicht gewillt war, ihr zu helfen. Ihr Radar schlug Alarm. Irgendetwas war hier faul, und Bostock selbst konnte sehr wohl dahinterstecken. Aber sie hatte keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, nicht jetzt, da Logans Leben auf dem Spiel stand und die Uhr unbarmherzig tickte. Und es gab keine Chance, mit Lyman Cale zu sprechen. Der Onkel hätte seinem geliebten Neffen sofort geholfen, wären nicht so viele Schläuche an ihm gehangen. Es klopfte und Bostock rief: „Herein!“ Zwei Schläger traten ein. Als sie die schwarz gekleidete Max sahen, zuckten sie verdächtig, doch Bostocks erhobene Hand ließ sie erstarren. „Sie ist mein Gast“, erklärte er. Die beiden Typen waren der blonde und der braunhaarige Wachmann in TAC-Anzügen – die zwei, die wie Profis aussahen. Sie hätten auch Zwillinge sein können, denn sie sahen aus, als ob sie aus der gleichen Testreihe stammten wie Max und ihre Geschwister. Beide hatten eine wulstige Stirn wie die Cromagnonrasse aus der Altsteinzeit; die tief liegenden Augen waren blau und die Münder so schmal, als hätten sie überhaupt keine Lippen. Ihre Schädel schienen direkt auf ihren Schultern zu kleben. Unverwandt sahen sie Max an. „Wie auch immer“, sagte ihr Boss. „Ms Guevara wollte sowieso gerade gehen, denn ich sehe im Moment keinen Weg, ihr zu helfen.“
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Sie sagte nichts, sondern sah ihn nur mit bösem Blick an, denn sie wusste, dass hier etwas nicht stimmte, und genau das wollte sie dem Privatsekretär klar machen. Bostock reagierte darauf wieder mit einem Lächeln. Inzwischen hatte er vielleicht ein Dutzend verschiedener Variationen abgeliefert, eine verachtenswerter für Max als die andere. „Otto? Franz? Würden Sie Ms Guevara hinausbegleiten, bitte? Ich bin sicher, dass Sie Ihnen gerne zeigt, wo sie ihr Transportmittel abgestellt hat.“ Die zwei Schläger folgten ihr bis zu der Stelle, wo das Schlauchboot lag. Sie zog es zum Wasser, dann sah sie die beiden an. „Wie lange ist der alte Mann schon krank?“ Keine Reaktion, die Köpfe ohne Nacken bewegten sich nicht im Geringsten. „Was macht Bostock eigentlich genau?“ Keine Antwort. Die beiden sahen sie nur an wie ein Dobermann, der auf den nächsten Angriff wartete. Und sie hatte keine Hamburger mehr... „Ihr beiden habt nicht zufällig bei diesem kleinen Melodram die Finger im Spiel, oder?“ „Verschwinden Sie, verdammt“, sagte Otto abwehrend, oder war es Franz? „Sie haben uns bloßgestellt“, sagte Franz – oder war es Otto? „Ich hab mein Bestes getan“, sagte sie und schob das Boot ins Wasser. Sie stieg hinein und nahm das Ruder. Dann verschwand sie über den Puget Sound Richtung Schnellboot, das einen Kilometer entfernt im Wasser schaukelte. Als sie in der Dunkelheit verschwand, schrie Otto (Franz?): „Beim nächsten Mal wirst du blöd dastehen!“ Max ruderte weiter und dachte, dass Franz (Otto) in diesem Punkt vielleicht sogar Recht hatte. Es war stockdunkel. Der Mond hatte sich hinter einer Wolke versteckt und die Sterne schienen sich ebenfalls aus dem Staub gemacht zu haben.
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Sie fühlte sich ziemlich mies, als sie nun daran dachte, dass sie Logan vielleicht nie wieder sehen würde. Noch vor vierundzwanzig Stunden hatte sie beschlossen, ihn für immer aus ihrem Leben zu streichen. Die letzten Worte, die sie ihm entgegengeschleudert hatte, waren von Wut, ja selbst Hass bestimmt gewesen. In jenem Augenblick hatte sie ihn tatsächlich gehasst, zumindest glaubte sie das. Von allen Menschen, die sie kannte, wusste Logan am besten, dass jeder sie seit ihrer Geburt angelogen hatte. Sie hatte angenommen, dass er anders war, besser als der Rest der Welt. Aber war das fair? War das überhaupt möglich? Musste Logan tatsächlich perfekt sein? Sie schüttelte den Kopf und ruderte wütend weiter. Nicht perfekt, dachte sie. Aber wenigstens ehrlich. Das Wasser lag still da, ganz im Gegensatz zu den Gefühlen, die sie aufwühlten. Die Wut, die sie gestern noch empfunden hatte, kämpfte jetzt mit dem alles verzehrenden Wunsch, Logan wieder zu sehen, ihn zu halten, ihm zu verzeihen, um ihm die Möglichkeit zu geben, von vorne anzufangen und alles besser zu machen. Sie schüttelte sich bei dem Gedanken an das Chaos, das in ihr tobte. Das Ruder glitt leise durch das Wasser und sie lauschte auf das Plätschern und versuchte, sich zu beruhigen. Sie war zum Soldaten ausgebildet worden. Und, verdammt noch mal, sie würde auch einer sein. Sie wollte kämpfen für den Mann, den sie liebte. Bei Gott, wer auch immer ihm etwas antun oder ihn sogar töten würde, konnte Gottes Hilfe vergessen. Denn sie würde den Killer in die Hölle schicken. Alec saß im Medienzentrum von Terminal City. Er sah ziemlich zerzaust aus, ein ungewohntes Bild bei ihm. Luke sprang um ihn herum wie eine Henne um ihr Küken. Die 121
Kerntruppe der Transgenos arbeitete an den Monitoren, nur Mole war kurz ins Badezimmer gegangen. Dix saß auf seinem Stuhl im oberen Teil und Luke versorgte gerade eine Wunde an Alecs Hand. „Jetzt übertreibst du aber“, sagte Luke, doch ein Hauch von Ehrfurcht schwang in seiner Stimme mit. „Nein, so war es tatsächlich“, sagte Alec. „Der Baum war ungefähr zwei Meter vom Dach entfernt und fünf Meter hoch.“ Ganz zu schweigen von der Höhe des Wasserturms, von dem er gesprungen war. Zumindest hatte er genug Zeit gehabt, Geschwindigkeit zu gewinnen, bevor der Baum ihm entgegenstürzte. „Ich dachte immer, Pinien hätten weiches Holz“, sagte Alec. „Aber ich bin Beweisstück A, dass diese Theorie nicht stimmt. Autsch!“ „Entschuldigung“, sagte Luke. Luke hatte bereits zwei angeknackste Rippen versorgt und eine selbst gemachte Salbe auf einem halben Dutzend Quetschungen verrieben, außerdem einen weiteren Schnitt in Alecs Arm vernäht. Das blaue Auge, so meinte er, müsse von selbst heilen. „Normalerweise legt man ein Stück rohes Fleisch drauf“, sagte Alec und deutete auf sein Veilchen. Dix, der immer noch oben auf seinem Stuhl thronte, brummte: „Klar, ich hol dir sofort eins.“ Trotz seines verstauchten Knöchels hatte Alec es noch rechtzeitig geschafft, zurück zu seinem Motorrad zu humpeln, bevor Badar Tremaine seine üble Schlägertruppe losschicken konnte, um ihn in den Wäldern zu suchen. „Als Nächstes werde ich den Knöchel verbinden“, sagte Luke. „Dann haben wir’s.“ Mole schlenderte herein und musterte Alec von oben bis unten. „Du siehst Scheiße aus“, verkündete er. „So wie du, Kumpel, aber bei mir verschwindet es wieder.“ 122
Mole grinste, kaute auf seiner Zigarre herum und schlug dann seine Faust gegen die von Alec. „Nur gut, dass der Sturz aus 150 Metern Höhe deine dämlichen Knochen nicht gebrochen hat.“ „Aber er hat so ziemlich alles andere gebrochen.“ Mole nahm sich einen Küchenstuhl. Die Sitzgelegenheiten in diesem Raum waren ein wildes Sammelsurium. Alec saß auf einem abgenutzten Sessel, aus dem stellenweise das Innenfutter heraushing, und Luke schaukelte auf einem alten Drehstuhl herum. „Und was machen wir, wenn Max ohne Geld zurückkommt?“, fragte Mole. Alec erzählte ihm, was er oben auf dem Turm gehört hatte. „Irgendwelche Vorschläge?“, fragte Mole. „Wir wissen, wo die Geldübergabe stattfinden soll. Warum gehen wir nicht einfach dahin?“, sagte Alec. Die Lösegeldforderung, die zu Logans Apartment geliefert worden war, besagte, dass die Übergabe bei Sonnenaufgang bei den Gaswerken, in der Nähe der alten Anlage, stattfinden sollte. „Und machen sie fertig, wenn wir den ersten Schimmer von ihnen sehen?“, fuhr Mole fort. Alec nickte. „Es gibt keinen besseren Zeitpunkt. Wir erledigen sie, bevor sie überhaupt angekommen sind. Du weißt verdammt gut, dass sie irgendeine krumme Geschichte planen.“ Das Eidechsengesicht runzelte sich. „Sollen wir?“ „Ich glaube, es könnte auch um Max gehen.“ „Max? Aber sie haben doch Logan gekidnappt.“ „Richtig, Mole, und sie haben die Lösegeldforderung zu Logans Apartment geschickt. Und an wen war sie gerichtet?“ Mole zuckte mit den Schultern. „Diese Schwachköpfe haben es nicht an irgendjemand Bestimmten gerichtet. Sie wussten, dass Logan stinkt vor Geld und glauben, dass seine reiche 123
Familie die Rechnung bezahlen wird, oder seine Leute, oder wer auch immer.“ „Die Forderung war an Max adressiert.“ „Vier Millionen Dollar Lösegeld. Adressiert an Max. Alec, schau dich doch mal um. Wer sollte eine Lösegeldforderung hierher schicken, außer es lägen gerade zufällig vier Millionen Dollar hier rum?“ „Genau meine Meinung. Um es noch klarer zu machen: Wer weiß von Logans Apartment?“ Mole zuckte mit den Schultern. „Keiner.“ „Irgendjemand muss davon wissen, sonst hätten diese Nullen, die sich Furies nennen, Logan nicht schnappen können.“ Moles Zigarre wanderte von einem Mundwinkel zum anderen. „Also, was hat das zu bedeuten?“ Alec zuckte mit den Schultern. „Ich bin scharfsinnig genug, die Fragen zu liefern. Und ich hatte gehofft, dass irgendjemand genauso clever ist, die richtigen Antworten zu finden. Sie haben Logan den Troll genannt. Was könnte das bedeuten?“ „Troll?“, sagte Mole. „Bist du sicher, dass sie ihn damit gemeint haben?“ „Na ja... nein. Verdammt noch mal, ich weiß überhaupt nicht, wen oder was sie damit gemeint haben.“ „Es könnte irgendein Platz sein.“ Alec verzog das Gesicht. „Ein Platz, der Troll heißt?“ „Der Fremont Troll?“, bot Mole an. Er meinte das berühmte Denkmal in Seattle, das 1990 von einer Künstlergruppe gestaltet worden war. Alec schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung. Kenne ich nicht.“ Mole sah ihn mit großen Augen an. „Du kennst den Fremont Troll nicht? Wie lange lebst du eigentlich schon in Seattle, Mann?“ „Fremont Troll“, wiederholte Alec wie ein Papagei. „Ja. Kennst du die Aurora Avenue Bridge?“ 124
„Bin schon ein paar Mal drübergefahren.“ „Bist du jemals schon drunter gewesen?“ Alec sah ihn herablassend an. „Vielleicht schleppst du deine Mädels dahin, aber ich hab doch ein bisschen mehr Klasse.“ „Sicher nicht, du Trottel“, sagte Mole, und das Ende der Zigarre fing wieder an zu wandern. „Ich meine diese riesige Skulptur unter der Brücke. Sieht aus wie ein großer bärtiger Typ, der auf dem Bauch liegt.“ „Was hast du eigentlich geraucht?“ „Er hat diesen alten Volkswagen in der einen Hand. Sieht aus wie ein Käfer, den er zerquetschen will.“ „Hast du was getrunken?“ „Der Kerl ist wahnsinnig groß, Mann. Ich kann es einfach nicht glauben, dass du ihn noch nie gesehen hast.“ „Ein bärtiger Typ mit einem Auto in der Hand? Glaubst du, ich kaufe dir das ab?“ Mole schlug sich gegen die Stirn und fluchte leise vor sich hin, während er auf seiner Zigarre herumkaute, als wollte er sie zu Brei machen. „Welchen Schwachsinn hat er denn diesmal vom Stapel gelassen?“, fragte Max, marschierte zu den anderen und sah auf Alec herab, der auf seinem Stuhl saß und immer noch von Luke bemuttert wurde. „Der Typ hat noch nie was vom Fremont Troll gehört“, sagte Mole und versuchte, den kümmerlichen Rest der Zigarre anzuzünden. Max betrachtete Alecs bemitleidenswert aussehendes Veilchen und sagte: „Keine Chance.“ „Ich glaube es erst, wenn ich das Ding gesehen habe“, sagte Alec. „Und jetzt nerv mich nicht länger.“ Max verschränkte die Arme und blickte den hübschen, völlig bandagierten X5 misstrauisch an. „Und gegen wen hast du diesmal verloren?“
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„Baum“, sagte er kurz angebunden. „Und wie war’s mit Logans Onkel?“ Sie berichtete den anderen von ihrem Besuch. „Irgendwelche Vorschläge?“ Alec klärte sie über seinen Ausflug auf, und er und Mole beschrieben ihr den Plan. Noch vor der festgesetzten Übergabe bei Sonnenaufgang wollten zwei Teams mit dem vermeintlichen Lösegeld losziehen. Die einen zu den Gaswerken und die anderen zur Trollstatue unter der Brücke. Max nickte. „Gute Idee.“ Die Furies waren eine mächtige Gang, die zahlenmäßig überlegen war, aber sie waren Normale, und das hieß, dass Max und ihre Transgenos im Vorteil waren. Das, was dem Team von Terminal City an Mitstreitern fehlte, machten sie durch ihre Gene und die Ausbildung wett. „Clemente will ich diesmal nicht einschalten“, sagte Max. Sie meinte Detective Ramon Clemente, den Polizisten aus Seattle, der mit ihr zusammengearbeitet hatte, um sowohl die Geiselkrise bei Jam Pony als auch die Belagerung von Terminal City ohne Blutbad zu beenden. „Verschwende keinen Gedanken daran“, sagte Alec. „Wir werden die Sache erledigt haben, bevor die Bullen überhaupt Wind davon kriegen.“ Mole nickte. „Die Furies werden noch nicht mal merken, wer sie fertig gemacht hat.“ „Also zwei Gruppen“, sagte Max. Mole nickte erneut. „Ich gehe mit Alec, du mit Joshua.“ „Okay“, sagte sie. „In einer Stunde sind wir bereit.“ „Besser anderthalb Stunden“, sagte Alec. „Luke muss noch meinen Knöchel verarzten.“ Mole funkelte ihn an. „Schätze, du warst zu lange unter Normalen, sonst wärst du nicht solch ein Weichei.“ Alec strahlte ihn mit höhnischem Grinsen an. „Trotzdem willst du ein Team mit mir bilden?“ 126
Der Eidechsenmann steckte sich eine neue Zigarre zwischen die Lippen. „Irgendjemand muss dich ja davor bewahren, dass wieder ein Baum deinen Arsch poliert.“ Max hob die Hände, um dem Ganzen Einhalt zu gebieten. „Anderthalb Stunden also“, sagte sie. „Haltet euch dann bereit und erzählt niemandem davon. Je weniger davon wissen, desto besser für uns.“ Alec sah sie verschwörerisch an. „Du weißt gar nicht, wie Recht du hast?“ Sie runzelte die Stirn. „Und das bedeutet?“ „Irgendjemand hat den Furies gesteckt, wo Logan wohnt, stimmt’s? Und wer weiß das, außer unseren Freunden hier in Terminal City?“ „Dieser Bulle, Clemente“, sagte Mole. „Und ein paar andere, die in der Nacht da waren, als Kelpy dran glauben musste.“ „Moment, Moment“, sagte Max. „Willst du damit andeuten, wir hätten einen Verräter in unserer Mitte?“ „Ich deute nur das an, was ich andeute. Irgendjemand hat den Furies einen Tipp gegeben über Logans private Bude. Ich meine, du hast ihnen das nicht zufällig gesagt, Max?“ „Nein, Alec. Es müsste ein Typ sein, der noch nie vertrauenswürdig war. Fällt dir da vielleicht jemand ein?“ Er riss die Augen auf. „He, das hab ich nicht verdient.“ Max sah ihn jetzt etwas freundlicher an. „Das hast du wirklich nicht. Außerdem hast du verdammt Recht. Irgendjemand hat Logan an die Furies verraten. Aber wir haben jetzt keine Zeit, die Spur weiterzuverfolgen. Logans Arsch zu retten steht an oberster Stelle, nichts anderes.“ Alec nickte, ebenso wie Mole und Dix, der immer noch auf seinem Stuhl vor dem Monitor saß und so getan hatte, als würde er nicht zuhören. Luke, der gerade Alecs Knöchel bandagierte, nickte ebenfalls. „Was wir vorhaben“, fuhr Max fort, „bleibt unter uns. Und, Joshua, nur die Kerngruppe. Also, düsen wir ab.“ 127
Neunzig Minuten später lernte Alec endlich den Fremont Troll kennen. Er befand sich am nördlichen Ende der Aurora Avenue Bridge. Der liegende Troll aus Stein war etwa sechzehn Meter hoch und stieß beinahe mit seinem Kopf unten gegen die Brücke. Der Troll sah genauso aus, wie Mole ihn beschrieben hatte: Langhaarig, mit einem schimmernden Metallauge, kroch er auf dem Bauch. Die Finger der rechten Hand waren gespreizt, in der linken Hand hielt er ein riesiges Auto. Alec und Mole kletterten hinter den Troll und starrten in die Dunkelheit. Alec rollte seinen Kopf hin und her, um seine verspannten Muskeln ein bisschen zu lockern. Sie hatten keine Ahnung, ob die Furies mit Logan pünktlich auftauchen würden, aber ein Blick auf die Uhr zeigte ihnen, dass es noch gut zwei Stunden dauern konnte bis zu der geplanten Übergabe. „Mole“, sagte Alec. „Ich bin erledigt.“ „Dann schlaf“, sagte er. „Ich pass schon auf.“ „Ich will nur kurz die Augen zumachen. Ein bisschen ausruhen.“ „Na mach schon.“ Als sein Handy klingelte und er nach oben schoss, wusste Alec nicht, wie lange er geschlafen hatte. Unter der Brücke hörte sich das Klingeln so laut an wie eine Kirchenglocke. „Geh dran“, brummte Mole. „Oder ich knall das Ding an die Wand.“ Noch immer steckte die brennende Zigarre zwischen seinen Zähnen. Offensichtlich hatte er es geschafft, wach zu bleiben, während Alec ein Nickerchen gemacht hatte. Schnell fischte Alec sein Handy aus der Tasche und drückte beim zweiten Klingeln auf den Knopf. „Was?“, fragte er. „Gibt’s Neuigkeiten?“ Es war Max. Sie war mit Joshua beim Gaswerk.
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„Nein“, sagte er, schaute aber noch einmal zu Mole, um sicher zu gehen. Der Eidechsenmann schüttelte den Kopf und schnaubte. Es war nichts passiert. „Was ist mit dir?“ „Kein Mensch“, sagte sie. „Und sie sind bereits überfällig.“ „Sie werden sicher zuerst hierher kommen, um die Geisel abzuladen.“ „Wenn du meinst. Aber trotzdem. Joshua war die ganze Zeit hier, während ich die Umgebung abgesucht habe. Aber keiner hat hier herumgeschnüffelt, nichts.“ „Und was schließt du daraus, Max?“ „Entweder ist was schief gelaufen, oder die Furies haben sich ein neues Spiel ausgedacht.“ „Das sollten sie besser nicht tun. Vielleicht lauern sie irgendwo und warten nur darauf, dass du verschwindest.“ „Nein“, sagte sie. „Ich hatte eine Eins plus im Spähen. Du kannst mir glauben, sie sind nicht hier. Und die Tasche steht immer noch da. Selbst die Wanzen haben kein Interesse daran.“ „Das hört sich nicht gut an, Max.“ „Schon zwei Stunden nach Sonnenaufgang. Und nichts. Irgendwas muss definitiv schief gelaufen sein.“ Die Tasche, die sie erwähnt hatte, war eine Reisetasche aus Leder. Sie hatten Steine und Zeitungspapier hineingestopft und oben eine schmale Schicht mit kleineren Banknoten. Die Tasche hatte genau das richtige Gewicht für vier Millionen Dollar, und ein oberflächlicher Blick würde nichts als Geldscheine zeigen. Der Trick würde erst dann auffliegen, wenn jemand genauer nachsah. Aber wie Max gesagt hatte, schien keiner der Furies interessiert zu sein, hineinzuschauen, um zu entdecken, dass man sie reingelegt hatte. „Wir müssen was unternehmen“, sagte Alec. Er war überrascht, dass Mole ihn so lange hatte schlafen lassen, ohne ihm einen Tritt in den Arsch zu verpassen. „Einverstanden?“ 129
„Einverstanden.“ „Irgendwelche Vorschläge, Max?“ „Ich denke, wir sollten den Furies zu Hause einen Besuch abstatten.“ „Nur wir vier... einfach so reinschneien?“ „So lautet der Plan, Alec.“ „Und du behauptest, meine Pläne sind beschissen!“ „Bist du dabei?“ „Ja. Kein Problem.“ „Bleib, wo du bist und sag Mole Bescheid. Joshua und ich werden gleich da sein. Dann kann’s losgehen.“ Max beschleunigte ihre Ninja und raste durch das offene Tor auf den Lakeview Cemetery. Joshua saß hinter ihr. Mit der linken Hand hielt er sich an ihr fest, in der rechten Hand baumelte die Reisetasche, die voll gestopft war mit Steinen, Zeitungspapier und ein paar Geldscheinen. Alec folgte ihnen mit seinem Motorrad, gemeinsam mit Mole, in kurzem Abstand. Die Motoren röhrten, als sie die gepflasterte Straße verließen und über den Rasen preschten. Obwohl die Straße mitten durch den Friedhof ging und in der Nähe des Hauptquartiers der Furies endete, wollte Max nicht den direkten Weg nehmen. Es gab zu viele Furies, und deshalb war es wichtig, dass die Transgenos sie überraschten. Sofort drosselten sie die Geschwindigkeit, wie abgesprochen, und der röhrende Motor surrte jetzt wie ein Kätzchen. Max gab Alec mit der Hand schnell ein Zeichen, dann scherte er nach rechts aus. Sein Motorrad glitt über das Gras, vorbei an den Grabsteinen. Mole hinter ihm sah ein bisschen verärgert aus, weil er an dem X5 hing. Max und Joshua hielten sich links. Sie wollten das Hauptquartier der Furies von zwei Seiten stürmen. Das Hauptquartier war früher ein Mausoleum gewesen, das nach dem Puls gebaut worden war, in der Nähe der Gräber, in 130
denen Bruce und Brandon Lee ihre letzte Ruhe gefunden hatten. Max hatte die Gräber früher tatsächlich einmal besucht, kurz nachdem sie nach Seattle gekommen war. Die Gedenksteine hatten sie an frühere Zeiten erinnert, an die Tage des Mann’s Chinese Theater in Los Angeles. Damals hatte sie mit dem Clan und ihrem Mentor Moody zusammengelebt. Und mit einem jungen Typen namens Fresca. Moody hatte ab und zu Filme in dem Theater gezeigt. Einer davon war der wirklich coole Kung-Fu-Streifen Der Mann mit der Todeskralle, der Bruce Lee über Nacht zum Star gemacht hatte. Sie hatte einen weiteren Kung-Fu-Film mit dem Titel The Crow gesehen, in dem Lees Sohn Brandon mitgespielt hatte, aber das war auf einem billigen Videorekorder gewesen mit einem schlechten Band. Bevor die Furies das Gebäude übernommen hatten, gehörte es einer asiatischen Straßengang, die sich zu Ehren von Brandon den Namen Die Crows gegeben hatte. Doch Badar Tremaines Truppen hatten sie aus dem Weg geräumt, vor etwa sechs oder sieben Jahren. Das Mausoleum war etwa fünf Meter hoch und maß fünfundzwanzig Meter sowohl in der Länge als auch in der Breite. Als ob den Furies das noch nicht gereicht hätte, hatten sie an einer der Zementwände noch einen Anbau zusammengeschustert. Die Türen zu beiden Seiten waren aus Holz. Die verwitterten Särge, die früher in dem Mausoleum gestanden hatten, standen nun draußen aufgestapelt wie Klafterholz. Die beiden Motorräder erreichten gleichzeitig jeweils eine der Türen. Max gab Gas und der Motor dröhnte laut auf. Alec tat es ihr gleich. Mit ohrenbetäubendem Lärm brachen sie gleichzeitig durch die Türen zu beiden Seiten des Mausoleums. Kaum waren sie drinnen, bremsten sie mit quietschenden Reifen, die einen Gestank nach verbranntem Gummi verströmten. Sie stellten die Motorräder zur Seite. Dann 131
arbeiteten sich die vier in Kampfformation weiter vor, bereit zu handeln. Sie waren auf alles vorbereitet. Auf fast alles. Sie erstarrten. Überall um sie herum lagen Furies. Und sie waren tot. Die Wände waren mit leuchtenden Spritzern verziert. Das Blut, das in einem hellen Rot herabtropfte, musste noch ganz frisch sein. Der Boden und die wenigen Möbel waren ebenfalls voller Blut. Tische und Stühle waren umgeworfen, der Fernseher zertrümmert und eine lange, hölzerne Bar, die seitlich an der Wand stand, war übersät mit Einschüssen. Max und die anderen waren bereit gewesen für einen Kampf. Was sie hier sahen, war jedoch ein Massaker. Überall lagen Leichen herum, ausgestreckt in bizarren Stellungen, die von ihrem schrecklichen Tod zeugten. Sie waren erstochen worden, erschossen oder aufgeschlitzt. Wer oder was auch immer dies getan haben mochte, er hatte es schnell und ohne Gnade vollendet. Etwa hundert Furies, wahrscheinlich war es die komplette Mannschaft, waren abgeschlachtet worden und so wie es aussah, hatten sie kaum Gelegenheit gehabt, sich zu wehren. Augenscheinlich hatten sie nicht kämpfen können. Ein paar leere Patronenhülsen lagen verstreut herum, aber es gab kein Zeichen dafür, dass die Furies ebenfalls die Gelegenheit gehabt hatten, dem Gegner Schaden zuzufügen. „Gott“, sagte Mole. „Verflucht“, sagte Alec. „Logan“, sagte Max. Sie sprach den Namen voller Ehrfurcht aus, wie ein Prediger, doch auch mit einem Hauch von Trauer, die so oft zu Gast gewesen war im nahe gelegenen Friedhof. Alec und Mole gingen jeweils zu einer der Türen am Ende des Mausoleums, um sie zu bewachen, falls die Bestie, die für dieses Blutbad verantwortlich war, zurückkehren sollte. Max
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und Joshua krochen vorsichtig durch die Leichen, als ob sie sie nicht aufwecken wollten, und suchten nach Logan. Max erkannte diejenigen wieder, die Logan entführt hatten. In der Nacht damals hatten sie ihr kaum Ärger gemacht, bis der Tazer aus dem Nichts aufgetaucht war. Wer auch immer dies getan haben mochte, arbeitete mit sehr viel stärkerer Artillerie. Es war klar zu erkennen, dass die Furies nicht nur mit einzelnen Kugeln niedergestreckt worden waren, sondern jemand hatte offensichtlich noch sein Maschinengewehr geleert, um sicher zu gehen. Andere waren aufgeschlitzt worden. Wahrscheinlich mit Macheten, vermutete Max. Es sah aus, als hätte jemand Fleisch vorbereitet für den Topf eines riesigen Kannibalen. Max ging mitten durch die hingemetzelten Körper, voller Angst, Logan unter den Toten zu finden. Falls sie ihn gefunden hätte, hätte sie zumindest Gewissheit gehabt. Denn es war ein schrecklicher Gedanke für sie, ihn nicht wieder zu sehen und niemals zu wissen, was mit ihm geschehen war. Joshua, der auf der anderen Seite suchte, sagte: „Logan ist nicht hier, Kleines.“ Obwohl er leise gesprochen hatte, dröhnte seine Stimme von den Wänden des Mausoleums wider und hallte in ihrem Kopf. Die Salven der Maschinengewehre müssen geklungen haben wie das Ende der Welt, dachte sie. „Traurig“, sagte Joshua jetzt. „So traurig.“ Sie waren gekommen, um gegen die Furies zu kämpfen, ja, sie hätten diese Bastarde sogar getötet, falls es notwendig gewesen wäre. Aber dieses Massaker ließ bei ihnen Mitleid aufkommen für die Opfer, wer oder was auch immer sie in ihrem Leben gewesen sein mochten. Auch Max entdeckte kein Zeichen von Logan. Aber am hinteren Ende der Wand war ein Durchbruch, der zu dem hölzernen Anbau führte, den sie von außen gesehen hatten. Als 133
sie sich dem schattigen Loch näherte, hämmerte ihr Herz fast unerträglich laut, und Max fragte sich, ob die andern es wohl hörten und sein Echo von den blutbespritzten Wänden widerhallen würde. Schweiß tropfte von ihrer Stirn, obwohl es in dem ungeheizten Mausoleum kalt war. Hinter dem Durchgang brannte Licht, aber sie konnte noch nichts erkennen und keiner hatte herausgerufen. Natürlich, Logan wäre sicher gefesselt und geknebelt. Und wenn dies so war, hätten die Verbrecher, die für diese Abscheulichkeit verantwortlich waren, ihn sicher nicht verschont. Doch der Anbau war der einzige Platz, an dem Logan noch sein konnte, falls er überhaupt hier war. Sie zwang sich weiterzugehen, setzte einen Fuß vor den anderen. Ihre Beine waren schwer – wie die steinernen Verzierungen an den Grabmälern draußen auf dem Friedhof. Sie ging durch die Öffnung in der Wand und sah eine Gestalt, die an einem Tisch saß. Es war ein Mann, er hatte ihr den Rücken zugekehrt. Grässlich schmeckende Galle stieg aus ihren Eingeweiden hinauf in ihre Kehle, als sie näher trat. Der Mann hatte keinen Kopf mehr. Der Raum war klein, kaum vier Quadratmeter. Ein rechteckiger Tisch stand in der Mitte. Auf dem Holzstuhl davor saß der Mann. Vermutlich war es nicht Logan, denn er trug ein schwarzes T-Shirt und Jeans, so wie die Furies. Drei Stühle lagen zertrümmert am Boden, ein kleiner Fernseher zerschmettert in einer Ecke. Max ging weiter und sah über die Schulter des Mannes auf den Tisch. Ein Kopf, der wahrscheinlich zu dieser Gestalt gehörte, thronte auf einem Teller. Sie erkannte das Gesicht. Es war Badar Tremaine, der Anführer der Furies. Trotz des Grauens seufzte sie erleichtert auf, als ihr klar wurde, dass es nicht Logan war. Vielleicht lebte er ja noch.
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Als sie erneut einen Blick auf Tremaines Kopf warf, sah sie, dass etwas in seinem Mund steckte. Obwohl sie nicht zimperlich war, zitterte sie am ganzen Körper. Mit aller Kraft unterdrückte sie den Impuls, sich einfach umzudrehen und zu fliehen. Stattdessen trat sie näher an den zerschmetterten Kopf heran und betrachtete das Ding, das in dem Mund steckte. Es war aus Metall und nicht sehr groß. Das zylindrische Ende ragte aus dem Mund wie eine steife, silberne Zunge. Die Augen von Tremaine schienen sie anzustarren, als sie den metallenen Gegenstand langsam aus seinem Mund zog. Es war ein Mini-Kassettenrekorder. Jetzt betraten die anderen drei den kleinen Raum, Mole zuerst. „Sieht nicht so aus, als ob die zurückkommen würden“, sagte er. „Ist doch auch zwecklos, noch einmal aufzutauchen, wenn man schon alles gekillt hat, was sich bewegt.“ „Verfickter Mist“, sagte Joshua atemlos, und schaute auf die Leiche. Alec hatte ihm dieses Wort beigebracht, und Max hatte großzügig darüber hinweggehört. Alec stand jetzt neben Max. „Badar Tremaine“, sagte er. „Gut so, er war ihr Anführer.“ Max warf ihm einen Blick zu. „Tut mir Leid“, sagte er. „Ist mir so rausgerutscht. Ich meine, er sitzt da, ohne Kopf.“ Joshua umklammerte Alecs Arm. „Keine Scherze. Dieser kopflose Mann. Was würdest du sagen, wenn es Logan wäre?“ „Aber er ist es nicht“, sagte Alec und blickte auf das metallene Ding in Max’ Hand. „Was hast du da?“ Max wischte den Speichel und das Blut auf der kleinen Maschine an Badars T-Shirt ab. „Einen Kassettenrekorder.“ „Hast du schon auf Play gedrückt?“ Alec, Joshua und Mole umringten sie. Sie sah einen nach dem anderen an. „Fang an“, sagte Mole. „Vielleicht ist eine Nachricht drauf.“ 135
Sie stieß einen tiefen Seufzer aus, dann drückte sie auf Play. „Hallo, 452.“ Sie wussten sofort, wer dahinter steckte. „Ich weiß“, erklang Ames Whites Stimme aus dem kleinen Kasten in ihrer Hand, „dass du nie im Leben lediglich das Lösegeld abgeliefert hättest, um deinen Freund zurückzubekommen. Das entspricht nicht deinem Charakter. Du hältst dich nie an die Regeln, habe ich Recht, 452?“ Sie war überwältigt von dem Wunsch, den Rekorder einfach gegen die Wand zu knallen. „Deshalb habe ich die Furies eingeschaltet, um mir die Geisel zu beschaffen. Ich wusste, dass du sie verfolgen würdest. Und ich konnte sie doch nicht am Leben lassen, da sie sicherlich bestimmte Arrangements ausgeplaudert hätten, die ich mit ihnen abgesprochen hatte... Also, wie du siehst, habe ich ein neues Abkommen mit ihnen getroffen, heute.“ Sie blickte hinunter auf die Augen von Badar Tremaine. „Vielleicht haben die Medien schon Wind bekommen von der Geschichte, dass die rachsüchtigen Transgenos die gesamte Gang umgebracht haben. Ich bin ziemlich sicher, dass ein paar unserer braven Bürger die Information schon weitergeleitet haben. Schließlich geschah der Überfall auf Logan Cales Apartment unmittelbar vor den Toren von Terminal City, und die Geisel war... ist ein Freund von dir.“ Ein dumpfes Brummen stieg aus Joshuas Kehle auf. „Jetzt, da wir die Einzelheiten geklärt haben, wirst du bestimmt aufbrechen, um deinen Freund zu suchen. Und da ich persönlich über ihn wache, ist es wichtig, dass wir uns über das tatsächliche Lösegeld unterhalten.“ „Der Bastard hat uns von Anfang an reingelegt“, sagte Alec. „Du weißt, was ich will, 452. Überleg mal.“ Max schüttelte als eine Art Antwort den Kopf. Die ganze Geschichte hatte sich auf einen Schlag um ein Vielfaches verschlimmert. 136
„Das ist dein Karma. Ihr New-Age-Terminal-City-Trolls glaubt an solch einen Unsinn, habe ich Recht? Du hast meinen Sohn. Und ich habe Logan Cale.“ „Verflucht“, sagte Max und ihre Stimme klang hart und kalt. „Du willst deinen Freund zurück“, fuhr Ames White fort. „Und ich will Ray zurück. Verstanden?“ „Ja, Sie Mistkerl“, sagte sie. „Ja.“ „Ich werde mit dir in Verbindung bleiben, 452, über dein Handy. Du hast drei Tage Zeit, meine Bitte zu erfüllen. Oder dein Freund ist tot. Ach, übrigens. Frohe Weihnachten.“
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7. Kapitel__________________________ EINE GRAUSAME ENTDECKUNG Seattle, Washington 22. Dezember 2021 Vor einiger Zeit hatte eine Frau namens Wendy Olsen sich an Eyes Only gewandt, da sie ihren Sohn suchte. Der Junge war gekidnappt worden, und Mrs Olsen hatte Eyes Only gebeten, ihr bei der Suche nach dem kleinen Ray zu helfen. Logan hatte seine Ermittlungen bereits aufgenommen, als er Max einweihte und ihr die schockierende Mitteilung machte, dass der Junge, den sie suchten, kein geringerer als der Sohn des NSA-Agents Ames White war. Seit Jahren hatten sich verschiedene Bürger Seattles immer wieder – auf der Suche nach Hilfe im Untergrund – an Eyes Only gewandt, da ihnen von der Stadt, dem Staat und der korrupten Regierung bestimmte bürgerliche Rechte entzogen worden waren. Logan und seine Mitstreiter würden alles dafür tun, um deren Probleme zu lösen, und seit nun beinahe zwei Jahren war Max seine Agentin Nummer eins gewesen. Max und Logan konnten Ray tatsächlich befreien. Sie verschleppten ihn aus der Brookridge Academy, einer Privatschule, die dem schrecklichen Kult des Ames White, den so genannten „Familiars“, als Fassade diente. Ray war sehr schwach gewesen, bedingt durch die perversen Rituale des Schlangenkults. So hatten sie beispielsweise den Arm des Jungen mit einem Schwert aufgeritzt, das sie zuvor in vergiftetes Blut getaucht hatten. Trotz allem hatte Whites Sohn irgendwie überlebt. Von seiner Mutter konnte man leider nicht das Gleiche behaupten.
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Als sie nach Willoughby gekommen war, um ihren Sohn zu suchen, war Wendy Olsen von White ermordet worden – ihrem eigenen Ehemann. Logan hatte schließlich Wendys Schwester ausfindig gemacht. Seitdem lebte Ray bei ihr. Logan, der als Eyes Only über schier unendliche Möglichkeiten zu verfügen schien, hatte Ray und seiner Tante geholfen unterzutauchen, und selbst Max wusste nicht, wo sie sich jetzt aufhielten. Max war nun klar, dass ihr keine andere Wahl blieb. Sie musste Ames Whites Spiel mitmachen, seinen Sohn finden und ihm den Jungen ausliefern. Und würde damit direkt in die Falle laufen. Denn einen Mann wie Ames White konnte man nicht austricksen. Die Furies hätte sie hinters Licht führen können. Aber White und seine Gefährten vom Schlangenkult waren ebenso gerissen wie clever, mochten sie auch noch so wahnsinnig und skrupellos sein. Und sie waren extrem bösartig. Die Furies hätten ein Lied davon singen können, wenn sie noch gelebt hätten... Sie wusste verdammt gut, dass kein Austausch der Geiseln stattfinden würde. Das Ende des Spiels würde Max’ Tod bedeuten. Schon bei früheren Begegnungen mit dem bizarren Kult war ihr dies klar geworden. Trotzdem wusste sie, dass sie alles tun mussten, was White verlangte. Es gab nur einen Weg, Logan zu retten – und natürlich sich selbst, das Leben ihrer Gefährten und das des Jungen Ray. Sie musste in die Höhle des Löwen steigen und sich diesen Bastarden entgegenstellen. Allerdings hatte sie keine Ahnung, wie sie die erste Aufgabe erfüllen sollte, von der alles andere abhing, nämlich Ray zu finden. Ames White nahm zweifellos an, dass dies für sie kein Problem sein würde. Doch Logan hatte das Versteck des Jungen äußerst geschickt geheim gehalten. Und ohne Logans Hilfe würden all ihre Versuche durch Eyes Onlys eigene
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Sicherheitsmaßnahmen blockiert werden, die er getroffen hatte, um den Jungen vor White und den Familiars zu schützen. Bei der Entführung des Jungen hatten sie und Logan jeweils ihren eigenen Part gehabt. Logan hatte ihn aufgespürt, während Max sich den Jungen geschnappt hatte. Das war ihre Vorgehensweise gewesen, so wie immer... Nun, da Logan verschwunden war, war sie auf sich allein gestellt, den vermissten Ray zu finden. Der Junge war jedoch nicht einfach nur versteckt worden. Logan war ein Meister darin, Leute spurlos verschwinden zu lassen und ihnen zu einem Neuanfang zu verhelfen. Und den Jungen hatte er so gut versteckt, dass selbst sein eigener Vater, trotz des mächtigen Apparates der NSA und seiner Verbündeten vom Schlangenkult, ihn niemals würde aufspüren können. Sie war also auf der Suche nach einer Nadel im Heuhaufen. Das Problem war nur, dass sie keinen blassen Schimmer hatte, in welchem verdammten Heuhaufen sie überhaupt suchen sollte. Sie verließen das Mausoleum, in dem das grauenhafte Gemetzel stattgefunden hatte. Sollten doch die Bullen sich darum kümmern. Sie selbst würden der Presse jedenfalls kein neues Futter liefern, mit dem sie wieder einen Sturm des Entsetzens über die Transgenos auslösen würden. Die vier Freunde setzten sich in ein kleines Cafe, eng aneinander geschmiegt in einer der hinteren Sitzgruppen. Vor ihnen standen schon bald Tassen mit heißem, dampfendem Kaffee. Joshua, Alec und Mole sahen Max gespannt an und warteten aufmerksam auf das, was sie zu sagen hatte. Sie war ihre Anführerin, und sie würden mit ihr selbst durch die Hölle gehen, falls notwendig. Das wusste sie zu schätzen. Und diesmal war es tatsächlich die Hölle, die auf sie wartete. Max rief Dix über Handy an und legte ihm schnell die Situation dar. „Wen soll ich umlegen?“, fragte Dix. 140
„Dazu kommen wir noch“, sagte sie. „Im Augenblick brauche ich nur dein Hirn.“ „Okay. Ich kann es nämlich nicht ausstehen, wenn Frauen nur wegen meines guten Aussehens hinter mir her sind.“ „Glaub ich dir aufs Wort. Ich brauche dich und Luke, damit ihr Logans Dateien entschlüsselt.“ „Autsch! Ich würde lieber die Dateien vom Pentagon oder irgendwas anderes Leichtes knacken. Logan ist auf diesem Gebiet unschlagbar, das weißt du.“ „Ich weiß. Aber Logan hat gesagt, dass du und Luke die besten Hacker seid, die er je getroffen hat.“ „Ohne Scheiß?“ „Ganz sicher.“ Sie quetschte die Lüge durch ihre zusammengepressten Zähne. „Legt los.“ „Sofort“, versprach er selbstsicher, doch in seiner Stimme klang ein Hauch von Unsicherheit. Sie beendete das Gespräch und sah ihre drei Freunde an. Joshua saß neben ihr in der Nische, Alec und Mole ihr gegenüber. „Logan hat den Jungen so gut versteckt, dass selbst Gott ihn nicht finden könnte. Aber wir müssen ihn finden.“ „Wie bitte?“, sagte Alec und runzelte die Stirn. „Um ihn danach bei White abzuliefern?“ Mole lehnte sich vor, die Zigarre in seinem Mund wanderte von einer Seite zur anderen. „Max, du weißt, dass ich deinen Anweisungen folgen werde.“ „Und das schätze ich.“ „Aber was du vorhast... ist ein großer Fehler.“ „Warum?“, fragte sie und konnte nicht verhindern, dass Trotz in ihrer Stimme mitschwang. Mole zündete seinen Stumpen wieder an. Dann blickte er sie streng an. „Warum hat Logan diesen Jungen versteckt? Um ihn vor seinem lieben Daddy zu schützen. Und wir sollen jetzt Whites dreckige Arbeit für ihn erledigen? Es muss einen anderen Weg geben.“ 141
„Gibt es denn einen?“ Die drei sahen sie nur an. Schließlich sagte Alec: „Mal angenommen, das mit dem Austausch klappt, was dann? Wie soll’s weitergehen? Sollen wir so viele Idioten von diesem Schlangenkult fertig machen, wie wir können? Und auf das Beste hoffen? Ich muss es noch einmal sagen: Du glaubst tatsächlich, dass meine Pläne beschissen sind?“ „Und, welche Möglichkeit haben wir denn sonst?“, fragte Max. „Das weißt du genau“, sagte Mole. Max schwieg. „Er hat sich einen aus unserem Team geschnappt, der dran glauben muss.“ „Logan?“ Sie hätte fast geschrien und hasste sich selbst für diese mädchenhafte Reaktion. Alec zuckte mit den Schultern. Er war der gleichen Meinung wie Mole. „Sie wissen, wie riskant es ist, sich mit Eyes Only anzulegen. Schließlich ist er durch ihre Schuld damals im Rollstuhl gelandet.“ Max beugte sich vor. „Keiner weiß das besser als...“ „Du bist ein Soldat, Max“, warf Mole ein. „So wie wir alle. Auch Logan ist ein Soldat, auf seine Weise. Glaubst du allen Ernstes, er würde wollen, dass wir White den Jungen ausliefern, einfach nur so? Nachdem du damals so viel riskiert hast, um den Knirps freizukriegen? Nachdem Logan alles getan hat, um ihn sicher zu verstecken. Nein. Niemals.“ Max drehte sich zu Joshua, dessen Hundegesicht von tiefer Trauer überzogen war. „Was denkst du, Großer?“ Joshua bedeckte sein Gesicht mit der Hand. Er weinte. Max berührte seinen Arm. „Joshua...“ „Logan“, sagte Joshua. „Müssen berücksichtigen, was Logan will.“ Er ließ die Hand sinken und sah sie an, die Augen voller Tränen. „Mole hat Recht. Einer für das Team.“ 142
Selbst Joshua hatte es verstanden. Und jetzt auch sie. Alles, was sie gesagt hatten, stimmte. Aber das bedeutete auf keinen Fall, dass sie sich einfach abwenden und zulassen würde, dass Logan durch die Hand von Ames White starb. Nicht, solange sie lebte. „Ihr habt Recht“, sagte sie. „Und ihr habt Unrecht.“ Alec hob eine Augenbraue. Mole bearbeitete seine Zigarre. Joshua trocknete seine Augen mit einer Serviette. „Ihr habt Recht damit, dass wir den Jungen nicht einfach bei White abliefern können“, sagte sie. „Das würde all das zunichte machen, wofür Logan steht – und wofür wir stehen. Aber wir lassen nicht einfach einen Bruder zurück. Wir werden niemanden von uns opfern, wenn es nicht unbedingt sein muss.“ „Schätze, dass du Plan B schon im Kopf hast“, sagte Alec. Sie nickte. „Wir müssen Ray White finden. Wir brauchen diesen Jungen.“ Alec runzelte die Stirn. „Wir suchen ihn, machen sein Versteck ausfindig, schnappen ihn uns... um ihn dann nicht auszuliefern?“ „Ganz genau. Und Alec, mein Plan ist nicht beschissen.“ „Welchen Nutzen könnte Ray White für uns haben, wenn wir ihn nicht abliefern?“, fragte Alec. Aber Mole war dem X5 schon einen Schritt voraus. Die Augen in seinem Eidechsengesicht waren zusammengekniffen. „Als Köder.“ Max lächelte und nickte. „Du hast es erfasst, Mole.“ Alec und Joshua standen immer noch auf dem Schlauch. Der eine schüttelte den Kopf, der andere schielte verwirrt. „Ames White wird darauf bestehen, irgendwann mit Ray sprechen zu wollen“, fuhr Max fort. „Kann er haben“, sagte Mole.
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„Gut. Wenn wir den Kleinen finden, haben wir eine Chance, Logan zurückzubekommen, auch wenn White nur am Telefon mit ihm reden kann. Aber zumindest weiß er dann definitiv, dass wir seinen Sohn haben. Oder wollt ihr euch tatsächlich einfach nur abwenden und Logan Cale opfern?“ Alec legte nur den Kopf schief, wie ein Hund, und tat so, als hätte er die Frage nicht richtig verstanden. Typisch für ihn. „Wir müssen es versuchen“, sagte Mole. „Er würde es auch für uns tun.“ „Wie steht’s mit dir, Alec?“, fragte Max. „Was?“ „Sollen wir ihn im Stich lassen?“ „Nein.“ „Nein?“ „Zum Teufel, nein!“ Der selbstbezogene X5 schien immer noch nicht ganz überzeugt zu sein, aber zumindest hatte er seinen Widerstand aufgegeben. Mole sah Max an. „Damit ich das richtig kapiert habe: Wir werden den Jungen also unter keinen Umständen White überlassen?“ Für einen Augenblick schweiften ihre Gedanken zu Logan, bevor sie sich wieder den anderen zuwandte. Endlich hatten die Freunde verstanden. Sie würden Ray dazu benutzen, White herauszulocken, aber mehr nicht. „White kriegt den Jungen auf keinen Fall“, sagte sie. „Nicht um alles in der Welt.“ Alec hob seine Kaffeetasse. „Ich bin dabei“, sagte er, und sie stießen an. Joshua schlug ein bisschen zu fest mit seiner Tasse zu und vergoss seinen Kaffee. Doch weit mehr als nur Kaffee würde in den kommenden Tagen vergossen werden. „Halten wir fest“, sagte Max. „Dix und Luke versuchen, Logans Computer zu knacken. Ich bezweifle allerdings, dass 144
sie viel Glück haben werden. White und seine Idiotentruppe von der NSA haben damals Logans alten Computer mitgenommen, als sie sein früheres Apartment überfallen haben. Und sie haben es immer noch nicht geschafft, den Code zu entschlüsseln.“ „Bist du dir sicher?“, fragte Alec. Sie nickte. „Hab ich aus erster Hand. Von Otto Gottlieb.“ Gottlieb, der früher Whites Partner bei der NSA gewesen war, hatte damals seine Chance erkannt und den Transgenos geholfen, Kelpy zu fangen und White bei der NSA abzuschießen. Max fragte sich, ob Gottlieb ihnen auch in diesem Fall helfen konnte. Doch Gottlieb war damals von der NSA mit einer Gehaltserhöhung und einer Beförderung belohnt worden, weil er White verpfiffen hatte, und Max befürchtete, dass er der NSA inzwischen zu sehr ergeben war, als dass sie es riskieren könnte, ihn mit hineinzuziehen. „Ich könnte mal mit Matt Sung reden. Vielleicht kann er uns helfen“, sagte Alec. Matt Sung, er stammte ursprünglich aus Asien, war Detective beim Police Department in Seattle und hatte Eyes Only schon oft geholfen. „Gute Idee“, sagte Max. „Logan vertraut Matt völlig.“ Dann wandte sie sich an Mole. „Kannst du Bling ausfindig machen?“ Moles Zigarre bewegte sich, als er nickte. „Da kannst du Gift drauf nehmen.“ Bling war Logans afroamerikanischer Physiotherapeut und spielte gelegentlich für ihn den Fahrer und den Bodyguard. Er wusste mehr über Eyes Onlys Aktivitäten als jeder andere. Da Logan immer mehr dazu übergegangen war, sein Exoskelett zu tragen und dadurch unabhängiger war, hatte Bling viel freie Zeit. Deshalb hatten sie ihn schon seit Monaten nicht mehr gesehen, aber Max wusste, dass Logan regelmäßig
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mit ihm sprach, und daher war sie sicher, dass er sich noch irgendwo in der Stadt aufhielt. „Wie kann Joshua helfen?“, fragte Joshua. Max wusste, dass sie diesen hünenhaften Hundejungen nicht losschicken konnte, ohne dass er auffiel; wenn es darum ging, den entsprechenden Leuten einen Arschtritt zu verpassen, war er allerdings der Mann. Auf der anderen Seite konnte sie ihn jetzt nicht einfach auf die Reservebank setzen. Es würde Joshua verletzen, dessen Zuneigung für Logan sie rührend fand. „Du gehst zu ,Vaters’ Haus und schaust dich um“, sagte sie. „Logan hat sich dort eine Zeit lang verkrochen und vielleicht hat er irgendwas dort zurückgelassen, das uns zu dem Jungen führen könnte.“ Das Haus, von dem sie sprach, hatte früher Sandeman gehört, einer rätselhaften und gütigen Gestalt, die hinter dem Transgenoprogramm steckte, das in Manticore schließlich verpfuscht worden war. Joshua hatte eine Weile in dessen Haus gelebt, und Logan war oft da gewesen, nachdem sein Apartment von White und der NSA zu Kleinholz gemacht worden war. Joshua nickte eifrig. Er war glücklich, mitmachen zu dürfen. „Was ist mit dir?“, fragte Alec. „Ich habe meinen eigenen Plan“, sagte sie. Alec lächelte sie herausfordernd an. „Kann nur hoffen, dass er nicht beschissen ist.“ Sie grinste auf die gleiche Weise. „Ich auch. Wir treffen uns wieder in Terminal City, in zwei Stunden. Nehmt die Handys mit, damit wir in Verbindung bleiben. Wenn ihr etwas findet, wartet nicht bis später damit. Ruft mich sofort an.“ Alle nickten. Sie seufzte tief und schlüpfte aus der Nische. Draußen auf der Straße sagte sie: „Okay. Auf geht’s. Wir müssen den Jungen finden.“ 146
„Dann mal los“, sagte Alec. Sein Veilchen war bereits verheilt, dank seiner guten Gene. Sie schlugen die Fäuste gegeneinander, dann trennten sie sich. Joshua, der verständlicherweise davor zurückschreckte, in der Öffentlichkeit gesehen zu werden, entschied sich, den Weg durch das Abwassersystem zu nehmen, um sein altes Zuhause zu erreichen. Max hätte jeden Cent darauf verwettet, dass Joshua sich mit dem System besser auskannte als selbst die Ingenieure, die es konstruiert hatten. Im Untergrund war Joshua der King. Sie hatten vereinbart, dass Mole Alec in Matt Sungs Bezirk abladen würde. Mole wollte danach mit dem Motorrad des X5 weiterfahren, um Bling zu suchen. Max hingegen war unterwegs zu ihrem alten Revier. Es kam ihr vor, als ob es erst gestern gewesen wäre, als sie zum letzen Mal im Crash gewesen war, aber tatsächlich hatte sie seit sechs Monaten keinen Fuß mehr in die Bar gesetzt, genau seit dem Tag, als die Sache bei Jam Pony schief gegangen war. Das ehemalige Lagerhaus bestand aus drei Bereichen, die durch Bogengänge aus Ziegelstein voneinander getrennt waren. Auf Videomonitoren und einer riesigen Leinwand liefen grausame Zusammenstöße zwischen Autos, Zügen, Bussen und Motorrädern, die dem Laden auch letztlich seinen Namen gaben: Crash. Überall im Raum verstreut standen riesige Tische, mit jeweils vier oder fünf Stühlen. Und durch den nächstgelegenen Bogengang kam man zu den Billardtischen und zum Tischfußball. Die Wand hinter der Bar war eine riesige Plexiglas-Skulptur aus Fahrradrahmen. Max setzte sich an die Theke und nippte an ihrer Diätcola. Sie hätte sich lieber etwas Härteres bestellt, nach dem Anblick, der sie in dem Mausoleum erwartet hatte, aber sie wollte einen klaren Kopf behalten. Im Moment konnte sie nichts anderes tun
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als möglichst gelassen zu bleiben und zu hoffen, dass sie nicht zu lange warten musste. Musste sie nicht. Knapp zehn Minuten später öffnete eine Frau die Tür. Ihre Silhouette hob sich gegen den hellen Sonnenschein ab, der von draußen hereinfiel. Die Tür ging langsam wieder zu und Max’ Augen gewöhnten sich wieder an das schummrige Licht. Jetzt ging die Frau die Treppe hinunter, entdeckte Max, schlenderte zu ihr hinüber und setzte sich neben sie an die Bar. Die Frau war schlank und blond, mit dunklen Augen. Sie trug eine Mütze und ihre Haut schimmerte wie Alabaster. Sie war kaum größer als Max und als sie sich setzte, konnte Max sehen, dass sie seitlich ein Tattoo hatte, direkt auf der Hüfte. Statt einer Begrüßung sagte Max einfach nur: „Asha.“ Die Blonde lächelte und zeigte ein paar weiße Zähne, aber das Lächeln wirkte gezwungen. Sie und Max waren noch nie Freunde gewesen, selbst damals nicht, als sie Verbündete gewesen waren. Max wusste, dass Asha in Logan verknallt war und wäre nicht überrascht gewesen, wenn die Blonde es ihr immer noch übel genommen hätte, dass Logan ihr Max vorgezogen hatte. „Max“, sagte Asha und nickte knapp. Damit hatte sich ihr Gespräch erst einmal erschöpft. Nachdem Asha sich einen Kaffee bestellt hatte, klärte Max sie schließlich über die Situation auf. Als Asha hörte, dass Logan gekidnappt worden war, bildete sich eine tiefe Falte zwischen ihren Augenbrauen. Das war alles, was sie an Reaktion zeigte, doch es sprach Bände. Endlich sagte Max ihr, was sie brauchte. Asha kniff die Augen zusammen, ihr Mund wurde zu einem schmalen Strich. „Glaubst du tatsächlich, dass ich Logans Vertrauen missbrauche?“ Max zuckte mit den Schultern. „Nur wenn du sein Leben damit retten kannst.“ 148
Die Blonde nippte an ihrem Kaffee und stellte die Tasse dann vorsichtig zurück auf die Theke. Schweigend starrte sie die Tasse an. Schließlich blickte sie auf und sagte ruhig: „Wenn ich irgendwas verrate, wird Logan kein Wort mehr mit mir reden.“ „Wenn er tot ist“, stellte Max fest, „wird er mit niemandem mehr ein Wort reden.“ Asha schüttelte den Kopf, und ihre blonden Haare schimmerten in dem Licht. „Er wird mir nie mehr vertrauen können.“ Max stieß die Luft aus. „Asha, er wird niemals erfahren, dass ich es von dir habe. Darauf kannst du dich verlassen.“ Asha betrachtete Max etwa 30 Sekunden lang. Max kam es endlos lange vor, doch sie schwieg, damit die Blondine sich ihr eigenes Bild machen konnte. Schließlich sagte Asha: „Ich glaube dir, wirklich. Trotz unserer Schwierigkeiten... warst du immer ehrlich zu mir. Und... ich würde dir gern helfen, wenn ich es könnte.“ „Aber?“ „Ich glaube wirklich nicht, dass ich irgendetwas weiß.“ „Das hört sich für mich so an, als ob du dir da nicht ganz sicher wärst. Jeder kleinste Hinweis von dir wäre mehr, als ich bis jetzt in der Hand habe.“ Erneut schüttelte Asha den Kopf. „Du verlangst von mir, dass ich Vertrauen missbrauche. Weißt du eigentlich, was es bedeutet, wenn man dem anderen nicht vertrauen kann? Wenn einer den anderen verrät?“ Max sah schnell zur Seite. „Was ist?“, fragte Asha. „Nichts.“ Max schüttelte den Kopf und lächelte bitter. „Wir haben jetzt keine Zeit für solche Feinheiten, Asha. Ich fürchte, dass es keinen anderen Weg gibt als Logan zu enttäuschen, um damit sein Leben zu retten.“
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Asha starrte wieder in ihren Kaffee und sagte mit leiser Stimme, die kaum mehr als ein Flüstern war: „Okay, okay. Aber ich erinnere mich nicht an den Namen der Frau... der Tante?“ Max nickte kaum merklich und schielte zu dem Barkeeper hinüber, um sicherzugehen, dass er sie nicht beobachtete. „Besonders viel habe ich mit der Sache nicht zu tun gehabt“, fuhr Asha fort. „Ich habe die Frau ausfindig gemacht und sie Logan vorgestellt. Den Rest hat Eyes Only erledigt.“ Auch Asha wusste nicht, dass Logan und Eyes Only ein und dieselbe Person waren. „Ich verstehe“, sagte Max. „Ich weiß nur, dass die Tante in Fremont lebte. Logan hat der Frau ihren Neffen übergeben und ihr Geld und neue Papiere beschafft, damit sie verschwinden konnte. Er hat mal was von Appleton erwähnt.“ „Appleton, das liegt etwa anderthalb Stunden von hier entfernt. Ein Provinzkaff.“ „Keine Ahnung. Es könnte auch ein anderes Appleton sein, in Arkansas oder Maine, wer zum Teufel weiß das schon. Logan würde wahrscheinlich niemanden in der Nähe seines alten Zuhauses verstecken.“ „Vielleicht doch, weil es keiner erwarten würde. Asha, denk nach...“ Sie schüttelte den Kopf. „Max, ehrlich, mehr weiß ich nicht. Wirklich.“ „Danke, Asha.“ Sie berührte deren Hand, die auf der Theke lag. „Ich weiß es zu schätzen.“ Asha nahm Max’ Hand und drückte sie. Noch nie zuvor waren sie sich so nahe gekommen wie in diesem Augenblick. „Rette seinen süßen Arsch, kapiert?“ „Kapiert.“ „Und du hast über dieses Thema nichts von mir gehört.“ „Auch kapiert.“ 150
Appleton. Das war nicht viel. Aber es war mehr, als Max hatte, bevor sie ins Crash gekommen war. Sie warf ein paar Münzen auf die Theke, stieg die Treppe hinauf und trat hinaus in das helle Sonnenlicht. Als sie auf ihrer Ninja zurück nach Terminal City fuhr, fragte sie sich, ob die anderen wohl mehr Glück gehabt hatten. Denn ihre eigene Ausbeute war verdammt mager. Alec war bereits da und saß im Medienzentrum, als Max eintraf. „Wie ist es dir ergangen?“, fragte sie. Er schüttelte den Kopf. „Null. Sung hat nicht gesungen. Er weiß nichts über den Jungen.“ „Weiß er nichts, oder will er nichts wissen?“ „Ich hab ihn nicht an den Lügendetektor angeschlossen, Max. Aber ich weiß verdammt gut, ob jemand lügt oder nicht... und ich glaube nicht, dass er gelogen hat. Davon abgesehen, du weißt genau, wie sehr Logan Sung schätzt.“ Sie fragte sich, ob Alec vielleicht einen anderen Getreuen von Eyes Only getroffen hatte, der aus Respekt vor Logan die Informationen verweigert hatte... „Und wie war’s bei dir?“, fragte er. Sie zuckte mit den Schultern. „Nicht besonders. Nur ein kleiner Hinweis. Vielleicht.“ In diesem Augenblick tauchten Dix und Luke auf. Luke hielt ein kleines schwarzes Kästchen im Arm, als wäre es ein junger Hund. Max sah das Ding verächtlich an. Das Hündchen schien an einem Ende zu qualmen. Luke schaute auf. Tränen standen in seinen schwarzen Augen. „Dieses kleine Kästchen hat bisher jeden Code geknackt.“ „Diesmal sieht es anscheinend nicht so gut aus“, sagte Max. „Nicht wirklich“, gab Dix zu. „Das nennt man wohl einen Rückschlag.“ 151
„Ja?“ Luke nickte. Seine Stimme klang wie die eines Schulkindes, das gerade auf dem Pausenhof verprügelt worden war. „Logans Computer hat meinen Codeknacker verbrannt.“ „Wie bitte?“ „Zum Glühen gebracht. Es lief immer schneller und schneller. Und dann: Puff. Ausgebrannt.“ Max stöhnte auf und lachte. „Logan ist doch ein cleveres Kerlchen.“ „Und ich dachte, dass mein Kästchen hier auch ziemlich clever ist“, sagte Luke. Er verschwand mit der rauchenden Kiste. Wahrscheinlich wollte er sie irgendwo feierlich begraben. „Also habt ihr nichts?“, fragte Max. Dix zuckte mit den Schultern. „Gilt eine Migräne auch?“ Mole stampfte als nächster herein, mit gesenktem Kopf. „Bling musste Logan schwören, die Klappe zu halten.“ „Vielleicht sollte ich mal mit ihm reden“, sagte Max. „Kann ich mitkommen?“, fragte Alec. Mole schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht, dass er überhaupt irgendwas weiß. Bling ist ziemlich hart im Nehmen. Er würde sich in Trance versetzen und würde nichts spüren, selbst wenn man ihm die Zehennägel mit einer Zange herausreißt.“ „Vielleicht hattet ihr die falsche Zange, ich hab die richtige“, sagte Max. „Lohnt den Aufwand nicht“, sagte Mole und zündete seinen Stumpen wieder an. „Egal, Bling meint, Logan hätte ihm eine so wichtige Information nie anvertraut. Denn er wusste, dass seine Gegner es auf Bling absehen würden, wenn sie an Informationen kommen wollten. Falls ihn jetzt jemand foltert oder ihm ein Wahrheitsserum verpasst, ist es besser, wenn er nichts Wichtiges weiß.“
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Jetzt schlenderte Joshua herein. Er zog einen Kissenbezug wie einen Sack hinter sich her. Ganz offensichtlich musste etwas sehr Schweres darin sein. „Was hast du gefunden, Großer?“ „Nichts, Kleines. Tut mir Leid.“ Max fühlte sich unwohl in der Magengegend. Sie hatte zwar den Namen der Stadt – und das war zumindest etwas –, aber es gab zehntausend oder mehr Leute in Appleton. Was sollten sie also tun: Sollten sie an jeder einzelnen Tür klingeln? „Was ist denn dann in dem Kissen, wenn du nichts gefunden hast?“, fragte Alec. „Hundefutter?“ Joshua zuckte mit den Schultern. „Kein Hundefutter, Alec.“ Traurig sah er Max an. „Logan hatte ein paar von Vaters Büchern draußen. Hab ich mitgebracht. Aber ich hab nichts gefunden.“ „Lass mal sehen“, sagte Max. Joshua leerte den Kissenbezug auf dem Tisch aus, und die Bücher knallten wie Hagelkörner auf die Platte. Ein Dutzend Bücher lagen jetzt vor ihnen. Auf Max’ Anweisung nahm sich jeder einen der Schmöker vor und blätterte darin herum. Es hätte ja sein können, dass Logan sich irgendwo am Rand eine Notiz gemacht hatte. Max kannte Logan gut genug, um zu wissen, dass er seinem eigenen Erinnerungsvermögen nicht über den Weg traute. Clever wie er war, benutzte er immer wieder alle möglichen Hilfsmittel und hinterließ ständig irgendwo kleine verschlüsselte Notizen. Das dritte Buch, das Max jetzt in die Hände nahm, hieß Gullivers Reisen, eine Hard-Cover-Ausgabe der klassischen Satire. Sie hatte ein ähnliches Exemplar besessen, als sie damals in Los Angeles in der Vorführkabine des Mann’s Chinese Theater gelebt hatte. Max schlug das Buch auf. „Vater“ hatte eine Widmung für Joshua hineingeschrieben, daneben war irgendetwas hingekritzelt mit Bleistift. Ein kleiner Apfel. 153
Appleton? Hatte Logan, als er nach einem neuen Namen für den Jungen gesucht hatte, diesen vielleicht aus einem Buch entnommen? Aus diesem Buch? „Wir haben ein, zwei Namen. Mit denen können wir es versuchen“, sagte sie und versuchte, ihre Stimme nicht allzu aufgeregt klingen zu lassen. Mit der Verzweiflung konnte sie umgehen... doch es war die Hoffnung... „Vielleicht können wir eine Verbindung herstellen“, sagte sie. „Schauen wir mal, ob in der kleinen Stadt Appleton in Washington eine Familie namens Gulliver wohnt, oder Swift, oder vielleicht sogar Lemuel...“ „Max“, sagte Alec. „Du klammerst dich an einen Strohhalm.“ „Wenn wir nichts finden, versuchen wir es weiter mit jedem Appleton in den USA und in Kanada... Alec, wenn man eine Nadel in einem Heuhaufen finden will, bleibt einem nichts anderes übrig, als sich an einen Strohhalm zu klammern.“ Als die Nacht hereinbrach, saßen sie in Logans Wagen und fuhren zu dem Provinzstädtchen Appleton. Ray Whites derzeitigen Aufenthaltsort herauszufinden war leichter gewesen, als sie gedacht hatte. Sie brauchte nur den richtigen Schlüssel für die rätselhafte Spur, einen kurzen Check von Logans Charakter und, ja, ein bisschen Glück. Wenn Moody ihr damals nicht Jonathan Swifts wunderbares Buch gegeben hätte, hätten sie an diesem Abend nicht die Chance gehabt, Logan zu retten. Alec, Mole und Joshua begleiteten sie. Max lenkte den Wagen durch die Stadt, zückte an den Kontrollpunkten ihren alten Jam-Pony-Ausweis und behauptete, dass sie eine dringende Zustellung hätten. Als die Bullen sie fragten, warum gleich vier Kuriere unterwegs waren, um ein Päckchen zu
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liefern, deutete sie nur mit dem Daumen nach hinten zu Joshua und Mole. „Es handelt sich um radioaktives Material, unglücklicherweise mit einer undichten Stelle“, sagte sie. „Die beiden Transgenos hier sind die Einzigen, die mit dem Zeug umgehen können, ohne tot umzufallen wie die Fliegen.“ Das überzeugte alle Wachposten an den Kontrollpunkten, die sie passieren mussten, von ihrer Glaubwürdigkeit. Sie gewährten Max und ihrer Crew mit der riskanten Ladung freie Durchfahrt. Nachdem sie die Kontrollpunkte hinter sich gelassen hatten, war der Rest ein Kinderspiel. Als sie auf den Highway einbogen, übernahm Mole das Lenkrad und sein Fuß klebte am Gaspedal, während Max die Karte studierte. Sie konnte selbst im Dunkeln lesen und ihre Katzenaugen waren sogar in der Lage, winzige Details auszumachen. Joshua und Alec waren eingeschlafen und lehnten eng aneinander gekuschelt auf dem Rücksitz. Ein Mann und sein Hund, ein wirklich großer Hund. Max blickte über die Schulter. Zu gerne hätte sie ein Foto von den beiden schlafenden Kriegern gemacht, denn ein solches Bild bot sich ihr nicht oft – der struppige, liebenswerte Koloss in trauter Zweisamkeit, eigentlich das perfekte Erpressungsmaterial... Dank Logan Cale hatte sie den literarischen Decknamen von Ray White herausgefunden. Lemuel Gulliver war durch verschiedene Welten gereist, genau wie Ray. Max erinnerte sich gerne an das Buch, das sie abends in den Schlaf gelullt hatte. Von den wenigen Habseligkeiten, die sie besessen hatte, war das Buch das Einzige, was sie mit Bedauern zurückgelassen hatte, als sie nach Seattle aufgebrochen war, um Seth zu suchen. Max vermisste den Chinese Clan mit Moody, Tippett und vor allem Fresca. Sie waren ihre Familie gewesen. Aber sie waren tot und gerächt. Gullivers Reisen jedoch hatte sie in Gedanken 155
immer bei sich. Es war wie eine Erinnerung an eine Kindheit, die sie nie gehabt hatte, und das Buch war stets ein wichtiger Teil von ihr geblieben. Sie hatte es Logan einmal erzählt und fragte sich, ob er sich wohl daran erinnert hatte, als er daraus den Decknamen für Ray White ausgewählt hatte. Wenn es tatsächlich so war, hatte sie selbst den Grundstein für das Rätsel gelegt, das sie nun gelöst hatte. Sie lächelte, als sie an die Ironie dieser Geschichte dachte. Vielleicht würde sie Logan danach fragen, wenn sie ihn sah. Falls sie ihn jemals wieder sehen würde. Doch zunächst mussten sie die Tante des Jungen davon überzeugen, ihnen zu helfen. Sie trug nun den Namen Sara Gulliver und gab vor, Rays Mutter zu sein. Max wusste, dass die Frau sich garantiert sträuben würde, in die Geschichte mit hineingezogen zu werden, da sie auf diese Weise die Sicherheit des Jungen gefährdete. Vielleicht entschied sie sich aber auch, das Leben des Mannes zu retten, der damals ihr eigenes Leben und das des Jungen gerettet hatte. Nachdem Max den Namen herausgefunden hatte, war es überraschend leicht gewesen, die beiden per Internet ausfindig zu machen. Das Internet verbesserte sich täglich, und glich sich weiter und weiter der Blütezeit von damals an, besonders in dem Teil des Landes, der vom Puls nicht so stark heimgesucht worden war. Hier war weniger zerstört worden als an der Ostküste, und die Wirtschaft blühte zusehends auf, auch wenn der Kunstfälscher Jared Sterling die Gesellschaft um Millionen betrogen hatte, als er das Internet wieder aufgebaut hatte. Sein Tod war das Zeichen für einen Neuanfang. Und das Internet spielte eine tragende Rolle in den wieder errichteten Handelsbeziehungen innerhalb der Vereinigten Staaten. Inzwischen lieferte das Internet auch sehr viel mehr Informationen als je zuvor. Max wusste jetzt nicht nur, wo die 156
Gullivers lebten, sondern auch, wo Sara arbeitete, wo Lem zur Schule ging und welche Noten er bekam. Es überraschte sie nicht, dass er zu den Besten gehörte, dank seiner Gene. „Wir sind da“, sagte Mole über seine Schulter. Die zwei auf dem Rücksitz wachten auf. Als sie merkten, dass sie eng aneinander gekuschelt waren, schossen sie sofort auseinander und lugten vorsichtig nach vorne, in der Hoffnung, dass die beiden anderen ihr inniges Beisammensein nicht bemerkt hatten. Schnell warfen sie sich einen Blick zu, nickten kurz als Zeichen dafür, dass die anderen nichts gesehen hatten, und seufzten erleichtert auf. „Na, habt ihr beiden Turteltauben schön geschlafen“, sagte Mole. Joshua blickte den Eidechsenmann nur mit großen Augen an, während Alec ein paar Flüche ausstieß. Ein paar Minuten später hielten sie vor dem Haus der Gullivers. Es war ein weißes, zweistöckiges Gebäude, das in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts erbaut worden war. In dem gepflegten Vorgarten mit dem Rasen stand eine große Esche. Auch hinter dem Haus ragten ein paar hohe Bäume auf, wie sie durch einen flüchtigen Blick erkannten. Es war schon dunkel, aber noch nicht spät. Trotzdem brannten keine Lichter im Haus. Vielleicht sind die Gullivers ausgegangen oder besuchen Nachbarn, überlegte Max. Sie konnten überall sein, alles Mögliche tun, all das, was eine glückliche Familie in einer idyllischen Kleinstadt eben so machte. Ohne zu wissen, welcher Sturm sich über dem jungen Ray White, alias Lemuel Gulliver, zusammenbraute. Das Transgeno-Team konnte nichts anders tun, als zu warten, bis sie nach Hause kommen würden. Max lehnte sich gegen den Wagen und schaute zum Haus. Sie hoffte, dass die Gullivers nicht den ganzen Abend unterwegs sein würden, denn sie wollte so schnell wie möglich zurück nach Terminal City. Es war lediglich der erste Schritt, den Jungen zu 157
bekommen, doch sie mussten noch eine Strategie entwickeln, wie sie White besiegen und Logan zurückbekommen konnten. Sie wollte sich gerade umdrehen, um Mole etwas zu fragen, als sie ein kurzes Aufflackern hinter dem Fenster im ersten Stock bemerkte. Es sah aus, als ob jemand ein Foto mit Blitzlicht gemacht hätte. Max rannte zum Haus, noch bevor sie den Knall hörte. Die X5 kannte ein Mündungsfeuer, wenn sie es sah. „In Deckung! Waffe!“, schrie sie über ihre Schulter. Die anderen waren schon losgerannt, als ein zweites Aufblitzen und der nächste Schuss folgten. Für einen kurzen Augenblick zerriss ein schrecklicher Donnerschlag die stille Dunkelheit. Max knallte mit der Schulter gegen die Tür, die ächzend aufsprang. Joshua war ihr dicht auf den Fersen. Mole und Alec verschwanden hinter dem Haus, um dem Schützen die Fluchtmöglichkeit auf der Rückseite zu versperren. Die Treppe lag unmittelbar rechts neben der Tür. Max hatte gerade die vierte Stufe genommen, als jemand oben um die Ecke schielte. Der Kopf mit der Mütze musste zu einem großen Mann gehören. Er trat einen Schritt vor und offenbarte seine tatsächlich gut gebaute Figur, vor allem aber eine 9-MillimeterAutomatik in der rechten Hand. Max sprang in einem Satz die restlichen Stufen hinauf, landete oben und schwang ihr Bein herum, genau in das Gesicht des Mannes. Er taumelte rückwärts, doch er zuckte weder zusammen noch ließ er die Waffe fallen. Scheiße, dachte sie, als sie merkte, dass er keine Reaktion zeigte. Jeder normale Mensch hätte gebrüllt vor Schmerz. War er etwa ein Familiar? Hatte irgendjemand vielleicht ein paar der Kultanhänger hierher geschickt, um Ray zu bewachen? Falls dies stimmte, warum wusste Ames White dann nicht, wo sein Sohn war?
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Sie nutzte ihren Vorteil und verpasste ihm in schneller Reihenfolge sechs weitere Schläge. Er taumelte gegen die Tür, hinter der das Mündungsfeuer aufgeblitzt war. Falls die Familiars Ray tatsächlich bewachten, wer zum Teufel hatte dann die Schüsse in dem Schlafzimmer abgegeben? Jetzt hob der Familiar die Waffe erneut. Diesmal griff Max seinen Arm und drehte ihn um. Die Mündung der Waffe zeigte direkt auf Joshua, der ihr die Treppe hinauf gefolgt war und nun vor ihr stand. Der Familiar zog zwei Mal den Abzug, doch Joshua konnte noch in letzter Sekunde nach rechts ausweichen, bevor die Kugeln durch die vordere Wand krachten. Max hörte, dass Joshua gefährlich aufheulte, aber sie musste ihn zurückhalten, bis sie den Familiar entwaffnet hatte. Sie knallte den Arm des Mannes gegen ihre Schulter und hörte ein Knacken, als der Knochen am Ellbogen brach. Die Pistole flog dem Typen aus der Hand und knallte polternd die Stufen hinunter, bis sie mit einem dumpfen Knall unten auf dem Boden aufschlug. Der Familiar hatte keinen Ton von sich gegeben. Diese Bastarde schienen wohl keinen Schmerz zu empfinden. Er schwang den schlaffen Arm wie eine Peitsche, seine andere Hand erwischte Max seitlich am Kopf. Sie stürzte die Treppe hinunter, als ob sie der Waffe folgen wollte. Irgendwie hatte Joshua es geschafft, sich hinter den Mann zu schleichen. Er umklammerte mit den Armen seinen Bauch und zwang ihn zum hinteren Ende der Wand. Max raste die Treppe hinauf und stürzte durch die geschlossene Tür ins Schlafzimmer. Das Fenster war zersplittert, und wenn ein Familiar hier gewesen war, dann war er jetzt verschwunden. Nur Sara Gulliver und ihr „Sohn“ Lemuel, alias Ray White, waren da. Beide waren tot. 159
Max hörte, dass Joshua im Flur wie ein wildes Tier aufschrie, gefolgt von einem hässlichen Knirschen. Dann war es totenstill. Bestürzt rannte sie in den Flur und fand Joshua. Blut lief aus einer Wunde in seiner Schulter. Der Familiar hing schlaff in den Armen des Hundejungen, sein Kopf baumelte hin und her wie der einer Weihnachtsgans, der man den Hals umgedreht hatte. Sie zwang sich, zurück ins Schlafzimmer zu gehen, und starrte auf die entsetzliche Szene zu ihren Füßen. Die Frau und der Junge lagen am Boden, die Köpfe zur Seite gedreht, die Hände auf dem Rücken zusammengebunden. Knebel steckten in ihren Mündern. Beide waren mit einer Kugel in den Hinterkopf getötet worden. Ausgelöscht. Jetzt kamen Alec und Mole von draußen herein. „Der Bastard ist verschwunden“, sagte Mole. „Wir waren gerade hinten, als er vorne verschwand. Er war so schnell, dieser Drecks...“ Der Eidechsenmann verstummte plötzlich, als er die Körper am Boden entdeckte. „Oh, mein Gott.“ Alec trat neben ihn und sah jetzt auch das Blutbad. Er schüttelte nur den Kopf und drehte sich weg. Max kniete sich hin und berührte Rays Gesicht. Er war noch warm. Warum sollten die Familiars Ames Whites Sohn umbringen? Das ergab doch überhaupt keinen Sinn! Sie hatten nicht nur Whites Jungen getötet, sondern Max auch den einzigen Trumpf genommen, den sie noch gehabt hatte. Sie streichelte das Gesicht des Kindes, strich über sein Haar. Und weinte. Sie wollte cool sein. Doch sie konnte es nicht. Nicht mit dem toten Kind am Boden und der Erkenntnis, dass Logan jetzt sterben müsste. Und es gab nichts mehr, was sie dagegen tun konnte, um es zu
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verhindern. Dies und alles andere, was sie in den letzten Jahren erlitten hatte, brach nun aus ihr heraus. Sie kniete am Boden, eine Hand auf Rays Kopf, die andere bedeckte ihr Gesicht. Tränen strömten aus ihren Augen und sie wurde geschüttelt von heftigen Schluchzern. „Lass es raus, Kleines“, sagte der sanfte Koloss und kniete sich neben sie. Max wusste nicht, ob sie das jemals schaffen würde. Es gab zu viel. Zu viel Falschheit, zu viele Schmerzen, die nie aufzuhören schienen. War dies das normale Leben, das sie sich erhofft hatte? Eine endlose Abfolge von Schmerz und Leid? Der kleine Ray musste nicht mehr wegrennen, würde keine Schmerzen mehr haben. Er konnte schlafen. Für immer.
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8. Kapitel__________________________ JOSHUAS LIST Seattle, Washington 22. Dezember 2021 Schließlich versiegten Max’ Tränen. Alec trat zu ihr und legte eine Hand auf ihre Schulter. Max blickte den X5 an. Sie war überrascht von dieser sanften Geste und dem aufrichtigen Mitgefühl in dem hübschen Gesicht. Sie schluckte und nickte ihm dankbar zu. Seine Hand lag immer noch auf ihrer Schulter, doch Max stand nicht auf, sondern schaute wieder zu Ray. Zärtlich fuhr sie mit der Hand durch sein Haar, und ihre Finger berührten beinahe das feuchte Blut. Ray sah genauso aus, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Er war ein intelligent wirkender Junge, mit kurzem Haar, so wie sein Vater, nur mit dem Unterschied, dass seines die blonde Farbe der Mutter hatte. Da er für sein Alter ziemlich klein war, mochten vielleicht einige der Gefolgsleute vom Schlangenkult daran gezweifelt haben, ob Ray für die oberen Ränge in ihrer Gemeinschaft überhaupt geeignet war. Der Junge sah aus, als ob er schlafen würde, wäre da nicht das Loch in seinem Kopf gewesen. „Max“, sagte Alec. „Wir müssen los. Vielleicht hat irgendjemand in der Nachbarschaft die Schüsse gehört, und wir stehen hier mit drei Toten.“ „Drei?“, fragte sie gedankenverloren. „Ich hab einen erledigt“, sagte Joshua. Seine haarigen Wangen waren tränenverschmiert. „Hab ich was falsch gemacht, Max?“
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Sie blickte den Mann an, der wie eine Bestie aussah, und die Erinnerung kam mit einem Schlag zurück. Der blutende, verwundete Joshua, der das Genick des Familiars gebrochen hatte. Nun kniete er neben ihr, als ob sie beide auf die heilige Kommunion warten würden. Joshua schien seine Wunde überhaupt nicht zu beachten, genauso wenig die Klinge des Messers, die in seiner Schulter steckte. „Bist du okay, Großer?“ Er schüttelte den Kopf. „Zu spät“, sagte er. Tränen schimmerten in seinen Augen. „Hätte der Kerl nicht machen sollen, Max.“ „Was...?“ „Einen opfern. Für das Team.“ Er konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten und weinte hemmungslos. Sie nahm die Hand vom Kopf des toten Jungen und streichelte Joshuas warmes, nasses Gesicht. Alec drückte leicht ihre Schulter. „Max!“ „Du hast Recht, Alec. Wir müssen verschwinden.“ Sie erhob sich. Ihre Selbstkontrolle kehrte zurück und damit eine Haltung, die nicht von Gefühlen, sondern von kaltem Verstand beherrscht war. Der Gedanke an das Ziel, das sie hatten, war stärker als je zuvor. Sie eilte in den Flur und sah die leblose Gestalt, der Joshua das Genick gebrochen hatte. Sie erkannte es an dem unnatürlichen Winkel, in dem der Kopf auf den Schultern hing. Die Augen des Mannes blickten durch die Strumpfmaske ins Leere. Sie beugte sich über die Leiche, ohne die überwältigende Trauer zu spüren, die sie beim Anblick des kleinen Ray empfunden hatte. Der Familiar trug den typischen TAC-Anzug. Noch bevor sie ihm die Strumpfmaske vom Gesicht zog, ahnte sie schon, was sie erwarten würde. Es war der blonde Wachmann, den sie auf dem Grundstück von Lyman Cale gesehen hatte.
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Otto. Oder war es Franz? Sie konnte sich nicht mehr erinnern. Und es spielte auch keine Rolle. Mit ziemlicher Sicherheit war sein dunkelhaariger Partner Franz – oder Otto – derjenige gewesen, der durch das Schlafzimmerfenster geflüchtet war. Reglos stand sie da. „Max, jetzt komm schon“, sagte Alec. „Wir müssen raus aus der Bude.“ „Halt die Klappe“, sagte sie. „Ich muss nachdenken.“ „Vielleicht könntest du das im Auto machen.“ „Alec, halt endlich die Klappe.“ Was zum Teufel war hier eigentlich los? Arbeiteten die Familiars für Lyman Cale? Der alte Knabe war doch nicht mehr als ein dahinvegetierendes Häufchen Elend. Für die Gesellschaft war er zwar noch sehr lebendig, dank der hervorragenden Videotechnik, aber in seinen eigenen vier Wänden war er nichts als eine Hülle, abhängig von lebensrettenden Maschinen. Tatsächlich konnte doch niemand mehr für ihn arbeiten. Das Sicherheitsteam – einschließlich der zwei Muskelprotze – war Lyman Cales Privatsekretär unterstellt, diesem aalglatten, ach so hilfreichen Franklin Bostock. War Bostock vielleicht die Schlüsselfigur? Das war durchaus möglich. Doch Alec hatte Recht. Sie hatten jetzt keine Zeit für all diese Fragen. Stattdessen mussten sie so schnell wie möglich verschwinden. In der Ferne heulten Sirenen auf, die immer lauter wurden. Es schien, als ob die Polizei schon im Voraus von dem tragischen Tod des Jungen erfahren hätte. „Wir kriegen Gesellschaft“, brummte Mole, der neben ihr stand. „Okay“, sagte Max. „Joshua, kannst du diesen Typen tragen?“
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Der Koloss sagte nichts, beugte sich hinunter, griff nach der Leiche und warf sie wie einen Sack Getreide über seine unverletzte Schulter. Seine Wunde schien er völlig vergessen zu haben. Alec riss die Augen auf, sein Mund klappte herunter wie eine Falltür. „Was zum Teufel...?“ „Mole“, sagte Max ernst. „Du nimmst den Jungen. Wickle ihn in ein weißes Betttuch.“ Mole fiel die Zigarre aus dem Mund. „Verarsch mich nicht! Was ist das für eine makabre Scheiße...?“ Max hämmerte mit zwei Fingern gegen die Brust des Eidechsenmannes. „Der Kleine ist tot. Als ich gesagt habe, dass wir ihn nicht gegen Logan eintauschen, habe ich den lebendigen Ray White gemeint. Dem armen Jungen wird es bestimmt nicht wehtun, wenn wir ihn mitnehmen.“ Alec sah sie entsetzt an und trat zu ihr. „Max, bist du jetzt komplett durchgeknallt? Dieser Plan ist mehr als beschissen!“ Sie schlug mit der Hand auf Alecs Schulter. „Du musst härter werden, mein Mädchen. Ames White will bestimmt einen Beweis von dem haben, was hier passiert ist. Dass es nämlich die Familiars gewesen sind, die ihn verraten haben, nicht wir.“ „Du meinst, der Junge... die Leiche... ist ein Beweis“, sagte Mole und hob seine Zigarre wieder auf. „Du hast verdammt Recht. Er ist ein Beweis!“, sagte Alec. Seine Augen flackerten wild, da die Sirenen immer lauter wurden. „Du willst zwei Leichen mitnehmen, im Kofferraum?“ „Das ist die Idee“, sagte Max. „Und wenn die Bullen uns anhalten?“, fragte Alec. „Wie willst du ihnen das erklären?“ „Ganz sachlich“, sagte sie. „Mole, Alec, entweder macht ihr mit oder ihr steigt aus. Wenn ihr nicht bereit seid, meinen Anweisungen zu folgen, und zwar genau jetzt, dann haut ab.“
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Alec schluckte und seufzte. Dann nickte er zustimmend. Mole war schon im Schlafzimmer verschwunden, um das kleine traurige Bündel zu holen. Und Max war nicht länger eine zutiefst verwirrte junge Frau, Joshua kein aufgelöster, zu groß geratener Teddybär. Die vier Transgenos waren jetzt wieder ein hochtrainiertes Kampfteam. Danke, Colonel Lydecker, für diesen kleinen Gefallen, dachte Max. Was auch immer die Familiars oder Ames White ihnen entgegenstellen würden, nichts konnte sie mehr aufhalten. Kurz darauf verließen sie das Haus der Gullivers mit den beiden Leichen, die nun im Kofferraum von Logans Wagen lagen, der Junge eingewickelt in ein weißes Betttuch. Mole, der hinter dem Steuer saß, hielt gewissenhaft die vorgeschriebene Geschwindigkeit ein, um nicht aufzufallen. Obwohl die Sirenen immer lauter wurden, hatten Max und ihre merkwürdigen Mannschaftskameraden bis jetzt allerdings noch kein Polizeiauto gesehen. Als sie den Stadtrand erreichten, ohne angehalten worden zu sein, gab Mole mehr Gas, fuhr aber nur ein paar Kilometer schneller als erlaubt. „Wohin?“, fragte er schließlich. „Oder kreuzen wir mit unseren Passagieren einfach nur in der Gegend herum, bis sie faul sind?“ „Three Tree Point“, sagte Max. Mole warf ihr einen Blick zu. Sie schaute ihn scharf an. „Stottere ich etwa?“ „Warum das, zum Teufel?“ „Wir müssen dort mit jemandem reden.“ Alec, der auf dem Rücksitz saß, lehnte sich vor. „Du meinst: mit jemandem von Lyman Cales Leuten, hab ich Recht?“ Sie drehte sich zu ihm. „Nicht schlecht, Alec.“ Mole starrte weiter auf die Straße. „Warum das?“, fragte er.
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Alec erklärte es ihm. „Es gibt nur den einen Grund, weshalb wir zum Three Tree Point müssen. Wir klauen dort ein Boot und düsen damit zur Villa vom alten Cale.“ Max lächelte grimmig. „Super, Alec. Du hast ja nicht nur ein hübsches Gesicht.“ „Und du hast tatsächlich einen Plan, der nicht beschissen ist“, sagte er und lächelte ebenfalls grimmig. Langsam kapierte auch Mole. „Also, ihr meint... der Typ im Kofferraum, der dringend einen Chiropraktiker braucht, ist einer von Cales Leuten?“ Sie nickte und erzählte ihnen schnell, was sie von ihm wusste. „Also“, sagte Mole. „Da Joshua den einen komischen Zwilling getötet hat und der andere uns durch die Lappen gegangen ist, werden sie doch wahrscheinlich schon auf uns warten.“ „Mit Handschellen“, sagte Max. Ein Grinsen kroch über Moles reptilienähnliches Gesicht. „Was glaubt ihr, wie dämlich die aus der Wäsche kucken, wenn wir ihnen einen Arschtritt verpassen.“ Außer Joshua lachten alle über Moles großspurige Worte. Max konnte nur hoffen, dass er Recht behalten würde. Sie hatte schon früher gegen die Familiars gekämpft und war überrascht gewesen, wie viel Schmerz sie ertragen konnten, ohne mit der Wimper zu zucken. Sie hatte erlebt, dass Ames White sich versehentlich selbst in den Arm geschossen hatte, ohne die geringste Reaktion zu zeigen. Zwei von ihnen hatten sich ihr entgegengestellt, als sie Ray das erste Mal befreite. Egal, wie hart sie gekämpft hatte, sie schienen noch nicht einmal Notiz davon zu nehmen. Zudem hatte sie keinen blassen Schimmer, wie viele der Sicherheitsleute auf Sunrise Island zu den Familiars gehörten. Die stämmigen Typen, Otto und Franz, waren offensichtlich Kandidaten für den Schlangenkult. Aber die Familiars sahen 167
nicht unbedingt immer wie hoch trainierte Exemplare aus, die frisch vom Bodybuilding kamen. White selbst war eher durchschnittlich gebaut und hatte Max im Kampf trotzdem eine Menge Schwierigkeiten gemacht. Zugegeben, sie und Joshua und all die anderen Transgenos hatten damals bei Jam Pony einen Sieg erzielt über Whites SWAT-Team, das ebenfalls aus Familiars bestand. Aber jeder Kampf gegen diese Idioten hatte sich zumindest als sehr mühsam erwiesen. Man musste sie entweder bewusstlos oder zum Krüppel schlagen. Oder sogar töten, um sie überhaupt stoppen zu können. Sie fragte sich, was sie und die anderen drei erreichen konnten, sollten die Familiars auf Lyman Cales Privatinsel ihnen tatsächlich zahlenmäßig überlegen sein. „Lasst uns irgendwo halten“, sagte sie schließlich, als sie merkte, dass sie die Stadt sicher hinter sich gelassen hatten. „Wir müssen Joshua zuerst zusammenflicken, bevor es weitergeht.“ „Joshua geht’s gut“, sagte Joshua, obwohl das Messer immer noch in seiner Schulter steckte. „Halt die Klappe, Joshua“, sagte Max. „Die Klappe halten?“ „Ja.“ „Okay, Max.“ „Gut.“ „Max?“ „Was ist, Joshua?“ „Bist du böse auf mich?“ „Nein, Joshua.“ „Weil du gesagt hast ,Halt die Klappe’. Und Joshua dachte...“ „Halt die Klappe, Joshua.“ „Ja, Max.“
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Mole, der über dem Steuer hing, sagte: „Ich kenne einen Platz, nicht weit von hier. Nett und ruhig.“ Max wollte gar nicht erst wissen, warum Mole sich zwischen Appleton und Seattle auskannte. Manchmal musste sie sich selbst wieder klar machen, dass die Transgenos nicht auf direktem Weg von Manticore in Terminal City gelandet waren. Nachdem sie den Highway verlassen hatten, bogen sie in eine zweispurige Straße ein und landeten etwa einen Kilometer später auf einem Feldweg. Mole blieb hinter einer Gruppe von Apfelbäumen stehen, die wegen der momentanen Kälteperiode nur noch wie Skelette aussahen. Aber zumindest waren die Stämme dick genug, um sie vor eventuellen Blicken vom Highway aus schützen zu können. Max half Joshua, sich zu setzen und lehnte ihn gegen einen der Bäume, während sie schnell eine Schiene für den Arm zusammenbastelte. „Mole, hast du dein Feuerzeug dabei?“, fragte sie. Er nickte. „Kann ich brauchen. Hast du auch ein Messer?“ Wieder nickte er. Alec schüttelte den Kopf und sah Mole an. „Und was ist, wenn sie dich nach einem Schinkensandwich fragt?“ „Woher willst du wissen, dass ich keins in der Hosentasche habe?“, fragte Mole den X5. „Manticore hatte das gleiche Motto wie die Pfadfinder, falls du dich erinnerst.“ Er hob drei Finger. „Mach dich bereit, Alec.“ Alec gab Mole sein Okay. „Du musst die Klinge erhitzen“, sagte Max. „Wenn ich das Messer rausgezogen habe, werde ich die Wunde ausbrennen.“ Alec grinste. „Du kannst aus Manticore verschwinden, aber Manticore verschwindet nie aus dir.“ Joshua sah sie ein bisschen zweifelnd an. Er lehnte am Apfelbaum, und sein Hundegesicht schimmerte fast wie Elfenbein im Schein des Mondes. Langsam schien es ein wenig wärmer zu werden. Vorsichtig hielt Mole die Klinge des 169
Messers in die Flamme. Max sah, dass Joshua sie anstarrte und dass seine Augen mit jeder Sekunde größer wurden. Als die Klinge schließlich rot aufglühte, fing Max an. „Bist du bereit, Großer?“, fragte sie Joshua. Er schluckte. „Bin bereit, Kleines.“ Max zog das Messer vorsichtig aus seiner Schulter. Joshua heulte Mitleid erregend auf, seine Augen waren weit aufgerissen, und er schüttelte unweigerlich den Kopf, als Max das Messer fallen ließ und die erhitzte Klinge von Mole entgegennahm. Joshuas Augen klebten an dem glühenden Stahl, und er wimmerte wie ein kleiner Hund. „He“, sagte sie. „Wer liebt dich?“ „D... d... du?“ „Ganz genau, Großer.“ „Joshua liebt Max auch, Kleines.“ Er schaute sie an. Sie grinste, und er grinste zurück. Als sie die heiße Klinge gegen seine Wunde presste, heulte er auf wie ein Werwolf. Sein Schrei, der aus seinem tiefsten Inneren gekommen war, erinnerte Max an Joshuas Bruder Isaac und dessen Gebrüll, das er in seiner mörderischen Wut bei seinem Todeskampf ausgestoßen hatte. Ein leichter Schauer lief ihr über den Rücken, als ihr klar wurde, dass Joshuas Schrei beinahe genauso geklungen hatte wie der seines Bruders. Sie zog das Messer zurück, hielt Moles Feuerzeug hoch und betrachtete die Wunde. „Sieht gut aus“, sagte sie. Joshua runzelte die Stirn. Er schien nicht überzeugt zu sein. „Max hat Joshua wehgetan.“ „Das musste Max tun, zu deinem eigenen Besten, Großer. Jetzt ist alles vorbei. Ruh dich ein bisschen aus. Ich bin in deiner Nähe.“ Vorsichtig schielte er zu dem Messer, als sie es Mole zurückgab. 170
„Ruh dich aus, habe ich gesagt“, sagte sie streng. Sie ließen den schlafenden Joshua am Baum zurück und setzten sich ein paar Meter von ihm entfernt auf den Boden, um ihn nicht zu stören. Max schaute auf zu den abermillionen Sternen. Der Himmel sah hier draußen irgendwie anders aus. Sie erkannte mehr Sterne, der Mond schien heller und sie erinnerte sich an die Nacht, als zwölf von ihnen aus Manticore geflohen waren. Sie hatten seitdem einen langen Weg zurückgelegt, mit dem einzigen Ziel, eine Heimat zu finden, um sich dort endlich niederlassen zu können. Klar, Terminal City war nun ihre Heimat, aber jetzt, da sie hier draußen erneut auf der Flucht waren, musste sie daran denken, wie beengend die Stadt für sie geworden war. Mole zog eine Automatik mit Schalldämpfer aus seinem Hosengürtel und legte sie vor sich hin. „Wo hast du das Ding denn her?“, fragte Max. Alec grinste. „Willst du das wirklich wissen?“ Mole wies mit dem Kopf Richtung Appleton. „Aus dem Haus der Gullivers. Gehörte unserem Fahrgast ohne Nacken.“ Max verabscheute Waffen. Das wussten alle, aber sie war auch clever und pragmatisch genug, um zu wissen, dass ein bisschen zündende Verstärkung heute Nacht einen Unterschied machen konnte. Und wenn Mole sich eben für diesen Weg entschieden hatte, würde sie nicht das Recht haben, ihn zu stoppen. Vor allem deswegen nicht, weil er und auch die anderen ihr widerspruchslos durch die Hölle folgen wollten. „Bei dem, was wir vorhaben“, sagte Mole entschuldigend, „kommt uns die Knarre doch gut gelegen, dachte ich.“ Sie nickte und schaute zur Seite. „Kommst du klar damit?“ „Nein.“ „Soll ich dir die Waffe rüberwerfen?“ „Tu, was du nicht lassen kannst.“ 171
„Ich frag ja nicht gerne“, sagte Alec. „Aber wie genau sieht dein Plan jetzt aus?“ Mole grinste. „Schritt eins: Ärsche finden. Schritt zwei: Arschtritt.“ „Max“, sagte Alec. „Ist das dein Plan?“ Moles Zigarre ragte drohend aus seinem Mund heraus. „Welchen Teil hast du nicht kapiert?“, fragte er. „Schritt eins oder Schritt zwei?“ „Es geht hier nicht um Rache“, warf Max ein. „Es geht um Kidnapping.“ Alec hatte offenbar immer noch nicht verstanden. „Du meinst Logans Kidnapping?“ „Nein. Diesmal sind wir die Kidnapper.“ Alec hob eine Augenbraue. „Okay, das unterscheidet sich zumindest von deiner letzten Anweisung, Leichen zu klauen.“ Max überhörte seine Bemerkung. „Unser Ziel ist Lyman Cales Haushofmeister, Franklin Bostock. Er ist die Schlüsselfigur. Nichts passiert auf Sunrise Island ohne seine Genehmigung. Daraus können wir schließen, dass er entweder ein Familiar ist oder dass sie ihn in der Tasche haben. Er hat sehr wahrscheinlich diese zwei Ärsche vom Schlangenkult losgeschickt, um den Jungen zu töten.“ „Und seine Mutter“, sagte Alec. Max schüttelte den Kopf. „Die Mutter war nur ein Kollateralschaden für die Typen.“ „Du willst also andeuten, dass wir diesen Bostock nicht kaltstellen sollen?“, sagte Mole. „Bingo“, sagte Max. „Wir brauchen diesen Dreckskerl lebend.“ „Meinst du wirklich?“, fragte Alec. „Wir schaukeln doch bereits zwei Steifgewordene durch die Gegend, da kommt’s auf einen mehr oder weniger auch nicht mehr an, oder?“ Max wusste nicht, ob sie irritiert oder amüsiert sein sollte über Alecs Vorschlag. Der X5, der bisher allen 172
Schwierigkeiten aus dem Weg gegangen war und überall nach einem Rettungsanker gesucht hatte, war plötzlich der Draufgänger der Gruppe. Sie wollte ihm schon einen wohl wollenden Tritt in den Hintern verpassen, als ihr Handy in der Tasche klingelte. Sie zog es heraus und drückte auf den Knopf. „Wer will was von Max?“ „Hast du meinen Sohn?“ Ames White. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken, wie immer, wenn sie diese Stimme hörte. „Wir arbeiten dran“, sagte sie. „Wir wissen, wo er ist.“ „Die Zeit läuft, 452. Nur noch zwei Tage. Ich hoffe, du tust das Richtige. Kann ich davon ausgehen?“ „Ich tue mein Bestes.“ „Kein falsches Spiel? Warum denke ich dann trotzdem, dass du meinen Sohn bereits hast?“ „Ich spiele nicht falsch. Aber ich verspreche Ihnen, dass wir Ihnen den Jungen liefern.“ Irgendwie machte es sie krank, den Vater des Jungen anzulügen, auch wenn es sich dabei um Ames White handelte. Doch es war eigentlich keine richtige Lüge, wie Original Cindy gesagt hatte. Sie verschwieg nur die Wahrheit. Also war es eine Unterlassungssünde und keine vorsätzliche. „Ich will, dass Ray am Weihnachtsmorgen in einer ganz neuen Welt aufwacht“, fuhr White fort und seine Stimme klang für sie zuversichtlich. „Sorge dafür, 452, und dein Freund Logan wird vielleicht auch leben, um das neue Jahr begrüßen zu können, die neue Welt. Dann können wir alle Differenzen, die jemals zwischen uns bestanden haben, hinter uns lassen.“ Was zum Teufel meinte er damit, wenn er von einer ganz neuen Welt sprach? „Ich arbeite mit Ihnen zusammen, White. Damit es in Erfüllung geht.“ 173
„Ich hoffe, dass du das tust. Und mach keinen Fehler, 452. Dein Freund zählt auf dich.“ „Lassen Sie mich mit ihm sprechen.“ White lachte freudlos auf. „Das werde ich, wenn du mich mit meinem Sohn sprechen lässt.“ „Das geht im Moment nicht.“ „Also sitzen wir im selben Boot, habe ich Recht? Nun, dann...“ Saßen sie tatsächlich im selben Boot? War Logan tot – so wie Ray White? „Wenn ich nicht mit Logan sprechen kann“, sagte sie, „gibt es keinen Austausch.“ „Du glaubst tatsächlich, dass du mit mir verhandeln kannst, 452? Nun, ich muss schon sagen, dass ich deine Zuversicht bewundere, trotz all unserer Differenzen. Du hast eine gewisse... Persönlichkeit.“ „Man tut, was man kann, als Frau.“ „Wie wär’s denn damit, 452? Ob du es magst oder nicht, wir sollten beide ein kleines bisschen Vertrauen haben.“ „Vertrauen?“ „Eine Eigenschaft, die wir wahrscheinlich beide nicht im Überfluss haben. Aber in dieser Situation wäre es durchaus angebracht. Im Klartext: Du hältst deine Vereinbarung ein und ich meine.“ „Ich habe nicht den Eindruck, dass ich Ihnen glauben kann. Wie kommt das nur?“ „Wie ich schon sagte, hier ist Vertrauen angebracht.“ Damit beendete er das Gespräch. Sie starrte das Handy lange an und musste sich zurückhalten, es nicht gegen den Baum zu schleudern. „Um was ging’s denn da?“, fragte Alec. „Ach, das war nur Ames White, der mich vollgequatscht hat“, sagte sie. „Gibt’s sonst noch was Neues?“ „Weiß er über Ray Bescheid?“ 174
„Glaube ich nicht. Aber es könnte möglich sein, bei diesem teuflischen Bastard White. Er will seinen Sohn tatsächlich zurückhaben. Vielleicht liebt er ihn sogar, auf seine krankhafte Art.“ „Ich an seiner Stelle würde nicht viel wissen über elterliche Liebe“, sagte Alec. „Ist auch schwer zu vereinbaren mit einem Reagenzglas.“ „Ich weiß, was du meinst“, sagte sie. „Aber mein Bauch sagt, dass auch White bei dieser Geschichte ein Opfer ist. Schließlich ist sein Sohn ermordet worden. Und wenn es sich auch noch so schrecklich anhört: Es könnte zu unserem Vorteil sein.“ Mole kaute auf seiner Zigarre herum und runzelte die Stirn. „Wie zum Teufel...?“ „Wenn wir White davon überzeugen können, dass die Familiars seinen Sohn getötet und ihn verraten haben, wird er in unserer Sache vielleicht die Luft ablassen, uns Logan übergeben und sich gegen den Schlangenkult stellen.“ Alec lachte schnaubend. „Oh, ja. Das wäre ein netter Bonus. Wir kriegen Logan zurück und obendrein wird noch gleich der Schlangenkult erledigt.“ „War nur so eine Idee. Schließlich ist er verraten worden, und ich glaube nicht, dass er das weiß. White denkt, dass wir Ray noch nicht haben und er hat keine Ahnung, dass sein Sohn schon tot ist. Falls White allerdings herausfindet, dass der Junge umgebracht wurde, bevor wir ihn von unserer Unschuld überzeugen können...“ Das grimmige Nicken von Alec und Mole vollendete ihren Satz. Sie erhoben sich. Mole steckte die Waffe zurück in den Gürtel, und Alec und Max halfen dem noch immer ein wenig benommenen Joshua ins Auto. Dann rasten sie Richtung Seattle, und Max versuchte, nicht an die zwei Leichen im Kofferraum zu denken. 175
Am Three Tree Point – Sicherheitsvorkehrungen waren hier das Letzte, auf das man sich gefasst machen musste – verhalfen sie sich selbst zu einem Motorboot. Max dachte, dass es möglicherweise das gleiche Boot war, das sie sich bei ihrem ersten Trip zur Sunrise Island „ausgeliehen“ hatte. Das Auto mit den Leichen hatten sie in einer schummrigen Ecke auf dem Parkplatz abgestellt. Die Dunkelheit würde ihnen zwar noch eine Weile Schutz bieten, aber sie würden – wie der Name der Insel schon sagte – genau dann ankommen, wenn die Sonne über den Horizont schielte. Max war zwar überhaupt nicht begeistert von dieser Vorstellung, aber es ließ sich nichts daran ändern. Als sie über den Puget Sound rasten, legte sie ihren Plan dar, wie sie auf der Insel vorgehen würden. Keiner aus ihrem Team hinterfragte ihre Strategie. Es gab keine Zweifel, keine dummen Bemerkungen. Die Kommandotruppe war bereit, ihrer Anführerin zu dienen. Auch diesmal legten sie das letzte Stück in einem Schlauchboot zurück und erreichten die Insel genau in dem Moment, als der Himmel im Osten rot aufleuchtete. Max war ein wenig überrascht, dass niemand sie am Strand erwartete. Mit Handzeichen gaben sie sich zu verstehen, dass sie sich jeweils zu zweit von verschiedenen Seiten dem Haus nähern wollten. Wie üblich bildete Joshua mit Max ein Team. Sie wandten sich nach links, während Mole und Alec nach rechts verschwanden. Max wusste, dass das Sicherheitsteam mindestens aus zwanzig Männern bestand, und sie hoffte, dass tatsächlich nur eine Hand voll davon zu den Familiars gehörten. Zwanzig Normale würden es kaum schaffen, den beiden Transgeno-Teams auch nur eine Schweißperle herauszulocken. Würden jedoch Familiars auf sie warten, wäre das eine andere Geschichte gewesen...
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Sie erinnerte sich wieder an den brutalen Kampf gegen Whites SWAT-Team bei Jam Pony, und sie schüttelte den Kopf. Mit zwanzig Familiars würden vier Transgenos nicht fertig werden. Als sie durch den Wald liefen, drehte sie sich kurz zu Joshua um, um sich zu beruhigen. Der Große hielt seine Nase in die Luft und schnüffelte. Er deutete nach vorne und dann nach links. Schließlich hielt er drei Finger hoch. Kaum hatte er die Hand gehoben, tauchten drei Wachen von Cale in ihren schwarzen TAC-Anzügen auf, versperrten ihnen den Weg und hielten ihnen ihre automatischen Waffen vor die Nase. Hunde gab es heute allerdings keine – außer Joshua, natürlich. Max sah, dass die drei ziemlich dick waren und das deutete darauf hin, dass sie wohl Normale waren. Instinktiv durchschaute sie mit einem Schlag Bostocks Plan. Die Normalen würden die Vorhut bilden, während die Familiars im Hintergrund lauerten und ihren Anführer und seinen Schatz bewachten, den wertvollen Lyman Cale. Wie abgesprochen hoben Max und Joshua die Hände, als wollten sie sich ergeben. Fast unmerklich entspannten sich ihre Eroberer ein wenig. In der gleichen Sekunde sprang Max vor und entwaffnete die drei, bevor sie den Abzug betätigen und schießen konnten. Sie schleuderte die Waffen in den Wald, wo sie krachend gegen ein paar Äste schlugen. Gleichzeitig sprintete Joshua vor, donnerte zwei Schädel gegeneinander, während Max den Dritten mit einem Schlag gegen den Kopf erledigte. Der Kerl war zwar nicht tot, würde aber beim Aufwachen wahrscheinlich einen schlimmeren Kater haben, als wenn er sich hätte voll laufen lassen. Dann stürmten die beiden Transgenos weiter.
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Auf der anderen Seite der Insel standen Mole und Alec der gleichen Herausforderung gegenüber. Mole hatte die drei Wachmänner früh genug ausgemacht, um Alec signalisieren zu können, das Trio zu umrunden und von hinten anzugreifen. Sein Plan funktionierte bestens, und die drei Typen lagen geschlagen am Boden, bevor sie überhaupt merkten, dass sie angegriffen worden waren. Das Beste an der Sache war jedoch für Mole, dass er und Alec nun zwei HK53-Maschinenpistolen hatten. Sie würden sich so lange wie möglich ruhig verhalten, doch Mole erwartete, dass sie irgendwann noch größeren Ärger bekommen würden. Bis jetzt bestand allerdings noch kein Grund, sein überhebliches Zigarrengetue abzulegen. „Und Max hat sich wegen dieser Flaschen Sorgen gemacht“, sagte er leise zu Alec, um niemanden auf sich aufmerksam zu machen. Alec zuckte mit den Schultern. „Sie ist eben eine Frau. Die machen sich ständig Sorgen.“ Sie hasteten weiter durch den Wald und hatten etwa zweihundert Meter zurückgelegt, als fünf weitere Wachmänner sie umzingelten. „Ich dachte, du hast nach hinten abgesichert“, sagte Mole. „Dachte ich auch“, erwiderte Alec. Einer der Männer trat vor und sagte: „Die Waffen runter... langsam... vorsichtig.“ So viel zu den Maschinenpistolen, die sie kurz zuvor abgestaubt hatten. Beide gingen in die Knie, um ihre HK53 auf den Boden zu legen. Dann schnellten sie gleichzeitig hoch. Mole verpasste dem Ersten, der den Befehl gegeben hatte, einen Tritt, dann knöpfte er sich den Typen links vor, sprang und knallte ihm die Schulter in den Bauch. Der Typ stieß einen langen Seufzer, bis seine Lungen keine Luft mehr hergaben. Beide Wachmänner purzelten ins Gras. Mole rollte sich zur 178
Seite und sprang gerade auf, als die Waffe des Anführers zweimal krachte. Mole wich nach rechts aus und spürte, dass eine Kugel seine linke Seite streifte, die andere Kugel erwischte den Mann an der Stirn, den er eben zu Boden geschickt hatte. Unglücklicherweise hatte er sich gerade aufgesetzt. Die Kugel würde mit Sicherheit einen Fleck hinterlassen. Mole wirbelte zur anderen Seite herum, sprang und verpasste dem Kerl einen bösartigen Tritt, so dass ihm die Maschinenpistole aus der Hand fiel. Aus einem Augenwinkel sah Mole, dass Alec gerade aufsprang und den Wachen links und rechts von ihm einen gezielten Tritt mitten ins Gesicht verpasste. Drei waren erledigt, also blieben noch zwei übrig. Jetzt trat der Anführer vor und lieferte eine kurze Gerade, gefolgt von einem Schlag von oben, der Mole durchschüttelte. Der Eidechsenmann stolperte nach hinten, und der Typ trat ihm gegen den Solarplexus, so dass ihm für einen Augenblick die Luft wegblieb. Benommen sackte er zu Boden und krachte gegen einen Baumstumpf. Mole kämpfte damit, sein Bewusstsein nicht zu verlieren, rappelte sich auf und rechnete damit, dass der Kerl sofort wieder zuschlagen würde. Doch nichts passierte. Langsam sah er wieder klarer und entdeckte, dass Alec – der den vierten Wachmann erledigt hatte – bei dem Anführer einen Doppelnelson ansetzte. Mole wollte sich gerade aufstellen, als der Wachmann sich auf die Knie fallen ließ und Alec mit Schwung über sich warf. Er donnerte gegen Mole und beide gingen zu Boden. Die Transgenos waren gleichzeitig wieder auf den Füßen und sahen, dass der Anführer zu der Maschinenpistole krabbelte, die Mole ihm aus der Hand geschlagen hatte. Sie sprinteten los,
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packten ihn links und rechts an den Armen und rasten mit ihm zu einer großen Eiche. Der Typ krachte heftig gegen den Baum, seine Arme fielen herab, als hätte ihn seine Kraft plötzlich verlassen. Einen Moment sah er den Baum an, als wäre er eine Tür, die ihm ins Gesicht geschlagen war. Dann kippte er rückwärts nach hinten. Sein Gesicht war voller Blut, der Mund stand offen und zeigte, dass ein paar seiner Zähne gebrochen waren. Wahrscheinlich war der Typ noch nicht tot, aber auf jeden Fall war er aus dem Rennen. „Bist du okay?“, fragte Alec. Mole sah an seiner linken Seite herunter, die schwarz war vor Dreck. „Hab mich noch nie besser gefühlt“, sagte er, denn er wollte seinem Freund nicht verraten, dass ihn seine Verletzung höllisch schmerzte. „Lass uns abdüsen, wie Max immer sagt“, meinte Alec. Und sie machten sich aus dem Staub. Max zuckte erschrocken zusammen, als sie die Schüsse hörte, die von der anderen Seite der Insel kamen. Sie konnte nur hoffen, dass Alec und Mole in Sicherheit waren. Doch als Soldat durfte sie sich nicht länger den Kopf darüber zerbrechen. Rechts tauchte jetzt eine Fünf-MannPatrouille auf. Die Männer waren nur noch etwa dreißig Meter von ihr entfernt und hoben ihre Waffen. „Gewehre!“, schrie sie. „Verschwinde!“ Max rannte im Zickzackkurs weiter und hörte, wie Joshua hinter ihr durch den Wald fegte. Kugeln summten hinter ihr herum, donnerten gegen die Äste, krachten mit dumpfem Aufprall gegen die Bäume und machten einen solchen Lärm, dass die fünf Maschinenpistolen sich wie hundert anhörten. Max und Joshua rannten um ihr Leben. Sie gaben alles, was sie hatten, wichen aus, tauchten unter Gebüsch durch, schlängelten sich um hohe Bäume herum, während die Wachen 180
sie verfolgten und das Sperrfeuer aufrecht erhielten. Nur ihre hochfrisierten Fähigkeiten bewahrten die zwei Transgenos davor, abgeknallt zu werden, doch Max fragte sich, wie lange sie noch durchhalten würden. Plötzlich hörte sie einen dumpfen Aufprall. Max drehte sich um, aber sie hatte Joshua aus dem Blick verloren, als sie den Kugeln ausgewichen war, die immer noch um sie herumflogen. Sie rollte sich nach rechts und sah jetzt, dass Joshua einen der Wachmänner wie einen Fußball durch die Luft warf. Der Mann krachte gegen einen Baum und sackte zu Boden. Max sprang auf die Füße und stürzte auf einen der Männer zu. Er war so verblüfft, als sie hochsprang und ihren Stiefel direkt in sein Gesicht platzierte, dass er vergaß, auf sie zu schießen. Blut spritzte aus seiner gebrochenen Nase, und er ging bewusstlos zu Boden. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Joshua gerade noch einen Typen gegen einen Baum schleuderte. Drei waren also erledigt. Jetzt feuerte der Nächste auf sie, doch die Kugeln flogen rechts an ihr vorbei, da sie instinktiv nach links ausgewichen war. Sie schoss wie eine Rakete in die Luft, machte einen Salto und landete vor den Füßen des vierten Wachmannes. Der konnte nur noch vor Schreck zusammenzucken, bevor sie ihm eine Rechte verpasste und ihn damit endgültig kaltstellte. Sie sah sich nach Joshua um und fand ihn schließlich. Ihr stockte der Atem, als sie sah, dass der letzte Wachmann sich Joshua näherte und ihn mit seiner Waffe anvisierte. Max schrie, um Joshua zu warnen, doch es war zu spät. Der Typ drückte den Abzug und feuerte ab. Joshua sah sie für einen kurzen Augenblick an, doch der genügte, um ihr all das zu zeigen, was er in diesem Augenblick empfand: Liebe, Überraschung, Vergebung, Dankbarkeit... Dann schlug die Kugel in die Brust dieses sanften Riesen ein und Joshua taumelte nach hinten, die Arme nach oben gerissen, 181
die Augen vor Schreck geweitet. Er riss den Mund auf, doch kein Schrei kam über seine Lippen. Dann sackte er ins Unterholz. Im nächsten Augenblick drehte sich der Schütze in die Richtung, aus der Max’ Schrei gekommen war. Sie rollte hinter einen Baum, rasend vor Wut, denn kein Soldat würde einem anderen jemals vergeben, seine Pflicht getan zu haben. Dann sprintete sie vorwärts im Zickzackkurs, so dass der Schütze sie nur noch verschwommen wie einen Geist wahrnehmen konnte und sie daher jedes Mal verfehlte, obwohl er seine ganze Ladung auf sie abfeuerte. Als keine Kugel mehr im Magazin war, fegte sie ihm die Beine weg und schickte ihn zu Boden. Er versuchte, wieder auf die Füße zu kommen, doch Max erwischte ihn mit einer geraden Rechten, die ihn zwar taumeln ließ, doch ihn nicht verletzte. Ein Familiar. „Gut“, sagte sie und schenkte ihm ein böses Lächeln. „Wollen wir doch mal sehen, wo eure Schmerzgrenze ist.“ Er war mindestens einen Kopf größer als Max, sicher dreißig Kilogramm schwerer und gemessen an den Muskelpaketen, die sich unter seinem Kampfanzug abzeichneten, war er wahrscheinlich auch stärker als sie. Der Mann knurrte wütend, aber der Stiefel, den sie gegen seine Brust knallte, brachte ihn zum Schweigen. Er taumelte zurück, stürzte dann aber wieder in seiner vollen Größe auf sie zu, die ihm eigentlich einen Vorteil hätte verschaffen müssen. Doch Max donnerte ihm den Ellbogen gegen den Kopf und als er sich drehte, sprang sie und brach ihm mit dem Fuß die Nase. Er war jetzt außer sich und griff erneut an. Diesmal blieb sie stehen, und als er sich auf sie stürzte, ging Max schnell in die Knie und ließ sich fallen. Als der Wachmann über sie flog, verpasste sie ihm einen Aufwärtshaken gegen die Kehle. Ausgestreckt landete er auf dem Waldboden, rollte sich ab und versuchte aufzustehen. 182
Offensichtlich hatte er keine Kraft mehr. Blut tropfte aus seiner gebrochenen Nase und er rang nach Luft. Als er sich aufsetzte, verpasste Max ihm drei schnelle Schläge, die ihn nach hinten warfen. Er war völlig benommen, hob aber trotzdem den Kopf. Doch Max hatte endlich genug von diesem Spiel und beschloss, diesen verdammten Anhänger des Schlangenkults nicht länger leiden zu lassen. Sie nahm seinen Schädel in die Hände, drehte ihn einmal um und brach sein Genick wie eine Selleriestaude. Schließlich ließ sie den Kopf los und die schlaffe, leblose Gestalt sackte zu Boden. Dann rannte sie los und fand Joshua etwa zehn Meter entfernt ausgestreckt auf dem Boden. Seine Augen waren geschlossen und er atmete kaum noch. Sie kniete sich neben ihn und zwang sich schließlich dazu, die Wunde in seiner Brust anzuschauen. Vorsichtig berührte sie seine Jacke und war überrascht, dass kein Blut daran zu entdecken war. Sie wollte gerade die Jacke zur Seite schlagen, um die Wunde zu untersuchen, als Joshua leise aufstöhnte. Langsam öffnete er die Augen, blinzelte ein paar Mal und sagte mit erstickter Stimme, die kaum mehr als ein Flüstern war: „Was ist passiert, Kleines?“ „Eine Kugel hat dich erwischt, Großer.“ „Einer für das Team?“ „Ich fürchte... ja.“ Joshua schluckte hart. „Ist so... kalt.“ Sie zog ihre Lederweste aus und bedeckte ihn damit, so gut es ging. Er stöhnte, und es klang beinahe wie ein tödlicher Schrei. „Hast du Schmerzen?“ „Schmerzen“, wiederholte er. „Als ob mich jemand geschlagen hat, ganz schrecklich.“ Seine Hand ging zu seiner Brust, und sie versuchte, sie wegzunehmen, aber er war stärker. Er schob sie unter seine 183
Jacke und zog etwas Rotes heraus. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte Max die Vorstellung, dass er sein eigenes Herz in der Hand hielt. Aber das, was in seiner klauenähnlichen Pranke steckte, war ein Buch... ... die Hardcover-Ausgabe von Gullivers Reisen. Das gleiche Buch, das ihr geholfen hatte, Ray White in Appleton zu finden. Langsam setzte Joshua sich auf und schaute auf das blutverschmierte Buch mit dem Einschussloch. Als er die Seiten durchblätterte, fiel die Kugel heraus. „Bist du böse, Max?“, fragte er. „Böse?“ „Joshua hat Vaters Buch kaputtgemacht.“ Max war erfüllt von Erleichterung, nahm ihren riesigen Freund in die Arme und drückte ihn an sich. „Autsch!“, stöhnte er. „Oh, hat’s wehgetan?“, fragte sie, nahm sein Gesicht in die Hände und gab ihm einen dicken, nassen Kuss. Diesmal sagte er nichts und als sie ihn wieder losließ, grinste er über das ganze Gesicht. Seine Augen wirkten glasig und er schwankte einen Moment. Dann kippte er um. „Großer“, sagte sie und schüttelte ihn. Doch er war tot für die Welt um ihn herum, aber Gott sei Dank nicht wirklich tot. Es gab noch so viel zu tun, und nun musste sie auch noch diesen Hundejungen mit seinen hundert oder hundertfünfzig Kilo durch den Wald schleppen. Aber zum Teufel, das war immer noch besser, als ihn tot hier zurücklassen zu müssen.
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9. Kapitel__________________________ DER NEUE MESSIAS Seattle, Washington 23. Dezember 2021 Mole und Alec hatten sich etwa zwanzig Meter von der westlichen Seite des Gebäudes entfernt im Wald versteckt. Zwischen ihnen und dem Haus lag nur noch der tiefblaue Schatten, den das Gebäude auf den Rasen warf, ein letztes Zeichen der Nacht. Denn vor zehn Minuten war auf der anderen Seite des massiven Hauses, das still dalag wie ein Mausoleum, die Sonne aufgegangen und kündigte den Morgen an. Trotzdem spürten sie noch die empfindliche Kälte, als sie nun wie übergroße Zwerge am Stamm einer Eiche kauerten. „Wo sind sie?“, fragte Mole ungeduldig. „Was glaubst du? Sollten wir nachsehen, was mit ihnen los ist?“ „Wir machen das, was Max gesagt hat“, erwiderte Alec. „Nämlich warten.“ „Na so was, plötzlich hältst du dich an die Regeln.“ Alec schenkte ihm sein typisches Grinsen. „Was kann ich dafür, wenn du keine Zigarren mehr hast?“ Mole schwieg und blickte ihn nur finster an. Jetzt lächelte Alec. „Entspann dich, Kumpel. Sie werden gleich da sein.“ „Aber sie müssen doch die Schüsse gehört haben.“ „Ja, und wir haben auch Schüsse gehört, falls du dich erinnern kannst. Vielleicht hatten sie eine kleine Auseinandersetzung.“ „Möglicherweise hat man sie kaltgestellt.“ „Vielleicht. Aber wir warten trotzdem.“
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Mole seufzte schwer. „Okay, aber mit einer verdammten Zigarre wäre es einfacher.“ „Für mich wäre das Leben auch einfacher, wenn du deine verdammte Zigarre hättest. Aber denk dran, wenn man deinen Qualm sieht, wird sofort jeder Idiot aufgescheucht und trabt mit seinem Schießeisen an.“ „Ja, ja, ja. Das ist doch reinste akademische Diskussion, du Klugscheißer.“ Plötzlich hörten sie eine sehr vertraute Stimme: „Warum versucht ihr beiden es nicht als Heiratsvermittler?“ Mole wirbelte herum und sah Max, die zwischen den Bäumen auftauchte. Sie hatte einen Arm um Joshuas Hüfte gelegt und führte ihn, als sei er betrunken. Alec kam das Lächeln auf dem Gesicht des Kolosses noch ein bisschen verblüffter vor als sonst. Und es war völlig unpassend, bedachte man die Situation, in der sie sich befanden. „Was ist los mit unserem Pelztierchen?“, fragte Mole. „Er ist angeschossen worden“, sagte sie. „Wie bitte? Scheiße...“ Mole sprang auf. „Du meinst, er ist niedergestochen worden“, sagte Alec stirnrunzelnd und stand ebenfalls auf. „Wir haben es alle gesehen, Max.“ Sie half dem bestienähnlichen Koloss weiter. „Das war vorher... und das andere jetzt eben. Aber er ist okay.“ Mole half ihr, Joshua zu dem Baum zu bringen, und sie setzten ihn am Boden ab. „Wo hat er sich das denn eingefangen?“, fragte der Eidechsenmann. „In vorderster Front“, sagte sie und klärte die anderen schnell auf. „Er hat die Kugel voll abgekriegt und ist ziemlich durchgeschüttelt worden.“ Jetzt schaute Joshua auf. „Max hat Joshuas Aua geküsst.“ Er grinste.
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Alec und Mole zogen die Augenbrauen hoch und sahen sich an. Dann meinte Alec: „Ich will es besser nicht so genau wissen.“ Mole grinste amüsiert, beugte sich vor und sagte zu Max: „Ich bin auch angeschossen worden...“ Er spitzte seine Eidechsenlippen, soweit man solche Lippen überhaupt spitzen kann. „Wenn du willst... lass mal sehen“, sagte Max. Mole zeigte ihr die Stelle an seiner Weste und seiner Seite, an der die Kugel vorbeigestreift war. Die Blutung hatte schon aufgehört. „Kümmert euch um euren eigenen Mist“, sagte sie. „Ich hab auch Kratzer, wenn ich mir die Beine rasiere.“ Alec und Mole dachten einen Tick zu lange darüber nach, und so schob Max bissig hinterher: „Können wir jetzt endlich zum Wesentlichen zurückkommen?“ Alec deutete zu dem Gebäude, das hinter den Bäumen aufragte. „Ich weiß Bescheid über deine Geschichte als Einbrecherin und all das Zeug mit den Katzengenen, aber wie willst du in dieses Puppenhaus reinkommen?“ Das dreistöckige Gebäude mit der Hecke davor wirkte wie ein unbezwingbarer Gegner. In jedem Stockwerk gab es mindestens drei Fenster an allen Seiten... „Die Fenster“, sagte Max. „Was ist damit?“ fragte Alec. „Wir gehen durch ein Fenster rein.“ Der X5 runzelte die Stirn. „Sollten wir nicht vorher versuchen, das Alarmsystem auszuschalten? Diese Dinger sind noch schärfer als Sketchy am Samstagabend. Nicht sehr scharfsinnig von dir, Max.“ „Das sagt ausgerechnet der Typ, der auf dem Weg hierher diese ganze verdammte Insel abschießen wollte.“
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Alec sah verletzt aus. „Die anderen haben angefangen. Egal, jedenfalls hab ich von eurer Seite ein paar mehr Schüsse gehört.“ Sie hob eine Augenbraue und stemmte eine Faust in die Hüfte. „Hast du etwa Angst, dass der Alarm ihnen erst bewusst macht, dass wir da sind?“ Alec grinste freudlos. „Na ja, vielleicht haben sie das bereits gemerkt, durch die Schüsse.“ Mole räusperte sich. Beide drehten sich um und sahen ihn an. „Hat irgendjemand eine Zigarre?“, fragte er. „Nein“, sagte Max. „Natürlich nicht“, sagte Alec. „Nein“, sagte Joshua, der plötzlich neben ihnen stand. Mole deutete mit einem spöttischen Grinsen eine huldvolle Verbeugung an, nach dem Motto „Bitte nach Ihnen“. Dann meinte er: „Könnten wir diese Scheiße endlich erledigen, bitte? Damit ich zurück kann in die Zivilisation und meinen verdammten Tabak kriege?“ Sie krachten aus verschiedenen Richtungen durch die Fenster im Erdgeschoss, indem sie mit den behandschuhten Händen ein Loch in die Scheiben schlugen und die Fenster öffneten. Dann sprangen sie ins Haus, bereit loszuschlagen. Obwohl sie keinen Alarm hörten, hätte es möglich sein können, dass sie von irgendeinem Sicherheitssystem registriert worden waren. Max hatte den verletzten Joshua damit beauftragt, zur westlichen Seite des Gebäudes zu gehen und durch das Fenster einzudringen, das vermutlich zum Arbeitszimmer führte. Alec ging zur östlichen Seite und brach durch das Fenster zum Speisezimmer. Mole platzte an der Rückseite zur Küche hinein, während Max sich vorne das Wohnzimmer vornahm. Wenn du eine Party auffliegen lässt, dachte Max, dann richtig... Zwei Wachen erwarteten sie, als sie durchs Fenster sprang. Der eine Typ erwischte sie vorne, der andere hinten. Sie 188
landete hart am Boden und fühlte sich wie ein Gong, gegen den jemand geschlagen hatte. Für einen Moment fragte sie sich, ob Alec nicht vielleicht doch Recht damit gehabt hatte, ein bisschen vorsichtiger zu sein. Die beiden Typen waren groß und gut gebaut. Beide hatten kurze, dunkle Haare und trugen die schwarzen TACKampfanzüge. Der eine war ein Stück größer als sein Partner; eine kurze wulstige Narbe zierte seine rechte Wange. Besonders clever schienen sie allerdings nicht zu sein, denn sie hätten sie sofort ein zweites Mal angreifen müssen, statt nur gelassen dazustehen und darauf zu warten, dass irgendein unsichtbarer Ringrichter sie auszählen würde. Und natürlich war Max nicht dazu bereit, sich auszählen zu lassen. Sie sprang auf und verpasste dem narbigen Idioten neben ihr eine gezielte Rechte. Der Schlag hatte eine solche Wucht, dass er sogar ein Loch in der Wand hinterlassen hätte... ... doch der Typ zuckte nicht einmal zusammen. Verfluchte Familiars, dachte sie. Der andere trat sie in den Rücken, doch sie war gefasst auf diesen Angriff und konnte ihn noch abfangen. Doch im gleichen Augenblick verpasste der Narbige ihr einen gezielten Karateschlag in den Bauch, und sie krümmte sich. Trotz all ihrer herausragenden Qualitäten, die man ihr angezüchtet hatte, fühlte die X5 – im Gegensatz zu den Familiars – den Schmerz. Jetzt schwang der narbige Typ sie wie ein übereifriger Tanzpartner herum. Eine Hand umklammerte ihr Genick, die andere ihren Rücken. Schnell schob der wuchtige Kerl sie zu dem geöffneten Fenster und warf sie hinaus. Es schien ihn nicht mehr Anstrengung zu kosten, als wenn er seine Jacke über einen Stuhl geworfen hätte. Sie flog über die Hecke, schlug auf dem Rasen auf, überschlug sich ein paar Mal und blieb dann ausgestreckt liegen. 189
Die beiden Familiars standen am Fenster und grinsten. Max rappelte sich auf, klopfte den Dreck ab und wischte sich die Haare aus dem Gesicht. „He, Kumpels, ich bin schon aus vornehmeren Häusern rausbefördert worden, von besseren Typen als euch.“ Die zwei Idioten, die hinter dem zersplitterten Fenster standen und aussahen, als würden sie für eines dieser scheußlichen Familienporträts posieren, grinsten sie weiter an. Dann sagte der narbige Kerl: „Du bist immer willkommen hier.“ Er krümmte seinen Finger und winkte ihr damit, als wollte er sagen: „Na, komm doch!“ Max lächelte. „Ich denke, den Besuch hebe ich mir für ein anderes Mal auf. Für heute will ich nichts anderes, als zur Abwechslung euch mal einen Arschtritt verpassen.“ „Na dann“, sagte der Narbige, doch er konnte den Satz nicht vollenden, denn Max schnitt ihm das Wort mit einem gezielten Sprung durch das Fenster ab und verpasste beiden gleichzeitig in einer weiten großzügigen Umarmung einen gezielten Tritt. Die zwei sackten verwirrt zu Boden. Max landete sanft auf den Füßen, drehte eine Pirouette und starrte sie an. Sie rappelten sich auf, doch ihre Hände und Füße flogen in alle Richtungen. Obwohl die Familiars unglaublich viel Schmerz ertrugen, konnten sie diesem Ein-Frau-Angriff nicht standhalten. Selbst zu zweit waren sie der rasenden X5, die wie ein Derwisch herumwirbelte, nicht gewachsen. Die wenigen Möbel in dem riesigen Wohnzimmer standen mit Tüchern bedeckt an der Wand wie stumme Beobachter. Der Raum bot den drei Kämpfern also genügend Platz. Der Narbige ging als Erster wieder zu Boden, ein gemeiner Tritt hatte ihn am Knie erwischt und seine Bänder gerissen. Natürlich schrie er nicht, weil er den Schmerz nicht spürte, doch das bewahrte ihn nicht vor den physischen Gegebenheiten des Lebens. Sein Bein sackte unter ihm weg, als er Max 190
angreifen wollte. Er versuchte noch einen Schwinger mit seinem unversehrten Bein, doch sie sprang darüber, als würde sie über ein Seil hüpfen. Stattdessen erwischte Max ihn mit einer geraden, knallharten Rechten am Kinn, die sofort seine Lichter auslöschte. Der andere schlug ein Rad, landete vor ihren Füßen, verpasste ihr einen kurzen Doppelschlag und machte dann eine Rolle rückwärts. „Das sah wirklich hübsch aus“, sagte sie. „Wirf mir doch noch ein Küsschen rüber, na mach schon.“ Sie gab ihm ein Zeichen, ihr den ganzen Mist noch einmal zu präsentieren. Und er tat es. Diesmal trat er zunächst mit seinem rechten und dann mit dem linken Fuß zu, bevor er sich wieder nach hinten abrollte. Sie berührte mit der behandschuhten Hand ihr Gesicht und wischte einen Blutstropfen aus ihrem Mundwinkel. Dann winkte sie ihm, es noch einmal zu versuchen. Diesmal überschlug er sich rückwärts; anscheinend hoffte er, sie damit zu überraschen. Aber Max war bereit. Gerade als er mit seiner rechten Hand den Boden berührte, um sich abzustützen, wischte sie mit einem gezielten Tritt seine Hand weg, so dass sein Kopf auf den Stein krachte. Er sprang auf die Füße und sah, dass Max jetzt ein Rad schlug, direkt vor ihm landete, sich abrollte und dann aufsprang, um ihre Faust in seinem Schritt zu begraben. Er sagte kein Wort, nur seine Augen traten aus den Höhlen, als er nach vorne klappte, offensichtlich überrascht von der Intensität dieses Erlebnisses. „Na also“, sagte Max mit einem Hauch von Wahnsinn im Gesicht. „Scheint, als ob ihr hochgezüchteten Typen doch nicht jeden Schmerz wegstecken könnt.“ Sie holte aus und verpasste ihm einen harten Schlag mit dem Kopf, der seine Nase brach. Blut strömte aus seinen Nasenlöchern und er taumelte gegen die Wand. 191
Schließlich stürzte er sich wieder auf sie, rasend vor Wut. Blut und Speichel spritzten aus seinem Mund. Im letzten Augenblick machte sie einen Schritt zur Seite, und der Typ krachte durch ein geschlossenes Fenster in der Mitte. Glassplitter regneten herab, und er blieb auf dem Fensterbrett liegen, halb drinnen, halb draußen, als ob er eine Verschnaufpause einlegen wollte. Dann stand er wieder, drehte sich um und stakste durch die Glassplitter am Boden. Blut tropfte aus seinen Schnittwunden. Er atmete schwer und griff nach oben zu der großen Scherbe, die in seinem Hals steckte. Wieder röchelte er, als hätte er einen Frosch im Hals. „Kitzelt es?“, fragte Max. „Soll ich helfen?“ Sie trat vor und zog die Scherbe heraus, duckte sich dann jedoch schnell, als sie sah, dass das Blut wie eine Fontäne aus seiner Halsschlagader bis zur Decke spritzte und dort ein scharlachrotes Muster hinterließ, das wie ein abstraktes Gemälde von Jackson Pollock aussah. Der Familiar riss die Augen auf, seine Hände flogen hoch zu seinem Hals. Doch es war zu spät. Max landete noch einen Schwinger und schickte ihn diesmal durchs Fenster nach draußen. Er lag ausgestreckt auf dem Rasen, das Blut strömte aus ihm heraus, und es würde sicher nicht lange dauern, bis kein Tropfen mehr in ihm war. Man kann über Manticore sagen, was man will, dachte sie. Aber die Wissenschaft sticht doch immer noch diese heidnischen Zuchtrituale aus. Sie verließ das Wohnzimmer, in dem das Blut ihres Gegners von der Decke tropfte, und ging in die Eingangshalle. Joshua tauchte aus dem rückwärtigen Teil des Gebäudes auf, mitten im Kampf mit einer anderen Wache. Ganz offensichtlich war es ein Familiar, denn jeder normale Mensch wäre von Joshuas alles vernichtenden Schlägen zerquetscht worden. Er schob den Kerl durch die Eingangshalle, während 192
er ihm abwechselnd Schläge ins Gesicht oder gegen den Körper verpasste. Der Typ versuchte sein Bestes, obwohl Joshua größer war als er. Langsam kamen sie näher. „Keine Grausamkeiten gegen Tiere“, sagte Max. Der Wachmann drehte sich um und sie verpasste ihm eine Rechte. Der Typ flog gegen Joshua, der mit einem Schlag nachsetzte. Langsam sackte der Familiar mit geschlossenen Augen zu Boden. „Es ist schwierig, ihnen weh zu tun“, sagte Joshua. „Sie sind wie Roboter“, sagte Max. „Aber wenn du ihnen den Strom abschaltest, sind sie erledigt.“ Joshua nickte. Er hatte verstanden. „Schau nach, was mit Mole los ist“, sagte sie. „Ich kümmere mich um Alec.“ Joshua suchte im rückwärtigen Teil des Hauses und fand Mole in der Küche. Max erwischte Alec unten an der Treppe, genau in dem Augenblick, als vier Familiars von oben das Feuer eröffneten. Max und Alec flüchteten ins Speisezimmer. Doch sie wussten, dass sie hier nicht lange sicher sein konnten. Sie hörten bereits die donnernden Schritte der Wachen auf der Treppe. Im Speisezimmer standen ein langer Tisch, der mit zwei Tüchern abgedeckt war, und davor ein Dutzend Stühle, ebenfalls unter Leintüchern versteckt. Es sah aus wie bei einem Geisterbankett. An der gegenüberliegenden Seite des Raumes entdeckten sie jetzt noch eine Tür, direkt neben der, durch die sie hereingekommen waren. Wahrscheinlich führte sie zur Küche. Sie verständigten sich mit Handzeichen, wie sie weiter vorgehen wollten, ohne sich darum zu kümmern, ob der Plan beschissen war oder nicht. Es war auf jeden Fall eine Gemeinschaftsarbeit, und die beiden X5 setzten sie in die Tat um. 193
Alec steuerte auf die Tür am anderen Ende des Raumes zu, während Max sich gegen die Wand presste, direkt neben der Eingangstür. Als der erste Wachmann hereinkam, schlug Max ihm die Waffe aus der Hand und zog ihn zu sich heran. Im gleichen Augenblick feuerte ein Zweiter eine Salve auf sie ab und tötete damit den Typen, den Max als menschlichen Schutzschild vor sich gehalten hatte. Alec war inzwischen durch die andere Tür geschlüpft, durchquerte die Küche und kam von dort aus wieder in die Eingangshalle, begleitet von Mole und Joshua. Die drei kämpften sich durch die verbliebenen Wachleute, während Max ihren toten Schutzschild ausrangierte und die nächste Wache angriff, indem sie ihm den Kolben der beschlagnahmten Waffe wie einen Knüppel entgegenschleuderte und ihn in tiefe Bewusstlosigkeit schickte. Innerhalb von Sekunden waren die drei Wachmänner zumindest für den Rest des Tages außer Gefecht gesetzt, wenn nicht sogar für immer. Doch die drei Transgenos verschwendeten nicht einen Gedanken daran, selbst der gefühlvolle Joshua nicht. Die vier waren Soldaten, in Manticore ausgebildet für den Kampf, und Soldaten hielten sich nicht mit ihren Opfern auf oder vergossen eine Träne. „Bist du okay?“, fragte Alec Max. „Fühl mich gut. Und ihr zwei?“ „Es ist wirklich witzig“, sagte Mole. „Wenn ich jetzt noch meine verdammte Zigarre hätte, würde ich mich wie im Paradies fühlen.“ „Ich lebe auch noch, Kleines“, sagte Joshua. „Dann bleib so, Großer“, sagte sie. „Wir müssen nach oben. Ich geh voraus, Mole, du bildest die Nachhut.“ Sie nickten und gingen hintereinander wie bei einer Parade die Treppe hinauf. Ihre Augen waren überall, denn noch mehr von diesen Idioten konnten sie jetzt nicht brauchen. 194
Im ersten Stock lagen sechs Schlafzimmer, und Max vermutete, dass es im zweiten Stock nicht anders aussah, auch wenn sie noch nie dort gewesen war. Mit Handzeichen gab sie Mole und Alec zu verstehen, nach oben zu gehen, während sie und Joshua sich die Räume im ersten Stock vornehmen wollten. Sie begannen an der gegenüberliegenden Seite von Lyman Cales Schlafzimmer. Doch sie fanden nichts. Keine Wachen, keine Gäste und auch nicht Franklin Bostock. Gerade als sie Lyman Cales Schlafzimmertür erreichten, kamen die anderen aus dem zweiten Stock und signalisierten, dass sie oben alles durchsucht hatten. Sie verteilten sich. Max vorne, Alec und Joshua zu beiden Seiten hinter ihr und Mole sicherte das Team ab. Max öffnete die Tür und trat ein. Lyman Cale lag immer noch im Bett. Er schien noch kleiner geworden zu sein, falls das überhaupt möglich war, und wirkte, als ob er noch weiter eingeschrumpft wäre. Er sah aus wie eine ausgetrocknete Schale, die verloren in einem weißen Nachthemd steckte. Überall hingen Schläuche, die Logans Onkel – jedenfalls technisch gesehen – am Leben hielten. Das zeigten zumindest die Aufzeichnungen auf den Monitoren und all dem anderen Schnickschnack. Franklin Bostock stand an der Kopfseite des Bettes. Auch diesmal trug er einen schwarzen Blazer, ein weißes Hemd ohne Krawatte und eine graue Hose. Er wirkte ruhig und schien kaum bemerkt zu haben, dass sie hereingekommen war. Jetzt tauchten auch Alec und Joshua auf und stellten sich seitlich hinter Max, der eine links, der andere rechts. „Ich dachte mir schon, dass Sie zurückkommen werden, Ms Guevara“, sagte Bostock in einem distanzierten, ja kalten Ton. Aber Max’ Stimme klang kalt wie ein Eisblock. „Ray White.“
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Bostock sah sie an. Er war nicht im Mindesten beeindruckt. „Was ist mit ihm?“ „Er war ein Kind, erst elf Jahre alt.“ Bostock zuckte mit den Schultern. „Sie wissen doch, wo gehobelt wird, da fallen Späne.“ „Ist das alles, was Sie dazu zu sagen haben?“ „Sie sind eine Soldatin, Ms Guevara. Jeder Krieg fordert seine Opfer. Und ich kann mir gut vorstellen, dass Sie gerade eine Spur der Verwüstung bei meinen Männern hinterlassen haben, denn sonst wären Sie nicht so weit gekommen.“ „Kriege? Opfer?“ Bedrohlich ging sie einen Schritt näher. „Ich weiß Bescheid über diese Dinge, genauso wie über Verbrechen. Warum? Warum ein unschuldiges Kind?“ Sie trat wieder einen Schritt vor. Plötzlich steckte eine kleine Pistole in Bostocks Hand. Sie war auf Lyman Cales Kopf gerichtet, ohne dass die komatöse Gestalt überhaupt Notiz davon nehmen konnte. „Noch ein Schritt“, sagte er, „und es wird ein weiteres Opfer in diesem Krieg geben.“ Ein Lächeln breitete sich auf seinem glatten Gesicht aus, wie ein ekelhafter Ausschlag. „Wenn Sie noch näher kommen, werde ich Lymans Gehirn rauspusten, falls noch etwas davon übrig sein sollte. Aber ich bezweifle es.“ Sie stand nur da. Bostock sah sie durchdringend an. „Sie überlegen immer noch, ob Sie es tun sollen, habe ich Recht? Nun, kommen Sie. Bewegen Sie sich. Vielleicht finden Sie in mir doch einen Gegner, den Sie ernster nehmen müssen, als Sie gedacht haben. Dann können Sie Logan Cale erklären, auf welche Weise sein Onkel ums Leben gekommen ist.“ Plötzlich dachte sie an Seth, der durch Logans Schuld sterben musste, und das, was dieser sadistische Dreckskerl gerade gesagt hatte, machte ihr mit einem Schlag klar, wie es gewesen sein musste. 196
Logan hätte Seth niemals absichtlich in Gefahr gebracht, genauso wenig wie sie selbst, als sie für ihn gearbeitet hatte. Es war immer ihre Entscheidung gewesen, wie bei ihrem Bruder. Tatsächlich hatte Seth das Risiko geliebt, noch mehr als Alec oder Zack. Max verstand jetzt, warum Logan gelogen hatte. Es war eine Unterlassungssünde gewesen, keine vorsätzliche. Wenn diese Geschichte hier aus dem Ruder laufen würde, und das konnte jeden Moment der Fall sein – wie sollte sie Logan jemals erklären, wie sollte sie es ertragen ihm zu sagen, dass sie für den Tod seines Onkels verantwortlich war, sein letzter Verwandter auf diesem Planeten und wohl der Einzige, der sich jemals um ihn gekümmert hatte... Bostocks Stimme klang nun schärfer. „Ihr zwei Spielkameraden da hinten – auf die Knie. Hände hinter den Nacken.“ Sie spürte, dass Alec und Joshua sie ansahen, drehte sich zu ihnen herum und nickte. Sie folgten ihrer Anweisung und ließen sich auf die Knie fallen, als ob sie beten wollten, die Hände hinter dem Nacken. „Sie scheinen zu glauben, dass dies zu irgendetwas führt“, sagte sie. Bostock nickte. „Hier raus, für den Anfang.“ „Und wie genau?“ Max verschränkte die Arme vor der Brust. „Sie glauben doch nicht im Ernst, dass wir Sie so einfach durchlassen? Oder wollen Sie den alten Lyman aus dem Bett zerren, die Schläuche aus ihm herausreißen und ihn als Geisel nehmen? Das würde ich zu gerne miterleben.“ Bostock richtete seine Pistole jetzt auf Max. „Ms Guevara, Sie sind meine Geisel. Und ich denke, dass Sie dieser Bitte nachkommen werden, nach allem, was geschehen ist. Das ist Ihre einzige Chance, Logan Cale zu retten, so gering sie auch immer sein mag.“ „Und warum ist das so?“ 197
„Weil ich Sie dorthin bringen werde, wo er festgehalten wird.“ Max erstarrte. „Dann... dann kannten Sie Whites Plan von Anfang an! Sie sind daran beteiligt.“ Bostock sah sie mit großen Augen an. „Die Familiars werden eben... Vertraute. Wir teilen viele Dinge miteinander. Wir sind eine Bruderschaft, alles in allem.“ „Ja, so wie Kain und Abel.“ Sie schüttelte den Kopf. „Wenn Sie gewusst haben, was White vorhat, dass er mich dazu benutzt hat, Ray zurückzubekommen, warum haben Sie dann diesen Plan durchkreuzt? Warum haben Sie den Jungen getötet?“ Die Augen des Privatsekretärs flackerten. „Wie bitte? Sollte ich etwa zulassen, dass Ames White seine Machtposition innerhalb der Konklave festigt? Ganz sicher nicht.“ In Max’ Kopf drehte sich alles. „Wie kann denn ein kleiner Junge Whites Machtstellung festigen?“ Bostock seufzte, als ob er es mit einem Kind zu tun hätte, das nicht verstehen wollte. „Ames White hatte bestimmte Vorstellungen bezüglich seines Sohnes, Hoffnungen und Träume. Und es gibt eine kleine, aber machtvolle Splittergruppe innerhalb der Konklave, die die Fähigkeiten des Jungen durchaus ernst genommen hat. Die anderen hielten ihn für schwach, mit einer Mutter, die uns verraten hat und einem Vater, der ein Versager ist. Die ganze Familie hat nichts als einen schlechten Einfluss auf unsere Ziele gehabt... Kurz gesagt: Ich habe lediglich ein kleines Problem beseitigt.“ Sie lachte bitter auf. „Nach allem, was Sie behaupten, sind Sie und Ihre Konklave tatsächlich nicht besser als die Normalen, richtig?“ Bostock sah verwirrt und zutiefst beleidigt aus. „Kleinliche Eifersucht“, sagte sie. „Nichts als kleinliche Eifersucht hat den Jungen das Leben gekostet.“
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„Kleinlich?“ Das Wort schien aus Bostock herauszuplatzen. Plötzlich war der ruhige Bürokrat ein rasender Dämon. „Es war Whites Familie, die der Konklave die Transgenos aufgebürdet hat! Whites Vater... dieser Sandeman, den Sie auch als Ihren Vater ansehen, nicht wahr? Alle Transgenos. Sandeman hat seine Nerven verloren, und nun haben wir euch mutierten Pöbel am Hals. Diese Familie musste einfach dafür bezahlen!“ Max runzelte die Stirn. „Was ist das für eine fixe Idee der Konklave wegen Sandeman und den Transgenos... Welche Bedrohung könnten wir denn für Sie und Ihre verdrehten Ziele darstellen?“ Mit einem Schlag war Bostock wieder der ruhige Bürokrat. „Sie wissen es nicht?“ Er schien amüsiert. „Sie wissen es wirklich nicht?“ Max stemmte die Hände in die Hüften. „Was soll ich nicht wissen?“ Bostocks Oberlippe zuckte und seine Worte tropften mit giftiger Verachtung aus seinem Mund. „Nichts. Sie wissen... überhaupt nichts.“ „Ich bin zerknirscht, Franklin“, sagte sie. „Und ich hatte gerade den Eindruck gewonnen, dass Sie so viel von mir halten.“ Er schüttelte den Kopf, die Waffe immer noch auf sie gerichtet. „Sie haben keine Ahnung, wie bedeutend Sie sind...“ „Jetzt bin ich auf einmal bedeutend?“ „Und Sie haben sich mir präsentiert wie ein Weihnachtsgeschenk. Doch Sie sind gefährlich. Wahrscheinlich zu gefährlich, um als Geisel dienen zu können...“ Jetzt richtete er die Waffe auf ihren Kopf. Seine Augen waren nur noch kleine Schlitze. Alec und Joshua erhoben sich gleichzeitig, doch Max bedeutete ihnen mit einer Handbewegung, sich wieder hinzuknien. 199
„Wenn ich so wertvoll, so bedeutend bin“, sagte sie und trat einen kleinen Schritt auf ihn zu, „warum wollen Sie mich dann töten?“ „Ihr Tod ist unvermeidlich – es ist nur eine Frage des Wo und Wann. Doch es muss bald geschehen.“ „Ich soll sterben... bald?“ „Ja. Ihr Tod bedeutet den Sieg, Max. Darf ich Sie Max nennen? Ms Guevara ist inzwischen zu förmlich für uns, meinen Sie nicht auch? Ihr Tod bedeutet, dass wir gewonnen haben.“ „Ich habe schon immer gewusst, dass ihr Typen vom Schlangenkult ein dämlicher Haufen seid.“ Sie trat noch ein kleines Stück vor. „Aber vielleicht könnten Sie mir erklären, warum der Tod einer Mutantin, wie ich es bin, so wichtig sein kann für eine Bewegung, die seit vielen tausend Jahren besteht...“ Sein Lachen klang beinahe hysterisch. „Sie haben es tatsächlich nie kapiert? Und Sandeman... er hat Ihnen niemals etwas erzählt?“ „Hab den Knaben nie getroffen. Er gehörte zu der Sorte von Daddys, die völlig geschafft sind, ja, genauso war es.“ Wieder näherte sie sich ihm ein kleines Stück. „Zu schade“, sagte Bostock. „Vielleicht hätte er Ihnen einen väterlichen Rat geben können. Er hätte Ihnen sagen können, dass Sie vorsichtiger sein sollen.“ Sie sah ihn argwöhnisch an. „Sind wir im gleichen Film? Ich kann Ihnen nämlich nicht folgen, Franklin.“ Er streckte den Arm aus und richtete die Waffe jetzt direkt auf ihre Stirn. „Sie werden sterben, das ist eine unumstößliche Tatsache. Aber wenn man an all das Leid denkt, das Sie über uns gebracht haben, verdienen Sie es vielleicht zu wissen, wie sehr Sie versagt haben.“ Wieder trat sie einen kleinen Schritt vor.
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„Kommen Sie nicht näher!“, sagte er und deutete kurz mit der Pistole auf den Boden, um seine drohenden Worte zu unterstreichen. Sie blieb stehen. „Und wie genau habe ich versagt?“ Er lächelte und wirkte beinahe freundlich. „Max, Max... Sie waren diejenige... die Einzige!“ „Die... Einzige?“ „Die Auserwählte, der neue Messias!“ „Ich. Ich bin Jesus?“ „Ja. Wie traurig, dass Sie kurz vor Ihrem eigenen Geburtstag sterben müssen.“ Der Typ musste fantasieren. Selbst für ein praktizierendes Mitglied des Schlangenkults hatte er einen kompletten Schatten. Doch Max war sich nicht sicher, wie lange sie ihn noch hinhalten konnte. „Wenn Sie mich getötet haben“, sagte sie, „könnte ich doch in drei Tagen wiederkommen.“ „Das glaube ich kaum. Ich spreche von Weihnachten, Max, nicht von Ostern. Aber ich habe ein ,Geschenk’ für Sie. Von Ihrem ,Vater’, Whites richtigem Vater, dem legendären Sandeman, der eine geheime Organisation innerhalb der Regierung benutzt hat, um Manticore zu erschaffen.“ „So viel weiß ich auch.“ Bostock fuhr fort, als ob sie nichts gesagt hätte. „Doch bevor er uns verlassen hat und Colonel Lydecker und die anderen ans Ruder kamen, hat er ein ganz besonderes Kind erschaffen. Sie, Max.“ „Okay. Vielleicht hat mein Daddy mich ja tatsächlich geliebt.“ „Auf seine Art, ja, da bin ich mir sicher. Und er hat etwas ganz Besonderes für Sie getan, Max. Er hat sie von jeglicher fehlerhaften DNA verschont. Es gibt keinen auf diesem Planeten, der so ist wie Sie – keinen Normalen, keinen Transgeno, auch keinen Familiar. Selbst all die anderen Freaks 201
aus Manticore, wie unser hübscher Junge hier oder dieses Hundegesicht, haben einen kleinen Teil fehlerhafter DNA in sich. Aber Sie nicht.“ „Und wieso bin ich deshalb der Messias?“ Bostock sah sie stirnrunzelnd an, als hätte er es mit einer Schwachsinnigen zu tun. „Erkennen Sie denn immer noch nicht den eigentlichen Sinn dahinter? Zu schade, dass Sandeman nicht ein paar mehr Körnchen Intelligenz in Ihr Reagenzglas gemixt hat.“ Sie sah ihn nur an. Was sollte sie zu solch einem Spinner schon sagen? Bostocks Stimme klang ruhig. „Wissen Sie etwas von der Wiederkunft?“ Oh Mann! „Die Wiederkunft?“, sagte sie. „Wenn es stimmt, dass ich der Messias bin und all das Zeug, dann glauben Sie also... aber warum haben Sie mich dann nicht eingeweiht?“ Bostocks Augen blitzten gefährlich auf. „Die Wiederkunft bedeutet das Ende für die meisten... aber den Anfang für uns. Viele tausend Jahre Zucht hat es gedauert, damit wir die Wiederkunft überleben.“ „Sie haben mir immer noch nicht gesagt, was diese Wiederkunft eigentlich ist.“ Er sah sie mit überheblichem Blick an. „Wenn der Komet kommt, wird dies das Ende der alten und der Beginn einer ganz neuen Welt sein.“ Ames Whites Worte hallten in ihrem Kopf wider: „Ich will, dass Ray am Weihnachtsmorgen in einer ganz neuen Welt erwacht.“ „Dieser Komet“, sagte Max. „Wann...?“ Bostock deutete mit seiner freien Hand nach oben. „Er ist ein Mal alle 2021 Jahre zu sehen. Und das bedeutet dieses Jahr. Das letzte Mal...“
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Abrupt unterbrach Alec das Gespräch: „Der Stern von Bethlehem...“ Bostock verbeugte sich leicht. „Sehr gut, junger Mann.“ Max schluckte. „Und, äh... wie genau werde ich denn der neue Messias, mit diesem Kometen, der am Himmel auftaucht... zweitausend Jahre, nachdem der letzte Messias geboren wurde?“ Er hielt die Pistole unverwandt auf sie gerichtet und sah sie mit starrem, fast wahnsinnigem Blick an. „Ich kann es kaum glauben, dass Sie keine Zeichen haben... Sandeman hatte wohl keine Gelegenheit, Ihnen davon zu erzählen.“ Die Markierungen! Im letzten Jahr waren plötzlich Runen auf ihrer Haut erschienen. Ihr Körper war, ohne dass sie es wollte, mit neuen Tattoos verziert gewesen. Logan hatte versucht, diese Zeichen zu entziffern, doch ohne Erfolg. Bostock hatte Unrecht. Sandeman hatte tatsächlich einen Weg gefunden für diese wichtige Mitteilung. Sie hatte es nur nicht kapiert, bis jetzt. „Wenn der Komet auftaucht“, sagte Bostock jetzt mit ruhiger Stimme, die passend für eine Predigt in der Kirche gewesen wäre, „wird gleichzeitig Biotoxin freigesetzt. Es wird alle Normalen auslöschen, all diejenigen, die zu schwach sind, um kämpfen zu können, zu schwach, um Teil der neuen, reinen Ordnung zu werden.“ Es hat keinen Zweck ihn länger hinzuhalten, dachte sie. Bostock war ein Fanatiker. Er liebte den Klang seiner eigenen Stimme, die die geheiligten Glaubenssätze seines Kultes verkündete. „Es war nur ein glücklicher Zufall, der uns vor einer Wiederholung der Katastrophe verschont hat“, fuhr er fort und schwang die Pistole drohend in der Hand. „Der Komet befindet sich auf einer elliptischen Umlaufbahn, die ihn nur einmal nahe genug an unseren Planeten herangebracht hat, damit das 203
Biotoxin die Erde erreichen konnte. Was glauben Sie wohl, was die Dinosaurier ausgelöscht hat? Damals hat die Eiszeit das Gift zerstört.“ „Und diesmal?“, fragte Max. „Am Heiligen Abend, genau um Mitternacht, wird der Komet in seiner Umlaufbahn wieder nah genug an unseren Planeten herankommen.“ „Nah genug, um dieses Biotoxin fallen zu lassen“, sagte Alec. „Ja“, sagte Bostock. „Und das heißt Tod den Dinosauriern, die heute die Erde bevölkern – die Normalen. Die Schwachen. Nur die Familiars werden leben. Die Starken.“ „Und wieso ist Max der Messias?“, fragte Alec. „Sie ist das einzige Wesen auf der Erde, das völlig immun ist gegen das Gift.“ „Dank Sandeman“, sagte Max. „Ja“, sagte Bostock. „Selbst diejenigen von uns, die ein spezielles Zuchtprogramm durchlaufen haben, tragen ein kleines Risiko in sich, so wie die Transgenos. Aber alle Familiars und auch die Mutanten aus dem Reagenzglas haben zumindest die Möglichkeit, unversehrt davonzukommen. Doch Sie, Max, werden diese Möglichkeit nicht haben.“ Sie hob eine Augenbraue. „Weil ich der Messias bin?“ „Weil Ihre einzigartige DNA dafür sorgt, dass Sie keine Nebeneffekte haben, keine Krankheit. Sandeman hat einen Weg gefunden, das Gift abzuwehren. Er hat Proben gewonnen aus der Spitze des Eisbergs am Nordpol. Ihr Blut könnte den Normalen die gleiche Art von Impfstoff bieten, den wir in tausenden von Jahren selektiver Zucht erzielt haben.“ „Mein Blut“, sagte sie und wusste nicht, ob sie lachen, schreien oder einfach nur wie Daffy Duck herumspringen sollte. „Mein Blut rettet die Welt?“ Bostock nickte, als wäre das, was sie eben gesagt hatte, außergewöhnlich einsichtig gewesen. „Die Normalen, die nach 204
dem Austritt des Giftes nicht sofort sterben, könnten es schaffen, wenn sie einen Impfstoff bekämen, den man aus Ihrem Blut gewinnen kann. Doch wenn ich Sie töte, Max, wird diese Möglichkeit zunichte gemacht – für die Menschen endet der Traum, und wir haben unser Ziel erreicht.“ Sie sah ihn fragend an. „Sind Sie sicher, dass Sie mich nicht zur Zentrale des Schlangenkults bringen wollen? Sie wären der Größte, weil sie Lady Jesus geschnappt haben?“ „Das klingt verlockend“, sagte er und lächelte mit schmalen Lippen. „Aber Sie sind eine sehr talentierte junge Frau... und es könnte ein zu großes Risiko für mich sein, Sie mitzunehmen.“ Bostocks Finger legte sich um den Abzug und bewegte sich leicht. In diesem Augenblick zersplitterte ein Fenster hinter ihm. Mole schoss herein, rollte sich ab und landete vor dem völlig verblüfften Sekretär. Die Pistole mit dem Schalldämpfer, die Mole in dem Haus der Gullivers hatte mitgehen lassen, war nur wenige Zentimeter von Bostocks Schädel entfernt. Alle standen für einen Augenblick erstarrt da. Schließlich erkannte Bostock, dass er sich geschlagen geben musste, und ließ die Pistole fallen. „Warum zum Teufel hast du so lange gebraucht?“, fragte Max. „Wenn dieser verrückte Dreckskerl nicht so gesprächig gewesen wäre, dann wäre ich jetzt wahrscheinlich schon tot.“ Zwischen Moles Zähnen steckte eine fette, halb gerauchte Zigarre, die den Sprung durch das Fenster glücklicherweise unbeschadet überlebt hatte. „Ich war am Fensterbrett und hab zugehört; war sehr amüsant der Mist. Und du warst gerade dabei, ihm diesen Schwachsinn abzukaufen, hab ich Recht?“ Das stimmte, aber Max sagte: „Wo zum Teufel hast du die Zigarre her?“ Mole zuckte mit den Schultern. „Ich hab eine Kiste Havannas unten im Büro dieses Schlangenheinis gefunden.“ „Du hast also in aller Seelenruhe nach Zigarren gesucht?“ 205
„Beruhige dich, Miss Messias. Popeye braucht seinen Spinat und Mole braucht seine Zigarren.“ Wenn der Eidechsenmann nicht gerade ihre Haut gerettet hätte, würde sie ihm sicher eine Abreibung verpassen. Mole paffte glücklich an seiner Havanna und schob die Pistole in Bostocks Rippen. „Klingt, als ob unser Nixon hier wüsste, wo Logan ist.“ Bostock stand nur stumm da. Er sah verdrossen aus, schien aber keine Angst zu haben. Und das beunruhigte Max. Auch Mole merkte das, hob den Arm, richtete die Pistole jetzt auf den Schädel des Sekretärs, unmittelbar neben sein linkes Auge, und zog den Hahn zurück. Die glühende Spitze seiner Zigarre wackelte bedrohlich vor der Wange des Gefangenen auf und ab, als Mole sagte: „Max glaubt noch daran, dass die Sonne auch für Logan Cale wieder aufgeht, Bosty Baby. Für mich ist er allerdings nur einer dieser langweiligen Normalen, und ich bin sicher, dass Sie genauso denken.“ Schweißperlen tropften jetzt von Bostocks Oberlippe. Ungerührt fuhr Mole fort: „Klar, ich könnte total sauer auf Sie sein, aber ich schätze diese Havannas. Trotzdem, wie wär’s wenn ich Ihnen diesen Stumpen in Ihr dämliches Auge quetsche? Also, Sie Mistkerl, sind Sie bereit, für die Konklave zu sterben?“ Jetzt mischte sich Joshua in die Unterhaltung ein: „Einer für das Team.“ Bostock blieb ungerührt stehen. Mole schielte zu Max. „Okay“, sagte sie. „Wenn White das nächste Mal anruft, werden wir ihm alles erzählen und ihm sagen, was für ein dreckiges Spiel hier abgelaufen ist.“ Bostock öffnete den Mund. „White wird niemals...“ „Erschieß ihn“, sagte Max zu Mole.
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Der Sekretär riss die Augen auf und seine Hände schossen nach oben, mit den Handflächen nach vorne, als wollte er sagen „Seid doch vernünftig“. „Wartet!“, platzte Bostock heraus. „Eine Sekunde. Ich weiß, wo Logan ist. Ich kann euch den Weg zeigen.“ Mole zog die Waffe ein kleines Stück zurück. Jetzt baute Max sich vor Bostock auf, ihr Gesicht nur Zentimeter von dem seinen entfernt. „Selektive Zucht! Und alles, was da raus kommt, ist so ein Exemplar wie Sie?“ Sie zog ihr Handy aus der Tasche und gab eine Nummer ein. Die Stimme am anderen Ende klang beruhigend dreist: „Original Cindy. Was willst du?“ „Ich bin’s.“ Und Max schilderte ihrer Freundin in groben Zügen die Situation. „Also“, sagte O.C. und man hörte den typischen Lärm von Jam Pony im Hintergrund. „Alles, was ich tun muss, ist ein Boot klauen, damit zu irgendeiner gottverlassenen Insel tuckern und für irgendeine alte Trockenpflaume den Babysitter spielen?“ „Das ist alles, Boo.“ „Kein Problem. Aber du schuldest mir was.“ „Wie üblich. Außerdem musst du dich noch mit jemand anderem in Verbindung setzen.“ Sie gab Cindy die Nummer von Sam Carr. Max war zuversichtlich, dass Logans Arzt noch einmal einen Hausbesuch machen würde. „Und sag Sam, dass er Bling oder irgendeinen anderen als Unterstützung mitnehmen soll. Ein paar Typen, die damit fertig werden können und Eyes Onlys Freunde sind.“ „Feindliches Gelände?“ „Ja, gesichertes feindliches Gelände, aber feindlich.“ Sie durchsuchten das Haus noch einmal, um zu überprüfen, dass tatsächlich alle Wachen außer Gefecht gesetzt waren. Die 207
Überlebenden packten sie zusammen und sperrten sie unten im Keller ein. Dann ging die kleine Kommandotruppe in die Küche, um ein paar Lebensmittel für jetzt und später einzupacken. Sie konnten allerdings nicht darauf warten, bis ihre Freunde eintrafen, um sich um Lyman Cale zu kümmern. Max war überzeugt davon, dass Original Cindy schon das Richtige tun würde. Außerdem konnte die X5 per Handy mit O.C. und Sam Carr in Verbindung bleiben. Sie rasten mit dem Motorboot zurück, stiegen dann um ins Auto und folgten den Anweisungen des verdächtig kooperativen Bostock, der ihnen den Weg wies. „Woher wissen wir eigentlich, dass dieses geschniegelte Arschloch uns nicht einer Horde wild gewordener Gänse hinterherschickt?“, fragte Mole Max, als er Logans Wagen über eine Landstraße lenkte. Bostocks Hände und Füße waren mit Klebeband umwickelt. Er schaukelte auf dem Rücksitz zwischen Joshua und Alec hin und her. Alec presste die Pistole in die Rippen des Privatsekretärs. „Sie scheinen das Ganze lustig zu finden“, sagte Max zu ihrem Gefangenen. Bostock schüttelte den Kopf. „Ich schicke Sie nicht ein paar blöden Gänsen hinterher. Nicht im Geringsten. Ich führe Sie auf direktem Weg dahin, wo sie hin wollen.“ „Ja.“ Max grinste. „Sie sind ein toller Typ, Bostock. Wirklich klasse.“ Er quetschte ein Lachen durch die Zähne. „Sie glauben, Sie hätten gewonnen. Doch Sie erleichtern es mir nur, den unvermeidlichen Sieg zu erringen. Wenn ich Sie persönlich der Konklave übergebe, und das noch lebendig, werde ich nicht nur White und seine Familie bloßstellen, sondern auch... der Auserwählte sein. Das ist Ames Whites endgültige Niederlage, und mein Aufstieg.“ 208
„Tut mir Leid, Franklin“, sagte Max. „Aber in diesem Wagen gibt’s nur Platz für einen Messias, und der bin ich, wie Sie gesagt haben.“ Alle lachten, außer Bostock. Selbst Joshua hatte den Witz kapiert. „Wenn wir Sie kreuzigen“, sagte Bostock mit widerlichem Grinsen, „werden Sie nicht mehr zurückkommen.“ „Ziemlich anmaßend“, sagte Max, „für einen Mann, der gerade auf dem Weg zu dem Vater des Kindes ist, das er umgebracht hat. Der Junge liegt übrigens im Kofferraum.“ Bostocks gebügelte Fassade war jetzt durchzogen von hässlichen Falten, aber nur für einen Augenblick. „White muss noch schwächer sein, als ich angenommen habe, wenn er von Leuten wie Ihnen abhängig ist.“ Alec drückte die Pistole wieder in Bostocks Seite. „Ja“, sagte er. „Muss ein richtiges Arschloch sein, wenn er sich mit Transis wie uns abgibt.“ In diesem Augenblick klingelte Max’ Handy. „Wer will was von Max?“ „Ich bin’s, Sam. Ich bin bei Lyman Cale.“ „Können Sie noch was für ihn tun, Doc?“ „Ich habe bei einer privaten medizinischen Einheit einen Hubschrauber arrangiert, damit holen wir ihn hier raus. Aber ich habe nicht viel Hoffnung. Der Mann ist völlig ausgehungert.“ „Kennt Logan diese Leute, die Sie beauftragt haben?“ „Es sind streng vertrauliche Mitarbeiter von Eyes Only. Bling ist inzwischen auch bei mir. Wir wollen so schnell wie möglich von hier verschwinden, weil... nun ja, Sie haben ein bisschen Müll hinterlassen.“ Überall im Haus und auf dem Grundstück lagen die Leichen der Sicherheitsleute herum. Und klar, ein paar waren im Keller eingesperrt und konnten irgendwann wieder munter werden.
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„Sie haben Recht, Sam. Verschwinden Sie, so bald wie möglich. Helfen Sie Logans Onkel und bringen Sie dann sich und Cindy in Sicherheit.“ „Kapiert. Viel Glück. Und passen Sie auf sich auf.“ „Sie auch Sam. Bis bald.“ Damit beendete sie das Gespräch. „Dr. Carr?“, fragte Alec. „Ja. Er meint, es wäre ein Wunder, wenn Mr Cale das neue Jahr noch erleben würde.“ Sie drehte sich zu Bostock herum, der auf dem Rücksitz saß, und ihre Stimme klang eiskalt. „Übrigens, wenn White Sie nicht umbringt, werde ich das erledigen.“ Sie sahen sich lange an. Die Miene des Privatsekretärs war ungerührt und stolz. Dann wandte sie sich wieder nach vorne. Hinter ihr schluckte jemand leise. Sie waren bereits vier Stunden unterwegs. Als Mitternacht vorbei war und es noch kälter wurde, fragte Max sich, was sie und ihre Freunde machen konnten, um einen Kometen zu stoppen, der an Weihnachten die Menschheit auslöschen sollte. Das Verrückteste an der Geschichte war, dass sie sich deshalb tatsächlich Sorgen machte. Die meisten der Normalen hatten für sie und die anderen nichts als Abscheu und Angst übrig gehabt. Wenn sie ihr verdammter Messias sein sollte – und sie war ja tatsächlich in der Art der unbefleckten Empfängnis gezeugt worden –, wäre sie allerdings nicht besonders scharf darauf gewesen, für deren Sünden zu sterben. „Wir sind da!“, sagte Bostock. „Nur noch geradeaus.“ Mole verlangsamte das Tempo. An der Einfahrt zu einem Asphaltweg, der durch einen dichten Wald führte, hing ein weißes Schild, auf dem in großen schwarzen Buchstaben stand: PRIVAT KEIN ZUTRITT DURCHFAHRT VERBOTEN 210
STRENG GEHEIM „Da gibt’s doch tatsächlich jemanden, der mit Weihnachten nicht viel am Hut hat“, brummte Mole. „Es gibt keinen anderen Weg, um reinzukommen“, sagte Bostock und seine Stimme klang ein bisschen aufgeregt. „Und rauszukommen“, sagte Max. Sie drehte sich um und sah den Gefangenen scharf an. „Das hätten Sie wohl gerne, dass wir da durchfahren. Ein Tor mit Wachen?“ Bostock lächelte. „Keine Sorge, wenn die herausfinden, dass Sie es sind, werden sie Ihnen einen herzlichen Empfang bereiten.“ Max’ Blick wanderte zu Mole. Er hatte eine neue Zigarre zwischen den Zähnen und schob sie von einem Mundwinkel in den anderen. „Kann ich mir nicht vorstellen“, sagte sie. „Fahr weiter.“ Mole folgte ihrer Anweisung. Er und Max hatten einen guten Orientierungssinn, dank Manticore. Nach einer Weile nickte sie ihrem Chauffeur zu, und er bog nach rechts in eine dunkle Straße ein, die nicht viel breiter war als ein Pfad. Sicher hatten noch nicht viele diesen Weg genommen. Irgendein Alarmsignal hatte bei Max jedoch geklingelt, und sie deutete auf eine Baumgruppe zu ihrer Linken. „Fahr da rüber, halt an und schalt die Lichter aus.“ Mole lenkte den Wagen von der Straße ins Gras und rollte langsam bis zu der Baumgruppe. Dann stiegen sie aus. Alec drückte immer noch seine Waffe in Bostocks Rippen, und der gefesselte Privatsekretär hüpfte unbeholfen vorwärts. „Sie verschwenden Ihre Zeit“, sagte Bostock. „Stopft ihm das Maul“, befahl sie. Joshua hielt Bostock fest, während Alec zurück zum Wagen ging. Dann kam er zurück, grinste den aalglatten Sekretär 211
schief an, stopfte ihm einen alten Lumpen in den Mund und befestigte ihn mit Klebeband. „Ich werde mich mal ein bisschen umschauen“, sagte Max. „Ihr bleibt hier. Wenn ich in einer halben Stunde nicht zurück bin, verschwindet.“ „Ich komm ein Stück mit“, sagte Mole. „Nein. Bleib hier bei den anderen.“ Joshua hob seine Hand wie ein Schulkind, das um die Erlaubnis bitten wollte, etwas sagen zu dürfen. „Dann ich.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich will nur ein bisschen die Umgebung auskundschaften. Es ist besser, wenn ich das allein mache. Bin bald zurück.“ Bevor die anderen noch mehr Aufstand machen konnten, war sie schon verschwunden. Etwa einen Kilometer legte sie durch den dichten, dunklen Wald zurück. Es war eiskalt und oben am Himmel streiften kleine Meteoren vorbei, als wären sie Vorboten des kommenden Ereignisses. Max hatte in dem Blättchen, für das Sketchy schrieb, über den Kometen gelesen, der das Ende der Welt mit sich bringen würde. Doch sie hatte die Geschichte nicht ernster genommen als irgendeine Vampirgeschichte. Aber der Komet kam tatsächlich... Inzwischen hatte sie die Spitze einer kleinen Anhöhe erreicht, die mitten im Wald lag. Sie spähte durch die Bäume, um zu sehen, was unterhalb des Hügels lag. Unten, auf der anderen Seite, hinter einer weiteren Baumgruppe, lag inmitten eines weiten, gepflegten Grundstücks ein dreistöckiges weißes Gebäude, das mit Stuck verziert war. Daneben standen noch zwei kleinere Häuser. Selbst aus der Entfernung konnte sie erkennen, dass die Fenster vergittert waren. Jetzt erinnerte sie sich an einen Ausspruch von C.J. Sandeman, dem verrückten Bruder von Ames White,
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der anscheinend auch ihr Halbbruder war. Es war etwa vor einem Jahr gewesen. „Ich gehe nicht zurück in diese Klapsmühle“, hatte C.J. gesagt. Von ihrem Platz aus sah das Gebäude tatsächlich wie eine Nervenheilanstalt aus. Doch sie wusste, dass sich hinter der Fassade die Hochburg der Konklave versteckte. Logan war irgendwo in diesem Haus, White ebenfalls. Und Gott allein wusste, wie viele Familiars und welcher Horror sie dort erwarten würden... Doch sie musste hineingehen. Wenn sie in eine Falle geraten würde, sei’s drum. Zumindest wäre sie dann ein letztes Mal in Logans Nähe gewesen. Die Leute in diesem nüchtern wirkenden Gebäude hatten ihr von Anfang an das Leben schwer gemacht – ob direkt oder indirekt. Doch im Moment konnte sie noch nichts machen, da bald die Sonne aufgehen würde. Sie mussten sich tagsüber ruhig verhalten. Doch morgen Nacht war es endlich so weit, und sie würden die Anstalt von diesen Verrückten befreien.
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10. Kapitel_________________________ IM ANGESICHT DES WAHNSINNS Die Hochburg der Konklave 24. Dezember 2021 Abwechselnd beobachteten sie von der Anhöhe aus die nordwestliche Seite des Gebäudes. Max hatte die gesamte Gegend ausgekundschaftet, und diese Seite schien ihr der beste Angriffspunkt zu sein. Die vordere Seite konnten sie von hier aus zwar nicht sehen, aber sie hatten einen guten Blick auf den Parkplatz und den größten Teil des Grundstücks. Ein Dutzend Wagen standen auf dem Parkplatz, außerdem zwei Mannschaftswagen. Für Max sah das viel versprechend aus, denn es machte ihr klar, dass sie mit den Leuten, die sich in dem Gebäude aufhielten, fertig werden konnten, selbst dann, wenn in jedem Auto mehrere Familiars eine Fahrgemeinschaft gebildet hätten. Bei ihrem Ausflug auf die andere Seite des Gebäudes hatte sie eine Tafel entdeckt, die dieses Anwesen als BIG SKY RETREAT auswies. Max hatte damals nicht gewusst, dass C.J. mit seiner Bezeichnung „Klapsmühle“ für dieses Haus tatsächlich richtig gelegen hatte. Davon abgesehen war es für die Absicht, die die Konklave verfolgte, perfekt. Eine ideale Fassade und die beste Tarnung für deren geheime Aktivitäten. Falls ein Aufsichtsbeamter des Staates einen Kontrollbesuch machen würde, bekäme er vermutlich nichts anderes mit als die dumpfen Schreie der Verrückten, die hier – zu ihrem eigenen Besten – festgehalten wurden. Tatsächlich waren jedoch die Verantwortlichen dieser Anstalt die Verrückten – die Mitglieder des Schlangenkults. 214
Als es dämmerte, hatten Max und ihre kleine Kommandotruppe schon einen ziemlich guten Überblick über die Aktivitäten der Konklave außerhalb des Gebäudes gewonnen. Drei-Mann-Patrouillen durchkämmten weitschweifig das Gelände. Sie kamen wie zufällig auf ihrem Weg immer wieder am Fuß der Anhöhe vorbei, schlugen sich dann in den Wald und umrundeten wieder das Haus. Doch keine der Patrouillen war näher als bis zum Fuß des kleinen Hügels an sie herangekommen. Mole schätzte, dass mindestens ein Dutzend Familiars als Patrouillen unterwegs sein mussten. Sie standen also zu viert einer unbekannten Zahl von speziell gezüchteten Soldaten gegenüber, deren bevorzugtes Hobby darin bestand, die Transgenos zu vernichten. Und Max war das Aushängeschild aller Transgenos, der „Messias“, den diese Verrückten vernichten wollten. Super. Max hätte eigentlich zutiefst beunruhigt sein müssen bei dem Gedanken, eine aussichtslos scheinende Schlacht schlagen zu müssen, doch sie fühlte keinerlei Angst. Sie hatten schon zuvor genug Schwierigkeiten ins Auge sehen müssen und dennoch ihre Mission erfüllt, denn in Manticore hatte man ihnen die nötigen Fähigkeiten und die entsprechende Haltung eingeimpft. Doch einer Armee von Familiars gegenübertreten zu müssen, die ähnliche Fähigkeiten hatten wie sie selbst und die zudem sicherlich in der Überzahl waren, gab ihr zumindest zu denken. Dies erforderte definitiv einen Plan, der nicht beschissen war. Sie würden nicht nur eine genaue Übersicht brauchen, sondern auch ein perfekt ausgearbeitetes Ablenkungsmanöver, um Logan zu befreien. Max setzte sich direkt neben den Wagen. Bostock, der mit Klebeband gefesselt war, lag am Boden neben ihr. Alec hockte wie ein Indianer an seiner Seite und wedelte locker mit der Pistole vor dem Gefangenen herum. Joshua schob gerade 215
Wache oben auf dem Hügel, und Mole saß im Auto, um sich ein wenig auszuruhen, bevor der Spaß losging. „Wenn Sie mit uns zusammenarbeiten“, sagte Max zu dem geknebelten Familiar, „könnte ich Ihnen helfen, aus der ganzen Geschichte lebend herauszukommen.“ Bostock starrte sie abwehrend an. Zumindest versuchte er es, denn mit dem Klebeband über dem Mund war seine Miene nicht eindeutig zu erkennen. „Sie geben mir einen ausführlichen Bericht über das Innere dieses Ladens“, sagte Max, „und erzählen mir, wie viele von den Schlangentypen da drin sind... und ich helfe Ihnen, das Ganze zu überleben. Interessiert?“ Bostock wand sich – er sah in diesem Augenblick tatsächlich aus wie eine Schlange – und presste wütend ein Wort heraus, das von dem Klebeband verschluckt wurde. „Schätze, das sollte ein ,Nein’ sein“, sagte Max. Sie ging zu einem der Bäume, zog ihr Handy heraus und gab Dix’ Nummer in Terminal City ein. Beim ersten Klingeln hörte sie schon seine Stimme. Er war aufgeregt, erleichtert und besorgt zugleich. Max beruhigte ihn und klärte ihn dann darüber auf, wo sie waren und was sie vorhatten. „Wann?“, fragte er. „Um Mitternacht“, sagte Max und gab ihm noch genauere Anweisungen. „Kannst du das hinkriegen?“ „Muss ich mir erst aufschreiben“, sagte er. „Warum tust du es dann nicht?“ „Geht klar.“ Dix unterbrach die Verbindung. Die nächsten Stunden blieben sie weiter auf dem Beobachtungsposten. Zwischendurch aßen sie den Proviant, den sie aus dem Haus von Lyman Cale mitgenommen hatten. Kaltes Fleisch, das sie mit Soda aus der Dose hinunterspülten. Ein ziemlich schauriges Picknick, wenn man bedachte, dass der 216
Korb mit dem Essen direkt neben den zwei Leichen im Kofferraum gestanden hatte, aber die hochtrainierten Soldaten kümmerten sich nicht um solche Nebensächlichkeiten. Alec, der gerade von seinem Rundgang zurückkam, wandte sich an Max. „Du solltest besser mal kommen.“ Gemeinsam gingen sie zu ihrem Aussichtspunkt. Max sah, dass gerade ein Auto auf den Teil des Parkplatzes fuhr, der für spezielle Privatfahrzeuge reserviert war. Es war ein schwarzer Lincoln, eine Luxuslimousine. In kurzer Zeit war der Parkplatz voller Wagen verschiedenster Ausfertigung, die meisten gehörten zu der gehobeneren Klasse, aber nicht alle. „Ich habe Nummernschilder von der gesamten Westküste ausgemacht“, sagte Alec. „Ein paar scheinen auch Mietwagen zu sein. Was hältst du davon?“ Max senkte das Fernglas. „Wir werden ein volles Haus haben, heute Nacht. Die Familiars kommen von überall...“ „Warum?“ Sie lächelte den X5 verhalten an. „Es ist die Nacht für sie.“ „Du meinst, ihre jährliche Schlangenkultparty zu Weihnachten?“ „Nein. Die Endzeitparty. Der Komet taucht auf, schon vergessen?“ „Oh ja... und die gute Nachricht ist, dass Jesus zurückkommt, stimmt’s?“ Sie nickte. „Aber sie haben noch nichts von der schlechten Nachricht gehört. Dass ihr Messias nämlich ziemlich genervt ist.“ Alec grinste und nickte. Dann schaute er zum Himmel. „Ich denke, wir werden eine weiße Weihnacht haben.“ „Hoffentlich nicht zu weiß.“ Gegen Abend fing es an zu schneien, und als die Dunkelheit sich wie eine schwarze Hand über das Gelände legte, hatten sie mit ihren Vorbereitungen für die kommende Schlacht bereits begonnen. 217
Es gab für sie nur eine Möglichkeit, Logan zu befreien. Und es beunruhigte Max, dass das Schicksal des Mannes, den sie liebte, größtenteils von Ames Whites Launen abhängig war. Doch obwohl keiner darüber ein Wort verlor, wussten sie alle, dass in dieser Nacht mehr auf dem Spiel stand als nur Logans Leben. Für die Mitglieder des Schlangenkults war diese Nacht der Beginn einer neuen Ära – und das Ende der Menschheit. Auch wenn sie nicht sagen konnte, ob an der ganzen Geschichte etwas dran war oder nicht, hatte Max doch keinen blassen Schimmer, was sie gegen diesen Kometen tun konnte. Auf der anderen Seite stellten diese kranken Bastarde, die den Tod aller Normalen wollten und für die Auslöschung aller Transgenos beteten, genau das Problem dar, das Max und ihre Truppe in ausgezeichneter Weise lösen konnten. Die Transgenos waren als Soldaten ausgebildet worden, um die Vereinigten Staaten vor fremden Gegnern, aber auch vor Feinden aus dem eigenen Land zu schützen. Und heute Nacht hatten sie endlich die Möglichkeit, diese Fähigkeiten für ihr eigenes Land unter Beweis zu stellen... in einer Irrenanstalt. Sie beobachtete, wie ihr außergewöhnliches Team sich vorbereitete. Alec machte nebenher ein paar Liegestützen, um übermäßige Energie zu verbrennen und sich zu lockern. Mole checkte seine Pistole (Max war immer noch beunruhigt wegen der Waffe), und Joshua saß mit ausgestreckten Beinen am Boden hinter dem Wagen und schnarchte leise. Zu komisch. Die Transgenos in Terminal City waren so weit gekommen. Ihre Heimatstadt hatte sie endlich als gleichwertige Bürger akzeptiert, Alec wollte sich für den Stadtrat aufstellen lassen. Ihr Markt mit dem Kunsthandwerk ließ unternehmerischen Geist erkennen. Und überraschenderweise entstand eine unerschöpfliche Quelle an Kreativität ausgerechnet bei denen, die ausgebildet waren, um zu kämpfen und zu töten. Sie waren sehr weit gekommen... 218
... und sie hatten es auch hierher geschafft. Um zu kämpfen. Um zu töten. Etwa zehn Minuten vor Mitternacht, am Heiligen Abend, standen Max und ihre drei Freunde oben auf der Anhöhe. Der andere Messias hatte drei weise Männer gehabt, die ihm zu seiner Geburt die Ehre erwiesen hatten. Sie selbst hatte zwei weise Hirnis und einen Hundejungen. Sie musste nehmen, was sie kriegen konnte. Neben ihnen lagen die beiden Leichen. Der steife Familiar, unbeweglich in seiner Totenstarre. Und der Junge, eingewickelt in ein weißes Leintuch. Max wies Mole und Joshua an, zu warten, bis sie die Baumgrenze unten erreicht hatte und ihnen das Signal geben würde, mit ihrer schrecklichen Fracht aufzubrechen. Die beiden nickten mit finsterem Blick. Dann wandte sie sich an Alec, der seine Waffe immer noch in Bostocks Rippen vergraben hatte. Der Privatsekretär war immer noch mit Klebband gefesselt und auch der alte Lumpen steckte noch in seinem Mund. „Bist du bereit?“, fragte sie Alec. „Bin bereit“, sagte Alec. „Aber Max... bevor wir loslegen...“ „Hast du etwa noch andere Pläne? Weil du vielleicht befürchtest, dass deine politische Karriere im Keim erstickt werden könnte?“ „Nein. Ich will nichts anderes, als diese Dreckskerle erledigen. Trotzdem. Überleg doch mal.“ Er deutete mit dem Kopf auf den zusammengeschnürten Bostock. „Wenn dieser Typ hier und die anderen Schlangenheinis Recht haben mit diesem schwer giftigen Biozeug... dann wäre es dein Blut, aus dem man den Impfstoff gewinnen könnte. Und das würde... na, du weißt schon.“ „Die Welt retten?“
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„So ungefähr. Glaubst du tatsächlich, dass du die Richtige bist, die da unten in diese Schlangengrube gehen sollte, um zu kämpfen?“ Sie schwieg einen Augenblick. Dann legte sie eine Hand auf Alecs Schulter. „Daran habe ich auch schon gedacht. Aber wir sind hier, um Logan zu retten. Und ich bin nicht bereit, irgendetwas von diesem wirren Zeug zu glauben... aber nur für den Fall, dass was schief geht, bist du dafür verantwortlich, meinen Kadaver sofort auf Eis zu legen, und zwar unverzüglich.“ Er grinste sie an. „Bist du sicher, dass du mir eine solch gewinnträchtige Geschichte überlassen willst?“ Max musste lachen. Und es fühlte sich gut an. Die beiden X5 nickten sich zu und Alec sagte: „Dann sollten wir diesen Schlangen doch endlich frohe Weihnachten wünschen, oder was meinst du?“ „Und ihnen helfen, ihre alte Haut abzustreifen, damit sie für das neue Jahr vorbereitet sind“, sagte sie. Sie schlugen die Fäuste gegeneinander und machten sich auf den Weg. Max ging voraus. Alec blieb ein paar Schritte hinter ihr und zog Bostock mit sich, der ihm unbeholfen hinterherhoppelte. Joshua und Mole, die die zwei Leichen trugen, folgten ihnen in einigem Abstand. Max entdeckte eine Drei-Mann-Patrouille, die in den Tarnanzügen der TAC steckten. Bostock gab einen erstickten Laut von sich, und Alec brachte ihn mit seiner Pistole zum Schweigen. Doch Max hatte sich schon in Bewegung gesetzt. Sie verpasste dem ersten Wachmann einen Tritt. Plötzlich waren auch Joshua und Mole neben ihr. Sie hatten ihre Fracht zur Seite gelegt. Max vollführte ein paar kunstvolle Schwinger, die den Vertrag des Wachmanns, den er mit dem Leben gemacht hatte, auf einen Schlag zunichte machten. Joshua brach dem anderen das Genick, indem er ihm mit beiden Händen den Hals
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umdrehte. Mole begrub seine Pistole so tief in dem Körper des dritten Mannes, dass dessen Fleisch den Schuss erstickte. Max schaute zu Mole hinüber. Er hielt die Waffe in der Hand und stand über dem hingestreckten Familiar. Er erwiderte ihren Blick und flüsterte: „Ich weiß, du verabscheust Schusswaffen, Max... aber ich musste es auf meine Art erledigen, okay?“ Obwohl sie es hasste, nickte sie. Irgendwo in ihrem Kopf meldete sich eine kleine Stimme, die fragte, warum sie nur so scheinheilig sein konnte – nach allem, was hier passiert war. Sie hatte ihrem Gegner mit einem Handkantenschlag, der scharf war wie ein Messer, die Luftröhre zerschmettert, der „sanfte“ Riese Joshua hatte den Hals des anderen wie einen dünnen Zweig gebrochen... und sie regte sich auf, weil Mole einen Mann mit der Waffe erschossen hatte? Vielleicht konnte sie ja mit irgendjemandem im Big Sky über ihren psychischen Komplex reden. Sie waren noch etwa fünfzig Meter von dem Gebäude entfernt, als ihr Handy klingelte. „Wer will was von Max?“ „Die Zeit ist bald um, 452“, sagte Ames White mit der gleichen distanziert leisen Stimme wie bei den vorherigen Anrufen. Er klang, als wäre er auf dem Mond und nicht, wie anzunehmen, in Schussnähe. „Hast du meinen Sohn?“ „Ja“, sagte sie. „Er ist bei mir.“ „Gib ihn mir.“ „Das ist nicht möglich. Wir müssen erst darüber reden...“ „So langsam kriege ich das Gefühl, dass ich es gar nicht mag, wie du mit der Sache umgehst.“ „Sind Sie im Big Sky?“ Wahrscheinlich hatte diese Frage ihn überrascht, denn er sagte lange nichts. Sie konnte beinahe hören, wie es in seinem Gehirn arbeitete, als ihr langjähriger Gegner herauszufinden versuchte, woher sie das wissen konnte. „Ja oder nein?“, fragte sie schließlich. 221
„Ja...“ „Ist Ihre Leitung sicher?“ „Was meinst du damit, 452?“ „Ich will wissen, ob wir alleine sind oder ob ihre Freunde mithören?“ „Ich telefoniere mit meinem Handy“, sagte er und sein Ton deutete an, dass sie ungestört reden konnten. „Wir sind Feinde, seit sehr langer Zeit, White.“ „Darin stimmen wir ausnahmsweise mal überein.“ „Aber Sie sollten eines wissen... wir haben die gleichen Feinde.“ Wieder war es still am anderen Ende. Schließlich fragte er: „Wo ist mein Sohn?“ „Wenn Sie wirklich im Big Sky sind, kommen sie raus, und zwar vorne, und wir reden darüber. Und White? Bringen Sie Logan mit.“ Sie wusste, dass er sofort zum Fenster stürzen würde, um nachzusehen, ob sie ihn nicht angelogen hatte. Sie standen immer noch an der Rückseite des Gebäudes, und deshalb würde White keine Möglichkeit haben sie zu sehen, wenn sie sich durch die Bäume nach vorne kämpften. „Und kümmern Sie sich nicht darum, ihr Fußvolk zu alarmieren, damit sie uns von hinten auflauern“, sagte sie. „Die sind viel zu beschäftigt, mit ihrem eigenen Tod.“ Whites Stimme klang jetzt eisig. „Du hast schon immer den großen Auftritt geliebt, 452... ich bin sofort draußen.“ „Vergessen Sie nicht, was ich gesagt habe, White – über unsere gegenseitigen Feinde.“ „Wie könnte ich?“ „Und bringen Sie Logan mit.“ „Das werde ich. Wir hatten einen Austausch vereinbart, habe ich Recht, 452?“ „Stimmt.“ Sie unterbrach die Verbindung. 222
Nur ein paar Sterne blinkten am Nachthimmel, und die Luft war eiskalt. Mole und Joshua, die die zwei Leichen trugen, warteten am Waldrand, während Max, Alec und ihr gefesselter Gefangener auf die Lichtung traten. Der Schnee unter ihren Schuhen knirschte. Die Flutlichter an den Ecken des Gebäudes waren eingeschaltet und tauchten das Grundstück in helles Licht. Scheinwerfer waren Richtung Himmel ausgerichtet und warteten auf die Aufführung, die die Sterne heute bieten sollten. Doch Max und ihre Truppe achteten nicht darauf. Sie traten zum Rand des Lichtkreises, den das Flutlicht auf den Boden vor dem Haupteingang warf. Max schaute sich um und blickte zu den Bäumen. Zuerst konnte sie Mole und Joshua nicht ausmachen, doch dann verriet ihr das weiße Leintuch, in das der Junge gewickelt war, ihre Position. Sie gab ihnen mit Handzeichen zu verstehen, sich nicht vom Fleck zu rühren, dann nickte sie Alec zu. Der nickte zurück. Bostock stand mit hoch erhobenem Kopf da. Sein Ohr, das Alec ein bisschen zu hart angefasst hatte, blutete ein wenig. Er schien tatsächlich zu glauben, dass er bald nicht mehr als Geisel dastehen würde, sondern als der Held. Doch Max bezweifelte das. Schließlich traten sie, Alec und der umwickelte Gefangene in den Lichtkreis. Fünf Stufen aus Beton, eingerahmt von einem Metallgeländer, führten zum Haupteingang, einer Doppeltür aus Glas und Maschendraht. Zumindest eines war klar: Die neuen Herren der Welt hatten sich ein selten abstoßendes Hauptquartier ausgesucht. Alec hielt Bostock am Nacken fest und Max stand herausfordernd links neben ihm, die Hände in die Hüften gestemmt. In diesem Augenblick flog die Doppeltür auf und White, in schwarzem Anzug und dünnem schwarzem Regenmantel, 223
stürmte heraus. Oben an der Treppe blieb er stehen. Sein Blick wanderte zu Bostock. White hatte sich nicht verändert, seit Max ihn zum letzten Mal gesehen hatte. Das gleiche dunkle kurze Haar, das Gesicht geisterhaft weiß in dem grellen Flutlicht. Die Lippen schienen jede Farbe verloren zu haben, nur seine dunklen Augen brannten vor Intensität. Er kam allein die Stufen herunter und blieb etwa fünf Meter vor ihr stehen. „Mein Sohn!“, schrie er. „Wo ist mein Sohn?“ Stimmen erklangen in der kalten Luft. „Ich sehe Logan nicht“, sagte Max. Plötzlich öffneten sich die anderen Türen des Gebäudes. Mehr als zwei Dutzend Familiars strömten heraus und rannten die Stufen hinunter. Mit ihren kupferfarbenen Roben und den Kapuzen, die sich im Wind aufbauschten, sahen sie aus wie Mönche. Manche trugen Kragen aus Metall, auf denen heidnische Zeichen eingraviert waren; andere hatten eine schwarze Kriegsbemalung auf dem Gesicht oder Tattoos, die an barbarische Stämme von den pazifischen Inseln erinnerten. Da waren sie also, die Anhänger des Schlangenkults, die die Welt der Normalen unterwanderten, so wie Ames White und seine Speichellecker von der NSA es getan hatten. Sie stellten sich jetzt in einem großen Bogen um White herum auf und wirkten wie eine kupferfarbene undurchdringliche Wand. „Okay“, flüsterte Alec Max zu. „Wir sind also offiziell in der Minderheit.“ Einer der Familiars trat jetzt unmittelbar rechts neben White. Der große Mann sah aus wie ein Gespenst, mit seinem eckigen Gesicht und der Hakennase. Die Kapuze hing lose über seine Schultern, sein silbernes Haar flatterte im Wind. Er hatte weder Kriegsbemalung noch Tattoos im Gesicht. Seine königliche Haltung und die Robe mit der scharlachroten Pelerine gaben ihm das Aussehen eines Geistlichen oder gar Hexenmeisters.
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Max hatte diesen Mann noch nie zuvor gesehen, doch seine besondere Ausstrahlung sagte ihr, dass er das Oberhaupt sein musste und derjenige, der bei den Familiars die Macht ausübte. Zumindest hier in diesem Irrenhaus. „Franklin“, sagte White, als er Bostock jetzt erkannte. Hinter dem Klebeband stieß Bostock irgendetwas Unverständliches aus. „Wo ist Logan?“, fragte Max. White neigte den Kopf zur Seite. „Und wo ist Ray?“ Sie öffnete die Hände. „Sie sind in der Überzahl. Für Sie ist das hier ein Heimspiel. Wenn Sie uns geben, was wir wollen – wie könnten wir da gehen, ohne Ihnen das zu geben, was Sie wollen?“ White überlegte einen Moment, dann nickte er kurz. „Bringt ihn her!“, rief der silberhaarige Familiar. Zwei weitere Gestalten in Robe und Kapuze drängten durch die Türen, Logan in ihrer Mitte. Sie zerrten ihn die Stufen hinunter. Die Menge teilte sich und die beiden Familiars näherten sich mit Logan. Er war nicht gefesselt, schien jedoch schwach zu sein, ja erschöpft. Sie blieben links neben White stehen, hielten Logan aber weiterhin an den Armen fest. Logan sah Max an. „Erstaunlich“, sagte er, „was ich alles auf mich nehmen musste, damit du wieder mit mir redest.“ Dafür, dass er bei Ames White und den Anhängern des Schlangenkults zu Gast gewesen war, sah er gar nicht so übermäßig schlecht aus. Er hatte sich nicht rasieren dürfen und der Bart gab ihm einen schmuddeligen Anstrich. Seine Jeans und der blaue Pullover waren zerknittert und verfilzt. Aber es gab keinerlei Anzeichen dafür, dass sie ihn geschlagen oder gefoltert hatten. Und er stand noch aufrecht auf seinen eigenen Füßen, sah man einmal davon ab, dass die Familiars links und rechts von ihm seine Arme umklammerten. Offensichtlich 225
hatten sie ihm sein Exoskelett nicht abgenommen, das es ihm erlaubte, sich selbstständig fortzubewegen. Max lächelte ihn an und sagte: „Ich habe dir noch nicht vergeben.“ Er grinste und zuckte mit den Schultern. „Das klingt ja alles äußerst mutig und ergreifend“, sagte White und zog eine Pistole unter seinem Regenmantel hervor. „Aber wenn er noch ein Wort sagt, bevor ich meinen Jungen habe, werde ich ihn umlegen.“ Max hob abwehrend die Hände. „White, Sie sollten nicht übereilt handeln...“ „Wo ist Ray?“ „Zuerst müssen Sie mir zuhören. Sie sind hier im Vorteil. Warten Sie, bis Sie alles gehört haben.“ White runzelte die Stirn. Ganz offensichtlich kämpfte er mit sich. Wut und Neugier, aber auch Ungeduld und Selbstbeherrschung waren deutlich von seiner Miene abzulesen. „Bis ich was gehört habe, 452?“ Max hob die Hand, ein Befehlssignal für ihre Freunde, und ließ sie dann wieder herabfallen. „Nichts übereilen“, riet sie ihm noch einmal. Whites Falten vertieften sich. Jetzt tauchten Alec und Joshua aus dem Schatten auf, in ihren Armen die schreckliche Fracht. Sie sahen aus wie zwei traurige frisch Vermählte, die ihre Bräute über die Schwelle trugen. Mole legte den toten Familiar auf den Boden, direkt vor das weißhaarige Oberhaupt. Joshua bettete vorsichtig den kleineren Körper in dem weißen Leintuch in den Schnee, zu Füßen seines Vaters. Ames White musste das Tuch nicht anheben – die kleine Gestalt sagte ihm alles. Offensichtlich versuchte er, jedes Gefühl aus seiner Stimme zu bannen, als er sagte: „Ray.“ „Ja“, sagte Max. „Aber ich bin nicht dafür verantwortlich.“
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Die Waffe in Whites Hand schnellte nach oben, und er presste die Mündung gegen Logans Schläfe. Whites Lippen zogen sich zurück und enthüllten die blanken Zähne in seinem Schädel. Logan zuckte zusammen. „Meine Leute haben diesen schrecklichen Mord nicht begangen!“, schrie Max. „Oder ist es Ihnen tatsächlich egal, wer das getan hat?“ White blieb unberührt, bereit zu schießen, für einen schrecklich langen Augenblick. Schließlich senkte er die Waffe, kniff die Augen zusammen und sein mörderischer Blick wanderte zu Max. „Wenn du es nicht warst, 452“, sagte er, „wer war es dann?“ „Fragen Sie ihn!“, sagte Max und deutete auf Bostock. Alec riss das Klebeband vom Gesicht des Privatsekretärs. Bostock spuckte den Knebel aus, einen dreckigen Lumpen, der in den Schnee fiel. „Haben Sie mir etwas zu sagen, Franklin?“, sagte White. Bostock stand erstarrt da. „Vorhin war er noch sehr gesprächig“, sagte Max. „Vielleicht ist er jetzt ein bisschen eingeschüchtert, weil er dem Vater gegenübersteht, dessen Kind er getötet hat.“ „Ich will eine Erklärung“, sagte White. Der silberhaarige Anführer ergriff Whites Arm und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Doch der schüttelte nur den Kopf und entzog ihm seinen Arm. „Ich will eine Erklärung!“, forderte White noch einmal. Max legte ihm in kurzen Worten dar, dass sie Bostock zum ersten Mal getroffen hatte, als sie Lyman Cale um das Lösegeld für Logan bitten wollte. „Verstehe“, sagte White und klang erstaunlich selbstbeherrscht, doch er schaute nicht auf die kleine Gestalt hinunter, die eingewickelt vor seinen Füßen lag. „Du wolltest also das Lösegeld von Lyman Cale, aber woran hast du erkannt, dass Franklin ein Familiar ist?“ 227
Sie erklärte ihm, wie sie Ray aufgespürt hatten. „Als wir zu dem Haus kamen, war es bereits zu spät. Zwei Männer hatten Ray und seine Tante umgebracht, kurz bevor wir kamen. Einer konnte fliehen, aber den anderen haben wir gefasst...“ Sie deutete zu der größeren Gestalt, die im Schnee lag. Dann fuhr sie fort: „Ich habe in ihm einen der Sicherheitsleute wiedererkannt, die für Bostock arbeiten.“ Mole trat vor und drehte die Leiche um, so dass White nun das Gesicht des Familiars sehen konnte. Beinahe freundlich fragte sie: „Erkennen Sie ihn?“ White nickte. „Er war Lyman Cale zugeteilt, stimmt’s?“, fragte Max. Wieder nickte White. Sein Blick war jetzt auf den Privatsekretär gerichtet. „Wir sind Feinde, White“, sagte Max. „Aber ich hätte nie Ihren Sohn umgebracht. Zum einen, weil ich ihn brauchte, um Logan zurückzubekommen. Und zum anderen, weil ich nicht so ein krankes Arschloch bin wie unser Franklin hier.“ Der Privatsekretär versuchte, sich von Alec loszureißen, aber der X5 umklammerte seinen Arm wie einen Schraubstock und schob die Waffe in seine Rippen. „Und, was haben Sie zu sagen, Franklin?“, fragte Ames White in einem Ton, der einen Hauch zu verständnisvoll klang. Bostock sagte nichts. „Stimmt das, Franklin? Haben Sie meinen Sohn getötet? Warum sollten Sie mir so etwas antun... Ihrem Bruder?“ Bostock achtete nicht auf White, sondern wandte sich an die große, silberhaarige Gestalt, die aussah wie ein Mönch. „Matthias! Sie wissen, dass ich alles tue, um die Ziele der Konklave zu unterstützen. Alles! Und White... er hat so oft versagt. Öffnen Sie die Augen, Matthias! Sehen Sie sich an, was ich Ihnen gebracht habe! Wie oft hat White in diesem Punkt versagt, und wer bringt Sie Ihnen nun – die Auserwählte?“ 228
White lächelte beunruhigt, kreuzte die Arme über der Brust, die Pistole fest in der Hand. Matthias, der Mann in der Robe, hörte Bostock teilnahmslos zu. Seine Miene verriet nicht, was in ihm vorging. „Und wenn sie nicht mehr ist“, fuhr Bostock fort, „wird es nichts mehr geben, was uns im Weg steht, nichts mehr, was die Konklave davon abhalten kann, den Plan zu erfüllen. Ich habe sie Ihnen gebracht – heute, in dieser Nacht der Nächte!“ Bostocks Stimme hallte über das Gelände. „Die Wiederkunft“, sagte er jetzt, „wird in wenigen Minuten stattfinden – wir stehen kurz vor dem endgültigen Sieg, dem totalen Sieg... und das habe ich vollbracht. Ich habe sie Ihnen gebracht! Nicht White. Und auch nicht dieser Sandeman, der Vater all unserer Probleme.“ Matthias schwieg immer noch, starrte Bostock nur mit glänzenden Augen an. War das vielleicht ein Zeichen dafür, dass er dessen Worte billigte...? Schließlich sagte der Privatsekretär: „Ja, ich habe Ray White getötet. Er war nichts als eine weitere unfähige Ausgeburt von Sandeman. Aber es war Teil meines Entwurfs, meines Plans, sie hierher zu bringen. Und da steht sie. Sie ist hier. Sie gehört uns... Ihnen. Wenn wir sie jetzt töten, steht unserer Zukunft nichts mehr im Weg.“ White sah wie zufällig zu dem silberhaarigen Mann. Ihre Blicke trafen sich für einen kurzen Augenblick, und Matthias nickte kaum merklich. White hob die Pistole und schoss Bostock in den Kopf. Der Privatsekretär fiel kerzengerade um, mitten in den Schnee, und wirbelte kleine weiße Wolken auf. Das schwarze Loch in seiner Stirn schimmerte rot am Rand. Er lag da, die Augen zum Himmel gerichtet, als wollte er selbst im Tod die Ankunft des Kometen nicht verpassen. Jetzt richtete White seine Pistole auf Max. „Der Idiot hat in einem Punkt Recht gehabt, 452... du musst sterben.“ 229
„Der Komet!“, rief plötzlich einer aus der Menge und auch die anderen schrien jetzt auf. Sie rannten wild durcheinander, die Augen weit aufgerissen, die Arme zum Himmel gestreckt, ein Meer von Gesichtern mit heidnischen Zeichen und schwarzer Kriegsbemalung. Auch White schaute zum Himmel, an dem ein funkelnder Lichtstreifen vorbeizog, der schließlich in einem Schauer von Farben explodierte. Die Rakete – sie würde Dix küssen, wenn sie ihn das nächste Mal sah – lieferte Max genau die Ablenkung, die sie brauchte. Als White den Trick mit dem Feuerwerk erkannte und seine Waffe herumschwang, um sie zu erschießen, sprang Max schon zu den beiden Familiars, die Logan festhielten. Sie schleuderte den einen zu Boden, trat dem anderen gegen den Kopf und hielt Logan die Hand hin. Er nahm sie. Weitere Raketen flogen jetzt über den Himmel, und nicht alle der Familiars hatten inzwischen kapiert, was eigentlich los war. Einige jedoch stürzten sich auf Joshua, Alec und Mole und ließen einen Hagel kunstvoller Schwinger los, die zwar seltsam unbeholfen aussahen, aber dennoch Furcht erregend wirkten. Die schneebedeckte Erde glühte für einen Augenblick in hellem Gelb und Orange auf. „Das ist ein Feuerwerk, ihr Idioten!“, schrie White. Jetzt stürzten sich alle Familiars auf die Transgenos. Die vier kämpften hart, aber es war klar, dass ihnen zu viele entgegenstanden. Der einzige Vorteil war, dass die Familiars, im Gegensatz zu White, nicht bewaffnet zu sein schienen. Sie hatten sich im Big Sky versammelt, um eine Party zu feiern, nicht um zu kämpfen. Logan kämpfte ebenfalls, aber er war zu schwach, um etwas ausrichten zu können. Plötzlich erklangen Kampfschreie, die durch den Wald hallten. 230
Dix hatte also noch mehr von zu Hause mitgebracht als nur ein Feuerwerk. Etwa hundert Transgenos stürmten jetzt aus dem Wald und warfen sich mitten in die Schlägerei – Dix und Luke und so viele seltsam vertraute Gesichter. Ein paar hatten Waffen in der Hand, doch die meisten kämpften nur mit ihrer puren, hochfrisierten Stärke und fegten über die winterliche Landschaft. Max stürzte zu Logan, der gerade gegen die zwei Familiars kämpfte, die ihn festgehalten hatten. Ihre Tritte gegen die Kehlen und in die Rippen und all die anderen schmutzigen Tricks, die sie beherrschte, reichten aus, um die beiden zu erledigen – zumindest so lange, um Logans Hand ergreifen zu können, ihm in die Augen zu schauen und zu sagen: „Hau ab in den Wald, Logan, und warte da auf mich.“ Er schüttelte den Kopf und wandte sich dem nächsten Familiar zu. Sie liebte ihn dafür, dass er bleiben wollte, um an ihrer Seite zu kämpfen, aber diese Entscheidung war genauso dumm wie mutig. Innerhalb von Sekunden lag er am Boden, und der Familiar kniete drohend vor ihm, die Hände um seinen Hals geschlungen, und würgte ihn. Sie knallte ihren Kopf in das bemalte Gesicht vor ihr, und die Nase des Mannes explodierte in einem scharlachroten Schauer. Er schwankte, fiel aber nicht. Erst ihr Ellbogen, der sich hart gegen seine Kehle drückte, überzeugte ihn davon, es doch zu tun. Schnell trat sie hinter den Familiar, der Logan würgte, fasste seinen Kopf und drehte ihn mit hartem Griff herum. Logan rollte sich schnell zur Seite, bevor der Tote auf ihn fallen konnte. Max kniete sich neben Logan. Er war völlig erschöpft, sein Gesicht rot angelaufen, da er beinahe erwürgt worden war. Plötzlich krachte ein Schuss durch die Nacht, und etwas Heißes drang in ihre Schulter. Sie stürzte zu Boden, lag da und schaute zu dem fantastischen Himmel hinauf, der scheinbar voller 231
Sterne war. Doch es war nur Dix’ Feuerwerksschau, die immer noch weiterging. Sie drehte den Kopf nach rechts und sah, dass Logan die Hand nach ihr ausstreckte. Er war wie gelähmt, seine Augen vor Entsetzen weit aufgerissen. Ihre Hände berührten sich. Sie war glücklich und eine friedliche Ruhe überfiel sie, die alles andere um sie herum verbannte... ... doch nicht länger als einen Augenblick. White sprang auf sie zu, setzte sich rittlings auf sie, und zog sie an ihrer Weste zu sich hoch. In gewisser Weise hatte er ihr damit sogar einen Gefallen getan, denn endlich erlangte sie ihr volles Bewusstsein wieder. Jetzt hörte sie auch wieder das Kampfgetümmel um sich herum und die Explosionen am Himmel. Und sie sah Ames Whites gequältes, dämonisches Gesicht, das nur Zentimeter von ihrem eigenen entfernt war. „Mag sein, dass Bostock Ray getötet hat, 452“, sagte er und lachte, obwohl seiner Stimme der Schmerz über den Verlust anzuhören war. Familiar hin oder her, er war ein Vater, der wohl den größten Verlust seines Lebens erlitten hatte. „Aber du bist dafür verantwortlich, stimmt’s? So wie du für alles verantwortlich bist, was ich in den letzten anderthalb Jahren erlitten habe. Allein du.“ Er richtete die Mündung der Pistole auf ihr Gesicht, um den entscheidenden Schuss abzugeben. Sein Gesicht wirkte jetzt wie eine Fratze, als er fortfuhr: „Mein Sohn lebt nicht mehr, um herrschen zu können, aber ich. Dein Tod durch meine Hand sichert mir die Unsterblichkeit.“ Wie in Zeitlupe sah sie, dass sein Finger den Abzug drückte. Sie konnte beinahe den Lauf der Kugel in der Pistole verfolgen. In diesem kurzen Augenblick gingen ihr tausend Gedanken durch den Kopf, alle auf einmal, und jeder war klar, prägnant und leicht zu verstehen. Es gab Menschen, die ihr sehr wichtig waren, Dinge, die sie glücklich machten. Doch was wollte sie aus ihrem Leben machen, einem Leben mit Logan, falls in der nächsten Sekunde 232
auf irgendeine wundersame Weise die Kugel ihr Ziel verpassen sollte und nicht in ihr Hirn eindringen würde? Über dem Missklang des Schlachtgetümmels hörte sie plötzlich etwas zutiefst Ursprüngliches und Entsetzliches. Und dann tauchte eine Bestie auf, die bedrohlich hinter Ames White aufragte. Joshua. Die Waffe fiel mit einem dumpfen Aufprall neben sie. Und diesmal kam der Schrei von White. War es Schmerz? Er konnte keinen physischen Schmerz spüren, oder doch? War es Wut, Trauer oder nur ein entsetzlicher erstickter Laut, der aus ihm herausbrach, als die Bestie seinen Kopf umklammerte und ihn hochzog? Sie sah Whites Kopf aus ihrem Blickfeld verschwinden und damit das Gewicht, das sie zu Boden gedrückt hatte. Sie stützte sich auf den Ellbogen und zog sich hoch. Jetzt sah sie White, oder zumindest seinen Körper. Er lag neben ihr am Boden. Blut spritzte aus dem zerfetzten Hals, wie ein Geysir spritzte es heraus, da, wo einmal sein Kopf gewesen war. Als Max sich aufsetzte, entdeckte sie Whites Kopf. Er schwebte etwa zwei Meter über ihr, in Joshuas Hand. Er hielt den abgetrennten Schädel an den Haaren fest, direkt vor seine Augen, und starrte in Whites lebloses Gesicht. „Du hättest das nicht tun sollen“, sagte Joshua und seine Stimme klang seltsam sanft, als er mit dem blutüberströmten Kopf sprach, als würde er ein Kind ausschelten. „Du hättest Annie nicht umbringen dürfen.“ Annie, sie war eine Normale gewesen. Joshua hatte sie geliebt, und sie hatte Joshua geliebt, ein liebes, blindes Mädchen. White hatte sie aus reiner Niederträchtigkeit ermordet. Joshua starrte auf Whites Schädel, als ob er auf eine Entschuldigung wartete.
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Doch es blieb still. Da stieß Joshua einen Schrei aus, der seine ganze Qual und den Schmerz in sich trug. Er schwang den Arm wie einen Propeller und schleuderte den Kopf in die dunkle Nacht hinaus. Mit einem dumpfen Aufprall schlug er schließlich in der Ferne auf. Joshua beugte sich über sie. „Tut mir Leid, Kleines. Hab meinen Kopf verloren.“ Sie sah ihn nur an und fragte sich, ob er wusste, was er da eben gesagt hatte. Dann zog Joshua sie hoch und sie untersuchte ihre Wunde. Die Schulter war steif, doch sie schien nicht schlimmer verletzt zu sein. Ihr transgenetischer Körper hatte schon damit begonnen, die Verletzung zu heilen. Sie bewegte die Schulter ein bisschen und sagte: „Wird schon wieder.“ Jetzt half Joshua Logan auf die Füße. Max verschaffte sich schnell einen Überblick. Die Transgenos waren inzwischen im Kampf in der Überzahl. Max sah sich nach dem silberhaarigen Gespenst Matthias um. Dann entdeckte sie ihn. Mit wehender Robe und flatternder Pelerine rannte er die Treppe hinauf und verschwand in der Irrenanstalt. „Bleibt hier draußen“, sagte sie zu Logan und Joshua, „bis das Gebäude abgesichert ist. Alec, Mole, ihr kommt mit!“
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11. Kapitel_________________________ DIE GROSSE ENDZEITPARTY Die Hochburg der Konklave 25. Dezember 2021 Max watete durch ein Meer von Familiars. Hinter ihr lieferte Alec gerade eine beeindruckende Show kunstvoller Schwinger ab, die er einem Paar des Schlangenkults verpasste. Mole war auf der anderen Seite mit einer Drei-Mann-Patrouille beschäftigt, griff sie gnadenlos an, und sie fielen um wie Kegel. Dann folgten ihr die zwei Krieger, wie abgesprochen. Sie kämpften sich die Treppe hoch zum Haupteingang des Gebäudes. Die Schlacht hatte sich entscheidend zu Gunsten der Transgenos gewendet. Die Familiars, die noch nicht zu Boden gegangen waren, flüchteten die Anhöhe hinauf oder rannten um das Gebäude herum zur Rückseite, wahrscheinlich auf der Suche nach einem anderen Eingang oder auf dem Weg zum Parkplatz. Doch sie wurden erbarmungslos von der Meute der Transgenos verfolgt. Nachdem sie die Treppe bewältigt hatten, konnten Max, Mole und Alec ungehindert in das Gebäude. Draußen tobte ein grausamer Kampf, doch innen schien alles verlassen und wie ausgestorben zu sein. Zunächst kamen sie in einen Raum, der früher einmal die Rezeption oder ein Warteraum gewesen sein musste, mit einem doppeltürigen Fahrstuhl. Die Stühle zu beiden Seiten der Wand fehlten jedoch, und die Rezeption mit dem kleinen Fenster war nicht besetzt. Es war nichts als ein großer leerer gefliester Raum mit einem langen Flur in der Mitte. 235
Sie hörten Stimmen, die Schreie der Gefangenen, doch sie schienen nicht aus dem Erdgeschoss zu kommen. Tatsächlich klangen sie eher so, als würden sie durch die Wände dringen. Es war gespenstisch und beunruhigend, obwohl dies hier nichts als ein Verwaltungstrakt war, mit kleinen, engen Büros, die voll gestopft waren mit Computern, Tischen, Stühlen und Aktenschränken, so wie man sie in jeder Einrichtung dieser Art finden würde. Dass die Menschen, die in diesen sauberen Büros arbeiteten, Mitglieder des Schlangenkults mit heidnischen Zeichen im Gesicht und flatternden Roben sein sollten, die barbarische Rituale pflegten, schien irgendwie unvorstellbar zu sein. Zumindest wäre es so gewesen, wenn sie sich nicht gerade ihren Weg durch das Schlachtfeld draußen gekämpft hätten. Das Gebäude war alt und brauchte dringend eine Auffrischung. Trotz allem war es sauber. Kein Staubkörnchen lag am Boden, keine Spinnweben hingen an den Wänden oder an der Decke. Es roch nach einem Fichtennadelreiniger und Desinfektionsmittel. Vorsichtig gingen sie weiter. Max gab den anderen ein Zeichen, sich aufzuteilen. Alec und Mole nahmen die Flure links und rechts, während Max den mittleren nahm. Am Ende des Flurs fand sie eine Treppe und ging hinauf. Im ersten Stock befanden sich Zellen. Hilfeschreie hallten von den Wänden wider. Wachen oder Familiars waren jedoch nirgendwo zu sehen. Es war niemand da, außer den Insassen, die auf sich aufmerksam machen wollten. Sie konnte sich vorstellen, wer diese Menschen waren: Gefangene der Konklave, vielleicht sogar Normale, die mit den teuflischen Ideen und Praktiken der Familiars in Berührung gekommen waren. Oder Verräter aus den eigenen Reihen, vielleicht sogar Transgenos. Und natürlich die wirklich verrückten Patienten, die tatsächlich Schutz brauchten.
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Als Max den zweiten Stock erreichte, stieß sie auf eine weitere kleine Rezeption, die aber nicht so sparsam eingerichtet war wie die im Erdgeschoss. Die Wände waren getäfelt, bequeme Stühle standen davor, und auf den kleinen Tischen lagen Zeitschriften. Doch auch hier war die Rezeption nicht besetzt. Sie stieß die Doppeltür auf, die in einen kurzen Korridor führte, in dem Untersuchungsräume und weitere kleine Büros lagen. Es roch wie in einem Krankenhaus und sie musste niesen. Aber zumindest sah es hier eher nach einer Klinik aus. Dieser Bereich schien dafür vorgesehen zu sein, staatliche Aufsichtsbeamte an der Nase herumzuführen, indem man ihnen eine Fassade präsentierte, die nicht der Realität entsprach. Genauso wie den Familienmitgliedern, die ihre Lieben dem Schutz des Schlangenkults anvertraut hatten, ohne vielleicht zu wissen, was tatsächlich dahinter steckte. Am Ende des Flures befand sich eine Metalltür mit einem Knauf, der lediglich einen Schlitz hatte für eine Sicherheitskarte. An der grauen Tür stand in großen roten Buchstaben: KEIN ZUTRITT. Okay, dachte sie. Aber irgendjemand muss doch hier rein können. Was sollte sonst der Raum dahinter für einen Sinn haben, wenn keiner hinein durfte? Max trat gegen die Tür. Sie war solide gebaut, und sie musste noch einmal mit aller Kraft dagegen treten. Beim zweiten Versuch flog die Tür aus den Angeln und landete krachend auf dem Steinboden. Schnell verschaffte sie sich einen Überblick über den Raum: ein großes rundes Zimmer, mit einer Kuppel an der Decke wie in einem Planetarium. Das große gewölbte Fenster bot einen fantastischen Blick auf den Sternenhimmel. Der Raum war nur schwach beleuchtet. Überall an den Wänden standen Monitore mit Computern. Die zwölf Plätze davor waren leer. Etwa drei 237
der Monitore waren Sicherheitskameras und zeigten die Insassen in ihren Zellen, das Gelände, die Flure und die Rezeption im Parterre. Dort, wo sie gerade hergekommen war. Die anderen Monitore übertrugen Satellitenbilder aus der ganzen Welt. In großen roten Buchstaben waren die entsprechenden Orte und die jeweiligen Uhrzeiten angegeben. Sie entdeckte Chicago, New York, Los Angeles, San Francisco, Miami, Seattle, Toronto, Moskau, London, Lissabon, Sydney und einige andere Städte. Die Bildschirme zeigten aktuelle Bilder der beliebtesten Plätze in den jeweiligen Städten. In Chicago war die Kamera auf die Michigan Avenue gerichtet, gleich beim Water Tower, und in New York natürlich auf den Times Square. Tausende von Menschen standen hier und feierten Weihnachten, mit kleinen Lichtern in der Hand. Alle schauten zum Himmel und warteten auf den Kometen, der kommen sollte. Auf einer erhöhten Plattform in der Mitte des Raums stand ein schwarzer, kunstvoll verzierter Stuhl. Er war geformt wie eine menschliche Hand, die denjenigen streicheln wollte, der auf ihr Platz nahm. In den Armlehnen waren Steuerungssysteme eingebaut. Der Stuhl sah aus, als ob er von Captain Kirk wäre, überarbeitet von Salvador Dali. Und in diesem Stuhl, diesem Thron, saß der silberhaarige Matthias. All das hatte sie innerhalb von Sekunden erfasst. Mehr Zeit blieb ihr auch nicht, denn plötzlich flog eine Gestalt auf sie zu, die wütend knurrte. Es war eine Priesterin mit langen klauenartigen Nägeln, die in einer Hand feierlich einen Dolch schwang. Auch sie trug eine Robe, doch sie wirkte mit ihrer schmalen Gestalt irgendwie verloren darin. Man hätte sie als hübsch bezeichnen können, wäre ihr Gesicht nicht mit heidnischen Zeichen verunstaltet gewesen. Mit einem Hechtsprung sprang sie auf Max zu und umklammerte sie mit ihrem Arm wie ein Schraubstock. Dann hob sie die Hand, in der der Dolch steckte. 238
Doch bevor die Klinge auf Max niedersausen konnte, griff sie den Arm der Angreiferin und zerbrach ihn wie einen dünnen Zweig. Familiar oder nicht, diese Priesterin war jedenfalls federleicht. Der gebrochene Arm baumelte nutzlos an ihrer Seite, doch die Priesterin zischte und griff Max mit erhobenem Dolch wieder an. Max wich zur Seite aus, griff blitzschnell nach der Robe der Frau und schleuderte sie, mit dem Kopf voraus, in einen der Monitore. Er explodierte, Rauch und Flammen stiegen auf und ein Regen von Glassplittern fiel zu Boden. „So viel zum Thema: Überwachung von London“, sagte Max zu Matthias. Die Priesterin zuckte und zitterte. Sie wurde buchstäblich durchgerüttelt wie bei einer Hinrichtung auf dem elektrischen Stuhl. Jahrhunderte selektiver Zucht hatten in diesem Fall ein abruptes Ende gefunden. Matthias drehte sich zu Max. Er schien nicht besonders interessiert – ja nicht einmal beunruhigt – zu sein über den Verlust der Priesterin. „In der Welt vor dem Puls“, sagte Matthias mit klangvoller, seltsam beruhigender Stimme, die einen leicht deutschen Akzent hatte, „mochten diese Demonstrationen Ihrer mutierten Kraft vielleicht beeindruckend gewesen sein. Doch jetzt, da wir jeden Augenblick die Wiederkunft erwarten, sind diese kindischen Tricks von Ihnen, 452, beinahe nostalgisch.“ Max blieb für einen Augenblick stehen, ohne sich ihm zu nähern. Seine Hände ruhten auf dem Steuerungssystem in den Armlehnen, und sie hatte keinen blassen Schimmer, was er von seinem Thron aus damit anrichten konnte. In diesem Augenblick hörte sie ein Geräusch hinter sich und wirbelte herum. Alec stand da. Kurz darauf tauchte Mole hinter ihm auf. „Super“, sagte Alec. „Der Typ hat ja ein wahnsinniges Unterhaltungszentrum.“ Er deutete mit dem Kopf auf die zusammengesackte, qualmende Priesterin, die über dem 239
Monitor hing, der bis vor kurzem noch ein Bild von London gezeigt hatte. „Aber Sie sollten doch wissen, dass es gefährlich ist, so nah am Bildschirm zu sitzen.“ Mole blickte sich um und sagte: „Also, wer ist dieser Kerl? Blofeld? Der Laden ist sauber, keiner mehr von diesen Schlangenkultidioten, außer diesem Typen hier. Nur jede Menge Verrückte im ersten Stock.“ Matthias schien gelangweilt zu sein. Aber er ließ sich trotzdem zu einer Bemerkung herab: „Die Wiederkunft steht unausweichlich fest. Ihre Anstrengungen... Es sind nichts als hilflose, bemitleidenswerte Versuche, in einer Nussschale einen Taifun zu überleben.“ Alec hatte kaum zugehört, sondern starrte zur Decke. „Na, das nenne ich ein Dachfenster...“ Matthias deutete auf die Monitore. Er sah in seiner Robe wie ein Gespenst aus. „Wir werden hinaus in die Nacht eilen und niemand kann uns aufhalten“, sagte er. Einer der Monitore zeigte den Parkplatz. Familiars in ihren Roben rannten wie entsetzte, aufgescheuchte Hühner auf die Wagen zu und sprangen hinein. „Wo stecken die denn die Autoschlüssel in diesen komischen Mänteln hin?“, fragte Alec. Max warf ihm einen warnenden Blick zu. „Ich frag ja nur“, sagte Alec. „Einige unserer Brüder sind heute Nacht gefallen“, sagte Matthias. „Aber die anderen werden hinaus in die Welt ziehen und unseren Samen verbreiten. Und die Normalen werden vertrocknen, wie Weintrauben, die nicht gepflückt worden sind.“ Alec, immer noch im Plauderton, fragte: „In ein paar Minuten, wenn dieses Biogift austritt... Wie lange dauert es, bis das Zeug wirkt?“
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„Viele werden innerhalb kürzester Zeit sterben“, sagte der silberhaarige Familiar. „Die anderen, die etwas Stärkeren dieser schwachen Spezies, können sich noch etwas länger an das Leben klammern.“ „Und Max“, sagte Alec, „kann ihnen ein Gesundheitszeugnis ausstellen, wenn wir den Impfstoff haben... Mole, du bist doch Geschäftsmann. Was glaubst du, was so ein Schuss Max-Blut bringt?“ Max hob eine Augenbraue. „Wir werden es vermarkten, Max.“ Mole fand das überhaupt nicht komisch. „Lass mich nur schnell diesen Schwanzlutscher kaltstellen, damit wir endlich nach Hause können, um Weihnachten zu feiern.“ Matthias stand auf. Drohend schaute er auf sie herab. „Kon’ta ress! Ken’dra hiff!“ Er breitete die Arme aus und starrte zum Himmel, zu den Sternen, und es schien, als ob er zu ihnen sprechen würde. Dann fuhr er fort mit seiner uralten Beschwörungsformel. „Adara mos rekali... konoss rehu jek!“ Mole hob seine Pistole und sagte: „Niemand kann von mir verlangen, dass ich mir diesen Mist anhöre...“ „Die Zukunft!“, tönte Matthias’ Stimme in dem dämmrigen Raum, und die Monitore glühten wie kleine Feuer. „Die Zukunft, sie kommt!“ Das Trio folgte seinem ausgestreckten Finger, der auf die Glaskuppel an der Decke deutete. Silberne und goldene Streifen zogen am Himmel vorbei, die aussahen wie glühende Bänder, deren Enden weiße Funken versprühten. „Cool“, sagte Alec. Max hatte noch nie zuvor etwas so Schönes gesehen, und es raubte ihr fast den Atem. Dann erschauderte sie. War dieser Sternenregen vielleicht der Träger des Biogiftes – der Anfang vom Ende der Menschheit?
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Matthias stand noch immer an seinem Platz und seine Augen wanderten von einem Monitor zum anderen. Auf allen Bildschirmen waren Gesichter zu sehen. Sie strahlten vor Freude – angesichts des Kometen, der an Weihnachten über den Himmel zog. Einige Plätze zeigten ein Meer von kleinen flackernden Kerzen, wie in einer Kirche; an anderen Orten hielten die Menschen lustige silberne Bänder hoch und schwenkten sie glücklich hin und her, in Erinnerung an das bemerkenswerte Ereignis, das sie gerade miterlebt hatten. Obwohl der Ton abgestellt war, konnte man klar erkennen, dass die Menschen überall vor Freude jubelten. Langsam verschwand das Bild, und stattdessen sah man die Menschen jetzt zu Hause, bei ihren eigenen kleinen Weihnachtsfeiern... ... und sie sahen alle ziemlich gut aus. Matthias starrte zutiefst erstaunt auf diese Bilder. Tatsächlich hatte Max bei einem Typen noch nie ein solch langes Gesicht gesehen. Immer noch schaute er von einem Monitor zum anderen, doch er entdeckte nichts anderes als normale Menschen, die sich amüsierten... und die sich bestens fühlten. „Vielleicht dauert es ein wenig, bis es wirkt“, sagte Alec. Er schien fast ein bisschen enttäuscht zu sein. „Eine Stunde oder so.“ „Oder vielleicht auch tausend Jahre“, sagte Max. Matthias ließ sich in seinen Stuhl fallen. Es sah aus, als ob die kunstvoll gestaltete Hand ihn zerquetschen wollte. „He, kippen Sie doch nicht gleich aus den Latschen“, sagte Mole und trat zu ihm. „Machen Sie einfach das, was die anderen Endzeittypen auch tun, wenn es mit dem großen Tag nicht hinhaut. Suchen Sie sich einen neuen aus. Überarbeiten Sie Ihr Konzept, und dann kann’s wieder losgehen.“ „Wir sind... die Überlegenen“, sagte Matthias benommen. „Klar“, sagte Max. „Ich habe über diesen Kult gelesen, damals vor dem Puls. Ein Komet sollte kommen, um sie ins 242
Weltall mitzunehmen, wo Gott auf sie warten würde. Zuerst mussten sich die Männer allerdings selbst kastrieren...“ „Autsch“, sagte Alec. „... und dann Gift nehmen. Sie mussten sich reinigen. Man will sich doch schließlich ein bisschen fein machen, bevor man Gott trifft. Allerdings wussten sie nur, dass der Komet kommt, um sie mit in den Weltraum zu nehmen. Und, was ist passiert? Sie warten immer noch.“ Matthias sah Max jetzt direkt an. Er wirkte gequält. „Es ist vorherbestimmt, seit tausenden von Jahren. Wir werden uns behaupten...“ „Vielleicht beim nächsten Kometen“, sagte Alec. „Wann soll das sein, im Jahre 4006?“ Max trat noch näher an Matthias heran. „Können Sie die Anlage von Ihrem Sitz aus steuern?“ Matthias sah sie mit großen Augen an. „Natürlich.“ „Dann öffnen Sie die Zellen. Wenn Sie mit uns zusammenarbeiten, werden wir Sie verschonen.“ Jetzt trat Mole vor. „He! Ich habe gesagt...“ „Das ist nicht demokratisch“, erinnerte sie ihn. Dann sah sie den Silberhaarigen an. „Nun?“ Matthias’ eisblaue Augen schauten zu dem kleinen Bildschirm, der sich in der Armlehne befand, dann drückte er unten rechts auf einen Knopf. Ein anderes Bild erschien jetzt auf den Monitoren. Und es war überall das Gleiche. In großen roten Buchstaben stand da: 5:00. Aber nur für eine Sekunde, dann folgte: 4:59... 4:58... 4:57... Max sprang zum Thron und griff nach der Robe. „Was zum Teufel...?“ „Das Gebäude wird sich in fünf Minuten selbst zerstören. Mehr oder weniger. Jetzt eher weniger.“ Sie umklammerte mit den Händen sein Gesicht und sah ihn an. Fast schien es, als ob sie das silberhaarige Oberhaupt des 243
Schlangenkults küssen wollte. „Sie müssen nicht mehr länger warten“, sagte sie. Dann drehte sie seinen Hals um. Sie sprang von der Plattform und sagte: „Alec, kümmere du dich um das Kontrollsystem. Wir haben nur ein paar Minuten, um das Gebäude zu räumen und unsere Leute hier wegzubringen.“ Mole schob sich den kümmerlichen Stumpen seiner Zigarre zwischen die Zähne und brummte: „Warum können diese größenwahnsinnigen Schwachköpfe nicht damit zufrieden sein, sich selbst zu vernichten? Warum müssen sie noch einen Haufen Leute mitnehmen?“ „Darüber können wir später in der Gruppe diskutieren“, sagte Max und zog den toten Matthias ziemlich unfeierlich an den Füßen vom Thron auf den schwarzen Boden, während Alec auf dessen Sitz kletterte. Max sah ihn voller Hoffnung an. „Kannst du das Ding knacken?“ „Kein Problem.“ Alec drückte auf einen Knopf. Die Explosion erschütterte das Gebäude und schleuderte Max zu Boden. Sie saß da, direkt neben dem toten Matthias, und sah wieder zu Alec hoch. Diesmal allerdings nicht so hoffnungsvoll. Alec grinste sie schief an, zuckte kurz mit den Schultern und sagte. „Sieht aus, als ob ich eines der kleineren Häuser draußen in die Luft gejagt habe.“ Max sprang auf. „Lass einfach die Finger von den Knöpfen, okay?“ 4:35... 4:34... 4:33... „Vielleicht sollte ich das Ding mal näher untersuchen“, sagte Alec. „Und die Gebrauchsanweisung lesen. In meiner Freizeit, meine ich.“ „Mach das, Alec“, sagte sie und verschwand mit Mole.
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Sie rannten die Treppe hinunter. „Du nimmst die Zellen links“, sagte Max zu Mole. „Und ich knöpfe mir die rechten vor. Wenn Alec sie nicht aufsperren kann, reiß die Dinger einfach aus den Angeln.“ „Kein Problem“, sagte Mole. In diesem Augenblick setzte die Sprinkleranlage ein, entweder auf Grund der Explosion im Außengebäude, das in Flammen stand, oder durch Alecs Hand, der seine Experimente mit dem Steuerungssystem fortgesetzt hatte. Der Regen, der jetzt auf sie herabfiel, war jedenfalls eiskalt und roch nach Rost, als ob er lange Zeit in der Leitung eingeschlossen gewesen war. Max konnte nur beten, dass Alec bald den richtigen Knopf finden würde, mit dem man die Zellen öffnen konnte. Sie stand in dem langen, leeren Flur und zog an der Klinke der ersten Tür. Doch nichts passierte. Sie fluchte, doch ihre Worte wurden verschluckt von dem Getöse der Sprinkleranlage und den Schreien, die überall aus den Zellen drangen. Schließlich entdeckte sie einen Feuerlöscher, der in einem verschlossenen Kasten an der Wand hing. Sie stieß mit dem Ellbogen gegen das Glas, nahm das Ding heraus und schleuderte es gegen das Schloss der ersten Tür. Schließlich gab die alte Verriegelung nach, und sie öffnete die Tür. Max starrte auf ein Einzelbett, das mit Ketten an der Wand befestigt war. J.C. Sandeman lag darin, fixiert in einer Zwangsjacke. Ein Knebel steckte in seinem Mund und er sah sie mit weit aufgerissenen Augen an. Es war offensichtlich, dass er sie sofort erkannt hatte. „Ich hab jetzt keine Zeit, Sie von dem Ding zu befreien“, sagte sie, zerrte ihn aus dem Bettchen und stellte ihn auf die Füße. „Der Laden fliegt in ein paar Minuten in die Luft. Rennen sie nach unten, da kann man Ihnen helfen.“ Er schaffte es, zu nicken, stolperte aus der Zelle und dann die Treppe hinunter. 245
Mole versuchte es an der nächsten Tür und sah sie mit leuchtenden Augen an. „Die ist überhaupt nicht zugesperrt!“ Schnell öffnete er die Tür und steckte seinen Kopf hinein. Genauso schnell zog er ihn wieder zurück und schlug die Tür zu. Mole zitterte. „Was ist los?“, fragte sie. „Schlangen“, sagte er und ging weiter. Soll man nicht für möglich halten, dass ein Eidechsenmann damit ein Problem hat, dachte sie und hastete zur nächsten Zelle, um keine Zeit zu verlieren. Sie hatten noch etwa zwei Minuten... Immer noch regnete es aus der Sprinkleranlage und ihre Haare waren schon völlig durchnässt. Sie hatte inzwischen vier Gefangene befreit, als sie schließlich hörte, dass alle Schlösser klickten. Die Türen gingen ein kleines Stück auf, doch die Gefangenen brauchten keine weitere Ermutigung. Sie flohen durch den Gang, platschten durch die Pfützen und merkten kaum, dass Max ihnen winkte, um ihnen den Weg in die Sicherheit zu zeigen. Sie ging von einer Zelle zur anderen, um sicher zu gehen, dass alle leer waren. Alle Insassen und Gefangenen waren verschwunden, alle, bis auf den in der letzten Zelle. Als sie die Tür aufstieß, entdeckte sie ein zusammengekauertes Häufchen in einer gepolsterten Zelle. Überall klafften Risse in dem Polster und das Innenfutter hing heraus. „Stehen Sie auf!“, sagte sie. „Der Kasten fliegt gleich in die Luft!“ Das Häufchen rollte sich auf die Seite und sie sah, dass es ein kranker, ausgemergelter Mann war, der offensichtlich gefoltert worden war. Der Mann starrte sie mit seinen schwarzen Knopfaugen an. Sie kannte ihn, seit ihrer Geburt.
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Max war zu verblüfft, um mehr sagen zu können als: „Ich dachte, Sie sind tot.“ Colonel Lydecker, der gefürchtete Ersatzvater ihrer Geschwister in Manticore, schaute zu ihr hoch und streckte ihr zitternd die Hände entgegen. „Nicht, wenn du mir hilfst...“ Sie schreckte zurück. „Fahren Sie zur Hölle. Gehen Sie doch selbst raus, wenn Sie können, Sie Bastard.“ Damit drehte sie sich um. Die Zeit machte ihr zu schaffen, noch mehr als diese verblüffende Entdeckung. Hinter sich hörte sie die nun schwache Ausgabe einer einst gewaltigen Stimme, die versuchte, das Getöse der Sprinkleranlage zu übertönen: „Ich verstehe, wie dir zu Mute ist... aber wenn du mir hilfst... werde ich dir auch helfen.“ Sie stand mit dem Rücken zu ihm in der Tür. „Mir helfen? So wie Sie mir in der Vergangenheit geholfen haben, indem Sie meine Geschwister getötet haben?“ Sie war schon halb draußen, als er sie mit seinen Worten zurückhielt. „Ich weiß, wo deine Mutter ist.“ Ihre Mutter... ihr Vater war nur ein kleiner Zusatz im Reagenzglas gewesen, doch ihre Mutter war eine richtige Frau aus Fleisch und Blut. Und Max sehnte sich danach, sie zu finden, sie zu treffen, zu wissen... Die Gedanken überschlugen sich in ihrem Kopf. Er log, Lydecker hatte immer gelogen. Er kannte ihre wunden Punkte. Und nun hatte er den wundesten Punkt berührt, den er sich vorstellen konnte... So einfach war das. Sie ließ ihn liegen und rannte hinaus. Dann drehte sie sich wieder um, hastete zurück in die Zelle und zerrte ihren kranken Ersatzvater hoch. Die Transgenos waren überall auf dem Gelände verstreut, und die Gestalten in den Roben lagen ausgestreckt vor ihnen auf der schneebedeckten Erde. Die kleine Leiche in dem weißen Leintuch stach aus all den Toten hervor, genauso wie der kopflose Leichnam des Vaters. Hier und da lagen ein paar 247
tote Patrouillen in ihrer TAC-Kluft herum, die Mole erledigt hatte. Wie man es auch drehen und wenden wollte, die Schlacht war vorbei, die Gegner waren entweder tot oder schwer verwundet, außer denen, die fliehen konnten. „Das Haus fliegt gleich in die Luft!“, schrie sie. „Verschwindet!“ Und sie rannten. Es ärgerte sie maßlos, dass ausgerechnet sie diejenige sein musste, die Colonel Lydecker in Sicherheit brachte. Sie hatten gerade den Waldrand erreicht, als das Gebäude explodierte. Tatsächlich gab es drei kleinere Explosionen außerhalb und in dem Gebäude, die sich in einem einzigen riesigen Feuerball vereinten. Trümmer und Steinbrocken regneten herab wie ein Komet, der auf die Erde stürzte. Innerhalb kürzester Zeit schlängelten sich riesige Flammen an den verbliebenen Wänden hoch – nur eines der kleineren Häuser draußen war nahezu unbeschädigt geblieben. Eine grauschwarze Wolke stieg auf und verbreitete einen widerlichen Gestank. Das prasselnde Feuer hörte sich an wie eine Maschinengewehrsalve. Plötzlich stand der bärtige Logan neben ihr. Er starrte auf die ausgetrocknete Hülle von Lydecker, der zitternd und keuchend am Boden lag. „Was hat denn unser Kätzchen diesmal ins Haus geschleppt?“ „Ich wünschte, ich hätte es nicht getan“, sagte sie und erzählte Logan, was Lydecker ihr gesagt hatte. „Du kannst ihm nicht trauen“, sagte er. „Ich weiß. Ich weiß.“ „Aber, Max... du kannst mir trauen. Wirklich.“ „Das weiß ich, Logan.“ „Wirklich?“ „Ich war bei deinem Onkel wegen dem Lösegeld. Er wäre beinahe gestorben, wegen mir, Logan. Vielleicht stirbt er trotzdem bald... Er liegt im Koma. Und ich weiß, dass ich es 248
nicht ertragen hätte, dir zu sagen, dass ich für seinen Tod verantwortlich bin...“ Er nahm ihre bloße Hand in die seine und drückte sie. Auch er trug keine Handschuhe. Es gab kein Virus mehr, um das sie sich sorgen mussten. „Du hast das für mich getan, Max. Ich weiß es. Du hast die Menschheit von diesem wahnsinnigen Schlangenkult befreit... oder zumindest ihre Reihen erheblich gelichtet, einschließlich Ames White. Aber das hast du nicht getan, um der Menschheit zu helfen, stimmt’s?“ „Du hast Recht. Ich hab es für dich getan, Logan... Aber wir hatten unseren Streit noch nicht beendet.“ Er lachte. Jetzt trat Alec zu ihnen und entdeckte Lydeckers zerzauste Gestalt. „Ich kann nicht glauben, dass dieser Bastard lebt!“ „Ich erledige das“, sagte Mole und schwang seine Waffe. Max schüttelte entschlossen den Kopf. „Nein! Ich brauche ihn lebend.“ Das Eidechsengesicht legte sich noch stärker in Falten und durch zusammengebissene Zähne stieß Mole hervor: „Aber das hab ich mir zu Weihnachten gewünscht.“ Wieder schüttelte Max den Kopf. „Du kriegst eine Krawatte von mir.“ „Was ist mit dem Kometen?“, fragte Alec. „Nach dem, was wir auf dem Monitor gesehen haben, fühlen die Leute sich super... Außer sie haben einen Kater, morgen früh. Es war nichts als ein riesengroßer Bluff.“ „Vielleicht wirkt es nur bei Leuten wie mir“, sagte Logan. „Irgendwann in den nächsten Tagen. Aber ich glaube nicht dran. Der Schlangenkult mag physisch und geistig überlegen gewesen sein, dank der Zuchtprogramme, aber es war nichts als ein Kult. Sie haben Glaubenssätze von sich gegeben, keine Wissenschaft.“ „Und was, wenn es doch stimmt?“, fragte Max.
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Logan zuckte mit den Schultern. „Dann tun wir das, was die Menschen immer tun. Wir versuchen, so gut wie möglich zu überleben, jeden Tag aufs Neue.“ „Ich hätte dir gleich sagen können, dass das ein großer Schwindel ist“, sagte Alec. Max sah ihn an. „Wirklich?“ „Habe nie irgendwas von dem Mist geglaubt, der in dem Blatt stand, für das Sketchy schreibt.“ Alle lachten. Es war wie eine Befreiung nach dem harten Kampf. Max und Logan leisteten die erste Hilfe und versorgten die Wunden, die ein paar der Transgenos sich eingehandelt hatten, einschließlich derjenigen an ihrer eigenen Schulter. Glücklicherweise beschränkten sich die Opfer auf die Familiars, die nicht auf einen Kampf eingestellt gewesen waren und deshalb keine Schusswaffen dabei gehabt hatten. Nur die guten Typen hatten es also überlebt. Die Transgenos, die Dix zusammengetrommelt hatte, um die Kavallerie für Max zu spielen, waren in den unterschiedlichsten Wagen angereist – Lastwagen, Personenwagen, Campingbusse, sogar Schulbusse. Alle Fahrzeuge hatten zwei Dinge gemeinsam: Sie waren genauso alt wie dreckig, funktionierten aber wie neu, dank der Fahrbereitschaft von Terminal City, die Luke und Dix unter sich hatten. Max verabschiedete sich und gab Dix einen dicken Kuss, den er tatsächlich verdiente. Und sie, Mole, Alec, Joshua und Logan winkten der unmöglichen Karawane hinterher, die sich auf den Weg nach Hause machte. Mole ging zurück zu dem Anwesen – das Feuer war schon beinahe erloschen – und organisierte einen Lastwagen, der hinter dem halbwegs unversehrten Gebäude stand. Weder Matthias noch Alec hatten es geschafft, dieses Haus in die Luft zu jagen. Dann hievten sie Lydecker auf die Ladefläche, die anderen sprangen ebenfalls auf, und fuhren durch das Haupttor,
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das heute unbewacht war. Schließlich hielten sie neben Logans Wagen, der keinen Kratzer abbekommen hatte. Logan und Max kletterten von dem Lastwagen und Max wies Mole an, nach Terminal City zu fahren, mit dem lebendigen Lydecker. „Ruf Dr. Carr an. Er soll ihn versorgen“, sagte sie zu dem Eidechsenmann. „Und halte Lydecker unter Verschluss. Er muss rund um die Uhr bewacht werden. Wenn es ihm besser geht, könnte er nämlich unangenehm werden.“ „Du überträgst mir die Verantwortung?“, fragte Mole und zündete sich eine Zigarre an. „Ich weiß, dass du ihm am liebsten den Kopf abreißen würdest, statt auf ihn aufzupassen“, sagte Max. Mole schaute zu Joshua hinüber. „Meinst du wirklich? Aber das ist eigentlich nicht mein Fachgebiet.“ Joshua sah verlegen zur Seite. Max klopfte Mole auf die Brust. „Du sollst nur dafür sorgen, dass dieser teuflische Bastard Lydecker am Leben bleibt. Wenn er mir tatsächlich helfen kann, meine Mutter zu finden, hätte er wenigstens etwas Gutes getan, nach all dem Schlechten.“ „Du bist also schon wieder dabei, einen neuen Kreuzzug zu starten?“, fragte Alec. „Können wir nicht mal ein oder zwei Tage Pause haben?“ „Du weißt ja, wie schwer man es als Messias hat“, sagte Max. „Wir retten die Seelen, und das sieben Tage in der Woche.“ „Ich dachte, du ruhst dich sonntags aus“, sagte Alec. „Nein“, sagte Max. „Das gilt nur für meinen alten Herrn.“ Alec grinste. „Retortenbabys schlafen nie.“ Dann sprang Terminal Citys zukünftiger Stadtrat hinten auf den Lastwagen neben Lydecker, der noch halb draußen hing. Joshua winkte wie ein kleines Kind. Mole, der hinter dem Steuer saß, die Zigarre im Mundwinkel, zwinkerte ihr zu. Und sie verschwanden in dem strahlenden Morgen. 251
Es war der Weihnachtsmorgen. Das Paar ging zu Logans Wagen und Max setzte sich hinter das Lenkrad. „Du hast mir also verziehen?“, fragte Logan. „Ich schätze.“ Sie ließ den Motor an und folgte der Straße, die die anderen genommen hatten, allerdings mit einigem Abstand. „Wegen dem, was du gesagt hast? Wegen meinem Onkel und all dem?“ „Ja. Und weil ich dich liebe.“ Sie sagte es so beiläufig, dass er nicht wusste, ob er richtig gehört hatte. Sie schauten sich einen Augenblick an und sie sah die Überraschung in seinem Blick. Dann wandte sie sich wieder der Straße zu. Logan schien verblüfft zu sein. „Ich glaube nicht, dass du mir das schon jemals gesagt hast.“ „Es war immer zu schwierig. Ich wollte ja. Vielleicht habe ich auch nur nicht gewusst, dass ich es tatsächlich tun muss. Bis jetzt. Aber als ich nach dir gesucht habe... und dich schließlich fand... Jetzt weiß ich, wie wichtig es ist. Es tatsächlich zu sagen.“ Logan berührte kurz ihre Wange. „Du weißt, dass ich dich liebe, nicht wahr? Mein Gott, Max, es ist wunderbar, meine Finger auf deiner Haut zu fühlen... Ist wieder alles gut?“ Sie blickte ihn an. „Ich werde dich nie anlügen.“ „Und ich werde dich auch nie anlügen.“ Sie lächelte ein wenig, dann heftete sie den Blick wieder auf die Straße. „Diese Sache mit Seth quält mich immer noch...“ „Er war dein Bruder. Es wird dich immer quälen. Das sollte es jedenfalls“, sagte er mit belegter Stimme. „Eines sollst du allerdings wissen: Ich werde dir so etwas nie wieder antun.“ Auch wenn es noch so schön gewesen war, ihn sagen zu hören, dass er sie liebte, freute sie sich noch mehr über dieses Versprechen. 252
Schweigend fuhren sie weiter. Schließlich sagte Logan: „Hört sich an, als ob du wieder bereit wärst für einen längeren Trip. Du und Lydecker, ihr wollt deine Mutter suchen?“ Sie grinste freudlos. „Sie könnte überall in der Stadt sein. Oder auf einem anderen Kontinent. Wir müssen mit dem Colonel reden... und du weißt, wie er ist.“ „Zuverlässigkeit ist nicht gerade seine Stärke. Und wenn deine Mutter am anderen Ende der Welt ist?“ „Ich muss sie finden.“ „Verstehe. Du hast noch einen Platz frei, in deinem Herzen.“ Max lächelte ihn an. „Ich weiß nicht. Erst müssen wir dich wieder ein bisschen aufpolieren. Erst dann kann ich entscheiden, ob ich mich noch mit dir sehen lassen kann.“ Er hob eine Augenbraue. „Hast du dich in letzter Zeit mal angeschaut?“ „Was soll das denn heißen?“ „Diese Sprinkleranlage war nicht nett zu deinem Haar.“ „Wirklich? Okay, du kannst einen Blick auf mich werfen, nachdem ich ein langes heißes Bad genommen habe. Vielleicht schlafe ich auch bis Weihnachten, dann wird sich alles von selbst regeln.“ „Es ist bereits Weihnachten, Max.“ „Eben.“ Schweigend fuhren sie weiter. Sie fühlten sich wohl und geborgen. Schließlich verließ Max auf halbem Weg die Straße – Logan war inzwischen eingeschlafen – und bog auf einen kleinen Parkplatz vor einem Motel ein, das am Rande einer kleinen Stadt lag. Sie buchte ein Zimmer, ging dann zum Wagen zurück und öffnete die Beifahrertür. Logan lümmelte auf seinem Sitz und schlief. „Komm raus“, sagte sie. Langsam erwachte er. „Wo... wo sind wir?“ „Bei einem Motel, auf halber Strecke.“ 253
Er sagte nichts, sondern stieg vorsichtig aus dem Wagen, als ob er seinen Muskeln nicht trauen würde – oder seinem Exoskelett. „Man kann duschen oder baden“, sagte sie. „Ich werde das jedenfalls jetzt tun. Aber was wir tatsächlich brauchen, ist ein kleines Nickerchen.“ Sie legte einen Arm um seine Hüfte und half ihm ins Motel. Er erlaubte ihr, zuerst zu baden. Erfrischt stand sie einige Zeit später in der Badezimmertür, den Föhn aus dem Motel in der Hand. Logan war nicht da. Sie fragte sich gerade besorgt, wo er sein konnte, als er zurückkam und erklärte, dass er sich in dem Laden gegenüber nur ein paar Toilettenartikel besorgt hätte, samt Rasierer. Er duschte und tauchte zwanzig Minuten später wieder auf. Der struppige Bart war verschwunden. Er trug kein T-Shirt. „Hast du Hunger?“, fragte Logan. „Oder sollen wir lieber ins Bett gehen?“ Sie lag bereits unter den Laken. „Und ich dachte schon, du fragst mich nie“, sagte sie und hob die Bettdecke für ihn.
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Über den Autor_____________________ MAX ALLAN COLLINS gilt als „Meister der MysteryFiction“. Zu seinen Werken gehören fünf Thriller-Reihen, des weiteren Filmkritiken, Kurzgeschichten, Songtexte, TradingCard-Sets sowie Bücher zu Film- und TV-Serien, darunter In the Line of Fire, Air Force One und Saving Private Ryan. Von 1977 bis 1993 schrieb Collins das Skript zur Comicserie Dick Tracy. Er ist Miturheber der Comicbücher Ms. Tree, Wild Dog und Mike Danger und verfasste das Batman-Comicbuch sowie die Miniserie Johnny Dynamite: Underworld. Sein Roman Road to Perdition wurde mit Tom Hanks und Paul Newman in den Hauptrollen verfilmt. In seiner Heimat Iowa arbeitet Collins auch als IndependentFilmemacher. Er führte Regie und schrieb das Drehbuch zum Thriller Mommy mit Patty McCormack, der 1996 ausgestrahlt wurde; die Fortsetzung Mommy’s Day folgte 1997. Für seine Drehbücher erhielt er fünf Iowa Motion Picture Awards. Collins schrieb das Drehbuch zum Film The Expert, der 1995 Weltpremiere hatte. Als Drehbuchautor und Regisseur fungierte er 1999 bei dem preisgekrönten Dokumentarfilm Mike Hammer’s Mickey Spillane (1999) und im Jahr 2000 bei Real Time: Siege at Lucas Street Market. Collins lebt mit seiner Frau – der Schriftstellerin Barbara Collins – und seinem Sohn Nathan in Muscatine, Iowa. Bisher erschienen sind die DARK ANGEL-Romane Band 1 Aufbruch in die Vergangenheit und Band 2 Skin Game.
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