Meine süße Sommerfee
Sophie Weston
Romana 1463 – 5-1/03
Gescannt von suzi_kay
Korrigiert von briseis
PROLOG
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Meine süße Sommerfee
Sophie Weston
Romana 1463 – 5-1/03
Gescannt von suzi_kay
Korrigiert von briseis
PROLOG
Man hatte den Engländer unterschätzt. Das wurde allen am Sonderkommando Beteiligten bereits in den ersten vierundzwanzig Stunden klar. Mochte der Mann mit dem dichten schwarzen Haar auch wie ein umschwärmter Hollywoodstar aussehen, so bewegte er sich doch geschmeidig wie eine Raubkatze und war hart im Nehmen. Als bekannt geworden war, dass an der Dschungelexpedition ein Bürokrat aus New York teilnehmen würde, der außerdem noch zur britischen Aristokratie gehörte, wäre es im Team beinahe zur Meuterei gekommen. „Sir Philip Hardesty?" hatte Texas Joe fassungslos gefragt, und Spanner hatte gemurrt: „Ich werde keinen hochnäsigen Schreiberling mit ,Sir' anreden!" Da Spanner ebenfalls Engländer war, galt er in dieser Frage als besonders kompetent, und so beschlossen seine Kameraden, sich nach ihm zu richten. Als Philip Hardesty dann zu ihnen stieß, genügte den Männern ein Blick auf seine gepflegten Hände, den funkelnagelneuen Rucksack und die sündhaft teuren Stiefel, um sich in ihrem Vorurteil gegen ihn vollauf bestätigt zu finden. Zur Überraschung aller, legte er jedoch keinen Wert auf seinen Titel. Er schonte auch seine Hände nicht, und beim Waten durch den Fluss hielten seine Stiefel das Wasser besser ab als die der anderen Männer. Vor allem aber bewies er während des tagelangen Gewaltmarsches durch den Dschungel eine bewundernswerte Zähigkeit. Nichts schien ihm etwas auszumachen. Weder das abscheulich riechende Insektenschutzmittel noch die unerträglich hohe Luftfeuchtigkeit oder die von den bedrohlichen Schreien wilder Tiere erfüllten Nächte. Obwohl er kein spezielles Ausdauertraining wie alle anderen absolviert hatte, war er auf seine ruhige Art ebenso stark wie sie und ertrug alle Strapazen klaglos. Er besaß eine beachtliche körperliche Kondition, und wenn er in den kurzen Ruhepausen den voll bepackten Rucksack absetzte, konnte man sehen, wie breit und muskulös seine Schultern waren. Captain Soames, der die Truppe anführte, war anfänglich wenig begeistert gewesen, bei dieser riskanten Mission von einem Zivilisten begleitet zu werden. Immerhin handelte es sich ja nicht nur um einen abenteuerlichen Ausflug in den Urwald, sondern um ein Treffen mit so genannten Freiheitskämpfern, deren Absichten keineswegs völlig klar waren. Mittlerweile hatte der Captain seine Vorbehalte gegen Philip Hardesty längst zurückgenommen. Der Mann verstand ja sogar, Feuer zu machen und es ordnungsgemäß wieder zu löschen. „Wie sind Sie zu diesem Beruf gekommen?" fragte der Captain den Engländer, als sie an diesem Abend alle gemeinsam um das Lagerfeuer saßen. Am nächsten Tag würden sie das Camp der Rebellen erreichen. Was sie dort erwartete, wusste keiner der sechs Männer, die sich freiwillig für diesen Einsatz gemeldet hatten. Rafek, der Rebellenführer, hatte den Kontakt aufgenommen und Gesfrächsbereitschaft signalisiert. Doch vielleicht wollte er sie nur in eine Falle locken. „Alte Familientradition", beantwortete Philip Hardesty die Frage des Captains. „Klingt sehr britisch", stellte der australische Captain trocken fest. „So lange gibt es die Vereinten Nationen doch noch gar nicht." Philip Hardesty lächelte. „Die Hardestys haben sich schon lange vor Gründung der UN als Vermittler betätigt. Wir tun das seit Jahrhunderten." Er hatte ein unerwartet anziehendes Lächeln. Auf einmal wirkte er gar nicht mehr freundlich reserviert und unerschütterlich wie bisher, sondern gab einem das Gefühl, einen Blick in sein Innerstes werfen zu dürfen. Obwohl der hart gesottene Captain den Trick durchschaute, vermochte auch er sich der Wirkung dieses wunderbaren Lächelns nicht zu entziehen. „Sie sind sicher verdammt gut in diesem Job", meinte er. „Das sollte jeder in seinem Beruf sein." „Allerdings", stimmt der Captain ihm zu. „Und was sagt Ihre Familie dazu?"
Es folgte eine winzige Pause. „Ich habe keine. Vorfahren ja, aber keine Familie." „Oh." Der Captain klang aufrichtig überrascht. „Familie zu haben heißt, sich für jemanden zu entscheiden." Das Lächeln war aus Philip Hardestys Gesicht verschwunden. „Das kann ich nicht." Dem Captain war die Wendung, die das Gespräch genommen hatte, unangenehm. Bei solchen gefährlichen Expeditionen kam es öfter vor, dass Männer sich zu persönlichen Geständnissen hinreißen ließen, die sie später bereuten. Doch davon konnte bei Philip Hardesty keine Rede sein. „Als Vermittler darf ich keine eigenen Ziele verfolgen", erklärte er sachlich. „Meine Aufgabe ist es, allen gerecht zu werden und niemanden zu bevorzugen." „Aber das gilt doch nicht für Ihr Privatleben", wandte der Captain bestürzt ein. „In gewisser Weise schon", erwiderte Philip Hardesty kühl und auch ein wenig müde. „Ich kann nicht zwei verschiedene Leben führen." Nun verstehe ich, weshalb ihn diese Rebellen, die wir morgen treffen, als Vermittler bei den geheimen Friedensverhandlungen gewünscht haben, dachte der Captain. „Und deshalb verzichten Sie auf eine Familie? Bringen Sie da Ihrem Beruf nicht ein zu großes Opfer?" Philip Hardesty zuckte die Schultern. „Familientradition", sagte er lakonisch. Der Captain zögerte. Da sich die anderen Männer jedoch bereits schlafen gelegt hatten oder Wache schoben, konnte er sieh nicht enthalten, neugierig zu fragen: „Fühlen Sie sich da nicht manchmal einsam?" Philip Hardesty hielt die Hände über das Feuer, obwohl die Nacht keineswegs kalt war. „Einsam?" wiederholte er. „Das bin ich immer." Fünf Tage später beantwortete Captain Soames auf dem Luftwaffenstützpunkt in Pelanang die Fragen der Reporter. Ja, die Expedition sei nicht ungefährlich gewesen, aber alle Teilnehmer seien wohlbehalten zurückgekommen. Ja, es habe sich um ein bisher noch unerforschtes Gebiet gehandelt, und man habe eine Vielzahl unbekannter Pflanzenarten mitgebracht. „Ich habe gehört, dass der UN-Vermittler Sir Philip Hardesty mit Ihrer Gruppe unterwegs gewesen sei", sagte ein für mehrere europäische Zeitungen schreibender lokaler Reporter. „Möchten Sie dazu einen Kommentar abgeben?" „Aber sicher", antwortete Captain Soames mit einem breiten Lächeln. „Es war eine große Ehre für uns." Als er später mit demselben Reporter noch ein Glas Bier unter Palmen trank, meinte er: „Sie wollen mehr über den Engländer wissen? Nun, im Vertrauen gesagt, der Kerl ist für mich ein Phänomen. Wenn jemand diese Verrückten dazu bringen kann, Frieden zu schließen, dann er." „Aber was für ein Mensch ist er?" hakte der Reporter nach. Der Captain stellte sein Glas ab und sah plötzlich sehr ernst aus. „Er ist der einsamste Mensch, den ich jemals getroffen habe."
1. KAPITEL
„Ein zufriedener Kunde mehr", sagte Mrs. Ludwig und reichte Kit Romaine den Umschlag mit der Gehaltsabrechnung. „Er war voll des Lobes für Sie und lässt Sie nur ungern gehen." „Das ist sehr freundlich von ihm." Kit schob das Kuvert ungeöffnet in die Manteltasche. Nicht zu fassen, wie wenig diesem Mädchen Geld bedeutet, dachte Mrs. Ludwig missbilligend. „Kommen Sie nie in Versuchung?" „Mich fest anstellen zu lassen?" Kit schüttelte den Kopf. „Ich bin lieber unabhängig." Sie hatte lange genug gebraucht, um herauszufinden, dass sie frei und ungebunden sein wollte. „Mit dieser Einstellung sind Sie natürlich die ideale Arbeitskraft für eine Zeitarbeitsfirma wie die unsere. Doch sollten Sie nicht auch an Ihre Zukunft denken?" „Für mich ist es die ideale Lebensform", sagte Kit entschieden. Erst nach einigen bitteren Erfahrungen war sie zu dieser Erkenntnis gelangt. Mrs. Ludwig gab es auf, das junge Mädchen vom Gegenteil überzeugen zu wollen. Sie warf einen Blick auf ihre Terminliste. „Für nächste Woche hätte ich den kompletten Frühjahrsputz eines Hauses in Pimlico. Die Eigentümer sind alte Kunden, die nach dem Auszug der bisherigen Mieter das Haus selbst bewohnen wollen. Jedoch erst, wenn alles sauber ist. Sie hätten also das Haus ganz für sich. Oder Sie übernehmen eine Urlaubsvertretung in der Buchhandlung Henderson. Man hat ausdrücklich Sie verlangt. Und dann könnte ich Ihnen noch einen Job bei den Bryants anbieten." Mrs. Ludwig zögerte, ehe sie hinzufügte: „Ach nein, das ist nichts für Sie, da Sie sich um deren kleine Tochter kümmern müssten." Fragend blickte sie das junge Mädchen an. Die Bryants waren gute Kunden, und sie hätte Ihnen gern eine Spitzenkraft wie Kit Romaine vermittelt. Doch diese schüttelte heftig den Kopf. Kit Romaine wollte mit Kindern nichts zu tun haben. Von dieser Einschränkung einmal abgesehen, war Kit Romaine jedoch eine geradezu ideale Mitarbeiterin für Mrs. Ludwig, die für ihre Agentur mit dem Slogan warb: „Wir haben für jedes Problem eine Lösung!" Das junge Mädchen war im Haushalt ebenso perfekt wie am Computer und bewahrte auch in schwierigen Situationen die Ruhe. Außerdem war Kit ausgesprochen hübsch und bewegte sich mit so viel Grazie, dass sich die Leute auf der Straße nach ihr umdrehten. Ein Kunde hatte mit ihr sogar einen Werbespot für das Fernsehen drehen wollen, doch Kit hatte trotz eines üppigen Honorarangebots lachend abgelehnt. Bei dem Gedanken daran seufzte Mrs. Ludwig unwillkürlich auf. „Nicht die Bryants", sagte Kit nun. „Ich übernehme lieber den Frühjahrsputz. Da kann ich mich voll auf mein Bildungsprogramm konzentrieren." Mrs. Ludwig lachte. „Womit befassen Sie sich zurzeit?" „Mit Kriegslyrik." „Das klingt ja sehr martialisch." „Ist es aber nicht. Ich finde, es gehört zur Allgemeinbildung, mehr darüber zu wissen." Kit war eine begeisterte Autodidaktin. Wann immer es sich mit ihrer Arbeit vereinbaren ließ, wie beispielsweise beim Saubermachen, legte sie eine Kassette in ihren Walkman und bildete sich weiter. „Ganz wie Sie meinen", sagte Mrs. Ludwig leicht gelangweilt. Ihr ging es darum, möglichst viel Geld zu verdienen, alles andere war zweitrangig. „Wenn Ihnen so viel daran liegt, übernehmen Sie eben diesen Frühjahrsputz in Pimlico. Die Schlüssel gebe ich Ihnen am Montag." „Gut." Kit stand auf. „Dann bis Montag." „Schönes Wochenende", wünschte ihr Mrs. Ludwig zerstreut, da sie mit ihren Gedanken bereits bei einem anderen Auftrag war. Kit fuhr mit der U-Bahn nach Hause, die an diesem nassen Wintertag brechend voll war. Die
feuchten Mäntel der Leute verbreiteten einen muffigen Geruch im Abteil, was jedoch niemanden zu stören schien. Die Leute waren gut gelaunt, weil Freitag war und die meisten etwas vorhatten. Außer mir, dachte Kit, als sie an der Station Notting Hill ausstieg. Sie beneidete die anderen nicht, sondern freute sich auf ihr gemütliches Zuhause. Auch in ihrem Leben hatte es einmal eine Zeit gegeben, wo sie jeden Abend unterwegs gewesen war. Sie hatte alles getan, um in ihrer Clique anerkannt zu werden, und ihr Studium sträflich vernachlässigt. Schließlich war sie dann durch die Prüfung gefallen, hatte ihr Selbstvertrauen verloren und war auch noch krank geworden. Zum Glück hatte sie diese schlimmste Phase ihres Lebens nun überwunden. Statt auszugehen, würde sie sich heute Abend im Radio eine Oper anhören. Sie hatte es schon mit Klavierkonzerten versucht, sich aber dafür nicht so recht begeistern können. Es gibt noch so viel zu lernen, dachte sie, als sie nun beschwingt die breite Treppe des stuckverzierten, weißen Hauses hinauflief und die Eingangstür aufschloss. Von außen sah das Gebäude sehr vornehm und elegant aus, doch drinnen herrschte eine merkwürdige Atmosphäre. Heute roch es nach Räucherstäbchen, vermischt mit dem Duft von Zitrusfrüchten und Zimt. Offenbar braute ihre Vermieterin einen Punsch. Durch Vermittlung ihres Schwagers, dessen exzentrischer Tante das Haus gehörte, hatte Kit die Wohnung im Souterrain bekommen. Tatiana war eine ehemalige Balletttänzerin und etwas chaotisch. Sie hatte eine Vorliebe für Räucherstäbchen und feierte jedes Wochenende rauschende Partys. Auf Zehenspitzen schlich Kit an der Wohnungstür ihrer Vermieterin vorbei, um einer Einladung zu entgehen. Tatiana missbilligte die zurückgezogene Lebensweise ihrer Mieterin ganz entschieden. „Anscheinend verlässt du das Haus nur, um schwimmen oder arbeiten zu gehen", hatte sie heute Morgen ironisch festgestellt, als sie sich in der Eingangshalle begegnet waren. „Ich nehme auch Fahrstunden", verteidigte Kit sich. Tatiana rümpfte verächtlich die Nase. „Statt an eine Maschine, solltest du deine Hände mal an einen Mann legen!" „Habe ich getan", entgegnete Kit schnippisch. „So?" Tatiana sah sie wie eine alte, weise Schildkröte an. „Wann denn?" Sowohl verärgert als auch amüsiert über die alte Dame, schüttelte Kit den Kopf. „Wieso glaubst du, mich ständig kontrollieren zu müssen? Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig." Da Tatiana keineswegs gekränkt zu sein schien, sondern sogar sehr zufrieden wirkte, schöpfte Kit Verdacht. „Hat dich etwa Lisa auf mich angesetzt?" „Das musste sie nicht." Wieder rümpfte Tatiana die Nase. „Es ist doch nicht normal, dass ein Mädchen in deinem Alter abends nur weggeht, um irgendwelche Kurse zu besuchen. Du solltest mehr Spaß am Leben haben." „Mich mit Männern verabreden, meinst du wohl?" Kit seufzte. „Spaß haben", verbesserte Tatiana sie. „Vor allem, wenn man aussieht wie du." Bei den letzten Worten war Kit zusammengezuckt. Tatiana ließ sich davon nicht erweichen. „Langes blondes Haar und grüne Augen", fuhr sie unerbittlich fort, „dazu die Grazie einer Tänzerin. Du könntest eine atemberaubende Schönheit sein, wenn du nicht in unförmigen Sackkleidern herumlaufen und wenn du ab und zu mal ausgehen würdest." „Ich gehe, wohin ich will", erwiderte Kit bestimmt. „Und ich ziehe an, was ich will. Wenn dir das nicht passt, kann ich jederzeit ausziehen." Tatiana war auf die Herausforderung nicht eingegangen, sondern hatte nur beschwichtigend die Hände gehoben und sich, etwas auf Russisch murmelnd, in ihre Wohnung zurückgezogen. Unwillkürlich musste Kit lächeln, als sie jetzt daran dachte. Es gelang ihr nur selten, bei einem Wortgefecht mit ihrer Vermieterin nicht den Kürzeren zu ziehen. Um ein erneutes Zusammentreffen zu vermeiden, schlich sie lautlos die Treppe hinunter zu ihrer Wohnung.
Als sie die Tür aufschloss, hörte sie das Telefon klingeln. Sie beeilte sich abzuheben, ehe Tatiana etwas mitbekam. . „Hallo? Kit?" „Lisa?" fragte Kit ungläubig. Nichts hatte sie weniger erwartet, als von ihrer Schwester zu hören, die sich zurzeit mit ihrem Mann, einem Zoologen, in einem tropischen Urlaubsparadies vom Winter erholte. „Ich dachte, du würdest unter Palmen am Meer faulenzen und hättest Besseres zu tun, als mich anzurufen", scherzte sie, erkundigte sich dann aber besorgt: „Ist mit Nikolai alles in Ordnung?" „Keine Ahnung. Ich sehe ihn ja kaum." Obwohl Lisas Stimme weit entfernt klang, war ihr gereizter Unterton nicht zu überhören. „Oh." Kit fühlte sich etwas hilflos. „Er hat mir zwar gesagt, dass in unserem Hotel eine Tagung einheimischer Naturschützer stattfinden würde, aber ich dachte, er würde nur das eine oder andere Gespräch führen. Stattdessen verbringt er jedoch seine ganze Zeit mit diesen Leuten und will nun auch noch einen Vortrag halten." An Lisas Ton konnte Kit unschwer erkennen, dass ihre Schwester vor Wut kochte. „Und außer den Konferenzteilnehmern wohnt zurzeit niemand in diesem verdammten Hotel. Überhaupt frage ich mich, wie man in einer Gegend, die an ein Krisengebiet grenzt, ein Luxushotel bauen kann?" „Krisengebiet?" wiederholte Kit entsetzt. „Na ja, im Moment, ist alles ruhig", erklärte Lisa ungeduldig, „sonst würde man keine Konferenzen abhalten. Trotzdem ist es der letzte Ort, um Urlaub zu machen." Kit blickte durch das Fenster in den Garten. Es regnete in Strömen. „Offenbar hast du vergessen, wie das Wetter zu dieser Jahreszeit in London ist. Bei dir scheint wenigstens die Sonne." „Dann komm doch auch hierher", meinte Lisa. „Soll das ein Scherz sein?" „Keineswegs. Komm und leiste mir Gesellschaft." „Das ist doch Unsinn, Lisa. Ich spiele nicht gern das fünfte Rad am Wagen." „Diese Gefahr besteht nicht." Lisas Lachen klang bitter. „Ich sehe so gut wie nichts von Nikolai. Das ist ja das Problem. Es gibt hier niemanden, mit dem ich reden oder etwas unternehmen könnte." „He, so schlimm wird es schon nicht sein." Kit klemmte sich das Telefon zwischen Ohr und Schulter, zog die Schuhe aus und stellte das elektrische Kaminfeuer an. „Kein grauer Himmel, kein Matsch und statt kahler Bäume saftiges Grün. Genieß doch einfach, dass du faul in der Sonne am Strand liegen kannst." Lisa antwortete nicht. Was, um Himmels willen, ist nur geschehen? fragte sich Kit bestürzt. Ihre Schwester und Nikolai hatten es doch kaum mehr erwarten können, dem nasskalten englischen Winter zu entfliehen. Lisa hatte vor Weihnachten einen mysteriösen Virus aufgeschnappt. Sie war noch immer gesundheitlich angeschlagen und sonderbar empfindlich gewesen, was völlig atypisch für sie war. Deshalb hatten sie und ihr Mann sich auf den gemeinsamen Urlaub besonders gefreut. Nun waren die beiden gerade einmal vier Tage weg, und schon hörte Lisa sich an, als würde sie ihren Mann hassen. „Wie auch immer", fuhr Kit fort, da ihre Schwester noch immer schwieg, „ein Urlaub in den Tropen übersteigt bei weitem mein Budget." „Meines nicht. Ich lade dich ein." Zweifellos verdiente Lisa als Leiterin des Londoner Büros einer internationalen Investmentgesellschaft in einer Woche mehr Geld als Kit in einem Jahr. Doch das stand hier nicht zur Debatte. „Du hast mich sowieso jahrelang unterstützt, Lisa. Ich bin froh, endlich allein für mich aufkommen zu können." „Aber du kannst es dir nicht leisten, hierher zu fliegen, und ich ... ich brauche dich." Lisa sprach so leise, dass Kit sie kaum verstand. „Ich benötige dringend deine Unterstützung."
Noch nie in ihrem Leben hatte Lisa sie je um Hilfe gebeten. Kit war nun ernstlich besorgt. „Komm und leiste mir Gesellschaft, Kit." Es klang geradezu flehentlich. „Ich fühle mich so schrecklich allein." Kit war zu geschockt, um etwas sagen zu können. „Ich habe für Sonntag einen Flug auf deinen Namen gebucht und bezahlt. Alles andere bleibt dir überlassen." Ohne sich zu verabschieden, legte Lisa auf. Innerlich völlig aufgewühlt, ging Kit im Zimmer auf und ab. Was war zwischen Lisa und Nikolai vorgefallen? Bisher hatten beide noch nie ernsthaft Streit miteinander gehabt, obwohl ihre Herkunft nicht unterschiedlicher hätte sein können. Nikolai entstammte einer alten Adelsfamilie, die Romaine-Schwestern hingegen waren am Rande der Gesellschaft aufgewachsen, wie Lisa sich auszudrücken pflegte. Sie hatte ihren Studienabschluss und die steile berufliche Karriere aus eigener Kraft geschafft und ihre Herkunft nie als Makel empfunden. Genauso wenig wie Graf Nikolai Ivanov, der, soweit Kit es beurteilen konnte, jetzt noch ebenso verliebt in seine temperamentvolle Frau war wie am Tag der Hochzeit. Vorhin am Telefon hatte Lisa jedoch keineswegs wie eine sich von ihrem Mann geliebt wissende Frau geklungen. Das beunruhigte Kit. Sie liebte ihre Schwester, die zugleich auch ihre beste Freundin war. Vielleicht sollte ich diesmal meine Prinzipien über Bord werfen? überlegte Kit gerade, als es plötzlich an der Glastür zum Garten klopfte. Draußen stand Tatiana. Normalerweise war die Beziehung zwischen den beiden Frauen etwas angespannt. Tatiana hielt ihre Mieterin ganz offensichtlich für ausgesprochen langweilig, während sie selbst aus Kits Sicht eine achtzigjährige Nervensäge war. Nur in ihrer Zuneigung für Lisa waren sich die beiden einig, und so öffnete Kit nun sofort die Tür. Tatiana gab sich wegen des ungewohnt eilfertigen Benehmens ihrer Mieterin keinen falschen Hoffnungen hin. „Lisa hat dich angerufen, stimmt's?" „Ja. Ich mache mir Sorgen um sie." „Genau wie ich", bekannte Tatiana. Sie setzte sich auf das Sofa, ohne wie üblich eine spitze Bemerkung über die ihrer Meinung nach spießig aussehenden pastellfarbenen Kissen zu machen. „Sie klang sehr niedergeschlagen", meinte Kit. „Wann hast du mit ihr gesprochen?" „Eben gerade. Sie möchte, dass ich zu ihr komme. Sie scheint völlig durcheinander zu sein." Falls Kit erwartet hatte, Tatiana würde ihr raten, sich nicht in Lisas Angelegenheiten zu mischen, so wurde sie diesmal enttäuscht. Die alte Dame schien sehr bekümmert zu sein. „Weißt du, wie groß die Zeitverschiebung zwischen hier und dort ist?" Kit sah sie verwundert an. „Wieso?" „Bei uns ist es jetzt fünf Uhr nachmittags, das bedeutet, dass es in Coral Cove ein Uhr morgens ist", erklärte die weit gereiste Tatiana. „Sie hat dich mitten in der Nacht angerufen, und ich frage mich, wo, zum Teufel, ihr Mann um diese Zeit steckt?" Unvermittelt blieb Kit stehen. „Kein Wunder, dass sie so ... so verletzlich klang", sagte sie nachdenklich. „Ich finde, du solltest zu ihr fliegen", meinte die alte Dame und fügte mit ihrem Sinn fürs Praktische, den Kit immer so unvereinbar mit Tatianas Hang zur Esoterik und einer Vorliebe für Räucherstäbchen fand, hinzu: „Brauchst du Geld?" Kit schüttelte den Kopf. „Ich habe in letzter Zeit mehr verdient, als ich ausgeben konnte. Außerdem hat Lisa bereits einen Flug für mich gebucht und bezahlt." „Du brauchst entsprechende Kleidung für die Tropen", sagte Tatiana, für die das Äußere eines Menschen Spiegel seiner Seele war. Kit zuckte gleichmütig die Schultern. „Also wirklich, Kit." Erstaunlich gelenkig für ihr Alter, sprang Tatiana vom Sofa auf. „Du bist hübsch genug, um jedem Model die Schau zu stehlen. Warum kaufst du dir nicht mal
ein aufregendes Kleid, mit dem du den Männern den Kopf verdrehst?" So wie Lisa. Keiner von beiden sprach es aus, doch jede wusste, was Tatiana meinte. „Ich zieh mich an, wie ich will, und damit basta!" entgegnete Kit schärfer als beabsichtigt. „Jedenfalls brauchst du einen Badeanzug." So schnell gab Tatiana nicht auf. „Ich habe sehr hübsche Bikinis bei..." „Keinen Bikini", unterbrach das junge Mädchen sie verärgert und erntete dafür einen missbilligenden Blick. „Aber auf Shorts und leichte Tops kannst du nicht verzichten", sagte Tatiana. „Du hast keine Ahnung, wie heiß es dort ist. Selbstverständlich benötigst du auch wenigstens ein vernünftiges Kleid für abends. Und vergiss nicht, einen Strohhut zu kaufen. Bei deiner hellen Haut bekommst du schnell einen Sonnenbrand." „Das alles bekomme ich dort." Tatiana rümpfte verächtlich die Nase. „Mein liebes Kind, Coral Cove ist kein billiger Ferienclub mit Strandverkäufern und Würstchenbuden. Nikolai hat gesagt, dass es sich um eine exquisite Hotelanlage auf einer Privatinsel handelt." „Auch das noch", seufzte Kit. Tatiana ging darauf nicht ein. „Ohne angemessene Garderobe wirst du dir dort deplaziert vorkommen." „Soviel ich weiß, ist dieses Luxushotel momentan ziemlich leer", meinte Kit spöttisch. „Ein Grund mehr für dich, dort nicht unangenehm aufzufallen." „Das werde ich sowieso." Die alte Dame seufzte. „Du machst es einem wirklich schwer, Kit." „Ich mag es nur nicht, wenn Leute mir vorschreiben wollen, was ich zu tun und zu lassen habe." Tatiana gab auf. Als sie die Glastür zum Garten öffnete, tauchte eine weiße Pfote, elegant wie ein in einem langen Abendhandschuh steckender Arm, im Türrahmen auf. „Schon wieder diese Katze", sagte die alte Dame ungnädig. Kit lächelte. „Miez, Miez", lockte sie, und ein geschecktes Kätzchen spazierte anmutig ins Zimmer, ließ sich auf dem Kaminvorleger nieder und begann sich ausgiebig zu putzen. „Katzen!" schimpfte Tatiana. „Man könnte meinen, du wärst hundert Jahre alt, nicht zweiundzwanzig." „Sie besucht mich doch nur." Tatiana verdrehte die sorgfältig geschminkten Augen. „Deine Besucher sollten große, gut aussehende Männer sein, die dich deine Einstellung zu Bikinis nochmals überdenken lassen." „Nun fang nicht wieder damit an!" Ungeduldig schüttelte Kit den Kopf. „Warum versuchst du ständig, dich in mein Leben einzumischen?" „Weil ich es nicht ertragen kann, wie du deine Jugend vergeudest." Es folgte gespanntes Schweigen. Schließlich senkte Kit als Erste den Blick. Die Erfahrung hatte sie gelehrt, von großen, gut aussehenden Männern die Finger zu lassen. Noch heute verfolgten sie nachts quälende Erinnerungen an eine Zeit, da sie diesen Grundsatz nicht beherzigt hatte. „Ich habe meine Gründe, weshalb ich solchen ... Männern aus dem Weg gehe", bekannte Kit stockend und zwang sich, ihre Vermieterin anzusehen. „Zuerst brechen sie dir das Herz und bringen dich dann auch noch um den Verstand. Ich bin nicht tapfer genug, mich nochmals auf so etwas einzulassen." Einen Moment lang schwieg Tatiana betroffen. Dann nickte sie. „Na schön. Du musst selbst wissen, was gut für dich ist. Aber du wirst nach Coral Cove fliegen, oder?" „Ja, das werde ich", bestätigte Kit. Lisa fiel ihrer Schwester auf dem kleinen Flughafen stürmisch um den Hals. „Du bist tatsächlich gekommen, Kit! War es schwer, dir freizunehmen?"
„Ganz im Gegenteil." Kit lachte. „Die Mieter waren mir richtig dankbar, dass sie noch eine Woche länger Zeit haben, das Haus zu räumen, ehe ich mit meinen tollen Reinigungsgeräten anrücke." Lisa griff nach Kits Reisetasche und hängte sich mit dem anderen Arm bei ihrer Schwester ein. „Ich bin dir wirklich sehr dankbar, mein Schatz. Mir ist klar, dass ich viel von dir verlangt habe." „Ja, es ist ein großes Opfer für mich, auf deine Kosten eine Woche Urlaub in einem Luxushotel auf einer paradiesischen Tropeninsel zu machen", sagte Kit trocken. Lisa seufzte. „So wunderbar, wie es sich anhört, ist es hier nicht. Sicher, die Anlage ist hübsch und das Meer warm, aber mehr gibt es hier nicht zu sehen. Ich hoffe, du hast dir ausreichend Lesestoff mitgebracht." Und als Kit ihr einen ironischen Blick zuwarf, fügte Lisa lachend hinzu: „Dumme Bemerkung. Womit befasst du dich in diesem Monat?" „Mit Kriegslyrik. Aber ich habe auch einige Romane dabei." „Dem Himmel sei Dank! Meine habe ich schon alle gelesen." Kit folgte ihrer Schwester nach draußen in die flirrende Hitze. Geblendet von der grellen Sonne, hielt sie sich schützend die Hand vor die Augen. „Du hast doch hoffentlich eine Sonnenbrille mit." Lisa sah sie reumütig an. „Ich habe vergessen, dich daran zu erinnern." „Genau wie Tatiana. Dafür hat sie darauf bestanden, dass ich ein Cocktailkleid mitnehme." „Ein Cocktailkleid?" fragte Lisa ungläubig. „Du weißt ja, wie beharrlich sie ist, wenn sie sich etwas in den Kopf setzt." „Allerdings", bestätigte Lisa lachend und drückte den Arm ihrer Schwester. „Ich bin ja so froh, dass du gekommen bist. Wir werden noch rasch alles Nötige für dich besorgen, ehe wir im Hubschrauber zum Hotel fliegen. Das wird eine ganz neue Erfahrung für dich sein." Beim Anblick von Coral Cove stockte Kit der Atem. Von Ferne sah es wie eine Spielzeuginsel aus, doch als sie darüber hinwegflogen, bemerkte Kit schmale Flüsse, die sich durch den Dschungel schlängelten, und sogar ... Entzückt beugte sie sich vor. „Ist das dort unten ein Wasserfall?" „Wahrscheinlich", sagte Lisa gleichmütig. „Nicht weit von unserem Bungalow gibt es einen und ungefähr eine halbe Stunde vom Hotel entfernt einen noch viel größeren. Wenn du willst, können wir heute Abend einen Spaziergang dorthin machen." Mit einem zufriedenen Seufzer lehnte sich Kit in ihrem Sitz zurück. „Sonne, Meer und Wasserfälle. Dafür verzeihe ich Tatiana sogar das Cocktailkleid." Aus dem geplanten Spaziergang zum Wasserfall wurde jedoch nichts. Lisa hatte sich in ihr Zimmer eingeschlossen und wollte mit niemandem sprechen. Und Nikolai, der seine Schwägerin mit sauertöpfischer Miene begrüßt hatte, hatte sich wieder zu seinen Naturschützern gesellt. Nach einem Blick in den eleganten Speisesaal beschloss Kit spontan, das Abendessen ausfallen zu lassen. Während die anderen Gäste beim Essen waren, würde sie die Zeit nutzen, ungestört in der Lagune zu schwimmen, die Lisa ihr am Nachmittag gezeigt hatte. Das türkisfarbene Wasser hatte sehr einladend ausgesehen. Die hohen Wogen brachen sich an den Sandbänken und umspülten in sanften Wellen den schneeweißen Strand. Einfach paradiesisch. Nur die vereinzelt zu sehenden Schwimmer hatten Kit davon abgehalten, schon am Nachmittag in der Lagune zu baden. Aber nun war es schon fast dunkel, und die anderen Gäste saßen entweder beim Abendessen oder nahmen an der Konferenz teil. Sie, Kit, würde also die Lagune ganz für sich allein haben. Sie eilte zurück zu ihrem Bungalow, zog ihren in einem Second-handladen gekauften einteiligen Badeanzug an und machte sich vergnügt auf den Weg zu ihrem ersten Bad in tropischen Gewässern. Von seinem Sitz auf dem Podium ließ Philip Hardesty den Blick durch eine der geöffneten Glastüren nach draußen schweifen.
Jemand schwamm in der Lagune. Philip bemerkte es an den phosphoreszierenden Punkten, die die einsame Gestalt umgaben. Von weitem sah es aus, als würde sie - denn es handelte sich um eine Frau - beim Kraulen von unzähligen winzigen Sternschnuppen umkreist. Beneidenswert, jetzt im Meer baden zu können, dachte Philip neidisch. Er war völlig durchgeschwitzt und fuhr sich - unauffällig, wie er hoffte - unter den Hemdkragen. Nur zu gern hätte er wenigstens seine Krawatte gelockert. Obwohl alle Türen zur Terrasse geöffnet waren und die altmodischen Deckenventilatoren auf Hochtouren liefen, herrschte im Konferenzsaal des Hotels eine unerträgliche Hitze. Das lag vor allem an den auf Philip gerichteten Scheinwerfern der Fernsehkameras, wie er sich fairerweise eingestand. Stets fair zu sein gehörte zu seinem Beruf. Und im Moment erforderte es dieser Beruf, dass Philip geduldig die Fragen einiger handverlesener Journalisten nach dem Stand der Friedensverhandlungen beantwortete. Er riss den Blick von der einsamen Schwimmerin los und nickte dem als nächsten an die Reihe kommenden Journalisten freundlich zu. „Ihre Frage, Mr. Dunkel." Philip kannte den Mann schon aus anderen Pressekonferenzen. Er war Korrespondent einer renommierten deutschen Zeitung und hatte ihm mindestens zwanzig Jahre an Erfahrung voraus. Wahrscheinlich sind alle hier im Raum erfahrener als ich, dachte er ein wenig mutlos. Er fühlte sich völlig ausgelaugt, durfte jetzt aber keine Schwäche zeigen, um die Friedensverhandlungen nicht zu gefährden. Ruhig hörte er sich Mr. Dunkels Frage an, überlegte einen Augenblick und gab eine diplomatische Antwort, ohne sich allerdings der üblichen Phrasen zu bedienen. Nur wenige hundert Meter entfernt lockte die Lagune, und Philip musste sich zwingen, seine Gedanken davon abzulenken. Er beantwortete eine weitere Frage und dann noch eine und noch eine. Bis schließlich die Konferenz zu Ende war und sein einheimischer Leibwächter an einer der offenen Glastüren auf ihn wartete, um ihn zu dem nun folgenden Bankett zu begleiten. Auf zur nächsten Vorstellung, dachte Philip zynisch. Mehr Halbwahrheiten, nichts sagende Floskeln und hinter einem Lächeln versteckte Wut und Verzweiflung. Mehr Hoffnung wider alle Hoffnung und Heuchelei um der guten Sache willen. Er fühlte sich auf einmal sehr müde. „Geben Sie mir einen Moment Zeit", sagte er zu seinem Leibwächter in dem sanften, höflichen Ton, mit dem er bei Verhandlungen aufgebrachte Kontrahenten beruhigte. „Ich möchte ein wenig Luft schnappen." Und da der Mann neben ihm stehen blieb, fügte Philip hinzu: „Allein." Der Leibwächter grinste verständnisvoll und warf einen viel sagenden Blick zu der von Flutlichtern angestrahlten Strandbar. Philip nickte dem Mann freundlich zu und ging auf die Terrasse. Die laue Tropennacht war erfüllt von süßem Blumenduft und dem Geruch des Meeres. Philip atmete tief durch und blickte nach oben. Der Himmel war von Sternen übersät, die wie gefrorene Wassertropfen funkelten. Philip lehnte sich an einen Pfeiler der überdachten Terrasse und schloss die Augen. Statt der erhofften Stille wurde er jedoch von Stimmengewirr eingehüllt und öffnete die Augen wieder. Ich muss diesem Trubel entfliehen, und sei es auch nur für wenige Minuten, dachte er genervt und ging rasch den kiesbestreuten Pfad entlang, der zu einer die Lagune umrundenden Sandbank führte. Allmählich ebbte der Lärm ab. Am Anfang der Sandbank blieb Philip stehen. Hier draußen waren nur noch Zikaden und der sanfte Wellenschlag des Meeres zu hören. Was für eine Wohltat, endlich allein zu sein! Keine Stimmen mehr, nie mand, der etwas von ihm wollte. Noch immer tummelte sich die einsame Schwimmerin im Wasser. Ihr Körper war gespannt wie ein Bogen, als sie nun untertauchte. Um ihre schlanke Gestalt schienen Tausende von Lichtern zu explodieren. Dann kam sie wieder an die Wasseroberfläche und strich sich das
nasse Haar aus dem Gesicht. Offenbar wähnte sie sich unbeobachtet, warf die Arme in die Luft und lachte laut. Dann rollte sie sich geschmeidig wie eine Otter zusammen und schlug übermütig mehrere Purzelbäume. Es sah aus, als würde ein leuchtendes Rad durch das Wasser wirbeln. Philip ertappte sich dabei, dass er dieses Schauspiel ungezügelter Lebensfreude lächelnd verfolgte. Reumütig blickte er zurück zum Hotel. Es war seine Aufgabe, das Bankett zu eröffnen, das mehr oder weniger eine Fortsetzung der seit drei Tagen stattfindenden Friedensverhandlungen war, bei denen er ebenfalls den Vorsitz führte. Trotzdem konnte er sich nicht überwinden, sofort zurückzugehen. Beim Anblick des Mädchens im Wasser war ihm bewusst geworden, wie lange er schon nichts mehr einfach so zum Spaß getan hatte. Nur noch fünf Minuten, sagte er sich und ging auf der Sandbank weiter. Das Mädchen schwamm nun auch zurück und auf die Sandbank zu. Doch während er jede Bewegung ihres von Lichtpunkten umgebenen Körpers verfolgen konnte, vermochte sie ihn nicht zu sehen. Beide würden sie ungefähr gleichzeitig das Ende der Sandbank erreichen. Die Frau war als Erste da, blieb jedoch im Wasser. „Ist da jemand?" fragte sie, als sie ihn näher kommen hörte. Ihre Stimme klang leicht heiser und ein wenig ängstlich. „Lisa?" Gern hätte er sie noch eine Weile beobachtet, doch das wäre unfair gewesen, und er war ja geradezu die Verkörperung von Fairness, wie er sich spöttisch in Erinnerung rief. „Nein", sagte er und trat aus dem Schatten der Palmen. Er hörte sie leise aufschreien, was unter den gegebenen Umständen durchaus verständlich war. Denn aller Komfort und Luxus konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Hotelanlage am Rande eines Krisengebietes befand und es möglicherweise nicht ungefährlich war, wenn nachts plötzlich ein Fremder auftauchte. „Keine Angst", sagte Philip ruhig, „ich bin ebenfalls Gast im Hotel und mache nur einen kleinen Spaziergang vor dem Abendessen." „Oh." Offenbar war es ihm gelungen, sie zu beruhigen. Sie legte den Kopf zurück und trat Wasser. „Sind Sie Naturforscher?" Philip zögerte. Es war lange her, dass er mit jemandem gesprochen hatte, der nicht wusste, wer er war und mit welcher Mission er beauftragt war. Zu seinem Erstaunen fand er es recht reizvoll, einmal anonym zu bleiben, und sei es auch nur für kurze Zeit. Statt ihre Frage zu beantworten, ging er in die Hocke und hielt eine Hand ins Wasser. Sofort umkreisten sie winzige Lichtpunkte. Die Frau lachte. „Komisch, nicht wahr? Ich habe keine Ahnung, was das ist." „Biolumineszenz", sagte Philip. „Wie bitte?" Sie richtete sich im Wasser auf, das nun in sanften Wellen ihre Taille umspülte und sie wie eine Nixe aussehen ließ. „Es sind winzige Krustentiere, deren Wirkung mit denen von Glühwürmchen an Land vergleichbar ist." „Tatsächlich?" Es klang nicht sehr überzeugt. Philip verkniff sich ein Lächeln. Wenn es sein musste, würde er eben alle Register ziehen, um sie zu beeindrucken. „Es könnte sich auch um Euphausiacea handeln", erklärte er. „Die haben eingebaute Scheinwerfer." „Sie machen sich wohl über mich lustig?" „Keineswegs." Es gefiel ihm, dass man ihr nicht so leicht imponieren konnte. „Sie können im Lexikon unter ,Eucarida' nachschlagen." So, wie er sie einschätzte, würde sie das tun. „Eucarida", wiederholte sie, als wollte sie sich den Ausdruck einprägen. „Woher wissen Sie das alles? Gehören Sie zu dieser Gruppe von Naturschützern?" Selbstverständlich war Philip über alle derzeit im Hotel tagenden Gruppen bestens informiert. Er zögerte und sagte dann bedauernd: „Leider nicht. Aber vor einer Ewigkeit wollte ich einmal Meeresbiologe werden." „Vor einer Ewigkeit?" meinte sie belustigt. „So alt klingen Sie noch gar nicht."
Philip war verwirrt, was ihm höchst selten passierte. Sie lachte fröhlich und begann, im Wasser zu tanzen. „Ganz bestimmt sind Sie noch kein Methusalem", scherzte sie. Ihre leicht heisere Stimme faszinierte ihn. „Wieso sind Sie sich da so sicher?" konterte er, um sie am Reden zu halten. „Weil Sie sich sonst kaum im Dunkeln mit mir unterhalten würden und sich wünschten, ebenfalls im Wasser zu sein." Wie hatte sie erraten, was er dachte, wenn sie ihn nicht einmal sehen konnte? „Kommen Sie. Das Wasser ist herrlich warm", lockte sie. Die Versuchung war groß. Nur zu gern hätte er auf seine guten Manieren gepfiffen, Anzug und Krawatte abgestreift und mit der Unbekannten im Wasser herumgetollt. Was für eine herrliche Vorstellung, einmal aller Verantwortung ledig zu sein und mit diesem zauberhaften, unkomplizierten Mädchen einfach nur den Augenblick zu genießen! Schon wollte er sein leichtes graues Jackett ausziehen, da stemmte sie sich mit den Armen auf die Sandbank und zog sich aus der Lagune. Die perlenden Wassertropfen überzogen ihren Körper mit einem fast überirdischen Leuchten. Philip sah zarte weibliche Rundungen und wohlgeformte lange Beine. Sie hatte eine starke sinnliche Ausstrahlung, die ihm zu Kopf stieg. Er konnte nicht verhindern, dass er körperlich auf sie reagierte. Zum Glück schien sie es nicht zu bemerken. „In der kleinen Hütte unter den Bäumen gibt es Badebekleidung für die Gäste", sagte sie. „So?" Er erkannte seine Stimme kaum wieder. „Ja. Die Hütte sieht wie ein auf dem Boden stehendes Baumhaus aus. Heute Nachmittag habe ich dort blaue Vögel mit frack-schoßartigen Schwänzen gesehen." „Das waren asiatische Pfeif drosseln", erklärte Philip in sachlichem Ton, während er um Selbstbeherrschung rang. „Sie haben eine gute Beobachtungsgabe." Wie lange würde es noch dauern, bis sie merkte, welche Wirkung sie auf ihn hatte? Er sah ihre Zähne weiß aufblitzen, als sie leise lachte. „Danke", sagte sie mit ihrer heiseren Stimme. „Kommen Sie, ich zeige Ihnen die Hütte." Einen Moment lang stellte er sich vor, wie es wäre, mit ihr im Mondschein Seite an Seite zu schwimmen. Doch dann meldete sich wieder sein Pflichtgefühl. „Vergiss nicht, dass du ein Hardesty bist", glaubte er die mahnende Stimme seines Großvaters zu hören. „Nein", sagte er mit seltsam rauer Stimme. „Aber sie ist gleich dort drüben." „Nein." Er hatte sich nun wieder etwas gefangen, trat aber unauffällig ein wenig zurück, um ihr nicht mehr so nah zu sein. Auf keinen Fall durfte sie merken, was mit ihm los war. Es würde diesen wunderbaren Augenblick verderben. „Ich muss zurück zum Hotel, sonst wird man mich suchen." „Oh." Es klang aufrichtig enttäuscht. Zum Abschied erlaubte er sich, nach ihrer Hand zu greifen.' Ihre Finger waren lang und schlank und überraschend warm. „Aber ich darf mich nicht beschweren. Immerhin hatte ich das Vergnügen, mit einem Meermädchen zu plaudern." Du meine Güte, was rede ich da für einen Schwachsinn, dachte er. Er hörte sich ja wie ein alternder Schulmeister an. Wie um ihr zu beweisen, dass er keiner war, zog er sie an sich. Er hörte sie heftig Atem holen und fühlte unter seinen Händen ihre feuchtwarme Haut. Sein Herzschlag verdoppelte sich, als er ihre Brüste und Hüften an seinem Körper spürte. Noch hätte er zurücktreten können, doch da spürte er, dass sie auf ihn reagierte. Er küsste sie, und für wenige Augenblicke erwiderte sie seinen Kuss. Dann entwand sie sich seinen Armen, glitt ins Wasser und schwamm auf das offene Meer hinaus. Plötzlich vernahm er hinter sich Stimmen. „Sir Philip, sind Sie das?" Der Leibwächter tauchte neben ihm auf. „Alles in Ordnung, Sir?" Philip erkannte die Stimme seines Assistenten und dann auch noch die des Restaurantleiters. „Dürfen wir die Gäste schon zu ihren Plätzen führen, Sir?
Alles ist bereit für das Bankett." Wieder einmal rief die Pflicht. Steigen wir also in den Ring für die nächste Runde, dachte Philip. Er blickte sich noch einmal nach der Nixe um, konnte sie aber nur noch schemenhaft in einiger Entfernung erkennen.
2. KAPITEL
Kit schwamm, ohne sich auszuruhen. Sie war sich bewusst, dass sie die letzte Sandbank bereits hinter sich gelassen hatte, da das Wasser merklich kühler wurde und ihr die Wellen ins Gesicht schlugen. Trotzdem erschrak sie, als sie sich umdrehte und sah, wie weit sie sich vom Ufer entfernt hatte. Sie trat Wasser und blickte zurück zum Hotel. Das Hauptgebäude war hell erleuchtet, und bei den kleineren Lichtquellen entlang der Küste musste es sich um Swimmingpool, Strandbar, Grillanlage und Hochzeitstempel handeln. Weiter oben auf den Klippen standen die Gästebungalows, über deren Treppenaufgänge bunte Lichterketten gespannt waren. Alles sah sehr hübsch, einladend und sicher aus. Sicher? Nun ja, sie machte neue Erfahrungen, aber grundsätzlich fühlte sie sich hier sicher. Zugegeben, der große Fremde hatte sie angefasst, aber er hatte nicht nach ihr gegrapscht und sie auch nicht gewaltsam an sich gepresst. Und er hatte sie, ohne zu zögern, losgelassen, als sie sich ihm entzogen hatte. Und war sie ihm nicht ein wenig entgegengekommen? Das war sie keinem Mann mehr, seit Johnny sie geschüttelt und ihr ins Gesicht geschrien hatte, dass er sie nicht liebe und nie geliebt habe. Heute Abend jedoch ... Sie schluckte unfreiwillig Wasser und begann zu husten. Nun ja, der Fremde hatte sie geküsst und - sie hatte den Kuss genossen und sogar sekundenlang erwidert! Wann hatte sie das letzte Mal so empfunden? Sicher, sie hatte sich wie eine Besessene an Johnny gehängt, aber wenn er sie küsste, hatte sie nur verzweifelt Leidenschaft geheuchelt, damit er sie nicht verließ, was er letztendlich dann doch getan hatte. Ein leichter Wind kam auf. Kit begann zu frösteln. Sie sollte besser zurückschwimmen, statt sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen. Schon bald merkte sie, wie erschöpft sie war. Einige Runden im städtischen Hallenbad waren eben nicht vergleichbar mit dem Schwimmen im Meer. Als sie schließlich das Ufer erreichte, zitterten ihr vor Schwäche Arme und Beine, und sie hatte Mühe zu gehen. Das hinderte sie nicht daran, sich suchend nach dem Fremden umzusehen. Aber er war verschwunden. „Auch gut", murmelte sie. „Du hast heute schon genügend neue Erfahrungen gemacht." Trotzdem konnte sie ein Gefühl der Enttäuschung nicht unterdrücken. Und obwohl sie sonst Lisa alles erzählte, hatte sie diesmal nicht das Bedürfnis, ihrer Schwester von der Begegnung mit dem Fremden zu berichten. Nachdem Kit in ihrem mit allem erdenklichen Luxus ausgestatteten Bungalow geduscht und sich angezogen hatte, machte sie sich auf den Weg zu Lisa, um ihr und Nikolai eine gute Nacht zu wünschen. Im Bungalow der beiden brannte jedoch kein Licht. Kit dachte schon, die beiden seien noch beim Essen, als sie die Rattanschaukel auf der Terrasse knarren hörte. „Lisa?" rief sie leise. Da niemand antwortete, wollte sie wieder umkehren, doch dann meldete sich ihre Schwester. „Schon gut, ich bin hier, Kit." Ihre Stimme klang müde „Komm herauf." Vorsichtig ging Kit die enge Wendeltreppe zur Terrasse hinauf. Oben flammte ein Streichholz auf, und dann erschien Lisa mit einer Petroleumlampe in der Hand. Ein Blick in ihr Gesicht verriet Kit, dass etwas nicht in Ordnung war. Trotz des schummrigen Lampenlichts entging ihr nicht, dass die Augen ihrer Schwester vom Weinen geschwollen waren. „Was ist passiert?" fragte Kit bestürzt. „Ich fühle mich nicht ganz wohl, das ist alles." Kit musterte sie besorgt. Normalerweise strotzte Lisa nur so vor Gesundheit, doch diese Virusgrippe vor Weihnachten hatte sie offenbar stark geschwächt. Lisa wich dem Blick ihrer Schwester aus und wechselte das Thema. „Wie ist dein Bungalow?"
„Sehr luxuriös." Kit setzte sich. „Nun sag schon, was los ist, Lisa." „Nichts." „Wo ist Nikolai?" Lisa zuckte betont gleichmütig die Schultern. „Vermutlich sitzt er mit den anderen Eierköpfen an der Bar." „Und wieso hast du ihn nicht begleitet?" Allmählich begann Kit, sich ernsthaft Sorgen zu machen. „Bestimmt hat er das gewollt." „Wer weiß schon, was Nikolai will?" entgegnete Lisa ungewohnt bitter. „Ach, vergiss es! Erzähl mir lieber, wie dir dein Bungalow gefällt. Weißt du schon, wie der Ventilator funktioniert?" Kit gab es auf, weiter in ihre Schwester zu dringen. „Klar. Und ich habe auch den Mechanismus der Rollos bereits durchschaut, den Fernseher mit Tüchern verhüllt und sämtliche Spiegel abgehängt." „Du und dein Spiegeltick!" Lisa Lachen klang nicht echt. „Nur bei dem im Bad musste ich passen", gestand Kit mit selbstironischem Lächeln. „Er ist festgeschraubt." Und da diesmal Lisas Lachen schon etwas besser klang, fügte sie trocken hinzu: „Wäre das Schrankpapier nicht mit Hochzeitsglocken bedruckt, könnte ich mich hier richtig zu Hause fühlen." Lisa brach in schallendes Gelächter aus. „Ja, mit den Hochzeitsglocken haben sie es hier. Auch die Prospekte sind voll davon. Und selbst ein kleiner Bootsausflug wird als ,Flitterwochenkreuzfahrt' angepriesen." „Ganz zu schweigen von dem Duschgel und dem Shampoo mit der Aufschrift ,Für die Braut'", ergänzte Kit. „Ich komme mir vor, als wäre ich unter Vorspiegelung falscher Tatsachen hier." Jäh verschwand Lisas Lächeln. „Das sind wir beide." Ein unangenehmes Schweigen trat zwischen den Schwestern ein. Schließlich stand Lisa auf, ging zum Geländer und sah auf das Meer hinaus. „Dabei wäre das hier wirklich der ideale Ort für Flitterwochen", sagte sie mehr zu sich als zu Kit. „Oder für eine Liebesaffäre", meinte diese spontan. „Von meinem Bungalow bis zum Hauptgebäude muss ich eine Viertelstunde gehen. Er wäre ein ideales Liebesnest." Was rede ich da? fragte sich Kit erschrocken. Zum Glück schien Lisa nichts bemerkt zu haben. Sie wandte sich um und sah Kit betroffen an. „Ist es dir unangenehm, so weit ab vom Schuss zu wohnen?" „Aber nein, ganz im Gegenteil!" widersprach Kit. „Falls du dich allein gelassen fühlst, kannst du auch hier schlafen", bot Lisa an, die anscheinend nicht richtig zugehört hatte. Nun reichte es Kit endgültig. Sie hatte keine Lust, zwischen die Fronten eines Ehekriegs zu geraten. „Hör zu, Lisa, ich habe gesagt, dass ich nicht das fünfte Rad am Wagen sein möchte. Aber genauso wenig lasse ich mich als Puffer benutzen. Falls du und Nikolai Probleme habt, müsst ihr selber damit fertig werden." „Du hast Recht", gab Lisa schuldbewusst zu. „Tut mir Leid, dass ich versucht habe, dich da hineinzuziehen." „Was ist denn eigentlich mit euch beiden los?" fragte Kit, hin- und hergerissen zwischen schwesterlicher Zuneigung und Verärgerung. Doch Lisa winkte ab und gab vor, müde zu sein und sich schlafen legen zu wollen. So machte sich Kit auf den Weg zurück zu ihrem Bungalow, dem „idealen Liebesnest", wie sie sich ausgedrückt hatte. Wie war sie überhaupt darauf gekommen? Lag es an der lauen Nachtluft und den exotischen Düften, dass sie sich ungewohnten Fantasien hingab und sich vorstellte, wie es wäre, von dem Fremden, mit dem sie an der Lagune gesprochen hatte, begleitet zu werden? Du meine Güte, sie hatte ja in der Dunkelheit nicht einmal sein Gesicht richtig sehen können. Aber sie wusste, dass er groß war, und seine tiefe Stimme würde sie sofort wieder erkennen. Er hatte so ruhig und kontrolliert geklungen. Doch was verbarg sich wirklich
dahinter? Der Gedanke ließ ihr Herz schneller schlagen. Immerhin hatte der Mann sie leidenschaftlich geküsst. Das ist kein Grund, irgendwelchen Hirngespinsten nachzuhängen, ermahnte sie sich. Natürlich konnte man auf dieser paradiesischen Insel leicht ins Träumen geraten, doch sie sollte besser kühlen Kopf bewahren. Das war nicht leicht, wenn überall Grillen zirpten und die Blätter der Palmen leise im Wind rauschten. Kit hatte keine Angst, allein hier draußen zu sein. Sie fürchtete sich nur vor den Menschen mit ihren Ansprüchen und gedankenlosen Grausamkeiten. Und doch hatte sie den Kuss des Fremden furchtlos erwidert. „Ich muss verrückt gewesen sein", murmelte sie, während sie die Treppe zu ihrem Bungalow hinaufging. Das Bankett zog sich endlos hin. Philip saß neben dem Entwicklungsminister des kleinen Inselstaates. Der Mann hatte in Michigan studiert und gab eine lustige Geschichte nach der anderen zum Besten. Obwohl Philip sich bemühte, ihm zuzuhören, musste er immer wieder an die junge Frau denken. An ihren übermütigen Tanz im Wasser und ihre leicht heisere Stimme - und wie ihre Lippen sich angefühlt hatten. Er bemerkte, dass der Minister ihn erwartungsvoll lächelnd ansah und von ihm offenbar Zustimmung erhoffte. Aus Erfahrung wusste Philip, dass es gefährlich war, einfach nur zu nicken. „Bitte entschuldigen Sie, aber ich habe nicht ganz verstanden, was Sie gesagt haben", sagte er mit höflichem Bedauern. Der Minister fühlte sich von dem freundlich gelassenen Ton sowohl eingeschüchtert als auch ernüchtert. Er wiederholte seinen kleinen Scherz nicht mehr, sondern sagte ruppig: „Ist Ihnen eigentlich klar, wie sinnlos diese Verhandlungen sind? Ohne Rafek ist jedes Abkommen nicht das Papier wert, auf dem es steht." Zur Verärgerung des Ministers nickte Philip anerkennend, als hätte sein Tischnachbar einen mutigen Schachzug gewagt. „Ein berechtigter Einwand." „Wieso sind wir dann überhaupt noch hier?" fragte der Minister angriffslustig. Er wurde von Philip mit einem diplomatischen Lächeln bedacht und gab entnervt auf. Während des restlichen Abends erlaubte sich Philip keine Gedankenabschweifungen mehr. Erst nachdem die einzelnen Delegationen sich zurückgezogen hatten und er mit seinem persönlichen Assistenten Fernando und dem Leibwächter allein am Tisch saß, kam ihm wieder das Mädchen in den Sinn. „Wissen wir eigentlich, wer sich außer den Teilnehmern unserer Friedenskonferenz momentan noch alles im Hotel aufhält?" fragte er seinen persönlichen Assistenten. Fernando war stolz, für einen Mann zu arbeiten, der nicht nur der jüngste, sondern außerdem einer der erfolgreichsten UN-Vermittler war. Deshalb beschwerte er sich auch nicht über die unfaire Frage, öffnete den Aktenkoffer und wühlte in dem Stoß von Papieren. „Bei unserer Ankunft habe ich dir ja eine entsprechende Gästeliste gegeben. Es handelt sich um Mitglieder internationaler Hilfsorganisationen sowie eine Gruppe von Naturschützern und um Journalisten. Letztere fliegen jedoch morgen schon wieder ab und kommen zurück, wenn wir einen Friedensschluss erreicht haben." Philip nickte. „Weißt du, zu welcher Gruppe ein blondes Mädchen gehört? Wohl kaum zu den Naturschützern. Schwimmt zwar wie ein Fisch, weiß aber nichts über Mikrokrustentiere." Fernando und der einheimische Leibwächter tauschten einen Blick. „Mädchen?" wiederholte dann der Leibwächter das einzige Wort, mit dem er etwas anfangen konnte. „Oh, ich bin ihm nur zufällig begegnet", sagte Philip betont gleichgültig. Er vermochte weder Fernando noch den Leibwächter zu täuschen, wenngleich beide verschieden reagierten. Während Fernando eher besorgt wirkte, zeigte der Leibwächter einen Sinn fürs Praktische. „Sie wollen eine Frau?"
Fernando zuckte zusammen. „Das lässt sich arrangieren", meinte der Leibwächter, sichtlich froh, Philip einen Gefallen erweisen zu können. Fernando hielt den Atem an. Verdammt, wie konnte mir nur ein solcher Schnitzer unterlaufen? dachte Philip. Leute in seiner Position durften sich keine Gefühle erlauben. Sexuellen Appetit ja, das war menschlich, aber doch keine Gefühle! Er hätte das Mädchen erst gar nicht erwähnen dürfen. Und auf keinen Fall durfte er seinen Leibwächter verärgern, den ihm das einheimische Militär zur Verfügung gestellt hatte. „Danke, aber das ist nicht nötig", lehnte Philip liebenswürdig lächelnd ab. Erleichtert atmete Fernando auf. „Cool", murmelte er, nur für seinen Boss hörbar. Dieser zwinkerte seinem Assistenten kaum merklich zu. „Wir haben heute Abend noch viel Arbeit zu erledigen", sagte er dann. „Aber zuerst möchte ich mir noch ein wenig am Strand die Beine vertreten." Er stand auf, der Leibwächter ebenfalls. Philip schüttelte den Kopf. „Allein." Der Leibwächter hatte jedoch seine Befehle. „Sie sollten nicht ohne Begleitung gehen. Rafek hat überall seine Anhänger. Für ihn wäre es ein großer Coup, Sie zu entführen." „Aber wie sollte er das schaffen?" meinte Philip. „Coral Cove ist eine Privatinsel." „Jedenfalls ist so etwas hier schon passiert", gab der sichtlich in seiner Berufsehre gekränkte Leibwächter widerstrebend zu. „Trotz der versteckten Überwachungskameras am Strand?" Der Leibwächter zuckte die Schultern. „Jemand macht sich nachts an einer der elektrischen Leitungen zu schaffen. In einem Teilbereich fällt der Strom aus, und man glaubt, eine Leitung sei defekt. Rafeks Männer kommen ungesehen an Land, schnappen sich, wen sie wollen, und verschwinden wieder. Sie sind exzellente Ruderer und schalten die Bordmotoren erst ein, wenn sie draußen auf dem offenen Meer sind. Im Hotel bemerkt man die Entführung frühestens am nächsten Morgen, wenn der Entführte nicht zum Frühstück erscheint." Er sah, wie Philip die Stirn runzelte, und fühlte sich bemüßigt hinzuzufügen: „Solange Sie sich in der Nähe des Hauptgebäudes aufhalten, sind Sie sicher. Außerdem bleibe ich immer in Rufweite." Na wunderbar, dachte Philip zähneknirschend. Er durfte sich nicht nach dem Mädchen erkundigen. Und falls ' er ihr glücklicherweise rein zufällig begegnete, konnte er sie nicht einmal zu einem Spaziergang einladen - es sei denn unter Bewachung. Unter diesen Umständen war es wohl besser, sie zu vergessen. In ihrer ersten Nacht auf der Insel schreckte Kit immer wieder aus dem Schlaf hoch und wälzte sich unruhig im Bett hin und her. Als sie im Morgengrauen nochmals einschlief, träumte sie, dass ein Meeresgott zu ihr an den Strand kam und sie davontrug. Sie leistete keinen Widerstand, genoss es sogar, in seinen starken Armen zu liegen. Er ließ sie ins Wasser gleiten, und lachend tanzte sie mit ihm in den Wellen. Doch dann verfingen sich ihre Füße in etwas. Sie konnte sich davon nicht befreien. Der Meeresgott schwamm vor ihr und bemerkte nicht, dass sie ihm nicht mehr zu folgen vermochte. Immer weiter entfernte er sich von ihr. „Bleib bei mir", rief sie ihm nach, und da er sie nicht zu hören schien, rief sie noch lauter: „Verlass mich nicht!" Jäh erwachte Kit und setzte sich schwer atmend auf. Hatte sie tatsächlich jene Worte ausgesprochen, die sie nach dem Fiasko mit Johnny nie mehr, ja nicht einmal im Traum, hatte in den Mund nehmen wollen? Als sie aufstehen wollte, bemerkte sie, dass sich ihre Beine im Laken verfangen hatten. „Das ist wieder mal typisch für mich", murmelte sie. „Es beginnt als Tragödie und endet im Lächerlichen."
Immerhin fand sie den Traum nun schon weniger beunruhigend. Sie befreite ihre Beine aus dem Laken und stand auf. Nachdem sie geduscht und sich angezogen hatte, rief sie Lisa an. Ihr Schwager nahm ab. „Guten Morgen, Kit. Tut mir Leid, dass ich gestern keine Zeit für dich hatte." „Schon gut. Lisa hat mir erzählt, wie beschäftigt du bist." „Hat sie das?" Seine Stimme klang ironisch. „Hast du Lust, jetzt mit uns zu frühstücken? Oder möchtest du lieber erst schwimmen?" Kit blickte zum Meer, das keine fünfzig Meter von ihr entfernt silbern in der Morgensonne glänzte. Es sah sehr einladend aus, wären da nicht gleichzeitig schon einige Leute am Strand unterwegs gewesen. Kit konnte sich nicht überwinden, im Badeanzug an ihnen vorbei zum Meer zu gehen. Sie wagte ja nicht einmal, sich selbst im Spiegel zu betrachten. Zugegeben, der Fremde hatte sie gestern Abend auch im Badeanzug gesehen, aber da war es dunkel gewesen. „Nein, ich werde später schwimmen. Erst komme ich zu euch." „Prima. Dann bestelle ich für uns drei schon mal das Frühstück." Als Kit jedoch wenig später bei dem jungen Paar ankam, schien ihr gastfreundlicher Schwager es sich anders überlegt zu haben. An seiner finsteren Miene und Lisas verbissenem Gesichtsausdruck konnte sie unschwer erkennen, dass sie mitten in einen Ehekrach geraten war. „Hi, Kit", begrüßte Nikolai sie kurz angebunden. „Bis später, Lisa. Heute ist der letzte Konferenztag, das verspreche ich dir." Lisa, die einen Sarong trug, zuckte betont gleichgültig die nackten Schultern. „Mach, was du willst. Mir ist es egal." Sie wandte sich ostentativ ihrer Schwester zu und bat sie mit einer einladenden Handbewegung, ihr gegenüber an dem auf der Terrasse gedeckten Frühstückstisch Platz zu nehmen. „Ein Glas Mangosaft?" Am liebsten wäre Kit wieder gegangen. Sie nickte hilflos. Nikolai zögerte und beugte sich dann über seine Frau, um sie zu küssen. Sie drehte jedoch den Kopf weg, so dass seine Lippen nur ihre Wange streiften. Es war nicht zu übersehen, dass Nikolai sich nur mühsam beherrschte. „Bis heute Abend", sagte er ruhig. Lisa antwortete nicht, sondern blickte starr auf das Meer, als ihr Mann die Terrasse verließ. Sobald er jedoch weg war, lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück und schloss die Augen. „Damit vertröstet er mich jeden Morgen", sagte sie müde. „Und wenn er abends zurückkommt, sagt er: ,Nur noch ein Tag, Lisa'." Kit fühlte sich unbehaglich. Zwar schüchterte ihr beeindruckender Schwager sie stets ein, aber trotzdem mochte sie ihn. „Nun ja, Schutz der Natur ist ja auch sehr wichtig." Lisa lachte bitter auf. „Wichtiger als seine Frau?" Als sie nun wieder die Augen öffnete, glänzten in ihnen Tränen. „Ich weiß, dieses Land befindet sich in einer ökologischen Krise", fuhr sie fort, da Kit sich wohlweislich einer Antwort enthielt. „Und wenn er glaubt, etwas dagegen tun zu können, soll er es natürlich versuchen, aber ..." „Du musst mit ihm reden, Lisa", meinte Kit. „Es hilft nichts, wenn du schmollst." „Ich und schmollen?" Lisa war so empört, dass ihre Tränen unwillkürlich versiegten. „Das sagst ausgerechnet du mir, die bei meiner Geburtstagsfeier nicht den Mund aufgemacht hat?" „Du bist unfair!" protestierte Kit. „Mag sein, aber das warst du auch, als wir Nikolais Familie in Frankreich besucht haben. Alle bemühten sich, dir den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu gestalten, doch du wolltest weder reiten noch schwimmen noch am Erntedankfest teilnehmen. Wie würdest du das nennen?" Irritiert zuckte Kit die Schultern. „Sie führen ein so ... so ein herrschaftliches Leben und haben alle einen Adelstitel." Lisa seufzte. „Ich bin ebenfalls eine Gräfin, trotzdem redest du mit mir. Warum dann nicht auch mit Nikolais Mutter und Großmutter? Wenn hier jemand ein Snob ist, dann du, Kit."
„Nein, das stimmt nicht. Ich habe mich in dem Chateau der Ivanovs einfach deplaziert gefühlt." „Oh, dann gibst du es also zu?" „Ich gebe gar nichts zu!" widersprach Kit hitzig. Die beiden Schwester blickten sich kampflustig an, bis Kit schließlich widerwillig einräumte: „Na schön, vielleicht war ich ein wenig bockig. Aber wir reden hier von dir. Es war kindisch, den Kopf wegzudrehen, als Nikolai dir einen Abschiedskuss geben wollte." „Wieso glaubst ausgerechnet du zu wissen, was ich tun soll?" fragte Lisa gereizt. Weil ich Johnny ebenfalls immer ausgewichen bin, wenn er mit mir reden wollte, dachte Kit, doch da ihre Schwester von der Episode mit Johnny keine Ahnung hatte, sagte sie nur: „Was ist nun mit dem Mangosaft?" „Oh, entschuldige." Lisa schenkte zwei Gläser voll und lehnte sich dann wieder in ihrem Stuhl zurück. „An allem ist nur dieses blöde Hotel schuld!" „Aber es ist doch wunderschön hier!" protestierte Kit. „Zu schön!" Lisa verzog den Mund. „Die ganze Aufmachung ist für glückliche Flitterwöchner bestimmt. Umso schlimmer, wenn man es nicht ist!" „O Lisa, was ist passiert?" fragte Kit bestürzt, und in ihren grünen Augen war tiefes Mitgefühl zu lesen. „Fang bloß nicht an, mich zu bemitleiden! Sag mir lieber, dass ich mich glücklich schätzen darf, hier zu sein. Verdammt noch mal, ich möchte nicht heulen!" „Gut", sagte Kit gehorsam. „Die Sonne scheint, und vor uns liegt ein herrlicher Tag. Sieh dir doch nur diese herrlichen Bougainvilleenbüsche an. Man ist ja richtig geblendet von ihrer Farbenpracht." Sie wandte das Gesicht der Lagune zu. Eine leichte Brise strich ihr übers blonde Haar, und sie rekelte sich genießerisch. „Und diese Nächte. Noch nie habe ich so viele Sterne gesehen wie gestern Abend." Lisa zeigte grimmig die weißen Zähne und sah einem Terrier nicht unähnlich. „Erzähl mir nichts über Sterne!" „Wieso, was hast du auf einmal gegen die?" „Nichts. Es macht mir nur keinen Spaß, sie allein zu betrachten." „Aber Nikolai hat doch gesagt, dass heute der letzte Konferenztag ist", versuchte Kit ihre Schwester zu trösten. „Das verspricht er seit Tagen. Das Personal nennt mich bereits ,die Braut im Orchideenbungalow'." Kit lachte. „Ich weiß, weshalb. Einer der Gärtner hat mir gestern erzählt, dass es vor Ausbruch der Krise kein luxuriöseres Hotel für eine Hochzeit und Flitterwochen in den Tropen gab. Jetzt aber laufen hier nur noch Männer in grauen Anzügen herum, und jedes Mal, wenn eine Frau auftaucht, hofft das Personal, dass nun die alten Zeiten wiederkommen." „Daran habe ich gar nicht gedacht. Das Personal kann einem ja wirklich Leid tun." „Allerdings. Neuerdings darf während des Dinners keine Musik mehr gespielt werden, weil die Männer offenbar auch noch beim Essen miteinander verhandeln. Und zurzeit soll sich hier ein berühmter Friedensvermittler aufhalten, der selbst die Bauchtänzerin keines Blickes gewürdigt hat." Lisa brach in schallendes Gelächter aus, doch jäh verfinsterte sich ihre Miene wieder. „Wahrscheinlich auch keiner von den Naturschützern. Was glaubst du, wie lange es her ist, dass Nikolai mit mir geschlafen hat?" Verlegen griff Kit nach ihrem Glas und trank einige Schlucke Mangosaft. Sie war wirklich die Letzte, die Lisa in einer so intimen Angelegenheit einen Kat geben konnte. Doch Lisa schien das vergessen zu haben. Sie stand auf und sah mit starrem Blick auf die Lagune hinunter. "Er will mich nicht mehr, Kit", sagte sie leise. Kits bisherige sexuelle Erfahrungen waren alles andere als berauschend gewesen. Und doch konnte sie nachempfinden, wie Ihrer Schwester zu Mute war. Sie stand auf und legte ihr liebevoll einen Arm um die Schultern. Lisa versteifte sich, ließ dann aber den Kopf an Kits Schulter sinken. „Ich hätte nie
geglaubt, dass mir so etwas jemals passieren könnte. Ich dachte immer, ich würde mit allem fertig, verstehst du?" „Das wirst du auch", sagte Kit überzeugt. Lisa hob den Kopf. „Diesmal nicht." Ihre Stimme klang so verzweifelt, dass Kit einfach drauflosredete. „Es heißt, sexuelle Anziehung hat etwas mit Chemie und nichts mit Liebe zu tun. Ich kann das bestätigen. Gestern Abend habe ich beim Schwimmen einen Mann kennen gelernt, mit dem ich nur einige Worte gewechselt habe. Aber die Chemie zwischen uns hat gestimmt." Lisa schwieg, was höchst ungewöhnlich war. Normalerweise wäre sie hoch entzückt gewesen, dass ihre Schwester endlich einmal an einem Mann Interesse zeigte. „Es war ein wenig beängstigend", fuhr Kit fort, um ihre Schwester zu einer Reaktion zu zwingen. „Ich hatte ganz vergessen, wie stark eine solche sexuelle Anziehungskraft sein kann." „So?" meinte Lisa nur. „Es beweist, dass eine Beziehung viel mehr ist als nur Sex. Du weißt ja, ich bin Miss Eisberg persönlich, und doch fühlte ich mich von diesem Kerl angezogen. Dabei kenne ich nicht einmal seinen Namen. Verstehst du, was ich sagen will?" Schweigend zuckte Lisa die Schultern. „Es funktioniert auch umgekehrt", versuchte Kit verzweifelt zu erklären. „Ich meine, ihr liebt euch doch. Da kann es doch nicht so schwer sein, euch wieder zu versöhnen." „Netter Versuch, Kit. Leider vergeblich." „Aber warum denn?" „Weil Nikolai und ich schon lange kein richtiges Gespräch mehr geführt haben. Wie soll man sich da versöhnen?" Kit gab auf. Was hätte sie auch noch sagen sollen? An diesem Morgen jagte Philip seinen Leibwächter um die halbe Insel. „Ich habe gestern zu viel Zeit im Konferenzsaal verbracht", erklärte er. „Meine Lungen benötigen dringend frische Luft." Das stimmte zwar, aber vor allem hoffte er trotz aller guten Vorsätze, dass ihm das Mädchen über den Weg laufen würde. Leider hatte er kein Glück. Wahrscheinlich war es ja so auch besser. Was hätte er mit ihr schon sprechen können, wenn ihm sein Leibwächter nicht von der Seite wich? Wenig später saß er wieder im Konferenzsaal und verbannte jeden weiteren Gedanken an die Unbekannte. Er ertappte sich jedoch dabei, dass er bei jeder Kaffeepause zu einer der offenen Türen schlenderte und den Blick wie zufällig über den Strand schweifen ließ. Und dann sah er sie! Sie lief eine in das Kliff gehauene steile Treppe hinunter, die zum Strand führte. An diesem Morgen trug sie abgeschnittene Jeans und ein T-Shirt, und das lange Haar klebte ihr nicht mehr nass am Kopf, sondern glänzte golden in der Sonne. Während er beobachtete, wie sie leichtfüßig von Stufe zu Stufe hüpfte, fragte er sich, weshalb er nicht im Geringsten daran zweifelte, dass es sich bei ihr um die Unbekannte von gestern handelte? Normalerweise versuchte er immer, alles genau zu ergründen, doch in diesem Fall war es reine Intuition. Er spürte einfach, dass sie es war, seine Nixe vom vergangenen Abend. Wer aber war die schöne Unbekannte? Sicher gehörte sie nicht zu einem der Delegationsteilnehmer, alles Männer mittleren Alters. So wie ich, dachte er und fühlte sich mit seinen fünfunddreißig Jahren auf einmal uralt, während dieses blonde Mädchen die pure Verkörperung von Jugend und Lebenslust war. Es erinnerte ihn an ein Gemälde in Ashbarrow, auf dem ein über eine Frühlingswiese galoppierendes Einhorn abgebildet war. Seine seidige Mähne wehte im Wind wie das schimmernde blonde Haar des Mädchens. Wie lange war er schon nicht mehr in Ashbarrow gewesen? Vier Monate? Fünf? Das Mädchen würde perfekt ins Königinnenzimmer passen, dachte er und stellte es sich auf der
golddurchwirkten Decke des von grünen Samtvorhängen umgebenen Himmelbettes vor. Er spürte, wie sein Puls sich beschleunigte, und rief sich zur Ordnung. Einen Moment lang sah er nur noch das in der Sonne glitzernde blonde Haar des Mädchens und die blaugrün schimmernde Lagune. Als er sich umwandte, um sich bei dem Kaffee nachschenkenden Kellner zu erkundigen, wer diese Frau sei, schien sich plötzlich ein schwarzer Vorhang über sein linkes Auge zu senken. Philip hielt mitten in der Bewegung inne und stellte dann vorsichtig seine Tasse ab. Zum Glück schien niemand etwas bemerkt zu haben. Genauso wenig wie beim letzten und vorletzten Mal, als ihm dasselbe passiert war. Zwar dauerte die Sehstörung immer nur wenige Minuten, aber wenn bekannt würde, dass er ein Problem mit seinem linken Auge hatte, könnte das womöglich Zweifel wecken, ob er noch in der Lage sei, die Friedenskonferenz zu leiten. Statt dich von jungen Blondinen ablenken zu lassen, solltest du dich besser auf deinen Job konzentrieren, ermahnte er sich. Schließlich hofften Tausende hilfloser Menschen, dass es ihm gelingen würde, ein für alle Parteien annehmbares Ergebnis und damit einen dauerhaften Frieden zu erzielen. Also keine Fantasien mehr über Blondinen im Himmelbett und Einhörner auf einer Frühlingswiese. Die Sehstörung auf dem linken Auge war mittlerweile wieder verschwunden, und so beendete Philip die Pause und kehrte pflichtbewusst zum Verhandlungstisch zurück. Kit lief den Strand entlang, ohne auch nur einem Menschen zu begegnen. Eine leichte Meeresbrise strich ihr prickelnd über die Haut, und sie fühlte sich so gut wie noch nie in ihrem Leben. Nur schade, dass Lisa nicht mit ihr an diesen einsamen Strand hatte mitkommen wollen. Ihre Schwester hatte erklärt, sie fühle sich nicht wohl, und Kit hatte sich damit zufrieden gegeben. Sie genoss diesen wunderbaren Vormittag in vollen Zügen, fühlte sich frei und ungebunden und mutig. Sie blieb stehen und blickte sich um. Außer einigen träge über ihr kreisenden Möwen war niemand zu sehen. Was würde sie tun, wenn der Fremde vom vergangenen Abend ihr hierher an diesen einsamen Strand gefolgt wäre? Bei dem Gedanken überlief sie ein Schauer, der nichts mit Angst zu tun hatte. Vorsicht! ermahnte sie sich und vergrub die Zehen im warmen Sand. Schon einmal hatte sie geglaubt, alles überwunden zu haben. Sie war aufs College gegangen, hatte Freunde gehabt und Pläne für ihr weiteres Leben. Doch dann hatte sie Johnny kennen gelernt. Aus heutiger Sicht wusste sie, dass sie ihn nicht geliebt hatte. Sie war nur plötzlich wieder von dieser Angst besessen gewesen, nicht gut genug für ihn zu sein und auch für keinen anderen Mann. Sie war in schwere Depressionen verfallen und hatte ihr Studium aufgeben müssen. Nur Lisas energischem Eingreifen verdankte sie es, dass sie sich wieder erholt hatte. Lisa hatte den richtige Therapeuten für sie gefunden. Er hatte Kit geholfen, die schwere Krise zu überwinden. Mittlerweile wusste sie, wo für sie Gefahren lauerten und wie sie sich davor schützte. Spiegel mied sie, weil sie sich ihrem Körper nicht gewachsen fühlte. Und genauso erging es ihr mit Männern. So gesehen, war es besser, dass ihr der Fremde gestern Abend nicht gefolgt war. Sie hatte auf seinen Kuss so leidenschaftlich wie noch bei keinem anderen Mann reagiert. Ja, für einen Augenblick hatte sie sich sogar als normale Frau gefühlt, fähig, zu lieben und geliebt zu werden. Doch dann hatte sie sich plötzlich vor ihrer eigenen Courage gefürchtet und war zurück ins Wasser geflüchtet. Aber dieses wundervolle Gefühl ist noch immer da, dachte Kit. Trotz aller Zweifel und Ängste spürte sie es auch jetzt noch. Zugegeben, es war unfair Lisa gegenüber, die sich so niedergeschlagen fühlte, aber Kit konnte nicht anders, als im Sand herumzuhüpfen und zu tanzen.
„Er hat mich gewollt", sang sie übermütig. „Er hat mich wirklich gewollt."
3. KAPITEL
Den ganzen Tag schwebte Kit wie auf Wolken. Natürlich war es verrückt, sich wie eine Königin zu fühlen, nur weil ein Fremder sie im Mondschein geküsst hatte. Schließlich hatte er sie in der Dunkelheit ja nicht einmal richtig sehen können. Aber er hat mich gewollt, sagte sie sich immer wieder und machte vor Freude einen Purzelbaum nach dem anderen im Meer. Am späten Vormittag, als die Sonne zu stark wurde und Kit deshalb nicht mehr schwimmen oder auch nur im Schatten am Strand liegen konnte, holte Kit den in ihrem Bungalow liegenden Inselplan, auf dem verschiedene Wanderpfade durch den Regenwald eingezeichnet waren. Sie versuchte Lisa zu überreden, mit ihr mitzukommen, doch ihre Schwester zog es vor, auf der Terrasse unter dem Sonnensegel zu faulenzen. Kit machte sich also allein an die Erkundung der Insel. Die folgenden Tage verliefen ähnlich. Morgens frühstückte sie mit ihrer Schwester, wobei Nikolai ihr gewöhnlich auf der Treppe zum Bungalow begegnete. Nach dem Frühstück schwamm sie, manchmal auch gemeinsam mit Lisa. Sobald die Sonne dann zu stark wurde, setzte Kit die Erforschung des Regenwaldes fort, und Lisa verzog sich auf ihren „Adlerhorst", wie sie die in luftiger Höhe liegende Terrasse nannte. Auf ihren einsamen Wanderungen begegnete Kit gelegentlich jemandem vom Hotelpersonal, jedoch nie einem Gast. Sie versuchte sich einzureden, dass sie nicht enttäuscht sei, aber insgeheim hatte sie doch gehofft, den großen Fremden noch einmal zu treffen. Würde sie ihn überhaupt wieder erkennen? „Es sieht nicht schlecht aus", sagte Philip, als sich der Konferenzsaal an diesem Abend leerte. „Wir sind uns über den Inhalt des Friedensvertrages im Wesentlichen einig. Nun müssen wir nur noch die Rebellenführer dazu bringen, miteinander zu reden, statt sich gegenseitig umzubringen." „Vielleicht gelingt es Ihnen ja", meinte sein Gesprächspartner, ein französischer Diplomat, der mit den politischen Verhältnissen des Inselstaates bestens vertraut und entsprechend skeptisch war. „Jedenfalls habe ich Gantalan noch nie so kooperationsbereit erlebt." Philip lächelte. „Das liegt weniger an mir als daran, dass sein Erzrivale noch am Verhandlungstisch fehlt. Sobald Rafek hier auftaucht, wird es zwischen beiden zu einem Kräftemessen kommen." „Bisher hat Rafek noch nie persönlich an einer Konferenz teilgenommen. Glauben Sie wirklich, dass er kommt?" „Lassen wir uns überraschen", meinte Philip. Niemand hier wusste etwas von seinem geheimen Treffen mit dem Rebellenführer. Philips anstrengender Ausflug in den Dschungel war von den Medien als erholsame Fotosafari bezeichnet worden, während der er frische Kräfte für die bevorstehenden Friedensverhandlungen geschöpft habe. Er griff nach einem Stapel Papier und reichte ihn seinem Assistenten. „Steck das alles bitte in den Reißwolf, Fernando. Und sammle auch sämtliche Notizen der Dolmetscher ein und vernichte sie." Der Franzose zog die Brauen hoch. „Sie sind sehr gründlich." „So kann man es auch ausdrücken." Philip lächelte ironisch. „Manche haben mich auch schon einen verdammten Bürokraten genannt." „Sind wir das nicht alle?" meinte der Franzose trocken. „Jedenfalls haben Sie die Dinge heute flott vorangetrieben." „Man muss den Leuten von vornherein klarmachen, dass man bereit ist, bis in den Morgen hinein zu verhandeln, wenn sie sich über einen Punkt nicht einigen können." Philip steckte seinen Füller in die Innentasche des Jacketts. „Sobald sie anfangen, hungrig zu werden, werden sie auch kompromissbereiter." „Und was tun Sie, wenn die Verhandlungen ins Stocken geraten?" „Dann führe ich die Konferenz trotzdem weiter", erwiderte Philip kühl.
„Auch über Monate?" „So lange wird es nicht dauern. Die Führer müssen ihre Anhänger unter Kontrolle halten. Außerdem wollen sie zurück zu ihren Frauen." „Sie etwa nicht?" fragte der Franzose neugierig. Er hatte allerhand Gerüchte über Philip Hardesty gehört. Es hieß, er habe keine menschlichen Gefühle, sei von seiner Arbeit besessen und ein Verhandlungsgenie. Besaß der Mann überhaupt so etwas wie ein Privatleben? „Keine Frau, keine Anhänger", antwortete Philip betont locker. Wieso erkundigte man sich hier ständig nach seinem Privatleben? „Ich bin dafür bekannt, dass ich bei Konferenzen nicht unter Zeitdruck stehe." Der Franzose fragte sich, wie man so leben konnte. „Das ist sicher ein nicht zu unterschätzender Vorteil." „Stimmt", versicherte Philip lächelnd. Zu seiner Verwunderung ertappte sich der Franzose dabei, dass er das Lächeln erwiderte. „Kommen Sie, lassen Sie uns noch etwas zusammen trinken", schlug Philip vor. „Und dann sagen Sie mir ganz ehrlich, was Sie wirklich von der heutigen Verhandlung halten und auf welche Fallen wir uns morgen gefasst machen müssen." „Danke, ich komme gern mit", antwortete der französische Diplomat. Irgendwie fand der diesen Mann trotz allem äußerst sympathisch. „Du kommst doch auch mit, Fernando, oder?" wandte Philip sich an seinen Assistenten. „Ich schlage vor, wir setzen uns an die Strandbar. Dort sind wir vor der Bauchtänzerin sicher." Fernando und der Franzose sahen sich an und seufzten. Sie hatten absolut nichts gegen die überaus hübsche und aus Ägypten stammende Bauchtänzerin, die ihre Kunst perfekt beherrschte. Aber Philip war der Boss, und so folgten sie ihm. Die von altmodischen Lampions beleuchtete Strandbar bot abends ein sehr malerisches Bild. Die einzelnen Tische standen in voneinander durch Hecken und hohe Kübelpflanzen abgegrenzten Lauben, was den Gästen ein Höchstmaß an Privatsphäre bot. Lisa ging an der steinernen Figur des Affengottes vorbei, der den Eingang bewachte. „Überall wird man daran erinnert, dass das Hotel für Liebespaare gebaut wurde", stellte sie nicht ohne Bitterkeit fest und sank auf das üppig mit weichen Kissen ausgestattete Rattansofa. Es stand unter einem eingetopften Orangenbaum, der einen zarten Duft verbreitete. Wirklich ein idealer Platz für Verliebte, dachte auch Kit, die sich ebenfalls reichlich fehl am Platz fühlte. Vor einer halben Stunde hatte Nikolai seine Frau angerufen und ihr vorgeschlagen, sich hier mit ihm zu treffen. „Ich glaube, ich sollte lieber gehen", sagte Kit unsicher. „Bestimmt möchte er mit dir allein sein." „Wer weiß, wie lange er mich warten lässt oder ob er überhaupt kommt", tat Lisa ihren Einwand ab. „Falls er gerade in eine spannende Diskussion über gefährdete Affenarten verwickelt ist, vergisst er mich mit Sicherheit." Was sollte Kit darauf antworten? So hübsch und sexy, wie Lisa in ihrem schulterfreien Kleid aussah, konnte man sich schwer vorstellen, dass ihr Mann die Verabredung vergessen könnte. „Sobald er da ist, verschwinde ich." „Na gut", seufzte Lisa. „Ich möchte auf keinen Fall, dass du meinetwegen auf dein tägliches Bad im Mondschein verzichtest." „Woher weißt du, dass ich jeden Abend schwimme?" fragte Kit misstrauisch. Lisa lachte. „Die Kellner sind darüber entzückt. Es entspricht ihrem Sinn für Romantik, dass Bräute im Mondschein schwimmen." „Bräute!" „Vermutlich ist das Personal speziell dafür ausgebildet, Verliebte zu verwöhnen. Gut möglich, dass dienstbare Geister heimlich Rosenblüten auf das Bett streuen, während Er und
Sie nachts im Meer schwimmen." Kit fand diese Vorstellung unerwartet erotisch, wollte sich jedoch nichts anmerken lassen. „Bisher hat man mich damit glücklicherweise verschont." „Ich weiß nicht", sagte Lisa verträumt und sah plötzlich viel jünger aus, als es für die Leiterin einer erfolgreichen Investmentfirma zulässig war. „Rosenblüten auf dem Bett können doch ganz hübsch sein." „Nur zu, sprich es aus", sagte Kit und fügte, ihre Schwester imitierend, hinzu: „Mit dem richtigen Mann!" Lisa schüttelte den Kopf. „Das wollte ich nicht sagen." „Sondern?" „Falls der richtige Mann es auch will", sagte Lisa schlicht und wirkte auf einmal sehr traurig. „O Lisa..." Ihre Schwester winkte ab. „Fang jetzt nicht an, mich zu bemitleiden! Versuch lieber, einen Kellner an unseren Tisch zu bekommen. Mir ist jetzt nach einem Cocktail." Kit stand auf und blickte zur Bar. „Ich gehe ..." Ehe sie den Satz zu Ende sprechen konnte, erschien wie aus dem Nichts ein Kellner am Eingang ihrer lauschigen Laube. „Bringen Sie uns bitte zwei Ihrer farbenprächtigsten Cocktails", bestellte Lisa in schnoddrig-fröhlichem Ton. Sie hatte sich wieder gefangen und bedachte den Mann mit einem strahlenden Lächeln. Ich wünschte, ich wäre wie sie und könnte meine Gefühle ebenso gut verbergen, dachte Kit. Dann würde sie sich anderen gegenüber nicht immer so nackt und verletzlich fühlen. Sichtlich beflügelt von Lisas Lächeln, eilte der Kellner davon und kehrte nach wenigen Minuten mit zwei Cocktails in den Händen zurück. In dem hohen Glas befand sich eine Flüssigkeit, deren Farbskala von unten Rot bis zu Orange am oberen Glasrand reichte, während das kleinere Glas eine sprudelnde türkisfarbene Flüssigkeit enthielt. „Sieht aus wie Tequila Sunrise", sagte Lisa und griff nach dem Drink in dem hohen Glas. „Kein Tequila Sunrise", erklärte der Kellner. „Es ist Zuckerrohrschnaps, gemischt mit lokalen Fruchtsäften, hauptsächlich Guave." Misstrauisch beäugte Kit den anderen Drink. „Und woraus besteht dieses giftig grüne Zeug?" „Das ist Champagner mit pulverisierten Orchideenblüten", erklärte der Kellner ernst, doch seine Augen funkelten amüsiert. „Gut für die Liebe." Lisa lachte schallend, und der Kellner zog sich lächelnd zurück. „Das hat er doch wohl nicht ernst gemeint?" fragte Kit ungnädig. „Ich denke schon." Lisa lachte noch immer. „Vergiss nicht, dieses Hotel war bis vor kurzem ein Paradies für Flitterwöchner." Kit sah ihre Schwester ungläubig an. „Heißt das, du hast mir gerade ein Aphrodisiakum gekauft?" „Genau genommen spendiert Nikolai dir den Drink. Heute Abend geht alles auf seine Rechnung." „Auch das noch." Lisa gab keine Antwort. Sie studierte den vom Kellner mit den Drinks gebrachten Prospekt. „Sie haben hier sogar eine Karte mit Vorschlägen für Spaziergänge im Mondschein. Genau das, was nervöse Hochzeitsreisende sich wünschen." „Heutzutage sind Flitterwöchner nicht mehr nervös", widersprach Kit. „O doch." Ihre Schwester lächelte weise. „Du glaubst nicht, wie aufgeregt ich damals war." „Wirklich?" fragte Kit ungläubig. Es fiel ihr schwer, sich Lisa, die schon als Kind großes Durchsetzungsvermögen bewiesen hatte, nervös vorzustellen. „Aber ja. Jedes Mal, wenn Nikolai mich allein gelassen hat, bin ich in Panik verfallen." Kit verzog das Gesicht. „Ein Grund mehr, nicht zu heiraten."
„Mit der Zeit wird man ruhiger", sagte Lisa trocken. „Und es gibt ja auch gewisse ... Entschädigungen." „Ich werde dich beim Wort nehmen." Lisa seufzte nur, und Kit machte sich darauf gefasst, dass sie sich wieder Klagen über ihr, Kits, nicht vorhandenes Liebesleben würde anhören müssen, doch Lisa war mit ihren Gedanken ganz woanders. „Ich brauchte Nikolai nur anzusehen ..." Lisas Stimme klang wehmütig. Kit konnte es nicht ertragen, ihre Schwester so traurig zu sehen. Sie trank einen großen Schluck ihres türkisfarbenen Cocktails. „Du trägst die Verantwortung, wenn ich mich auf einen der männlichen Gäste stürze", scherzte sie. Das schien Lisa wieder aufzuheitern. Sie lachte. „Sehr groß ist die Auswahl nicht. Alles dickliche Männer mittleren Alters in grauen Anzügen." „Nicht alle!" widersprach Kit, ohne zu überlegen. „Abgesehen von Nikolai..." Lisa verstummte mitten im Satz. Jäh entsann sich Kit, dass sie ihrer Schwester von dem Mann an der Lagune erzählt hatte. Vor Schreck trank sie gleich noch einmal etwas Cocktail. „Das Zeug schmeckt wie Shampoo." Doch Lisa hatte ihr gar nicht zugehört, sondern blickte wie gebannt über die Hecke. „Nikolai", sagte sie leise. „Er ist tatsächlich gekommen." Der große dunkelhaarige Mann stand an der Bar und ließ den Blick umherschweifen. Dann machte er sich auf die Suche nach seiner Frau und ging von Laube zu Laube. Höchste Zeit, zu verschwinden, sagte sich Kit, die ihn bei seiner methodischen Suche beobachtete. Sie stand auf und griff nach ihrem Glas. „Der Barkeeper muss einen Fehler gemacht haben. Niemand trinkt gern Shampoo. Ich werde den Drink zurückbringen." Lisa, deren Aufmerksamkeit ausschließlich ihrem Mann galt, antwortete zerstreut: „Gut." Vermutlich hätte sie das auch gesagt, wenn Kit ihr mitgeteilt hätte, dass sie schnell mal zum Mond fliegen wolle. Unbemerkt von ihrer Schwester, verließ Kit die Laube. Seit vier Tagen hatte Philip sich bemüht, das Mädchen aus seinen Gedanken zu verbannen. Doch als er sie nun sah, wurde ihm klar, dass er die ganze Zeit unbewusst nach ihr Ausschau gehalten hatte. Sie kam mit einem Glas in der Hand aus einer der Lauben und bewegte sich an Land ebenso anmutig und kraftvoll wie im Wasser. Sie machte einen völlig unbefangenen Eindruck. Offenbar hatte sie nicht bemerkt, dass sie beobachtet wurde - nicht nur von ihm. Auch die anderen beiden Männer an seinem Tisch blickten der großen, schlanken Blondine bewundernd nach. Philip ertappte sich dabei, dass er einen Anflug von Eifersucht verspürte. Schließlich war er es gewesen, der mit ihr gesprochen und sie zum Lachen gebracht hatte. Und er hatte sie geküsst. Unvermittelt stand er auf. „Entschuldigen Sie mich bitte. Ich sehe gerade eine Freundin kommen." Er ging, ohne die Antwort der beiden abzuwarten. „Er scheint also doch noch so etwas wie Blut in den Adern zu haben", stellte der Franzose belustigt fest, beeindruckt von dem guten Geschmack des Engländers. Fernando hingegen blickte seinem Boss besorgt hinterher. „Das ist so gar nicht seine Art." „Ach was, auch er muss sich mal entspannen. Eine laue Tropennacht, ein hübsches Mädchen. Es wäre unmenschlich, ihm dieses kleine Vergnügen nicht zu gönnen." „Sie haben mich missverstanden", sagte Fernando. „Philip Hardesty ist unmenschlich." Doch der Franzose schwieg. Interessiert verfolgte er, wie Philip der Blondine nacheilte und etwas zu ihr sagte. Sie drehte sich um, und ihre Miene hellte sich auf, als sie ihn erkannte. . Fernando folgte dem Blick des Franzosen, und so sah er, wie Philip dem Mädchen lächelnd das Glas aus der Hand nahm. Noch nie hatte er seinen Boss so lächeln sehen. Er strahlte ja über das ganze Gesicht.
„O nein, das ist er nicht", widersprach der Franzose, der den Genüssen des Lebens durchaus zugetan und fast ein wenig neidisch auf Philip war. „Heute Abend ist er so menschlich, wie ein Mann nur sein kann." „Hallo!" sagte Philip. „Schön, Sie wieder zu sehen." Das Mädchen drehte sich zu ihm um. „Oh, hallo!" Der Klang ihrer leicht heiseren Stimme hatte Philip bis in seine Träume verfolgt. Er spürte, wie sein Puls sich beschleunigte. „Wo wollen Sie hin mit Ihrem Drink?" „Ich bringe ihn dem Barkeeper zurück. Angeblich enthält er pulverisierte Orchideenblüten, aber er schmeckt ganz abscheulich." Lächelnd nahm Philip ihr das Glas aus der Hand. „Lassen Sie mich Ihnen etwas Trinkbareres besorgen. Oder warten Sie auf jemanden?" Sie schüttelte den Kopf, und ihre Augen blitzten schalkhaft. „Das habe ich getan. Jetzt ist er gekommen, und ich bin überflüssig." Philip war erstaunt, wie erleichtert er sich fühlte. „Sind Sie mit einer Freundin hier?" „Mit meiner Schwester." Auf dem Weg zur Bar hätte Philip gern den Arm um sie gelegt, aber er wusste nicht, wie sie reagieren würde. Beim letzten Mal hatte sie ja nach einem kurzen Kuss jäh die Flucht ergriffen. Immerhin schien sie sich über das Wiedersehen zu freuen. Und offensichtlich war sie mit niemandem zum Dinner verabredet. Er schaffte es, die Aufmerksamkeit des Barkeepers zu erregen, ohne die Hand zu heben. „Der Lady schmeckt Ihre Spezialmischung nicht, Sariel. Geben Sie ihr ..." Philip drehte sich zu ihr um und sah sie fragend an. „Was möchten Sie? Etwas, das Sie kennen? Oder wollen Sie etwas Neues ausprobieren?" „Etwas Neues", sagte sie nach einem kaum merklichen Zögern und lachte vergnügt. „Dies scheint für mich eine Woche mit lauter neuen Erfahrungen zu sein." Philip überflog mit einem Blick die Cocktailkarte, doch keiner der Drinks entsprach seinem Geschmack. „Geben Sie mir bitte Rum, Mangosaft, Angostura, die Reibe mit der Muskatnuss da drüben und eine frische Limette", wandte er sich an Sariel. „Und Mineralwasser und einen Mixbecher." Mit einem breiten Grinsen kam der Barkeeper seinen Wünschen nach. „Mangosaft schmeckt zwar wunderbar, aber man versüßt damit sehr leicht einen Drink." Ich höre mich ja wie ein verdammter Angeber an, dachte Philip entsetzt und lächelte entschuldigend. „Das hat mir der Kerl erzählt, von dem dieses Rezept stammt. Die Limette nimmt dem Drink die Süße, und das Mineralwasser verstärkt den fruchtigen Geschmack", erklärte er, während er mit geübten Griffen alle Zutaten in den Mixbecher gab. Wieso halte ich ihr einen Vortrag über die richtige Zubereitung von Cocktails? fragte er sich. Hatte er verlernt, wie man mit einer Frau flirtete? „Es gibt sogar eine Legende, wonach Evas Apfel in Wirklichkeit eine Mango war", fuhr er fort, außer Stande, seinen Redefluss zu stoppen. Das Mädchen schien sich daran nicht zu stören. „Eine Paradiesfrucht? Der Gedanke gefällt mir." Philip schüttete den fertigen Drink in ein Glas und schob es ihr hin. „Ich hoffe, er schmeckt." Sie trank und sah dabei aus, als würde sie jede neue Erfahrung überaus ernst nehmen. „Sehr ... exotisch", sagte sie vorsichtig. Er legte den Kopf zurück und lachte. „Sie müssen ihn nicht trinken. Wollen Sie lieber ein kühles Bier? Das ist sicherer." „Nein." Sie schüttelte heftig den Kopf. „Ich möchte nichts, was sicher ist. Dazu bin ich nicht auf eine tropische Insel gekommen." Wozu dann? Sekundenlang drohte Philips Pulsschlag erneut aus dem Takt zu geraten,
doch nicht umsonst war er von Kind an zu Disziplin erzogen worden. „Das hört sich ja recht verwegen an." Sie warf ihm einen scheuen Blick zu. Waren ihre Augen grau oder grün? Im schummrigen Licht der Lampions konnte er die Farbe nicht genau erkennen. „Nein, nicht verwegen", widersprach sie. „Nur mutiger als gewöhnlich." „Mutig genug, um mit mir zu Abend zu essen?" fragte er und merkte, dass er mit angehaltenem Atem auf ihre Antwort wartete. Sie sah ihn über den Rand ihres Glases hinweg an. „Und wo?" „Das können Sie bestimmen, solange es innerhalb der Hotelanlage ist." Er bemühte sich, lässig zu klingen. „Die nächste Pizzeria befindet sich zwanzig Inseln weiter." Darüber musste sie lächeln. „Dann also keine Pizza." „Wie wäre es mit einem einheimischen Currygericht?" „Einem Paradiescurry?" scherzte sie. Er erwiderte ihr Lächeln und sah ihr direkt in die Augen. „Genau." Sein Blick blieb nicht ohne Wirkung auf sie. Ihre Pupillen schienen sich zu weiten, dann senkte sie verlegen die dicht bewimperten Lider. Wie jung sie war! Viel zu jung für ihn. „Die Einladung gilt selbstverständlich auch für Ihre Schwester und deren Freund", beeilte er sich zu versichern. „Er ist ihr Mann, und ich glaube, die beiden benötigen etwas Zeit für sich allein." Philip war sich nicht sicher, ob er darüber froh sein oder es bedauern sollte. Er, der schon als kleiner Junge stets gewusst hatte, was er wollte, fühlte sich plötzlich in der Zwickmühle. Erfahrungsgemäß hätte er Situationen wie diese während einer Friedensmission unbedingt vermeiden müssen. Aber gleichzeitig fand er das Leben auf einmal wieder aufregend und herrlich und verspürte ein Gefühl der Freiheit. Als das Mädchen nun sagte: „Danke, ich würde gern mit Ihnen zu Abend essen", verdrängte er sein schlechtes Gewissen und antwortete: „Wunderbar. Im Restaurant, oder bevorzugen Sie den Strandgrill?" Sie schnitt ein Gesicht. Ganz offensichtlich gefiel ihr weder das eine noch das andere. „Das Restaurant ist mir zu vornehm. Allein diese vielen Ober." „Da haben Sie Recht. Im Vergleich zum Bedienungspersonal zählt man als Gast zur Minderheit und fühlt sich etwas unbehaglich." Sie schüttelte sich in der Erinnerung daran. „Als ich dort war, haben sich die Ober nur im Flüsterton unterhalten. Ich kam mir völlig fehl am Platz vor und fühlte mich eingeschüchtert." „Dann also lieber den Strandgrill", meinte Philip, und da sie damit auch nicht einverstanden zu sein schien, fragte er: „Nein?" „Ehrlich gesagt, gefällt es mir dort auch nicht", gestand sie. „Man sieht nur männliche Gäste mittleren Alters, die ihr Essen in Windeseile hinunterschlingen, um möglichst schnell wieder an ihre Laptops zurückkehren zu können." Genau das hätte auch Philip heute Abend getan, wenn er sie nicht zufällig gesehen hätte. „Verstehe." Er überlegte. Sollte er beim Zimmerservice ein Essen bestellen und sie auf seine Terrasse einladen? Sie würden den Mond am Nachthimmel betrachten und ... Er rief sich zur Räson. Er hatte noch nie eine fremde Frau auf sein Zimmer mitgenommen und würde es auch jetzt nicht tun. Es wäre auch ihr gegenüber nicht fair, da sie noch so jung war. „Na gut", sagte er. „Wie wäre es damit: Wir lassen uns ein Picknick einpacken und gehen hinunter zum Strand?" Sie nickte begeistert. „Oder zum Wasserfall." „Wohin?" Sie griff nach einem der an der Bar ausliegenden Prospekte und schlug ihn auf. „Mondscheinspaziergänge", sagte sie und tippte mit dem Finger auf eine kleine Kartenskizze. „Nicht weit von hier gibt es oberhalb des Kliffs einen Wasserfall. Man kann
dort sitzen und die herabstürzenden Wassermassen beobachten. Ich gehe täglich dorthin, aber nachts muss der Anblick einfach atemberaubend sein." Vor Philip schien sich eine Falle zu öffnen. „Halten Sie das für eine gute Idee?" Einen Moment lang sah sie ihn ausdruckslos an, dann nickte sie. „Ach, Sie meinen, man hat die Mondscheinspaziergänge gestrichen, weil im Moment die entsprechenden Gäste fehlen? Aber deshalb gibt es die Wege ja trotzdem." „Aber vielleicht werden sie nicht mehr beleuchtet und sind deshalb nachts zu gefährlich", gab er zu bedenken. Er wusste verdammt gut, wie gefährlich ein solcher Spaziergang für sie beide werden konnte. Weshalb wusste sie es nicht? Oder war es ihr egal? Wollte sie ihm auf diese Weise zu verstehen geben, dass sie sich zu ihm genauso stark hingezogen fühlte wie er sich zu ihr? Oder deutete er ihr Verhalten völlig falsch? Fühlte etwa nur er sich von ihr wie elektrisiert? Immerhin stand sie völlig ruhig neben ihm. Vielleicht war sie ja tatsächlich nur das, wonach sie aussah: nach einem freundlichen, unschuldigen Mädchen von zauberhafter Schönheit. „Am besten fragen Sie", meinte sie. Fragen? Einen Augenblick wirbelten seine Gedanken wild durcheinander. Was fragen? Etwa: Ist Ihnen klar, was wir beide riskieren? Wir kennen uns nicht, und so können Sie nicht wissen, dass ich zurzeit Friedensverhandlungen leite und mich mit niemandem privat einlassen darf. Sie haben keine Ahnung, wer ich bin. Warum haben Sie mich nicht nach meinem Namen gefragt? Erst als sie sich nun über die Theke lehnte und den Barkeeper fragte, ob der Weg zum Wasserfall auch nachts sicher sei, merkte Philip, dass er sie völlig missverstanden hatte. Der Barkeeper blickte von ihr zu Philip und dann wieder zurück zu ihr. „Er ist sehr schön und sehr romantisch", versicherte er mit einem breiten Grinsen. Danke, Kumpel, dachte Philip ironisch. Er wollte ja mit ihr zum Wasserfall. Nichts wünschte er sich mehr. Andererseits durfte er jedoch die Warnungen seines Leibwächters nicht außer Acht lassen, dass Rafek sich nachts ungesehen an Land schleichen konnte. Zwar hätte er, Philip, eine Begegnung mit dem Rebellenführer als willkommene Gelegenheit genutzt, ihn dazu zu überreden, endlich an den Verhandlungstisch zu kommen. Aber er musste auch die Sicherheit des Mädchens im Auge behalten. Um Zeit zu gewinnen, die Risiken abzuwägen, stellte er Sariel mehrere Fragen. „Ist der Weg gut beleuchtet? Gibt es dort keine dunklen Ecken, wo man ins Meer stürzen kann?" Oder wo Rebellen lauern? dachte er, was er natürlich nicht laut sagen konnte. Der Barkeeper bemühte sich, ihn in jeder Hinsicht zu beruhigen, während das Mädchen Philip mit großen Augen ansah. Sie hält mich für einen kompletten Feigling, dachte er, und es war ihm äußerst unangenehm, von ihr so eingeschätzt zu werden. Überhaupt hatte er es satt, immer nur den besonnenen, allen gerecht werdenden Vermittler zu spielen. Wenigstens heute Abend wollte er sich wieder einmal wie ein normaler Mann fühlen und sich auch so benehmen. „Okay, okay, Sie haben mich überzeugt, Sariel", sagte er. „Der Weg ist mindestens so gut beleuchtet wie der Times Square bei Nacht und bestens in Schuss. Könnten Sie für die Lady und mich etwas zu essen besorgen? Wir wollen dort oben picknicken." Der Barkeeper hatte einen besseren Vorschlag. Er würde das Essen direkt zur Grotte liefern lassen. „Zur Grotte?" wiederholte Philip und runzelte die Stirn. Das Mädchen lachte. „Das sind nur einige Felsbrocken, auf die man sich beim Essen setzen kann", erklärte sie. „Kein romantisches Versteck." Zweifellos machte sie sich über ihn lustig. Natürlich weiß sie, was sie tut, dachte Philip. Offenbar war er es, der die Spielregeln verlernt hatte. Er lächelte. „Gut, gehen wir." Der Weg war tatsächlich so gut beleuchtet, wie Sariel versprochen hatte. In regelmäßigen Abständen säumten Lampen den mit Holzplanken bedeckten Pfad, an dessen steileren Abschnitten Stufen weiter nach oben führten. Sogar ausschließlich mit sich selbst
beschäftigte Flitterwöchner konnten hier schwerlich vom Weg abkommen. „Sariel hatte Recht", sagte Philip, „der Weg ist sehr gut ausgebaut." Seine Begleiterin lief leichtfüßig einige Stufen weiter zu einer kleinen Aussichtsplattform, von der aus man einen Blick auf das Meer hatte. „Waren Sie wirklich noch nie hier oben?" fragte sie verwundert. „Ich hatte bisher dazu keine Zeit." Er schnitt ein Gesicht. „Ich fürchte, ich bin einer dieser männlichen Gäste mittleren Alters, die am Strandgrill in Windeseile ihr Steak hinunterschlingen." „Sie sind kein Mann mittleren Alters", widersprach sie mit ihrer leicht heiseren und ihn so faszinierenden Stimme. „O doch. Manchmal fühle ich mich uralt", erwiderte Philip. „Hass lässt Menschen schneller altern." Er erschrak über sich, weil er sich so bitter anhörte. „Hass?" wiederholte seine Begleiterin keineswegs schockiert. „Wen hassen Sie denn?" „Ich?" Er bereute seine Bemerkung bereits. „Niemanden." „Dann werden Sie also gehasst?" Er zuckte die Schultern. Er hatte keine Lust, ihre Frage zu beantworten, wollte nicht ausgerechnet jetzt über seinen Beruf nachdenken. Zum Glück tauchte in diesem Moment eine große orangefarben leuchtende Kugel am Himmel auf. „Sehen Sie nur, der Mond kommt durch", sagte Philip. Er beobachtete, wie der leichte Wind durchsichtige Wolkenfetzen über den Himmel trieb. „Heute Nacht sind die Hexen unterwegs." „Wie bitte?" Das Mädchen sah ihn verständnislos an. „So hat es mein Kindermädchen immer genannt, wenn nachts der Wind wehte und kleine weiße Wolken am Himmel schwebten. Wahrscheinlich deshalb, weil Wolken manchmal ein wenig so aussehen wie eine auf einem Besenstiel sitzende Gestalt." Schweigend setzten sie ihren Weg fort, und erst nach einer Weile fragte seine Begleiterin unvermittelt: „Sie hatten ein Kindermädchen?" „Sogar mehrere." Er dachte an die sich oft in rascher Folge abwechselnden Kindermädchen und Erzieherinnen, von denen er in Ashbarrow betreut worden war. „Oh." „Haben Sie moralische Bedenken, was Kindermädchen angeht?" fragte Philip, der bei seiner Begleiterin eine plötzliche Zurückhaltung zu spüren glaubte. „Nein." „Mein Vater war Diplomat und oft in Gegenden stationiert, wo Gesundheitsrisiken lauerten. Meine Mutter hat ihn überallhin begleitet, wollte aber, dass ich zu Hause aufwuchs." „Ein Diplomat", sagte das Mädchen mit seltsam klingender Stimme. „Waren Sie da nicht schrecklich einsam?" Philip lachte. „Offenbar haben Sie mit Ihrem Kindermädchen schlechte Erfahrungen gemacht, oder? „Nicht in diesem Leben!" Er blieb stehen und sah sie betroffen an. „Nun, dann ..." „Bei uns gab es kein Kindermädchen", fiel sie ihm heftig ins Wort, „keine Diplomaten in der Familie, ja nicht einmal einen Vater. Meine Mutter hat ihr Leben lang hart gearbeitet, und wir haben ehrlich gesagt immer in recht ärmlichen Verhältnissen gelebt, bis meine Schwester Lisa sich als Finanzgenie entpuppt hat. Oh, sie hat einen Mann mit berühmten Vorfahren, alten Schlössern und all diesem Kram geheiratet, aber im Grunde genommen ist sie, genau wie ich, gesellschaftlich gesehen Abschaum." Philips Begleiterin hob trotzig das Kinn. „Ich möchte nicht, dass Sie einen falschen Eindruck von mir erhalten." Er war zutiefst erschüttert. Nicht so sehr von dem, was sie, sondern wie sie es gesagt hatte. „Niemand ist Abschaum", widersprach er ruhig. Sie blickte ihn mit zornig funkelnden Augen an. „Würden Sie das auch sagen, wenn mich jemand aus Ihrer Familie heiraten würde?"
„Wahrscheinlich wurde ich denjenigen vergiften", entgegnete er kühl - und mit voller Absicht. Auf eine solche Antwort war sie offensichtlich nicht gefasst. „Oh!" Philip fand sie bezaubernd in ihrer Verwirrung. Diesmal konnte er der Versuchung nicht widerstehen und griff nach ihrer Hand, die sie ihm nicht entzog. „Kommen Sie", sagte er sanft, „lassen Sie uns erst zur Grotte gehen. Dort erzählen Sie mir dann mehr über sich."
4. KAPITEL
„Der Weg kommt einem im Dunkeln steiler vor als bei Tag", sagte Kit. „Aber es ist nicht mehr weit." „Wenn man tagsüber hierher kommt, bleibt man wahrscheinlich immer wieder stehen, um die Aussicht zu bewundern", meinte ihr Begleiter. Obwohl er behauptet hatte, sich uralt zu fühlen, atmete er trotz des anstrengenden Aufstiegs ruhig und gleichmäßig. Kit gelang dieses Kunststück nicht. Vielleicht lag es daran, dass er noch immer ihre Hand hielt. Bestimmt tat er es nicht aus einem romantischen Gefühl heraus. Er half ihr einfach nur beim Aufstieg, und je heftiger sie atmete, desto mehr musste er annehmen, dass sie seine Hilfe nötig hatte. Trick siebzehn, dachte Kit grimmig. Seit Jahren war er der erste Mann, der ihr Herz schneller schlagen ließ, doch bestimmt würde er wie Johnny schnell das Weite suchen, wenn er merkte, welche Wirkung er auf sie hatte. Kit war nicht entgangen, dass seine Augen plötzlich einen wachsamen Ausdruck angenommen hatten, als sie ein Picknick am Wasserfall vorgeschlagen hatte. Ganz offensichtlich hatte er befürchtet, sie würde sich ihm an den Hals werfen. Sie hatte seine Bedenken zu zerstreuen vermocht und war entschlossen, ihre Gefühle auch weiterhin unter Kontrolle zu halten. Schlimm genug, dass sie in frühere Verhaltensmuster zurückgefallen war, als er sein Kindermädchen erwähnt hatte. „Ist Ihnen eigentlich klar, dass ich noch nicht einmal Ihren Namen kenne?" fragte sie in nüchternem Ton. „Ja", bestätigte ihr Begleiter wenig hilfreich. Jäh blieb Kit stehen und entzog ihm ihre Hand. Das half ihr zwar, wieder ruhiger zu atmen, doch gleichzeitig vermisste sie den Druck seiner Finger. Sie bemühte sich, ihn ihre Unsicherheit nicht merken zu lassen. „Wollen Sie mir Ihren Namen nicht verraten?" Er schien zu zögern. Dann sagte er vorsichtig: „Ich bin Philip Hardesty." „Sollte mir das etwas sagen?" fragte sie argwöhnisch. „Nein." Kits Misstrauen war geweckt. „Sie sind berühmt, stimmt's? Erforschen Sie das Leben von Primaten?" Er sah sie erstaunt an. „Nein, wie kommen Sie darauf?" „Mein Schwager befasst sich damit. Er nimmt hier an einer Konferenz zur Rettung des Regenwaldes teil und hat mir erzählt, dass die übrigen Hotelgäste ebenfalls deshalb hier sind." „Damit hat er nicht Unrecht. Wir verfolgen alle ein gemeinsames Ziel, tagen aber in getrennten Gruppen, je nachdem, was der Einzelne beruflich macht." „Und welchen Beruf haben Sie?" Unwillkürlich musste Kit daran denken, wie er sie an jenem ersten Abend an der Lagune in die Arme gezogen und geküsst hatte und sie sich gewünscht... Schnell sagte sie: „Sie sind Naturforscher, nicht wahr?" „In gewisser Weise schon", antwortete er ausweichend. „Sie kennen jetzt meinen Namen, aber ich Ihren noch nicht." Seltsamerweise widerstrebte es Kit, ihm zu sagen, wie sie hieß. Irgendwie hatte sie das Gefühl, sich ihm zu sehr auszuliefern. Andererseits konnte er natürlich nicht ahnen, dass er seit zwei Jahren der erste Mann war, von dem sie sich hatte anfassen lassen und nach dessen Berührung sie sich sogar sehnte. Das alles jagte ihr große Angst ein. „Catherine Romaine", sagte sie kurz angebunden. „Catherine? Nennt man Sie so?" „Meine Familie nennt mich Kit." „Freut mich, Sie kennen zu lernen, Kit." Schweigend nickte sie. Sie waren nun vor der letzten Kurve angelangt, hinter der sich die grasbedeckte Plattform mit Blick auf den Wasserfall befand. Kit mochte diese Stelle besonders gern. Man hörte
bereits das Wasser rauschen, doch die Sicht darauf wurde durch einen Felsvorsprung versperrt. Dicht daneben wuchs ein wilder Mangobaum, um dessen Äste sich blattlose Blumen mit üppigen Blüten rankten, die einen schweren süßen Duft verströmten. Auch Philip Hardesty schien ihn zu riechen, denn er blieb stehen und sah sich unvermittelt um. „Wundervoll, nicht wahr?" meinte Kit und vergaß, dass sie sich ihm gegenüber ja zurückhaltend geben wollte. „Jedes Mal, wenn ich hierher komme, atme ich tief durch. Es gibt mir das Gefühl, meine Lungen zu reinigen." Er atmete hörbar aus. „Ich dachte, jemand sei hier", sagte er und klang zu ihrer Verwunderung leicht angespannt. Er atmete tief ein. „Was ist das für ein Duft? Wie das Parfüm einer Frau." Kit zeigte ihm die Blumen. Als er mit den Fingern sanft eine Blüte anhob, stellte Kit sich vor, wie es wäre, wenn er sie so berühren würde, und erbebte unwillkürlich. Erschrocken trat sie zurück. Es wäre ihr schrecklich peinlich gewesen, wenn er etwas bemerkt hätte. Philip Hardesty beugte sich über die Blüte. „Sie muss purpurrot sein. Vielleicht auch dunkelviolett. Habe ich Recht?" „Ja", sagte Kit überrascht. „Sangumay." Er schien sich zu freuen, dass er die Blume im Mondschein richtig klassifiziert hatte. „Es ist eine der am stärksten riechenden Orchideenarten. Kommt häufig vor, doch der Duft ist außergewöhnlich." Kit seufzte. „Warum müssen Sie immer alles mit einem bestimmten Stempel versehen?" „Was meinen Sie damit?" „Beim letzten Mal haben Sie mich bereits über Biolumineszenz aufgeklärt und mir erzählt, wie die blauen Vögel heißen. Wieso können Sie sich an etwas Schönem nicht einfach nur freuen?" „Das tue ich doch", protestierte er. „Nein, Sie wollen immer alles sortieren. Bestimmt sind Sie sehr ordentlich." „Allerdings", entgegnete er verärgert. „Was ist daran falsch?" „Statt zu kategorisieren und zu ordnen, sollten Sie besser den Augenblick genießen", sagte Kit heftig. „Sehen Sie sich um, und lassen Sie diese wunderbare Stimmung hier oben auf sich wirken." Über ihnen am nachtschwarzen Himmel leuchtete der Mond nun nicht mehr orangefarben, sondern zitronengelb, und die glitzernden Sterne der Milchstraße sahen aus wie der zu Kristall gewordene Atem eines riesigen Tieres. Meer und Himmel schienen am fernen Horizont als dunkle Masse miteinander zu verschmelzen. „Man hat das Gefühl, ganz klein zu sein", sagte Kit leise. „Und sicher." „Sicher?" Er sah sie erstaunt an. „Sie fühlen sich sicher, wenn Sie sich klein vorkommen?" „Fast unsichtbar zu sein ist doch nicht schlecht." „Ein interessanter Standpunkt." Kit winkte ab. „Nicht schon wieder!" „Was?" „ Kategorisieren." Er lachte leise. „Gut. Ich gelobe Besserung." Kit verspürte ein Gefühl des Triumphes, doch gleichzeitig hatte sie Angst vor der eigenen Courage. „Kommen Sie. Gleich hinter dem Felsvorsprung ist der Wasserfall zu sehen." Nachdem sie diese letzte Hürde passiert hatten, blieb Philip Hardesty unvermittelt stehen. Das Wasser stürzte über hohe Felsen auf die andere Seite eines tiefen Tals hinunter. Es schimmerte silbrig im Mondlicht, und die sprühende Gischt sah aus, als würden Tausende von Sternschnuppen durch die Luft fliegen. „Was für ein fantastischer Anblick!" Kit freute sich über die Reaktion ihres Begleiters, konnte aber der Versuchung nicht widerstehen, ihn ein wenig aufzuziehen. „Werden Sie mir jetzt vorrechnen, wie viele Tonnen Wasser pro Minute ins Tal fließen?"
„Nein", sagte Philip, und er schien es ernst zu meinen. „Kommen Sie, setzen wir uns auf die Aussichtsplattform. Die Luft ist dort feucht und prickelnd wie Champagner." Sicheren Schrittes ging Kit ihrem Begleiter voran und blieb dann wie vom Donner gerührt stehen. „O nein!" rief sie entsetzt. Bestimmt würde Philip Hardesty glauben ... Sie wagte nicht zu Ende zu denken. Ihr Begleiter trat neben sie. „Aha. Das ist also die Grotte." Seine Stimme klang aufreizend nichtssagend. Kit drehte sich zu ihm um und hob entschuldigend die Hände. „Mir war bisher nie aufgefallen... ich habe nicht gesehen... Es tut mir Leid." „Leid?" Zweifellos genoss er ihre Verlegenheit. Kit fand es keineswegs komisch. Ihr war das alles schrecklich peinlich. „Der war doch nicht da." Mit zittrigen Fingern deutete sie auf den kleinen Tempel, der nun auf einmal in dem dichten Gebüsch hinter der Aussichtsplattform aufgetaucht war. „Ich habe ihn noch nie zuvor gesehen ... ich meine, er muss da gewesen sein, aber ich habe ihn nicht bemerkt." Der Tempel war rund, hatte tragende Säulen und ein gewölbtes Dach. Dutzende kleiner Kerzen, deren Flammen im sanften Nachtwind flackerten, erhellten ihn. Ihr warmes Licht überzog alles mit einem goldenen Schimmer. Was Kit bisher für Baumstämme und Schlingpflanzen gehalten hatte, entpuppte sich nun im Schein der Kerzen als Säulen. Umgeben von üppiger Vegetation, war der Tempel bei Tag nur schwer auszumachen. Doch nun, da er hell erleuchtet war, konnte man nur allzu deutlich sehen, wofür er gedacht war. Diese verdammte Hochzeitsinsel mit ihren lauschigen Liebesnestern! fluchte Kit insgeheim und machte ihrem Herzen mit einem lauten „Mist!" Luft. Philip Hardesty schien das zu amüsieren. „Genießen Sie den Augenblick", zitierte er sie boshaft. Kit konnte seine Belustigung nicht teilen. „Mir ist das alles schrecklich unangenehm." „Es ist doch nichts passiert", versuchte er sie zu beruhigen. „Bisher sind Sie immer nur tagsüber hierher gekommen, haben sich auf einen der Steine gesetzt und den Wasserfall angesehen. Woher sollten Sie ahnen, dass im Gebüsch verborgen dieser kleine Tempel irdischer Freuden steht?" Kit spürte, wie sie rot wurde. Ein Glück, dass es dunkel war. Sie schwieg, und so fügte er hinzu: „Ich habe nie angenommen, dass Sie mich hierher geführt haben, um mich zu verführen." Dass er es an der Strandbar tatsächlich einen Moment lang für möglich gehalten hatte, behielt Philip für sich. „Da dies nun geklärt ist, schlage ich vor, wir werfen einen Blick in den Tempel." Man musste ihn nicht betreten, um zu sehen, dass dort ein kleines Bankett aufgebaut worden war. Vor einer mit goldfarbenen Kissen bedeckten Rattancouch befanden sich auf einem niedrigen Tisch mehrere zugedeckte silberne Schüsseln, eine große Schale mit exotischen Früchten, Teller und Besteck, funkelnde Kristallgläser sowie mehrere Flaschen mit Wein, Mineralwasser und Fruchtsäften. Kit schluckte. „Oh, unser Picknick", sagte Philip, der sein Erstaunen besser zu verbergen vermochte. „Picknick!" „Sie waren es doch, die lieber hier oben essen wollte", erinnerte er sie mit unverhohlener Belustigung. „Doch nicht so ... so ..." Ihr fiel kein passender Ausdruck ein. „Übertrieben extravagant?" ergänzte Philip hilfsbereit. „In so kitschiger Umgebung", sagte Kit kühl. „Sie finden es kitschig?" „Und unecht. Alles nur, um ... um ..." „Die Leute in Stimmung zu bringen?" „Würden Sie gefälligst aufhören, meine Sätze für mich zu beenden", sagte sie genervt.
„Das ist absolut lächerlich." „Mir gefällt es hier." Philip betrat den kleinen Tempel und hob von einer der silbernen Schüsseln den Deckel hoch. „Mm, riecht lecker." „Für Sie scheint das alles recht komisch zu sein." Am liebsten hätte Kit etwas nach ihm geworfen. „Entspannen Sie sich. Sie wollen mich nicht verführen und ich Sie auch nicht." Philip war bewusst, dass Letzteres nicht stimmte. „Niemand kann uns dazu bringen, etwas zu tun, was wir beide nicht wollen." Sie sah ihn mit blitzenden Augen an. Im flackernden Kerzenschein konnte er Ihre Augenfarbe nicht erkennen, doch er bemerkte, dass sie sich quälte. Wie sensibel sie war! Zu sensibel. Er bezwang seine Heiterkeit. „Setzen wir uns, und lassen wir es uns schmecken", sagte er sanft. „Betrachten Sie es einfach nur als exotisches Dinner. Es ist jedenfalls interessanter als am Strandgrill. Danach machen wir uns wieder auf den Heimweg, und ich werde noch einige Stunden arbeiten." Aufmunternd lächelte er sie an. „Nun kommen Sie schon." Zögernd betrat sie den Tempel und setzte sich steif auf die äußerste Kante der Couch, als hätte sie Angst vor ihm. Sie saß da wie ein scheues, wildes Tier, bereit, sofort aufzuspringen, sobald er ihr zu nahe kam. „Entspannen Sie sich." Seine Stimme klang leicht gereizt. „Wie denn?" fragte Kit ärgerlich und blickte sich misstrauisch um. „Jeden Moment kann einer dieser ewig lächelnden Kellner auftauchen. Irgendjemand muss das alles ja hierher geschafft haben. Und da uns niemand begegnet ist, nehme ich an, dass hier oben Personal stationiert ist." Philip hob den Kopf. „Sie haben Recht. Wie konnte mir das nur entgehen?" „Sie meinen, es ist tatsächlich jemand in der Nähe?" fragte Kit, der sein jäher Stimmungsumschwung nicht entgangen war. Sie versuchte, ihr Unbehagen mit Humor zu überspielen. „Wer immer Sie sind", rief sie mit erhobener Stimme, „kommen Sie aus Ihrem Versteck!" Doch statt zu lächeln, schüttelte Philip den Kopf. „Still." Es klang, als wäre er gewohnt, Befehle zu erteilen, und plötzlich kam er ihr sehr fremd vor. Wieso wunderte sie das? Sie kannte den Mann ja kaum. Trotzdem war er ihr bisher seltsam vertraut gewesen. Nicht, dass sie sich in seiner Gegenwart völlig entspannt gefühlt hätte. Dazu war seine sexuelle Anziehungskraft auf sie zu stark. Aber es hatte eine natürliche Harmonie zwischen ihnen geherrscht, als würde ihr Körper seinen erkennen. Als sie nun zu Philip blickte, wurde ihr schnell klar, dass sie sich einer Illusion hingegeben hatte. „Was ist?" fragte sie leise. „Niemand ist uns unterwegs begegnet. Es muss noch einen anderen Weg nach hier oben geben." Er eilte hinaus, verließ den beleuchteten Weg, holte eine kleine Taschenlampe aus der Hosentasche und begann, das dichte Gebüsch rund um die Aussichtsplattform zu durchsuchen. Notgedrungen folgte Kit ihm. Es dauerte nicht lange, bis sie eine Art Flaschenzug mit einer aus Holz roh zusammengezimmerten, käfigartigen Gondel entdeckten. Der Aufzug war an einer Steilwand des Kliffs angebracht. „Ich denke, dass der Ausgangspunkt nur wenige Meter von der Hotelküche entfernt ist", meinte Kit. „Das glaube ich auch", sagte Philip und nahm die primitive Anlage genauer in Augenschein. Mit gerunzelter Stirn sah Kit ihm zu. „Was ist denn los?" „Bei dem Lärm, den der Wasserfall verursacht, wäre es für jemanden leicht, im Aufzug nach oben zu kommen, ohne dass wir es bemerken." „Sie meinen, um uns heimlich zu beobachten?" Kit hatte beim Anblick des Aufzugs sofort an die von Lisa erwähnten dienstbaren Geister gedacht, die heimlich Rosenblüten streuten. „Warum sollte jemand das tun?" „Jedenfalls werde ich dafür sorgen, dass es nicht passiert."
Wie es schien, hatte Philip Hardesty nichts übrig für Rosenblüten streuendes Hotelpersonal. Und ihm war auch nicht nach einer kleinen Romanze zu Mute. Umso besser, dachte Kit. Oder etwa nicht? Er begann, die Gondel nach oben zu kurbeln. Trotz seines betagten Aussehens, lief der Aufzug erstaunlich geräuschlos. Philip beugte sich vor und untersuchte die Zahnräder. „Dachte ich es mir doch. Sie sind frisch geölt worden." Kit lächelte leicht gequält. „Wow. Man scheut hier wirklich keine Anstrengung, um Fantasien wahr werden zu lassen." „Fantasien?" Er runzelte die Stirn. „Ach so, Fantasien, ja sicher." Offenbar war ihm nicht einmal der Gedanke an Rosenblüten gekommen! Trotz der warmen Nacht begann Kit zu frösteln. Er ließ den Aufzug wieder abwärts fahren, stoppte ihn und sah hinunter. Die Gondel, befand sich ungefähr auf Viertelhöhe der Steilwand. „So, das musste reichen." Kit achtete darauf, ihm nicht zu nahe zu kommen. „Wofür?" „Um uns rechtzeitig zu warnen." Er holte ein Schweizer Messer hervor und zog eine scharfe Klinge heraus. Dann sah er sich nach dürren Ästen um. Als er ein ansehnliches Bündel beisammen hatte, stopfte er es in die Winde. „Das wird nicht lange halten", meinte Kit mit ihrem Sinn fürs Praktische. „Muss es auch nicht. Es soll uns nur warnen, wenn die Gondel nach unten gezogen wird." „Uns warnen?" fragte Kit beunruhigt. Erst jetzt schien er sich seines reichlich sonderbaren Verhaltens bewusst zu werden. Er zuckte die Schultern. „Ich mag es nicht, überrascht zu werden", sagte er betont locker. Zum ersten Mal, seit sie ihn kannte, hatte sie das Gefühl, dass er nicht ganz ehrlich war. Sie musste ihn skeptisch angesehen haben, denn er runzelte die Stirn. „Ich halte mir immer gern den Rücken frei", erklärte er schroff, klappte sein Schweizer Messer zu und steckte es ein. Kit schluckte. „Das klingt ja, als wären wir umstellt." Er gab keine Antwort, sondern überprüfte, ob sein Trick funktionierte. Als die Gondel sich in Bewegung setzte, brachen einige Zweige mit lautem Krachen. Kit zuckte vor Schreck zusammen. „Jetzt kann sich keiner mehr ungehört anschleichen", stellte Philip zufrieden fest. „Sehen Sie mich nicht so besorgt an. Wahrscheinlich ist es eine völlig unnötige Vorsichtsmaßnahme. Vergessen Sie das Ganze." „Ach ja? So wie Sie es vergessen?" fragte Kit spöttisch. „Sollen wir ruhig hier sitzen und warten, bis es kracht?" „Nein." Er lächelte, und plötzlich war er wieder der Mann, den sie kannte. Oder vielmehr der Mann, zu dem sie sich körperlich so sehr hingezogen fühlte. „Sie werden mir Ihre Lebensgeschichte erzählen, und ich werde darüber alles andere vergessen." Mit einer galanten Handbewegung wies er auf den wie eine Flugzeuglandebahn beleuchteten Weg zum Tempel. „Bitte sehr, Madam." Nun musste auch Kit lächeln. Doch dann bemerkte sie aus den Augenwinkeln, wie Philip, der ihr folgte, ein kleines Handy aus der Tasche zog und es einschaltete. Wie überaus romantisch, dachte sie und ärgerte sich, weil sie enttäuscht war. Offenbar hatte sie in diesem tropischen Paradies für Liebespaare den Sinn für die Realität verloren. Ich habe alles verdorben, dachte Philip und war wütend über sich und die ganze Situation. Da hatte er sich einmal von seinen Gefühlen leiten lassen, hatte wenigstens für einige Stunden ein ganz normaler Mann sein wollen und dadurch Kit Romaine in potenzielle Gefahr gebracht. Er konnte nur hoffen, dass sie sich dessen nicht bewusst wurde und er sie sicher zurückbringen konnte. Einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, sofort den Rückweg anzutreten, überlegte es sich dann aber anders. Der Pfad war zu schmal. Falls Rafeks Männer tatsächlich beabsichtigten, ihn zu kidnappen, würden er und Kit ihnen direkt in die Arme laufen. Und wenn er mit Kit im Aufzug nach unten fuhr, wusste er nicht, was sie unten erwartete.
Nein, es war besser, hier oben auf den Feind zu warten - falls es überhaupt einen gab. Einen direkten Beweis dafür hatte er ja nicht. Wie auch immer, er durfte Kit nicht noch mehr beunruhigen, als er es durch seine Vorsichtsmaßnahmen bereits getan hatte. Ihm war nicht entgangen, wie sie vorhin erschrocken zusammengezuckt war. Eine durchaus verständliche Reaktion. Falls sich seine Befürchtungen als grundlos herausstellten, wollte er dafür sorgen, dass es für Kit ein unvergesslicher Abend wurde. Sollten sich seine Befürchtungen jedoch bestätigen - nun, dann war es besonders wichtig, dass sie nicht schon jetzt die Nerven verlor. Er würde all seinen Charme einsetzen, um sie abzulenken. Als Kit nun sagte: „Ihr kleiner Trick zeugt von Professionalität" , schenkte er ihr sein strahlendstes Lächeln und schüttelte den Kopf. „Nicht professionell, sondern erfinderisch." Sie setzte sich auf die Rattancouch. „Wo liegt da der Unterschied?" „Profis sind auf alles vorbereitet. Wer erfinderisch ist, behilft sich mit dem, was er zur Hand hat." Sie entspannte sich etwas und lächelte. „Sehr schlau." „Ich hatte einen Experten als Lehrmeister", erklärte er, und da sie das erneut zu beunruhigen schien, fügte er schnell hinzu: „Bevor mein Vater in den diplomatischen Dienst eintrat, war er bei der Armee. Er kommandierte eine Einheit, die auf so genannte schmutzige Tricks spezialisiert war. Dadurch bekam ich das eine oder andere mit." „Es scheint Ihnen Spaß gemacht zu haben." „So etwas begeistert jeden kleinen Jungen. Außerdem finde ich gern für jedes Problem eine Lösung." Und sein größtes Problem momentan war, Kit heil zum Hotel zurückzubringen, ohne sie zu Tode zu erschrecken. Er ließ den Blick über den üppig gedeckten Tisch schweifen. Die ganze Szenerie war wie geschaffen für eine romantische Verführung bei Kerzenlicht. Keine Chance, dachte Philip selbstironisch. Er griff nach einer dunkelgrünen, bauchigen Flasche. „Etwas Wein?" Kit schüttelte den Kopf. „Für mich bitte Mineralwasser. Ich bin durstig. Und wer weiß, ob man nicht auch in den Wein pulverisierte Orchideenblüten getan hat." „Wieso pulverisierte Orchideenblüten?" fragte Philip, während er ihr Wasser einschenkte. „Es soll ein Aphrodisiakum sein", erklärte sie, ohne zu überlegen, und errötete tief, als Philip die Brauen hochzog. „Das ... hat ... Lisa mir erzählt." „Nun, ein Aphrodisiakum brauchen wir ganz sicher nicht", meinte er trocken, las das Etikett auf der Flasche und stellte sie dann wieder zurück auf den Tisch. „Ich glaube, ich lass es lieber auch bleiben." Er schenkte sich etwas Guavesaft ein und verdünnte ihn mit Mineralwasser. Dann warf er einige Kissen auf den Boden und ließ sich darauf nieder. Einen Arm um die angewinkelten Knie gelegt, blickte er zu Kit auf. „So, und nun erzählen Sie mir von sich. Was hat Sie in diesen Teil der Welt verschlagen?" Sie tat, als müsste sie ernsthaft überlegen. „Ich nehme an, ich mache hier Urlaub." „Sie nehmen es an?" „Es war nicht geplant. Meine Schwester ist mit ihrem Mann hierher gereist. Als sich herausstellte, dass seine Arbeit ihn sehr in Anspruch nahm, hat sie mich angerufen und gebeten, hierher zu kommen." „Dann sind Sie also als ihre Gesellschafterin hier?" meinte Philip. Kit lachte laut auf. „Das würden Sie nicht sagen, wenn Sie meine Schwester Lisa kennen würden. Sie ist die selbstständigste Frau, die ich kenne." „Trotzdem wollte sie offenbar Gesellschaft haben?" Unvermittelt wurde Kit wieder ernst. „Ihr ging es nicht gut." Sie sah plötzlich besorgt aus, und er hätte sie gern in die Arme genommen und getröstet. „Dann sind Sie also mehr als Florence Nightingale hier?" fragte er scherzhaft. „Oder etwa gar als Johanna von Orleans?" Kit blickte ihn erschrocken an. „Du lieber Himmel, nein! Ich bin keine Kämpferin. Das ist
in unserer Familie Lisa." Ein liebevolles Lächeln umspielte ihre Lippen. „Sie kann Ungerechtigkeit nicht ertragen." Und nun begann Kit, von ihrer Schwester zu erzählen, dann von ihrer allein stehenden Mutter, die wenig Geld, aber hohe Ideale hatte, und schließlich, noch etwas zögernd, redete Kit auch über sich. Philip spürte, dass dies ein großer Vertrauensbeweis war, und hörte ruhig zu. Es war neu für Kit, dass jemand ihr so aufmerksam, und ohne ihr ins Wort zu fallen, zuhörte. Ganz allmählich kam sie auch auf ihre Probleme zu sprechen und war angenehm überrascht. Er unterbrach sie nicht, schien keineswegs schockiert zu sein und bemitleidete sie nicht, wofür sie ihm besonders dankbar war. „Wissen Sie, Lisa ist ja nicht nur in jeder Hinsicht brillant, sondern auch ungemein mutig, während ich ein absoluter Feigling bin. Vor jeder Prüfung habe ich eine Heidenangst. Es war für mich fast wie ein Wunder, dass ich den Sprung aufs College geschafft hatte. Das hat mir damals großen Auftrieb gegeben, und zum ersten Mal fühlte ich mich nicht als blasse Kopie meiner Schwester. Ich war ich, und es störte mich nicht, dass ich niemals so genial wie Lisa sein würde. Ich machte Zukunftspläne, wollte Bibliothekarin in einer Kinderbücherei werden, weil ich Bücher liebe und mit Kindern gut zurechtkam. Doch dann ..." Kit verstummte. Wenn er sie gedrängt hätte weiterzusprechen, hätte sie keinen Ton mehr gesagt. Diese Erfahrung hatte sie im Gespräch mit Freunden gemacht, mit wohlmeinenden Therapeuten, mit ihrer ängstlichen Mutter und selbst mit Lisa, die immer so sicher war, dass sie alles in Ordnung bringen konnte. Aber Philip schwieg. Er stellte keine Fragen, saß nur ruhig da und wartete, dass sie fortfuhr. Kit schluckte. „Es gab da einen Studienkollegen, für den alle Mädchen schwärmten. Er ging einige Male mit mir aus, doch dann ... nun, er hatte bereits eine Freundin. Sie studierte an einem anderen College. Als ich es erfuhr, war ich ihm schon längst verfallen." Auch jetzt schwieg Philip, obwohl es einige Zeit dauerte, bis Kit den Mut aufbrachte, ihm auch noch den Rest zu erzählen. „Es war schrecklich!" gestand sie. „Ich benahm mich wie ein junger Hund, der seinem Herrchen auf Schritt und Tritt folgte. Irgendwie konnte ich mich nicht bremsen. Oh, er war sehr nett zu mir, bis ..." Sie schluckte. Nein, alles konnte sie Philip nicht erzählen. „Nun ja, irgendwann hatte er genug von mir und sagte, ich würde ihm auf die Nerven fallen. Es war ... sehr ... demütigend." Kit hatte das noch niemandem erzählt. Philip schien weder abgestoßen zu sein, noch bemitleidete er sie. Er nickte. „Sich in jemanden zu verlieben, der diese Gefühle nicht erwidert, das muss wohl jeder mal durchmachen." Ungläubig sah Kit ihn an. „Heißt das, es ist Ihnen auch schon passiert?" Er zuckte gleichmütig die Schultern. „Wem nicht?" „Keinem von den Leuten, die ich kenne", widersprach sie. „Dann waren sie Ihnen gegenüber nicht ehrlich", sagte er trocken. „Aber..." Anscheinend war er der Meinung, dass sie genug geredet hatte, denn er stand auf. „Hungrig?" fragte er. „Der Curry sieht sehr verlockend aus." Kit wusste nicht, ob sie gekränkt sein oder lachen sollte. „Sie behaupten also, die große Tragödie meines Lebens sei etwas ganz Alltägliches?" Er nahm einen Teller und tat Reis darauf. „Mögen Sie scharf gewürztes Essen?" „Sicher", sagte Kit, obwohl sie es hasste. „Haben Sie gehört, was ich gesagt habe?" Er sah sie an und lächelte. Es war ein Lächeln, dem man nur schwer widerstehen konnte. „Ja, ich behaupte, die große Tragödie Ihres Lebens ist etwas ganz Alltägliches", bestätigte er gehorsam. „Tut mir Leid." Kit entschied, dass es besser war, darüber zu lachen. Es war ein herrliches Gefühl! „Wie sind Sie zu dieser Erkenntnis gelangt?" „Dass es normal ist, sich unglücklich zu verlieben, wusste ich schon sehr früh." Er lächelte
jungenhaft. „Als mein Vater mich bezüglich des weiblichen Geschlechts aufzuklären versuchte, hat er melancholisch aus dem Fenster gesehen und gesagt, ich müsse mich nun daran gewöhnen, oft abgewiesen zu werden." Kit brach in schallendes Gelächter aus. „Und? Wurden Sie abgewiesen?" „Oft genug." Er reichte ihr den vollen Teller, machte einen für sich zurecht und setzte sich dann wieder auf den Boden. Geistesabwesend aß Kit eine Gabel voll Reis und Curry, ohne den Geschmack wahrzunehmen. „Haben Sie sich verletzt gefühlt?" „Natürlich, aber das gehört zum Erwachsenwerden." Er sah sie an. „Darf ich fragen, wie alt Sie sind?" „Zweiundzwanzig", antwortete sie zögernd, da sie sich im Vergleich mit ihm plötzlich sehr naiv vorkam. „Merkt man das?" „Ich hätte auf ein Alter zwischen siebzehn und dreißig getippt, aber ich kann nicht gut schätzen." Kit hatte nur ein Wort gehört. „Siebzehn!" wiederholte sie empört. Er hatte sie für einen unreifen Teenager gehalten. „Wassernymphen sind immer siebzehn." Verblüfft sah sie ihn an. „Ich verstehe nicht ganz." Ihre Blicke begegneten sich. „Und wundervoll", ergänzte Philip. „Erinnern Sie sich an unsere erste Begegnung an der Lagune? Nun, ich muss gestehen, dass ich extra Ihretwegen dorthin gegangen war." Kit konnte nicht glauben, was er da sagte. Machte er sich über sie lustig? „An jenem Abend habe ich in einer Konferenz gesessen, die sich ewig hinzog", erklärte er mit einem entschuldigenden Lächeln. „Während immer wieder dieselben Dinge erörtert wurden, habe ich durch eine der offenen Türen beobachtet, wie Sie in der Lagune schwammen und herumtollten. Sie bewegten sich natürlich wie ein Fisch im Wasser und wirkten wie ein Fabelwesen, wie eine Nymphe. Sobald die Konferenz beendet war, ging ich zur Lagune hinunter." Er lachte ein wenig verlegen. „Es klingt idiotisch, aber irgendwie wollte ich mich überzeugen, dass ich keiner Sinnestäuschung erlegen war." Kit hatte ihm gebannt zugehört. „Haben Sie mich deshalb geküsst?" „Mag sein." Er veränderte seine Sitzhaltung und wirkte auf einmal gar nicht mehr entspannt. Kit stellte ihren Teller ab. „Philip ..." Sie hatte ihn zum ersten Mal bei seinem Namen genannt. „Ja?" „Küss mich noch einmal", sagte Kit, die sonst vor jeder Berührung eines Mannes zurückschreckteOhne den Blick von ihr zu lösen, stand er vom Boden auf und stieß die Kissen ungeduldig mit dem Fuß beiseite. Auch Kit stand auf. Für den Bruchteil einer Sekunde überfielen sie wieder die alten Ängste, doch da hatte er sie schon an sich gezogen. Seine Arme fühlten sich nicht an wie Klammern aus Stahl. Sie waren stark, aber aus Fleisch und Blut und - sie zitterten ein wenig. Und das gab Kit Mut. Sie murmelte Philips Namen und zog seinen Kopf zu sich herunter.
5. KAPITEL Es wurde ein langer, forschender Kuss. Philips Lippen waren warm und fest und so verwirrend zärtlich, dass es Kit ganz schwindlig wurde. Er hielt sie fest in seinen Armen, doch fühlte sie sich in ihnen nicht gefangen, sondern geborgen. Trotzdem wartete sie auf den Erstickungsanfall, der unausweichlich folgte, sobald ein Mann ihr zu nahe kam. Erst allmählich begann sie zu realisieren, dass es nicht mehr dazu kommen würde. Eine riesige Last schien ihr von den Schultern zu fallen, und sie spürte, wie ihr Körper weich und nachgiebig wurde. Auch Philip hatte die Veränderung bemerkt. Es war, als wäre sie unter seinen Händen zum Leben erwacht. Sofort reagierte sein Körper darauf. Doch dann gewann sein Verstand wieder die Oberhand. Philip hob den Kopf. „Wir sollten das nicht tun." Sie blickte ihn leicht benommen an. „Nicht?" fragte sie unsicher, zog sich jedoch nicht von ihm zurück. Ihre Augen glänzten, ihre Lippen waren halb geöffnet. Philip konnte den Blick nicht von ihr wenden. Sie sah so unglaublich süß und begehrenswert aus, dass er all seine Willenskraft aufbieten musste, um vernünftig zu bleiben. „Nicht hier", sagte er rau. Zart berührte sie mit dem Finger seine angespannten Wangenmuskeln. Sie tat es mit einer scheuen Geste, als hätte sie so etwas vorher noch nie getan und wäre sich nicht sicher, ob er es zulassen würde. Doch es schien auch so etwas wie ein Vertrauensbeweis zu sein, und beinahe wäre Philip schwach geworden. Er legte seine Hand über ihre. Sein Griff war stärker als von ihm beabsichtigt, und er hörte sie vor Schmerz leise aufschreien. „Tut mir Leid", entschuldigte er sich reumütig. „Ich wollte dir nicht wehtun, aber..." „Ich weiß. Nicht hier." Zu seiner Verwunderung schwang in ihrer Stimme ein zärtliches Lachen mit. „Mein Bungalow liegt sehr abgeschieden, wie geschaffen für Liebende ..." Philip verstärkte den Druck seiner Finger. Diesmal blieb Kit still. Sie konnte nicht glauben, was sie da soeben gesagt hatte. Seltsamerweise war es ihr jedoch nicht peinlich. Solange Philip sie so verlangend ansah, war sie bereit, jedes Risiko einzugehen. „Es wäre nicht fair." Er klang, als würde er mit sich kämpfen, und noch immer verrieten seine dunklen Augen heftiges Verlangen. Ohne den Blick von ihm zu wenden, führte Kit seine Hand zu ihrer Brust. Durch das dünne T-Shirt konnte er ihre kleine, feste Brust mit der sich abzeichnenden Knospe fühlen. Welche Wirkung das auf ihn hatte, verriet sein Blick. Ein wunderbares Gefühl des Triumphes erfüllte sie. Sie legte den Kopf in den Nacken und warf ihr langes blondes Haar zurück, das im Schein der vielen Kerzen golden schimmerte. Sein begehrlicher Blick verriet, dass er versucht war, ihr Angebot anzunehmen. „Genieße den Augenblick", flüsterte sie. Er lächelte sie an, und ein erregender Schauer überlief sie. „Ist das eine Herausforderung?" fragte er leise. „Das musst du wissen. Ich habe noch nie einen Mann im Mondschein verführt." „Du machst es sehr gut." Sein Atem hatte sich beschleunigt. „Findest du?" Sie wusste selbst nicht, woher sie den Mut nahm, so mit ihm zu flirten. „Niemand würde dich für eine Anfängerin halten." „Trotzdem scheinst du von mir nicht gerade überwältigt zu sein." Er küsste sie zärtlich auf die Lider. „Es fällt mir nicht leicht, dir zu widerstehen", sagte er und seufzte. „Aber ..." In diesem Augenblick war das Splittern von Holz zu hören. Kit erschrak und drängte sich näher an ihn. „Offenbar war deine Vorsichtsmaßnahme berechtigt", versuchte sie zu scherzen. Doch Philip war nicht entgangen, dass ihre Stimme leicht zitterte. „Kein Grund zur
Panik", versicherte er. „Entweder bringt man uns das Dessert, oder mein netter Freiheitskämpfer von der Nachbarinsel besucht mich. Wer es auch ist, ich werde mit ihm fertig." „Dein was?" „Freiheitskämpfer", sagte Philip zerstreut. Er löste sich von ihr und verließ lautlos den Tempel. Kit schlich ihm auf Zehenspitzen hinterher. „Was soll das heißen?" fragte sie hitzig. Wütend zu sein war immer noch besser, als vor Angst zu schlottern. Philip bedeutete ihr mit der Hand, still zu sein. Er ging geräuschlos zur Steilwand und spähte vorsichtig hinunter. Kit folgte ihm. Die Gondel war noch auf dem Weg nach unten. Dort warteten zwei Männer. Einer von ihnen trug ein Messingtablett mit einer arabischen Kaffeekanne. Nur jemand vom Hotelpersonal, dachte Kit erleichtert. Doch Philip schien anderer Meinung zu sein. Er nickte, als hätte er nichts anderes erwartet. „Kannst du auf Bäume klettern?" fragte er leise über die Schulter. Sie fragte nicht, weshalb er das wissen wolle. „Ja." „Gut." Er drehte sich zu ihr um. „Ich möchte, dass du dich auf einen Baum setzt und erst wieder herunterkommst, wenn ich es dir sage." „Aber..." „Nur eine Vorsichtsmaßnahme", sagte er mit geradezu aufreizender Gelassenheit. „Wahrscheinlich ist es völlig unnötig, aber tu mir bitte den Gefallen. Es würde mich beruhigen." Kit schluckte. „Und was ist mit dir?" Ihre Frage schien ihn zu überraschen. „Ich werde damit fertig. Mit so etwas kann ich umgehen." Verständnislos sah Kit ihn an. Offenbar meinte er, was er sagte. Jedenfalls wirkte er kein bisschen aufgeregt. Ja, er schien die Situation sogar zu genießen. „Komm jetzt. Dieser große Banyanbaum da drüben ist genau richtig. Hinauf mit dir." Er fasste sie fest um die Taille. War das der Mann, dessen Blick sie noch Minuten zuvor hatte dahinschmelzen lassen, den ihre Berührungen hatten erschauern lassen? Benommen schüttelte Kit den Kopf. Sie spürte die Kraft, die von Philips Armen ausging, als er sie nun so lange hochhob, bis sie einen Ast zu fassen bekam. Gewandt kletterte sie nach oben und setzte sich auf einen dicken Ast. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis der Aufzug nach oben kam. Zwei Männer entstiegen der Gondel, von denen einer wie ein Kellner aussah. Der andere trug eine weite Hose und ein T-Shirt, beides in einer dunklen Tarnfarbe. Er sah ziemlich gefährlich aus. „Guten Abend, Rafek", begrüßte Philip den Mann ruhig. Dieser sah ihn mit leicht zusammengekniffenen Augen an. „Guten Abend, Engländer." Die beiden kennen sich offensichtlich, dachte Kit. „Was wollen Sie, Rafek?" Der andere lachte. „Ich habe versprochen, dass ich an Ihren Verhandlungen teilnehmen werde." Er breitete theatralisch die Arme aus. „Hier bin ich." „Und immer willkommen", sagte Philip höflich. „Aber die Verhandlungen finden im Konferenzsaal statt. Ab morgen früh acht Uhr." Welche Verhandlungen? fragte sich Kit auf ihrem Baum. Rafek stemmte die Hände in die Hüften. „Vielleicht würde ich lieber jetzt mit Ihnen allein reden." Philip musterte ihn gelassen. „Und wieso? Ich finde den Zeitpunkt nicht gerade günstig. „Sind Sie etwa nicht allein?" fragte Rafek höhnisch. Der Kellner mit dem Tablett, dessen Miene immer besorgter wurde, sagte in der Landessprache etwas zu Rafek. „Als ich bemerkt habe, dass Sie auf dem Weg nach oben waren, habe ich mich der Frau entledigt", erklärte Philip kühl.
Entledigt! Kit zuckte zusammen. Sie war also nur eine x-beliebige Frau für ihn. Unbedeutend und entbehrlich. Und diesem Mann hatte sie ihr Herz ausgeschüttet! Rafek grinste süffisant. „Was haben Sie mit ihr gemacht?" Philip überging die Frage mit einem Schulterzucken. „Sind Sie allein hier, Rafek?" „Meinen Sie, meine Männer kommen den Weg herauf und entführen Sie?" spottete Rafek. Philip blieb ungerührt. „Tun sie das?" fragte er gelangweilt. Rafek brach in brüllendes Gelächter aus. „Ich mag Sie, Engländer. Nein, diesmal bin ich allein. Ich wollte Ihnen nur sagen, dass ich an den Verhandlungen teilnehmen werde. Mehr nicht." „Warum habe ich dann drei Ihrer Männer im Rücken?" erkundigte sich Philip sachlich. „Sie verstecken sich hinter der großen Liane." Diesmal fiel Rafeks Lachen nicht ganz so laut aus. „Sehen Ihre Augen auch, was hinter Ihrem Rücken geschieht, Engländer?" „Nein, aber ich habe gute Ohren." Der Kellner fühlte sich nun sichtlich unwohl. Rafek beruhigte ihn mit einem Wort und befahl dann seinen Männer, aus dem Schatten zu treten. Kit spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach. Doch Philip zeigte auch jetzt nicht das geringste Anzeichen von Furcht. „Guten Abend", sagte er in höflichem Plauderton und wandte sich wieder an Rafek. „Werden diese Gentlemen ebenfalls an den Verhandlungen teilnehmen?" Der Anführer schnaufte verächtlich. „Nein, nur ich. Sie tun lediglich, was ich sage." Ein kalter Schauder lief Kit über den Rücken. Sie wäre gern in Philips Nähe gewesen. Nicht nur, weil sie sich bei ihm sicherer fühlte, sondern auch, weil er so einsam aussah, wie er da unten stand, umgeben von finsteren Gestalten. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass ihn eigentlich immer eine Aura von Einsamkeit umgab. Aber einsam oder nicht, er beherrschte die Situation meisterlich. „Vielleicht könnten Sie Ihre Männer bitten, uns wieder zu verlassen und unten auf Sie zu warten", schlug er freundlich vor. Es folgte eine spannungsgeladene Pause, und Kit hielt den Atem an. Zweifellos war Philip es gewöhnt, zu befehlen. Er klang ruhig und höflich, strahlte jedoch eine natürliche Autorität aus, der sich offenbar auch Rafek nicht zu widersetzen vermochte. Er tat entrüstet, gab aber letztendlich doch nach. Er wandte sich zu den drei Männern um und deutete mit einer Handbewegung auf den Weg. „Nein", sagte Philip. „Mir wäre es lieber, wenn sie sich auf die gleiche Weise zurückziehen würden, wie sie gekommen sind." „Sie trauen mir wohl nicht?" fragte Rafek mit grimmiger Miene. Die beiden Männer blickten sich an. Der eine war sichtlich zornig und vermutlich bewaffnet, der andere ruhig und beherrscht. Trotzdem war Kit nicht überrascht, dass auch diesmal wieder Rafek einlenkte. „Na gut." Verärgert wies er mit dem Kopf zum Aufzug. Die drei Männer bestiegen die Gondel, und der Kellner ließ den Aufzug nach unten fahren. Philip drehte leicht den Kopf, ohne allerdings Rafek aus den Augen zu lassen. „Du kannst jetzt herunterkommen", sagte er. Er meint mich, dachte Kit schockiert. Wie gleichgültig er geklungen hatte! Wenigstens beim Namen hätte er sie nennen können. Sie rutschte den Baumstamm hinunter und schürfte sich dabei die Handflächen auf. Es war ihr egal. Als sie ins Licht trat, schloss sie geblendet die Augen und stand dann blinzelnd da. Sie wünschte sich, Philip würde schützend den Arm um sie legen. Aber er drehte ihr den Rücken zu. Sie konnte sein Verhalten nicht begreifen. Nachdem ihre Augen sich wieder an das Licht gewöhnt hatten, bemerkte sie, dass er sein kleines Mobiltelefon in der Hand hielt und eine Nummer wählte. „Hardesty hier", meldete er sich. Abgesehen von seinem Namen, den sie mit Sicherheit nie mehr vergessen würde, war er
nicht mehr der Philip, den sie kannte. Seine warme Baritonstimme klang nun kühl und nüchtern, und er selbst schien für sie so unerreichbar geworden zu sein wie die Sterne über ihr. „Nein", sagte er ins Telefon, „kein Problem. General Rafek und ich sind nun endlich zusammengekommen. Können Sie sich mit uns treffen? Es gibt einen Aufzug zur Aussichtsplattform am großen Wasserfall. In ihm fahren bereits drei seiner Männer nach unten. Wir anderen kommen in wenigen Minuten nach." Man konnte nicht hören, was der Angerufene sagte, aber Philip lächelte. „Nein, das war ebenfalls kein Problem." Er spricht von mir, dachte Kit entsetzt. Sie bedeutete für ihn nichts weiter, als „kein Problem" zu sein. Dabei war es noch keine Viertelstunde her, dass sie ihn in ihren Bungalow eingeladen hatte. Wie hatte sie sich nur eine solche Blöße geben können? Er sah auf, und ihre Blicke begegneten sich. Seine Miene war völlig ausdruckslos. Man hätte glauben können, er habe sie, Kit, noch nie gesehen. Sie empfand sein Verhalten als totalen Verrat, viel schlimmer als alles, was Johnny ihr angetan hatte. Wie naiv sie gewesen war, ihm so viel über sich zu erzählen! Gab es überhaupt noch etwas, was er nicht von ihr wusste? Sie hatte gewollt, dass er sie besser kennen lernen sollte, und nun ... nun sah er sie an, als wäre ihm niemand gleichgültiger als sie. Und sie naive Närrin hatte ihn für einsam gehalten! Er beendete sein Telefonat und schob das Handy in die Hosentasche. „Die Gondel ist zurück. Gehen wir." Während der Fahrt nach unten unterhielt er sich leise mit Rafek. Kit stand dicht neben dem Kellner und so weit wie nur möglich von Philip entfernt. Sie blickte starr auf einen Punkt, um nur ja nicht zu weinen. Als sie unten angekommen waren, stieg sie als Erste aus. Sie wollte nur noch fort von hier. Doch Philip unterbrach seine Unterhaltung mit Rafek und vertrat Kit den Weg. „Ich werde jemanden beauftragen, dich zu deiner Schwester zu bringen." „Vielen Dank, Mr. Hardesty", entgegnete sie kühl, „ich gehe lieber allein." Sie bemerkte in seinem Blick eine Spur von Unsicherheit. „Aber..." „Es reicht, dass ich mich zu Tode erschrocken habe", unterbrach sie ihn schroff, und es kam ihr. ganz gelegen, dass ihre Verletztheit sich allmählich in Zorn verwandelte. „Ich möchte Lisa nicht auch noch ängstigen." „Ich fürchte, ich muss darauf bestehen", antwortete er und blickte sich suchend um. Er winkte den jungen Mann zu sich heran, der sie gemeinsam mit einem in Armeeuniform gekleideten Einheimischen unten am Aufzug erwartet hatte. „Mein Assistent Fernando wird dich begleiten." Kit bedachte Philip mit strahlendem Lächeln. „Ich habe einige Abschürfungen abbekommen und muss mich erst einmal in meinem Bungalow verarzten. Den Weg dorthin finde ich allein." „Ich möchte aber, dass jemand mit dir geht." Philip packte sie am Ellbogen und entfernte sich mit ihr einige Meter von Rafek. „Bitte, geh mit Fernando." „Du bist kein Naturforscher, stimmt's?" Er zögerte. „Nein", sagte er dann kurz angebunden. „Ist überhaupt etwas wahr von dem, was du mir erzählt hast?" Einen Moment lang wirkte er bestürzt, doch schon im nächsten Augenblick war seine Miene wieder ausdruckslos. „Das zu beurteilen, überlasse ich dir." Kit geriet immer mehr in Rage. „Es wird nicht einfach sein", erwiderte sie zynisch und glaubte, in seinen Augen einen Ausdruck von Verletztheit wahrzunehmen. Aber wahrscheinlich hatte sie sich getäuscht. Inzwischen war der Assistent zu ihnen getreten. „Philip?" „Bitte bring Miss Romaine zu ihrem Bungalow zurück, Fernando. Sie ist schuldlos in diese ganze Sache geraten, und ich möchte, dass sie wohlbehalten nach Hause kommt." Als wäre ich ein Paket, dachte Kit empört. „Heißt das, ich bin in Gefahr?"
Er blickte kurz zu Rafeks Männern und sah sie dann wieder an. „Nein", sagte er leise. „Dir geschieht nichts, solange du dich von mir fern hältst." Kit erschrak zutiefst, ließ sich ihre Angst jedoch nicht anmerken. „Das wird mir nicht schwer fallen", antwortete sie mit zuckersüßem Lächeln. „Und auf die Eskorte verzichte ich lieber. Gute Nacht." Erst als sie außer Sicht war, begann sie zu rennen. Verdammt. Philip war wütend auf sich. Er hatte Kit verletzt. Doch was hätte er anderes tun sollen, solange er nicht mit Sicherheit wusste, dass Rafek keine weiteren Männer mehr auf der Insel postiert hatte? Hätten die Freiheitskämpfer den Eindruck gewonnen, Kit wäre ihm wichtig, dann würden sie sie womöglich entführen und versuchen, ihn mit ihr bei den Verhandlungen zu erpressen. Er war also gezwungen gewesen, so zu tun, als wäre sie ihm gleichgültig. Natürlich konnte er von ihr nicht erwarten, dass sie sein Verhalten verstand. Sie wusste ja nicht einmal, was er beruflich machte. Und er durfte sie darüber nicht aufklären, solange kein Friedensvertrag ausgehandelt und von allen Delegierten unterzeichnet worden war. Aber vielleicht würde es dann zu spät sein. „Kommen Sie mit, Rafek", stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, „Sie und ich haben viel zu besprechen. Und ich hoffe für Sie, dass wir zu einem Ergebnis kommen!" Kit ging unter die Dusche. Die Abschürfungen an ihren Händen begannen höllisch zu brennen, als sie nass wurden, aber das war ihr egal. Sie musste die erlittene Schmach wegspülen, und sei es nur symbolisch. Sie schämte sich ihrer kindischen Geständnisse. Philip Hardesty musste sie ja für einen absoluten Schwachkopf halten. Und so hatte er sie ja auch behandelt. Hoffentlich laufen wir uns hier nicht mehr über den Weg, dachte sie verzweifelt. Sie würde es nicht überstehen. Für Philip wurde es eine lange Nacht. Sein bisher eher beschränkt wirkender Leibwächter hatte sich urplötzlich in einen schnell und kompetent handelnden Armeeangehörigen verwandelt. Er forderte über Funk Verstärkung an, und wenig später wimmelte es überall von schweigsamen Männern in Kampfanzügen. Das veranlasste auch Rafek, sein wichtigtuerisches Gehabe aufzugeben und seine Forderungen klar zu benennen. Philip informierte ihn über das bisherige Verhandlungsergebnis und entließ ihn dann in die eilig für ihn hergerichtete Suite. Danach kehrte Philip in den Konferenzsaal zurück. Er wusste, dass es keinen Sinn hatte, ins Bett zu gehen. Er würde ja doch nicht schlafen können, sondern ständig darüber nachdenken, wie er Kit wieder versöhnen konnte. Als die Delegierten am nächsten Morgen in den Konferenzsaal kamen, sah ihr Verhandlungschef zwar ein wenig übernächtigt aus, aber er hatte sich völlig unter Kontrolle. Er hatte geduscht, sich rasiert und die Kleidung gewechselt, und niemand achtete darauf, dass er sich mehrmals über das linke Auge strich. „Gentleman, ich glaube, Sie alle kennen diesen Herrn", eröffnete er ruhig die Sitzung. „Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, dass er beschlossen hat, an den Verhandlungen teilzunehmen, die damit einen neues Stadium erreicht haben." Diesmal verliefen die Diskussionen bedeutend lebhafter als zuvor. Es wurde geschrien und gedroht, doch Philip gelang es immer wieder, die Parteien zu beruhigen. Es gab keine Unterbrechungen, und das Essen wurde im Konferenzsaal serviert. Die einzelnen Delegierten zogen sich zwischendurch zu geheimen Beratungen zurück, gaben bisher erzielte Ergebnisse weiter und holten sich neue Anweisungen. Bereits am Nachmittag reisten einige Journalisten per Hubschrauber an. Es kursierten Gerüchte, dass man kurz vor einer Einigung stehe und es nur noch um technische Details gehe.
Natürlich hatte Lisa am nächsten Tag Kit so lange bearbeitet, bis diese ihr erzählte, wo sie sich die Abschürfungen an den Händen zugezogen hatte. „Sprichst du von dem Mann, den du am ersten Abend kennen gelernt hast?" fragte Lisa neugierig. „Der so sexy aussah?" Die beiden Schwestern saßen unter einer Palme am Strand unterhalb von Kits Bungalow. Es war später Nachmittag, und sie hatten den Tag mit Schwimmen und Faulenzen verbracht. Da Lisa sich noch kein einziges Mal über ihren Mann beschwert hatte, nahm Kit an, dass die beiden sich endlich wieder versöhnt hatten. Es war ihr unangenehm, ihre Schwester danach zu fragen, aber noch peinlicher war ihr die Beantwortung von Lisas Frage. „Ja", sagte Kit und spürte verärgert, dass sie rot wurde. Lisa schnitt ein Gesicht. „Auf jeden Fall scheint er alles bestens im Griff gehabt zu haben." „O ja, bestens", bestätigte Kit grimmig. „Erst hat er mich den größten Unsinn reden lassen und mich dann auch noch zu bevormunden versucht." „Das kommt dir nur so vor, weil er dich nicht angefasst hat." „Natürlich hat er es getan", sagte Kit ungnädig. Lisa zog die Brauen hoch. „Er hat dich angefasst?" „Nicht so, wie du meinst." „Wie dann?" „Hör auf, mich ins Kreuzverhör zu nehmen!" rief Kit. Lisa lächelte zufrieden. „Willkommen in der Realität, Schwesterherz. Es wurde ja auch Zeit." Während Kit noch nach einer passenden Antwort suchte, kam Nikolai angejoggt. Sein Haar war völlig zerzaust, und er strahlte über das ganze Gesicht. „Hardesty hat in zwanzig Minuten eine Pressekonferenz anberaumt", verkündete er fröhlich. „Offenbar wurde eine Einigung erzielt." Er setzte sich neben Lisa und schenkte ihr ein inniges Lächeln. „Von jetzt an hast du mich ganz für dich allein, mon amour." Die sexuelle Spannung zwischen den beiden war selbst für Kit spürbar. Unwillkürlich rückte sie ein wenig von ihrer Schwester ab. Erst dann wurde ihr bewusst, welchen Namen er genannt hatte. „Hardesty?" fragte sie. „Ja, der Verhandlungschef", bestätigte Nikolai, nahm Lisas Hand und führte sie an seine Lippen. O nein! dachte Kit entsetzt. Sie hatte sich nicht einfach nur zum Narren gemacht, sondern sich dazu den obersten Boss ausgesucht. Vor Schreck biss sie sich so fest auf die Lippe, dass sie unfreiwillig leise aufschrie. Lisa blickte sie verwundert an. „Ihr werdet ihn noch nicht gesehen haben, weil er die ganze Woche kaum aus dem Konferenzsaal gekommen ist", erklärte Nikolai. „Der Kerl verdient großen Respekt. Es ist hauptsächlich ihm zu verdanken, dass dieser Friedensvertrag zu Stande gekommen ist. Und er hat uns die offizielle Genehmigung verschafft, im ganzen Inselstaat die verschiedenen Affenarten zu filmen und zu erforschen. Vielleicht können wir mithelfen, den rapiden Rückgang der einheimischen Primatenpopulation zu stoppen." „Wundervoll", sagte Lisa, die wohl vergessen hatte, dass sie noch tags zuvor am liebsten jeden seiner geliebten Affen persönlich ausgerottet hätte. Er verschränkte seine Finger mit ihren. „Wir Naturschützer haben ihn gebeten, heute Abend ein Glas Champagner mit uns zu trinken. Zu mehr wird er keine Zeit haben, aber wir wollen uns wenigstens formell bei ihm bedanken. Kommst du mit, Lisa?" Seine Frau lächelte ihn auf eine Weise an, die keiner Bestätigung durch Worte bedurfte. „Du auch, Kit?" fragte er seine Schwägerin. „Nein", sagte sie mit seltsam klingender Stimme. Keine zehn Pferde würden sie dahin bringen. Sie räusperte sich. „Nein, ich komme nicht mit." „Aber warum denn nicht?" Lisa sah sie stirnrunzelnd an. Kit kannte und fürchtete diesen Blick ihrer Schwester und suchte krampfhaft nach einer
Ausrede, aber ihr fiel nichts Besseres ein als: „Ich habe nichts Passendes anzuziehen." „O doch", widersprach Lisa triumphierend. „Ich weiß, dass du Tatianas schwarzes Cocktailkleid dabeihast. Dazu kannst du meine langen Ohrringe tragen, und ich werde dir das Haar hochstecken. Du wirst wunderschön aussehen." Kit machte alle möglichen Ausflüchte, konnte sich jedoch gegen ihre Schwester nicht durchsetzen. „Ich bin sicher, dieser Mann, von dem du mir erzählt hast, ist auch da", sagte Lisa abends zu ihrer Schwester, während sie Kit die Haare machte. Kit schnitt ihrem Spiegelbild ein Gesicht. „Wieso sollte ich mir das wünschen?" „Weil du bemerkt hast, dass er sexy aussieht", sagte Lisa ohne Umschweife. „Bei keinem anderen ist dir das bisher aufgefallen." Kit biss die Zähne zusammen und schwieg, was nicht weiter auffiel, da Nikolai ins Zimmer kam. Er schwang einen Computerausdruck in der Hand. „Frisch von der Presse. Einer der Journalisten hat ein Blatt mit seinem Lebenslauf verteilt." „Dem Lebenslauf von wem?" fragte Lisa. „Von unserem Ehrengast Philip Hardesty, dem Retter des Regenwaldes", antwortete Nikolai. Er reichte das Blatt seiner Frau und verschwand pfeifend im Bad. Kit war von ihrem Stuhl aufgestanden und studierte gemeinsam mit Lisa den Bericht. Sir Philip Hardesty entstammt einer alten britischen Aristokratenfamilie. Einer seiner Vorfahren kämpfte in Agincourt, ein anderer war dabei, als Drake die spanische Ar mada versenkte. „Halb Europa hat Grund, meine Familie zu hassen", erklärte er kürzlich in einem Interview. „Sir!" sagte Kit und hörte zu lesen auf. Nun verstand sie, weshalb er sie so sonderbar angesehen hatte, als sie ihn mit Mr. Hardesty anredete. Er war keineswegs verunsichert gewesen, wie sie geglaubt hatte, sondern nur verärgert, weil sie ihn nicht mit seinem Titel angesprochen hatte. „Ein diplomatisches Genie", las Lisa laut vor, „gewiefter Taktiker ..." „Wie wahr", murmelte Kit. „Wurde einer breiteren Öffentlichkeit durch die Konferenz von Tetlakhan bekannt, bei der sein Boss einen Herzinfarkt erlitt", las Lisa unbeirrt laut weiter. „Besitzer von Ashbarrow, dem Familienbesitz der Hardestys, einem Juwel mittelalterlicher Architektur. Hat sich dort in letzter Zeit selten sehen lassen. Nach Auskunft seiner in New York lebenden Freundin Soralaya Khan könnte sich das jedoch künftig ändern." Unwillkürlich stöhnte Kit leise auf. „Nun stell dich nicht so an", meinte Lisa, die Kits Stöhnen falsch interpretierte. „Er kann doch nichts dafür, dass er mit einem Titel geboren wurde. Jedenfalls scheint er ein anständiger Kerl zu sein, der gute Arbeit geleistet hat." Kit sah ihre Schwester trotzig an. „Abgesehen davon ist er der Ehrengast", fuhr Lisa munter fort. „Die Tierfreunde werden sich um ihn scharen, so dass wir sowie nicht in seine Nähe kommen." „Hoffentlich hast du Recht." Kit hoffte es von ganzem Herzen. Kit schlüpfte hinter ihrer Schwester in den Saal und versuchte, hinter Säulen und großen Männern in Deckung zu gehen. Sie redete sich damit heraus, dass sie sich in dem geborgten Kleid unwohl fühle, und Lisa akzeptierte es. Noch letzte Woche hätte dies der Wahrheit entsprochen, doch heute Abend war Kit kaum bewusst, wie umwerfend sie aussah. Das Oberteil spannte sich eng um ihre Brüste, die tropfenförmigen Ohrgehänge betonten ihren schlanken Hals, und da sie größer war als Tatiana, endete der Rock über dem Knie und gab den Blick auf ihre schlanken und leicht gebräunten Beine frei. Sie nahm auch die bewundernden Blicke der Männer nicht wahr, sondern richtete ihre Aufmerksamkeit ausschließlich darauf, von Philip - Sir Philip! - nicht gesehen zu werden.
Zum Glück hatte sich eine dichte Gruppe um ihn gebildet, und jeder schien auf ihn einzureden. Er stand ruhig da, mimte den aufmerksamen Zuhörer und hatte offenbar keine Mühe, die richtigen Antworten zu geben. Beherrscht und gelassen, wie immer, dachte Kit verdrießlich. Doch dann beobachtete sie, wie er beim Absetzen seines Glases beinahe die Tischkante verfehlt hätte. Er sah sich unauffällig um, wie um zu prüfen, ob jemand etwas bemerkt hatte. Unvermutet begegneten sich ihre Blicke. Blitzschnell duckte Kit sich und wollte die Flucht antreten, lief aber dummerweise ihrem Schwager in die Arme. „Da bist du ja", sagte Nikolai erfreut und zog sie mit sich. „Ich möchte, dass du unseren Ehrengast kennen lernst. Darf ich vorstellen: Philip Hardesty, meine Schwägerin Kit Romaine." Kit blieb wie versteinert stehen. Würde er die Frechheit haben zuzugeben, dass er sie auf einen Ausflug mitgenommen hatte, der sich zu einem einzigen Fiasko entwickelt hatte? „Kit und ich kennen uns bereits", sagte er ruhig und lächelte sie an. „Kennen würde ich als übertrieben bezeichnen", widersprach sie zuckersüß. „Sie hatten zu erwähnen vergessen, welch berühmter Mann Sie sind." Nikolais Gesicht war ein einziges Fragezeichen. „Ich wollte meiner Frau etwas zu trinken besorgen", entschuldigte er sich schnell und verschwand in der Menge. „Es tut mir Leid", sagte Philip schlicht. „Warum haben Sie es mir verschwiegen? Dachten Sie, ich sei zu dumm, zu verstehen, was Sie beruflich tun?" Bestürzt sah er sie an. „Natürlich nicht!" „Wieso haben Sie es dann getan?" Er zuckte die Schultern. „Ich spreche den ganzen Tag über nichts anderes als Taktiken und Strategien und all die entsetzlichen Dinge, die Menschen einander antun, wenn sie sich bedroht fühlen. Da wollte ich eben einmal..." „Abschalten?" „Ja, wahrscheinlich." „Und Sie dachten, mit mir wäre eine anspruchslose Unterhaltung möglich?" Es schockierte ihn offensichtlich, dass sie ihn so einschätzte. „Ich wusste nicht, wie empfindlich Sie sind, sonst..." „Ich bin nicht empfindlich", stieß Kit zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Warum sind Sie dann so verärgert?" fragte er. Seine Ruhe und Beherrschtheit reizten Kit bis aufs Blut, und sie musste sich zusammenreißen, ihm nicht ins Gesicht zu schlagen. „Weil ich keine Lügner mag. Ich habe Sie nicht gebeten, mir etwas zu erzählen. Sie hätten mich nicht anzuschwindeln brauchen." „Das habe ich nicht getan", versicherte er mit einem zärtlichen Lächeln, das bei Kit Mordgedanken weckte. „Ich haben nur das eine oder andere ausgelassen. Falls Sie noch etwas wissen wollen, fragen Sie nur." Kits grüne Augen funkelten zornig. „Na gut. Welche Pläne hatten Sie, als wir zum Wasserfall gingen?" „Welche Pläne?" „Sie haben später gesagt, dass Sie nicht vorgehabt hätten, mich zu verführen. Stimmt das?" Als erfahrener Verhandlungsführer erkannte Philip die Falle, die sie ihm stellte. „Kit..." Sie war viel zu wütend, um ihn ausreden zu lassen. „Es heißt, Sie seien ein gewiefter Taktiker. Ich mag es jedoch nicht, wenn man mich für dumm verkauft." „Das habe ich nicht getan", verteidigte sich Philip, der sich nicht erinnern konnte, dass er sich jemals derart hilflos gefühlt hatte. „O doch!" beharrte. Kit. „Ich habe mich völlig zum Narren gemacht, und Sie haben sich darüber köstlich amüsiert." Er war blass geworden. „Das meinen Sie doch nicht im Ernst."
Kit war nicht mehr zu bremsen. „Nun, Sie hatten Ihren Spaß, aber ein zweites Mal werden Sie sich nicht mehr auf meine Kosten amüsieren. Gute Nacht." Sie ließ den Ehrengast inmitten seiner Bewunderer stehen und stürmte davon. Lisa wollte ihr nachlaufen, doch ihr Mann hielt sie zurück. Rasend vor Zorn und Empörung, eilte Kit mit Riesenschritten am Strand entlang zu ihrem Bungalow, und der Zauber tropischer Nächte war an diesem Abend an sie verschwendet. Wie hatte Philip Hardesty es wagen können, in diesem gönnerhaften Ton mit ihr zu sprechen? Hatte er etwa geglaubt, er könnte sie ebenso manipulieren wie die Menschen, mit denen er normalerweise zu tun hatte? Sie riss die Tür ihres Bungalows auf und versetzte dem Papierkorb wütend einen Fußstoß. Das ernüchterte sie etwas, und sie spürte, wie ihr Zorn langsam abflaute. Sie goss sich in ein Glas Mineralwasser ein und ging hinaus auf die Terrasse. Der Himmel war mit Sternen übersät, die wie Diamanten auf schwarzem Samt funkelten und zum Greifen nahe zu sein schienen. Unwillkürlich hielt Kit sich die Augen zu. Lisa hatte Recht. Wenn es einem schlecht ging, machte die Schönheit dieser Insel alles nur noch schlimmer. Und im Moment fühlte Kit sich so elend wie schon lange nicht mehr. Plötzlich glaubte sie, Schritte im Sand zu hören. Sie ließ die Hand sinken und sah eine große Gestalt näher kommen. Nein, so weit würde er nicht gehen. Sie ging zum Geländer und blickte hinunter. Es war tatsächlich Philip, der auf ihren Bungalow zuschlenderte. Sie sah seine weißen Zähne aufblitzen. Er besaß also die Unverschämtheit, auch noch zu lächeln. „Kit, wir können es nicht dabei belassen", sagte er ruhig. „Ich schon", entgegnete sie schroff. „Und was Sie tun, ist mir egal." „O Liebes", sagte er zärtlich, „ich wollte dich doch nicht kränken." Kit blinzelte die Tränen weg. Ich werde nicht weinen, ich bin nicht traurig, und schon gar nicht werde ich in Selbstmitleid zerfließen, ermahnte sie sich. „Sie haben mich nicht gekränkt. Und benutzen Sie mir gegenüber nie mehr das Wort ,Liebe'." Es folgte eine kleine Pause. „Ich scheine stets das Falsche zu sagen", meinte er schließlich, und seine Stimme klang leicht verzweifelt. „Versuchen Sie es mit einem Gute Nacht", schlug Kit vor. Er ging die Treppe zu ihrem Bungalow hinauf. Kit vertrat ihm den Weg zur Terrasse. Natürlich war das kindisch, aber sie wusste sich nicht anders zu helfen. Philip nickte und wandte sich ab. Er geht! dachte sie entsetzt, aber da machte er einen Schritt seitwärts und sprang mit einem Satz über das Geländer. „Wie sportlich!" spottete Kit, obwohl sie insgeheim durchaus beeindruckt war. „Ich habe gelesen, dass Sie sich in Form halten." „Egal, was du über mich gelesen hast, du musst mich anhören." „Haben Sie sich inzwischen eine neue Geschichte für mich ausgedacht?" fragte sie ironisch. Philip gab den Versuch auf, sie zu besänftigen. „Red keinen Unsinn. Alles, was ich dir erzählt habe, war wahr. Schön, ich habe einiges ausgelassen, aber du wirst ja wohl nicht schon bei der ersten Verabredung einen detaillierten Lebenslauf von mir erwartet haben, oder?" „Es war keine Verabredung", widersprach sie nervös, als er langsam auf sie zuging. „O doch", sagte Philip und zog sie in seine Arme. Plötzlich schien es nach Rosen zu duften und das Meeresrauschen anzuschwellen. Oder schlug nur ihr, Kits, Herz so laut? Als er sie an der Lagune geküsst hatte, war sie scheu ins Wasser geflüchtet, und im Tempel hatte er sie kaum berührt. Jetzt aber war sie nicht mehr schüchtern, und Tatianas Kleid war ebenfalls kein Hindernis. Er ließ die Hände unter ihren Rock gleiten, schob ihn hoch und hatte ihr das Kleid im nächsten Augenblick auch schon ausgezogen. Achtlos warf er das edle Stück zu Boden und presste erneut den Mund auf Kits Lippen, während seine Hände besitzergreifend ihre
Rücken streichelten. Mit zittrigen Finger begann Kit, an seiner Krawatte zu zerren. Sie hatte noch nie versucht, einem Mann die Krawatte abzunehmen, und fühlte sich schrecklich unsicher, schaffte es aber schließlich, sie ihm über den Kopf zu ziehen. Mit Knöpfen und Reißverschlüssen wurde sie leichter fertig, von Philip tatkräftig unterstützt. Er zog sie auf den Holzboden der Terrasse. Dann bedeckte er ihr Gesicht und ihren Hals mit Küssen und flüsterte immer wieder ihren Namen, als könnte er nicht glauben, dass sie in seinen Armen lag. „Kit. Meine Kit." Ihre Haut schien überall zu glühen, wo er sie berührte, und Kit stöhnte vor Lust. Erneut suchte sein Mund ihre Lippen, und während sie sich immer leidenschaftlicher küssten, drückte er sie an sich und ließ sie spüren, wie erregt er war. Noch nie hatte Kit einen so überwältigenden Ansturm von Gefühlen erlebt. Sie spürte nicht nur körperliches Verlangen, sondern war eins mit dem Universum und befreit von allen Ängsten. Sie überließ sich ganz ihren Gefühlen und Philip, der sie zu einem rauschenden Höhepunkt führte. Erst als sie wieder klar denken konnte, merkte sie, dass sie allein den Gipfel der Lust erklommen hatte. Sofort quälte sie wieder die alte Furcht. „Was ist passiert? Willst du mich nicht?" Warum hörte sich bei ihr nur immer alles gleich so pathetisch an? „Ich meine ..." Er verschloss ihr mit dem Finger den Mund. „Ich weiß, was du meinst. O ja, ich will dich." Seine Stimme klang gequält. „Vielleicht sogar zu sehr. Aber ich habe nichts dabei, um dich zu schützen." Vor Erleichterung seufzte sie laut auf. „Das ist mir egal." Sie begann ihn aufreizend zu streicheln, doch er hielt ihre Hände fest. „Mir nicht." „Aber..." „Wir müssen vernünftig sein. Morgen wirst du mir dafür dankbar sein." Er schien selbst nicht zu glauben, was er sagte, und das gab Kit Mut. Sie lachte leise. „Aber ich lebe nach der Devise: Genieße den Augenblick. Hast du das vergessen?" Er zuckte zurück, als hätte er sich verbrannt. „Genug jetzt." Fassungslos blickte Kit ihn an. Von ihrem neu erwachten Selbstvertrauen war nichts mehr zu spüren. Er war aufgestanden und suchte mit verbissener Miene seine Kleidung zusammen. „Ich wollte das nicht", murmelte er. „Ich hatte mir geschworen, dass ich nicht..." Ihr war, als hätte er sie mit eiskaltem Wasser Übergossen. Sie rappelte sich auf und empfand es als besonders demütigend, dass sie völlig nackt war. „Bitte, geh jetzt", sagte sie, mühsam beherrscht. Jäh hielt er in der Bewegung inne und sah Kit entsetzt an. Er hat doch wohl nicht erwartet, dass ich mir eine solche Behandlung gefallen lasse, dachte sie. Philip war zu spät klar geworden, was er gesagt hatte. „So habe ich es nicht gemeint, Kit. Du hast mich missverstanden." „O nein", sagte sie leise. „Leb wohl." Sie ging hinein und schloss zitternd die Tür hinter sich. Sie fühlte sich ganz erbärmlich. Er hatte sie geküsst und in den Armen gehalten und zur Ekstase gebracht. Aber er hatte nie vorgehabt, mit ihr diese Ekstase zu teilen. Erneut hatte sie ihm vertraut, und wieder hatte er sie zum Narren gehalten. Das würde sie ihm nicht verzeihen. Sie rief Lisa an. „Ich habe beschlossen, nach Hause zu fliegen", sagte sie und war erstaunt, wie ruhig ihre Stimme klang. „Da die Konferenz nun beendet ist und Nikolai wieder Zeit für dich hat, wirst du mich nicht allzu sehr vermissen." Lisa protestierte nur halbherzig, und selbst wenn es anders gewesen wäre, hätte Kit nichts davon abhalten können, auch nur eine Minute länger als nötig auf der Insel zu bleiben. Auf keinen Fall wollte sie riskieren, Philip Hardesty noch einmal über den Weg zu laufen.
Glücklicherweise konnte ihr Nikolai einen Platz in einem Hubschrauber besorgen, der am nächsten Morgen Journalisten zum internationalen Flughafen der Hauptstadt bringen würde. Dort konnte sie dann das nächste Flugzeug nach Europa nehmen.
6. KAPITEL
Kit war froh, dass sie sofort nach ihrer Rückkehr den Frühjahrsputz in Pimlico in Angriff nehmen konnte. Sie benötigte einige Zeit für sich allein, um ihr inneres Gleichgewicht wieder zu finden, und hörte sich diesmal bei der Arbeit einen Sprachlehrgang in Spanisch an. Nach einer Woche strahlte das Haus vor Sauberkeit, und Kit konnte genügend Spanisch, um an einem Konversationskurs teilnehmen zu können. „Immerhin ein kleiner Fortschritt", lautete Tatianas ungebetener Kommentar. Lisa kam allein von Coral Cove zurück. Trotz ihrer Sonnenbräune sah sie verhärmt aus. „Nikolai und ich hatten eine weitere Auseinandersetzung", erzählte sie, als Kit sich nach ihm erkundigte. „Er ist vorzeitig abgereist, um irgendwo Affen zu beobachten. Wo, weiß ich nicht, und es interessiert mich auch nicht." „O Lisa, was ist denn nur los mit euch? Ihr seid doch miteinander so glücklich gewesen." Lisa zuckte die Schultern. „So geht es eben." Allmählich begann Kit, sich wegen der beiden ernsthaft Sorgen zu machen. „Worüber habt ihr diesmal gestritten?" „Nun ja, es ging um dich." „Um mich?" fragte Kit ungläubig. Lisa sah sie forschend an. „Ich nehme an, der sexy Mann vom ersten Abend war Philip Hardesty?" Sie sah, wie Kit rot wurde. „Dachte ich es doch. Er hat uns nach deiner Adresse gefragt, und da Nikolai ihn für einen anständigen Kerl hält, wollte er sie ihm geben. Ich habe es ihm jedoch verboten, und das hat ihm nicht gepasst." „O nein!" Kit tat das alles schrecklich Leid. „Du hättest nicht meinetwegen mit ihm streiten sollen." Lisa seufzte tief auf. „Ach Kleines, wenn wir uns nicht über dich gestritten hätten, dann eben über etwas anderes. Im Moment kommen wir einfach nicht miteinander aus. Zum Glück hat Nikolai seine Affen, und ich bin in den nächsten Wochen beruflich ebenfalls viel auf Reisen, so dass wir uns wohl eine Weile nicht sehen werden. Es wird uns helfen, die Krise zu überstehen." „Und wenn nicht?" fragte Kit schuldbewusst. Lisa hob trotzig das Kinn. „Dann erhöhen wir die Scheidungsstatistik." Ihre Stimme klang hart. Kit biss sich auf die Lippe. „Nun sieh mich nicht gleich so an", sagte Lisa, und ihr Gesichtsausdruck wurde weicher. „Ich bin nicht wie Mom. So schnell lasse ich mich nicht unterkriegen." In stillschweigender Übereinstimmung kamen sie danach nicht mehr auf Coral Cove zu sprechen. Selbst während des einmal monatlich stattfindenden Essens bei ihrer auf dem Land lebenden Mutter hielten sich die Schwestern mit Äußerungen über den gemeinsamen Urlaub sehr zurück, und kein einziges Mal fiel der Name eines Mannes. „So, und nun erzähl mir, was da unten passiert ist", forderte Flora Stevens, Kits an diesem Sonntag ebenfalls eingeladene Taufpatin, ihre Nichte auf, als sie beide in der Küche das Geschirr in die Spülmaschine räumten. Kit beschäftigte sich angelegentlich mit dem Besteck. „Ich weiß nicht, wovon du sprichst." „Du und Lisa seid in Bezug auf euren Urlaub verdächtig diskret", sagte Flora ohne Umschweife. „Es ist sogar eurer Mutter aufgefallen, und das will etwas heißen. Ist dir vielleicht Nikolai zu nahe gekommen?" „Flora!" Kit war aufrichtig schockiert. „Er ist ein gut aussehender Mann, und da Lisa im Moment ungenießbar ist, würde ich es ihm nicht einmal verdenken." „Aber ich!" widersprach Kit energisch. Flora sah keineswegs schuldbewusst aus. „Wenn es nicht Nikolai war, welcher Mann hat
dich dann so durcheinander gebracht?" „Muss es sich denn immer gleich um einen Mann handeln?" fragte Kit gereizt. „Wenn eine Frau urplötzlich ihr Verhalten ändert, steckt meistens ein Mann dahinter. Du hast aufgehört, jedes Mal zusammenzuzucken, wenn du an einem Spiegel vorbeigehst." Kit wusste nicht, ob sie lachen oder weglaufen sollte. „Du bist schlimmer als die spanische Inquisition." „Na gut." Liebevoll strich Flora ihrer Nichte eine blonde Locke aus dem Gesicht. „Ich werde dich nicht weiter bedrängen." „Das hätte auch keinen Sinn, weil es nichts zu berichten gibt." Während der Rückfahrt in Lisas rotem Sportwagen sagte Kit plötzlich nachdenklich: „Ich habe mir überlegt, dass ich in meiner Diele gern einen Spiegel hätte. Möglichst groß und mit einem breiten Holzrahmen." Lisa warf ihr einen überraschten Blick zu, sagte aber nur: „Dann sollten wir am nächsten Wochenende mal die Flohmärkte durchstöbern." Sie fanden tatsächlich etwas Passendes und verbrachten einen anstrengenden Sonntagnachmittag damit, einen großen Spiegel unter Tatianas Kommando aufzuhängen. „Was ist das für eine Welt, in der zwei junge, hübsche Frauen sich mit so einem schweren Ding abschleppen", schimpfte die alte Dame. „Links einen Zentimeter weiter nach oben. Einfach lächerlich. Hier muss ein Mann her." „Nein!" riefen beide Schwester wie aus einem Mund. Dann sahen sie sich an und lachten. Nach diesem Sonntag sah Kit nur noch wenig von ihrer Schwester. Nicht nur Lisa war beruflich viel auf Reisen, sondern auch Kit war ständig unterwegs. Sie nahm nun mehrmals wöchentlich Fahrunterricht. Außerdem hatte sie bei einem von ihrer SpanischKonversationsgruppe veranstalteten Salsaabend ihre Liebe zum Tango entdeckt und sich mit einigen anderen aus ihrer Klasse zu einem Tangotanzkurs angemeldet. Noch vor zwei Monaten hätte Kit es nicht ertragen, sich im eng anliegenden Trikot und mit schwingendem Rock vor anderen zu zeigen. Doch nun erschienen ihr die früheren Bedenken unsinnig. Außerdem zwang sie sich, jeden Morgen, bevor sie zur Arbeit ging, einen Blick in den Spiegel zu werfen. Zwar war ihre zarte Urlaubsbräune inzwischen verblasst, aber Kit fand, dass sie trotzdem ganz annehmbar aussah. Überhaupt entdeckte sie ständig neue Seiten an sich, wie etwa, dass es ihr Spaß machte, mit einem Partner zu tanzen. Sicher, sie gab noch immer jedem einen Korb, der sich mit ihr verabreden wollte, aber sie empfand den Körperkontakt mit einem Mann nicht mehr als bedrohlich. Kit interessierte sich nun auch für internationale Politik, studierte ausgiebig die Tageszeitungen und holte sich weitere Informationen aus dem Internet. Der Name „Philip Hardesty" tauchte fast täglich irgendwo auf, während Soralaya Khan nur selten Erwähnung fand. Sie galt als Expertin für den Erdölmarkt und arbeitete für eine New Yorker Großbank. Bei der letzten Ölpreiserhöhung hatte ein Fernsehsender ein Interview mit ihr ausgestrahlt, und in einem Wochenmagazin waren einige Fotos von ihr zu sehen, die sie auf einem Wohltätigkeitsball zeigten. Sie war eine rassige dunkelhaarige Schönheit mit der Figur eines Models und sah in dem weißen Spitzenkleid einfach umwerfend aus. Nicht herausfordernd sexy, sondern elegant und selbstsicher. Dem Begleittext war zu entnehmen, dass sie mehrere Universitätsdiplome besaß und aus einer reichen, vornehmen Familie kam. Auf einem Foto war sie mit Philip Hardesty abgebildet. Er trug einen weißen Smoking und hatte diesen kühlen, unnahbaren Gesichtsausdruck, den Kit schon kannte. Nun ja, er wirkte nicht unbedingt glücklich, aber das änderte nichts daran, dass die beiden ein perfektes Paar bildeten. Wie eben zwei Menschen es tun, die der gleichen Gesellschaftsschicht entstammten. Es war gut, dass ich sofort abgereist bin, dachte Kit. Sie sollte besser jede Erinnerung an Philip Hardesty aus ihrem Gedächtnis verbannen, denn sie würde ihn bestimmt nie wieder sehen.
Philip saß entspannt in dem bequemen Ledersessel und erwartete ruhig den Befund. Er rechnete nicht mit einer guten Nachricht, obwohl es sich bei dem Arzt um einen der besten Augenspezialisten New Yorks handelte. Der Mediziner setzte sich auf die Kante seines Schreibtisches und klopfte mit dem Kugelschreiber auf die Krankenakte. „Nun?" fragte Philip. „Keine Angst, ich kann die Wahrheit vertragen, wie immer sie auch lautet." Der Doktor nickte. „Tja, wenn ich nur wüsste, was ich Ihnen sagen soll. Um ehrlich zu sein, mir ist das Ganze ein Rätsel." Philip runzelte die Stirn. „Wie darf ich das verstehen?" „Es gibt diese zeitweise auftretende Blindheit in Ihrem linken Auge tatsächlich. Sie ist also nicht psychosomatisch bedingt. Aber ein organischer Fehler ist ebenfalls nicht zu erkennen." „Wie bitte?" „Sie sagen, es passiert nur selten und ohne Vorwarnung. Und Sie spüren keine Schmerzen." „Richtig." „Wirklich sehr ungewöhnlich." Der Arzt verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich kann es mir nur so erklären, dass Ihr Auge sich einfach verweigert, wenn es zu sehr angestrengt wird. Es ruht sich aus und hört auf zu sehen." Philip machte aus seiner Skepsis keinen Hehl. „Das kann ich mir nicht vorstellen." „Ich weiß, es klingt verrückt", sagte der Arzt lächelnd, „aber solche Fälle hat es schon gegeben. Allerdings sehr selten." „Und was kann ich dagegen tun?" „Nun ja, falls Ihre Sehstörungen stressbedingt sind, besteht gute Aussicht, dass sie wieder verschwinden werden. Vorausgesetzt natürlich, Sie vermeiden alles, was Sie zu sehr belastet." Philip musterte den Arzt mit kühler Höflichkeit. „Sprechen Sie von meinem Beruf?" „Das haben Sie getan, nicht ich." Der Arzt sprang geschmeidig von der Schreibtischkante. „Sie müssen selbst entscheiden, was Sie tun. Eine spezielle Behandlung oder entsprechende Medikamente gibt es nicht. Es wäre eine Lüge, wenn ich etwas anderes behaupten würde." Notgedrungen musste Philip dies akzeptieren. „Tut mir Leid", entschuldigte er sich. „Ich hätte wissen müssen, wie es ist, jemandem eine unangenehme Wahrheit zu sagen." Er lächelte auf seine unnachahmliche Art. „Es gehört schließlich auch zu meinem Beruf." „Es geht mich zwar nichts an", meinte der Arzt, „aber ganz offensichtlich verlangen Sie sich seit Jahren zu viel ab. Warum gehen Sie die Dinge nicht etwas langsamer an?" Philip seufzte. „Kürzlich hat man mir geraten, mehr den Augenblick zu genießen", sagte er trocken. Der Arzt zuckte die Schultern. „Sie sollten es versuchen." Philip lachte. „Dazu müsste ich mich von Grund auf ändern." „Dann tun Sie es. Wenn Sie weitermachen wie bisher, wird sich Ihre Sehstörung vermutlich verschlimmern." „Danke, dass Sie so ehrlich zu mir waren." Philip stand auf und verabschiedete sich. Den Augenblick genießen, dachte er lächelnd, als er das Gebäude verließ. Vielleicht könnte er es, wenn er seine Meerjungfrau wieder fand. Die Frage war nur, ob sie noch etwas mit ihm zu tun haben wollte. Aus Zeitmangel hatte Philip seinen Assistenten mit der Suche nach Kit beauftragt, aber nun wollte er die Dinge selbst in die Hand nehmen. „Du hast dich nicht sonderlich angestrengt", fuhr er Fernando an, nachdem dieser ihm das karge Ergebnis seiner Recherchen vorgelegt hatte. „Ich habe die Büroadresse ihres Schwagers ermittelt und ihm ein Fax geschickt", verteidigte sich Philips Assistent. „Hier steht", Philip klopfte auf die Akte, „dass er sich momentan auf einer
Forschungsreise befindet. Falls dein Fax nicht sofort in den Papierkorb gewandert ist, wird es womöglich Monate dauern, bis er es zu lesen bekommt. Das war recht unüberlegt von dir!" „Es gehört nicht zu meinen Aufgaben, nach deinen Freundinnen zu suchen", murrte Fernando. „Das ist richtig", erwiderte Philip ruhig, „aber dann hättest du eben ablehnen müssen. Da du es nicht getan hast, hätte ich von dir mehr Initiative erwartet. Und nun verschwinde." Schockiert über Philips rüden Ton, verließ Fernando das Büro seines Chefs. Noch nie hatte er ihn so wütend erlebt. Und das wegen einer Frau, von der er nicht einmal geahnt hatte, dass Philip sich für sie interessierte. Was wohl Soralaya Khan dazu sagen würde? Es war Jahre her, dass Philip selbst recherchiert hatte. Da Kits Schwager nicht erreichbar war, musste er versuchen, mit ihrer Schwester Kontakt aufzunehmen. Diese hatte sich zwar auf Coral Cove nicht sehr hilfsbereit gezeigt, aber zumindest saß sie nicht wie ihr Mann irgendwo im Dschungel und beobachtete Affen. Das wusste er, da er im Internet eine Liste der Expeditionsteilnehmer gefunden hatte. Eine Stunde später hatte er in Erfahrung gebracht, dass Gräfin Lisa Ivanov als Lisa Romaine Karriere gemacht hatte und das Londoner Büro einer internationalen Investmentgesellschaft leitete. Was nun? fragte sich Philip. Sollte er Lisa einfach anrufen und sie nach Kits Adresse fragen? Oder war es besser, auf subtilere Weise vorzugehen? Zum Glück hatte er gute Kontakte zur Bankenwelt. Lächelnd hob er den Hörer ab und wählte eine Nummer, die er auswendig kannte. „Soralaya? Schön, deine Stimme zu hören. Ich möchte dich um einen Gefallen bitten. Wen kennst du in London?" Kit machte es immer großen Spaß, in Alan Hendersons Buchhandlung zu arbeiten. Der Laden war stets gut besucht und voll gestopft mit Büchern jeder Art, die sich in Ecken und auf Tischen stapelten. Für Außenstehende war das ein unlösbares Rätsel, doch die Verkäufer wussten genau, wo ein bestimmtes Buch zu finden war. Und auch Kit hatte als einzige Aushilfskraft - wie man ihr immer wieder versicherte - das System auf Anhieb begriffen. „Was macht Ihr Bildungsprogramm?" erkundigte sich Alan, als sie am Montagmorgen zur Arbeit erschien. „Momentan beschäftige ich mich mit südostasiatischen Vögeln", erklärte Kit. Ihr war bewusst geworden, dass sie nicht alles vergessen wollte, was sie auf Coral Cove erlebt hatte. Beispielsweise interessierten sie jene Vögel, die sie dort gesehen, deren Namen sie jedoch von ihrem zwanghaften Kategorisierer nicht erfahren hatte. Alan blickte sie überrascht an. „Hat Ihr Schwager Sie dazu inspiriert? Vermutlich besuchen Sie dann auch den Regenwaldball?" „Ich lese doch nur einige Bücher", wehrte Kit erschrocken ab. „Das heißt nicht, dass ich zu Wohltätigkeitsveranstaltungen gehe." Alan schmunzelte. „Wenn Sie das Projekt nicht unterstützen, wird es in hundert Jahren keinen Regenwald mehr geben. Sie sollten also besser als meine Begleiterin mitkommen." „Das ist Erpressung!" „Stimmt!" pflichtete er ihr fröhlich bei. „Die Veranstaltung findet am übernächsten Samstag statt. Das ist Ihr letzter Arbeitstag bei uns und die Einladung mein Abschiedsgeschenk." Sie schnitt ein Gesicht, überlegte dann jedoch, dass es eine gute Gelegenheit wäre, ihr neu gewonnenes Selbstvertrauen zu erproben. Der Buchhändler lächelte schalkhaft. „Sagen Sie: Vielen Dank, Alan, ich bin entzückt, Sie begleiten zu dürfen." „O ja, ich kann es kaum mehr erwarten." Kit bedachte Alan, der ihr knapp bis zur Schulter reichte und vor kurzem siebzig geworden war, mit einem schmelzenden Blick, den er lachend erwiderte. Tatiana nahm die Nachricht begeistert zur Kenntnis und verkündete, dass Kit für diesen Anlass unbedingt ein langes Abendkleid benötige.
„Ist das nicht ein wenig altmodisch?" wagte Kit einzuwenden. „Alan Henderson ist altmodisch", belehrte Tatiana sie. „Wir werden uns am Wochenende nach einem passenden Kleid für dich umsehen." Nach einigem Sträuben gab Kit nach. Insgeheim fand sie den Gedanken, sich ein Ballkleid zuzulegen, ziemlich aufregend. Soweit sie sich erinnern konnte, hatte sie sich bisher nur ein einziges Mal in ihrem Leben wirklich fein gemacht, und zwar in Coral Cove, als sie Tatianas kleines Schwarzes getragen hatte. Es reizte sie, herauszufinden, wie sie aussehen könnte, wenn sie sich richtig Mühe gab. Natürlich war das auch eine Preisfrage, denn ihre finanziellen Mittel waren begrenzt. Der Einkaufsbummel am darauf folgenden Sonntag wurde für Kit zu einer einzigen Qual. Tatiana schleppte ihre Mieterin von einem Laden zum nächsten und ließ sie ein Kleid nach dem anderen anprobieren. Sie scheint mich mit einer Barbiepuppe zu verwechseln, dachte Kit grimmig. Schon überlegte sie, ob sie Tatiana nach Hause bringen und die Suche allein fortsetzen sollte, da sah sie zwischen einem Stapel schwarzer Röcke etwas Blaues aufblitzen. „Was ist denn das?" „Nichts Blaues", widersprach Tatiana. „Blondinen meinen immer, Blau würde ihnen gut stehen, aber das ist ein Irrtum." Doch Kit hörte nicht auf sie, sondern zeigte erstmals an diesem Tag so etwas wie Begeisterung, als sie in dem Stapel wühlte und das schimmernde Etwas hervorzog. Es bestand aus einem schwarzen seidenen Unterkleid mit einem hauchdünnen, an manchen Stellen zerschlissenen, blauen Netzüberwurf, der mit bunten Schmetterlingen bestickt war. „Schade, es hat Risse", sagte sie enttäuscht. Tatiana stieß sie zur Seite. „Die kann man reparieren. Du hast einen besseren Blick, als ich dachte." Sie hielt Kit das Kleid an. „Ja, das nehmen wir. Endlich kommst du aus deinem Schneckenhaus heraus." Die freundliche Inhaberin der kleinen Secondhandboutique schien kaum fassen zu können, dass jemand das Kleid kaufen wollte, was Kit in ihren Zweifeln nur bestärkte. „Lassen wir es lieber sein. Es fällt ja schon fast auseinander." Doch Tatiana hörte nicht auf sie, sondern handelte den Preis auf ein Minimum herunter. „Na schön, ich habe das Kleid spottbillig bekommen", sagte Kit auf der Heimfahrt, „aber was nützt mir das, wenn ich es wegen der vielen Risse nicht anziehen kann?" Tatiana ging darauf überhaupt nicht ein, sondern lächelte nur. „Es macht nur ein wenig Arbeit. Ich werde dir zeigen, wie man eine Häkelnadel benutzt und mit winzigen Stichen näht." Das tat sie wenig später, und Kit war davon so fasziniert, dass sie mit Feuereifer ans Werk ging und in den folgenden Tagen fast ihre gesamte Freizeit mit Häkeln und Nähen verbrachte. Bis zu dem Samstag, an dem der Ball stattfand, war aus dem Kleid ein wahres Kunstwerk geworden. Tags zuvor hatte Kit auch noch die Fahrprüfung bestanden und befand sich in absoluter Siegeslaune, als sie sich nun, kurz bevor Alan sie abholte, im Spiegel betrachtete. Das Kleid war einfach geschnitten, ärmellos und hatte ein tiefes Dekollete, doch irgendwie wirkte Kit darin unglaublich zart und grazil. Sehe ich nicht aus wie eine asiatische Pfeifdrossel? überlegte Kit übermütig und ließ die Hand über den kobaltblau schimmernden Netzstoff gleiten. Sie hatte Tatiana nicht verraten, wieso sie das Kleid aus dem Stapel herausgezogen hatte. Es war ihr kleines Geheimnis genau wie Philip Hardesty. Was er wohl sagen würde, wenn er mich so sehen könnte? ging es ihr unwillkürlich durch den Kopf. Mit dem langen blonden Haar, das sie auf Tatianas Rat hin offen trug, und den geschminkten Lippen, sah sie sexy und exotisch aus und nicht mehr wie das naive Dummerchen, das er auf Coral Cove getroffen hatte. Ob er ihr auch jetzt noch widerstehen und sie zurückweisen könnte? Nun, ich werde es nie herausfinden, dachte sie und versuchte sich einzureden, dass sie darüber froh sei. Aber nichtsdestoweniger war Alans Reaktion Balsam für ihre Seele. „Hinreißend", sagte er fast ehrfürchtig. „Heute Abend werden mich alle Männer um meine
schöne Begleiterin beneiden." Und Kit, die sonst immer sofort errötete und die Flucht antrat, wenn man ihr Komplimente über ihr Aussehen machte, strahlte vor Freude. „Ich beginne zu begreifen, wie Aschenputtel sich gefühlt haben mochte. Gehen wir." Beinahe wäre Philip nicht zum Ball gegangen. Er war erst am Abend zuvor in London angekommen und wollte am nächsten Tag zu seinem Landsitz fahren. Es gab dort einiges, was er dringend erledigen musste, bevor er sich auf die Suche nach seinem Meermädchen machte. Er mietete für den folgenden Tag einen Leihwagen und rief dann alle Leute an, von denen er glaubte, dass sie ihm helfen könnten, Kit zu finden. Leider hatte er kein Glück. Lisa Romaine befand sich auf Reisen, wahrscheinlich war sie in Zürich. Ihre Schwester kannte niemand. Er schlug im Londoner Telefonbuch nach, fand jedoch keine Eintragung unter Kits Namen. Vielleicht hatte sie sich nicht registrieren lassen, aber er hielt es für wahrscheinlicher, dass sie woanders wohnte. Sein Meermädchen hatte ganz und gar nichts von einer Großstädterin an sich. Frustriert warf er das Telefonbuch zu Boden. Während er noch überlegte, wie er weiter vorgehen sollte, rief ein Freund von Soralaya an. „Sir Philip, heute Abend findet ein Ball der Regenwaldschützer statt. Die Ivanovs unterstützen diesen Verein, und wenn sie nicht verreist wären, würden sie sicher kommen. Jedenfalls werden viele Freunde und Bekannte von ihnen dort sein. Vielleicht kennt ja einer von ihnen die Adresse von Lisas Schwester. Wir haben einen Tisch reservieren lassen. Falls Sie Lust haben zu kommen, sind Sie herzlich eingeladen, sich zu uns zu setzen." Für Philip waren derartige Veranstaltungen, an denen er in New York aus beruflichen Gründen oft genug teilnehmen musste, alles andere als ein Vergnügen. Aber der Anrufer war sichtlich bemüht, ihm behilflich zu sein, und außerdem war Philip mit seinen Nachforschungen an einem toten Punkt angelangt. Deshalb sagte er am Ende zu und machte sich auf einen langweiligen Abend gefasst. Zu seinem Ärger musste er sich auch noch einen Smoking leihen, da er seinen nicht mitgebracht hatte. Als er sich kurzerhand entschlossen hatte, seine Suche nach Kit in England fortzusetzen, hatte er in Windeseile nur das Nötigste eingepackt. Ich kann von Glück sagen, wenn ich mir außer dem Smoking nicht auch noch andere Dinge besorgen muss, dachte er ironisch. Er erkannte sich kaum wieder. Normalerweise plante er alles bis ins kleinste Detail und packte seinen Koffer nach einer ausgeklügelten Checkliste. Unwillkürlich musste er lächeln. Hatte er sich etwa von Kits Spontaneität anstecken lassen? Als der erste Tanz begann, fühlte Philip sich bereits in seinen schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Er kannte keinen der Banker, an deren Tisch er saß. Sie hatten ihn herzlich willkommen geheißen, wussten jedoch nicht, worüber sie sich mit ihm unterhalten sollten. Schließlich kamen sie auf seine Arbeit zu sprechen, und Philip fühlte sich wieder einmal in die Pflicht genommen. Zwischendurch ließ er den Blick durch den Saal schweifen -und plötzlich sah er sie. Kit war hier. Ihm wurde heiß und kalt. Nie im Leben wäre er auf die Idee gekommen, dass sie hier sein könnte. Es war der letzte Ort, wo er seine scheue Nixe zu sehen erwartet hätte. Er hatte sie für frei und ungebunden gehalten, für ein Naturkind, das im Wasser herumtollte und durch Wälder streifte. Doch nun stand sie lachend inmitten einer Gruppe von juwelenbehängten und gekünstelt wirkenden Leuten. Philip konnte den Blick nicht von ihr wenden - genauso wenig wie die meisten Männer im Saal. Damit hatte er nicht gerechnet. Sie sah anders aus. Irgendwie exotisch. Noch immer sprühend vor Lebenslust, aber auch geheimnisvoll. Das war neu.
Jemand forderte sie zum Tanzen auf, und sie tanzte so selbstvergessen, wie sie damals geschwommen war. Ganz eins mit der Musik, schwebte sie über die Tanzfläche und sah in ihrem blau schimmernden Kleid so zauberhaft schön aus, dass es Philip ganz heiß wurde. Sie lachte über etwas, das ihr Partner sagte, aber gleichzeitig machte sie einen verlorenen Eindruck. Verloren und überwältigend sexy. Ohne sich dessen bewusst zu sein, stand Philip auf. „Danke", sagte seine Tischnachbarin, ihn missverstehend. „Ich tanze gern mit Ihnen." Höflich lächelnd erhob sie sich und tat so offenkundig ihre Pflicht, dass Philip unwillkürlich lachen musste. „Wunderbar", sagte er und führte sie zur Tanzfläche. „Vielleicht könnten Sie mich aufklären, wer all diese Leute hier sind." „Die meisten kenne ich ebenfalls nicht." Wie sich jedoch herausstellte, kannte sie den älteren Mann, der Kit zum Lachen gebracht hatte. „Das ist Alan Henderson. Ihm gehört eine der renommiertesten Buchhandlungen Londons. Wer die junge Frau ist, weiß ich nicht. Sie ist eine richtige Schönheit, nicht wahr?" „Ja", sagte Philip stolz. Kit hätte nie gedacht, dass ihr ein exklusiver Wohltätigkeitsball so großen Spaß machen würde. Niemand behandelte sie herablassend, wie sie befürchtet hatte, sondern alle waren nett zu ihr. Die Frauen bewunderten ihr Kleid und sagten, dass sie sie um ihr Haar beneideten. Die Männer versorgten sie mit Champagner und standen Schlange, um mit ihr zu tanzen. Sie wäre vollkommen glücklich gewesen, wenn sie nicht ständig an jenen Abend auf Coral Cove hätte denken müssen, als Philip an ihr absolut nichts bewundernswert gefunden hatte. Sonst hätte er sie ja wohl kaum zurückgewiesen. Sie glaubte zu träumen, als sie plötzlich hinter sich eine vertraute Stimme vernahm. „Darf ich bitten?" Kit wirbelte herum und sah sich Auge in Auge mit Philip Hardesty. Sein Anblick machte sie sprachlos. Er legte ihr die Hände auf die bloßen Arme. „Du siehst wundervoll aus." Es klang nicht so, als wäre er darüber froh. Inzwischen hatte Kit sich wieder etwas gefangen. „Was machst du hier?" „Dich suchen." „Wie bitte?" Er gab darauf keine Antwort, sondern sagte nur: „Tanz mit mir." Es war himmlisch, ihn wieder zu sehen. Nein, es war schrecklich. Er sah so vornehm aus im schwarzen Anzug, mit dem blütenweißen Hemd und der perfekt gebundenen Krawatte. Er strahlte eine lässige Eleganz aus, und man merkte sofort, dass er sich von Kind an in einem solchen Rahmen bewegt hatte. Wahrscheinlich konnte er schon mit sechs seine Krawatte allein binden, dachte Kit gehässig und kam sich in ihrem Kleid aus dem Secondhandladen auf einmal ziemlich schäbig vor. „Ich tanze nicht." „O doch, ich habe dich gesehen. Meinem Blutdruck ist das gar nicht gut bekommen." „Ach, du meinst mit Alan." In seinen dunklen Augen blitzte es auf. „Alan zählt nicht?" Kit errötete. „Es ist herzlos, so über jemanden zu reden." Trotzdem drückte Philips Blick so etwas wie stillen Triumph aus. „Alan zählt also nicht", sagte er und nickte zufrieden. „Du kannst es riskieren, in seinen Armen zu liegen, aber nicht in meinen." Es war keine Frage, sondern eine Feststellung, und Kits Röte vertiefte sich. „Tanz mit mir, Kit", bat er leise. Allen guten Vorsätzen zum Trotz und obwohl sie wusste, dass sie es hinterher bereuen würde, folgte sie ihm auf die Tanzfläche. Unglücklicherweise begann die Band nun auch noch, ein langsames Stück zu spielen. Hilfe! dachte Kit.
Philip legte die Arme um sie und zog sie an sich. Er hielt sie fest, aber nicht zu eng, und schmiegte die Wange an ihr Haar, während sie sich in vollkommener Harmonie zu der einschmeichelnden Musik bewegten. Er will mich, dachte Kit, aber nur, weil er gerade Zeit hat. Aber sie wollte für ihn nicht nur ein angenehmer Zeitvertreib sein. Mach dir nichts vor, ermahnte sie sich. Philip Hardesty und sie kamen aus völlig verschiedenen Welten. Sie passten nicht zueinander. „Weißt du eigentlich, wie schwer du zu finden bist?" flüsterte er, die Lippen in ihrem Haar. Sie hielt es für sicherer, darauf nicht zu antworten. Er hielt sie ein wenig von sich ab und sah ihr forschend ins Gesicht. „Hast du dich nicht gefragt, weshalb ich mich nicht bei dir gemeldet habe?" „Nein", log sie tapfer. „Ich wusste so wenig über dich. Und deine Schwester und dein Schwager, die mir als Einzige hätten weiterhelfen können, scheinen ständig in der Welt herumzugondeln." „Du hast mit Lisa Verbindung aufgenommen?" fragte Kit, die sich Lisa gegenüber schuldig fühlte, da diese sich ihretwegen mit Nikolai gestritten hatte. Philip schüttelte den Kopf. „Nicht mehr, seit sie sich in Coral Cove geweigert hat, mir deine Adresse zu geben. Sie scheint momentan durch Europa zu rasen. Jedes Mal, wenn ich dachte, ich hätte sie endlich erwischt, war sie schon wieder abgereist. Das war ziemlich frustrierend." „Wie auch immer, sie hätte dir sowieso nicht meine Adresse gegeben, ohne mich vorher zu fragen. Und ich hätte sie gebeten …“ „Ja?" „Dir nichts zu verraten", sagte Kit so entschieden, als müsste sie nicht nur ihn, sondern auch sich überzeugen. Leise lachend zog Philip sie an sich. „Bestimmt hättest du das getan." Sie lehnte sich in seinen Armen zurück und musterte ihn mit gerunzelter Stirn. „Du bist dir deiner sehr sicher, nicht wahr?" Er schüttelte den Kopf. „Ganz und gar nicht. Aber ich weiß, dass zwischen uns etwas Besonderes ist." Er machte eine kleine Pause, ehe er hinzufügte: „Und ich glaube, du weißt es auch." Kit schluckte trocken. „Hör auf, mir Honig um den Mund zu schmieren. Ich habe dir gesagt..." „Dass ich dir gegenüber niemals mehr das Wort ,Liebe' benutzen soll", ergänzte er ruhig und verstärkte den Druck seiner Arme. „Wie möchtest du, dass ich es ausdrücken soll?" Kit schoss das Blut ins Gesicht. Verstohlen blickte sie sich um, doch niemand schien sie beide zu beachten. „Mir ist diese ganze Unterhaltung hier unangenehm." „Verstehe." Philip ließ die Arme sinken, und ehe Kit wusste, wie ihr geschah, hatte er sie an der Hand gefasst und von der Tanzfläche gezogen. „Wo willst du hin?" fragte sie verwirrt. „An einen Ort, wo wir unter vier Augen miteinander reden können." Er zog sie ins Foyer. Als sie an einem gerade offen stehenden Aufzug vorbeikamen, schob er sie hinein und drückte auf „Untergeschoss". „So", sagte er, „hier sind wir ungestört, von den Überwachungskameras einmal abgesehen." Der Aufzug hielt im Untergeschoss. Geräuschlos gingen die Türen auf. Philip drückte auf eine Taste, um sie wieder zu schließen und den Aufzug zu blockieren. „Ein weiterer Trick, den mir die Truppe meines Vaters beigebracht hat", erklärte er mit einem jungenhaften Lächeln. „Nun, wo war ich stehen geblieben?" „Hör zu, du kannst mich nicht einfach von meinen Freunden wegschleppen!" empörte sich Kit. Er ging darauf nicht ein. „Zwischen uns war etwas Besonderes", wiederholte er fast beschwörend. „Zugegeben, der Zeitpunkt unseres Kennenlernens war denkbar ungünstig, und wahrscheinlich habe ich vieles falsch gemacht, aber du kannst nicht leugnen, dass wir
uns zueinander hingezogen fühlten." Kits Herz klopfte wie wild. Damit Philip nicht merkte, wie aufgeregt sie war, wandte sie sich ab und blickte ungeduldig zur Tür. „Was für ein Unsinn! Du willst doch nicht ernsthaft behaupten, du seist in mich verliebt?" „Das behaupte ich ja nicht." Seine Bemerkung bestätigte Kit in ihrem Verdacht, dass er sich nur mit ihr amüsieren wollte. „Nun, dann ..." Sie streckte die Hand nach der Schalttafel aus. Irgendwo musste ja eine Taste sein, mit der man die Türen öffnen konnte. Philip hielt ihre Hand fest und zwang Kit, ihm ins Gesicht zu sehen. „Ich weiß nicht, wie es ist, verliebt zu sein." Was für eine unglaubliche Arroganz! dachte Kit wütend. „Na wunderbar! Einfach großartig! Erwartest du etwa von mir, dass ich dir Intensivunterricht erteile?" In seinen Augen war Bestürzung zu lesen, die sich jedoch schnell in Belustigung verwandelte. „Daran hatte ich zwar nicht gedacht, aber die Vorstellung gefällt mir." Kit bebte vor Zorn. „Vergiss es!" Sie versuchte, ihm ihre Hand zu entziehen, doch er hielt sie mit eisernem Griff fest. „Lass mich los!" rief Kit. Er reagierte nicht darauf. „Was ich sagen wollte, war, dass das alles neu für mich ist. Ich habe so etwas noch nie empfunden." Philip versuchte sie mit seinem berühmten Lächeln zu besänftigen. Es mochte auf Diktatoren und Guerillaführer wirken, aber Kit Romaine schien dagegen immun zu sein. „Glaub nicht, du könntest mich hier ebenso behandeln wie auf Coral Cove", sagte sie mit nur mühsam unterdrückter Wut. Es gelang ihr, sich aus seinem Griff zu befreien. Sie lief hinaus ins Untergeschoss und merkte, dass sie sich in einer Tiefgarage befand. Ihre Absätze klapperten laut auf dem Betonboden, als sie zum Notausgang rannte. Noch bevor sie die Tür öffnen konnte, hatte Philip sie wieder eingeholt. Immerhin war ihm das Lächeln vergangen, und sein sonst so makellos gekämmtes schwarzes Haar war leicht zerzaust. Sogar seine Krawatte schien etwas verrutscht zu sein, wie Kit mit einer gewissen Genugtuung feststellte. „Kit, bitte hör mir zu." Seine Stimme klang nun gar nicht mehr gelassen, sondern geradezu flehentlich. „Ich fahre morgen aufs Land. Komm mit. Rede mit mir. Wir können doch nicht einfach …“ „Sag du mir nicht, was ich zu tun und lassen habe!" unterbrach sie ihn. Noch während sie das sagte, schien sich ohne jede Vorwarnung ein schwarzer Vorhang über sein linkes Auge zu senken. Philip tastete mit einer Hand nach der Wand. „Ich habe mit dir geredet", fuhr Kit fort, „während du dich in Schweigen gehüllt hast. Sir Philip, der große Friedensstifter, hat sich mir nicht zu erkennen gegeben, sondern ..." Sie verstummte unvermittelt. „Was hast du?" fragte sie mit völlig veränderter Stimme. Er stützte sich mit einer Hand gegen die Wand und schüttelte benommen den Kopf. „Ich ..." „Bist du verletzt?" fragte sie besorgt, als er sich über die Stirn fuhr. „Nein, es ist nichts." Er versuchte, sich zusammenzureißen, doch ihr entging nicht, dass ihn etwas schwer erschüttert hatte. Sie legte ihm die Hand auf den Arm. „Hör mal, ich wollte dich nicht..." Als er sich ihr zuwandte, um sie anzusehen, drehte er sich ganz zu ihr um. Es war eine ungewohnt plumpe Bewegung für jemanden wie Philip Hardesty, der selbst dann noch eine eiserne Körperbeherrschung zeigte, wenn er sich nachts plötzlich mehreren Freiheitskämpfern gegenübersah. Nur ein einziges Mal hatte Kit bisher erlebt, dass er eine unbedachte Bewegung gemacht hatte, und zwar bei dem kleinen Empfang in Coral Cove, als er beim Abstellen seines Glases beinahe die Tischkante verfehlt hätte. Sie berührte mit der Hand seine Wange und zwang ihn mit sanfter Gewalt, sie anzusehen. Der Ausdruck absoluter Kontrolle war aus seinem Gesicht verschwunden, und es wirkte auf einmal verletzlich. „Du kannst nicht sehen!" sagte Kit.
7. KAPITEL
Philip brach in Gelächter aus. „Weißt du, dass du er erste Mensch bist, der das feststellt? Es passiert mir seit Monaten immer wieder. Doch keiner hat es bisher bemerkt. Ich bin ständig von Leuten umgeben, aber niemandem ist aufgefallen, dass ich Schwierigkeiten mit einem Auge habe." „Wie schlimm ist es?" fragte Kit. Er zuckte schweigend die Schultern. „Na gut, wir werden darüber reden. Aber nicht hier unten. Wir fahren nach oben und unterhalten uns bei einer Tasse Kaffee." Sehr begeistert klingt das nicht, dachte Philip trocken. Aber wenigstens rannte sie nicht schreiend davon und schwor, ihn nie mehr wieder sehen zu wollen. Er fühlte sich noch leicht angeschlagen, doch als sich auf der Fahrt nach oben seine Sehkraft wieder einstellte, kam ihm eine Idee. Kit hatte sich ihm gegenüber besorgt gezeigt. Zugegeben, ihr Mitgefühl hatte sich in Grenzen gehalten, doch er war Pragmatiker und für jeden Beweis ihrer Zuneigung dankbar. Vielleicht sollte er ganz dezent seine Sehstörung ins Spiel bringen, um Kit milder zu stimmen? Gratuliere, dachte Philip selbstironisch. Seit er denken konnte, hatte er stets alles unter Kontrolle gehabt, und nun zwang ihn dieses unnachgiebige Mädchen, sich hilfsbedürftig zu geben. Das war etwas ganz Neues für ihn. Sie kehrten nicht in den Ballsaal zurück, sondern setzten sich in die Hotelbar, wo ein ständiges Kommen und Gehen herrschte und es nicht anonymer hätte sein können. „Erzähl", befahl Kit, nachdem der Kellner ihnen den Kaffee gebracht hatte. Philip zögerte. Dann zuckte er die Schultern und lieferte ihr einen gekürzten Bericht über seinen Besuch beim Augenarzt. „Nicht sehr interessant", meinte er abschließend. „Man kann nichts dagegen tun." Dass der Arzt ihm geraten hatte, etwas weniger zu arbeiten, verschwieg er wohlweislich. Sie musterte ihn scharf. „Ist das wahr?" Philip unterdrückte ein Lächeln. „Niemand, den ich kenne, hätte es gewagt, mich das zu fragen." „Wieso nicht? Hast du sie schon alle von dir abhängig gemacht?" „Gut möglich", antwortete er keineswegs beleidigt. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und beobachtete Kits ausdrucksvolles Mienenspiel. Er hatte sie noch nie geschminkt gesehen. Mit dem aufreizend roten Mund sah sie älter aus, energischer. Vielleicht hatte sie sich seit Coral Cove ja auch verändert. Sie musste den Schreck ihres Lebens bekommen haben, als an jenem Abend Rafek und seine Männer aufgetaucht waren. Ein solches Schlüsselerlebnis konnte durchaus eine Veränderung bei einem Menschen bewirken. „Du willst also den Rat anderer nicht annehmen", stellte sie fest. „Niemand hat mir einen angeboten." Kit stieß einen unwilligen Laut aus. „Hast du jemanden darum gebeten?" Es faszinierte ihn, wie ihre Augenfarbe je nach Stimmung von Jadegrün über Türkis bis hin zu Smaragdgrün wechselte. Er beugte sich vor. „Ich glaube, du hast keine Ahnung, wie mein Leben aussieht. Achtzig Prozent meiner Zeit bin ich beruflich unterwegs. Wenn ich Glück habe, sehe ich meine Freunde zweimal im Jahr. Ich lebe allein. Wen soll ich da um Rat bitten? Meinen Assistenten? Den Hausmeister des Gebäudes, in dem ich wohne?" Kit war entsetzt von dem schwarzen Bild, das er von sich malte. Schon begann er, ihr Leid zu tun, doch dann fiel ihr ein, was sie über ihn und die schöne Soralaya Khan gelesen hatte. Er versucht schon wieder, mich zu manipulieren und mein Mitleid zu wecken, dachte sie. „Sicher gibt es da auch noch die eine oder andere Freundin", meinte sie ironisch. „Oh, Freundinnen", sagte Philip in einem Tonfall, der auch für „Oh, Schokoladentrüffeln" gepasst hätte.
Kit stand auf, und ihr blaues Kleid changierte in allen möglichen Blautönen. Ganz Kavalier alter Schule, erhob auch Philip sich. Wie groß er war, und wie unglaublich attraktiv er aussah mit dem pechschwarzen Haar und dem klassischen Profil! Kit wich seinem fragenden Blick aus. „Wende dich an eine deiner Freundinnen", schlug sie kühl vor. „Du könntest ja mal versuchen, sie respektvoll zu behandeln und ihren Rat zu beherzigen." Dann eilte sie davon, ohne sich noch einmal nach ihm umzudrehen. Fassungslos blickte Philip ihr nach. Seine Taktik war fehlgeschlagen. Weder seine Sehstörung noch die Andeutung, dass er einsam sei, hatten bei Kit die gewünschte Wirkung erzielt. Sie war einfach gegangen. Das empfand er als herbe Niederlage. Was hatte sie damit gemeint, dass er mal versuchen könne, eine Freundin respektvoll zu behandeln? Er behandelte jede Frau mit Respekt und überhaupt... Jäh hielt er in seinen Gedanken inne. Dieses Mädchen ging ihm wirklich unter die Haut. Noch nie hatte eine Frau ihn derart wütend gemacht. Seine kleine Nixe war nicht ohne Waffen, und sie wusste sie zu gebrauchen. Kit hatte sich von Alan, der sie nach Hause gebracht hatte, verabschiedet, Tatiana einen um wesentliche Details gekürzten Bericht geliefert und war nun allein in ihrer Wohnung. Sie ging zum Spiegel und betrachtete ihr Gesicht. Wieso war ihr noch nie aufgefallen, dass sie einen sehr sinnlichen Mund hatte? Und ihre Augen leuchteten. Voller Leben. Ja, so sah sie aus. Philip hatte nach ihr gesucht. Insgeheim hatte sie gehofft, dass er es tun würde, sich aber gleichzeitig vor einem Wiedersehen gefürchtet. Sie hatte sich nach ihm gesehnt und sich dessen geschämt. Und als er sie schließlich gefunden hatte, war sie erneut vor ihm geflüchtet. Ich muss nicht ganz bei Trost gewesen sein, dachte Kit reumütig. Sie seufzte. Flucht war keine Lösung. Sie musste Philip finden und sich mit ihm aussprechen. Er hatte Recht, zwischen ihnen bestand eine besondere Anziehungskraft. Sie hatte es zu verdrängen versucht, aber nun musste sie eine Entscheidung treffen. Sie konnte den auf Coral Cove begonnenen Weg zu Ende gehen. Oder sie riskierte nichts, würde sich dann aber lebenslang mit der Frage herumquälen, was geworden wäre, hätte sie sich nicht feige zurück gezogen. „Na schön", sagte Kit zu ihrem Spiegelbild, „du hast gewonnen." Als sie jedoch am nächsten Morgen vor Philips Hotel stand, wäre sie am liebsten wieder umgekehrt. War ihr der Veranstaltungsort des Regenwaldschützer-Balls schon äußerst vornehm erschienen, so hielt er doch keinen Vergleich aus mit diesem in einer der ex klusivsten Gegenden Londons gelegenen Herrenhaus, das von außen wie ein Privatgebäude aussah. Dass Philip hier abgestiegen war, hatte Alan für sie herausgefunden. Es erforderte Kits ganzen Mut, die kunstvoll geschnitzte Eingangstür zu öffnen. Dahinter befand sich eine holzgetäfelte Halle mit bequemen Sitzgruppen in Leder und Chintz. An den Wänden hingen Bilder mit Jagdszenen und viktorianische Porträts. Eingeschüchtert blieb Kit an der Tür stehen und versuchte herauszufinden, an welchem der auf Hochglanz polierten Tische sich die Rezeption befand. Obwohl ihre schwarze Hose und die braune Lederjacke zu den besten Stücken in ihrer Garderobe zählten, kam sie sich in dieser vornehmen Umgebung hoffnungslos deplatziert vor. Ein Hotelangestellter erbarmte sich ihrer. „Kann ich Ihnen helfen, Miss?" „Ich würde gern mit Mr. Hardesty sprechen." Zum Glück war ihrer Stimme nicht anzuhören, wie aufgeregt Kit war. „Sir Philip?" fragte der Hotelangestellte. Sir! Natürlich! Das hatte sie ganz vergessen. Sie nickte. „Lassen Sie mich kurz nachsehen, ob er bei uns wohnt", sagte der Mann höflich. „Wie ist Ihr Name, Miss?"
Sie sagte es ihm, und er verließ daraufhin die Halle. Vermutlich, um den verehrten Gast zu fragen, ob er geneigt sei, mit dem schäbig gekleideten Individuum zu reden, das ihn sprechen wollte. Kit ging zum Kamin und hielt die Hände über das knisternde Feuer. Aber es konnte die Kälte, die sie am ganzen Körper spürte, nicht vertreiben. Plötzlich hörte sie hinter sich eine vertraute Stimme ungläubig fragen: „Kit?" Und auf einmal wurde ihr nicht nur warm, sondern heiß. Philip nahm ihre Hand, die sie ihm nicht entzog. Er sah sich in der gemütlich eingerichteten Halle um. „Hier können wir nicht reden. Und ich möchte dir auch nicht zumuten, mit mir auf mein Zimmer zu kommen. Was hältst du von einem Spaziergang?" „Das ist mir recht", antwortete sie. Hoffentlich merkte er nicht, wie aufgeregt sie war. Er führte sie an imposanten Gebäuden vorbei zum nahe gelegenen St.-James-Park. Es war ein sonniger Frühlingstag, und an den Bäumen zeigten sich die ersten grünen Blätter. Auf der über den See führenden Brücke sah man zwischen den Weiden die Turmspitzen von Whitehall hervorlugen. „Es ist herrlich hier", platzte Kit unfreiwillig heraus. „Ja, ich mag diesen Park auch sehr gern", stimmte Philip ihr zu. „Und nun leg los." Kit gab nicht vor, ihn nicht zu verstehen. Zögernd sagte sie: „Ich wünschte, ich hätte dir gestern Abend nicht all diese Dinge an den Kopf geworfen." „Ach ja?" „Nicht, dass das, was ich gesagt habe, falsch war", beeilte sie sich hinzuzufügen. „Aber es gab Wichtigeres zu besprechen. Ich hätte nicht einfach gehen dürfen." Er nickte schweigend. „Nun sag schon was", forderte sie ihn auf. „Ich überlege noch." „Genau das ist das Problem!" rief Kit. „Wenn du anfängst zu überlegen, endet es immer damit, dass du mich zu manipulieren versuchst!" Unwillkürlich musste Philip an seine taktischen Manöver vom vergangenen Abend denken und schämte sich dafür. „Wieso sagst du nicht einfach, was du denkst?" fragte Kit frustriert, da er noch immer schwieg. „Ich finde dieses ständige Abwägen und Taktieren unerträglich. Es ist unmenschlich." Er atmete tief durch. „Na schön, fahr mit mir nach Hause." „Wie bitte?" Er lachte. „Ich habe ohne Umschweife gesagt, was ich möchte. Es scheint dir aber nicht zu gefallen." Nachdenklich blickte Kit ihn von der Seite an. „Du möchtest, dass ich mit dir mitkomme?" fragte sie. „Warum?" Er hob die Hände. „Damit wir zusammen sind und miteinander reden. Ich muss dringend nach Hause. Es gibt viel zu tun, und ich war seit Monaten nicht mehr dort. Es wäre die ideale Gelegenheit, dir zu zeigen, wer ich bin und ..." Er sprach nicht weiter, sondern schlug sich mit der Faust in die andere Hand. Es war eine völlig uncharakteristische Geste für ihn. „Vergiss es. Warum solltest du mit einem alten Langweiler wie mir mitkommen wollen?" „Fährst du mit dem Auto?" „Wie?" Ihre Frage brachte ihn aus dem Konzept, und es dauerte einen Moment, bis er verstand, was sie meinte. „Ach so, ja. Ich habe einen Leihwagen gemietet." „Und was machst du, wenn unterwegs dein linkes Auge streikt?" Daran hatte er nicht gedacht. Wie es schien, hatten sich seine Gedanken seit Tagen nur noch um Kit gedreht. „O verdammt!" „Du brauchst jemanden, der dich notfalls am Steuer ablösen kann", sagte sie kühl. Verblüfft sah er sie an. Sie lächelte, da ihr bewusst wurde, dass sie plötzlich gar nicht mehr nervös war. „Ich komme nicht als deine Ersatzgeliebte mit", stellte sie klar. „Kit!"
„Nur als deine Beifahrerin und vorübergehende Assistentin. Dazu bedarf es eines entsprechenden Vertrages mit meiner Arbeitgeberin. Und du wirst gefälligst die Hände von mir lassen. Aber wir werden reden." Einen Moment lang sah Philip sie schweigend an, dann blitzte in seinen Augen ein Funke auf. „Du stellst ja harte Forderungen." Sie straffte die Schultern. „Niemand zwingt dich, auf sie einzugehen." „Natürlich werde ich sie akzeptieren", sagte er schnell. „Glaub mir, ich bin mit allem einverstanden, wenn du nur mitkommst." Am Montagmorgen füllte eine sichtlich amüsierte Helen Ludwig den Vertrag aus und schob ihn über den Schreibtisch zu Philip, der ihn, ohne ihn zu lesen, unterschrieb. Dann sah er mit einem Ausdruck zärtlicher Belustigung Kit an. „Zufrieden?" „Ja, nun habe ich zumindest etwas in der Hand." Insgeheim war sie sehr stolz auf sich. Sie war nicht länger Miss Überempfindlich, die man so leicht verletzen konnte, sondern sie hatte sich ihm gegenüber behauptet. Es wurde eine lange Fahrt. Er bot ihr an, das Steuer zu übernehmen, aber sie lehnte dankend ab, ohne allerdings zu erwähnen, dass sie erst seit einigen Tagen ihren Führerschein besaß. Sie wusste, dass sie eine gute Fahrerin war, es fehlte ihr jedoch die nötige Praxis, um bei einem Beifahrer nicht nervös zu werden, der seit Monten durch ihre Träume geisterte. Sie wollte ihren ersten Unfall nicht unbedingt mit einem Leihwagen verursachen. „Wie bist du eigentlich zu deiner Berufung als Friedensvermittler gekommen?" wollte sie wissen. „Per Zufall. Mich in den Dienst der Uno zu stellen war ein Kompromiss. In unserer Familie war es Tradition, zur Armee zu gehen. Mein Vater wollte, dass ich wie er Soldat werde, aber Mom hasste diesen Beruf. Sie lebte immer in schrecklicher Angst, wenn Dad an gefährlichen Unternehmungen teilnahm. War er dann wieder zu Hause, wartete sie voller Angst auf seinen nächsten Einsatz. „Das muss ja eine großartige Ehe gewesen sein", meinte Kit trocken. „Sie hatte auch ihre guten Momente." „Sind die beiden noch zusammen?" „Sie sind vor fünf Jahren tödlich verunglückt", antwortete Philip. „Seither geht es mit Ashbarrow bergab. Ich hatte nicht damit gerechnet, den Besitz so früh übernehmen zu müssen. Und mir fehlt die Zeit, mich eingehend damit zu befassen." Er hörte sich so nüchtern an, dass Kit zögerte, ehe sie fragte: „Vermisst du deine Eltern noch?" Er warf ihr überrascht einen Seitenblick zu. „Ich war nie sehr lange mit ihnen zusammen. Als ich klein war, war mein Vater als Militärattache an verschiedenen Botschaften im Ausland tätig. Meine Mutter hat ihn begleitet, und ich bin eigentlich bei meinen Großeltern aufgewachsen. Mein Großvater sagte immer, ich solle meine Eltern nicht zu sehr beanspruchen. Sie hätten höhere Pflichten zu erfüllen. Mein Großvater war Monarchist und sehr pflichtbewusst." Ein Lächeln huschte über Philips Gesicht. Er zeigt keine Spur von Verbitterung, dachte Kit verwundert. „Klingt ziemlich erbarmungslos." „Findest du?" fragte er erstaunt. „Aber ich hatte so viele Privilegien. Deshalb habe ich auch das Gefühl, anderen etwas schuldig zu sein." „Aber du musst ihnen nicht dein ganzes Leben opfern", widersprach sie und hätte ihn am liebsten mütterlich in die Arme genommen. Was für ein unsinniger Gedanke! „Nein", gab er ihr reumütig Recht. „Niemand hat von mir verlangt, dass ich nur noch für meinen Beruf lebe. Ich fürchte, ich tue es aus reiner Eitelkeit. Ich möchte überall der Beste sein." Das bezweifelte Kit keinen Augenblick. „Verstehe." Er musterte sie kurz von der Seite. „Ich habe mein Privatleben immer mehr eingeschränkt.
Man nennt so etwas Verdrängung." Nur zu gern hätte Kit gewusst, ob dies auch für Soralaya Khan galt, aber lieber hätte sie sich die Zunge abgebissen, als ihn das zu fragen. „Und mein Skeptizismus auf beruflichem Gebiet ist für Beziehungen im Privatbereich auch nicht gerade förderlich." „Wie soll ich das verstehen?" fragte Kit. „Es ist mein Job, Wogen zu glätten und Leute zu beschwichtigen, aber niemals selbst verärgert zu sein. Ich muss also meine Gefühle immer unter Kontrolle halten, was privat eine Katastrophe ist." Kit glaubte sich verhört zu haben. „Du wirst niemals zornig?" Er zuckte gleichmütig die Schultern. „Das kann ich mir nicht leisten. Abgesehen davon, könnte das den letzten Ausschlag geben, falls es jemand auf mich abgesehen hat." Entsetzt sah Kit ihn an. „Dann bist du ja ständig in Gefahr?" „Sagen wir, man könnte andere mit mir zu erpressen versuchen", sagte er ruhig. Es kam ihm völlig unwirklich vor, dass er, während er den Wagen durch das frühlingshafte England lenkte, mit Kit so selbstverständlich über Dinge redete, die er sich bisher selbst kaum eingestanden hatte. Ihr Herz zog sich vor Mitleid zusammen, aber gleichzeitig war sie auch wütend. „Wie kannst du dabei so gelassen bleiben?" „Ich glaube nicht, dass ich mir ernsthaft Sorgen machen muss, aber ich bin gern auf alles vorbereitet. Dummerweise war ich es nicht bei unserem Spaziergang zum Wasserfall. Ich hätte vorher meinem Leibwächter Bescheid sagen müssen." Kit schwieg, Schließlich sagte sie: „Machst du dir etwa Vorwürfe, weil dieser Soundso plötzlich aufgetaucht ist?" „Ich hätte dich nicht in Gefahr bringen dürfen." Nachdenklich blickte sie ihn an. „Heißt das, du musst dich jedes Mal, bevor du etwas unternimmst, mit deinem Sicherheitsbeamten, oder wie immer man solche Leute nennt, absprechen?" „Wenn ich in einer bestimmten Mission unterwegs bin, wird das von mir erwartet." „Und wenn nicht?" „Dann hinterlasse ich, wo ich zu erreichen bin." Sie schnitt ein Gesicht. „Das klingt ja grauenhaft." „Es schränkt sicher die Möglichkeiten ein, enge persönliche Bindungen einzugehen", sagte er vorsichtig. Aus den Augenwinkeln studierte sie sein markantes Profil. „Soll das eine versteckte Warnung sein?" Er gab keine Antwort. „Etwa: Verlieb dich nicht in mich, ich kann mich nicht binden?" „Ich wollte nur Missverständnissen vorbeugen", sagte er ruhig. „Das möchte ich auch." Kit kochte vor Wut. „Weshalb ich mitgekommen bin, steht im Vertrag. Ist das klar?" „Natürlich", sagte er reserviert. Sie drehte sich auf ihrem Sitz herum und sah Philip mit zornig funkelnden Augen an. „Und wenn du mehr von mir willst", sagte sie entschieden, „dann musst du dich gewaltig anstrengen, um mich zu überzeugen." Seine Miene hellte sich auf, und er lächelte. „Einverstanden."
8. KAPITEL
Philip begann seinen Werbefeldzug, falls es einer war, sobald Ashbarrow in Sicht kam. Kit sah das Schild. Die Straße wurde enger, dann hielt er auf einem Hügel den Wagen an, und sie blickten auf ein ihnen bislang verborgen gewesenes Tal hinunter. Kit stockte der Atem. Das Haus war teils Schloss, teils elisabethanisches Herrenhaus. Es lag inmitten eines Sees und glitzerte in der Frühlingssonne, als wäre es innen hell erleuchtet. Der Schlossteil bestand aus massivem hellgrauem Stein, während die rotbraune Ziegelfassade des Herrenhausflügels mit dunklen Holzbalken verziert war und bleiverglaste Fenster hatte. Enten schwammen auf dem See, dessen Ufer mit Weiden bewachsen waren. Dazwischen blühten Schwertlilien, und die Wiese rings um das Schloss war mit Gänseblümchen übersät. Eine solche Idylle sah man sonst nur noch auf Ansichtskarten. „Wie konntest du dieses herrliche Fleckchen Erde jemals verlassen?" Philip sah Kit erstaunt an. In ihren grünen Augen schimmerten Tränen. „He", sagte er sanft, „es ist doch nur ein altes Gemäuer." Er konnte der Versuchung nicht widerstehen, den Arm um sie zu legen. „Aber es ist dein Zuhause." Kit war erschüttert. „Hast du nicht zu viel aufgegeben? Abgesehen davon, dass du ständig unterwegs bist und keine Zeit für Freundschaften hast, hast du dich selbst aus dem Paradies vertrieben." Eine weiche blonde Locke berührte Philips Lippen. Genießerisch atmete er Kits frischen Duft ein. „Vielleicht habe ich das", sagte er. Beide sprachen nicht, als er langsam hinunter zum See fuhr. Dort angekommen, stieg Kit sofort aus. Ihr war seltsam weinerlich zu Mute. Sie musste aufpassen, sich von dieser emotionsgeladenen Atmosphäre nicht mitreißen zu lassen. Deshalb wartete sie auch nicht, bis Philip ihr die Beifahrertür aufhielt. „So", sagte sie betont energisch, „was soll ich jetzt tun?" Ihr Tatendrang schien ihn zu amüsieren. „Dich eingewöhnen", schlug er vor. „Ich bin hier, um zu arbeiten, vergiss das nicht. Soll ich erst einmal die Betten beziehen? Oder uns etwas kochen?" Seine dunklen Augen funkelten belustigt. „Das wird schon alles meine Haushälterin erledigt haben." Kit bemühte sich, die Neuigkeit mit Fassung zu tragen. Wieso hatte sie angenommen, es gäbe hier kein Personal? Wahrscheinlich würde es ihr hier nicht anders ergehen als auf dem Familienschloss ihres Schwagers in Frankreich. Da ihr der nötige gesellschaftliche Schliff fehlte, war sie dort ständig unangenehm aufgefallen. „Ich möchte dich vorwarnen", sagte sie und versuchte, möglichst sachlich zu klingen, „ich bin für einen solchen Ort nicht vornehm genug." Philip, der die auf dem Tisch in der Halle liegende Post durchsah, blickte hoch. „Was, zum Teufel, meinst du damit?" Sie ging nur indirekt auf seine Frage ein. „Offenbar gibt es für mich gar nichts zu tun. Was soll ich also hier?" „Mich beraten", erwiderte er und fügte mit jungenhaftem Lächeln hinzu: „Und mir Gelegenheit geben, dir zu beweisen, was für ein netter Mensch ich bin." Verlegen errötete sie. Er lachte, doch in seinen Augen blitzte Verlangen auf. Kit erschauerte. In nächsten Augenblick wurde eine große Tür geöffnet, und die Haushälterin erschien. Sie war keineswegs der schmallippige Hausdrachen, den Kit nach ihren schlechten Erfahrungen auf dem französischen Schloss erwartet hatte, sondern eine hübsche, junge Frau. Sie trug Jeans und ein rotes Sweatshirt und begrüßte ihren Arbeitgeber ganz locker. „Hi, Phil. Ich habe ein Auto gehört und dachte, dass du es bist." „Hallo, Sandy. Das ist Kit." Die Haushälterin zog einen gelben Gummihandschuh aus und schüttelte Kit begeistert die
Hand. „Freut mich, Sie kennen zu lernen. Ich hoffe, es gefällt Ihnen hier. Ich habe das Königinnenzimmer hergerichtet, wie du gesagt hast, Phil. Aber die Sprungfedern in dem alten Bett sind schon ziemlich abgenutzt. Es ist ein schönes Bett, nur weiß ich nicht, ob Sie darin schlafen können", erklärte sie Kit freimütig. Darauf gab es viele Antworten, und jede würde mehr oder weniger zweideutig klingen. Deshalb schwieg Kit lieber. Sie wagte Philip nicht anzusehen, als er ganz unbefangen sagte: „Wir werden sehen." Er nahm sie an der Hand. „Ich zeige dir erst einmal dein Zimmer." Sie ging mit ihm mit und versuchte so auszusehen, als würde sie jeden Tag an der Hand eines gut aussehenden Aristokraten durch dessen Schloss wandeln. Sobald sie jedoch das Königinnenzimmer betrat, vergaß sie vor lauter Staunen alles andere. Den meisten Platz im Raum nahm ein riesiges Himmelbett ein, um dessen Baldachin grüne Samtvorhänge drapiert waren. Am meisten faszinierte Kit jedoch die golden glänzende Bettdecke. „Sie ist mit Goldfäden durchwirkt", erklärte Philip. „Sieht wundervoll aus, kratzt aber höllisch." Vorsichtig ließ Kit die Hand über die Decke gleiten, als befürchtete sie, das kostbare Stück würde sich bei der leichtesten Berührung in Luft auflösen. „Weißt du", sagte Philip betont locker, „dass ich schon bei unserem ersten Zusammentreffen dachte, du seist wie geschaffen für dieses Zimmer?" Verwirrt sah sie ihn an. „Aber jetzt sehe ich, dass ich mich geirrt habe." Kit war entsetzt, wie sehr seine Bemerkung sie verletzte. Sie wandte sich ab und sagte schroff: „Ich habe dir ja gesagt, dass ich nicht hierher passe." „Ich wollte dich auf dieser Decke liegen sehen", fuhr er unbeirrt fort, „aber das kommt nicht infrage. Du müsstest deine Kleidung anbehalten, um nicht völlig zerkratzt zu werden." „Oh!" „Falls ich dich jedoch überreden kann, mit mir ins Bett zu gehen", sagte er, und seine Stimme klang auf einmal ganz heiser, „dann wirst du das mit Sicherheit nicht angezogen tun." In ungläubigem Staunen hatte Kit ihm zugehört. Ihr Herz jubelte, doch gleichzeitig meldete sich ihr Gewissen. Sie musste fair zu Philip sein und ihm sagen, worauf er sich einließ, wenn er mit ihr eine Beziehung begann. „Nun sag etwas", drängte er, den Blick auf ihre Lippen gerichtet. „Und sei es auch nur: .Träum weiter'!" Sie schluckte. „Das wollte ich nicht sagen, sondern ..." „Dass ich dich noch nicht überzeugt habe?" „Nein, das hast du noch nicht", bestätigte Kit, die sich nun schon wieder etwas mutiger fühlte, „aber eigentlich wollte ich sagen ..." „Dass du Vorurteile gegen Haushälterinnen hast? Keine Angst, Sandy geht um fünf Uhr nach Hause." „Hör auf, mich ständig zu unterbrechen", fuhr sie ihn verärgert an. „Ich habe dir schon einmal gesagt, dass ich das nicht mag." Er machte ein zerknirschtes Gesicht und hob beschwichtigend die Hände. Kit musste sich zusammenreißen, um sich auf das zu konzentrieren, was sie sagen wollte. „Sieh mal, du kennst mich nicht so gut, wie du vielleicht glaubst. Es gibt da etwas, das du unbedingt wissen solltest." „Du bist verheiratet und Mutter von vier Kindern?" In seinen Augen blitzte Belustigung auf. „Nein, natürlich nicht." „Mit allem anderen werde ich fertig", erklärte er selbstbewusst. „Mag sein", sagte Kit lächelnd. „Aber lass mich dir erst einmal alles erzählen." „Na gut." Er hielt ihr die Hand hin. „Während ich dir mein Schloss zeige, kannst du mir
die schreckliche Wahrheit über dich gestehen." Es fiel Kit schwer, einen Anfang zu finden. Sie hatte schon so lange nicht mehr darüber gesprochen, dass sie erst wieder nach den richtigen Worten suchen musste. Und für manches hatte sie gar keins, weil sie darüber noch mit niemandem geredet hatte. Schließlich blieb sie einfach vor einem Bild stehen und blickte starr darauf, ohne etwas zu sehen. „Das Einhorn", sagte Philip erfreut. „Gefällt es dir?" Sie nickte geistesabwesend. „Ich weiß", sagte sie zu dem fröhlich über die Frühlingswiese springenden Tier, „du denkst, ich sei jung, unschuldig und sensibel." „Und verdammt sexy. Vergiss das nicht." „Danke." Noch immer wagte sie nicht, ihn anzusehen. „Aber ich bin nicht so unschuldig, wie du glaubst, sondern habe schon einiges hinter mir." „Du bist eine erwachsene Frau. Da ist es normal, sexuelle Erfahrungen ..." „Darum geht es nicht!" Sie fuhr herum und blickte ihn an. „Ich war als Kind magersüchtig. Mit Lisas tatkräftiger Hilfe konnte ich es überwinden, doch als dann das mit Johnny passierte ... nun ja, da wurde ich rückfällig. Ich hasste mich dafür, konnte meinen Anblick im Spiegel nicht mehr ertragen und wollte auch nicht, dass andere Menschen mich ansahen." „O Kit! Mein armer Liebling!" Philip war das Lachen vergangen. Er wollte sie in die Arme nehmen, traute sich aber plötzlich nicht mehr. Sie senkte den Blick. „Wieder war es Lisa, die mir geholfen hat. Sie hat einen Therapeuten für mich gefunden. Er meinte, ich müsse mir bewusst machen, was ich selbst will, und mich nicht danach richten, was andere gut für mich halten. Mit seiner Hilfe ist es mir allmählich gelungen, zu mir zu finden." „Aber du hast Angst, einen Rückfall zu erleiden, wenn du mit mir schläfst, stimmt's?" Sie schüttelte energisch den Kopf. „Nein, das ist es nicht. Aber", fuhr sie zögernd fort, „es gibt da noch etwas, was du wissen musst. Ich sollte ein ... Baby haben." Eine Pause entstand, dann sagte Philip ruhig: „Du hast Recht. Darüber müssen wir reden. Komm mit." Er führte sie in ein kleines Wohnzimmer. Eines der Fenster war geöffnet, und neben dem Kamin stand eine Kupfervase mit Kirschblütenzweigen. Philip rückte Kit einen bequemen Sessel zurecht, setzte sich dann vor sie auf den Teppich und nahm ihre Hände in seine. „Nun erzähl." „Johnny war nicht wirklich an mir interessiert. Wahrscheinlich kam es ihm einfach gelegen, dass er in mir eine Begleiterin für Partys hatte. Wir haben nur einige Male miteinander geschlafen." Sie blickte zur Seite. „Ich war dafür genauso verantwortlich wie er. Ich möchte nicht, dass du in mir das Opfer siehst." Sanft strich Philip ihr eine blonde Locke hinters Ohr. „Ich versuche auch immer, anderen gegenüber fair zu sein. Da sind wir uns ähnlich." „Ich glaube, ich könnte dich tatsächlich nett finden", sagte sie mit einem bezaubernden Lächeln, ohne allerdings zu bemerken, welche Wirkung es auf Philip hatte, der noch immer ihre Hände hielt. „Ich habe gedacht, ich sei schwanger", fuhr sie fort. „Oder vielmehr, ich war mir fast sicher, es zu sein. Als ich Johnny davon erzählte, geriet er völlig außer sich." Bei der Erinnerung an sein vor Wut verzerrtes Gesicht, überlief sie ein Frösteln. „Wahrscheinlich hatte er ebenso viel Angst wie Wut", sagte Philip ruhig, obwohl er diesen jungen Dummkopf am liebsten verprügelt hätte. Sie nickte. „Möglich. Aber damals sah ich nur sein vor Hass verzerrtes Gesicht. Er wurde richtig gewalttätig." Philip umklammerte ihre Hände so fest, dass es wehtat. Plötzlich sah er richtig gefährlich aus, und Hunderte von Kämpfern aus aller Welt würden ihren stets die Ruhe bewahrenden Vermittler nicht wieder erkannt haben. Kit befreite ihre Finger aus seinem schmerzhaften Griff. Reumütig sah er sie an, doch sie schüttelte den Kopf. „Schon gut. Nach der Szene mit Johnny konnte ich es lange Zeit nicht
ertragen, von einem Mann berührt zu werden. Das hat sich seit Coral Cove geändert." Es war mehr, als Philip zu hoffen gewagt hatte, wenngleich ihr die Tragweite ihrer Worte gar nicht bewusst zu sein schien. Sie war viel zu sehr damit beschäftigt, ihm ihre schrecklichen Geheimnisse zu verraten, dabei hatte sie ihm das, was für ihn wichtig war, bereits gesagt. Ich werde alles tun, um sie glücklich zu machen, schwor er sich. „Ich ... lief weg", setzte sie ihren Bericht mit gesenktem Kopf, fort. „Es hat in jener Nacht schrecklich geregnet, doch ich ging immer weiter. Als ich schließlich völlig durchnässt den Bus nach Hause nehmen wollte, rutschte ich auf einer Treppe aus und fiel mehrere Steinstufen hinunter." „Du hast das Baby verloren", sagte Philip leise. Kit lachte bitter auf. „Nicht einmal das. Im Krankenhaus sagte man mir, das ich gar nicht schwanger gewesen sei. Aber ich war überzeugt, dass sie mich anlogen." „Warum sollten sie das tun?" „Um mich zu schonen. Immer wollen Leute mich schonen, weil sie mich für schwach halten. Zu schwach, um mein Baby zu beschützen." Sie klang, als würde sie sich dafür hassen. „Du bist nicht schwach, und Ärzte lügen nicht, um jemanden zu schonen!" sagte Philip scharf. „Sie haben viel zu viel Angst, angezeigt zu werden." Kit hob den Kopf. „Falls du dich gern selbst quälst, musst du dir schon einen anderen Grund suchen", sagte er. Forschend sah sie ihm ins Gesicht und bemerkte erst jetzt, dass er richtig wütend war. „Mich selbst quälen?" wiederholte sie verwundert. „Wenn ich dich richtig verstanden habe, hat man dich all die Jahre diesen Unsinn glauben lassen. Selbst wenn es dir gelungen ist, deine Familie davon zu überzeugen, verstehe ich noch immer nicht, weshalb die Ärzte dir nicht energisch klargemacht haben, dass du auf dem Holzweg bist. Hast du nicht gesagt, du warst in therapeutischer Behandlung?" „Ja", bestätigte sie benommen. Plötzlich überkam sie der Drang, laut zu lachen und wie das Einhorn fröhlich herumzuspringen. „Ja, das war ich, aber ich habe meinem Therapeuten nie etwas von dem Baby erzählt. Und auch niemand sonst." „Dann lass uns dieses Thema für immer beenden", sagte Philip schlicht. „O ja. Ja." Sie beugte sich vor und lehnte die Stirn an seine. Wie stark er war! Sie glaubte zu spüren, dass etwas von seiner inneren Kraft auf sie überging. „Ich meine es ernst, Kit", sagte er. „Mit Rivalen werde ich fertig, und wenn es sein muss, würde ich für dich gegen die ganze Welt kämpfen. Aber gegen das, was in deinem Kopf vorgeht, bin ich machtlos." Sie sah ihn an, umfasste sein Gesicht und küsste ihn voll auf den Mund. „Keine Angst, mir geht es jetzt gut. Besser als jemals zuvor. Und das verdanke ich dir." Philip führte sie auf seinem Besitz herum. Wie ein von einer langen Reise heimkehrender Ritter seine mitgebrachten Schätze präsentierte, so zeigte er ihr alle seine Lieblingsplätze. In der langen Galerie mit den Porträts seiner Vorfahren ging er mit Kit von Bild zu Bild. „Die Hardestys sind ein unnahbarer, rachsüchtiger Haufen. Sie trauen so leicht niemandem, und wenn jemand ihr Vertrauen missbraucht, verfolgen sie ihn gnadenlos." Interessiert betrachtete Kit die Männer mit dem entschlossenen Zug um den Mund und dem gelassenen Blick. Die Ähnlichkeit mit Philip war unübersehbar, und sie glaubte ihm. „Und hier habe ich immer Ivanhoe gespielt", erklärte Philip lächelnd, als sie zur ehemaligen Wachstube des alten Schlosses kamen. „Wenn ich mit dem Schwert auf den Steinfußboden schlug, hat es wunderbar geklirrt." „Sie haben dir ein Schwert zum Spielen gegeben?" Kit war entsetzt über die rauen Erziehungsmethoden der Oberschicht. Er lachte. „Es war nur der Schürhaken aus dem Wohnzimmer." Sie gingen weiter zu den Ställen. „Unter der Bedingung, dass ich es selbst pflegte, hat mein Großvater mir erlaubt, ein Pony zu halten." Philip blickte in den leeren Stall. „Als ich aufs
Internat kam, wurde es verkauft." „Das klingt hart." „So war er. Gerecht, aber nicht sehr warmherzig." Kit lehnte den Kopf an Philips Schulter, als wollte sie ihn für die fehlende Wärme in seiner Kindheit entschädigen. Sie rieb die Wange an seinem Kaschmirpullover. „Mit wem hast du gespielt?" Amüsiert blickte er auf sie hinunter. „Das wird deine Vorurteile gegen die Oberschicht voll bestätigen. Mein Großvater beauftragte mein Kindermädchen, zwei Jungen aus dem Dorf zu holen. Sie mussten jeden Samstag mit mir spielen und haben mich dafür gehasst, weil sie so das Fußballspiel versäumten." „Unterdrücker der Armen", zog Kit ihn auf. „Richtig. Wir wurden trotzdem gute Freunde. Einer von ihnen ist heute mein Gutsverwalter, der andere der örtliche Briefträger. Er ist mit Sandy verheiratet." Hand in Hand setzten sie ihren Rundgang fort. „Hast du jemals gespielt, ohne es vorher zu planen?" fragte Kit. In seinen Augen schienen plötzlich kleine Teufel zu tanzen. „Bisher noch nicht." „Dann sollten wir es einmal ausprobieren", sagte sie und ließ die Hände unter seinen Pullover gleiten. „Bist du dir sicher, dass du es willst?" fragte er leise. Sie nickte, und er führte sie zu seinem Schlafzimmer. Der Raum unterschied sich von allen anderen. Hier gab es kein Himmelbett, keine golddurchwirkten Decken und keine Samtvorhänge. Es war ein gemütlich eingerichtetes Zimmer, in dem Kit sich sofort wohl fühlte. Sie erkannte eine Krawatte wieder, die über einer Stuhllehne hing. Er hatte sie bei jenem verhängnisvollen Empfang auf Coral Cove getragen. „Offenbar war Sandy schon hier", sagte er. „Sie packt immer gleich meinen Koffer aus und sortiert aus, was gewaschen werden muss. Aber sicherheitshalber ..." Er ging zur Tür und drehte den großen Schlüssel im Schloss um. Plötzlich fühlte Kit sich ihrer Sache nicht mehr so sicher und hatte Angst, Philips Erwartungen nicht gerecht zu werden. „Ich habe zwar gesagt, dass ich nicht so unschuldig bin, wie du denkst, aber das heißt nicht, dass ich sehr erfahren bin." „Aber ich", meinte er lächelnd. Sie war zu aufgeregt, um darauf einzugehen. „Es ist lange her, dass ich so etwas getan habe, und noch nie ..." „Mit mir", ergänzte er gelassen. „Wieder etwas, das wir gemeinsam haben." „Aber ich möchte ..." „Ja?" Er ließ die Hände unter ihr T-Shirt gleiten. „Magst du das?" Die Berührung seiner wannen Finger ließ sie erschauern. „Ja", sagte sie atemlos. „Und das?" „Daran könnte ich mich gewöhnen." Sie blickte ihm tief in die Augen, und jäh wurde ihr bewusst, dass sie so etwas noch nie getan hatte: einem Mann in die Augen sehen, ihn herausfordern, begehren und lieben. All diese Gefühle schienen sie förmlich zu überfluten, als wäre in ihrem Innern ein Damm gebrochen. Sie zog sich das T-Shirt über den Kopf und merkte an Philips Gesichtsausdruck, dass er wusste, welch großer Schritt das für sie war. Er flüsterte ihren Namen, und sie las in seinen Augen Verlangen, aber auch eine tiefe Zärtlichkeit. Er hob sie hoch, trug sie zum Bett und ließ sie behutsam auf die Decke gleiten. Er berührte ihr Gesicht, als könnte er nicht glauben, dass sie wirklich neben ihm lag. Kit griff nach seiner Hand, zog sie an die Lippen und schloss die Augen. „Mach die Augen bitte nicht zu", stieß er hervor. „Grenz mich nicht aus." Sie sah ihn an und merkte, dass dieser auf politischer Ebene so mächtige Mann, der sonst nie die Kontrolle über sich verlor, seinen Gefühlen genauso ausgeliefert war wie sie. Und auf einmal war sie gar nicht mehr nervös. Sie setzte sich auf und entledigte sich ihrer
restlichen Kleidung. Nackt sank sie in die Kissen zurück und streckte die Arme aus. „Sieh mich an", flüsterte sie, „und liebe mich."
9. KAPITEL
Als Philip sie liebte, tat er es mit seinem ganzem Herzen. Dessen war Kit sich trotz ihrer geringen sexuellen Erfahrung sicher. Noch nie hatte sie sich so begehrenswert gefühlt. Er schien den Rhythmus ihres Körpers besser zu kennen als sie selbst und schien genau zu wissen, wie er sie zu erregen vermochte. Und er zeigte ihr, dass Liebesspiel süß und sanft, aber auch wild und leidenschaftlich sein konnte, bis sie schließlich beide gemeinsam den Gipfel der Lust erklommen. „Wo hast du nur mein ganzes Leben lang gesteckt?" fragte sie, als sie wieder sprechen konnte. Er lachte. „Ich habe auf jemanden gewartet, der meine Talente gebührend zu würdigen weiß." Und wie um seine Worte zu bestätigen, begann er erneut, Kit mit seinen raffinierten Zärtlichkeiten zu erregen. Er war ein fantastischer Liebhaber. Und sie hätte auch nie gedacht, dass Menschen miteinander lachen konnten, während sie sich liebten. Es gab so vieles, was sie mit ihm neu entdeckte. „Und ich habe immer geglaubt, dass ich es nicht mag, wenn Leute mich ansehen", sagte sie etwas später, als sie glücklich und entspannt in seinen Armen lag. „Ich bin nicht irgendwer, mein Schatz, ich bin dein Liebhaber." Er küsste sie zärtlich auf die Stirn. „Alle anderen sollten sich besser von dir fern halten, sonst werde ich ihnen mit dem Enterhaken zu Leibe rücken." Kit lachte. „Anscheinend hast du außer Ivanhoe auch noch Pirat gespielt?" „Mit einem See vor der Haustür? Was glaubst du wohl?" Es war wundervoll, sich gegenseitig zu necken und Unsinn zu reden. Jeder Scherz brachte sie einander näher, jede besitzergreifende Berührung verstärkte das Gefühl der Zusammengehörigkeit. „Ich wusste nicht, dass es so sein kann", sagte Kit zärtlich. Er streichelte mit den Fingerspitzen ihren Arm. „Ich auch nicht." Kit schmiegte sich an seine Brust. Sie war dicht behaart, was man bei seinen feinen Gesichtszügen und gepflegten Händen gar nicht erwartete. Zu wissen, dass sich unter den konservativen Anzügen und hinter den geschliffenen Manieren ein so leidenschaftlicher Mann verbarg, gab Kit das Gefühl, ein Geheimnis mit ihm zu teilen. Mit einem wohligen Seufzer streckte sie sich neben ihm aus. Er zog sie ein wenig fester an sich. „Ist es so bequem?" Es kam ihr vor, als wäre sie noch nie einem Menschen so nahe gewesen. Wer hätte geglaubt, dass sie jemals so für einen Mann empfinden könnte? „Mm. Ich habe mich nie besser gefühlt." „Gut." „Philip", murmelte sie schlaftrunken. „Ja?" „Ich liebe dich", sagte sie gähnend und schlief ein. Philip blieb wach und beobachtete durch das geöffnete Fenster, wie sich allmählich die Dämmerung über die Landschaft senkte. Nüchtern betrachtet, sah die Zukunft für ihn und seine Meerjungfrau keineswegs rosig aus. Er hatte so viele Ehen seiner Kollegen scheitern sehen. Als Friedensvermittler war er oft Wochen unterwegs. Dazu kam die ständige Gefahr, entführt zu werden. Würde Kit das verkraften? Er wusste, wie empfindsam sie war. Wäre es da nicht unfair, sie zu bitten, bei ihm zu bleiben? Für Kit folgten nun wundervolle Tage. Wie die Blüten der Frühlingssonne, so schien sie sich ihrem neuen Leben zu öffnen. Es stieg ihr zu Kopf, und sie fühlte sich so glücklich wie nie zuvor. Sie ging mit Philip im Schlosspark spazieren, durchstreifte mit ihm die Wälder von
Ashbarrow und saß mit ihm abends Händchen haltend vor dem knisternden Kaminfeuer. Und sie redeten viel miteinander. Während sie das kostbare Porzellan im Speisezimmer näher in Augenschein nahm, erzählte sie Philip ohne Bitterkeit von ihrer ärmlichen Kindheit. Und als sie sich im Musikzimmer aufhielten, gestand sie ihm, dass ihr Versuch, sich mit klassischer Musik anzufreunden, nicht sehr erfolgreich gewesen sei. „Am schlimmsten waren die Opern", bekannte sie. Philip brach in schallendes Gelächter aus und spielte ihr dann eine CD mit so überirdisch schöner Musik vor, dass Kit beinahe die Tränen kamen. „Eine Oper?" fragte sie, nachdem der letzte Ton verklungen war. „Eine Arie aus ,Rodelinda' von Händel. Die Oper wird selten gespielt, aber ich mag sie sehr." „Ich konnte den Text nicht verstehen." Nach kurzem Zögern sagte Philip: „Übersetzt heißt es ungefähr: ,Wo bist du, Geliebte? Nur du kannst mich vor der Verzweiflung retten."' Es folgte ein Augenblick des Schweigens, und Bat ertappte sich dabei, dass sie den Atem anhielt. Jäh verschwand der träumerische Ausdruck von Philips Gesicht. „Sehr melodramatisch, aber die Musik ist großartig." Irgendwie hatte Kit plötzlich das Gefühl, einen wichtigen Moment verpasst zu haben. Am nächsten Morgen rief Lisa an. „Sie will sich von Nikolai trennen", berichtete Kit mit bebender Stimme. „Und ich bin an allem schuld." Philip runzelte die Stirn. „Hat sie das gesagt?" „Nein, natürlich nicht", entgegnete Kit ungeduldig. „Aber ich weiß, dass die beiden sich meinetwegen in Coral Cove gestritten haben. Ich muss sofort zurück nach London. Lisa kommt heute Abend mit dem Flugzeug aus Zürich." „Findest du nicht, die beiden sollten ihre Ehekrise allein meistern?" meinte Philip. „Uns bleiben nur noch drei Tage. Ich habe heute Morgen eine E-Mail erhalten. Ich werde in Pelanang benötigt und fliege am Montag." Fassungslos sah sie ihn an. „Du hast zugesagt, ohne mit mir darüber zu sprechen?" „Man ist nicht daran gewöhnt, dass ich Urlaub mache." Er lächelte schwach. „Mein Assistent hat zugesagt, ohne sich vorher mit mir abzustimmen. Bisher ist das nie nötig gewesen." „Natürlich nicht", sagte Kit leise. Sie hob den Kopf und blickte Philip direkt in die Augen. „Und daran hat sich nichts geändert." Es folgte eine winzige Pause. Dann sagte er schroff: „Ich wusste, dass so etwas eines Tages passieren würde." „Klar." Kit bebte am ganzen Körper. Vor Wut, wie sie sich einzureden versuchte. „Was kann man von einer Frau schon erwarten, der Menschen wichtiger sind als Etikettierungen?" „Kit, ich..." „Vermutlich mangelt es mir am nötigen Pflichtgefühl, da ich keine berühmten Vorfahren habe." „Kit!" Philip sah ihre Wut und Verletztheit, aber er wusste nicht, was er dagegen tun sollte. „Du hast mich ja gewarnt, mir keine falschen Hoffnungen zu machen", warf Kit ihm vor. „Frauen wie ich sind für dich Eintagsfliegen." „Du hattest mehr als einen Tag", verteidigte er sich spontan und bereute seine Worte sofort wieder. „Hatte? Dann bin ich also schon Vergangenheit?" „Nein, natürlich nicht." Trotz seiner langjährigen Erfahrung als Vermittler fühlte Philip sich bei diesem Streit völlig hilflos. „Du bist es doch, die abreisen will."
Sie sah ihn rebellisch an. „Drei Tage mehr oder weniger machen keinen Unterschied." Er zuckte zusammen, schwieg jedoch. Sein Schweigen war für Kit beredter als Worte. „Ich nehme den nächsten Zug. Würdest du mir bitte ein Taxi bestellen, das mich zum Bahnhof bringt?" „Ich fahre dich." „Nein!" Doch er bestand darauf. „Ich habe dich hierher gebracht und werde dich wieder zurückfahren." Notgedrungen gab Kit nach. Stumm saßen sie wenig später nebeneinander im Auto. Als Philip sich jedoch mehrmals das linke Auge rieb, wurde Kit aufmerksam. „Falls dir dein Auge wieder Schwierigkeiten macht, solltest du besser mich fahren lassen." Zu ihrer großen Verwunderung hielt er an und ließ sie ans Steuer. Sie setzten die Fahrt schweigend fort. Schließlich sagte Philip leise: „Kit, ich wollte dir nichts vormachen." Sie antwortete nicht, sondern konzentrierte sich ganz auf das Fahren. „Meine Arbeit... nun ja, du hast es ja erlebt." Er lachte freudlos. „Ich habe meiner Mutter versprochen, nicht zur Armee zu gehen, und bin in einem Job gelandet, der noch schlimmer ist! Ich kann von keiner Frau verlangen, ein solches Leben mit mir zu teilen." Du hättest mich zumindest fragen können, dachte sie, sagte es jedoch nicht. Die restliche Fahrt verbrachten sie in eisigem Schweigen. Als sie die Außenbezirke von London erreichten, erkundigte er sich, wo sie wohne, und lotste sie mit ruhiger, unpersönlicher Stimme durch die Stadt. Erst als sie den Wagen vor Tatianas Haus anhielt, bemerkte Kit, dass sie am ganzen Körper bebte. Ohne Philip noch einmal anzusehen, stieg sie aus. Er verließ ebenfalls das Auto und holte ihre Reisetasche aus dem Kofferraum, gab sie Kit jedoch nicht. Seine Miene war undurchdringlich. „Du könntest mit mir ins Hotel kommen." Kit schüttelte den Kopf. „Nein, das werde ich nicht", sagte sie traurig. „Mir ist nicht klar, was du für deine Schwester tun kannst?" „Bei ihr sein. Ihre Hand halten und Lisa zuhören. Kaffee für sie kochen und mit ihr über Männer schimpfen." Letzteres war ein missglückter Versuch zu scherzen. Er versteifte sich. „Tut mir Leid", entschuldigte sie sich und streckte die Hand nach ihrer Tasche aus. Er gab sie ihr nicht. „Ich wollte dich nicht verletzen." In seinen Augen lag ein gequälter Ausdruck. „Ich wusste nicht..." „Schon gut", unterbrach sie ihn sanft, „du hast mir nie etwas versprochen und nie behauptet, mich zu lieben." Er wurde blass. „Ich habe dir gesagt, dass ich nicht weiß, wie es ist, jemanden zu lieben." „Ja, das hast du", erwiderte sie leise. „Weil du Angst vor der Liebe hast. Du glaubst, sie würde dich schwach machen." Er schwieg. „Ich muss gehen. Leb wohl." Kit entriss ihm ihre Tasche und rannte, wie von wilden Hunden gejagt, ins Haus.
10. KAPITEL
„O Kit!" rief Lisa und warf sich ihrer Schwester, die vor dem Haus auf das Taxi gewartet hatte, in die Arme. Und Lisa, die in der Familie immer der Fels in der Brandung gewesen war, begann an Kits Schulter zu weinen. „Ist ja schon gut", versuchte Kit, die selber des Trostes bedurfte, sie zu beruhigen. „Nun komm erst mal ins Haus." Drinnen sank Lisa auf das Sofa. Sie sah verhärmt aus. Als hätte sie seit Tagen geweint. Kit kochte Kaffee und setzte sich dann neben ihre Schwester. „So, und nun erzähl. Du bist schwanger, doch Nikolai möchte das Baby nicht. Warum nicht?" Müde schüttelte Lisa den Kopf. „Angefangen hat es schon vor Weihnachten, als ich eine Fehlgeburt hatte." „Eine Fehlgeburt?" „Alle dachten, ich hätte ein Virus aufgeschnappt." Lisa schluckte. „Ich verlor das Kind, noch ehe ich wusste, dass ich schwanger war. Ist das nicht verrückt?" ,,.O Lisa!" Mitfühlend streichelte Kit die Hand ihrer Schwester. „Nikolai warf mir vor, ich würde zu viel arbeiten und hätte selbst schuld, dass ich das Baby verloren habe. Von da an begann es, in unserer Ehe zu kriseln." „War das auch der Grund für eure Streitereien auf Coral Cove?" „Eigentlich sind wir nach Coral Cove gereist, um einmal Zeit für uns zu haben. Aber wegen dieses verdammten Kongresses bekam ich Nikolai kaum zu sehen." Lisa zuckte die Schultern. „Nun ja, du hast ja selbst erlebt, wie wir uns angegiftet haben." „Aber als ich abreiste, hattet ihr euch doch wieder versöhnt?" „Das mit dem Sex ist doch eine große Illusion." Unwillkürlich zuckte Kit zusammen. Lisa bemerkte es nicht. „Eine kleine Meinungsverschiedenheit genügte, und der Streit brach erneut aus." „Meinetwegen." „Egal. Jedenfalls ist er einfach abgereist." „Wusste er, dass du erneut schwanger warst?" „Ich wusste es damals doch selbst noch nicht", erwiderte Lisa. „Hast du es ihm inzwischen mitgeteilt?" „Wie denn? Ich habe ja keine Ahnung, wo er steckt. Vermutlich bei irgendwelchen Affen weitab von jeder Zivilisation." Kit biss sich auf die Lippe. „Und was willst du jetzt tun?" „Hier bei dir bleiben." Lisa blickte ihre Schwester flehend an. „Du hilfst mir doch, das alles durchzustehen, nicht wahr, Kit? Ich weiß ja, dass du von uns schon immer die mütterlichere warst." „Ich?" fragte Kit erstaunt. „Natürlich", bestätigte Lisa im Brustton der Überzeugung. „Hilf mir Kit, bitte. Ich habe solche Angst." Kit schaffte es, Nikolais Aufenthaltsort zu ermitteln. Zuerst versuchte sie, Philip zu erreichen, doch er war bereits abgereist. Schließlich gelang es ihr, die Telefonnummer von Philips New Yorker Büro zu ermitteln und mit seinem Assistenten zu sprechen. Fernando war froh, seinem Chef einen Dienst erweisen zu können. Er nutzte seine vielseitigen Kontakte und brachte es fertig, dass Nikolai nur wenige Stunden später seine Frau anrief. Er brauchte drei Tage, um nach London zu kommen und seine Frau in die Arme zu schließen. „O mein Liebling", sagte Nikolai. Und dann war für einige Zeit nichts mehr zu hören. Schließlich wandte Nikolai sich an seine Schwägerin: „Ich verstehe nicht, wie du Philip
Hardestys Assistenten dazu gebracht hast, nach mir zu suchen." „Nun ja, Lisa hat dich gebraucht." „Das ist nicht der Punkt." Nikolai wechselte einen viel sagenden Blick mit seiner Frau. „Offenbar hat Philip Hardesty seinen Leuten gesagt, dass meine Schwester ihm sehr viel bedeutet", meinte Lisa. Kit wurde rot. „Nein, das stimmt nicht." „Verstehe." Lisa lächelte. „Anscheinend ist er einer dieser Männer, die sich nicht binden wollen." „So ist es nicht." Überrascht stellte Kit fest, dass sie sich bemüßigt fühlte, Philip zu verteidigen. „Er ist nur sehr von seinem Beruf in Anspruch genommen und glaubt, einer Frau das Leben an seiner Seite nicht zumuten zu können." „Bist du derselben Meinung?" fragte Nikolai leise. Kits Miene verriet, dass sie darüber anders dachte. Erneut wechselte Nikolai einen Blick mit seiner Frau. „Ich denke, du solltest schnellstens versuchen, ihn vom Gegenteil zu überzeugen, Kit." Aus dem Dschungel drangen laute Geräusche. Pelanang war kein luxuriöses Ferienressort am Meer wie Coral Cove, sondern ein verschlafenes Nest im Dschungel mit hoher Luftfeuchtigkeit, Schwärmen von Moskitos und einem Luftwaffenstützpunkt. Während ihres abendlichen Spaziergangs am Dorfrand fragte sich Kit, was Philip wohl tun würde, wenn er von seinem Ausflug zum Rebellencamp zurückkehrte und erfuhr, dass sie hier war. Würde er auf ihrer sofortigen Abreise bestehen? Und wie sollte sie ihm erklären, weshalb sie gekommen war? Plötzlich hörte sie Schritte. Instinktiv wollte sie in die Büsche flüchten, doch das war zu gefährlich. Wie leicht konnte sie auf eine Schlange treten. Sie blieb also tapfer stehen und leuchtete mit der Taschenlampe den Ankömmling an. „Es besteht kein Grund, mich zu blenden", sagte eine ruhige, ihr nur allzu vertraute Stimme. „Philip!" rief Kit. Er hatte einen Dreitagebart und sah auch sonst reichlich mitgenommen aus. Mit wenigen Schritten war er bei ihr. „Kit, ist alles in Ordnung? Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht. Wenn dir etwas passiert wäre ..." „Was sollte mir denn passieren?" Er lachte rau. „Es gibt hier giftige Spinnen und Schlangen, fleischfressende Orchideen. Als ich hörte, dass du hier draußen mutterseelenallein spazieren gehst, habe ich Todesängste ausgestanden. Bitte, tu mir so etwas nie wieder an." Kit ließ die Taschenlampe sinken. „Ich weiß, ich hätte dich das längst fragen sollen, Kit", fuhr er fort. „Bist du bereit, mich zu heiraten?" Verwirrt sah sie ihn an. War dies der kühle, gelassene Mann, der nie etwas Unüberlegtes äußerte? „Das meinst du doch nicht ernst?" Er seufzte. „O doch. Erinnerst du dich noch daran, als ich sagte,, ich würde jeden aus meiner Familie vergiften, der versuchte, dich zu heiraten?" „Das war doch nur ein Scherz." „In jedem Scherz steckt ein Körnchen Wahrheit." Kit begann zu zittern, und er nahm ihr die Taschenlampe ab. „Hast du je für einen anderen Mann so empfunden wie für mich?" „Das ist unfair!" rief sie. „Ich bin zu Diktatoren und Mördern fair, aber zu dir war ich es nie." Flüchtig berührte er ihre Wange, als hätte er Angst, dass Kit ihn zurückstoßen würde. „Du bist meine andere Hälfte, doch ich habe dich wie Dreck behandelt." „Nein, das hast du nicht", widersprach sie sanft. „Du hast nur gemerkt, dass wir nicht zusammenpassen. Mir fehlt der gesellschaftliche Schliff. Ich könnte nie ein Diadem tragen
wie deine Mutter auf dem Porträt, das du mir gezeigt hast." Ungläubig sah er sie an. „Diesen Unsinn glaubst du doch wohl nicht wirklich, mein Schatz, oder?" Er zog sie an sich. „Die Tage mit dir in Ashbarrow waren die glücklichsten meines Lebens. Du hast mich zum Lachen gebracht und mich entflammt. Ich hatte das Gefühl, endlich wieder zu leben, aber gleichzeitig Angst, dass die Liebe mich schwach machen würde. Schon im Flugzeug wurde mir klar, dass ich dich nicht hätte gehen lassen dürfen. Kits Puls beschleunigte sich. „Heißt das, du liebst mich?" Er blickte ihr tief in die Augen. „Ja, ich liebe dich." „Dann werde ich dich heiraten." „O Kit. Süße, empfindsame, wundervolle Kit. Wer hätte gedacht, dass ich jemals so glücklich sein würde." Sie schmiegte sich an ihn. „Ich liebe dich auch, Philip. Wahrscheinlich werde ich mir Sorgen machen, wenn du auf einer Mission bist, aber damit werde ich fertig. Und ich werde dieses verdammte Diadem tragen, selbst wenn es mich umbringt." Er lachte, und dann küsste er sie, bis ihr ganz schwindlig wurde. „Gemeinsam werden wir mit allem fertig."
-ENDE -