DER AUTOR
DIE SERIE
R. L. Stine wurde 1943 in einem kleinen Vorort von Columbus/Ohio geboren. Bereits mit 9 Jahren en...
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DER AUTOR
DIE SERIE
R. L. Stine wurde 1943 in einem kleinen Vorort von Columbus/Ohio geboren. Bereits mit 9 Jahren entdeckte er seine Liebe zum Schreiben. Seit 1965 lebt er in New York City, wo er zunächst als Lektor tätig wurde. Seine ersten Bücher waren im Bereich Humor angesiedelt. Seit 1986 hat er sich jedoch ganz den Gruselgeschichten verschrieben.
Der Autor selbst sagt: »Das Lesen eines Gruselbuchs ist wie eine Fahrt mit der Achterbahn: Kinder haben gerne Angst, wenn sie wissen, was sie erwartet; sie wissen, dass sie unterwegs fürchterlich schreien werden, aber sie wissen auch, dass sie am Ende der Fahrt wieder sicher am Boden ankommen werden.« Seit 1992 der erste Band von GÄNSEHAUT (GOOSEBUMPS) in Amerika erschienen ist, hat sich die Serie binnen kürzester Zeit zu dem Renner entwickelt. Durch GÄNSEHAUT sind - das belegen zahlreiche Briefe an den Autor - viele Kinder, die sich bis dato nicht sonderlich für Bücher interessiert haben, zu Lesern geworden.
R. L. Stine
Meister der Mutanten Aus dem Amerikanischen von Günter W. Kienitz
Band 20396 Der Taschenbuchverlag für Kinder und Jugendliche von C. Bertelsmann, München
Siehe Anzeigenteil am Ende des Buches für eine Aufstellung der bei OMNIBUS lieferbaren Titel der Serie.
Deutsche Erstausgabe September 1997 Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform von 1996 Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Goosebumps # 25: Attack of the Mutant« bei Scholastic, Inc., New York © 1994 by The Parachute Press, Inc. All rightsreserved. Published by arrangement with Scholastic Inc., 555 Broadway, New York, NY 10012, USA. »Goosebumps«'" and »Gänsehaut«™ and its logos are registered trademarks of The Parachute Press, Inc. © 1997 für die deutsche Übersetzung C. Berteismann Verlag GmbH, München Alle deutschsprachigen Rechte, insbesondere auch am Serientitel »Gänsehaut«, vorbehalten durch C. Berteismann Verlag GmbH, München Übersetzung: Günter W. Kienitz Lektorat: Christa Marsen Umschlagkonzeption: Klaus Renner us • Herstellung: Stefan Hansen Satz: Uhl + Massopust, Aalen Druck: Presse-Druck Augsburg ISBN 3-570-20396-4 • Printed in Germany 10 9 8 7 6 5 4 3 2 1
»He — leg das wieder hin!« Ich riss Wilson Clark den Comic aus der Hand und strich die Kunststoffhülle glatt. »Ich hab es mir nur angesehen«, murrte er. »Wenn du einen Fingerabdruck darauf hinterlässt, verliert es die Hälfte an Wert«, erklärte ich ihm und inspizierte die Titelseite. »Das ist eine Nullnummer von Silver Swan«, sagte ich stolz. »Und sie ist in Topzustand.« Wilson schüttelte den Kopf. Er hat gelocktes weißblondes Haar und runde blaue Augen. Irgendwie sieht er immer ein bisschen durcheinander aus. »Wie kann es Nummer null sein?«, fragte er. »Das ergibt doch keinen Sinn, Skipper.« Wilson ist der Sohn unseres Nachbarn. Er ist wirklich nett, aber manchmal denke ich, er ist vom Mars heruntergefallen. Er hat von nichts Ahnung. Ich hielt das Silver Swan-Titelbild in die Höhe, damit er die große Null in der Ecke sehen konnte. »Die macht es zu einem Sammlerstück«, erklärte ich ihm. »Nummer null kommt vor Nummer eins. Dieser Comic ist zehnmal so viel wert wie Silver Swan Nummer eins.« »Ist er das?« Wilson kratzte sich an seinem Lockenkopf. Er kauerte sich auf den Boden und begann den Karton mit meinen Comics zu durchwühlen. »Wie kommt's, dass deine Comics alle in diesen Plastikhüllen stecken, Skipper? Wie kannst du sie da denn lesen?« Siehst du? Hab ich's dir nicht gesagt? Wilson hat von nichts Ahnung. »Sie lesen? Ich lese sie nicht«, antwortete ich. »Wenn man sie liest, verlieren sie ihren Wert.« Er schaute zu mir hoch.»Du liest sie nicht?« 5
»Ich kann sie nicht aus der Hülle nehmen«, erklärte ich. »Sobald ich die Hülle öffne, sind sie nicht mehr im Topzustand.« »Oh! Das hier ist cool!«, rief er aus und zog eine Ausgabe von Star Wolf hervor. »Der Einband ist aus Metall!« »Völlig wertlos«, murmelte ich. »Es ist die zweite Auflage.« Er starrte auf den silbrigen Einband, drehte das Heft in den Händen und ließ es im Licht glänzen. »Cool«, murmelte er. Sein Lieblingswort. Wir hockten oben in meinem Zimmer, es war etwa eine Stunde nach dem Abendessen. Der Himmel draußen vor meinem Doppelglasfenster färbte sich schwarz. Im Winter wird es schrecklich früh dunkel. Ganz anders als auf Silver Swans Planet Orcos III, wo die Sonne niemals untergeht und all die Superhelden klimatisierte Anzüge tragen. Wilson war herübergekommen, um sich die Mathehausaufgaben zu holen. Er wohnt wie gesagt im Haus nebenan und vergisst ständig sein Mathebuch in der Schule — deshalb kommt er andauernd herüber, um sich die Matheaufgaben von mir zu holen. »Du solltest auch Comics sammeln«, sagte ich zu ihm. »In ungefähr zwanzig Jahren werden die hier Millionen wert sein.« »Ich sammle Stempel«, sagte er, während er eine Z-SgwödJahresausgabe in die Hand nahm. Interessiert betrachtete er die Turnschuhwerbung auf der Rückseite. »Stempel?« »Ja. Ich habe ungefähr hundert davon«, sagte er stolz. »Was kannst du mit Stempeln anfangen?«, fragte ich. Er warf den Comic in den Karton zurück und stand auf. »Na ja, man kann Dinge damit stempeln«, sagte er und klopfte die Knie seiner Jeans ab. »Ich habe Stempelkissen in verschiedenen Farben. Oder du kannst sie einfach anschauen.« »Sind sie wertvoll?«, fragte ich. Wilson schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht.« Er nahm den Mathearbeitsbogen vom Fußende des Bettes. »Ich gehe jetzt besser nach Hause, Skipper. Bis morgen.« Er steuerte auf die Tür zu und ich folgte ihm. Unsere Spiegelbilder starrten uns aus dem großen Spiegel über der Kommode entgegen. Wilson ist ziemlich groß und schlank, 6
blond und blauäugig. Neben ihm komme ich mir immer wie ein dunkler, pausbäckiger Maulwurf vor. Würden wir in einem Comic auftauchen, dann wäre Wilson der Superheld und ich sein Handlanger. Ich wäre der pummelige komische Kauz, der ständig alles verpfuscht. Bloß gut, dass das Leben kein Comic ist - stimmt's? Nachdem Wilson gegangen war, wandte ich mich zu meiner Kommode um. Mein Blick blieb an dem riesigen Computerausdruck über dem Spiegel haften: SKIPPER MATTHEWS, AUSSERIRDISCHER RÄCHER. Mein Vater hatte mir das Spruchband von jemandem in seinem Büro zu meinem zwölften Geburtstag vor ein paar Wochen ausdrucken lassen. Links und rechts davon habe ich zwei tolle Poster an die Wand gepinnt. Eines stammt von Jack Kirby und zeigt Captain America. Es ist schon recht alt und wahrscheinlich um die tausend Dollar wert. Das andere ist neuer — ein Spaten-Poster von Todd McFarlane. Es ist echt Spitze. Während ich auf die Kommode zuging, konnte ich im Spiegel den begeisterten Ausdruck auf meinem Gesicht sehen. Auf der Kommode erwartete mich ein flacher brauner Umschlag. Mom und Dad hatten gesagt, ich dürfte ihn erst nach dem Abendessen und nachdem ich mit den Hausaufgaben fertig war öffnen. Aber so lange konnte ich nicht warten. Ich spürte, wie mein Herz zu hämmern begann, während ich auf den Umschlag starrte. Ich wusste, was mich darin erwartete. Der bloße Gedanke daran ließ mein Herz noch heftiger schlagen. Sorgsam nahm ich den Umschlag in die Hand. Ich musste ihn auf der Stelle öffnen. Ich musste einfach.
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Vorsichtig und behutsam riss ich die Klappe des Umschlags auf. Dann griff ich hinein und zog den Schatz daraus hervor. Die neue Monatsausgabe von Der Maskierte Mutant. Ich hielt den Comic in der Hand und betrachtete die Titelseite. Der Maskierte Mutant Nr. 24. Neugierig las ich, was unten in gezackten roten Buchstaben quer über die Titelseite gedruckt stand: «DER SENSATIONELLE SCHWAMM – BEINAHE ZU TODE GEQUETSCHT!« Die Illustration war umwerfend. Sie zeigte den Lebenden Schwamm - im ganzen Universum als Der Stahlschwamm bekannt -, der entsetzlich in der Klemme saß. Er steckte zwischen den Tentakeln eines gigantischen Kraken, der ihn völlig ausquetschte! Irre. Total irre. Ich bewahre alle meine Comics in Topzustand, in Sammlerhüllen verpackt auf. Doch es gibt einen Comic, den ich jeden Monat einfach lesen muss. Und das ist Der Maskierte Mutant. Ich muss ihn, sobald er erschienen ist, sofort lesen. Und das von vorne bis hinten, jedes Wort in jeder Sprechblase. Ich lese sogar die Leserbriefseite und das Impressum. Denn Der Maskierte Mutant ist der am besten gezeichnete und am besten geschriebene Comic der Welt. Und der Maskierte Mutant muss der mächtigste und übelste Bösewicht sein, der je geschaffen wurde! Was ihn so schrecklich macht, ist der Umstand, dass er seine Moleküle beliebig verschieben kann. Das bedeutet, dass er sich in alle Wesen oder Dinge in festem Zustand verwandeln kann. In alles! Der Riesenkrake auf diesem Titelbild ist in Wirklichkeit der Maskierte Mutant. Das kann man daran erkennen, dass der Krake die Maske aufhat, die der Maskierte Mutant immer trägt. Aber er kann sich in jedes Tier verwandeln. Oder in jeden beliebigen Gegenstand. 8
Dadurch gelingt es ihm immer, der Liga der Guten zu entkommen. Zur Liga der Guten gehören sechs verschiedene Superhelden. Sie alle sind ebenfalls Mutanten und verfügen über erstaunliche Fähigkeiten. Und sie sind die besten Gesetzeshüter der Welt. Doch den Maskierten Mutanten können sie nicht fangen. Er ist der Meister der Mutanten. Selbst der Anführer der Liga - die Galoppierende Gazelle -, der schnellste Mann im ganzen Sonnensystem, ist nicht schnell genug, um mit dem Maskierten Mutanten mithalten zu können. Ein paar Minuten lang betrachtete ich das Titelbild. Mir gefiel es, wie der Krake den Lebenden Schwamm mit seinen Tentakeln zu einem schlappen Lappen zusammenquetschte. An seinem Gesichtsausdruck konnte man erkennen, dass der Stahlschwamm in Todeskrämpfen lag. Irre. Ich nahm den Comic mit zum Bett und legte mich auf den Bauch, um ihn zu lesen. Die Geschichte begann da, wo Der Maskierte Mutant Nr. 23 aufgehört hatte. Der Lebende Schwamm, der weitbeste Unterwasserschwimmer, befand sich tief unten im Ozean. Er kämpfte verzweifelt darum, dem Maskierten Mutanten zu entkommen. Aber der Stahlschwamm war mit seinem Cape an einem Zacken eines Korallenriffs hängen geblieben. Ich blätterte die Seite um. Als der Maskierte Mutant näher kam, begann er seine Moleküle umzuverteilen. Und er verwandelte sich in einen riesigen, wirklich ungeheuerlichen Kraken. Acht Bilder zeigten, wie der Maskierte Mutant sich verwandelte. Und dann kam eine große, ganzseitige Zeichnung, die zeigte, wie der riesige Krake seine schleimigen, dicken Tentakel ausstreckte, um den hilflosen Lebenden Schwamm zu packen. Der Lebende Schwamm kämpfte wie wild, um sich loszureißen. Doch die Tentakel des Kraken glitten näher. Näher. Ich wollte gerade umblättern. Aber bevor ich mich bewegen konnte, fühlte ich etwas Kaltes, das sich um meinen Hals legte.
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Ich gab ein gurgelndes Geräusch von mir und versuchte mich loszureißen. Doch die kalten Tentakel schlangen sich nur noch fester um meinen Hals. Ich konnte mich nicht bewegen, konnte nicht schreien. Da hörte ich ein Lachen. Mit einer gewaltigen Anstrengung drehte ich mich um. Und sah Mitzi, meine neun Jahre alte Schwester. Sie nahm die Hände von meinem Hals und machte einen Satz rückwärts, als ich sie anfunkelte. »Warum sind deine Hände so kalt?«, wollte ich wissen. Sie strahlte mich mit ihrem unschuldigen Lächeln, bei dem sich zwei Grübchen bildeten, an. »Ich hab sie in den Kühlschrank gesteckt.« »Du hast was}«, stieß ich hervor. »Du hast sie in den Kühlschrank gesteckt? Wieso?« »Damit sie kalt werden«, antwortete sie, immer noch grinsend. Meine Schwester hat einen wirklich schrägen Humor. Sie hat glattes, dunkelbraunes Haar wie ich. Und sie ist genauso klein und pummelig. »Du hast mich zu Tode erschreckt«, sagte ich, während ich mich auf dem Bett aufsetzte. »Ich weiß«, antwortete sie und strich mir mit den Händen über die Wangen. Sie waren immer noch eiskalt. »Igitt! Hau ab, Mitzi.« Ich schubste sie weg. »Wieso bist du überhaupt heraufgekommen? Nur, um mich zu erschrecken?« Sie schüttelte den Kopf. »Dad hat mich heraufgeschickt. Er hat gesagt, ich solle dir ausrichten, dass du gewaltigen Ärger bekommst, wenn du deine Comics liest, statt deine Hausaufgaben zu machen.« Ihre braunen Augen schweiften zu dem Comic, der aufgeschlagen auf dem Bett lag. »Ich schätze, jetzt bekommst du Riesenärger, Skipper.« »Nein. Warte!« Ich packte sie am Arm. »Das ist der neue Maskierte Mutant. Ich muss das einfach lesen! Sag Dad, dass ich Mathe mache und...« 10
Ich konnte den Satz nicht beenden, weil Dad ins Zimmer kam. Das Licht der Deckenlampe spiegelte sich in seinen Brillengläsern wider. Aber man konnte trotzdem sehen, dass er den Blick auf den Comic auf meinem Bett gerichtet hatte. »Skipper...«, sagte er zornig mit seiner dröhnenden, tiefen Stimme. Mitzi drückte sich an ihm vorbei und huschte aus dem Zimmer. Sie liebt es, für Ärger zu sorgen. Aber sie ist nicht gerne dabei, wenn es richtig funkt. Und mir war klar, dass es gleich richtig funken würde — denn ich war in dieser Woche schon dreimal verwarnt worden, weil ich zu viel Zeit mit meiner Comic-Sammlung verbrachte. »Skipper, ist dir klar, warum deine Noten so mies sind?«, raunzte mein Vater. »Weil ich kein besonders guter Schüler bin?«, antwortete ich. Das war ein Fehler. Dad hasst es, wenn ich ihm dumme Antworten gebe. Mein Vater erinnert mich an einen großen Bären. Nicht nur, weil er so oft brummelt. Sondern auch, weil er groß und breit gebaut ist. Er hat kurzes schwarzes Haar und fast keine Stirn. Wirklich. Sein Haaransatz liegt direkt über der Brille. Und er hat diese gewaltige, dröhnende Stimme, die sich anhört, als ob ein Bär brüllt. Na ja, auf meine Antwort hin brüllte er wütend auf. Dann schoss er quer durchs Zimmer auf den Karton mit den Comics zu - meine komplette Sammlung. »Tut mir Leid, Skipper, aber jetzt schmeiße ich sie alle weg!«, rief er und marschierte zur Tür.
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Wahrscheinlich erwartest du, dass ich in Panik geraten bin. Dass ich angefangen habe, zu betteln und ihn anzuflehen, meine wertvolle Sammlung nicht wegzuwerfen. Aber ich sagte keinen Ton. Ich blieb einfach neben dem Bett stehen, ließ die Arme hängen und wartete. Weißt du, Dad hat das schon des Öfteren gemacht. Sehr oft sogar. Aber er meint es nicht wirklich ernst. Manchmal kann er ziemlich ausrasten, aber er ist kein Superbösewicht. Genau genommen würde ich ihn die meiste Zeit der Liga der Guten zurechnen. Sein Problem liegt hauptsächlich darin, dass er nichts für Comics übrig hat. Er hält sie für Schund. Sogar wenn ich ihm erkläre, dass sie wahrscheinlich Millionen wert sein werden, wenn ich erst einmal in seinem Alter bin. Wie auch immer, ich blieb einfach stehen und wartete schweigend. An der Tür hielt Dad an und drehte sich um, den Karton in beiden Händen vor sich hertragend. Er fixierte mich durch die schwarz gerahmte Brille hindurch. »Wirst du dich jetzt an deine Aufgaben setzen?«, fragte er streng. Ich nickte. »Jawohl, Sir«, murmelte ich, den Blick auf meine Füße gerichtet. Dad ließ den Karton ein wenig sinken. Er ist echt schwer, selbst für einen großen, starken Kerl wie ihn. »Und du wirst heute Abend keine Zeit mehr mit deinen Comics verplempern?«, wollte er wissen. »Könnte ich nicht noch schnell diesen einen neuen fertig lesen?«, fragte ich. Der nächste Fehler. Er knurrte mich an und wandte sich ab, um den Karton davonzutragen. »Okay, okay!«, rief ich. »Tut mir Leid, ich werde meine Hausaufgaben sofort erledigen, Dad. Das verspreche ich. Ich fange gleich damit an.« 12
Er grunzte und trat ins Zimmer zurück. Dann stellte er den Karton wieder vors Regal. »Das ist alles, woran du Tag und Nacht denken kannst, Skipper«, sagte er ruhig. »Comics, Comics. Das bekommt dir nicht gut. Wirklich. Das bekommt dir nicht.« Ich sagte gar nichts darauf. Mir war klar, dass er kurz davor stand, wieder nach unten zu gehen. »Ich will nichts mehr von Comics hören«, sagte Dad barsch. »Verstanden?« »Okay«, murmelte ich. »Es tut mir Leid, Dad.« Ich wartete, bis ich seine schweren Schritte die Treppe hinabsteigen hörte. Dann wandte ich mich wieder der neuen Ausgabe von Der Maskierte Mutant zu. Ich musste unbedingt erfahren, wie der Lebende Schwamm der Riesenkrake entkam. Doch ganz in der Nähe hörte ich Mitzi. Sie war noch immer im ersten Stock. Falls sie mich dabei erwischte, dass ich den Comic las, würde sie ganz bestimmt hinunterlaufen und mich bei Dad verpetzen. Klatschen ist eines von Mitzis Hobbys. Also öffnete ich meinen Rucksack und begann mein Matheheft, das Physikbuch und all das Zeug, das ich sonst noch so brauchte, herauszuholen. Ich erledigte die Matheaufgaben so schnell ich nur konnte. Wahrscheinlich waren die meisten Lösungen falsch. Aber das spielte keine große Rolle. Warum auch, ich bin nun mal eben eine Niete in Mathe. Anschließend las ich im Physikbuch ein paar Kapitel über Atome und Moleküle durch. Während ich etwas über Moleküle las, musste ich wieder an den Maskierten Mutanten denken. Ich konnte es kaum erwarten, wieder zu meinem Comic zurückzukehren. Kurz nach halb zehn war ich endlich mit den Hausaufgaben fertig. Ein paar Fragen zu unserer Literaturaufgabe musste ich zwar auslassen. Aber schließlich beantworten nur die Klassenbesten alle Fragen! Ich ging nach unten und machte mir einen Teller mit gezuckerten Cornflakes zurecht, mein Lieblingsessen für den kleinen Hunger spät am Abend. Dann sagte ich meinen Eltern Gute Nacht, eilte zurück in mein Zimmer und schloss die Tür 13
hinter mir, begierig darauf, ins Bett zu kommen und weiterzulesen. Wieder tief unten im Ozean. Der Lebende Schwamm entkam, indem er sich so klein zusammenzog, dass er zwischen den Tentakeln des Riesenkraken hindurchflutschte. Ziemlich cool, fand ich. Der Maskierte Mutant schlug wütend mit seinen Tentakeln um sich und schwor, dass er den Lebenden Schwamm eines Tages schon noch kriegen würde. Dann brachte er seine Moleküle wieder in die ursprüngliche Ordnung, sodass er wieder wie er selbst aussah, und sauste zurück in sein Hauptquartier. Sein Hauptquartier! Schockiert starrte ich auf die Zeichnung. Das geheime Hauptquartier des Maskierten Mutanten war nie zuvor gezeigt worden. O sicher, wir hatten ab und zu einen Blick in den einen oder anderen Raum darin werden dürfen. Doch dies war das erste Mal, dass das Gebäude jemals von außen gezeigt wurde. Ich betrachtete die Seite eingehend. »Was für ein irrer Ort!«, rief ich aus. Das Gebäude sah völlig anders als jedes andere aus, das ich bisher gesehen hatte. Vor allem sah es ganz und gar nicht nach dem Geheimversteck des übelsten Schurken der ganzen Welt aus. Irgendwie hatte es Ähnlichkeit mit einem sehr großen Feuerhydranten. Einem riesigen Hydranten, der bis zum Himmel reichte. Es bestand ganz aus rosa Stuck und hatte ein gewaltiges grünes Kuppeldach. »Irre«, murmelte ich noch einmal. Aber natürlich war es das perfekte Versteck. Wer käme schon auf die Idee, dass der größte Bösewicht aller Zeiten sich in einem Gebäude aufhielt, das wie ein gigantischer rosa Feuerhydrant aussah? Ich blätterte um. Der Maskierte Mutant schlüpfte in das Gebäude und verschwand in einem Aufzug. Er fuhr darin ganz nach oben und ging in sein privates Kommunikationszentrum. Dort erwartete ihn... eine Riesenüberraschung. Eine dunkle Gestalt. Man konnte sie nur als schwarze Silhouette sehen. 14
Doch ich wusste sofort, wer das war. Es war die Galoppierende Gazelle, der Anführer der Liga der Guten. Wie war die Gazelle da hineingekommen? Was hatte sie vor? Fortsetzung folgt im nächsten Monat. Wow! Ich klappte das Heft zu. Meine Lider fühlten sich schwer an. Die Augen waren bereits zu müde, um die klein gedruckte Schrift auf der Leserbriefseite zu lesen. Deshalb beschloss ich, sie mir für morgen aufzuheben. Gähnend legte ich den Comic ordentlich auf den Nachttisch. Ich schlief ein, bevor mein Kopf auf das Kissen sank. Zwei Tage später, es war ein kalter, klarer Tag, kam Wilson nach der Schule zu mir gerannt. Sein blauer Mantel stand offen. Er zieht den Reißverschluss seines Mantels niemals zu. Er kann es nicht leiden, wie der Mantel aussieht, wenn der Reißverschluss geschlossen ist. Ich hatte ein Hemd, einen Pullover und einen dicken, gefütterten Daunenmantel an und den Reißverschluss bis ans Kinn hochgezogen - trotzdem war mir immer noch kalt. »Was ist los, Wilson?«, fragte ich. Sein Atem bildete kleine Nebelwölkchen. »Hast du Lust, rüberzukommen und dir meine Stempelsammlung anzusehen?« Machte er Witze?! »Ich muss zum Kieferorthopäden«, sagte ich lahm. »Meine Zahnspange sitzt langsam bequem. Er muss sie nachstellen, damit sie mir wieder wehtut.« "Wilson nickte. Die blauen Augen hatten die gleiche Farbe wie sein Mantel. »Wie kommst du da hin?« Ich deutete auf die Bushaltestelle. »Mit dem Bus«, erklärte ich ihm. »Ich hab dich schon oft den Bus nehmen gesehen«, sagte er. »In der Goodale Street gibt es einen Comicladen«, antwortete ich und hängte mir den Rucksack über die andere Schulter. »Einmal in der Woche oder so fahre ich dorthin, um zu sehen, was für neue Comics herausgekommen sind. Der Kieferorthopäde ist nur ein paar Straßen davon entfernt.« »Haben die in dem Comicladen auch Stempel?«, fragte Wilson. 15
»Ich glaube nicht«, antwortete ich. In dem Moment kam der blau-weiße Bus um die Ecke. »Ich muss laufen. Wir sehn uns!«, rief ich, drehte mich um und rannte Vollgas zur Bushaltestelle. Der Fahrer war ein netter Typ. Als er mich rennen sah, wartete er auf mich. Heftig atmend bedankte ich mich und stieg in den Bus. Wahrscheinlich hätte ich mich nicht bei ihm bedankt, wenn ich gewusst hätte, wo mich dieser Bus hinbrachte. Aber ich hatte ja keine Ahnung, dass er mich in das Furcht erregendste Abenteuer meines Lebens kutschierte.
Der Bus war ungewöhnlich voll. Eine Weile musste ich stehen. Dann stiegen zwei Leute aus und ich ließ mich auf einen Sitz fallen. Während wir die Main Street entlangrumpelten, blickte ich hinaus zu den Häusern und Vorgärten, an denen wir vorbeifuhren. Dunkle Wolken hingen tief über den Dächern. Ich fragte mich, ob wir bald den ersten Schnee dieses Winters bekommen würden. Der Comicladen war nur ein paar Straßenzüge weit entfernt. Ich guckte auf meine Armbanduhr und überlegte, ob ich vielleicht noch genug Zeit hatte, dort vor meinem Termin beim Kieferorthopäden auf einen Sprung vorbeizuschauen. Aber nein. Heute blieb für Comics keine Zeit. »He, gehst du auf die Franklinschule?« Eine Mädchenstimme unterbrach meinen Gedankengang. Als ich mich umwandte, stellte ich fest, dass das Mädchen sich auf den Platz neben mir gesetzt hatte. Ihr karottenfarbenes Haar war hinten zu einem einzelnen Zopf geflochten. Sie hatte grüne Augen und auf ihrer Nase tummelten sich Unmengen von Sommersprossen. Meine Nachbarin trug einen dicken, blau-rot karierten Skipullover über verwaschenen Jeans. Auf dem Schoß hielt sie einen Rucksack aus rotem Segeltuch. 16
»Ja. Auf die gehe ich«, antwortete ich. »Wie läuft's da denn so?«, fragte sie, kniff ihre grünen Augen zusammen und musterte mich neugierig. »Es ist okay«, meinte ich. »Wie heißt du?«, fragte sie. »Skipper«, antwortete ich. Sie kicherte. »Das ist doch kein richtiger Name, oder?« »Jedenfalls nennen mich alle so«, sagte ich. »Wohnst du auf einem Boot oder so was?«, fragte sie und bekam Fältchen um die Augen herum. Mir war klar, dass sie sich über mich lustig machte. Sie hatte Recht, Skipper ist irgendwie ein doofer Name. Aber ich hatte mich daran gewöhnt. Mir gefällt er viel besser als mein richtiger Name — Bradley. »Als kleines Kind bin ich immer auf Achse gewesen«, erzählte ich ihr. »Ich bin eine Menge herumgehüpft. Da haben sie angefangen mich Skipper zu nennen.« »Süß«, antwortete sie mit einem süffisanten Grinsen. Ich glaube nicht, dass ich dieses Mädchen mag, sagte ich mir im Stillen. »Wie heißt du denn?«, fragte ich. Sie zögerte. »Libby«, sagte sie schließlich. »Libby Zacks.« Sie schaute an mir vorbei zum Fenster hinaus. Der Bus hielt vor einer roten Ampel. Hinten begann ein Baby zu schreien. »Wo fährst du hin?«, fragte mich Libby. »Nach Hause?« Ich hatte keine Lust, ihr zu erzählen, dass ich einen Termin beim Kieferorthopäden hatte. Das war mir doch zu peinlich. »Ich fahre zu einem Comicladen«, sagte ich. »Zu dem in der Goodale Street.« »Du sammelst Comics?« Sie klang überrascht. »Ich auch.« Nun war ich an der Reihe, überrascht zu sein. Die meisten Sammler von Comics, die ich kenne, sind Jungen. »Was für welche sammelst du denn?«, fragte ich. »High School-Comics«, antwortete sie. »Ich sammle alle im Halbformat und einige der normalen ebenfalls.« »Oh nein!« Ich verzog das Gesicht. »High School Harry und sein Kumpel Bohnenkopf? Diese Comics sind doch öde.« »Sind sie nicht!«, erklärte Libby nachdrücklich. 17
»Die sind doch für Babys«, maulte ich. »Das sind keine richtigen Comics.« »Sie sind sehr gut gezeichnet. Und sie sind witzig geschrieben«, antwortete Libby und streckte mir die Zunge heraus. »Vielleicht verstehst du sie bloß nicht.« »Klar. Vielleicht«, sagte ich und verdrehte die Augen. Ein Blick aus dem Fenster zeigte mir, dass der Himmel noch dunkler geworden war. Ich erkannte keinen einzigen der Läden wieder. Ich sah ein Restaurant namens »Pearl's« und einen winzigen Frisörladen. Waren wir an dem Comicladen etwa schon vorbeigefahren? Libby verschränkte die Hände über ihrem roten Rucksack. »Was sammelst du denn? All diesen Superhelden-Quatsch?« »Allerdings«, sagte ich. »Meine Sammlung ist ungefähr tausend Dollar wert. Vielleicht sogar zweitausend.« »Davon träumst du doch«, erwiderte sie und lachte. »High School-Comics steigen nie im Wert«, informierte ich sie. »Selbst die Erstausgaben sind wertlos. Du würdest für deine komplette Sammlung keine fünf Dollar bekommen.« »Warum sollte ich sie verkaufen wollen?«, hielt sie dagegen. »Das will ich gar nicht. Und mir ist schnurzpiepegal, was sie wert sind. Ich lese sie einfach nur gerne.« »Dann bist du auch keine richtige Sammlerin«, stellte ich fest. »Sind alle Jungs an der Franklinschule so wie du?«, fragte Libby. »Nein. Ich bin der Coolste«, verkündete ich. Wir lachten beide. Ich wusste noch immer nicht so recht, ob ich sie mochte oder nicht. Sie sah ziemlich süß aus. Und auf ihre kratzbürstige Art war sie witzig. Ich hörte auf zu lachen, als ich wieder zum Fenster hinausschaute und mir klar wurde, dass ich meine Haltestelle eindeutig verpasst hatte. Die kahlen Bäume in dem kleinen Park, an denen wir vorbeifuhren, hatte ich noch nie zuvor gesehen. Der Bus rumpelte daran entlang und dann kamen Läden in Sicht, die ich ebenfalls nicht kannte. 18
Plötzlich erfasste mich ein Anflug von Panik. Die ganze Gegend war mir völlig fremd. Ich drückte auf den Halt-Knopf und sprang auf. »Was ist denn mit dir los?«, wollte Libby wissen. »Meine Haltestelle. Ich h-hab sie v-verpasst«, stotterte ich. Sie schwang ihre Beine auf den Gang hinaus, damit ich mich an ihr vorbeischieben konnte. Als der Bus quietschend anhielt, rief ich ihr ein »Tschüss« zu und hastete durch die hintere Tür hinaus. Wo bin ich?, fragte ich mich, während ich mich umsah. Wieso hatte ich mich bloß auf einen Streit mit diesem Mädchen eingelassen? Warum hatte ich stattdessen nicht lieber aufgepasst? »Hast du dich verirrt?«, fragte eine Stimme. Als ich mich umsah, stellte ich zu meiner Überraschung fest, dass mir Libby aus dem Bus gefolgt war. »Was tust du denn hier?«, platzte ich heraus. »Das hier ist meine Haltestelle«, antwortete sie. »Ich wohne zwei Blocks weiter in dieser Richtung.« Sie deutete mit der Hand. »Ich muss zurück«, sagte ich und wandte mich zum Gehen. Ich tat ein paar Schritte. Und als ich aufblickte, kam etwas in Sicht, das mich die Luft anhalten ließ. »Oh!« Ich stieß einen verblüfften Schrei aus und starrte über die Straße hinweg. »Aber... das ist doch unmöglich!«, rief ich aus. Ich starrte auf das hohe Gebäude an der Ecke gegenüber. Ein hohes, rosa Stuckgebäude mit einem hellgrünen Kuppeldach. Ich starrte auf das geheime Hauptquartier des Maskierten Mutanten.
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»Skipper — fehlt dir was?«, rief Libby. Aber ich war nicht in der Lage, ihr zu antworten. Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich auf das Gebäude auf der anderen Straßenseite. Die Kinnlade hing mir fast bis zu den Knien herab! Schließlich hob ich den Blick zu dem hellgrünen Kuppeldach. Dann ließ ich ihn bedächtig über die glänzenden rosa Wände abwärts wandern. Solche Farben hatte ich im richtigen Leben noch nie zuvor gesehen. Das waren Farben aus Comics. Das war ein Gebäude aus einem Comic. Doch jetzt stand es real vor mir, auf der anderen Straßenseite an der Ecke. »Skipper? Alles in Ordnung mit dir?« Libbys Stimme klang weit entfernt. Es existiert wirklich!, sagte ich mir. Das geheime Hauptquartier des Maskierten Mutanten gibt es in Wirklichkeit! Das war es doch, oder? Zwei Hände auf meinen Schultern schüttelten mich und rissen mich aus meinen Überlegungen. »Skipper! Hast du einen Schock oder so was?« »D-dieses Gebäude da!«, stotterte ich, immer noch verblüfft. »Ist das nicht das hässlichste Ding, das du je gesehen hast?«, fragte Libby kopfschüttelnd. Sie warf ihren karottenfarbenen Zopf zurück und hängte sich den Rucksack über die Schulter. »Aber es... es ist...« Ich konnte noch immer nicht sprechen. »Mein Vater sagt, der Architekt muss farbenblind sein«, sagte Libby. »Es sieht noch nicht einmal wie ein Gebäude aus. Es sieht wie ein Zeppelin aus, der auf dem Heck steht.« »Wie lange steht das da denn schon?«, fragte ich, während ich die Glastüren musterte, die den einzigen Eingang bildeten. Libby zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Ich bin mit meiner Familie erst im vergangenen Frühjahr hierher gezogen. Da stand es schon da.« 20
Die Wolken über uns wurden dunkler. Ein kalter Wind fegte um die Ecke. »Wer, denkst du, arbeitet wohl darin?«, fragte Libby. »Es gibt kein Firmenschild oder so was an dem Gebäude.« Natürlich gibt es kein Firmenschild, dachte ich. Es ist das Hauptquartier des übelsten Schurken der Welt. Der Maskierte Mutant würde nie und nimmer ein Schild neben den Eingang hängen! Schließlich möchte er doch nicht, dass die Liga der Guten sein geheimes Hauptquartier findet, sagte ich mir. »Das ist verrückt!«, rief ich. Ich wandte mich um und sah, dass Libby mich anstarrte. »Bist du sicher, dass mit dir alles in Ordnung ist? Das ist nur ein Gebäude, Skipper. Kein Grund durchzudrehen.« Ich spürte, dass ich rot wurde. Libby muss denken, ich wäre geisteskrank oder so, dämmerte es mir. »Ich... ich denke, ich habe das Gebäude schon mal irgendwo gesehen«, versuchte ich mein sonderbares Verhalten zu erklären. »Ich muss jetzt nach Hause«, sagte sie und schaute zum Himmel auf, der immer dunkler wurde. »Willst du mitkommen? Dann zeige ich dir meine Comicsammlung.« »Nein. Ich bin für meinen Termin beim Kieferorthopäden sowieso schon spät dran«, antwortete ich. »Wie bitte?« Sie sah mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Du hast doch gesagt, du wolltest zu einem Comicladen.« Ich konnte spüren, dass meine Wangen noch röter wurden. »Ehm... zu dem Comicladen gehe ich nach dem Termin«, erklärte ich verlegen. »Wie lange hast du deine Spange schon?«, fragte sie. Ich stöhnte. »Seit einer Ewigkeit.« Sie wandte sich zum Gehen. »Na ja, wir sehen uns irgendwann.« »Klar. Tschüss!« Sie drehte sich um und trottete die Straße entlang davon. Sie muss mich für einen Volltrottel halten, dachte ich unglücklich. Aber daran konnte ich nichts ändern. Dieses Gebäude zu sehen hatte mir wirklich einen Schock versetzt. Fasziniert wandte ich mich danach um. Die Spitze des Gebäudes ragte nun in die 21
Wolken, die sich tiefer gesenkt hatten. Jetzt sah das Gebäude wie ein schnittiges rosa Raumschiff aus, das dem Himmel zustrebte. Ein Umzugswagen kam angerumpelt. Ich wartete, bis er vorbei war, und überquerte dann eilig die Straße. Auf dem Bürgersteig war keine Menschenseele. Ich hatte bis jetzt noch niemanden in das Gebäude hineingehen oder aus ihm herauskommen gesehen. Es ist einfach nur ein großes Bürogebäude, beruhigte ich mich. Nichts, weswegen man aus dem Häuschen geraten muss. Doch mein Herz schlug heftig, als ich ein paar Schritte vor den Glastüren des Eingangs stehen blieb. Ich holte tief Luft und spähte hinein. Ich weiß, es ist verrückt, aber ich erwartete tatsächlich, drinnen Leute in Superheldenkostümen herumgehen zu sehen. Mit zusammengekniffenen Augen blinzelte ich durch die Glastüren hindurch. Niemand war zu sehen. Drinnen schien es dunkel zu sein. Ich trat einen Schritt näher. Dann noch einen. Schließlich drückte ich meine Nase an die Glasscheibe und spähte hinein. Ich konnte eine geräumige Eingangshalle ausmachen. Rosa und gelb gestrichene Wände. Ziemlich weit hinten eine Reihe von Aufzügen. Aber keine Menschen. Nicht ein einziger. Alles wie ausgestorben. Zögernd packte ich den Griff der Glastür und schluckte heftig an dem Kloß in meinem Hals. Soll ich reingehen?, fragte ich mich. Trau ich mich das?
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Meine Hand schloss sich um den Türgriff. Ich begann die schwere Glastür aufzuziehen. Doch dann sah ich aus den Augenwinkeln heraus einen blauweißen Bus auf mich zukommen. Ein rascher Blick auf meine Armbanduhr zeigte mir, dass ich zu meinem Termin erst fünf Minuten zu spät dran war. Wenn ich diesen Bus nahm, konnte ich in ein paar Minuten in der Praxis des Kieferorthopäden sein. Also ließ ich den Türgriff los, drehte mich um und rannte zur Bushaltestelle. Mein Rucksack hüpfte auf dem Rücken auf und ab. Ich war enttäuscht. Aber ich fühlte mich auch erleichtert. Das Hauptquartier des Meisters der Mutanten zu betreten war schon ein bisschen Furcht erregend. Der Bus hielt an. Ich wartete, bis ein älterer Herr ausgestiegen war. Dann stieg ich ein, warf mein Fahrgeld in den Schlitz und lief im Bus rasch nach hinten, um einen letzten Blick auf das geheimnisvolle rosa-grüne Gebäude zu werfen. Auf der Rückbank saßen zwei Frauen. Aber ich quetschte mich zwischen sie und drückte die Nase am Rückfenster platt. Während der Bus losfuhr, starrte ich das Gebäude an. Seine Farben leuchteten hell, obwohl sich der Himmel dahinter verfinstert hatte. Der Bürgersteig war menschenleer. Noch immer hatte ich niemanden herauskommen oder hineingehen gesehen. Sekunden später verschwand das Gebäude in der Ferne. Ich wandte mich vom Fenster ab und ging den Gang entlang, um mir einen Sitzplatz zu suchen. Irre, dachte ich. Total irre. »Und es war genau dasselbe Gebäude wie in dem Comic?«, fragte Wilson und starrte mich im Pausenraum mit seinen blauen Augen über den Tisch hinweg an. Ich nickte. »Sobald ich gestern Nachmittag zu Hause angekommen war, habe ich mir die Seiten noch mal genau angesehen. Das Gebäude war exakt dasselbe.« Wilson holte ein Sandwich aus seinem Pausenbeutel und begann es aus der Frischhaltefolie zu wickeln. »Was für ein 23
Sandwich hat dir deine Mutter eingepackt?«, fragte er. Ich klappte meines auf. »Tunfischsalat. Was hast du für eins ?« Er lüpfte die Brotscheibe an einer Ecke hoch und beäugte den Belag. »Tunfischsalat«, antwortete er. »Möchtest du tauschen?« »Wir haben beide Tunfischsalat«, sagte ich. »Wozu willst du da tauschen?« Er zuckte die Achseln. »Keine Ahnung.« Wir tauschten unsere Sandwiches. Der Tunfischsalat seiner Mutter war eindeutig besser als meiner. Ich holte eine Saftbox aus meinem Pausenbeutel. Den Apfel schenkte ich Wilson. Ich sage meiner Mom ständig, sie solle mir keinen Apfel einpacken. Ich habe ihr sogar erzählt, dass ich ihn jeden Tag verschenke. Wieso packt sie mir trotzdem immer wieder einen ein? »Kann ich deinen Pudding auch haben?«, fragte Wilson. »Nein«, antwortete ich. Während ich mein Sandwich aß, dachte ich angestrengt über das geheimnisvolle Gebäude nach. Ich grübelte darüber nach, seit ich es zu Gesicht bekommen hatte. »Ich glaube, ich bin hinter das Geheimnis gekommen«, sagte Wilson und fuhr sich mit den Fingern durch den weißblonden Lockenschopf. Er begann übers ganze Gesicht zu strahlen. »Ja! Ich habe das Rätsel gelöst.« »Nämlich?«, wollte ich begierig wissen. »Es ist ganz einfach«, antwortete Wilson. »Wer zeichnet den Maskierten Mutanten?« »Du meinst, welcher Zeichner?«, fragte ich. »Jimmy Starenko natürlich. Starenko hat den Maskierten Mutanten und die Liga der Guten geschaffen.« Wie war es möglich, dass Wilson das nicht wusste? »Na, wahrscheinlich ist dieser Starenko eines Tages mal hier gewesen«, fuhr Wilson fort, während er einen Strohhalm in seine Saftbox bohrte. »Starenko? Hier? In Riverview Falls?«, sagte ich skeptisch. Ich konnte ihm nicht ganz folgen. Wilson nickte. »Sagen wir mal, Starenko wäre hier gewesen. Er fährt die Straße entlang und sieht dieses merkwürdige Gebäude. Er 24
hält seinen Wagen an. Er steigt aus und sieht sich das Gebäude an. Und er denkt: Was für ein tolles Gebäude! Dieses Gebäude gäbe das perfekte geheime Hauptquartier für den Maskierten Mutanten ab.« »Wow! Ich verstehe«, murmelte ich. Langsam begann ich Wilsons Gedankengang zu begreifen. »Du meinst, er hat das Gebäude gesehen, es gefiel ihm und er kopierte es, als er das Hauptquartier zeichnete?« Wilson nickte, während er an einem Stück Stangensellerie knabberte. »Klar. Vielleicht ist er aus dem Wagen ausgestiegen und hat eine Skizze des Gebäudes gemacht. Dann hob er die Skizze in einer Schublade auf oder so, bis er sie brauchte.« Das machte Sinn. Genau genommen machte es zu viel Sinn. Ich war echt enttäuscht. Mir war klar, dass das doof war, aber ich wünschte mir wirklich, das Gebäude wäre das geheime Hauptquartier des Maskierten Mutanten gewesen. Wilson hatte alles verdorben. Wieso musste er auf einmal so vernünftig sein? »Ich habe ein paar neue Stempel«, erzählte er mir, während er den Rest aus seinem Puddingbecher löffelte. »Möchtest du sie sehen? Ich könnte sie heute nach der Schule bei dir vorbeibringen.« »Nein danke«, antwortete ich lässig. »Das wäre zu aufregend.« Für diesen Nachmittag hatte ich mir vorgenommen, mich in den Bus zu setzen und mir das Gebäude noch einmal anzusehen. Doch Ms. Partridge gab uns tonnenweise Hausaufgaben auf. Deshalb musste ich direkt nach Hause fahren. Am nächsten Tag schneite es. Wilson, ein paar andere Jungs und ich gingen auf dem Grover's Hill Schlitten fahren. Erst eine Woche später fand sich endlich die Möglichkeit, das Gebäude noch einmal genauer zu inspizieren. Dieses Mal gehe ich hinein, nahm ich mir vor. Es muss eine Empfangsdame oder einen Wachmann geben, überlegte ich. Ich werde fragen, wem das Gebäude gehört und wer darin arbeitet. Als ich nach der Schule in den Bus stieg, kam ich mir richtig mutig vor. Aber letztendlich war es nur ein ganz gewöhnliches Bürogebäude. Nichts, weswegen man aus dem Häuschen geraten musste. 25
"Ich nahm einen Sitzplatz vorne im Bus und hielt nach Libby Ausschau. Der Bus war voller Kinder, die nach der Schule nach Hause fuhren. Ziemlich weit hinten sah ich ein rothaariges Mädchen, das sich mit einem anderen Mädchen stritt. Aber es war nicht Libby. Von ihr war weit und breit nichts zu sehen. Ich schaute zum Fenster hinaus, als der Bus an dem Comicladen vorbeifuhr. Dann rumpelten wir ein paar Straßenzüge weiter an der Praxis meines Kieferorthopäden vorbei. Wenn ich das Haus bloß sah, bekam ich schon Zahnschmerzen! Es war ein heller, klarer Nachmittag. Die Sonne strahlte durch die Busfenster herein und zwang mich, beim Hinausschauen meine Augen abzuschirmen. Ich musste gut aufpassen, weil ich nicht genau wusste, wo die Haltestelle war. In diesem Viertel kannte ich mich überhaupt nicht aus. Im Mittelgang standen dicht gedrängt Kinder. Deshalb konnte ich nicht durch das Fenster auf der anderen Busseite hinaussehen. Hoffentlich sind wir an dem Gebäude nicht schon vorbeigefahren, dachte ich und hatte dabei ein seltsames Gefühl in der Magengrube. Ich hatte richtig Angst davor, die Haltestelle verpasst zu haben. Meine Mutter sagt, dass sie mich im Supermarkt bei der Tiefkühlkost ein paar Minuten lang aus den Augen verloren hat, als ich zwei war. Seitdem habe ich ständig Angst davor, verloren zu gehen. Der Bus rollte auf eine Haltestelle zu. Ich erkannte den kleinen Park auf der anderen Straßenseite wieder. Das war die Haltestelle! »Aussteigen!«, rief ich und sprang in den Mittelgang. Dabei rempelte ich einen Jungen mit meinem Rucksack an, als ich zur vorderen Tür stolperte. »Tut mir Leid. Aussteigen! Aussteigen!« Ich schob mich zwischen den dicht gedrängten Kindern hindurch und sprang die Stufen hinunter auf den Bürgersteig. Der Bus rumpelte davon. Sonnenlicht umflutete mich. Ich ging zur Ecke weiter. Ja. Das war die richtige Haltestelle. Jetzt erkannte ich alles wieder. Erwartungsvoll drehte ich mich um, gespannt auf das sonderbare Gebäude. 26
Und stellte fest, dass ich auf ein großes, leeres Grundstück schaute. Das Gebäude war nicht mehr da.
»Stopp!«, rief ich, vor Schreck wie erstarrt. Mit einer Hand schirmte ich die Augen ab und starrte zur anderen Straßenseite hinüber. Wie konnte so ein riesiges Gebäude innerhalb einer Woche verschwunden sein? Mir blieb jedoch nicht viel Zeit zum Grübeln. Der nächste Bus fuhr an der Haltestelle vor und hielt an. »Skipper! He Skipper!« Libby hüpfte aus dem Bus heraus, winkte mir zu und rief meinen Namen. Sie trug denselben rot und blau gemusterten Skipullover und die verwaschenen Jeans, die an einem Knie zerrissen waren. Ihr Haar war glatt nach hinten gekämmt und mit einem blauen Haargummi zu einem Pferdeschwanz gebunden. »He — was machst du denn in meinem Viertel?«, fragte sie mit einem Lächeln, während sie auf mich zulief. »D-das Gebäude!«, stotterte ich und deutete auf das unbebaute Grundstück. »Es ist verschwunden!« Libbys Gesichtsausdruck veränderte sich. »Also sag bloß nicht ›Hi!‹ oder so was«, maulte sie und sah mich ungnädig an. »Hi«, sagte ich. »Was ist mit diesem Gebäude passiert?« Sie wandte sich um und folgte meinem Blick mit den Augen. Dann zuckte sie die Achseln. »Sieht so aus, als hätten sie es abgerissen.« »Aber... aber...«, stammelte ich. »Es war so hässlich«, sagte Libby. »Vielleicht hat die Stadt sie gezwungen, es abzureißen.« »Aber hast du gesehen, wie es abgerissen wurde?«, wollte ich ungeduldig wissen. »Du wohnst doch hier ganz in der Nähe, oder? Hast du gesehen, wie sie es getan haben?« 27
Sie dachte darüber nach, um ihre grünen Augen herum bildeten sich beim Grübeln Fältchen. »Also ... nein«, antwortete sie schließlich. »Ich bin hier ein paar Mal vorbeigekommen, aber...« »Du hast keine Baumaschinen gesehen?«, wollte ich gespannt wissen. »Keine großen Abrissbirnen? Keine Bulldozer? Oder Dutzende von Arbeitern?« Libby schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe tatsächlich niemanden beim Abriss des Gebäudes gesehen. Aber ich habe mich eigentlich auch gar nicht darum gekümmert.« Sie zog ihren Rucksack von der Schulter. »Ich weiß wirklich nicht, warum du dich so für dieses hässliche Gebäude interessierst, Skipper. Ich bin froh, dass es endlich weg ist.« »Aber es tauchte in meinem Comic auf!«, platzte ich heraus. »Wie bitte?« Sie schaute mich eindringlich an. »Wovon redest du?« Mir war klar, dass sie es nicht verstehen würde. »Von nichts«, murmelte ich. »Skipper, bist du etwa den ganzen Weg hierher gekommen, nur um dieses Gebäude zu sehen?«, fragte sie. »Nein, nein«, schwindelte ich. »Natürlich nicht.« »Möchtest du mit mir nach Hause kommen und dir meine Comicsammlung ansehen?« Ich war so am Boden zerstört und durcheinander, dass ich einwilligte. Nicht ganz eine Stunde später verließ ich eilig Libbys Haus. Diese High School-Comics sind die langweiligsten Comics der Welt! Und die Zeichnungen sind so lahm. Müsste denn nicht jeder sehen können, dass die beiden Mädchen exakt gleich gezeichnet sind, außer dass das eine blondes und das andere schwarzes Haar hat? So was von langweilig! Libby bestand darauf, mir jeden einzelnen High SchoolComic, den sie besaß, zu zeigen. Und sie hatte einige Regalfächer voll davon! Natürlich brachte ich es nicht fertig, mich auf diese öden Comics zu konzentrieren. Ich konnte nicht aufhören, über dieses 28
seltsame Gebäude nachzudenken. Wie konnte ein ganzes Gebäude spurlos verschwinden? Schließlich trabte ich zu der Bushaltestelle an der Main Street zurück. Die Sonne versank gerade hinter den Gebäuden. Lange Schatten zogen sich über die Bürgersteige. Ich ertappte mich dabei, dass ich dachte: Ich wette, das Gebäude ist wieder da, wenn ich an der Ecke ankomme! Aber natürlich war das nicht der Fall. Ich weiß. Ich weiß. Manchmal habe ich verrückte Gedanken. Wahrscheinlich kommt das daher, dass ich zu viele Comics lese. Ich musste fast eine halbe Stunde warten, bis endlich der Bus kam. Die ganze Zeit über starrte ich auf das brachliegende Grundstück und überlegte, warum das Gebäude verschwunden war. Als ich schließlich zu Hause ankam, entdeckte ich auf dem kleinen Tisch in der Diele, wo meine Mutter immer die Post ablegt, einen braunen Umschlag für mich. »Ja!«, rief ich fröhlich. Die Sonderausgabe des Maskierten Mutanten! Der Comicverlag verschickte diesen Monat zwei Sonderhefte und dies war das erste davon. Ich rief meiner Mom ein »Hi!« zu, warf den Mantel und den schweren Rucksack auf den Boden und rannte, das Comicheft fest in meiner heißen Hand, die Treppe hinauf in mein Zimmer. Ich konnte es kaum abwarten zu erfahren, was passiert war, nachdem sich die Galoppierende Gazelle in das Hauptquartier des Maskierten Mutanten geschlichen hatte. Behutsam zog ich den Comic aus dem Umschlag und betrachtete das Titelbild. Und da war es. Das rosa und grüne Gebäude des Hauptquartiers. Direkt auf der Titelseite. Meine Hand zitterte, als ich die erste Seite aufschlug. DER MORGEN EINES MUTANTEN verkündete der groß aufgemachte Titel in schaurigen roten Lettern. Der Maskierte Mutant stand vor seinem großen Kommunikationsschaltpult. Er blickte auf eine Wand mit etwa zwanzig Monitoren. Jeder Bildschirm zeigte ein anderes Mitglied der Liga der Guten. »Ich habe jeden Einzelnen von ihnen im Visier«, sagte der Maskierte Mutant in der ersten Sprechblase. »Sie werden mich 29
nie finden. Ich habe einen Unsichtbarkeitsvorhang über mein ganzes Hauptquartier ausgebreitet!« Mir klappte der Mund auf, als ich das las. Ich wiederholte den Satz dreimal, bevor ich den Comic aus den Händen gleiten und aufs Bett fallen ließ. Ein Unsichtbarkeitsvorhang! Niemand konnte das Hauptquartier des Maskierten Mutanten sehen, weil er einen Unsichtbarkeitsvorhang darüber ausgebreitet hatte. Aufgeregt blieb ich auf der Bettkante sitzen, atmete heftig und spürte, wie das Blut in meinen Schläfen pochte. War es das, was im wirklichen Leben passiert war? War das der Grund, warum ich das rosa-grüne Gebäude am vergangenen Nachmittag nicht hatte sehen können? Gab mir der Comic die Antwort auf die Frage nach dem Geheimnis um das verschwundene Gebäude? Das klang verrückt. Das klang total verrückt. Aber war es wirklich so? Gab es wirklich einen Unsichtbarkeitsvorhang, der das Gebäude verbarg? Meine Gedanken drehten sich schneller als der Verblüffende Tornado-Mann! Nur eins wusste ich mit Sicherheit: Ich musste dorthin zurückkehren und es herausfinden.
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Am folgenden Nachmittag musste ich nach der Schule mit Mom ins Einkaufszentrum, um Turnschuhe für mich zu kaufen. Normalerweise probiere ich mindestens zehn bis zwölf Paar an und bitte dann darum, die teuersten zu bekommen. Du weißt schon. Solche, die man aufpumpen kann oder bei denen beim Gehen Lämpchen aufleuchten. Doch dieses Mal kaufte ich das erste Paar, das ich sah, einfache schwarz-weiße Reeboks. Ich meine, wer kann sich schon wegen Turnschuhen den Kopf zerbrechen, wenn ein unsichtbares Gebäude darauf wartet, entdeckt zu werden! Während wir vom Einkaufszentrum nach Hause fuhren, begann ich meiner Mutter von dem Gebäude zu erzählen. Aber sie unterbrach mich schon nach den ersten Sätzen. »Ich wünschte mir wirklich, du würdest genauso viel Interesse für deine Schularbeiten entwickeln wie für diese dämlichen Comics«, sagte sie seufzend. Das war genau das, was sie immer sagt. »Wann hast du das letzte Mal ein gutes Buch gelesen?«, fuhr sie fort. Das sagte sie jedes Mal als Nächstes. Ich beschloss das Thema zu wechseln. »Wir haben heute in Biologie einen Wurm seziert«, erzählte ich ihr. Angewidert verzog sie das Gesicht. »Hat euer Lehrer denn nichts Besseres zu tun, als arme unschuldige Würmer aufzuschneiden ?« Heute konnte ich meiner Mutter aber einfach gar nichts recht machen. Am nächsten Nachmittag sprang ich, meine neuen Turnschuhe an den Füßen, aufgeregt in den Bus. Als ich meine Münze in die Kasse warf, sah ich ziemlich weit hinten Libby sitzen. Während sich der Bus vom Randstein entfernte, stolperte ich den Gang entlang, ließ mich neben sie auf den Sitz plumpsen und stellte den Rucksack neben mir auf den Boden. »Ich fahre noch mal zu diesem Gebäude«, sagte ich atemlos. »Ich glaube, dass ein Unsichtbarkeitsvorhang darüber liegt.« 31
»Sagst du eigentlich nie ›Hallo!‹?«, beschwerte sie sich. Ich sagte »Hallo!«. Dann wiederholte ich, was ich über den Unsichtbarkeitsvorhang gesagt hatte. Ich erzählte ihr, was ich in der neuesten Der Maskierte Mutant-Ausgabe darüber gelesen hatte und dass mir der Comic möglicherweise Hinweise darauf gab, was im wirklichen Leben passierte. Ohne zu blinzeln oder sich zu bewegen, hörte Libby mir aufmerksam zu. Ich konnte sehen, dass sie langsam zu verstehen begann, warum ich so begierig darauf war, das Gebäude aufzuspüren. Als ich mit meiner Erklärung zu Ende war, legte sie mir die Hand auf die Stirn. »Du fühlst dich nicht heiß an«, sagte sie. »Gehst du zu einem Klapsdoktor?« »Was?« Ich schob ihre Hand weg. »Gehst du zu einem Klapsdoktor? Du hast ja völlig den Verstand verloren. Das ist dir doch klar - oder?« »Ich bin nicht verrückt«, sagte ich. »Das werde ich dir beweisen. Komm mit mir mit.« Sie rückte näher ans Fenster, als ob sie versuchte, möglichst weit von mir wegzukommen. »Kommt nicht in Frage«, erklärte sie. »Ich kann kaum glauben, dass ich hier neben einem Jungen sitze, der allen Ernstes glaubt, Comichefte könnten Wirklichkeit werden.« Sie zeigte zum Fenster hinaus. »He, sieh mal, Skipper -da läuft der Osterhase! Gerade schenkt er der Zahnfee ein Ei!« Sie lachte. Ein fieses Lachen. »Haha!«, maulte ich wütend. Ich besitze wirklich viel Humor. Aber ich kann es nicht leiden, wenn mich Mädchen auslachen, die High School-Comics sammeln. Da fuhr der Bus an der Haltestelle vor. Rasch nahm ich den Rucksack auf und kletterte durch die hintere Tür aus dem Bus. Libby direkt hinter mir. Als der Bus, schwarze Abgasschwaden ausstoßend, wieder anfuhr, schaute ich über die Straße hinüber. Kein Gebäude. Ein unbebautes Grundstück. »Wie sieht's aus?« Ich drehte mich zu Libby um. »Kommst du mit?« 32
Sie setzte eine nachdenkliche Miene auf. »Auf ein unbebautes Grundstück? Skipper, wirst du dir nicht wie ein Idiot vorkommen, wenn sich herausstellt, dass da nichts ist?« »Na, dann geh eben nach Hause«, empfahl ich ihr bissig. »Also gut, ich komme mit«, sagte sie mit einem Grinsen. Als wir die Straße überquerten, fuhren uns zwei größere Jungen auf Fahrrädern beinahe über den Haufen. »Wir haben sie verfehlt!«, schrie einer der beiden. Der andere lachte. »Wie kommen wir durch den Unsichtbarkeitsvorhang?«, fragte Libby. Ihre Stimme klang ernsthaft. Aber an ihren Augen konnte ich ablesen, dass sie sich über mich lustig machte. »In dem Comic spazieren die Leute einfach durch ihn hindurch«, erklärte ich ihr. »Man spürt dabei gar nichts. Er ist wie eine Wand aus Rauch. Aber sobald du hindurchgetreten bist, kannst du das Gebäude sehen.« »Lass es uns ausprobieren«, sagte Libby und warf entschlossen ihren Pferdeschwanz über die Schulter zurück. »Wir sollten die Sache rasch hinter uns bringen, okay?« Seite an Seite gingen wir über den Bürgersteig einen Schritt auf das unbebaute Grundstück zu. Dann noch einen Schritt. Dann noch einen. Wir verließen den Bürgersteig und betraten das Grundstück. »Ich kann kaum glauben, was ich hier tue«, brummte Libby. Wir gingen noch einen Schritt weiter. »Ich kann kaum glauben, dass ich...« Sie unterbrach sich, als das Gebäude, plötzlich sichtbar geworden, vor uns stand. »Oh!«, schrien wir beide wie aus einem Mund auf. Sie packte mich am Handgelenk und drückte es fest. Ihre Hand war eiskalt. Wir standen nur ein paar Schritte von der gläsernen Eingangstür entfernt. Die grellen Wände des rosa-grünen Gebäudes wuchsen vor uns in die Höhe. »Du - du hattest Recht!«, stotterte Libby, während sie noch immer mein Handgelenk umklammerte. Ich schluckte heftig und wollte etwas sagen, doch mein Mund war auf einmal zu trocken. Das Einzige, was ich hervorbrachte, war ein heiseres Hüsteln. 33
»Was nun?«, fragte Libby, während sie die glänzenden Wände anstarrte. Ich konnte noch immer nicht sprechen. Die Geschichte aus dem Comic ist real!, dachte ich. Der Comic ist Wirklichkeit! Bedeutet das, dass das Gebäude wirklich dem Maskierten Mutanten gehört? Stopp! Krieg dich wieder ein, warnte ich mich selbst. Mein Herz raste bereits schneller als Speedboy. »Was nun?«, wiederholte Libby ungeduldig. »Lass uns von hier verduften — okay?« Zum ersten Mal klang sie so, als ob sie wirklich Angst hätte. »Kommt nicht in die Tüte!«, erklärte ich. »Komm mit. Lass uns reingehen.« Sie riss mich zurück. »Da hineingehen? Bist du verrückt?« »Das müssen wir«, erwiderte ich. »Komm schon. Lass uns reingehen.« Ich holte tief Luft, zog die schwere Glastür auf und dann schlüpften wir hinein.
Wir traten einen Schritt weit in die hell erleuchtete Eingangshalle hinein. Mein Herz schlug so heftig, dass mir die Brust wehtat. Meine Knie zitterten. In meinem ganzen Leben hatte ich mich noch nicht so gefürchtet! Rasch schaute ich mich um. Die Eingangshalle war riesig. Die rosa und gelben Wände strahlten sanftes Licht ab. Die funkelnde Decke schien sich eine Meile über unseren Köpfen zu befinden. Es gab keine Empfangstheke. Keine Stühle oder Tische. Überhaupt keine Möbel. »Wo sind denn alle?«, wisperte Libby. Ihr Gesichtsausdruck zeigte mir, dass sie sich ebenfalls fürchtete. Sie stand dicht neben 34
mir und klammerte sich an meinem Arm fest. Die riesige Halle war leer. Außer uns war weit und breit keine Menschenseele zu sehen. Ich ging einen Schritt weiter. Und hörte ein leises Piep. Ein gelber Lichtstrahl schoss aus der Wand hervor und wanderte über meinen Körper hinunter. Dabei spürte ich ein leichtes Kitzeln. So eine Art Prickeln, wie man es fühlt, wenn einem der Arm einschläft. Es wanderte rasch von meinem Kopf zu den Füßen hinunter. Eine oder zwei Sekunden später ging das Licht aus und das prickelnde Gefühl verschwand. »Was war das?«, flüsterte ich Libby zu. »Was war was?«, erwiderte sie. »Hast du nichts gespürt?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe überhaupt nichts gespürt. Versuchst du mir Angst einzujagen oder so, Skipper?« »Es war so eine Art elektrischer Strahl«, erklärte ich ihr. »Er hat mich abgetastet, als ich vorwärts trat.« »Lass uns von hier verschwinden«, schlug sie wieder vor. »Es ist so still hier, das ist unheimlich.« Ich richtete den Blick auf die Aufzüge an der gelben Wand. Traute ich mich, mit einem zu fahren? War ich mutig genug, ein bisschen herumzustöbern? »Es — es ist einfach nur ein großes Bürogebäude«, erklärte ich Libby und versuchte so, mir selbst Mut zu machen. »Nun, wenn es ein Bürogebäude ist, wo sind dann die Angestellten?«, wollte sie wissen. »Vielleicht sind die Büros heute geschlossen«, schlug ich vor. »An einem Donnerstag?«, sagte Libby skeptisch. »Heute ist kein Feiertag oder so was. Ich denke, das Gebäude steht leer, Skipper. Ich glaube nicht, dass hier jemand arbeitet.« Entschlossen machte ich ein paar Schritte in Richtung der Lifte. Meine Turnschuhe dröhnten laut auf dem harten Marmorboden. »Aber alle Lampen sind an, Libby«, sagte ich. »Und die Tür war offen.« Eilig kam sie mir nach. Ihre Augen irrten unruhig hin und her. Es war deutlich, dass sie sich richtig fürchtete. 35
»Ich weiß, was du denkst«, sagte sie. »Du glaubst nicht, dass es einfach nur so ein Bürogebäude ist. Du denkst, es ist das geheime Hauptquartier dieser Comicfigur — stimmt's nicht, Skipper?!« Ich schluckte heftig. Meine Knie zitterten noch immer. Ich bemühte mich, das Zittern abzustellen, aber das klappte nicht. »Na ja, vielleicht ist es das wirklich«, antwortete ich, während ich zu den Aufzügen an der gegenüberliegenden Wand hinüberschaute. »Ich meine, wie willst du den Unsichtbarkeitsvorhang sonst erklären? Er war in dem Comic beschrieben - und er war draußen um das Gebäude herum.« »Ich — ich kann es nicht erklären«, stotterte Libby. »Es ist unheimlich. Es ist zu unheimlich. Dieses Gebäude ist mir nicht geheuer, Skipper. Ich finde wirklich...« »Es gibt nur einen Weg, die Wahrheit herauszufinden«, sagte ich und bemühte mich tapfer zu klingen, aber meine Stimme zitterte fast so heftig wie meine Knie! Libby folgte meinem Blick zu den Aufzügen. »Kommt überhaupt nicht in Frage!«, schrie sie und wich in Richtung der Glastüren zurück. »Wir fahren nur einmal hinauf und hinunter«, erklärte ich ihr. »Vielleicht öffnen wir die Tür in ein paar Etagen und werfen einen Blick hinaus.« »Kommt nicht in Frage«, wiederholte Libby. Sie wirkte plötzlich sehr blass. Ihre grünen Augen waren weit vor Angst. »Libby, es wird nur eine Minute dauern«, sagte ich beharrlich. »Wir sind bis hierher gekommen. Da muss ich mich einfach ein bisschen umsehen. Ich will nicht nach Hause gehen, ohne herausgefunden zu haben, was für ein Gebäude das hier ist.« »Du kannst ja mit dem Lift fahren«, sagte sie. »Ich gehe nach Hause.« Sie wich weiter zu den Glastüren zurück. Draußen sah ich einen blau-weißen Bus, der am Randstein anhielt. Eine Frau stieg aus, die in einem Arm ein Baby trug und mit der anderen Hand einen Buggy hinter sich herzog. Ich könnte zur Tür hinauslaufen und geradewegs in diesen 36
Bus steigen, dachte ich. Ich könnte von hier verschwinden, sicher und unbeschadet. Und nach Hause fahren. Doch was würde passieren, wenn ich zu Hause war? Ich würde mir wie ein Feigling vorkommen, wie ein totaler Schisser. Und ich würde mir Tag für Tag Gedanken über dieses Gebäude machen, würde mich fragen, ob ich tatsächlich das Hauptquartier eines echten Superschurken entdeckt hatte. Wenn ich in diesen Bus sprang und nach Hause fuhr, würde mir dieses Gebäude ein Rätsel bleiben. Und das Rätsel würde mich verrückt machen. »Okay, Libby, du kannst ja nach Hause gehen, wenn du das möchtest«, erklärte ich. »Ich werde jedenfalls mit dem Lift einmal ganz nach oben und wieder hinunter fahren.« Sie schaute mich nachdenklich an. Dann verdrehte sie die Augen. »Okay, okay. Ich komme mit«, sagte sie kopfschüttelnd. Irgendwie war ich froh darüber. Ich hatte wirklich keine Lust, alleine in den Aufzug zu steigen. »Ich komme nur mit, weil du mir Leid tust«, sagte Libby, während sie mir über den Marmorboden zu den Aufzügen folgte. »Was? Wieso tue ich dir Leid?«, wollte ich wissen. »Weil du so durcheinander bist«, antwortete sie. »Du glaubst im Ernst, dass ein Comic Wirklichkeit werden kann. Das ist traurig. Das ist echt traurig.« »Dem Himmel sei Dank, dass deine Comics nicht Wirklichkeit werden können!«, hänselte ich sie. Dann setzte ich hinzu: »Was ist mit dem Unsichtbarkeitsvorhang? Der war doch wirklich — oder etwa nicht?« Libby gab keine Antwort. Stattdessen lachte sie. »Dir ist es wirklich Ernst damit!«, sagte sie. Der Klang ihres Lachens hallte in der riesigen, leeren Eingangshalle wider. Das ließ mich ein bisschen mutiger werden. Ich lachte ebenfalls. Was ist schon groß dabei?, fragte ich mich. Du wirst in einem Lift fahren. Na und? Schließlich ist es ja nicht so, dass der Maskierte Mutant mit uns zusammen in den Aufzug springen wird, machte ich mir Mut. Wahrscheinlich würden wir einen Blick auf eine Menge langweiliger Büros werfen. Und das war's auch schon. 37
Zaghaft drückte ich auf den erleuchteten Knopf an der Wand. Im selben Augenblick öffnete sich die silbrige Aufzugtür vor uns. Ich streckte den Kopf in die Kabine. Die Wände waren aus dunkelbraunem Holz und rings um die ganze Kabine herum verlief ein silberner Handlauf. An den Wänden gab es keine Hinweisschilder. Keinen Etagenplan des Gebäudes. Nichts dergleichen. Plötzlich fiel mir auf, dass es auch in der Eingangshalle keinerlei Hinweise gab. Nicht einmal ein Schild mit dem Namen des Gebäudes. Auch keine Tafel, die den Besuchern sagte, wo sie sich anmelden mussten. Sonderbar. »Dann wollen mir mal«, sagte ich. Als Libby stehen blieb, zog ich sie am Arm hinter mir her in den Lift. Sobald wir eingetreten waren, schloss sich die Aufzugstür hinter uns geräuschlos. Ich wandte mich zu der Schalttafel links von der Tür um. Ein lang gezogenes, silbern glänzendes Rechteck mit jeder Menge Knöpfe darauf. Rasch drückte ich auf den Knopf zum obersten Stockwerk. Der Lift begann zu summen und ruckelte ein bisschen, als er Fahrt aufnahm. Ich drehte mich zu Libby um. Sie stand mit dem Rücken gegen die Wand gepresst und hatte die Hände in den Taschen ihrer Jeans vergraben. Starr blickte sie auf die Tür. »Wir fahren«, murmelte ich. Der Aufzug wurde schneller. »He!«, schrien Libby und ich gleichzeitig auf. »Wir - wir fahren abwärts!.«, rief ich verwirrt. Ich hatte den Knopf zum obersten Stockwerk gedrückt. Aber wir fuhren abwärts. Schnell. Schneller. Mit beiden Händen hielten wir uns am Handlauf fest. Wo brachte der Lift uns hin? Würde er jemals anhalten?
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Schließlich hielt der Aufzug mit einem derart heftigen Ruck an, dass wir ein Stück weit in die Knie gingen. »Stopp!«, rief ich. Ich ließ den Handlauf los und wandte mich an Libby, die neben mir stand. »Alles in Ordnung mit dir?« Sie nickte und starrte noch immer die Aufzugstür an. »Wir hätten eigentlich nach oben fahren müssen«, sagte ich nervös. »Ich habe aufwärts gedrückt.« »Warum geht die Tür nicht auf?«, fragte Libby mit zittriger Stimme. Jetzt starrten wir beide auf die Tür. Ich trat in die Mitte der Aufzugkabine. »Geh auf!«, befahl ich. Die Tür bewegte sich nicht. »Wir sind hier drin eingesperrt«, sagte Libby mit schriller Stimme. »Nein«, widersprach ich, immer noch bemüht tapfer zu sein. »Sie wird aufgehen. Pass auf. Sie ist nur langsam.« Die Tür öffnete sich nicht. »Der Aufzug muss kaputt sein«, heulte Libby. »Wir werden hier für immer feststecken. Die Luft fängt schon an, dünn zu werden. Ich bekomme keine Luft mehr!« »Keine Panik«, ermahnte ich sie, wobei ich mir Mühe gab, meine Stimme ruhig klingen zu lassen. »Atme tief ein, Libby. Es gibt genug Luft.« Gehorsam holte sie tief Luft und ließ sie mit einem lang gezogenen Wunsch wieder ausströmen. »Warum geht die Tür nicht auf? Ich wusste, dass wir das nicht hätten tun sollen!« Ich wandte mich der Schalttafel zu. Neben einem Knopf ganz unten stand ÖFFNEN. Ich drückte darauf. Augenblicklich ging die Tür auf. Triumphierend drehte ich mich zu Libby um. »Siehst du? Alles in Ordnung!« »Aber wo sind wir?«, rief sie verängstigt. Entschlossen trat ich auf die Türöffnung zu und streckte den Kopf hinaus. Es war ziemlich finster. In der Dunkelheit konnte ich eine Art schwere Maschine ausmachen. 39
»Wir sind im Keller, glaube ich«, sagte ich zu Libby. »Das sind jede Menge Rohre und ein großer Heizkessel und so 'n Zeug.« »Lass uns gehen«, drängte Libby, die noch immer an die Rückwand der Kabine gepresst stand. Ich machte einen Schritt zur Tür hinaus und guckte in beide Richtungen. Viel konnte ich nicht sehen. Noch mehr Maschinerie. Eine Reihe metallener Mülltonnen. Ein Stapel langer Metallkisten. »Komm schon, Skipper«, verlangte Libby. »Lass uns nach oben zurückfahren. Sofort!« Also trat ich in den Lift zurück und drückte auf den Knopf, neben dem EINGANGSHALLE stand. Die Tür schloss sich nicht. Der Aufzug bewegte sich nicht, summte nicht. Ich drückte noch einmal auf den Knopf EINGANGSHALLE, probierte es fünf- oder sechsmal. Nichts passierte. Plötzlich hatte ich einen Kloß so groß wie eine Wassermelone im Hals. Auf gar keinen Fall wollte ich hier unten in diesem dunklen Keller stecken bleiben. Wie wild drückte ich auf die Knöpfe, drückte sie alle. Ich drückte fünf- oder sechsmal auf einen roten Knopf mit der Aufschrift NOTRUF. Nichts. »Das glaube ich nicht!«, rief ich erstickt. »Lass uns aussteigen und einen anderen Aufzug nehmen«, schlug Libby vor. . Gute Idee, dachte ich. Oben in der Eingangshalle hatte es eine lange Reihe von Aufzügen gegeben. Wir würden einfach aus diesem Lift aussteigen, auf einen Knopf drücken und einen anderen herunterholen, der uns wieder hinaufbrachte. Zögernd ging ich voran in den dunklen Keller hinaus. Libby blieb mir dicht auf den Fersen. »Oh!« Wir schrien beide leise auf, als sich die Aufzugstür rasch hinter uns schloss. »Was ist denn hier los?«, wollte ich wissen. »Warum ging die Tür vorher nicht zu?« 40
Libby gab keine Antwort. Ich wartete, bis sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Dann sah ich, wohin Libby starrte. »Wo sind die anderen Aufzüge?«, sagte sie ratlos. Wir starrten beide die glatte, nackte Wand an. Der Lift, der uns heruntergebracht hatte, war der einzige an der ganzen Wand. Ich fuhr herum und sah nach den anderen Wänden. Aber es war zu dunkel, um besonders weit sehen zu können. »Die übrigen Aufzüge kommen anscheinend nicht hier runter«, murmelte Libby mit bebender Stimme. Verzweifelt suchte ich die Wand nach einem Knopf ab, mit dem ich unseren Aufzug wieder herunterholen konnte. Aber ich konnte keinen finden. Da war kein Knopf. »Es gibt hier keinen Weg hinaus!«, heulte Libby. »Überhaupt keinen Weg hinaus!«
»Vielleicht gibt es an der Wand da drüben Aufzüge«, sagte ich und zeigte zum anderen Ende der riesigen, dunklen Halle. »Vielleicht«, wiederholte Libby zweifelnd. »Vielleicht gibt es ein Treppenhaus oder so was«, sagte ich. »Vielleicht«, sagte sie leise. Ein plötzliches Geräusch ließ mich einen Satz machen. Ein Rumpeln, gefolgt von einem Knirschen. »Das ist nur die Heizung, die sich eingeschaltet hat«, erklärte ich Libby. »Lass uns einen Weg hier raus finden«, drängte sie. »Ich werde in keinen Aufzug mehr steigen, solange ich lebe!« Während ich losging und mir einen Weg durch die Dunkelheit bahnte, spürte ich ihre Hand auf meiner Schulter. Der riesige graue Heizkessel rumpelte und hustete. Eine andere große Apparatur klapperte leise, als wir an ihr vorbeihasteten. »Ist hier unten jemand?«, rief ich. Meine Stimme hallte von den langen, staubbedeckten Rohren wider, die über unseren Köpfen 41
an der niedrigen Decke entlang verliefen. Ich formte meine Hände um den Mund zu einem Trichter und rief noch einmal. »Irgendjemand hier? Kann mich jemand hören?« Stille. Die einzigen Geräusche, die ich vernehmen konnte, waren das Rumpeln der Heizanlage und das leise Schrappen unserer Turnschuhe auf dem Boden, während Libby und ich uns langsam voranbewegten. Als wir die Wand fast erreicht hatten, sahen wir, dass es auch hier keine Aufzüge gab. Von einer dicken Schicht Spinnweben abgesehen, die dicht unter der Decke hingen, war die glatt verputzte Wand kahl. »Es muss irgendwelche Treppen geben, die von hier hinausführen«, flüsterte Libby, die dicht hinter mir geblieben war. Ein Stück vor uns drang ein schwacher Lichtschein aus einem engen Durchgang heraus. »Lass uns nachsehen, wo der Gang hinführt«, sagte ich, während ich mir ein paar lange, dünne Spinnweben vom Gesicht wischte. Wir gingen darauf zu und fanden uns in einem langen Korridor wieder. Staubbedeckte Glühbirnen an der Decke warfen ein fahles Licht auf den Betonboden. »Ist hier jemand?«, rief ich noch einmal. Meine Stimme klang hohl in dem langen, tunnelartigen Gang. Keine Antwort. Dunkle Türöffnungen säumten beide Seiten des Korridors. Im Vorbeigehen spähte ich in jede Öffnung hinein. Ich sah Kartonstapel, hohe Aktenschränke und seltsame Apparaturen, die ich nicht identifizieren konnte. Ein großer Raum war mit riesigen Rollen dicken Metalldrahts voll gestopft. In einem anderen waren Metallbleche bis fast zur Decke hinauf aufeinander gestapelt. »Halloooooo!«, rief ich. »Halllooooooo!« Keine Antwort. In einem weiteren Raum blinkten mir rote Lämpchen entgegen. Ich blieb in der Türöffnung stehen und starrte in eine Art Schaltraum hinein. Eine der Wände war von blinkenden roten und grünen Lämpchen übersät. Davor stand ein langes Schaltpult voller 42
Skalen, Knöpfe und Hebel. Vor dem Pult waren drei hohe Hocker aufgestellt. Aber niemand saß auf ihnen. Der Raum war leer. So leer wie der übrige seltsame, Furcht erregende Keller. »Verrückt, was?«, flüsterte ich Libby zu. Als sie nicht antwortete, wandte ich den Kopf, um sicherzugehen, dass mit ihr alles in Ordnung war. »Libby?« Sie war verschwunden.
Ich fuhr herum. »Libby?« Ich zitterte am ganzen Körper. »Wo bist du?« Verwirrt blinzelte ich in den langen, grauen Korridor hinaus. Keine Spur von ihr. »Libby? Wenn das ein doofer Scherz sein soll...«, begann ich. Aber der Rest des Satzes blieb mir im Hals stecken. Heftig atmend zwang ich mich dazu, den Weg, den wir gekommen waren, zurückzugehen. »Libby?« An jeder Tür blieb ich stehen und rief ihren Namen. »Libby?« Der Gang wand sich und ich folgte seinen Krümmungen. Heftig atmend begann ich zu traben, rief ihren Namen, hielt an jeder Türöffnung an und spähte in jeden dunklen Raum hinein. Wie ist es möglich, dass ich sie verloren habe?, fragte ich mich, während Panik in mir aufstieg, sodass ich kaum noch Luft bekam. Libby war doch direkt hinter mir gewesen. Verzweifelt bog ich um eine weitere Ecke. In einen weiteren Gang, den ich noch nicht abgesucht hatte. »Libby?« Der schmale Korridor führte in einen riesigen, hell erleuchteten Saal. Wegen des plötzlichen grellen Lichtes musste ich die Augen schließen. 43
Als ich sie wieder öffnete, fand ich mich einer gewaltigen Maschine gegenüber. Helle Scheinwerfer an der hohen Decke tauchten sie in gleißendes Licht. Die Maschine schien so lang wie ein Straßenblock zu sein! Neben ihr stand ein großes Schaltpult voller Skalen, Knöpfe und Lämpchen. Ein langes, flaches Teil - ähnlich einem Förderband führte zu mehreren Walzen. Und am hintersten Ende der Maschine befand sich ein riesiges weißes Rad. Nein - ein Zylinder. Nein eine Rolle weißes Papier. Das ist eine Druckerpresse!, stellte ich fest. Ich taumelte in den Saal hinein, wich Stapeln von Papier und Kartons aus. Der Boden war mit Papier übersät, mit farbverschmiertem Papier, zerknüllt, gefaltet und zerrissen. Als ich auf die riesige Druckerpresse zustakste, ging mir das Meer von Papier fast bis zu den Knien! »Libby? Bist du hier drinnen? Libby?« Stille. Dieser Saal war so leer wie all die anderen Räume. Das Papier raschelte unter meinen Turnschuhen. Ich steuerte auf einen langen Tisch am Ende des Saals zu. Davor entdeckte ich einen roten Hocker und ließ mich völlig aus der Puste darauf fallen. Ich strampelte mit den Füßen, um große Papierfetzen, die daran hingen, loszuwerden, und schaute mich in dem Saal um. Hundert Fragen schwirrten mir gleichzeitig durch den Kopf. Wo ist Libby? Wie hat sie bloß so mir nichts, dir nichts verschwinden können? Ist sie irgendwo dicht hinter mir? Wird sie dem Gang in diesen großen Saal folgen? Wo sind nur die Leute? Wieso ist dieses Gebäude völlig menschenleer? Ist dies der Ort, an dem die Comics gedruckt werden? Bin ich etwa im Keller von Comics für Sammler, dem Verlag, der den Maskierten Mutanten herausgibt? Fragen über Fragen. Mein Kopf fühlte sich an, als drohte er jeden Moment zu platzen. Völlig durcheinander sah ich mich in dem Saal, in dem ein totales Chaos herrschte, um, ließ meinen Blick über die riesige Druckerpresse wandern und hielt nach Libby Ausschau. 44
Wo steckte sie nur? Wo? Ich wandte mich wieder dem Tisch zu — und schnappte nach Luft. Beinahe wäre ich vom Hocker gefallen. Mir starrte der Maskierte Mutant entgegen.
Der Maskierte Mutant starrte mich von einer großen, farbigen Zeichnung, die auf dem Tisch lag, an. Verdattert nahm ich sie auf und betrachtete sie. Das Bild war mit farbiger Tusche auf dicken Plakatkarton gezeichnet. Sein Umhang wehte hinter dem Maskierten Mutanten. Die Augen schienen mich durch seine Maske hindurch anzustarren. Bösartige, zornige Augen. Die Tusche auf dem Blatt glänzte, als wäre sie noch feucht. Rasch rieb ich mit dem Daumen über einen Zipfel des Umhangs. Aber die Tusche ging nicht ab. Ob Starenko wohl dieses Porträt gezeichnet hat?, dachte ich, während ich es gründlich betrachtete. Als ich einen Blick über den Tisch hinweg warf, entdeckte ich auf einer niedrigen Theke, die sich an der gesamten Rückwand entlangzog, einen Stapel Papier. Ich hüpfte von dem hohen Hocker herunter, watete durch das Blätterchaos zu der Theke und fing an den Papierstapel durchzusehen. Da lagen jede Menge von Tuschezeichnungen und Bleistiftskizzen. Viele davon waren Bilder des Maskierten Mutanten. Sie zeigten ihn in den verschiedensten Posen. Auf einigen Blättern verschob er gerade seine Moleküle und verwandelte sich in wilde Tiere und seltsame, unirdische Kreaturen. Als ich eine dicke Zeichenmappe öffnete, fand ich darin etwa ein Dutzend farbiger Skizzen der verschiedenen Mitglieder der Liga der Guten. Dann entdeckte ich einen ganzen Stapel Bleistiftzeichnungen von Figuren, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. 45
Das hier muss der Ort sein, an dem sie die Comics herstellen!, überlegte ich. Ich war so aus dem Häuschen darüber, all diese Originalzeichnungen und -skizzen zu sehen, dass ich Libby beinahe vergaß. Das rosa und grüne Gebäude muss das Hauptquartier von Comics für Sammler sein, schloss ich aus dem Gesehenen. Ich begann mich ein wenig besser zu fühlen. Die Angst fiel von mir ab wie die Federn vom Kämpfenden Vogel-Boy. Schließlich gab es nichts, wovor ich mich fürchten musste. Ich war nicht etwa ins Hauptquartier des übelsten Schurken der Welt getappt, sondern befand mich im Keller eines Comic-Verlags. Hier war der Ort, wo die Texter und die Zeichner arbeiteten. Und hier war es auch, wo die Hefte Monat für Monat gedruckt wurden. Warum also sollte ich Angst haben? Interessiert blätterte ich eine Mappe nach der anderen durch und arbeitete mich dabei vom einen Ende der Theke zum anderen. Dabei fand ich einen Stapel mit Layouts für den Comic, den ich gerade erst bekommen hatte. Ich war ganz aus dem Häuschen darüber, dass ich die Originalzeichnungen zu sehen bekam. Die Vorlagen waren groß, mindestens doppelt so groß wie im Heft. Offenbar malten die Zeichenkünstler ihre Bilder viel größer, als sie auf den Heftseiten abgebildet werden. Und für den Druck wurden die Zeichnungen dann verkleinert. Schließlich entdeckte ich ein paar völlig neue Zeichnungen des Maskierten Mutanten. Ich wusste, dass sie neu waren, weil ich sie nicht aus den Comics kannte, die ich zu Hause hatte — und ich hatte sie alle! Zeichnung auf Zeichnung. Meine Augen tanzten förmlich. Nie hätte ich mir träumen lassen, dass die Comics für Sammler in Riverview Falls hergestellt wurden. Jetzt blätterte ich ein Skizzenbuch voller Porträts der PinguinMenschen durch. Die Pinguin-Menschen hatte ich noch nie gemocht. Ich weiß zwar, dass sie zu den Guten gehören und dass andere Leute sie toll finden. Aber ich finde, ihre schwarz-weißen Kostüme sehen einfach nur doof aus. 46
Ich fühlte mich großartig und hatte wirklich eine Menge Spaß. Natürlich hatte das irgendwann ein Ende. Der Spaß hörte auf, als ich die letzte Mappe auf der Theke öffnete. Und auf die Skizzen darin starrte. Ungläubig schnappte ich nach Luft und meine Hände zitterten, als ich die Zeichnungen eine nach der anderen durchsah. »Das ist doch unmöglich!«, rief ich laut. Ich starrte auf Skizzen von MIR.
Wie wild wühlte ich mich durch den großen Stapel von Zeichnungen. Das bildest du dir nur ein, Skipper, sagte ich mir. Der Junge auf den Skizzen sieht nur so aus wie du. Er ist nicht wirklich du. Aber er musste mich darstellen. Auf jeder der Zeichnungen hatte der Junge mein rundes Gesicht und mein dunkles Haar - an den Seiten kurz geschnitten und oben lang. Er war so klein wie ich. Und ein kleines bisschen pummelig. Er hatte mein schiefes, auf der einen Seite ein wenig hoch gezogenes Lächeln. Er trug meine Klamotten — aus-gebeulte Jeans und ein langärmeliges Sweatshirt mit Taschen. Bei einer Zeichnung, etwa in der Mitte des Stapels, stoppte ich, ging näher heran und starrte verblüfft darauf. »Wow!«, rief ich aus. Der Junge auf dem Blatt hatte sogar einen angeschlagenen Vorderzahn. Genau wie ich. »Das ist doch unmöglich!«, rief ich nochmals laut, aber meine Stimme klang kläglich und schrill in der riesigen Halle. Wer hatte mich gezeichnet? Und wieso? Warum sollte ein Zeichenkünstler eine Skizze nach der anderen von mir anfertigen? Und woher kannte mich der Zeichner so gut? Woher wusste er, dass ich die kleine Macke am Vorderzahn habe? 47
Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. Plötzlich hatte ich richtig Angst. Mein Herz schlug heftig, während ich auf die Zeichnungen starrte. Auf einem der Blätter sah ich so aus, als ob ich mich schrecklich fürchtete. Ich rannte, die Arme steif nach vorne gestreckt, vor irgendetwas davon. Eine andere Zeichnung zeigte mein Gesicht von nahem. Der Gesichtsausdruck auf der Skizze war verärgert. Nein. Mehr als verärgert. Ich sah total wütend aus. Auf einem anderen Blatt ließ ich meine Muskeln spielen. He, ich sehe ziemlich cool aus, dachte ich. Der Zeichner hatte mir pralle Superheldenbizepse verpasst. Auf einer weiteren Skizze hatte ich die Augen geschlossen. Schlief ich? Oder war ich tot? Ich sah mir immer mehr Zeichnungen an, nahm eine nach der anderen in die Hand und betrachtete jede einzelne - als ich Schritte hörte. Und als ich feststellte, dass ich nicht mehr alleine war. »Wer-wer ist da?«, stieß ich hervor und wirbelte herum.
»Wo hast du gesteckt?«, wollte Libby wütend von mir wissen, während sie durch die Halle auf mich zugelaufen kam. »Ich hab dich überall gesucht!« »Wo warst du?«, schnauzte ich zurück. »Ich dachte, du wärst direkt hinter mir.« »Ich dachte, du wärst direkt vor mir!«, schrie sie erbost. »Ich bin um eine Ecke gebogen und da warst du verschwunden.« Heftig atmend und mit knallrotem Gesicht blieb sie vor mir stehen. »Wie konntest du mich an diesem unheimlichen Ort alleine lassen?« »Das habe ich nicht!«, beharrte ich. »Du hast mich alleine gelassen!« 48
Sie schüttelte, noch immer nach Luft schnappend, den Kopf. »Wie auch immer, Skipper, lass uns von hier verschwinden. Ich habe ein paar Aufzüge gefunden, die funktionieren.« Sie zog mich am Ärmel. Ich nahm den Stapel Skizzen hoch und hielt sie ihr entgegen. »Guck mal, Libby, die musst du dir ansehen.« »Hast du sie noch alle?«, schrie sie. »Ich will von hier verschwinden. Ich hab keine Lust, mir jetzt Comics anzusehen!« »Aber... aber...«, stotterte ich und wedelte mit den Zeichnungen. Sie drehte sich um und marschierte in Richtung Ausgang los. »Ich hab dir gesagt, dass ich Aufzüge gefunden habe. Kommst du nun mit oder nicht?« »Aber das sind Zeichnungen von mir!«, schrie ich. »Ja. Klar«, rief sie in sarkastischem Ton zurück. Am vorderen Ende der riesigen Druckerpresse blieb sie stehen. »Wieso sollte jemand dich zeichnen wollen, Skipper?« »I-ich weiß nicht«, stotterte ich. »Aber diese Zeichnungen ...« »Du hast eine krankhafte Phantasie«, sagte sie. »Du siehst zwar wie ein ganz normaler Junge aus. Aber du bist total plemplemp. Tschüss.« Libby begann über den papierübersäten Boden zur Tür zu laufen. »Nein.. .warte!«, rief ich. Dabei warf ich die Zeichnungen auf die Theke, rutschte von dem hohen Hocker herunter und rannte ihr nach. »Wart auf mich, Libby!« Rasch folgte ich ihr auf den Korridor hinaus. Ich wollte an diesem unheimlichen Ort auch nicht alleine gelassen werden. Ich musste nach Hause und über das hier nachdenken, musste herausfinden, was das alles zu bedeuten hatte. In meinem Kopf drehte sich alles. Ich war völlig durcheinander. Hastig folgte ich ihr durch den langen Schlauch von Gängen. Wir bogen um eine Ecke und da sah ich an der Wand eine Reihe von Liften. Libby drückte auf den Knopf an der Wand und einer der Aufzüge öffnete sich geräuschlos. Misstrauisch guckten wir in die Kabine hinein, bevor wir einstiegen. Sie war leer. Wir rangen beide nach Atem. In meinem Kopf pochte es. Ich hatte Seitenstechen. Keiner von uns sprach ein Wort. 49
Libby drückte auf den Knopf mit der Aufschrift EINGANGSHALLE. Wir hörten leises Summen und spürten, wie sich der Aufzug in Bewegung setzte. Als die Tür aufglitt und wir die rosa-gelben Wände der Eingangshalle sahen, jubelten Libby und ich. Gemeinsam schössen wir aus der Kabine heraus und rannten über den Marmorboden zum Ausgang. Draußen auf dem Bürgersteig angekommen, blieb ich stehen, legte die Hände auf die Knie und sog in tiefen Zügen die frische Luft ein. Als ich aufblickte, sah ich, wie Libby auf ihre Armbanduhr guckte. »Ich muss schleunigst nach Hause«, sagte sie. »Meine Mutter wird sonst unruhig.« »Glaubst du mir, was ich dir über die Zeichnungen erzählt habe?«, fragte ich atemlos. »Nein«, antwortete sie. »Wer würde so etwas schon glauben?« Sie winkte mir zu, überquerte die Straße und machte sich auf den Weg nach Hause. Ich sah den Bus näher kommen. Er war nur ein paar Straßenzüge weit entfernt. Rasch suchte ich in den Taschen meiner Jeans nach einer Münze. Dabei drehte ich mich um, um einen letzten Blick auf das unheimliche Gebäude zu werfen. Es war wieder verschwunden. Eigentlich hätte ich etwas Zeit benötigt, um über das, was passiert war, nachzudenken. Doch als ich zu Hause ankam, wartete Wilson bereits auf mich und folgte mir hinauf in mein Zimmer. »Ich habe meine Stempel mitgebracht«, sagte er und hielt mir eine braune Papiertüte unter die Nase. Er wandte sich zum Schreibtisch um und leerte sie dort aus. »Ich dachte, du würdest vielleicht einige der besseren sehen wollen.« »Wilson...«, setzte ich an. »Ich möchte wirklich nicht...« »Mit dem hier machst du einen Marienkäfer«, sagte er und hielt einen kleinen Holzstempel in die Höhe. »Er ist sehr alt. Es ist der älteste, den ich habe. Hier. Ich zeig's dir.« Er klappte ein blaues Stempelkissen auf, drückte den Marienkäferstempel 50
darauf und dann auf das oberste Blatt eines Notizblocks, der auf meinem Schreibtisch lag. »Wie alt ist der?«, fragte ich ihn. »Ich weiß nicht«, antwortete er und nahm einen anderen auf. »Das ist eine Kuh«, sagte er. Als ob ich das nicht selbst hätte sehen können. Er stempelte damit auf meinen Block. »Ich habe mehrere Kuhstempel«, sagte Wilson. »Aber ich habe nur einen davon mitgebracht.« Ich sah mir die Kuh an und tat so, als ob sie mich interessierte. »Das ist auch ein echt alter«, sagte Wilson voller Stolz. »Wie alt?«, fragte ich. Er zuckte die Achseln. »Da bin ich überfragt.« Rasch griff er nach einem weiteren Stempel. »Äh... Wilson... mir ist gerade etwas total Verrücktes passiert«, sagte ich ungeduldig. »Und ich muss darüber nachdenken. Alleine.« Er kniff seine blauen Augen zusammen und sah mich verwirrt an. »Was ist denn passiert?« »Das ist 'ne ziemlich lange Geschichte«, erklärte ich ihm. »Ich war in einem Gebäude. Im Norden der Stadt. Ich glaube, da werden die Comics für Sammler hergestellt.« »Echt? Hier in Riverview Falls?« Wilson setzte eine verblüffte Miene auf. »Und die haben dich da reingelassen?« »Es war niemand da«, gab ich zu. Es tat richtig gut, die Geschichte jemandem zu erzählen. »Also sind wir reingegangen. Dieses Mädchen, das ich im Bus kennen gelernt habe. Libby. Und ich. Wir wollten mit dem Lift nach oben fahren. Aber er brachte uns nach unten. Dann war Libby auf einmal verschwunden. Und ich habe einen Stapel Zeichnungen mit mir darauf gefunden.« »Stopp mal!«, rief Wilson aus und hob die Hände, um mich zu unterbrechen. »Ich kann dir nicht ganz folgen, Skipper.« Da wurde mir klar, dass das, was ich gesagt hatte, überhaupt keinen Sinn ergab. Wie sollte ich das alles bloß erklären? Also sagte ich Wilson, dass ich später mit ihm reden würde, sobald ich mich beruhigt hätte. Dann half ich ihm dabei, seine 51
Stempel einzupacken. Er hatte etwa zwanzig mitgebracht. »Zwanzig der Besten«, sagte er. Ich begleitete ihn die Treppe hinunter und sagte ihm, ich würde ihn nach dem Abendessen anrufen. Nachdem er gegangen war, fiel mein Blick auf das Postablagetischchen im Flur. Ein brauner Umschlag. Mein Herz hüpfte. War das etwa...? Ja! Ein Umschlag vom Comics für Sammler-Verlag. Die nächste Sonderausgabe von Der Maskierte Mutant. Ich war so aus dem Häuschen, dass ich das Tischchen beinahe umwarf, als ich mich auf den Umschlag stürzte. Ohne ihn zu öffnen, klemmte ich ihn mir unter den Arm und rannte, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf. Jetzt muss ich ganz für mich alleine sein. Das muss ich mir genau ansehen!, beschloss ich. Ich schloss die Tür hinter mir und ließ mich auf die Bettkante plumpsen. Meine Hände zitterten, als ich den Umschlag aufriss und den Comic herauszog. Das Titelbild zeigte den Maskierten Mutanten in Großaufnahme. Seine Augen funkelten dem Leser zornig entgegen. EIN NEUER FEIND FÜR DEN MUTANTEN!, verkündete der Titel. Ein neuer Feind? Ich atmete tief ein und hielt die Luft an. Beruhige dich, Skipper, sagte ich mir eindringlich. Das ist nur ein Comic. Aber würde mir diese neue Ausgabe dabei helfen, das Geheimnis zu lüften? Würde sie etwas über das seltsame rosa und grüne Gebäude des Hauptquartiers sagen? Würde sie mir helfen, eines der Rätsel des vergangenen Nachmittags zu lösen? Rasch schlug ich die erste Seite auf. Sie zeigte das Hauptquartier von oben. Die nächste Zeichnung zeigte das Gebäude von der Straße aus. In den tiefen Schatten näherte sich jemand den Glastüren. Jemand schlich sich in das Hauptquartier. Ich blätterte um. Und kreischte mir fast die Lunge aus dem Hals. »Das glaub ich einfach nicht!« 52
Ja. Wahrscheinlich hast du es schon erraten. ICH war es, der sich da in das Hauptquartier des Maskierten Mutanten schlich. Ich starrte so angestrengt auf die Seite, dass mir fast die Augen aus dem Kopf fielen. Ich war so aufgeregt — und so geschockt —, dass ich den Text nicht lesen konnte. Er verschwamm zu einer grauen Fläche. Mit zitternden Händen blätterte ich die Seiten um. Beinahe hätte ich vergessen zu atmen. Ich hielt mir den Comic dicht vor die Augen und betrachtete jedes einzelne Bild. Die Galoppierende Gazelle saß in einem winzigen Raum, in dem es heißer und heißer zu werden schien. In wenigen Minuten würde die Galoppierende Gazelle zur Gekochten Gazelle werden! Der Maskierte Mutant hatte die Galoppierende Gazelle in seinem Hauptquartier gefangen gesetzt! Und nun plante er, sie dort kochen zu lassen. Hastig blätterte ich weiter. Meine Hand zitterte so heftig, dass ich die Seite beinahe herausriss. Da war ich. Ich schlich durch die dunklen Gänge. In dem Comic trug ich dasselbe Sweatshirt und die ausgebeulten Jeans, die ich jetzt gerade anhatte. Die nächste Zeichnung zeigte mein Gesicht in Großaufnahme. Dicke Schweißperlen liefen über meine Stirn. Wahrscheinlich bedeutete das, dass ich wütend war. Ich bin auf dieser Zeichnung ein bisschen zu pummelig, dachte ich. Aber das war ich. Das war ganz eindeutig ICH! »Mom!«, brüllte ich, klappte den Comic zu und sprang vom Bett. »Mom! Dad! Das müsst ihr gesehen haben!« Ich schoss aus meinem Zimmer hinaus und sauste die Treppe hinunter. »Mom! Dad! Wo seid ihr?« Ich fand sie in der Küche, wo sie das Abendessen zubereiteten. Dad schnitt neben der Spüle Zwiebeln. Tränen glitzerten in seinen Augen. Mom stand über den Herd gebeugt. Wie üblich hatte sie Probleme damit, den Herd anzuzünden. »Ich bin in diesem Comic!«, rief ich, als ich in den Raum platzte. 53
»Jetzt nicht«, antworteten beide wie aus einem Mund. »Nein. Ihr müsst euch das ansehen!«, beharrte ich und fuchtelte Dad mit dem Heft vor der Nase herum. Mein Vater schnitt, ohne sich unterbrechen zu lassen, weiter seine Zwiebeln. »Sie haben einen Leserbrief von dir abgedruckt?«, fragte er unter Tränen. »Nein! Ich bin in dem Comic!«, erklärte ich ihm atemlos und wedelte mit ihm noch dichter unter seiner Nase. »Ich kann überhaupt nichts sehen!«, rief Dad aus. »Nimm das weg. Siehst du nicht, was diese Zwiebel meinen Augen antut?« »Es gibt einen Trick fürs Zwiebelschneiden«, sagte Mom, die noch immer über den Herd gebeugt stand. »Aber ich weiß nicht, wie er geht.« Ich lief zu meiner Mutter hinüber. »Du musst dir das ansehen, Mom. Ich bin hier drin. Guck mal. Das bin wirklich ich!« Meine Mutter schüttelte den Kopf und runzelte die Stirn. »Ich schaffe es nicht, ihn anzuzünden«, sagte sie seufzend. »Wahrscheinlich ist der Starter schon wieder hinüber.« »Ich seh mir das an, falls ich jemals zu weinen aufhöre«, erklärte sich Dad bereit. »Guckt ihr euch das jetzt endlich an?!«, brüllte ich, völlig von der Rolle. Meine Mutter warf einen raschen Blick auf die Seite, die ich ihr hinhielt. »Jaja. Der sieht wirklich ein bisschen wie du aus, Skipper«, sagte sie, scheuchte mich zur Seite und wandte sich wieder dem Herd zu. »Wir brauchen wirklich einen neuen Herd, Liebling.« »Das — sieh dir das mal an«, bat ich. Ich lief zu ihm zurück, aber er hielt sich ein Handtuch vors Gesicht und weinte hinein. »Ich schätze, du kannst jetzt nicht gucken, wie?«, sagte ich leise. Dad antwortete nicht. Er weinte einfach nur in das Handtuch hinein. Verärgert seufzte ich auf. Was war bloß los mit den beiden? Das war die aufregendste Sache, die mir je passiert war. Und meine Eltern waren noch nicht einmal bereit, auch nur einen Blick darauf zu werfen. 54
Wütend klappte ich den Comic zu und stapfte aus der Küche hinaus. »Skipper, deck den Tisch«, rief mir Mom hinterher. Deck den Tisch? Ich bin der Star in einem berühmten Comic und sie verlangt von mir, dass ich den Tisch decke? »Warum kann Mitzi das nicht machen?«, fragte ich. »Deck den Tisch, Skipper«, wiederholte Mom streng. »Okay, okay. In ein paar Minuten«, rief ich zurück. Im Wohnzimmer ließ ich mich auf die Couch plumpsen und wandte mich wieder dem Comic zu. Ich war zu aufgeregt gewesen, um zu Ende zu lesen. Nun wollte ich den Teil lesen, in dem man erfährt, wie es im nächsten Heft weitergeht. Meine Augen huschten über die Seite. Da war die Galoppierende Gazelle, die noch immer in dem kochend heißen Raum festsaß. Und der Maskierte Mutant stand vor der Tür, bereit, seinen Sieg auszukosten. Ich sah auf die weiße Gedankenblase über dem Kopf der Galoppierenden Gazelle. Was stand da? »Nur der Junge kann mich jetzt noch retten«, dachte die Galoppierende Gazelle. »Nur der Junge kann die Welt vor der Bösartigkeit des Maskierten Mutanten retten. Aber wo steckt er?« Ich las es noch einmal. Und noch einmal. War das wahr? War ich der Einzige, der die Galoppierende Gazelle retten konnte? Musste ich wirklich noch einmal dorthin zurück?
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Am nächsten Tag lief ich nach der Schule eilig zur Bushaltestelle. Es war ein klarer, kalter Tag. Der Boden unter meinen Schuhen war hart gefroren. Der Himmel sah wie eine weite kalte, blaue Eisfläche aus. Während ich mich gegen den scharfen Wind stemmte, fragte ich mich, ob Libby wohl im Bus sein würde. Ich musste ihr unbedingt von dem Comic erzählen. Sie sollte wissen, dass ich noch einmal in das seltsame Gebäude zurückkehrte. Würde sie mich dorthin begleiten? Auf keinen Fall, entschied ich. Libby war nach unserem ersten Besuch so verängstigt gewesen, dass ich sie nie im Leben noch einmal dorthin mitschleppen konnte. Ich lief, den Blick auf die Straße gerichtet, am Spielplatz vorbei und hielt nach dem Bus Ausschau. »He, Skipper!«, rief eine vertraute Stimme. Als ich mich umdrehte, sah ich Wilson, der hinter mir hergelaufen kam, sein offener Mantel flatterte im Wind wie Flügel hinter ihm her. »Skipper — was läuft? Fährst du nach Hause?« Zwei Straßenblöcke entfernt bog der blau-weiße Bus um die Ecke. »Nein. Ich fahre woanders hin«, sagte ich zu Wilson. »Ich kann mir deine Stempelsammlung jetzt nicht ansehen.« Seine Miene wurde ernst. »Ich sammle keine Stempel mehr«, sagte er. »Das habe ich aufgegeben.« Ich konnte meine Überraschung nicht verbergen. »Nanu? Wie kommt das denn?« »Sie haben mich zu viel Zeit gekostet«, antwortete er. Der Bus hielt am Straßenrand. Die Tür öffnete sich automatisch. »Bis später«, rief ich Wilson zu. Als ich einstieg, wurde mir wieder bewusst, wohin ich fuhr. Und plötzlich fragte ich mich, ob ich Wilson später wirklich sehen würde. Ich fragte mich, ob ich ihn jemals wiedersehen würde!
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Von Libby keine Spur. Irgendwie war ich sogar froh darüber. Das bedeutete, dass ich ihr nicht erklären musste, was ich vorhatte. Sie hätte mich nur ausgelacht, weil ich an das glaubte, was ich in einem Comic gelesen hatte. Aber der Comic hatte über den Unsichtbarkeitsvorhang die Wahrheit gesagt. Und nun hatte er behauptet, ich wäre der Einzige, der die Galoppierende Gazelle retten und die bösen Aktionen des Maskierten Mutanten stoppen könnte. »Aber es ist doch nur ein Comic!«, hätte Libby gesagt. »Wie kannst du so blöde sein, einem Comic zu glauben?« Das war es, was sie gesagt hätte. Ich wusste nicht, was ich ihr darauf hätte antworten können. Deshalb war ich froh darüber, dass sie nicht im Bus saß. Vor dem leeren Grundstück stieg ich aus. Gedankenverloren starrte ich von der gegenüberliegenden Straßenseite aus hinüber. Mir war klar, dass es in Wirklichkeit kein unbebautes Grundstück war. Ich wusste, dass dort, verborgen hinter dem Unsichtbarkeitsvorhang, das rosa und grüne Gebäude stand. Als ich die Straße überquerte, fühlte ich, wie mich eine Welle von Angst überkam. Mein Mund war plötzlich wie ausgetrocknet. Ich versuchte zu schlucken, erstickte aber fast. Mein Hals fühlte sich an, als hätte jemand einen Knoten hineingemacht. Ich hatte ein flattriges Gefühl im Bauch. Und meine Knie begannen schweißnass zu werden und wollten sich nicht abknicken lassen. Auf dem Gehweg blieb ich stehen und bemühte mich ruhiger zu werden. Es ist nur ein Comic. Nur ein Comic, sagte ich mir und wiederholte den Satz wieder und wieder. Schließlich hatte ich mir genug Mut gemacht, um losgehen zu können, und heftete den Blick auf das leere Grundstück. Ich tat den ersten Schritt. Noch einen. Und noch einen. Ganz plötzlich tauchte das Gebäude vor mir auf. Ich keuchte. Obwohl ich den Unsichtbarkeitsvorhang schon einmal durchschritten hatte, war es immer noch verblüffend, das Gebäude so plötzlich auftauchen zu sehen. Ich schluckte schwer, öffnete eine der Glastüren und trat in die helle rosa und gelbe Eingangshalle. 57
In der Nähe des Eingangs blieb ich stehen und wandte mich nach links, dann nach rechts. Immer noch leer. Keine Menschenseele in Sicht. Ich hustete. In der riesigen Eingangshalle klang mein Husten kläglich. Die Turnschuhe quietschten über den Marmorboden, als ich in Richtung der Aufzüge am anderen Ende der Eingangshalle losging. Wo sind nur die Angestellten?, fragte ich mich. Es ist mitten am Nachmittag. Wie kann es sein, dass ich der einzige Mensch in dieser riesigen Halle bin? Vor den Liften blieb ich stehen und hob den Finger zum Aufzugknopf — aber ich drückte nicht darauf. Ich wünschte mir, Libby wäre mitgekommen, sagte ich mir. Wäre Libby hier gewesen, hätte ich wenigstens jemanden gehabt, mit dem ich mich gemeinsam hätte fürchten können. Ich atmete tief durch und drückte auf den Aufzugknopf. »Also... jetzt geht's los«, murmelte ich, während ich darauf wartete, dass die Tür aufging. Und dann hörte ich jemanden lachen. Ein kaltes, bösartiges Lachen. Direkt hinter mir.
Ich ließ einen leisen Schrei los und fuhr herum. Niemand da. Doch das Lachen wiederholte sich. Leise, aber grausam. Meine Blicke schweiften durch die Eingangshalle. Ich konnte jedoch niemanden sehen. »W-wer ist da?«, würgte ich hervor. Das Lachen hörte auf. Ich fuhr fort, mich umzusehen, ließ den Blick die Wand über den Aufzügen nach oben wandern. Ein kleiner schwarzer Lautsprecher ragte aus der gelben Wand heraus. 58
Daraus muss das Lachen gekommen sein, entschied ich und starrte zu ihm hinauf, als erwartete ich dort jemanden zu sehen. Verschwinde von hier!, bat eine Stimme in meinem Kopf. Meine innere Stimme. Dreh dich einfach um, Skipper, und renn, so schnell dich deine zittrigen Gummibeine tragen, aus dem Gebäude hinaus! Ich ignorierte sie und drückte auf den Aufzugknopf. Die Tür eines Lifts links von mir öffnete sich geräuschlos und ich stieg ein. Die Tür schloss sich. Ich starrte die Schalttafel an. Sollte ich aufwärts oder abwärts drücken? Bei meinem letzten Besuch hatte ich aufwärts zum obersten Stockwerk gedrückt - und der Aufzug hatte Libby und mich hinunter in den Keller gebracht. Mein Finger zögerte vor den Knöpfen. Was würde passieren, wenn ich diesmal abwärts drückte? Mir blieb keine Gelegenheit, das herauszufinden. Der Aufzug setzte sich mit einem Ruck in Bewegung, bevor ich überhaupt irgendeinen Knopf gedrückt hatte. Rasch hielt ich mich am Handlauffest. Meine Hand war kalt und feucht. Der Aufzug summte, während er sich aufwärts bewegte. Ich fahre nach oben, stellte ich fest. Wohin nach oben? Die Fahrt schien ewig zu dauern. Ich sah zu, wie die Nummern der Stockwerke über die Anzeige huschten. Vierzig... einundvierzig... zweiundvierzig... Der Aufzug piepste jedes Mal, wenn er ein Stockwerk passierte. Im sechsundvierzigsten Stock hielt er an. War das die oberste Etage? Als die Tür aufglitt, ließ ich den Handlauf los und trat hinaus in einen langen, grauen Korridor. Ich blinzelte einmal. Ein zweites Mal. Es sah aus, als wäre ich in einen Schwarzweißfilm gestiegen. Alles grau. Die Wände waren grau. Die Decke war grau. Der Fußboden war grau. Sogar die Türen zu beiden Seiten des Korridors waren grau. Ich komme mir vor, als würde ich in dichtem, grauem Nebel stehen, dachte ich, während ich erst in die eine, dann in die andere Richtung blickte. Oder in einer dunklen Wolke. 59
Niemand zu sehen. Nichts bewegte sich. Ich lauschte angestrengt. Lauschte nach Stimmen, nach Gelächter, nach dem Klicken und Summen von Bürogeräten. Stille — abgesehen vom Wummern meines Herzens. Ich schob die kalten, klammen Hände in die Hosentaschen, setzte mich langsam in Bewegung und folgte dem Gang. Als ich um eine Ecke bog, blickte ich — einen weiteren grauen Gang entlang. Das Ende dieses Korridors schien sich zu verlieren, in verschwommenem Grau aufzulösen. Plötzlich erinnerte ich mich an die Zeichnungen in der neuesten Ausgabe von Der Maskierte Mutant. Eine große Zeichnung, die sich über zwei Seiten erstreckte, hatte die langen Gänge im geheimen Hauptquartier des Maskierten Mutanten gezeigt. Der lange gewundene Gang im Comic sah genau wie dieser Korridor hier aus — mit dem Unterschied, dass er im Comic grüne Wände und eine gelbe Decke hatte. Und in den Zimmern steckten kostümierte Superschurken, die für den Maskierten Mutanten arbeiteten. Während ich mich langsam den grauen, leeren Korridor entlangbewegte, kam mir ein verrückter Gedanke. Alles sah so verwaschen aus, dass ich das Gefühl hatte, mich in der Skizze eines Korridors zu befinden. In einer schwarzweißen Bleistiftzeichnung, die noch nicht koloriert war. Aber natürlich ergab diese Vorstellung überhaupt keinen Sinn. Du hast nur deshalb so verschrobene Ideen, weil du solche Angst hast, sagte ich mir. Und dann hörte ich ein Geräusch. Ein heftiges, dumpfes Geräusch. Ein Rumpeln. »Halt!«, flüsterte ich. Mir schlug das Herz bis zum Hals. Mitten auf dem Gang blieb ich stehen. Und lauschte. Rumms! Bumms! Es kam von vorne. Ertönte es hinter der nächsten Ecke hervor? Ich zwang mich dazu weiterzugehen, bog um die Ecke. Und riss die Augen auf, als ich die leuchtenden Farben sah. Die Wände dieses Korridors waren hellgrün. Die Decke war gelb. Die Farbe des dicken Teppichs unter meinen Turnschuhen war ein dunkles Weinrot. Rumms! Rumms! Bumms! 60
Die Farben wirkten so grell, dass ich die Augen mit der Hand abschirmen musste. Ich blinzelte zum Ende des Ganges. Die grünen Wände endeten an einer gelben Tür, an der ein Metallriegel glänzte. Bumms! Bumms! Die Geräusche drangen hinter der verriegelten Tür hervor. Bedächtig steuerte ich den Gang entlang darauf zu. Vor der Tür blieb ich stehen. »Ist da drin jemand?«, versuchte ich in den Raum hineinzurufen. Doch meine Stimme kam nur als ersticktes Flüstern heraus. Ich räusperte mich und versuchte es noch einmal. »Ist da drin jemand?« Keine Antwort. Dann erfolgte ein weiteres Poltern. Wie von Holz, das gegen Holz dröhnte. »Ist da drin jemand?«, rief ich, mit etwas lauterer Stimme diesmal. Das Poltern hörte auf. »Kannst du mir helfen?«, ertönte eine Männerstimme aus dem Raum. Ich erstarrte. »Kannst du mir helfen?«, flehte der Mann. Eine Sekunde lang zögerte ich. Sollte ich versuchen ihm zu helfen? Ja. Ich legte beide Hände auf den Metallriegel, holte tief Luft und begann den Riegel mit aller Kraft zurückzuschieben. Zu meiner Überraschung ließ er sich leicht bewegen. Die Tür war nicht abgesperrt. Ich drehte den Griff und drückte die Tür auf. Aus dem Gleichgewicht geraten, stolperte ich in den Raum und glotzte verblüfft auf die Gestalt, die mir entgegenblickte.
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Sein Cape war verknautscht und die Maske war ihm über ein Auge herabgerutscht. Trotzdem erkannte ich, dass ich der Galoppierenden Gazelle gegenüberstand. »Sind Sie lebendig?«, platzte ich heraus. »Natürlich«, antwortete er ungeduldig. »Binde mich los, Junge.« Er warf einen raschen Blick zur offenen Tür. »Wäre gut, du würdest dich beeilen.« Ich stellte fest, dass seine kräftigen Arme und Beine an den Stuhl gefesselt waren. Das Rumpeln und Poltern rührte von dem Stuhl her, der gegen den Boden stieß, als die Gazelle sich zu befreien versucht hatte. »Ich... ich kann nicht glauben, dass Sie wirklich hier sind!«, sagte ich. Ich war so verblüfft — und hatte solche Angst —, dass ich gar nicht wusste, was ich redete! »Ein Autogramm geb ich dir später«, entgegnete er, die Augen wieder auf die Tür gerichtet. »Aber beeil dich jetzt, okay? Ich muss hier schleunigst raus. Ich glaube nicht, dass uns viel Zeit bleibt.« »Z-zeit?«, stotterte ich. »Er wird bald zurück sein«, erklärte die Galoppierende Gazelle. »Wir wollen ihn uns doch schnappen, bevor er uns kriegt, oder, Junge?« »Uns??« »Binde mich einfach los«, wies mich die Galoppierende Gazelle an. »Ich werde schon mit ihm fertig.« Er schüttelte den Kopf. »Ich wünschte mir, ich könnte zu meinen Freunden von der Liga Kontakt aufnehmen. Wahrscheinlich suchen sie das ganze Universum nach mir ab.« Immer noch halb benommen, stolperte ich durch den kleinen Raum zu dem Stuhl und machte mich über das Seil her. Die Knoten waren groß und fest und schwer zu lösen. Das grobe Seil zerkratzte mir die Hände, als ich mich abmühte, es zu lockern. »Beeil dich, Junge«, drängte die Galoppierende Gazelle. »Wie hast du das geheime Hauptquartier überhaupt gefunden?« 62
»Ich... ich hab's einfach gefunden«, antwortete ich, während ich an den Knoten zerrte. »Nur keine falsche Bescheidenheit, Junge«, sagte der Superheld mit matter, leiser Stimme. »Du hast deine geheimen Cyberradarkräfte eingesetzt, stimmt's? Oder hast du deine Ultragedankenkontrolle benutzt, um meine Gedanken zu lesen und zu meiner Rettung zu eilen?« »Nein. Ich habe einfach den Bus genommen«, antwortete ich. Ich wusste wirklich nicht, was ich ihm sonst hätte antworten sollen. Hatte er mich mit jemand anderem verwechselt? Wieso war ich hier? Was würde mit uns geschehen? Mit mir! Fragen über Fragen. Sie rasten mir durch den Kopf, während ich mich wie wild mit dem schweren Seil abmühte. Ich versuchte die Schmerzen, die mir die Schnitte und Kratzer an den Händen verursachten, zu ignorieren. Aber sie taten fürchterlich weh. Schließlich ging einer der Knoten auf. Die Galoppierende Gazelle spannte die Muskeln und drückte den mächtigen Brustkorb nach vorne — und da löste sich das Seil fast von selbst. »Danke, Junge«, dröhnte er und sprang auf die Füße. Er rückte seine Maske zurecht, sodass er wieder durch beide Augenlöcher sehen konnte. Dann warf er das Cape zurück und strich seine Stretchhose glatt. »Okay. Dann wollen wir ihm mal einen Überraschungsbesuch abstatten«, sagte er und zog die Stulpen seiner Handschuhe hoch. Mit langen, schweren Schritten marschierte er in Richtung Tür los. Seine Stiefel dröhnten laut bei jedem Schritt. »Ehm... möchten Sie wirklich, dass ich mit Ihnen komme?«, fragte ich und wich dabei hinter den Stuhl zurück. Er nickte. »Mir ist klar, dass du dir Sorgen machst. Du hast Angst, du könntest nicht mit mir Schritt halten, weil ich Dynobeine habe und der schnellste lebende Mutant im bekannten Universum bin.« »Na ja...« Ich zögerte. »Keine Sorge«, antwortete er. »Ich werde langsam gehen.« Er machte eine ungeduldige Handbewegung. »Wir müssen los.« Ich stolperte über das verschlungene Seil auf dem Boden, hielt mich an der Stuhllehne fest, um nicht hinzufallen. Dann folgte ich ihm auf den grünen und gelben Gang hinaus. 63
Er drehte sich um und begann den Korridor hinunterzulaufen. Als ich lostrabte, um ihm zu folgen, verschwamm er zu einem blau-roten Lichtstreifen - und dann war er verschwunden. Einige Sekunden später kam er zurück. »Tut mir Leid. War ich zu schnell für dich?«, rief er. Ich nickte. »Ein bisschen.« Er legte mir eine Hand schwer auf die Schulter. Die grauen Augen blickten mich durch die Schlitze in der Maske ernsthaft an. »Hast du die Fähigkeit, Wände hochzuklettern?«, wollte er wissen. Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Tut mir Leid.« »Okay. Dann nehmen wir die Treppe«, sagte er, packte meine Hand und zog mich den Gang entlang. Ich bewegte mich so schnell, dass meine Beine in der Luft zu bleiben schienen. Ich denke, es war ihm unmöglich, langsam zu gehen. Die Wände wirbelten als verschwommene, hellgrüne Flächen vorbei. Er zog mich um eine Ecke, dann um die nächste. Ich fühlte mich, als würde ich fliegen! Wir bewegten uns so schnell, dass mir kaum Zeit zum Atmen blieb. Um die nächste Ecke. Dann durch eine offene Tür. Die Tür führte in einen Aufgang mit einer steilen, dunklen Treppe. Ich spähte nach oben, konnte aber nichts als tiefe Schwärze sehen. Ich erwartete, dass mich die Galoppierende Gazelle über die Treppe hinauf nach oben ziehen würde. Doch zu meiner Überraschung blieb er direkt an der Tür stehen. Mit zusammengekniffenen Augen starrte er die Treppe an. »Da ist ein Zersetzungsstrahl eingebaut«, verkündete er und rieb sich nachdenklich das eckige Kinn. »Ein was?«, stieß ich hervor. »Ein Zersetzungsstrahl«, wiederholte er, die Treppe fixierend. »Wenn du darauf trittst, zersetzt er dich in einer hundertstel Sekunde.« Ich schluckte heftig und begann am ganzen Körper zu zittern. »Glaubst du, du kannst die ersten beiden Stufen überspringen?«, fragte die Galoppierende Gazelle. »Sie meinen. . . ? « , begann ich. 64
»Du musst auf der dritten Stufe landen«, wies er mich an. »Nimm richtig Anlauf.« Den werde ich dringend brauchen, dachte ich, während ich auf die steile Treppe starrte. Plötzlich wünschte ich mir, ich hätte nicht Morgen für Morgen so viele Apfeltaschen und schüsselweise gezuckerte Cornflakes zum Frühstück verputzt. Wäre ich doch nur ein wenig schlanker, ein bisschen leichter. »Nimm ordentlich Anlauf und sieh zu, dass du die ersten beiden Stufen sicher überspringst«, warnte mich die Galoppierende Gazelle. »Du musst auf der dritten Stufe landen und sofort weiterlaufen. Wenn du auf die erste oder die zweite Stufe plumpst, wirst du aufgelöst.« Er schnippte mit den Fingern. »Puff!« Ein leises, entsetztes Stöhnen kam wie von selbst aus meiner Kehle. Ich konnte nichts dafür. Ich wollte tapfer sein. Aber mein Körper spielte nicht mit. Er zitterte und bebte, als bestünde ich aus Wackelpudding. »Ich gehe voran«, sagte der Superheld und wandte sich zur Treppe um. Er beugte die Knie, streckte beide Hände vor — und sprang über den unsichtbaren Zersetzungsstrahl hinweg. Sicher landete er auf der fünften Stufe. Er wandte sich zu mir um und winkte mir, ihm zu folgen. »Siehst du? Das geht ganz leicht«, sagte er fröhlich. Leicht für dich!., dachte ich düster. Nicht jeder von uns hat Dynobeine. »Beeil dich«, drängte er. »Wenn du anfängst, dir Gedanken darüber zu machen, wirst du es nie schaffen.« Ich mach mir bereits Gedanken darüber!, dachte ich. Wie könnte ich mir keine Gedanken darüber machen? »Ich... ich bin nicht besonders sportlich«, murmelte ich mit zaghafter, bebender Stimme. Was für eine Untertreibung! Jedes Mal, wenn die Kinder, die ich kenne, die Mannschaft für irgendein Spiel aufstellen, bin ich der Letzte, den sie auswählen. »Mach schon«, drängte die Galoppierende Gazelle und streckte mir beide Hände entgegen. »Nimm richtig Anlauf, Junge. Peil die dritte Stufe an. Sie ist gar nicht so hoch. Ich fange dich auf.« Für mich sah die dritte Stufe so aus, als würde sie eine Meile hochragen. Trotzdem hielt ich den Atem an, beugte die Knie, 65
rannte los, sprang - mein bester Sprung... ... und landete mit einem heftigen Plumps auf der ersten Stufe.
Ich schrie und kniff die Augen zu, als mich der Zersetzungsstrahl durchbohrte und meinen Körper in Luft auflöste. Als ich die Augen öffnete, stellte ich fest, dass ich noch immer auf der untersten Stufe stand. Und immer noch in einem pummeligen Stück. »Ich... ich... ich...«, stotterte ich. »War wohl nicht eingeschaltet«, sagte die Galoppierende Gazelle seelenruhig und lächelte mich durch seine Maske hindurch an. »Da hast du Schwein gehabt, Junge.« Ich zitterte noch immer. Kalte Schweißperlen rannen mir über die Stirn. Ich konnte nicht sprechen. »Ich hoffe, dein Glück hält an«, brummelte die Galoppierende Gazelle. Als er sich umdrehte und begann die Treppe hinaufzusteigen, flatterte sein Cape hinter ihm her. »Komm schon. Lass uns unserem Schicksal entgegentreten.« Das klang in meinen Ohren gar nicht gut. Es gefiel mir überhaupt nicht. Aber im Grunde gefiel mir nichts von dem, was sich hier abspielte. Die Galoppierende Gazelle hatte gesagt, ich hätte Glück. Aber ich fühlte mich alles andere als glücklich, während ich ihm über die dunkle Treppe nach oben folgte. Am obersten Absatz angekommen, drückte er eine breite Metalltür auf und wir betraten einen umwerfenden Raum. Er leuchtete in allen Farben und war wie ein Büro eingerichtet. Das ausgefallenste und luxuriöseste Büro allerdings, das ich je gesehen hatte. Der zottelige Teppich war weich und so dick, dass ich fast bis zu den Knöcheln darin versank. Seidige blaue Vorhänge waren um 66
riesige Fenster drapiert, die die Stadt überblickten. Von der Decke hingen funkelnde Kristallkronleuchter herab. Samtige Couchen und Sessel standen um dunkle Holztische arrangiert. Eine Wand war vom Boden bis zur Decke von Bücherregalen verdeckt, jedes Regal randvoll von in Leder gebundenen Büchern. In einer Ecke thronte — ausgeschaltet — ein übergroßer Monitor. Daneben eine Wand mit elektronischen Geräten. Riesige Ölgemälde mit grünen Weiden zierten eine andere Wand. In der Mitte des Raums stand einer glänzender, vergoldeter Schreibtisch. Der hohe Schreibtischsessel dahinter sah fast wie ein Thron aus. »Wow!«, staunte ich und blieb in der Nähe der Tür stehen, während ich all die Pracht des riesigen Raums in mich aufnahm. »Er lässt es sich gut gehen«, meinte die Galoppierende Gazelle. »Aber seine Zeit ist abgelaufen.« »Sie meinen...?«, begann ich. »Ich bin zu schnell für ihn«, prahlte der Superheld. »Ich werde im Kreis um ihn herumlaufen, schneller und schneller — bis ich zu einem tobenden Tornado werde. Dann wird er für immer weggefegt werden.« »Wow!«, wiederholte ich. Was hätte ich sonst sagen sollen? »Er hat mich vorhin bei einem Nickerchen erwischt«, fuhr die Galoppierende Gazelle fort. »Das ist für ihn die einzige Möglichkeit, mich zu schnappen. Während ich schlafe. Ansonsten bin ich viel zu schnell für ihn. Zu schnell für jeden. Weißt du, wie schnell ich hundert Meter laufe?« »Wie schnell?«, fragte ich. »Ich laufe sie in einem Zehntel. In einer Zehntelsekunde. Das wäre ein olympischer Rekord. Aber sie lassen mich nicht an der Olympiade teilnehmen, weil ich ein Mutant bin.« Zögernd begann ich der Galoppierenden Gazelle in die Mitte des Zimmers zu folgen. Doch als ich ein Lachen hörte, blieb ich stehen. Dasselbe kalte Lachen, das schon in der Eingangshalle erklungen war. Ich erstarrte vor Schreck. 67
Und glotzte, als sich der goldene Schreibtisch zu bewegen begann. Und zu verändern. Das glänzende Gold schimmerte, als es sich verschob und verformte, sich aufrichtete und in eine menschliche Gestalt verwandelte. Verblüfft wich ich einen Schritt zurück und versuchte mich hinter der Galoppierenden Gazelle zu verstecken, während der Schreibtisch schmolz — und der Maskierte Mutant sich an seiner Stelle erhob. Seine dunklen Augen brannten sich bedrohlich durch die Schlitze seiner Maske. Er war viel größer, als er in den Comics wirkte. Und sah viel mächtiger aus. Und viel Furcht erregender. Drohend reckte er der Galoppierenden Gazelle die Faust entgegen. »Du wagst es, in mein privates Büro einzudringen?«, fragte er anklagend. »Sag all dieser ergaunerten Pracht Lebewohl«, empfahl die Galoppierende Gazelle dem Mutanten. »Ich sage dir Lebewohl!«, schnauzte der Maskierte Mutant, jedes einzelne Wort wütend gefaucht, zurück. Dann richtete er seine Furcht erregenden, kalten Augen auf mich. »Mit dir werde ich spielend fertig, Gazelle«, sagte der übelste Superschurke der Welt. »Doch vorher sieh zu, wie ich diesen Jungen vernichte!«
Ich wich zurück und machte mich kleiner, als der Maskierte Mutant, die Faust noch immer erhoben, einen Schritt näher auf mich zukam und seine schwarzen Augen sich wütend funkelnd in meine bohrten. Mein Herz hämmerte wie verrückt. Hilflos drehte ich mich um und hielt wie wild nach einem Versteck Ausschau. Aber hier gab es nichts, wo ich mich hätte verstecken können. 68
Und ich konnte auch nicht davonlaufen. Die Tür fiel knallend zu, als sich der Maskierte Mutant auf mich zubewegte. »Halt!«, schrie ich und hielt beide Hände vors Gesicht, wie um mich zu schützen. Ich konnte es nicht ertragen, seine kalten, grausamen Augen funkeln zu sehen, als er auf mich zukam. Er wird mich vernichten, dachte ich. Aber ich muss ja nicht unbedingt dabei zusehen! Und dann, als der Maskierte Mutant einen weiteren Schritt auf mich zumachte, bewegte sich die Galoppierende Gazelle und stellte sich ihm in den Weg. »Du hast es mit mir zu tun, Mutant!«, verkündete er mit dröhnender Stimme. »Wenn du den Jungen willst, musst du es zuerst mit mir aufnehmen.« »Kein Problem«, erklärte der Maskierte Mutant leise. Doch seine Miene änderte sich, als die Galoppierende Gazelle ihn zu umkreisen begann. Schneller und schneller - bis die Gazelle in einem wirbelnden, rotierenden Tornado aus Blau und Rot zu verschwinden schien. Der Gazellen-Mann führt seinen Plan aus, stellte ich fest, während ich zur Wand zurückwich. Er wird schneller und immer schneller um den Maskierten Mutanten herumrasen, bis er damit einen Wirbelwind entfacht, der den bösen Mutanten davonweht. Den Rücken gegen die Wand gepresst, beobachtete ich gespannt den verblüffenden Kampf. Die Galoppierende Gazelle wirbelte schneller. Schneller. So schnell, dass ein gewaltiger Wind durch den Raum fegte, der die Vorhänge flattern ließ, eine Vase mit Blumen umwarf und Bücher aus den Regalen schleuderte. Ja!, dachte ich vergnügt und stieß die Fäuste in die Luft. Ja! Wir gewinnen! Wir gewinnen! Ich ließ die Hände sinken und stöhnte entsetzt auf, als ich sah, wie der Maskierte Mutant ungerührt einen Fuß vorstreckte. Die Galoppierende Gazelle stolperte darüber und knallte mit der Nase voran und einem gewaltigen Rumms! auf den Boden. Er hüpfte ein paar Mal heftig auf und blieb dann still liegen. Der Wind hörte auf. Die Vorhänge fielen an ihren Platz zurück. Der Maskierte Mutant stellte sich, die Hände triumphierend in die Hüften gestemmt, über den gestürzten Superhelden. 69
»Steh auf!«, brüllte ich, ohne mir darüber im Klaren zu sein, was ich tat. »Steh auf, Gazelle! Bitte!« Die Gazelle stöhnte, bewegte sich aber nicht. »Essenszeit«, höhnte der Maskierte Mutant. Den Rücken immer noch fest gegen die Wand gepresst, sah ich voller Entsetzen zu, wie sich der Mutant ein weiteres Mal zu verändern begann. Sein Gesicht verzog sich und schien flacher zu werden. Der Körper senkte sich, er beugte sich vor und legte die Hände auf den Boden. Vor meinen Augen verwandelte er sich in einen fauchenden Leoparden. Den Kopf schräg zur Seite gelegt, stieß er ein wildes Angriffsfauchen aus. Dann krümmte er den Rücken, spannte die Hinterläufe an - und sprang auf den am Boden liegenden Körper der Galoppierenden Gazelle los. »Steh auf! Steh auf, Gazelle!«, kreischte ich, als der Leopard angriff. Der Maskierte Mutant schlug Krallen und Zähne in die hilflose Gazelle. »Steh auf! Steh auf!«, brüllte ich. Zu meinem Schrecken öffnete die Galoppierende Gazelle die Augen. Der wilde Leopard riss der Gazelle mit den Zähnen das untere Ende der Maske weg. Die Galoppierende Gazelle rollte sich unter dem riesigen Ungetüm hervor und rappelte sich hoch. Mit lautem Brüllen schwang der Leopard seine Tatzen und riss das Cape der Gazelle der Länge nach ein. »Ich hab genug!«, schrie die Gazelle und steuerte auf die Tür zu. Mir wandte er den Rücken zu. »Jetzt bist du auf dich gestellt, Junge!« »Nein! Warte!«, brüllte ich. Ich glaube nicht, dass Gazelle mich hörte. Er rammte die Tür mit der Schulter auf und verschwand. Die Tür knallte hinter ihm ins Schloss. Rasch verwandelte sich der Leopard und richtete sich auf den Hinterläufen auf, sein Körper verformte und bewegte sich - bis der Maskierte Mutant hervortrat. 70
Als er auf mich zukam, verzog er das Gesicht zu einem kalten, bedrohlichen Lächeln. »Jetzt bist du auf dich gestellt, Junge«, wiederholte er leise.
Ich schob mich an der Wand entlang, als sich der Maskierte Mutant langsam, aber unaufhaltsam auf mich zubewegte. Mir war klar, dass ich es nicht bis zur Tür schaffen würde wie die Galoppierende Gazelle. Dazu war ich nicht schnell genug. Er sollte sich der Galoppierende Angsthase nennen!, dachte ich bitter. Wie konnte er nur seine eigene Haut retten und mich hier einfach so zurücklassen? Ich konnte nicht rennen, konnte nicht kämpfen. Was konnte ich tun? Was konnte ich gegen einen tödlichen Feind ausrichten, der sich in jede beliebige feste Form verwandeln konnte? In der Mitte des Zimmers blieb der Maskierte Mutant, die Hände in die Hüften gestemmt, stehen. Die dunklen Augen blitzten. Er genoss meine Angst, kostete bereits seinen Sieg aus. »Welche besonderen Kräfte hast du, Junge?«, wollte er, Hohn in der Stimme, wissen. »Was?« Seine Frage traf mich völlig überraschend. »Was hast du für besondere Kräfte?«, wiederholte er ungeduldig und warf sein Cape zurück. »Schrumpfst du zu einem kleinen Käfer zusammen? Ist das dein Geheimnis?« »Wie? Schrumpfen? Ich?« Ich zitterte so heftig, dass ich nicht mehr richtig denken konnte. »Brichst du in Flammen aus?«, fuhr er fort, während er näher rückte. »Ist das deine Kraft? Bist du magnetisch? Bist du ein Gedanken-Vernebler?« Seine Stimme wurde zornig. »Was ist es, Junge? Antworte mir! Über welche Kraft verfügst du?« »Ich... ich habe keine Kräfte«, stotterte ich. Hätte ich mich 71
noch kräftiger an die Wand gepresst, wäre ich ein Teil der Tapete geworden! Der Maskierte Mutant lachte. »Du möchtest es mir also nicht verraten, wie? Okay, okay. Ganz wie du willst.« Sein Lächeln verschwand. Die dunklen Augen wurden kalt und hart. »Ich habe nur versucht es dir leicht zu machen«, sagte er und kam noch näher. »Ich will dich auf möglichst einfache Art zerstören.« »Oh! Ich verstehe«, murmelte ich. Auf dem Regal fiel mir etwas auf. Ein großer, glatter Stein, etwa in der Größe einer Kokosnuss. Er lag da zur Dekoration herum. Ich fragte mich, ob er eine brauchbare Waffe abgeben würde. » Sag tschüss, Junge «, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Rasch kam er auf mich zu. Und während er sich näherte, schnappte ich mir den Stein vom Regal. Er war viel schwerer, als ich gedacht hatte. Es war kein Stein, wurde mir klar. Er war nur wie ein glatter Stein geformt. Aber er bestand aus massivem Stahl. Ich hob ihn an und zielte sorgfältig. Dann warf ich ihn gegen den Kopf des Maskierten Mutanten. Und verfehlte ihn. Der Stein plumpste heftig auf den Teppich. »Netter Versuch«, sagte der Mutant... ... und kam rasch auf mich zu, um mich zu vernichten.
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Ich versuchte mich unter ihm wegzuducken, doch er war zu schnell. Er packte mich mit seinen kräftigen Händen um die Hüfte und hob mich vom Boden hoch. Höher. Höher. Ich stellte fest, dass er seine Moleküle verschob und die Arme ausdehnte, sodass er mich über den Kronleuchter hinaus hochheben konnte. Ich strampelte mit Armen und Beinen und versuchte ihm auszubüxen. Aber er war zu stark. Höher. Höher. Bis ich mit dem Kopf, etwa sechs Meter über dem Boden, heftig gegen die Decke stieß. »Glückliche Landung!«, schrie der Maskierte Mutant hämisch, während er sich anschickte, mich fallen und in mein Verderben stürzen zu lassen. Doch bevor er mich fallen lassen konnte, hörte ich, wie die Tür aufschwang. Der Maskierte Mutant hörte es ebenfalls. Während er mich hoch oben in der Luft zappeln ließ, drehte er sich um, um zu sehen, wer hereingekommen war. »Du!«, schrie er überrascht auf. Hoch oben über dem Boden wand ich mich und drehte den Kopf, damit ich durch den Kronleuchter hindurchsehen konnte. Aber das Licht funkelte in den Kristallen und machte es mir unmöglich, etwas zu erkennen. »Du wagst es, hier hereinzuplatzen!«, schrie der Maskierte Mutant dem Eindringling entgegen. Dabei senkte er mich ein Stückchen ab. Gerade weit genug, dass ich die Tür sehen konnte. »Libby!«, rief ich. »Was machst du denn hier?«
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Der Maskierte Mutant setzte mich auf dem Boden ab und wandte sich um, um sich Libby entgegenzustellen. Ich war so wackelig auf den Beinen, dass ich mich an einem Regal festkrallen musste, um mich aufrecht zu halten. »Libby — verschwinde von hier! Hau ab!«, versuchte ich sie zu warnen. Ihr rotes Haar flatterte hinter ihr drein, als sie trotzdem in den Raum stürmte. Sie hatte den Blick auf mich gerichtet und ignorierte den Maskierten Mutanten völlig. Ist ihr nicht klar, dass es der bösartigste Superschurke im gesamten bekannten Universum ist? »Skipper - hast du nicht gehört, dass ich dich gefunden habe?«, wollte Libby grimmig wissen. »Wie bitte? Libby...« »Ich war auf der anderen Straßenseite«, sagte sie. »Ich habe gesehen, wie du in das Gebäude gegangen bist, und habe dich gerufen.« »Ich... ich hab dich nicht gehört«, stotterte ich. »Hör zu, du verschwindest besser von hier, Libby.« »Ich habe dich gesucht und gesucht«, fuhr sie fort und ignorierte meine Warnung, ignorierte meine verzweifelten Gesten. »Was tust du hier drin, Skipper?« »Äh... das kann ich dir jetzt wirklich nicht erzählen«, antwortete ich und deutete auf den Maskierten Mutanten. Der stand da, die Hände in die Hüften gestemmt, und klopfte mit der Stiefelspitze ungeduldig auf den Boden. »Ich seh schon, ich werde euch beide vernichten müssen«, sagte er ruhig. Libby fuhr herum. Sie schien den Superschurken erst jetzt bemerkt zu haben. »Skipper und ich gehen jetzt«, sagte sie spöttisch. Ich schnappte nach Luft. Wusste sie etwa nicht, mit wem sie da redete? Nein. Natürlich wusste sie es nicht. Sie las ja nur High SchoolComics. Daher hat sie keine Vorstellung, in welcher großer Gefahr wir uns befinden!, dämmerte es mir. 74
»Tut mir Leid«, antwortete der Maskierte Mutant und schaute Libby unter der Maske hervor höhnisch an. »Ihr werdet nicht fortgehen. Um genau zu sein: Ihr werdet dieses Gebäude nie wieder verlassen.« Libby funkelte ihn an und ich sah, dass sich ihr Gesichtsausdruck veränderte. Ihre grünen Augen wurden weit und der Mund klappte auf. Sie trat einen Schritt zurück, sodass sie neben mir stand. »Wir müssen etwas tun«, flüsterte sie. Etwas tun? Was konnten wir gegen diesen monströsen Megamutanten schon tun? Ich schluckte schwer. Mir fiel nichts ein, was ich ihr hätte vorschlagen können. Der Maskierte Mutant warf sein Cape zurück und trat einen Schritt näher auf uns zu. »Wer von euch beiden will der Erste sein?«, wollte er mit sanfter Stimme wissen. Ich wandte mich um und sah, dass Libby zu den Bücherregalen zurückgewichen war. Sie zog einen gelben Spielzeugrevolver aus Plastik aus ihrem Rucksack hervor. »Libby - was tust du da?«, flüsterte ich. »Das ist doch nur ein Spielzeug!« »Ich weiß«, flüsterte sie zurück. »Aber das hier ist ein Comic stimmt's? Es kann nicht Wirklichkeit sein. Und wenn es ein Comic ist, dann können wir alles tun!« Sie hielt die Plastikpistole hoch und zielte damit auf den Maskierten Mutanten. Der stieß ein kaltes Lachen aus. »Was hast du mit diesem Spielzeug vor?«, fragte er spöttisch. »Es s-sieht nur aus wie ein Spielzeug«, stotterte Libby. »Es ist ein Molekülschmelzer. Verschwinden Sie aus diesem Raum - oder ich lasse all Ihre Moleküle schmelzen!« Der Mutant grinste noch breiter. »Netter Versuch«, sagte er und ließ zwei Reihen perfekter weißer Zähne aufblitzen. Er fixierte Libby mit zusammengekniffenen Augen und trat noch einen Schritt näher auf sie zu. »Sieht so aus, als ob du die Erste sein willst. Ich werde mich bemühen, dir nicht allzu sehr wehzutun.« 75
Libby hielt die Spielzeugpistole mit beiden Händen. Sie biss die Zähne zusammen und schickte sich an, den Hahn zu spannen. »Steck dieses Spielzeug weg. Es kann dir nicht helfen«, verkündete der Maskierte Mutant, während er näher kam. »Ich spaße nicht«, beharrte Libby mit schriller Stimme. »Das ist kein Spielzeug. Es ist ein echter Molekülschmelzer.« Der Maskierte Mutant lachte wieder und trat einen weiteren Schritt auf sie zu. Und noch einen Schritt. Libby zielte mit der Pistole auf die Brust des Mutanten und drückte den Abzug. Die Pistole ließ ein hohes, schrilles Pfeifen ertönen. Der Maskierte Mutant machte noch einen Schritt auf sie zu. Und noch einen.
Libby ließ die Plastikpistole sinken. Voller Entsetzen starrten wir beide den Maskierten Mutanten an, der weiterhin näher kam. Er machte noch einen Schritt. Dann blieb er stehen. Grelles weißes Licht umflutete seinen Körper. Das Licht wurde zu knisternder elektrischer Spannung. Der Mutant stöhnte leise auf. Dann begann er zu schmelzen. Sein Kopf schmolz in seine Maske. Er wurde kleiner und kleiner — bis er schließlich völlig verschwand. Die leere Maske fiel auf die Schulter seines Kostüms. Und dann schmolz sein restlicher Körper weg und schrumpfte, bis nichts mehr übrig blieb als sein zerknautschtes Kostüm und das Cape, die als kleine Bündel auf dem Teppich lagen. Libby und ich blieben auf der Stelle stehen und starrten schweigend auf die Überreste. »Es... es hat funktioniert!«, brachte ich schließlich halb erstickt heraus. »Die Spielzeugpistole, sie hat funktioniert, Libby!« 76
»Natürlich«, antwortete sie mit erstaunlicher Gelassenheit. Sie trat an das leere Kostüm heran und kickte mit dem Turnschuh dagegen. »Natürlich hat es funktioniert. Ich hab ihn vor dem Molekülschmelzer gewarnt. Aber er wollte ja nicht hören.« Mein Verstand schlug Purzelbäume. Ich begriff das alles nicht so recht. Es war doch nur eine Spielzeugpistole. Wieso hatte sie den mächtigsten Mutanten auf der Erde zerstört? »Lass uns von hier verschwinden«, bat ich und ging auf die Tür zu. Libby stellte sich mir in den Weg. »Tut mir Leid, Skipper«, sagte sie leise. »Es tut dir Leid? Wie meinst du das?« Sie hob die Plastikpistole und zielte auf mich. »Es tut mir Leid«, sagte sie, »dass du der Nächste bist, der verschwindet.«
Zuerst dachte ich, Libby würde Spaß machen. »Libby, steck die Pistole weg«, schrie ich sie an. »Du hast einen echt kranken Humor!« Sie hielt die Pistole weiter auf meine Brust gerichtet. Ich begann kläglich zu lachen. Doch das Lachen verging mir rasch, als ich ihren grimmigen Gesichtsausdruck sah. »Libby — was ist los mit dir?«, wollte ich wissen. »Ich bin nicht Libby«, antwortete sie leise. »Tut mir Leid, dir das sagen zu müssen, Skipper - aber es gibt überhaupt keine Libby.« Während sie das aussprach, begann sie sich zu verändern. Ihr rotes Haar zog sich in den Kopf zurück. Die Wangen wurden breiter und die Nase wuchs in die Länge. Ihre grünen Augen wurden schwarz. Sie streckte sich und wurde größer. An ihren dünnen Armen begannen sich Muskeln hervorzuwölben. Und während sie 77
wuchs, veränderte sich auch ihre Kleidung. Jeans und T-Shirt schienen sich aufzulösen — und wurden von einem Kostüm ersetzt, das mir nur allzu vertraut war. Das Kostüm des Maskierten Mutanten. »Libby — was läuft hier?«, stieß ich mit kläglicher, angsterfüllter Stimme hervor. Ich kapierte noch immer nicht. »Wie machst du das?« Sie schüttelte den Kopf. »Du bist nicht gerade ein Blitzmerker, was?«, sagte sie und verdrehte die Augen. Ihre Stimme klang nun tief und dröhnend. Eine Männerstimme. »Libby, ich...« Sie warf das Cape zurück. »Ich bin der Maskierte Mutant, Skipper. Ich habe meine Moleküle verschoben, die Gestalt eines Mädchens in deinem Alter angenommen und mich Libby genannt. Aber ich bin der Maskierte Mutant.« »Aber... aber... aber...«, stammelte ich. Sie warf die Spielzeugpistole beiseite und grinste mich triumphierend an. »Aber du hast den Maskierten Mutanten doch gerade weggeschmolzen!«, wandte ich ein. »Wir haben beide gesehen, wie er sich auflöste!« Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Da liegst du falsch. Ich habe nur den Prächtigen Molekül-Mann geschmolzen.« Verdattert guckte ich sie mit großen Augen an. »Was? Den Molekül-Mann?« »Er hat für mich gearbeitet«, erklärte sie und warf dabei einen Blick auf das zerknautschte, leere Kostüm auf dem Boden. »Manchmal habe ich ihm befohlen, sich so zu kleiden wie ich. Um Leute von meiner Fährte abzulenken.« »Er hat für dich gearbeitet — und du hast ihn aufgelöst?«, rief ich entsetzt. »Ich bin ein Schurke«, antwortete der Maskierte Mutant lächelnd. »Ich tue schlimme Dinge - schon vergessen?« Nun wurde mir langsam alles klar. Eine Libby hatte es nie gegeben. Es war die ganze Zeit der Maskierte Mutant gewesen. Der Maskierte Mutant stieg über das zerknautschte Kostüm hinweg und bewegte sich auf mich zu. Wieder einmal presste ich mich mit dem Rücken an die Wand. »Nun bleibt mir keine 78
andere Wahl. Ich muss dir jetzt etwas ganz Schlimmes antun, Skipper«, sagte er geradeheraus, während sich seine schwarzen Augen durch die Maske hindurch tief in meine bohrten. »Aber - warum? Warum kann ich nicht einfach gehen? Ich fahre direkt nach Hause. Ich werde niemandem von dir erzählen. Ehrlich!«, sagte ich flehentlich. Er schüttelte den Kopf. »Ich kann dich nicht gehen lassen. Du gehörst jetzt hierher.« »Was?«, keuchte ich. »Was sagst du da, Libby - ich meine, Mutant?« »Du gehörst jetzt hierher, Skipper«, antwortete er kalt. »Das weiß ich, seit ich dich das erste Mal im Bus getroffen habe. Mir war klar, dass du perfekt bist, als du mir erzählt hast, dass du alles über meine Comics weißt.« »Aber... aber...«, stotterte ich wieder. »Es ist so schwierig, gute Figuren für meine Geschichten zu finden, Skipper. Es ist so schwierig, gute Feinde zu finden. Ständig bin ich auf der Suche nach neuen Gesichtern. Deshalb war ich auch so froh, als ich dich entdeckte.« Das bösartige Grinsen wurde breiter. »Als du dann mein Hauptquartier entdeckt hast, war mir klar, dass du der Richtige bist. Ich wusste, dass du bereit warst, in meiner Geschichte aufzutreten.« Sein Lächeln verschwand rasch. »Es tut mir Leid, Skipper. Aber die Geschichte ist vorüber. Dein Auftritt ist zu Ende.« »Was... was wirst du tun?«, stotterte ich. »Dich zerstören natürlich!«, antwortete der Mutant kalt. Mit dem Rücken gegen die Wand gepresst, erwiderte ich seinen Blick, während ich angestrengt überlegte. »Tschüss, Skipper«, sagte der Maskierte Mutant leise. »Aber das kannst du nicht tun!«, brüllte ich. »Du bist nur eine Figur in einem Comic! Aber ich bin real! Ich bin ein realer, lebendiger Mensch! Ich bin ein echter Junge!« Die Lippen des Mutanten verzogen sich zu einem sonderbaren Lächeln. »Nein, das bist du nicht, Skipper«, sagte er kichernd. »Du bist nicht real. Nun bist du dasselbe wie ich. Du bist jetzt ebenfalls eine Comicfigur.« 79
Ich zwickte mich in den Arm. Er fühlte sich genauso warm und real wie immer an. »Du bist ein Lügner!«, rief ich empört. Der Maskierte Mutant nickte. Auf seinem Gesicht machte sich ein zufriedenes Lächeln breit. »Ja, ich bin ein Lügner«, pflichtete er mir bei. »Das ist noch eine meiner besseren Eigenschaften.« Sein Lächeln verschwand. »Aber diesmal lüge ich nicht, Skipper. Du bist nicht mehr real.« Ich weigerte mich, ihm zu glauben. »Ich fühle mich so wie immer«, erklärte ich. »Aber ich habe dich in eine Comicfigur verwandelt«, beharrte er. »Erinnerst du dich noch daran, als du das Gebäude zum ersten Mal betreten hast? Erinnerst du dich daran, dass dich ein Lichtstrahl erfasst hat, als du durch die Glastür gekommen bist?« Ich nickte. »Ja. Daran erinnere ich mich«, murmelte ich. »Nun, das war ein Scanner«, fuhr der Maskierte Mutant fort. »Als du hindurchgegangen bist, hat er deinen Körper gescannt und dich in winzige Tintenkleckse verwandelt.« »Nein!«, schrie ich. Er ignorierte meinen Aufschrei. »Das ist alles, was du jetzt bist, Skipper. Winzige rote, blaue und gelbe Tintenkleckse. Du bist eine Comicfigur, genau wie ich.« Sein Cape hinter sich ausgebreitet, glitt er bedrohlich auf mich zu. »Aber es tut mir Leid, dir sagen zu müssen, dass dein letzter Auftritt in meinem Comic vorbei ist. Dein letzter Auftritt in irgendeinem Comic.« »Warte!«, rief ich. »Ich kann nicht länger warten«, erwiderte der Maskierte Mutant kalt. »Ich habe bereits viel zu viel Zeit mit dir verschwendet, Skipper.« »Aber ich bin nicht Skipper!«, erklärte ich. »Ich bin nicht Skipper Matthews«, sagte ich. »Es gibt keinen Skipper Matthews.« 80
»Ach, wirklich?«, fragte er und verdrehte die Augen. »Wer bist du dann?« »Ich bin der Ungeheuer Elastische Boy!«, antwortete ich.
Der Maskierte Mutant stöhnte leise auf. »Der Elastische Boy!«, rief er aus. »Ich hatte so ein Gefühl, dass du mir irgendwie bekannt vorkommst.« »Tschüss, Mutant«, sagte ich mit tiefer Stimme. »Wo willst du hin?«, fragte er in scharfem Ton. »Zurück nach Xargos, meinem Heimatplaneten«, antwortete ich und ging los Richtung Tür. »Ich bin nicht befugt, als Gaststar in anderen Comics aufzutreten.« Er bewegte sich rasch, um mir den Weg zur Tür zu versperren. »Netter Versuch, Elastischer Boy«, sagte er. »Aber du bist in mein geheimes Hauptquartier eingedrungen. Deshalb muss ich dich vernichten.« Ich lachte. »Den Elastischen Boy kannst du nicht vernichten!«, prahlte ich. »Ich dehne meine Arme aus, schlinge sie um dich herum und zerquetsche dich wie Knetmasse!« »Das glaub ich nicht«, antwortete der Maskierte Mutant trocken und stieß ein zorniges Knurren aus. »Ich hab genug von all dem Blabla. Ich werde dich in Stücke reißen — und dann zerreiße ich deine Teile in winzige Fetzen!« Wieder lachte ich. »Keine Chance!«, erklärte ich ihm. »Ich bin elastisch, schon vergessen? Ich kann- nicht in Stücke gerissen werden! Es gibt nur einen Weg, den Elastischen Boy zu vernichten!« »Und wie?«, fragte der Maskierte Mutant. »Mit Schwefelsäure«, antwortete ich. »Das ist das einzige Mittel, das meinen elastischen Körper zerstören kann!« Auf dem Gesicht des Maskierten Mutanten machte sich ein zufriedenes Grinsen breit. 81
»Oje!«, rief ich. »Das ist mir aus Versehen herausgerutscht.« Ich versuchte zur Tür zu laufen, war aber zu langsam. Blitzschnell begann der Maskierte Mutant sich zu verwandeln. Er verwandelte sich in eine kochend heiße Welle Schwefelsäure. Und bevor ich mich bewegen konnte, rollte die riesige Schwefelsäurewelle auf mich zu.
Mit einem lauten Aufschrei sprang ich zur Seite. Die riesige Welle schwappte an mir vorbei, verfehlte mich nur um Zentimeter. Hastig drehte ich mich um und konnte sehen, wie sie über den Teppich platschte, der sofort zu brutzeln und zu brennen begann. »Ja!«, schrie ich fröhlich. »Ja!« Nie zuvor hatte ich mich so glücklich, so stark und so triumphierend gefühlt! Ich hatte den Maskierten Mutanten besiegt, hatte ihn total ausgetrickst. Ich hatte den schlimmsten Schurken vernichtet, der unseren Planeten je heimgesucht hatte! Ich! Ein zwölfjähriger Junge namens Skipper Matthews! Ich hatte den Maskierten Mutanten ins Verderben geschickt! Es war ein so simpler Trick. Aber er hatte funktioniert. Vom Lesen der Comics wusste ich, dass der Maskierte Mutant seine Moleküle in alles, was fest ist, verwandeln konnte. Und anschließend seine ursprüngliche Form wieder annehmen konnte. Aber durch meinen Trick hatte ich ihn dazu gebracht, sich in eine Flüssigkeit zu verwandeln! Und sobald er sich erst einmal in eine Flüssigkeit verwandelt hatte, konnte er sich nicht mehr in seine eigene Gestalt zurückformen. Der Maskierte Mutant hatte sich für immer verabschiedet. 82
»Skipper, du bist ein cleverer Junge!«, rief ich laut und war so glücklich, dass ich auf dem dicken Teppich ein kleines Tänzchen aufführte. Kaum zu fassen, dass mir der Maskierte Mutant tatsächlich geglaubt hatte, ich wäre der Elastische Boy. Den Namen hatte ich mir einfach ausgedacht. Ich habe noch nie etwas von einem Elastischen Boy gehört! Aber er war darauf hereingefallen. Und ich bin noch am Leben! Am Leben! Ich konnte es gar nicht abwarten, nach Hause zu kommen und meine Familie wiederzusehen. Die Busfahrt schien Stunden zu dauern. Endlich rannte ich über den Rasen auf unser Haus zu. Und durch die Tür hinein. Sofort fiel mir der braune Umschlag auf, der auf dem Postablagetischchen lag. Die neue Ausgabe von Der Maskierte Mutant. Wer braucht die schon noch?, sagte ich mir gleichmütig. Unbeachtet ließ ich sie liegen und rannte los, um meine Eltern zu begrüßen. Ich war so froh, wieder zu Hause zu sein, dass ich mich sogar freute, Mitzi zu sehen. »Mitzi - wie war's mit 'ner Runde Frisbee?«, fragte ich sie. »Wie bitte?« Sie sah mich mit großen Augen erschrocken an. Sonst habe ich nie Lust, mit meiner kleinen Schwester zu spielen. Doch heute wollte ich glücklich sein und genießen, dass ich noch am Leben war. Mitzi und ich liefen in den Garten hinterm Haus. Etwa eine halbe Stunde lang warfen wir die Frisbeescheibe hin und her und hatten eine Menge Spaß. »Wie war's mit was zu futtern?«, fragte ich sie schließlich. »Gerne! Ich bin am Verhungern«, antwortete sie. »Mom hat einen Schokoladenkuchen auf der Anrichte stehen gelassen.« Schokoladenkuchen hörte sich genau richtig an. Während ich in die Küche trabte, summte ich fröhlich vor mich hin. Ich holte zwei Teller aus dem Geschirrschrank. Dann nahm ich das große Kuchenmesser aus der Schublade. 83
»Pass auf, dass dein Stück nicht größer wird als meines!«, ermahnte mich Mitzi, die aufmerksam zuschaute, als ich mich anschickte, den Kuchen zu schneiden. »Mitzi, ich verspreche dir, dass ich dich nicht beschummle«, sagte ich gutmütig. Ich hatte so gute Laune, dass mich nicht einmal Mitzi runterbringen konnte. »Dieser Schokoladenkuchen sieht umwerfend aus!«, rief ich begeistert. Ich setzte das große Messer am Kuchen an. Es rutschte ab. »Au!«, rief ich, als mir die Messerschneide über den Handrücken fuhr. Ich hielt meine Hand und starrte auf den Schnitt. »He!«, stieß ich verblüfft hervor. Was tropfte denn da aus der Wunde heraus? Kein Blut. Es war rot, blau, gelb und schwarz. TINTE! »Cool!«, rief Mitzi. »Wo ist das neue Der Maskierte Mutant-Heft?«, fragte ich. Plötzlich hatte ich das Gefühl, dass meine Karriere als Comicfigur noch nicht zu Ende war!
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