Tristan Nguyen (Hrsg.) Mensch und Markt
GABLER RESEARCH
Tristan Nguyen (Hrsg.)
Mensch und Markt Die ethische Dimen...
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Tristan Nguyen (Hrsg.) Mensch und Markt
GABLER RESEARCH
Tristan Nguyen (Hrsg.)
Mensch und Markt Die ethische Dimension wirtschaftlichen Handelns Festschrift für Prof. Dr. Dr. h. c. Volker Arnold
RESEARCH
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Ute Wrasmann | Jutta Hinrichsen Gabler Verlag ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.gabler.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-8349-2983-9
Prof. Dr. Dr. h.c, Volker Amold
Kurzvita Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c. Volker Amold •
1963 -1968 Studium der Volkswirtschaftslehre in Berlin und Göttingen
•
30.4.1968Examen: Diplom-Volkswirt an der Universität Göttingen
•
30.4.1973Promotion an der Universität Göttingen
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19.10.1977Habilitation an der Universität Göttingen
•
1.10.1969- 2.7.1978Wissenschaftlicher Angestellter am Volkswirtschaftlichen Seminar der Universität Göttingen (Lehrstuhl Prof. Dr. H. Hesse)
•
Vom 3.7.1978 bis 31.7.2009Professor für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Finanzwissenschaft an Fachbereich Wirtschaftswissenschaften der FernUniversität Hagen
•
1999 - 2003 Vorsitzender des Ausschusses "Wirtschaftswissenschaft und Ethik" des Vereins für Socialpolitik
•
seit 2004 Vorsitzender des Kuratoriums der Stiftung Fernstudienzentrum Budapest
•
6. November 2008 Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Universität Pecs
•
seit 2009 Mitglied im Hochschulbeirat der WHL Wissenschaftliche Hochschule Lahr
Grußwort von Prof. Dr, Michael Bitz
Volker Arnold kenne ich seit seiner Berufung an die FernUniversität im Jahre 1978. Seitdem habe ich ihn als einen Kollegen kennen und schätzen gelernt, der den ihm als Hochschullehrer obliegenden Aufgaben in Forschung, Lehre und Selbstverwaltung stets mit besonderem Pflichtgefühl und innerem Engagement nachgekommen ist. Die ständig länger werdende Liste seiner wissenschaftlichen Veröffentlichungen hat mir stets Hochachtung abgenötigt. Als Vertreter eines betriebswirtschaftlichen Lehrstuhls will ich deren nähere Würdigung jedoch den fachnäheren Kollegen überlassen. Die Haltung Volker Amolds als akademischer Lehrer war und ist durch zwei besonders hervorstehende Eigenschaften gekennzeichnet, zum einen durch einen tiefen persönlichen Respekt vor den Studenten, auch wenn deren Fachwissen so unendlich weit hinter seinem eigenen zurückbleibt, sowie
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Festschrift für Volker Arnold zum anderen durch seine Bereitschaft, den aus einem anspruchsvollen Fernstudium resultierenden Besonderheiten bei der Ausgestaltung des eigenen Lehrangebots vollauf Rechnung zu tragen, ohne dabei jedoch Abstriche an den fachlichen Standards zu akzeptieren.
Dementsprechend haben seine Studienmaterialien bei den an der FernUniversität bereits seit mehr als dreißig Jahren üblichen Evaluationen immer wieder besonders positive Bewertungen erfahren. Zudem hat er als langjähriger Vorsitzender des Prüfungsamtes maßgeblich dazu beigetragen, in unserer Fakultät fernstudiengerechte, aber nichtsdestoweniger leistungsorientierte Prüfungsmodalitäten zu etablieren. Mit gleicher Einsatzbereitschaft hat sich Volker Arnold, insbesondere als Prorektor, Dekan und langjähriges Mitglied des Senats, in der akademischen Selbstverwaltung engagiert. Dabei hat er mit viel politischem Geschick und langfristig großem Erfolg die Interessen unserer Fakultät wahrgenommen. Zugleich hat er jedoch nie den übergeordneten Blick auf die FernUniversität in ihrer Gesamtheit verloren und sich mit Augenmaß und Hartnäckigkeit dafür eingesetzt, unsere Hochschule zu einer konsequent dem Fernstudium verpflichteten, ansonsten jedoch an den bewährten akademischen Standards ausgerichteten Universität zu entwickeln. In dieser gemeinsamen Zielsetzung habe ich lange Jahre gemeinsam mit Volker Amold (und Ulrich Eisenhardt von der rechtswissenschaftlichen Fakultät als dem Dritten im Bunde) dem Senat angehört. Es war für mich immer ein beruhigendes Gefühl, ihn auch in kritischen Situationen als "Kampfgefährten" an meiner Seite zu wissen. Der Bitte, dieser ihm gewidmeten Festschrift nicht nur einen fachlichen Beitrag beizusteuern, sondern auch noch ein persönliches Grußwort, bin ich daher ausgesprochen gerne nachgekommen: Lieber Volker, ad multos annos!
Michael Bitz
Grußwort von Prof. Dr. Manfred Endres
Als ich im Jahre 1991 im Rahmen des Besetzungsverfahrens für den damals ausgeschriebenen Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie zum "Vorsingen" an die FernUniversität kam, hatte ich von dieser Institution gleich den allerbesten Eindruck. Dies lag daran, dass ihr erster Vertreter, den ich in Hagen traf, Herr Professor Arnold war - seines Zeichens Vorsitzender der zuständigen Berufungskommission. Mit Blick auf das weitere, vom Vorsitzenden mit ruhiger Hand gesteuerte Verfahren, liegt es natürlich nahe (für diejenigen, die derartiges nötig haben, sei zugesetzt: "scherzhaft") zu behaupten, dass Volker Arnold mit der letztlich gefällten Entscheidung in diesem Berufungsverfahren schon eine Kostprobe seines in den folgenden Jahres immer wieder unter Beweis gestellten Scharf- und Weitblicks gegeben hätte. Wie auch immer: Damit waren die Weichen der Kooperation zwischen dem Verfasser dieses Grußwortes und dem verehrten Jubilar genau in die richtige Richtung gestellt. Dies wirkte sich dann in einer späteren Phase des gemeinsamen Schaffens an der FernUniversität zum Wohle derselben aus. Ich meine die Zeit, in der Vol-
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Festschrift für Volker Arnold
ker Arnold Dekan des Fachbereichs Wirtschaftswissenschaft und der Unterzeichnete Prorektor für Forschung und wissenschaftlichen Nachwuchs gewesen ist. Liebe Leserinnen und Leser, seien Sie versichert: Das ist eine ganz heikle Konstellation! Der Dekan möchte die Interessen seines Fachbereichs innerhalb der Universität nachdrücklich vertreten. Dazu braucht er erstens Informationen aus dem Rektorat und muss er zweitens in das Rektorat hinein wirken. Der Prorektor erinnert sich zwar sehr genau daran, aus welchem Fachbereich er kommt (jedenfalls meistens ist dies so), andererseits ist er aber verpflichtet, dem Gesamtinteresse der Universität zu dienen. Ich habe es in dieser über mehrere Jahre dauernden Phase stets bewundert, wie perfekt Herr Kollege Arnold bei jeder Kommunikation die Balance gewahrt hat: Er hat einerseits die Interessen seines Fachbereichs nachdrücklich und nachhaltig vertreten, mich aber andererseits nie in die Verlegenheit gebracht, ein unangemessenes Ansinnen mit dem Hinweis auf meine universitäre Gesamtverantwortung zurückweisen zu müssen. Volker Arnold hat in seinen wissenschaftlichen Arbeiten stets angemahnt, die Anreizstrukturen gesellschaftlicher Institutionen müssen so beschaffen sein, dass eigennutzorientiertes Verhalten nicht in Widerspruch zu moralischen Kategorien gerate. (Vgl dazu z.B. seinen in den Perspektiven der Wirtschaftspoli-
tik, Bd. 10 (2009), S. 253-265 erschienenen Beitrag "Vom Sollen zum Wollenüber neuere Entwicklungen in der Wirtschaftsethik".) Ist das ethisch so eindruckvolle Verhalten von Professor Arnold als Dekan nun darauf zurückzuführen, dass die fernuniversitären Institutionen höchsten die Anreizkompatibilität betreffenden Ansprüchen genügen? Oder ist die Erklärung vielmehr darin zu suchen, dass Volker Arnold ein "aufrechter Charakter" ist? Schwer zu sagen. Würde er sich selbst in einen Widerspruch zu seinem wissenschaftlichen Werk setzen, wenn letzteres zuträfe? Gewiss nicht: Volker Amold hat nie behauptet, die Wirtschaftstheorie verbiete es dem Menschen, einfach "ein guter Kerl" zu sein.
Manfred Endres
Grußwort von Prof. Dr, Kurt Röttgers
Lieber Herr Amold, vielleicht sind Sie ein wenig erstaunt, auf einen Beitrag in Ihrer Festschrift und ein Grußwort auch von einem Fachfremden zu stoßen, aber hoffentlich auch nicht zu sehr. Denn seit langem verband uns ja, die Fachgrenzen übergreifend, ein Interesse für wirtschaftsethische Fragen. Nicht zuletzt im Vorstand des Christian-Jakob-Kraus-Instituts für Wirtschafts- und Sozialphilosophie und in der von diesem durchgeführten Weiterbildung "Wirtschaftsphilosophie" fand diese Berührung unserer Interessen und unseres Engagements einen konkreten Ausdruck. Ich bin Ihnen dafür dankbar, dass Sie sich seinerzeit dafür zur Verfügung gestellt haben und die Arbeit des Instituts jahrelang mit wohlwollenden und konkreten Ratschlägen begleitet haben. Vieles hat sich seither geändert. Die Weiterbildung musste aufgrund von Beschlüssen von Rektorat und Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaften eingestellt werden, das Institut ist geschlossen worden, wir beide sind inzwi-
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Festschrift für Volker Amold
sehen im Ruhestand. Aber die Erinnerung an eine harmonische Beziehung bleibt. Mit der Herzlichkeit, mit der wir uns oftmals auf den Fluren begegnet sind, grüße ich Sie auch heute und hoffe, dass Sie mich in so angenehmer Erinnerung behalten wie ich Sie.
Ihr Kurt Rättgers
Grußwort von Prof. Dr. Dieter Schneeloch
Volker Arnold und ich kennen uns seit dem ersten Juli 1978. An diesem Tage haben wir beide unsere Tätigkeit als Hochschullehrer an der FernUniversität aufgenommen, und zwar zunächst in gemeinsamen Räumen und mit einer gemeinsamen Sekretärin. Erst einige Monate später hat uns die FernUniversität getrennte Räume und zwei Sekretärinnen zur Verfügung stellen können. Bereits in dieser ersten Zeit unserer Tätigkeit an der FernUniversität habe ich die persönlichen Eigenschaften von Volker Arnold sehr zu schätzen gelernt. Hieraus ist im Laufe der Zeit eine tiefe Freundschaft entstanden, die bis heute anhält. Von Anfang an hat sich Volker Arnold - außer in der Forschung und Lehrein der universitären Selbstverwaltung stark engagiert. So hat er bereits etwa zwei Jahre nach seinem Dienstantritt das schwere Amt des Dekans unseres damaligen Fachbereichs übernommen. Als etwa 20 Jahre später das Ansinnen an ihn herangetragen worden ist, dieses Amt noch einmal zu übernehmen, hat er dies - trotz der damit verbundenen erheblichen Arbeitsbelastung und des
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Festschrift für Volker Arnold
zu erwartenden Ärgers - ohne Zögern getan. Auch das Amt eines Prorektors unserer Universität hat Volker Arnold für zwei Jahre übernommen und hierbei die Geschicke der Universität erfolgreich mitgestaltet. Im Senat der FernUniversität ist er viele Jahre tätig gewesen; vielen Kollegen muss er geradezu als ein Senator auf Lebenszeit erschienen sein. Insbesondere die vielfache
Wiederwahl in den Senat kann nur als ein außerordentlich hoher Vertrauensbeweis angesehen werden, der ihm von den Kollegen unseres Fachbereichs bzw. unserer Fakultät entgegengebracht worden ist. Großen Verdienst hat sich Volker Arnold um das Prüfungsamt unseres Fachbereichs bzw. unserer Fakultät erworben, dessen Leiter er lange Zeit gewesen ist. Seinem Engagement ist es in hohem Maße zu verdanken, dass das Prüfungsamt sehr gut funktioniert und innerhalb der FernUniversität als verbindlich gilt. Von Anfang an hat sich Volker Arnold mit Nachdruck und großem Erfolg dafür eingesetzt, dass die FernUniversität eine "ordentliche" Universität wird. In Konfliktsituationen hat er stets klar und unmissverständlich seine eigene Meinung vertreten. Zugleich ist er aber stets darauf bedacht gewesen, im Ton freundlich und verbindlich zu sein. Nicht zuletzt dieses Verhalten hat ihm stets die Achtung und Sympathie auch seiner hochschulpolitischen Gegner eingebracht. Während der letzten rd. anderthalb Jahrzehnte hat sich Volker Amold im Auftrag des Rektorats in hohem Maße für den Erhalt und den Ausbau der Studienzentren der FernUniversität im östlichen Mitteleuropa und in Osteuropa eingesetzt. Dies hat ihm vor einigen Jahren - verdientermaßen - die Ehrendoktorwürde einer ungarischen Universität eingebracht. Von Anfang an hat sich Volker Arnold sehr stark in der universitären Lehre engagiert. So hat er bereits unmittelbar nach seinem Dienstantritt in 1978 damit begonnen, die zur Vertretung seines Faches in der Lehre erforderlichen Lehrbriefe zu schreiben. Nach Fertigstellung des Curriculums hat er die lehrbriefe über die Jahrzehnte hinweg stets vorbildlich gepflegt. Die Studenten seines Faches haben es ihm zu danken gewusst. Dies zeigen nicht zuletzt die Ergebnisse von Evaluationen und immer wieder lobende Kommentare von Studenten. Dies ist umso bemerkenswerter, als Volker Arnold stets auf ein ho-
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Mensch und Markt
hes Niveau der von ihm vertretenen Lehre bedacht gewesen ist. Anmerken möchte ich, dass der Jubilar stets eine hohe Prüfungslast getragen hat. Als Betriebswirt fühle ich mich selbstverständlich nicht berufen, zu den
volkswirtschaftlichen Veröffentlichungen von Volker Arnold Stellung zu nehmen. Anmerken möchte ich lediglich, dass ich immer wieder mit Freude zur Kenntnis genommen habe, dass die Zahl seiner Veröffentlichungen kontinuierlich gestiegen ist. Eine Reihe seiner Aufsätze hat der Jubilar in renommierten internationalen Fachzeitschriften unterbringen können. Hierzu kann ich ihm nur herzlich gratulieren. Auch außerhalb der FernUniversität hat sich Volker Arnold in vielfacher Weise engagiert. Nennen möchte ich in diesem Zusammenhang insbesondere seine jahrzehntelange und - soweit mir ersichtlich - erfolgreiche kommunalpolitische Tätigkeit in seiner Wahlheimat Halver. Auch sein Engagement in dem Verein für Socialpolitik, deren Ethikkommission er mehrere Jahre lang geleitet hat, möchte ich in diesem Zusammenhang erwähnen. Vo1ker Arnold hat seinen Beruf stets geliebt und liebt ihn offenbar immer noch. Nur so ist es zu erklären, dass er sich erst zum spätestmöglichen Zeitpunkt hat emeritieren lassen und dass er auch heute noch sowohl in der Forschung als auch in der Lehre aktiv tätig ist. Lieber Volker, zu Deinem Jubiläum möchte ich Dir ganz herzlich gratulieren und Dir noch viele schöne Jahre im Kreise Deiner Familie und weiterhin eine hohe Schaffenskraft wünschen.
Dieter Schneeloch
Inhaltsverzeichnis Ethik und Wirtschaftswissenschaft - Einführung
1
Tristan Nguyen
1. Teil: Wirtschaftsethik im Spannungsfeld zwischen ökonomischer Rationalität und ethischen Normen
Das Gefangenendilemma und seine ethischen Implikationen bei Aristoteles, Locke und Hume
17
Christoph Lütge
Betrachtungen zur Ethik und der Wirtschaft
41
Peter N. Posch
Markt und Moral
49
Andreas Suchanek
Zwischen Markt und Brüderlichkeit Zum Zusammenhalt von Gesellschaften
73
Kurt Röttgers
Intersubjektivität und die Beharrlichkeit der Moral in der Wirtschaft.........99 Bemd Remmele
xx
Inhaltsverzeichnis
Ökologie, Ökonomie und Ethik: Eine Gemengelage mit Zukunft?
117
Dieter Beschorner
2. Teil: Wirtschaftsethik im Kontext der Globalisierung und Nachhaltigkeit
"Global Compact" - Geht es auch konkreter?
137
Nikolaus Knoepffler und Reyk Albrecht
Zur Entwicklung eines Ethikkodexes für die untemehmerische Globalisierung
163
Christopher Stehr und Timo Herold
Nachhaltigkeit als Brücke zwischen ökonomischer Rationalität und ethischer Vemunft
189
Georg Müller-Christ und Lars Amdt
Mensch, Markt und Technik Welche Landwirtschaft kann die Welt emähren?
225
Franz-Theo Gottwald und Isabel Boergen
Economic Theory of Environmental Liability Law: Fundamental Issues and Recent Developments 251 Alfred Endres
Inhaltsverzeichnis
XXI
3. Teil:
Wirtschaftsethik in der praktischen Umsetzung
Ethik der Finanzmärkte Der virtuelle Kapitalismus und die menschliche Natur
283
~ichaelSchralllfn
Bankenaufsicht in Deutschland Entwicklungslinien und -tendenzen
315
Michael Bitz und Dirk Matzke
Ethische Investmentfonds: Ein Modeprodukt?
373
Stephan Schöning
Gedanken zu einer normativen Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre .......419 Dieter Schneeloch
Der Einfluss von Vertrauen in einem Inspektionsspiel zwischen Disposition und Controlling
451
Günter Fandei und [an Trockel
Untemehmerisches Verhalten im Kontext der Europäisierung des Rechts Heinz Kußmaul, Christoph Ruiner und Dennis Weiler
481
Ethik und Wirtschaftswissenschaft - Einführung Tristan Nguyen
Die ethische Dimension wirtschaftlichen Handelns ist im Zuge der Finanzund Wirtschaftskrise in den Jahren 2008-2010 plötzlich zu einem Top-Thema in der Öffentlichkeit geworden. Ethik und Wirtschaftswissenschaft scheinen in einem disziplinären Nicht-Verhältnis zu stehen: während sich die Ökonomie auf eine ausschließlich an Effizienz ausgerichtete ökonomische Rationalität stützt, sind Fragen der Menschen- und UmweItgerechtigkeit in die Sphäre einer außerökonomischen Ethik verwiesen. An dieser Zwei-WeIten-Konzeption von Ethik und Ökonomie entzündet sich das konstitutive Grundproblem einer modemen Wirtschaftsethik: Wie lässt sich die ökonomische Rationalität mit der ethisch-praktischen Vernunft systematisch vermitteln? Zu Ehren meines akademischen Lehrers Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. Volker Arnold' anlässlich seines 70. Geburtstags am 17.06.2011 konnte ich eine Reihe von führenden deutschen Wissenschaftlern im Bereich"Wirtschafts- und Unternehmensethik" für die folgenden 17 wertvollen Fachbeiträge gewinnen, die in der vorliegenden Festschrift mit dem Titel "Mensch und Markt - Beiträge zur Wirtschaftsethik" zusammengefasst sind. Allen Autoren fühle ich mich zum besonderen Dank verpflichtet. Die Festschrift gliedert sich in drei Themenblöcke: •
Wirtschaftsethik im Spannungsfeld zwischen ökonomischer Rationalität und ethischen Normen,
I
Professor Amold war in den Jahren von 1999 bis 2003 Vorsitzender des Ausschusses "Wirtschaftswissenschaft und Ethik" des Vereins für Socialpolitik und hat während seiner langen wissenschaftlichen Laufbahn bedeutende Beiträge zu wirtschaftsethischen Fragen geleistet.
T. Nguyen, M ensch und Markt, DOI 10.1007/978-3-8349-6728-2_1, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
2
Tristan Nguyen •
Wirtschaftsethik im Kontext der Globalisierung und Nachhaltigkeit,
•
Wirtschaftsethik in der praktischen Umsetzung.
Der erste Themenblock befasst sich mit allgemeinen Fragen der Wirtschaftsethik, v. a. mit der scheinbaren Diskrepanz zwischen ökonomischer Rationalität und ethischen Normen. •
Im ersten Beitrag "Das Gefangenendilemma und seine ethischen Implikationen beiAristoteles, Locke und Hume" zeigt Christoph Lütge, dass die Versuche der Vermittlung zwischen ethischen Normen und ökonomischer Rationalität - oder einfach zwischen Moral und Ökonomie - nicht erst mit der aktuellen Wirtschafts- und Finanzkrise anfingen, sondern eine lange Geschichte haben, die (mindestens) bis zu Aristoteles zurückreicht. Anhand des sog. Gefangenendilemmas werden die negativen Auswirkungen der Marktmechanismen gezeigt: Der Markt kann nicht unterscheiden, ob jemand aus Ineffizienz oder aus moralischen Motiven heraus zu teuer produziert. Somit könnte auch der moralische Unternehmer, der beispielsweise freiwillig eine teure Filteranlage zum Schutz der Umwelt einbaut, zum wirtschaftlichen Ruin gezwungen werden, falls er im Wettbewerb nicht mithalten und die umweltfreundlichere Produktionsweise nicht als reputationsfördernd darstellen und vermarkten kann. Das Argumentationsmuster des Gefangenendilemmas ist bei Aristoteles, Locke, Hume, Spinoza und Rousseau zu erkennen. Alle kennen auch die negativen Auswirkungen des Dilemmas und schlagen Regeln vor, um aus dem Dilemma zu entkommen.
•
Im zweiten Beitrag "Betrachtungen zur Ethik und der Wirtschaft" betrachtet Peter. N. Posch die Akteure der Wirtschaft aus verschiedenen Perspektiven der ethischen Normen. So stellt er fest, dass einerseits der Einübung ethischer Handlungsweisen wenig Raum zugemessen wird, andererseits die Formulierung gültiger und allgemeingültiger Handlungsmaxime schwierig und in Konkurrenz mit anderen, handfesten Interessen stehen. Es ist somit nicht ausreichend, die nikomachische Ethik zu lesen und in den Lehrplänen Raum für Moralphilosophie zu gewäh-
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ren. Eine Änderung der inneren Einstellung ist von Nöten, sofern man ethisches Handeln etablieren und Nachhaltigkeit zu einem Allgemeingut erheben möchte. Der dadurch zu erwartende Gewinn ist nicht monetär, sondern es ist sogar mit einem geldwerten Verlust zu rechnen. Der Gewinn jedoch liegt in der lebenswerten Gestaltung der Umwelt und letztlich der Eudämonie als Ziel an sich, denn "der Ziellose erleidet sein Schicksal- der Zielbewusste gestaltet es.", so Kant. •
Im anschließenden Beitrag "Markt und Moral" stellt Andreas Suchanek fest, dass der Wirtschaftsethik im Rahmen der vielfältig ausdifferenzierten Wirtschaftswissenschaften bestenfalls ein Mauerblümchen-Dasein zu kommt. Dies ist darauf zurückzuführen, dass es sich bei Wirtschaftsethik nicht um eine hoch spezialisierte Einzelwissenschaft handeln kann, die sich auf einige wenige Aspekte ihres Forschungsgegenstandes fokussieren und alles andere ausblenden kann. Vielmehr liegt es in ihrer Problemstellung begründet, dass die Wirtschaftsethik die normativen Annahmen und Argumente in einen systematischen Zusammenhang mit hochkomplexen empirischen Verhältnissen bringen muss, welche die Lebenswirklichkeit der Akteure betreffen. Dementsprechend sind Probleme und Themen der Wirtschaftsethik so geartet, dass es um eine Art des Erkenntnisgewinns geht, die an sich, soweit das möglich ist, durch die konzeptionelle Integration verschiedener Aspekte: technische, rechtliche, ökonomische, psychologische, philosophische usw., charakterisiert ist. Jedoch ist es in einer derart komplexen Gesellschaft wie der heutigen unabdingbar, Orientierungen zu bieten, die mithelfen können, normative Ideale wie Gerechtigkeit, Freiheit oder Nachhaltigkeit sachgerecht - also unter angemessener Berücksichtigung der empirischen Verhältnisse und Bedingungen - zur Geltung zu bringen. Doch gerade am Beispiel moralischer Einschätzungen des Marktes zeigt sich, wie anspruchsvoll es ist, Urteile darüber zu bilden, was gut oder nicht gut, gerecht oder ungerecht, verantwortlich oder unverantwortlich usw. ist.
•
In seinem Beitrag "Zwischen Markt und Brüderlichkeit - Zum Zusammen-
halt von Gesellschaften" stellt Kurt Röttgers fest, dass gegenwärtig das
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Marktprinzip dasjenige Prinzip ist, durch das sich die globalisierte Weltwirtschaft und ihre Gesellschaft organisiert. Nach dem Motto von Karl Homann "Wettbewerb ist solidarischer als Teilen" gilt der Markt als das Prinzip der Organisation von Gesellschaften der Modeme. Jedoch ist zu bedenken, dass der Markt denjenigen Zusammenhalt von Gesellschaften nicht selbst gewährleisten kann, auf den er gleichwohl angewiesen ist. Für diesen Zusammenhalt von Gesellschaften ist das Prinzip der Solidarität unabdingbar. Jedoch ist es problematisch, Solidarität mit der Brüderlichkeit im Sinne der Fratemite der bürgerlichen Revolution gleichzusetzen oder diese auf die jüdisch-christliche Nächstenliebe und die Bürgerfreundschaft der attischen Demokratie zurückzuführen. Kurt Röttgers versucht mit seinem Beitrag, im Spannungsfeld zwischen Markt und Brüderlichkeit eine Struktur zu identifizieren, die es erlaubt, das soziale Band zu erläutern, das auch dasjenige Vertrauen als Metanorm moralischen Verhaltens plausibel macht, ohne das selbst Märkte nicht funktionieren könnten, weil bei gänzlichem Mangel von Vertrauen die Transaktionskosten für Tausch- und Vertragsbeziehungen ins Unermessliche steigen würden
•
Bernd Remmele stellt in seinem Beitrag .Intersubiektioitdt. und die Beharr-
lichkeit der Moral in der Wirtschaft" fest, dass Intersubjektivität ein Konzept ist, das zunehmend und an verschiedenen Stellen in das ökonomische Denken eindringt. Der Versuch soziales Verhalten auf individuelle Kalküle zu reduzieren folgt einer langen Tradition modernen Denkens, die insgesamt versucht Intersubjektivität auf eine in sich geschlossene Subjektivität zurückzuführen. Jedoch gibt es zunehmend Belege dafür, dass es keinen Primat einer sich selbst entfaltenden individuellen Subjektivität gibt. Vielmehr spricht einiges dafür, dass der menschliche Geist von vorneherein auch auf Intersubjektivität angelegt ist. Bernd Remmele geht zunächst der Frage nach der mehrseitigen anthropologischen Bestimmung der Dualität aus Subjektivität und Intersubjektivität nach. Anschließend betrachtet er die Abhängigkeit der Ausprägung der beiden Teilstrukturen von den jeweiligen Bedingungen und im Hinblick auf deren lernbezogene Entwicklungs-
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fähigkeit. Daran schließt die Frage nach den Bedingungen für die Entwicklung hin zur heute üblichen Entlastung von normativen Erwartungen wirtschaftlicher Aktivitäten an. Abschließend zeigt sich, dass der Zusammenhang insgesamt widersprüchlich bleibt, da der Markt von der Reproduktion normativ geprägter Situationen abhängig ist und die systemischen Gegebenheiten einen darin nicht gegebenen reflexiven Zugang erfordern. •
In seinem Beitrag "Ökologie, Ökonomie und Ethik: Eine Gemengelage mit Zukunft?" befasst sich Dieter Beschorner zunächst mit der grundsätz-
lichen Frage, wer überhaupt für Wirtschaftsethik zuständig ist. Sind es die Wirtschaftswissenschaftler selbst, die in ihrer Breite die Betriebswirtschaftslehre und die Volkswirtschaftslehre abdecken inklusive verschiedener Vertiefungs- und Nebengebiete, oder sind es die Wirtschaftenden, das heißt also die in der Wirtschaft Tätigen, die Unternehmen und Unternehmer also, oder sind es die Ethiker, die ihre Fundierung überwiegend aus Theologie und Philosophie beziehen, oder ist es die Judikative, die uns mit entsprechenden Normen Wegweisung zu wirtschaftsethischen Verhalten an die Hand gibt? Der Autor ist zu dem Schluss gekommen, dass eine eigene Wissenschaftsdisziplin Wirtschaftsund Unternehmensethik sinnvoll und notwendig ist, um die angesprochene Gemengelage zwischen Ökologie, Ökonomie und Ethik auszudifferenzieren und Lösungswege aufzuzeigen. Der Weg zu einer ethisch akzeptablen ökonomischen Handlungsweise, die das ökologische System für die Nachwelt erhält, ist nicht einfach. Jedoch darf er uns nicht davon abhalten, heute zu agieren, um das Morgen zu sichern. Diese Gemengelage ist also unsere Zukunft!
Im zweiten Themenblock werden wirtschaftsethische Fragestellungen im Kontext der neuen Modeworte "Globalisierung" und "Nachhaltigkeit" behandelt. •
Angesichts der Unternehmens- und Führungsskandale der letzten Jahre stellt sich die Frage nach global gültigen und durchsetzbaren Prinzipien oder Regeln verantwortungsvoller Führung. Nikolaus Knoepffler und
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6
Reyk Albrecht gehen in ihrem Beitrag "Global Compact - Geht es auch
konkreter?" dieser Frage nach. Da eine Führungs- und Unternehmensethik auf verschiedene kulturelle Hintergründe Rücksicht nehmen muss, die in Unternehmen und Ländern vorherrschen, ist es keineswegs sicher, dass eine Suche nach globalen Prinzipien oder Regeln für eine verantwortungsvolle Unternehmensführung Erfolg haben wird. Die beiden Autoren zeigen anhand einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Begriff "Global Compact", welche Anforderungen an ein internationales Regelwerk ethischer Führung gestellt werden müssen. Anschließend wird geprüft, inwieweit solche Regeln auf der Grundlage der international akzeptierten Grundsätze von Menschenwürde, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit entwickelt bzw. entfaltet werden können. Abschließend wird der Vorschlag unterbreitet, wie lebensdienliche Regeln für global agierende Führungskräfte aussehen könnten. •
In eine ähnliche Richtung geht der Beitrag "Zur Entwicklung eines Ethik-
kodexes für die unternehmerische Globalisierung" von Christopher Stehr und Timo Herold. Ziel ihrer Untersuchung ist die Entwicklung eines Ethikkodexes für international tätige Unternehmen. Inhalt eines Ethikkodexes sind Richtlinien (Normen) für das unternehmerische Handeln. Intention eines solchen Ethikkodexes ist die Vermeidung von kriminellem und unmoralischem Verhalten. Ein solcher Kodex stellt grundsätzlich eine Selbstverpflichtung für ein Unternehmen dar. Dabei werden an die kodifizierten Inhalte - im Zuge der unternehmerischen Globalisierung - Anforderungen an deren globale Gültigkeit gestellt. Für die Entwicklung der Normen für die Untersuchung wird auf die Theorie von Donaldson und Dunfee Bezug genommen. An dieser Theorie lehnt sich die Methodik der Untersuchung an, die durch ein deduktives Verfahren Normen aus international existierenden Richtlinien ableitet und durch Interviews überprüft. Es existieren auf internationaler Ebene keine verbindlichen Normen, die ein Unternehmen einhalten müsste. Bis zur Schaffung einer global gültigen Rahmenordnung sind die Unternehmen auf ihre Eigeninitiative angewiesen. Sie müssen selbst entscheiden, auf welche Werte und Normen sie sich in einem globalen Umfeld verpflich-
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ten. Die in dem Beitrag vorgestellten Basisnormen und der daraus resultierende Basis-Ethikkodex, können den Unternehmen als Grundlage zum Aufstellen eines eigenen Kodexes dienen. •
In ihrem Beitrag "Nachhaltigkeit als Brücke zwischen ökonomischer Rationa-
lität und ethischer Vernunft" gehen Georg Müller-Christ und Lars Arndt von der These aus, dass es der Wirtschaftsethik bisher noch nicht gelungen ist, eine überzeugende Lösung für das Problem der Anschlussfähigkeit von Moral und Wirtschaft vorzulegen. Wie exemplarisch am wirtschafts- und unternehmensethischen Ansatz von Karl Homann sowie am Ansatz der integrativen Wirtschaftsethik von Peter Ulrich gezeigt wird, versuchen die beiden Autoren anstelle der eigentlich zu leistenden Vermittlung von Moral und Wirtschaft, einen Primat entweder der ökonomischen Rationalität oder aber der Ethik zu begründen. Vor dem Hintergrund dieser Problematik wird der Vorschlag unterbreitet, das Konzept der Nachhaltigkeit als Brücke zwischen Moral und Wirtschaft, zwischen ethischer Vernunft und ökonomischer Rationalität zu verstehen. Es wird argumentiert, dass Nachhaltigkeit - verstanden als Prinzip haushaltsökonomischer Rationalität - einerseits der ethisch fundierten Forderung nach einer Rücksichtnahme auf die gesellschaftliche und natürliche Umwelt Rechnung trägt, andererseits aber direkt an das ökonomische Interesse der Wirtschaftssubjekte anschlussfähig ist und somit nicht die im Kontext der Ethik üblicherweise auftretenden Begründungs- und Motivationsprobleme auslöst. Dazu arbeiten die Autoren zunächst in allgemeiner Form den Charakter des Konzeptes der Nachhaltigkeit als haushaltsökonomischer Rationalität heraus, bevor anschließend auch deren Implikationen für die Unternehmensführung erörtert werden. Abschließend wird die Frage beleuchtet, welche Bedeutung der Ethik vor dem Hintergrund des dargelegten Nachhaltigkeitsverständnisses zukommt. •
Franz-Theo Gottwald und Isabel Boergen befassen sich in ihrem Beitrag "Mensch, Markt und Technik - Welche Landwirtschaft kann die Welt er-
nähren?" mit der Frage nach Sicherung der Welternährung. Um eine
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Antwort auf die weltweite Emährungskrise zu finden, braucht es nach ihrer Meinung einen grundlegenden Wandel innerhalb der globalen Agrarwirtschaft. Die Hightech-Evolution der Landwirtschaft ist wenig nachhaltig, bietet kaum Potential für Kleinbauern und geht letztlich an den Bedürfnissen des überwiegenden Teils der betroffenen Menschen vorbei. Für die Sicherung der Welternährung sind nachhaltige, ökologische und sozial gerechte Konzepte vonnöten, die regionale Eigenarten berücksichtigen und den Landwirten als Nahrungsmittelproduzenten mehr Wertschätzung entgegenbringen. Ökologische Anbaumethoden können hier einen wesentlichen Beitrag leisten. Deshalb braucht es auch und gerade auf politischer Ebene - eine Stärkung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft. Dazu müssen Kleinbauern in ihren Rechten gestärkt werden, Saatgut und landwirtschaftlich genutzte Tiere auch weiterhin als Gemeingut frei zugänglich sein. Längst überfällige Bodenreformen müssen die ländliche Bevölkerung in Entwicklungsländern vor Enteignung und Agrarkolonialismus schützen. Innovationen des Ökolandbaus können die gesamte Branche inspirieren, einzelne Elemente die traditionelle Subsistenzlandwirtschaft bereichern und stärken. Gleichzeitig müssen die Strukturen der globalen Agrarmärkte radikal verändert werden. Exportsubventionen sollten gestrichen, Agrarsubventionen in den Industrieländern umverteilt bzw. langfristig abgebaut werden. Kriterien für Umwelt- und Sozialstandards müssen entwickelt und international etabliert werden. Nicht zuletzt aufgrund der gesellschaftlichen Leistungen, die ökologisch wirtschaftende Betriebe leisten, muss hier über eine andere Art der Förderung diskutiert werden, weg von einer Subventionierung von industriellen Großbetrieben, hin zu einer gezielten Unterstützung derer, die sauber, umweltfreundlich und sozial wirtschaften, und regionale Arbeitsplätze schaffen. •
In seinem Beitrag .Economic Theory of Environmental Liability Law: Fun-
damental Issues and Recent Developments" setzt sich AIfred Endres mit den Haftungsfragen in der Umweltpolitik auseinander. Es hat sich gezeigt, dass Umweltprobleme in der Regel auf Marktversagen aufgrund negativer externer Effekte zurückzuführen sind. Negative externe Effek-
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te entstehen dann, wenn das Handeln eines Individuums den Nutzen von anderen Menschen negativ beeinflusst, ohne dass dieses Handeln durch die Marktmechanismen sanktioniert wird (z. B. ein Raucher beeinträchtigt das Wohlbefinden der nichtrauchenden Menschen in seiner Umgebung). Durch eine entsprechende Ausgestaltung des Haftungsrechts können die Verursacher von Umweltschäden für die Beseitigung (bzw. die Kosten) dieser Schäden haftbar gemacht werden. Der Autor untersucht unterschiedliche Regelungen bezüglich des Haftungsrechts für Umweltschäden und zeigt auf, dass nur unter sehr restriktiven Bedingungen eine vollständige Internalisierung der negativen externen Effekte erreicht werden kann. Unter realistischeren Annahmen ist eine Internalisierung der externen Effekte nur teilweise möglich, so dass das Haftungsrecht lediglich als eine Komponente im Politik-Mix betrachtet werden soll.
Im dritten und letzten Themenblock werden in sechs Beiträgen einzelne Aspekte der Wirtschaftsethik in der praktischen Umsetzung (z. B. Regulierung der Finanzmärkte, Besteuerung, Controlling, Unternehmensrecht) beleuchtet. •
Michael Schramm untersucht in seinem Beitrag "Ethik der Finanzmärkte
- Dervirtuelle Kapitalismus und die menschliche Natur" die Gründe für die letzte Finanzmarktkrise. Seiner Ansicht nach sind Finanzmärkte nur ein besonders drastisches Beispiel für ein grundsätzliches Problem globaler Märkte: Da eine global ordnende Instanz fehlt, sind die Märkte nicht hinreichend geordnet. Somit ist die Finanzmarktkrise nicht Beleg für ein Scheitern des Kapitalismus per se, sondern ein Scheitern eines unregulierten Finanzmarktkapitalismus. Wenn sich der modeme Kapitalismus nicht selbst zerstören soll, dann brauchen wir insbesondere für die globalen Finanzmärkte eine solidere Konstruktion. Es geht darum, dass wir die Finanzmärkte beherrschen, damit nicht sie uns beherrschen. In diesem Zusammenhang sind mindestens vier Hebel gleichzeitig zu bedienen: die informellen Institutionen, die formalen Institutionen, die Strukturen wirtschaftlicher Organisationen und die individuellen Selbstbindungen. Aufgrund der besonderen ethischen Gefährdung des (virtuali-
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sierten) Finanzsektors ist es vor allem wichtig, dass funktionierende Spielregeln die Spielzüge der Akteure in den Finanzmärkten wirksam kanalisieren und dass sich die Gesellschaft kulturell der Gefahr eines "Vulgärkapitalismus" bewusst hält. Dabei dürfte die Erinnerung daran, dass es neben dem Geld noch andere Werte gibt, entscheidend sein. •
Im anschließenden Beitrag .Bankenaufsicht in Deutschland - Entwicklungs-
linien und -tendenzen" erläutern Michael Bitz und Dirk Matzke die wesentlichen Entwicklungstendenzen und Konzeptionen der Finanzmarktregulierung seit der großen Weltwirtschaftskrise im Jahr 1929. Es hat sich gezeigt, dass bankenaufsichtsrechtliche Vorschriften überwiegend, wenn auch nicht ausschließlich, in Reaktion auf eingetretene Missstände entwickelt worden sind. Eine Fortsetzung dieser Tendenz zeichnet sich naheliegender Weise auch im Zusammenhang mit der aktuellen Finanzkrise ab. Allerdings ist in der darauf einsetzenden Diskussion um eine stärkere Regulierung der Finanzmärkte insgesamt sowie der Banken insbesondere eine neue Qualität zu verzeichnen: Bis in die ersten Jahre dieses Jahrhunderts hinein wurden entsprechende Maßnahmen ganz überwiegend in Expertenkreisen vorbereitet und ohne nennenswerte öffentliche Beachtung umgesetzt. Seit der jüngsten Finanzkrise werden demgegenüber die unterschiedlichsten Vorschläge zur Regulation der Finanzmärkte auch von Personen, insbesondere aus Politik und Publizistik, vorgestellt, die bislang noch nicht gerade als Bank- und Finanzexperten in Erscheinung getreten sind. Es bleibt abzuwarten, ob es gelingt, aus der letzten Finanzkrise - so wie bei vorangegangenen Krisen auch - vernünftige Lehren für die weitere Entwicklung des Bankenaufsichtsrechts zu ziehen. Die in Deutschland bislang schon umgesetzten und in weiterer Vorbereitung befindlichen Maßnahmen lassen ein abschließendes Urteil noch nicht zu. •
Nachdem ethische und ökologische Überlegungen unter dem Begriff Socially Responsible Investments (SR!) schon seit längerer Zeit auf den angelsächsischen Finanzmärkten an Einfluss gewonnen haben, sprang diese Tendenz in den 1990er Jahren auch auf die deutschsprachigen Märkte über. Stephan Schöning untersucht in seinem Beitrag "Ethische
Ethik und Wirtschaftswissenschaft
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Investmentfonds: Ein Modeprodukt?" die vier wesentlichen Ausprägungsformen ethischer und ökologischer Investmentfonds - Ethikfonds, Umwelttechnologiefonds, Öko-Effizienz-Fonds und Sustainable Development Funds. Im Zentrum stehen die geschichtliche Entwicklung und die grundlegenden Anlagestrategien dieser Fondsarten. Darauf aufbauend wird die aktuelle Marktsituation insbesondere des deutschsprachigen Marktes für prinzipiengeleitete Investmentfonds dargestellt. Unter Zuhilfenahme dieser Daten werden die Problemfelder und Chancen, die dieser relativ neue Markt bietet, analysiert, wobei auch auf die Entwicklungen im Zuge der Finanzmarktkrise eingegangen wird. Anlagen in ethisch-ökologische Fonds erfordern vom Kapitalanleger zunächst eine intensive Beschäftigung mit den eignen Zielen und der individuellen Risikotragfähigkeit. Angesichts der Merkmale "erhöhte Volatilität sowie "Verpassen von Chancen in Ausschlussbranchen", die den Fonds produktimmanent sind, ist ein sorgfältiges Abwägen zwischen Rendite, Risiko und Nachhaltigkeit notwendig. Auf dieser Basis ist anschließend eine sorgfältige Auswahl des passenden Fonds erforderlich. •
Dieter Schneeloch beleuchtet in seinem Beitrag "Gedanken zu einer normativen Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre" die Wirtschaftsethik von einem anderen Blickwinkel, nämlich der Besteuerung. Zu den Steuerwissenschaften gehören neben der betriebswirtschaftlichen Steuerlehre die Finanzwissenschaft und das Steuerrecht. Gemeinsames Problemfeld dieser Wissenschaften ist deren rechtskritischer (normativer) Teilbereich. Zur Beurteilung steuerrechtlicher Normen bedarf es - auch aus Sicht der betriebswirtschaftlichen Steuerlehre - zwingend der Reflexion über die diesen zugrunde liegenden ethischen Normen. Diese Normen können von unterschiedlichen Personen und Institutionen stammen, ggf. von diesen entwickelt werden. Als derartige Personen bzw. Institutionen kommen insbesondere der Gesetzgeber, die Gemeinschaft der Fachwissenschaftler und der einzelne Wissenschaftler in Betracht. Unabhängig davon, um wessen Wertungen es sich handelt, sollten diese in jeder wissenschaftlichen Veröffentlichung klargestellt werden. Strebt der Wertende aufgrund seiner Wertungen mehrere Ziele an, so sollten diese genannt, außerdem sollte ihre Rangordnung festgelegt werden. Nur so
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Tristan Nguyen kann dem Vorwurf der Parteilichkeit begegnet werden. In Diskussionen über eine grundlegende Steuerreform ist es deshalb sinnvoll, auch die Grundwertungen, auf denen das geltende Steuerrecht beruht und das neue beruhen soll, zu hinterfragen. •
"Der Einfluss von Vertrauen in einem Inspektionsspiel zwischen Disposition und Controlling" ist Gegenstand des nächsten Beitrags von Günter Fan-
deI und [an TrockeL Zahlreiche Umfragen sowohl unter Wirtschaftsfachleuten als auch bei anderen gesellschaftlichen Gruppierungen zeigen eindeutig, dass das Vertrauen in die Überlegenheit des marktwirtschaftliehen Wirtschaftssystems gegenüber autoritären Systemen geringer geworden ist. Im Mittelpunkt der Erörterungen stehen dabei oft das heutige Erscheinungsbild des Kaufmanns und die Frage, inwieweit dieses noch dem des ehrbaren Kaufmanns entspricht, dessen Wort und Handschlag gelten. Grundlage jeden Handelns in Unternehmen sind Verträge, die zwischen Eigentümern und Unternehmensleitung bzw. zwischen der Unternehmensleitung und Mitarbeitern geschlossen worden sind. Da nicht alle Verträge vollständig spezifiziert sein können, herrscht ein gewisses Maß an Informationsdefizit, was wiederum Misstrauen oder"Treu und Glauben" induziert, da gewisse Spielräume ausgenutzt werden könnten. Vertrauen bildet eine wichtige Einflussgröße des Nicht-Ausnutzens der Informationsasymmetrie. Anhand der Darstellung eines wiederholten Spiels, das den Konflikt zwischen der Disposition und dem Controlling beschreibt, zeigen die Autoren, welchen Einfluss Vertrauen als ethischer Aspekt auf die generierte Lösung aufweist. Ihre Analyse zeigt, dass durch dauerhaftes Vertrauen die Auszahlungen der Akteure die Auszahlungen ohne Vertrauen dominieren, zudem aber auch durch eine höhere Wahrscheinlichkeit optimaler Entscheidungen die Gefahr gemindert werden kann, dass höhere, vermeidbare Kosten für die Unternehmensleitung entstehen. •
Im letzten Beitrag .Llniemehmerisdtes Verhalten im Kontext der Europäisierung des Rechts" von Heinz Kußmaul, Christoph Ruiner und Dennis Weiler geht es um die Auswirkungen auf das unternehmerische Verhalten im Zusammenhang mit der Europäisierung der Wirtschaft und des
Ethik und Wirtschaftswissenschaft
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Rechts. Anhand von zwei Beispielen zeigen die Autoren Umgehungssachverhalte, die sich in der Praxis herauskristallisiert haben. o Zum einen wird die Umgehung des deutschen Insolvenzrechts problematisiert, die ihren Ursprung hat in der internationalen Ausrichtung der Unternehmen und in der Möglichkeit, sich im Rahmen der Europäischen Union entsprechend zu positionieren. Nachdem die EU-Insolvenzverordnung verabschiedet wurde, ergab sich für die Unternehmen die Frage, welche Nischen im Vergleich zum deutschen Insolvenzrecht gefunden werden können. In diesem Zusammenhang kristallisierte sich eine Gestaltung mit der Rechtsform in anderen Ländern Europas, speziell mit der britischen Limited, heraus. o Zum anderen wurde die Umgehung des deutschen Bilanzrechts mit dem Typus des ehrbaren und ordentlichen Kaufmanns ebenso von den Unternehmen verfolgt, wobei die EU durch die allgemeine Akzeptierung der IFRS die Nischensuche geradezu gefördert hat. Hier ergab sich unter anderem eine Gestaltung mit internationalen Bewertungsmaßstäben im Kontext des Fair Value. In der Literatur wird nicht selten die Meinung vertreten, dass der Fair Value der Hauptauslöser der internationalen Finanzkrise gewesen, werden sei. In beiden Fällen ergibt sich eine Komplexitätssteigerung des Rechts insgesamt, was automatisch auch Gestaltungen im immer komplexer werdenden Recht nach sich zieht. Wenn dabei noch der Verlust traditioneller Werte quasi automatisch realisiert wird, wie man insbesondere beim Übergang auf den Fair Value und dem damit verbundenen Verlust des Typus des ehrbaren bzw. ordentlichen Kaufmanns sieht, dann stellt sich die Frage, ob unternehmerisches Verhalten sich im Sinne von Ethik und damit von Anstand automatisch ergibt, oder ob nicht die rechtlichen Regelungen in dem Sinne gestaltet werden müssen, dass ethisches Verhalten gefördert und gefordert wird. Gerade im Zusammenhang mit dem Zusammenwachsen Europas zeigt sich eine klare Folge dergestalt, dass nicht alle Vereinheitlichungen förderlich sind.
Über den Autor:
Prof. Dr. Tristan Nguyen studierte Mathematik, BWL, VWL und Rechtswissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München, der FernUniversität Hagen, der Technischen Universität Kaiserslautern und der Universität des Saarlandes mit den akademischen Abschlüssen Dipl.-Mathematiker, Dipl.Volkswirt, Dipl.-Kaufmann und Master of Laws. Anschließend promovierte er im Rahmen der Graduiertenförderung des Landes NRW zum Doktor der Wirtschaftswissenschaft (Dr. rer. pol.). Nach der erfolgreichen Habilitation wurde ihm von der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der FernUniversität Hagen die Lehrbefugnis (Venia Legendi) für die Fachgebiete "Volkswirtschaftslehre" und "Versicherungswirtschaft" verliehen. Prof. Nguyen ist seit 1/2009 Inhaber des Lehrstuhls für VWLNersicherungsund Gesundheitsökonomik an der WHL Wissenschaftliche Hochschule Lahr. Von 2004 bis 2008 lehrte er "Versicherungswirtschaft" an der Fakultät für Mathematik und Wirtschaftswissenschaften der Universität Ulm und war als Lehrbeauftragter an mehreren Universitäten im In- und Ausland tätig. Von 2000 bis 2003 war er Referent für Rückversicherungscontrolling bei der Swiss Re Germany Holding AG in München. Von 1996 bis 2000 war er als Prüfer bei
PricewaterhouseCoopers AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft in Stuttgart und München tätig. Im Rahmen seiner Berufstätigkeit hat Prof. Nguyen die Berufsexamina zum Wirtschaftsprüfer und Aktuar DAV erfolgreich abgelegt.
1. Teil: Wirtschaftsethik im Spannungsfeld zwischen ökonomischer Rationalität und ethischen Normen
Das Gefangenendilemma und seine ethischen Implikationen bei Aristoteles, Locke und Hume
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Christoph Lütge
Betrachtungen zur Ethik und der Wirtschaft
41
Peter N. Pasch
Markt und Moral
49
Andreas Suchanek
Zwischen Markt und Brüderlichkeit Zum Zusammenhalt von Gesellschaften
73
Kurt Röttgers
Intersubjektivität und die Beharrlichkeit der Moral in der Wirtschaft Bemd Remmele
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16 Ökologie, Ökonomie und Ethik: Eine Gemengelage mit Zukunft? Dieter Beschorner
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Das Gefangenendilemma und seine ethischen Implikationen bei Aristoteles, Locke und Hume Christoph Lütge
Die Versuche der Vermittlung zwischen ethischen Normen und ökonomischer Rationalität - oder einfach zwischen Moral und Ökonomie - haben eine lange Geschichte, die (mindestens) bis zu Aristoteles zurückreicht. Diese Geschichte ist von Wirtschaftsethikern und -historikern mehrfach aufgearbeitet worden,' Mir geht es hier nicht erneut um eine Darstellung dieser klassischen Geschichte. Vielmehr möchte ich einige Wurzeln und historischen Bezüge eines Konzepts beleuchten, das - in ganz unterschiedlichen Formen und Ausprägungen - in der Philosophiegeschichte seinen sowohl ökonomischen als auch ethischen Niederschlag gefunden hat. Ich meine das Gefangenendilemma. Ich werde zunächst die (zweifellos sattsam bekannten) Grundzüge dieses Modells noch einmal kurz vorstellen. Anschließend werde ich auf unterschiedliche Formen des Auftretens dieses Modells in der Philosophiegeschichte eingehen.? Dabei geht es mir nicht um ein exaktes "Wiederfinden", sondern vielmehr um ein "Mustererkennen" in dem Sinne, dass sich das dem Gefangenendilemma entsprechende Argumentationsmuster in den Gedankengängen dreier Denker - zumindest holzschnittartig - wiedererkennen lässt: Aristoteles, [ohn Locke und David Hume. Bewusst übergehe ich dabei Thomas Hobbes, da über seine klassische Analyse des Naturzustands als Dilemmastruktur bereits eine außerordentliche Fülle von Literatur vorliegt.'
1
Vgl. auch das in Arbeit befindliche Handbuch Lütge 2012.
2
Es handelt sich hier um Vorüberlegungen zu einer größeren Studie.
3
Vgl. aktuell etwa Pettit 2008.
T. Nguyen, M ensch und Markt, DOI 10.1007/978-3-8349-6728-2_2, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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1)
Christoph Lütge
Das Gefangenendilemma
In seiner heutigen Form wurde das Modell des Gefangenendilemmas, wie in allen gängigen Darstellungen zu lesen ist, in den 1950er Jahren von MOresher und M. Flood von der RAND Corporation dargestellt und von A Tucker zum ersten Mal mit dieser Bezeichnung belegt. Das prisoners' dilemma- oder kurz PD ist ein klassisches Modell für Entscheidungen in Interaktionen. In den Grundzügen lautet es wie folgt: Zwei Untersuchungshäftlingen wird eine möglicherweise gemeinsam begangene Tat zur Last gelegt wird. Da jedoch die Beweise fehlen, können sie nur verurteilt werden, wenn mindestens einer die Tat gesteht, sonst können beide nur zu 2 Jahren wegen unerlaubten Waffenbesitzes verurteilt werden. Der Geständige wird straffrei ausgehen, während der andere Häftling 10 Jahre erhält. Gestehen beide, erhalten beide eine Strafe von 8 Jahren. Man kann das Gestehen dabei im Sinne der Spieltheorie als defektive, das Dichthalten als kooperative Strategie ansehen. Die Gefangenen werden voneinander getrennt und können somit ihr Verhalten nicht aufeinander abstimmen. Wenn beide rational handeln, so schlagen sie beide die defektive Strategie ein (sie erhalten jeweils 8 Jahre) und stellen sich dabei beide schlechter, als wenn sie kooperiert hätten (in diesem Fall hätten sie nur 2 Jahre erhalten). Das heißt, defektive Strategien sind dominant. Dies liegt an den Spielregeln, die so gestaltet sind, dass die für beide (also kol-
lektiv) beste Lösung (nämlich 2 Jahre) aus individueller Sicht nur die zweitbeste ist; noch besser wäre es, straffrei auszugehen. Da beide dieselbe Kalkulation anstellen, schädigen sie sich beide selbst. In der Auszahlungsmatrix sieht das wie folgt aus:
• Ich verwende bewusst - und im Gegensatz zur gängigen Bezeichnung "prisoner's dilemma" die Pluralform, denn das Gefangenendilemma ist ein Interaktionsmodell und kein reines Handlungsmodell, das die Entscheidungssituation eines einzelnen, isolierten Akteurs analysiert.
19
Gefangenendilemma bei Aristoteles, Locke und Hume
Spieler 2 Kooperieren
Defektieren
Kooperieren
3,3
1,4
Defektieren
4,1
2,2
Spielerl
Abbildung 1: Matrix zum Gefangenendilemmas
Das Gefangenendilemma kann sowohl positive als auch negative Folgen haben. Die positiven Folgen sind im Allgemeinen weniger bekannt. Dazu zählt eine Disziplinierung der Anbieter zugunsten der Kunden. Anbieter werden beispielsweise daran gehindert, ihre Preise unbegrenzt in die Höhe zu treiben; denn schon ein Defektierer könnte mit niedrigeren Preisen das Anbieterkartell zu Fall bringen. Ähnlich könnte auch ein Unternehmen, das als erstes besonders hohe (von den Kunden gewünschte) Umweltstandards setzt, erreichen, dass alle Mitbewerber mitziehen müssen, um Akzeptanzprobleme zu vermeiden und konkurrenzfähig zu bleiben. Die negativen Auswirkungen des Gefangenendilemmas sind allerdings geläufiger: Der Markt kann nicht unterscheiden, ob jemand aus Ineffizienz oder aus moralischen Motiven heraus zu teuer produziert. Somit könnte auch der moralische Unternehmer, der beispielsweise freiwillig eine teure Filteranlage zum Schutz der Umwelt einbaut, zum wirtschaftlichen Ruin gezwungen werden, falls er im Wettbewerb nicht mithalten und die umweltfreundlichere Produktionsweise nicht als reputationsfördernd darstellen und vermarkten kann. Dilemmastrukturen von der Art des Gefangenendilemmas sind allgegenwärtig. 6 Nicht nur die Ordnungsethik, die Dilemmastrukturen als paradigmati-
5
6
Vgl. Homann/Suchanek 2000, 37. Ich verwende das Gefangenendilemma als paradigmatischen Fall, der für eine Reihe von spieltheoretischen Modellen steht. Hierzu zählen selbstverständlich auch Modelle wie etwa das Battle of the Sexes, das Chicken Garne und andere. Auf die unterschiedlichen Pointen kann ich hier nicht im Einzelnen eingehen, vgl. dazu Lütge 2007, Kap. 2.3.3.
20
Christoph Lütge
sehen Ausgangspunkt nimmt/ sieht das so, sondern durchaus auch andere Konzeptionen, so etwa die Vertragstheorie K. Binmores (1994 und 1998). Man findet Dilemmastrukturen insbesondere überall dort, wo Wettbewerb herrscht. In solchen Situationen ist es den Akteuren nicht möglich, durch individuelle Änderung ihrer Handlungsweise allein aus dem Dilemma zu entkommen. Hierzu ist vielmehr eine Veränderung der Regeln des Spiels, das heißt eine Veränderung der Logik der Situation, erforderlich. Mehrere Bemerkungen hierzu sind erforderlich: 1) Das Gefangenendilemma kann einmalig, mehrmals oder unendlich oft gespielt werden. Von Seiten der Spieltheorie wird gelegentlich behauptet, eine Iteration des Spiels sei selbst schon die Lösung des Spiels. Die Iteration des Dilemmas impliziert jedoch die Einführung von Sanktionen, d.h. Anreizen: In irgendeiner Weise wird gewährleistet, dass man sich wiedersieht - und darin besteht die Sanktionsmöglichkeit. Wenn diese Sanktionsmöglichkeit mit Hilfe von Institutionen zustande kommt, entspricht dies der ordnungsethischen Lösung. Andernfalls ist unklar, was mit einer Iteration des Dilemmas (unter realen Bedingungen) gemeint sein könnte, ohne Institutionen heranzuziehen. In Simulationen lassen sich iterierte Spiele natürlich leicht modellieren - aber wie sehen diese Iterationen in der Realität aus? Zusammentreffen der Akteure durch Zufall dürften nicht ausreichen; was also gewährleistet solche Treffen? 2) Manchmal wird auch argumentiert, das einmalige Spiel sei weitgehend irrelevant, da es in der Realität kaum vorkäme. Dem ist zu widersprechen: Modeme Gesellschaften sind gerade durch den wachsenden Grad an anonymen Beziehungen gekennzeichnet, in denen Defektion ohne wirksame Kontrolle in vielen Situationen leicht möglich ist. Hier werden Spiele durchaus nicht immer wiederholt. Allerdings ist zuzugestehen, dass Reputationseffekte in der globalisierten Welt im Rahmen von CSR, Corporate Citizenship u.a. eine nicht geringe Rolle spielen: Die Publizi-
7
Vgl. ursprünglich Homann/Kirchner 1995, später Homann/Lütge 2005 sowie Lütge 2004b und 2007.
Gefangenendilemma bei Aristoteles, Locke und Hume
21
tät von Unternehmenshandlungen ist, vor allem durch das Internet, stark angewachsen. Dennoch: Nur wenn es sich um systematische, dauerhafte Anreizmechanismen handelt, die über Reputationseffekte echte funktionale Äquivalente zu klassischen Regeln bieten, werden Gefangenendilemmata überwunden. (Diese Situationen werden aber hier nicht im Vordergrund stehen.) 3) Entscheidend ist im Gefangenendilemma, dass die Akteure zu jener Handlungsoption greifen, die Kar! Homann als "präventive Gegendefektion"B bezeichnet hat: Es wird keine funktionierende Kooperation zu Fall gebracht, sondern die Kooperation kommt von Vornherein gar nicht zustande, da die Beteiligten die soziale Falle und damit die mögliche Ausbeutung antizipieren. 4) Man kann die präventive Gegendefektion leicht in Verbindung zu mehreren ethischen bzw. wirtschaftsethischen Themen setzen. Nur eins sei hier genannt: das klassische ethische Konzept der Mäßigung." Mäßigung mag für die persönliche Lebensführung (soweit sie nicht mit Interaktionen zu tun hat!) ein sinnvoller Orientierungsmaßstab sein, in der Gesellschaft jedoch ist sie dies nicht: Akteure, die sich mäßigen, geraten auf die Dauer ins Hintertreffen und in Gefahr, aus dem Markt ausscheiden zu müssen. Dies gilt paradigmatisch für Unternehmen, die mit moderaten Gewinnen zufrieden sind, genauso wie für Arbeitnehmer, die sich zurücklehnen: Sie riskieren, dass Stillstand Rückschritt bedeutet.
Soweit die systematischen Ausführungen zum Gefangenendilemma. Ich wende mich jetzt wie angekündigt drei klassischen Philosophen zu, bei denen sich verwandte Argumentationsmuster wiedererkennen lassen: Aristoteles, Locke und Hume.
8
Homann/Suchanek 2000, 36.
9
Vgl. Lütge 2004a.
22
2)
Christoph Lütge
J\ristoteles
In Aristoteles' "Politik" kommen grundsätzlich zwei systematische Stellen in Frage, an denen sich eine Dilemmastruktur finden lassen könnte: zum einen in der Beschreibung des Prozesses der Staatenbildung, zum anderen in der Beschreibung der Verhältnisse im Staat.'? Im ersten Buch der "Politik" beschreibt Aristoteles, wie die Staaten entstehen,
angefangen vom ehelichen Zusammenschluss über kleinere Gemeinschaften und Dörfer. Der Staat entsteht auf natürlichem Wege, auch schon deswegen, weil der Mensch von Natur aus - so die klassische abendländische Bestimmung - ein politisches Lebewesen (zoon politik6n) ist. Aber auch die Staatsbildung ist ein natürlicher Vorgang, da die vom Staat bereitgestellten Leistungen menschliche Bedürfnisse bedienen. Dies führt bis zur höchsten zu erreichenden Stufe des guten Lebens im Staat, der Autarkie. Eine Dilemmastruktur kommt dann ins Spiel, wenn es um Menschen geht, die nicht dem üblichen Wesen entsprechen: "derjenige, der aufgrund seiner Natur und nicht bloß aus Zufall außerhalb des Staates lebt, ist entweder schlecht oder höher als der Mensch [... ] Denn dieser ist von Natur [... ] gierig nach Krieg, da er unverbunden dasteht, wie man im Brettspiel sagt." (Aristoteles 2003, 49). Dieser Mensch hat entweder, als höheres Wesen, kein Bedürfnis nach Kooperation - dann ist es unproblematisch -, oder aber er ist schlecht und ist gewissermaßen permanent auf Defektion aus. Er hat dann auch kein Bedürfnis nach Freundschaft und kann der Stabilität eines Staates nur abträglich sein. Aufgrund seiner zu erwartenden Stärke ist er gefährlich - und hat gefährliche Waffen: "Das Schlimmste ist die bewaffnete Ungerechtigkeit. Der Mensch besitzt von Natur als Waffen die Klugheit und die Tüchtigkeit, und gerade sie kann man am allermeisten in verkehrtem Sinne gebrauchen. Darum ist der Mensch ohne Tugend das gottloseste und wildeste aller Wesen [... ]" (Aristoteles 2003,50) Die Waffen der Intelligenz kann ein solcher Mensch zur Manipulation anderer verwenden und so etwa Kriege führen. Diese Gefahren sieht er auch in Platons 10
Ich danke Eva Solloch für einige Vorarbeiten.
Gefangenendilemma bei Aristoteles, Locke und Hume
23
Vorstellung vom idealen Staat gegeben: Manipulationen und Dilemmastrukturen. Dem wende ich mich nun zu. Im zweiten Buch der "Politik" erörtert Aristoteles die Gefahren des von Platon
in der "Politeia" beschriebenen Idealstaats. Diese Gefahren werden vor allem in zwei Hinsichten erörtert, in denen dann auch die Dilemmastrukturen beschrieben werden: erstens im Hinblick auf die Gemeinschaft von Kindern (Kapitel 3 und 4), zweitens im Hinblick auf die Frage der Güterteilung im Idealstaat. Der Gedanke der Dilemmastruktur hat dabei zwei Grundlagen: 1) Für Aristoteles ist es nicht das Ziel, eine Einheit des Staates zu erreichen, sondern den Staat als Zusammensetzung vieler zu sehen: "Der Staat besteht außerdem nicht nur aus vielen Menschen, sondern auch aus solchen, die der Arzt nach verschieden sind. Aus ganz Gleichen entsteht kein Staat." (Aristoteles 2003,70). 2) Der Begriff "alle" kann nach Aristoteles einmal verstanden werden als Summe aller Einzelnen, das heißt, jeder bleibt Individuum und kümmert sich um seine eigenen Aufgaben und seine Familie. Oder aber der Begriff kann, in seiner platonischen Ausprägung, alle in ihrer Gesamtheit meinen - und dann haben alle gemeinsame Kinder, gemeinsame Familien und gemeinsamen Besitz: ,,[... ] denn jeder wird seinen Sohn als seinen Sohn und seine Frau als seine Frau bezeichnen, und eben so wird er vom Vermögen und allem, was ihn betrifft sprechen. Aber jene, die die Frauen und Kinder gemeinsam haben, werden gerade nicht so reden: alle zusammen können es, aber nicht jeder einzelne [... ]" (Aristoteles 2003,71). Diese beiden Definitionsmöglichkeiten sind für Aristoteles Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen. Aristoteles' Ziel in diesem zweiten Buch ist zu zeigen, dass der platonische Gedanke von "alle" als Gesamtheit zum einen nicht realisierbar und zum anderen auch gar nicht wiinschenswert ist, da er erhebliche Nachteile mit sich bringen würde.
Christoph Lütge
24
Generell erhielten die Dinge, die alle gemeinsam besitzen, so gut wie keine Pflege: "Denn um das Eigene kümmert man sich am meisten, um das Gemeinsame weniger oder nur soweit es den einzelnen angeht. Denn, abgesehen vom übrigen, vernachlässigt man es eher, weil sich doch ein anderer darum kümmern wird, so wie auch in den häuslichen Dienstleistungen viele Diener zuweilen weniger leisten als wenige." (Aristoteles 2003, 71) Der Grund scheint bei Aristoteles in der Natur des Menschen zu liegen: offenbar betreiben Menschen für solche Dinge am wenigsten Aufwand, bei denen sie davon ausgehen, dass es zahlreiche andere Verantwortliche gibt. Die Folge ist allgemeines Desinteresse. Das gilt auch und gerade für die Kindergemeinschaft: "Nun bekommt aber jeder Bürger tausend Söhne, und diese nicht als Söhne eines einzelnen, sondern jeder beliebige ist gleichmäßig Sohn von jedem beliebigen. Also werden sie sie alle gleichmäßig vernachlässigen." (Aristoteles 2003, 71) Damit liegen Elemente einer Gefangenendilemmastruktur vor: es herrscht Unklarheit über die Verantwortlichkeit für einen gemeinsames" Produkt". Die Folgen malt Aristoteles im Folgenden (2. Buch, Kap. 4) aus: es kommt zu Zwietracht, Überfällen und Mord: " dies sind Dinge, die vielleicht gegen Femstehende [siel], aber keinesfalls gegen Väter und Mütter und nahe Verwandte vorkommen dürfen. Sie müssen jedoch öfter vorkommen, wenn man einander nicht kennt, als wenn man einander kennt." (Aristoteles 2003,72). Ohne klare Verwandtschaftsverhältnisse kommt es nach Aristoteles zwangsläufig zur Defektion - und kaum zur Kooperation der Bürger untereinander. Letztlich ist das Ergebnis gemeinschaftlichen Kindereigentums das gleiche wie bei der klassischen"Tragik der Allmende"!': da sich keiner für das Ergebnis verantwortlich fühlt, leiden alle unter den Folgen, hier: der Verrohung. Es gibt noch einen zweiten Faktor, der hier eine Rolle spielt: Freundschaft. Das Bestehen von möglichst vielen Freundschaften ist sehr wichtig, "... denn so werden wohl am wenigsten Bürgerkriege stattfinden... " (Aristoteles 2003,73). Im platonischen Idealstaat jedoch komme Freundschaft nicht zu Stande, da es
11
Hardin 1968.
Gefangenendilemma bei Aristoteles, Locke und Hume
25
immer Streit um den gemeinsamen Besitz gebe. Selbst über grundlegende Dinge herrschte Zwietracht: " denn zwei Dinge erwecken vor allem die Fürsorge und Liebe der Menschen: das Eigene und das Geschätzte. Bei den Bürgern eines solchen Staates kann weder das eine noch das andere vorhanden sein." (Aristoteles 2003,73) Das gute Zusammenleben im Staat hat für Aristoteles oberste Priorität, und im platonischen Idealstaat findet er eine Reihe von Dilemmasituationen, die das Zusammenleben stören können. Die Beschreibung dieser Situation hat daher für ihn die Funktion, bessere Formen des Zusammenlebens zu finden. Das wird auch in Bezug auf die Frage der allgemeinen Güterteilung sichtbar: Aristoteles fragt hier nicht nur, ob Besitz gemeinsam genutzt werden soll oder nicht, sondern auch differenzierter, ob Gewinn, der aus privatem Grundbesitz resultiert, gemeinsam genutzt werden sollte, zum Beispiel die Ernte in der Landwirtschaft (Aristoteles 2003,74). Solche Fragen sind wiederum zentral für das gute Zusammenleben mit Freunden: "denn in bestimmten Sinne müssen die Güter gemeinsam sei, im Allgemeinen dagegen privat. Wenn jeder für das seinige sorgt, werden keine Anklagen gegeneinander erhobene, und man wird mehr vorankommen [... ]. Die Tugend wiederum wird den Gebrauch nach dem Sprichwort: ,den Freunden ist alles gemeinsam' regeln." (Aristoteles 2003,75) Der Privatbesitz sorgt auch hier dafür, dass die Bürger sich um ihre Güter kümmern, und er verhindert Konflikte. Gleichzeitig soll aber auch Freundschaft im Staat gewährleistet werden, denn sie ist nach Aristoteles erst die Bedingung der Möglichkeit eines guten Lebens in der Gemeinschaft. Um also sowohl Konflikte zu verhindern als auch Freundschaft zu erhalten, sollen Gesetze sicherstellen, dass Privatgegenstände (etwa Werkzeuge) gemeinsam genutzt werden können: "Aber auch den Freunden, Gästen oder Gefährten Freundlichkeiten oder Hilfe zu gewähren, macht die größte Freude." (Aristoteies 2003, 75) Ein freundlicher Staat ist ein friedlicher und stabiler Staat mit zufriedenen Bürgern, deren Hang zum Defektieren zumindest verringert worden ist.
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Christoph Lütge
Festhalten lässt sich, dass Aristoteles einige Grundzüge des Gefangenendilemmas kennt, von den positiven Wirkungen jedoch ist ihm nichts bekannt. In dieser Hinsicht ändert sich bei Locke kaum etwas.
3)
lohn Locke
Die Lockesche Version der Gesellschaftsvertragstheorie arbeitet mit einer Naturzustandskonzeption, die in der Regel als fundamentaler Gegensatz zum Hobbesschen Naturzustand beschrieben wird. Geht Hobbes davon aus, dass im Naturzustand der Krieg aller gegen alle herrscht, so sieht Locke hier schon vorstaatliche Normen am Werk. Die grundsätzliche Problemaufmachung im Naturzustand, die als PD rekonstruiert werden kann, findet sich jedoch auch bei Locke.P In der "Zweiten Abhandlung über die Regierung" beschreibt Locke zunächst
das natürliche Gesetz, das im Naturzustand eine - wenn auch schwache Funktion in der Koordinierung der Handlungen der Einzelnen übernimmt: "Im Naturzustand herrscht ein natürliches Gesetz, das jeden verpflichtet. Und die Vernunft, der dieses Gesetz entspricht, lehrt die Menschheit, wenn sie sie nur befragen will, dass niemand einem anderen, da alle gleich und unabhängig sind, an seinem Leben und Besitz, seiner Gesundheit und Freiheit Schaden zufügen so1L"13 Damit wird das natürliche Gesetz eingeführt, das dem traditionellen Naturrecht ähnelt: "Gott erweist sich als Geltungsgrund des natürlichen Gesetzes und der individuellen Rechte."14 Das natürliche Gesetz ist nicht nur gegeben, sondern es ist auch erkennbar: Menschliche Vernunft ist dazu ausreichend'" aber auch notwendig. Und darin zeigt sich auch bereits, dass Locke Differenzen zur naturrechtliehen Tradition aufweist: Das natürliche Gesetz ist nur durch die Vernunft erkennbar, nicht aber (beispielsweise) durch Offenbarung
12
Ich danke [ohannes Dejon für einige Vorarbeiten.
13
Locke 1689/1977,203, Hervorhebung im Original.
,. Kersting 1994, 111. 15
Vgl. etwa Locke 1689/1977, 207.
Gefangenendilemma bei Aristoteles, Locke und Hume
27
oder menschliche Selbsterkenntnis. Die natürlichen Gesetze müssen damit nicht mehr im Menschen als ursprüngliche Anlage vorhanden sein. Im Naturzustand reichen die natürlichen Gesetze jedenfalls trotz ihrer (schwa-
chen) Kraft nicht aus, eine stabile Gesellschaft hervorzubringen. Locke gibt hierfür insgesamt drei Gründe an, deren erster wie folgt beschrieben wird: "Erstens fehlt es an einem feststehenden, geordneten und bekannten Gesetz, das durch allgemeine Zustimmung als die Norm für Recht und Unrecht und als der allgemeine Maßstab zur Entscheidung ihrer Streitigkeiten von ihnen allen angenommen und anerkannt ist. Denn obwohl das Gesetz der Natur für alle vemunftbegabten Wesen klar und verständlich ist, werden die Menschen doch durch ihr eigenes Interesse beeinflusst, und da sie außerdem nicht darüber nachdenken und es folglich auch zu wenig kennen, pflegen sie es nicht als ein Recht anzuerkennen, das in seiner Anwendung auf ihre eigenen Fälle für sie verbindlich wäre."16 Das Gesetz ist also selbst "klar und verständlich", aber zum einen denken nicht alle darüber hinreichend nach, und zum anderen kommt ihnen ihr Eigeninteresse in die Quere. Aus der Perspektive des Gefangenendilemmas kann man rekonstruieren: Kooperation hieße Einhaltung der natürlichen Gesetze, Defektion ihre Übertretung. Die Menschen denken danach zunächst an ihr eigenes Interesse - und sehen das Gesetz nur als gültig für andere an, nicht für sich selbst. Sie entscheiden sich, andere auszubeuten, und so enden schließlich alle in der sozialen Falle. Dabei kommen gerade die Leidenschaften und auch die Gleichgültigkeit ins Spiel, wie die folgende Passage über juristische Entscheidung von Streits zeigt. Der Naturzustand ist bei der Locke vor allem auch deswegen ein Zustand der Unsicherheit, weil unparteiische Richter fehlen, um Streitigkeiten zu entscheiden: "Zweitens fehlt es im Naturzustand an einem anerkannten und unparteiischen Richter, mit der Autorität, alle Zwistigkeiten nach dem festste16
Locke 1689/1977,278.
28
Christoph Lütge henden Gesetz zu entscheiden. Denn da im Naturzustand jeder gleichzeitig Richter und auch Vollzieher des Gesetzes der Natur ist, die Menschen aber sich selbst gegenüber parteiisch sind, ist es sehr wahrscheinlich, dass in eigener Sache Leidenschaft und Rache sie zu weit fortreißen und ihren Eifer übertreiben, in Sachen anderer Menschen dagegen Nachlässigkeit und Gleichgültigkeit sie zu indifferent machen."17
Kooperation ließe sich hier ansehen einerseits als unparteiische Durchsetzung der natürlichen Gesetze, andererseits als Akzeptieren der Strafe als gerecht im Falle einer eigenen Gesetzesübertretung. Eine solche Kooperation kommt jedoch wiederum nicht zustande aufgrund der eigenen Interessen und aufgrund unzureichenden ,Nachdenkens'. Locke nennt allerdings nun noch einen weiterenGrund: "Drittens fehlt es im Naturzustand oft an einer Gewalt, dem gerechten Urteil einen Rückhalt zu geben, es zu unterstützen und ihm die gebührende Vollstreckung zu sichern. Menschen, die sich durch irgendeine Ungerechtigkeit gegen das Gesetz vergehen, werden, wenn sie dazu in der Lage sind, selten darauf verzichten, ihr Unrecht mit Gewalt durchzusetzen: ein solcher Widerstand macht die Bestrafung häufig gefährlich und oftmals für die, die sie durchführen sollen, verderblich."18 Die Begründung hat sich hier etwas verschoben, weil sich auch das ,Akteursmodell' verschoben hat: Die Individuen maximieren hier primär nicht mehr (kurzfristig) ihre eigenen Interessen, sondern sie versuchen, das größtmögliche Übel zu verhindern. Nicht der Interessenkonflikt, sondern diese ÜbelVerhinderung verhindert ihrerseits die Kooperation der Einzelnen. Locke betrachtet hier nicht mehr die Gesetzesbrecher, sondern diejenigen Akteure, die sanktionieren sollen - und erkennen müssen, dass es ihnen nicht gelingt. Auf diese Weise kann Locke die Defektion selbst als vernünftige Handlung erweisen:
17
Locke 1689/1977,279.
18
Locke 1689/1977, 297.
Gefangenendilemma bei Aristoteles, Locke und Hume
29
Die Selbsterhaltung ist erste Pflicht des natürlichen Gesetzes, und alle sozialen Pflichten haben zur Bedingung, dass sie die Selbsterhaltung nicht beeinträchtigen dürfen". Daraus ergibt sich, dass im Naturzustand - nicht in der Gesellschaft - Defektion vernünftig ist, da sie mit den natürlichen Gesetzen übereinstimmt. Sie verlangt keinen Heroismus von den Einzelnen; sie überfordert die Einzelnen nicht. Soweit die drei Gründe. Es bleibt aber letztlich eine Interpretationsfrage, ob man Locke zugesteht, die systematische Bedeutung des Gefangenendilemmas voll erkannt zu haben. Die philosophische Traditionslinie verbindet Locke zum einen mit dem Widerstand gegen (illegitime) staatliche Gewalt, zum anderen mit der Möglichkeit, auch durch Selbstorganisation bzw. nichtstaatliche Einheiten soziale Gebilde zu formen. Interessant sind die diesbezüglichen Ausführungen Lockes, in denen er Hobbes kritisiert (insbesondere §§227ff.): Hobbes verzichtet auf ein Widerstandsrecht der Einzelnen im Staat, nach Vertragsschluss.e' Das ist nur konsequent, weil Hobbes strikt darauf fokussiert, wie die Akteure dem Naturzustand entkommen können, und weniger darauf, wie nach staatlicher Übereinkunft die politische Gewalt unter Kontrolle gehalten werden kann. Dies ist eher eine methodologische Entscheidung als eine politische Entscheidung (gar für absolutistische oder wenigstens autoritäre Staaten, wie es Hobbes regelmäßig vorgeworfen wird). Locke jedenfalls äußert sich zu diesem Widerstandsrecht wie folgt: Ehrliche Menschen müssen sich "Räubern und Piraten" (Locke, [ohn 1689/1977, 343) widersetzen dürfen und nicht um jeden Preis Frieden halten müssen: " ... dann bitte ich zu bedenken, was für eine Art von Frieden in der
Welt sein wird, der nur aus Gewalttat und Raub besteht und nur zum Vorteil von Räubern und Unterdrückern bewahrt werden soll. Wer würde es nicht als einen herrlichen Frieden zwischen dem Mächtigen und dem Schwachen ansehen, wenn das Lamm ohne Widerstand seine
19
Vgl. Locke 1689/1977, 203.
2D
Hobbes 1651/1995, insbes. 18. und 20. Kap.
30
Christoph Lütge Kehle darböte, damit sie von dem gebieterischen Wolf zerrissen werde?" (ebd.)
Locke plädiert hier somit eindeutig für die Gegendefektion, um Ausbeutung durch die Mächtigen zu vermeiden. Aus einer Hobbesschen Sichtweise könnte man dies als Nichterkennen der PD-Struktur der Situation ansehen: Wenn die Möglichkeit des Widerstands besteht gegen eine Regierung, zu deren Einrichtung man seine Zustimmung ja gegeben hatte (um aus dem PD zu entkommen), so besteht das PD effektiv fort. Es könnte jederzeit wieder aufbrechen, wenn jemand das Widerstandsrecht für sich in Anspruch nähme. Dies ist die
eine Sichtweise. Man könnte aber auch eine alternative Sicht vertreten: Danach dient die Möglichkeit, das PD wieder aufbrechen zu lassen, der Disziplinierung der "Anbieter" auf dem politischen Markt. Die Mächtigen, die Regierenden, müssen sich zurückhalten und dürfen die Bürger nicht massiv benachteiligen - aufgrund der latent weiterbestehenden PD-Situation, die alle wieder in die soziale Falle treiben könnte. Hier dient also die Gefahr des PDs einem Zweck, der Disziplinierung - während die Kritik an Locke das PD eher als Gefahr sieht, die es soweit wie möglich zu bannen gilt. Insofern ist Locke - wenn man sich dieser zweiten Sichtweise anschließt - einen Schritt weiter als Aristoteles: er kann den Gedanken denken, wonach das PD einem positiven Zweck dient. Das ist allerdings noch einen Schritt von der Vorstellung entfernt, wonach Anbieter durch die positive Rolle des Wettbe-
werbs diszipliniert werden. Diesem Gedanken nähert sich Hume.
4)
David Hume
David Hume begründet Moral systematisch mit ihrer gesellschaftserhaltenden und -stabilisierenden Funktion. Moral dient nach Hume weder göttlichen Geboten noch denen der Vernunft, sondern den Wünschen der Menschen. Diese Wünsche sind jedoch nicht allein durch eigene Interessen, sondern auch durch Sympathiegefühle bestimmt: Weite Teile der "Enquiry Concerning the Principles of Morals" (Hume 1751/1972) bestehen in der deskriptiven Untersu-
Gefangenendilemma bei Aristoteles, Locke und Hume
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chung der Art und Weise, wie Moral unser Leben steuert. Hume analysiert die unterschiedlichen Typen von Affekten (insbesondere ,Wohlwollen' und ,Gerechtigkeit'), auf deren Wirken er eine funktionierende Gesellschaft aufgebaut sieht. Die Gesellschaft soll dabei dem Wohl aller dienen, auch derer, die ihre Handlungen aufgrund dieser Affekte Beschränkungen unterwerfen. Hume (1751/1972, 128ff.) versucht zu zeigen, dass es für jeden Einzelnen generell vorteilhaft ist, sich moralisch zu verhalten. Der Band 3 der "Treatise on Human Nature" liefert hierfür die theoretischen Grundlagen. Hier erkennt Hume die theoretischen Implikationen des Gefangenendilemmas; er sieht, dass die Kooperation der Akteure im Gefangenendilemma aufgrund der situationalen Anreize nicht zustande kommen kann: Grundsätzlich sind die Akteure eigeninteressiert "oder besitzen nur eine beschränkte Großmut; deshalb kommen sie nicht leicht dazu, eine Handlung zum Vorteil anderer zu tun, es sei denn mit der Aussicht auf einen eigenen Vorteil, den sie nur durch solche Leistung zu erreichen hoffen können. Nun geschieht es häufig, dass die gegenseitigen Leistungen nicht im selben Augenblick vollzogen werden können [...]" (Hume 1739-40/1989, Teil 2, 267).
Derjenige, der in Vorleistung geht, setzt sich der Gefahr der Ausbeutung aus, und daher unterbleibt die Vorleistung (vgl. Hume 1739-40/1989, Teil 2, 267): "Ich strenge mich daher nicht um deinetwillen an; und würde ich um
meinetwillen, d.h, in Erwartung einer Erwiderung bei dir arbeiten, so weiß ich, dass ich enttäuscht werden und vergeblich auf deine Dankbarkeit rechnen würde. Also lasse ich dich bei deiner Arbeit allein. Und du behandelst mich in gleicher Weise." (ebd., 268; Hervorhebungen im Original) Angesichts dieser Logik entwirft Hume eine Begründung für gemeinsame Regeln: Appelle helfen nicht, denn eine "Korrektur der Selbstsucht und Undankbarkeit der Menschen" (vgl. ebd., 268) könnte nur eine "Allmacht" bewirken, die "allein imstande [wäre], den menschlichen Geist umzumodeln und seinen
32
Christoph Lütge
Charakter von Grund aus zu verändern" (ebd.). Das Eigeninteresse sei nicht abzuschaffen, sondern wir müssten lediglich den "natürlichen Affekten eine neue Richtung geben" (ebd., 269) und lernen, "dass wir unsere Bedürfnisse auf indirekte und künstliche Weise besser befriedigen können, als wenn wir ihnen ganz die Zügel schießen lassen" (ebd.). Nur die (eigennützige) Neigung selbst hält die (eigennützige) Neigung im Zaum, "wenn man ihr nämlich eine neue Richtung gibt" (ebd., 236). Das heißt, es muss ein System von Regeln entworfen werden, das - als Ganzes - zum gegenseitigen Vorteil ist (vgl. ebd., 333) und das - als künstliches, nicht natürliches Werk21
-
auf einer "Übereinkunft" beruht. Hume lehnt die Ver-
tragstheorie nicht kategorisch ab 22, unter der Bedingung, dass die Idee eines ursprünglichen Vertrags ausdrücklich als (nützliche) Fiktion angesehen werde (vgl. ebd., 236f.). Dann gebe die wechselseitige Übereinkunft eine verlässliche Basis für Regeln ab.23 Auf dieser Basis könnten Versprechen gehalten werden (vgl. ebd., 262f.), und es kann sich ein staatliches Gebilde entwickeln. Zwei Gedanken der Ordnungsethik sind hier kongenial verkörpert - sogar bisweilen noch pointierter ausgedrückt als im Leviathan: • Erstens kann nur das Eigeninteresse das Eigeninteresse im Zaum halten - und das wird nicht verstanden als Mäßigung. Im Gegenteil wird den Akteuren empfohlen, ihr Eigeninteresse noch besser und raffinierter - man könnte sogar sagen: noch gieriger - zu verfolgen, indem sie sich einer Selbstbindung unterwerfen, d.h. sich Regeln geben. Nichts anderes meint die Formulierung "auf indirekte und künstliche Weise". Man könnte hier - bei etwas freier Auslegung - hineinlesen: Die Anbieter auf einem Markt sollen sich nicht mäßigen, sondern vielmehr ihren Gewinn ,bis zum Anschlag' maximieren, aber im Rahmen des Wettbewerbs als Dilemma, der sie zu diesem Handeln zwingt.
21
Vgl. zu diesem Gegensatz Hume 1739-40/1989,Teil 2, 24lf. sowie 282f.
22
Hume 1748/1988 liest sich zwar über weite Strecken als Ablehnung der Vertragstheorie. tatsächlich wird aber nur eine historisch-realistisch verstandene Vertragstheorie verworfen.
23
Hume entwickelt sein Zustimmungskonzept in Hume 1739-40/1989, Teil 2, 232ff.
Gefangenendilemma bei Aristoteles, Locke und Hume
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• Zweitens wird der ordnungstheoretische Grundgedanke der Regelsteuerung konsequent verfolgt, und zwar methodisch noch deutlicher (als in manchen Passagen Hobbes') als Fiktion. Dass das Regelsystem ausdrücklich ein künstliches und kein natürliches Gebilde ist, unterscheidet Hume insbesondere von Aristoteles' Staatskonzeption, in der - wie wir gesehen haben - der Staat auf einer natürlichen Grundlage basiert. Ein Problem für Hume ist allerdings die Frage, ob er nicht Interessenkonflikte vernachlässigt und zu sehr von einer - anders als Smith verstandenenv - Har-
monie der Einzelinteressen ausgeht. Tatsächlich erkennt Hume dieses Problem selbst: Seine "Enquiry Conceming the Principles of Morals" endet nahezu in einer Aporie, als er die Schwierigkeit sieht, dass manche Menschen wünschen könnten, alle anderen befolgten die moralischen Regeln, sie selbst aber nicht. Diese Schwierigkeit ist das Trittbrettfahrerproblem, das dem Gefangenendilemma weitgehend entspricht. Die einzige Hoffnung auf Lösung des Problems sieht Hume (1751/1972, 133f.) darin, dass diese Menschen irgendwann die Fruchtlosigkeit einer solchen Strategie einsähen. Die Trittbrettfahrer müssten erkennen, dass auf lange Sicht jeder Regelbrecher gefasst und bestraft würde und dass sie sich somit (auf lange Sicht) besser stellen würden, wenn sie auf das Trittbrettfahren verzichteten. Dieser Lösungsversuch trägt jedoch deutlich ad hoc-Charakter und kann letztlich nicht befriedigen.
Hume steht damit am Ende der Untersuchung überdie Prinzipien der Moral vor einem Problem, das seine gesamte Konzeption zu Fall zu bringen droht - und das, obwohl er in seinem früheren Werk, der Treatise, die Grundlagen für eine Lösung des Trittbrettfahrerproblems bereits gelegt hatte. Allerdings hat Hume letztlich den Gedanken der institutionellen Verankerung von Regeln noch nicht hinreichend ausgebaut. Das kann nicht überraschen, denn dazu fehlen ihm die ökonomischen Grundlagen, die erst Smith im Wealth of Nations legen wird - allerdings erst 1776, 25 Jahre nach Veröffentlichung der Enquiry Concer-
ning the Principles of Morals. (Damit emanzipiert sich die Ökonomik dann von 24
Adam Smith (1776/1990, 54, 104ff., 499ff., 587ff., 645ff.) diskutiert gerade Möglichkeiten, diese Harmonie durch Regeln herbeizuführen.
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Christoph Lütge
der Philosophie, kurioserweise über einen Philosophieprofessor, der im Gegensatz zu einer ganzen Reihe von außeruniversitär tätigen britischen Philosophen (Hobbes, Hume, Locke, Berkeley) universitär verankert war.) Soweit meine Ausführungen zu Aristoteles, Locke und Hume. Einige kurze Bemerkungen zu Spinoza und Rousseau mögen das Bild abrunden: Auch sie kennen das Argumentationsmuster des Gefangenendilemmas.
5)
Spinoza und Rousseau
Von Baruch Spinoza liegen zwei Schriften zur Theorie des Gesellschaftsvertrags vor: der "Tractatus theologico-politicus" (Spinoza 1670/1994) sowie der unvollendet gebliebene und postum veröffentlichte"Tractatus politicus" (Spinoza 1677/1988). In beiden wird wie bei Hobbes eine Vertragstheorie auf der Basis aufgebaut, dass die Einzelnen eigeninteressiert handeln, genauer: nur durch Hoffnung auf ein größeres Gut oder die Furcht vor einem größeren Übel werden die Akteure motiviert. Im Naturzustand versuchen sich die eigeninteressierten Akteure so viel wie möglich anzueignen - und tatsächlich hat nach Spinoza hier jeder ein Recht auf alles. Im Gegensatz zu Locke verzichtet Spinoza auf vorstaatliche Rechte. Ganz wie Hobbes folgert er, dass damit effektiv niemand ein Recht auf etwas hat, da sich keiner seines Eigentums sicher sein kann. In diesem Zustand liegt eine Dilemmastruktur vor: Den Akteuren fehlt die Möglichkeit, sich glaubwürdig an eine Regel binden zu können: es fehlt an einer Sanktionsinstanz. Mündliche Versprechen binden nicht hinreichend. Spinoza sieht deutlich, dass hier ein Interaktionsproblem vorliegt (und kein handlungstheoretisches Entscheidungsproblem). Auch nach Überwindung des Naturzustands bleibt die Dilemmastruktur in den Interaktionen der Staaten untereinander bestehen. Diese streben nach möglichst viel Macht, geraten dadurch in eine Dilemmastruktur und suchen dann nach Möglichkeiten, eine glaubhafte Selbstbindung zu erreichen (dies führt Spinoza allerdings nicht mehr aus).
Gefangenendilemma bei Aristoteles, Locke und Hume
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Rousseau J.-J. Rousseau strebt klar die Vereinbarkeit von Recht und Interesse an: Zu Anfang des "Contrat Social" schreibt er: "Bei dieser Untersuchung werde ich mich bemühen, stets das, was das Recht zulässt, mit dem zu vereinen, was das Interesse vorschreibt, damit Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit nicht auseinanderstreben." (Rousseau 1762/1948, 45; im Original: "Je tächerai d'allier toujours dans cette recherche ce que le droit permet avec ce que l'interet prescrit, afin que la justice et l'utilite ne se trouvent point divisees."), Gerechtigkeit ist kein Selbstzweck und ist nicht einfach als Beschränkung von Interessen bzw. Präferenzen zu sehen, sondern Rufe nach Gerechtigkeit müssen sich mit den in der Gesellschaft vorhandenen Interessen zumindest auseinander setzen. Das Gefangenendilemma dient als Illustration: Gerechte Regeln lösen danach Interaktionsprobleme. Man will kooperieren, aber die Anreize verhindern es. Als Illustration wählt Rousseau im .Dlscours sur I'inegalite" allerdings nicht die Argumentation des Gefangenendilemmas, sondern eine verwandte Metapher, die in die Literatur als Hirschjagd-5piel (stag hunt) eingegangen ist. Bei Rousseau heißt es im Original: "Voila comment les hommes purent insensiblement acquerir quelque idee groseiere des engagements mutuels, et de l'avantage de les remplir, mais seulement autant que pouvait l'exiger I'interet present et sensible; car la prevoyance n'etait rien pour eux; et, loin de s' occuper d'un avenir eloigne, ils ne songeaient pas meme au lendemain. S'agissait-il de prendre un cerf, chacun sentait bien qu'il devait pour cela garder fidelement son poste; mais si un Iievre venait a passer a la portee de l'un d'eux, il ne faut pas douter qu'il ne le poursuivit sans scrupule, et qu'ayant atteint sa proie il ne se souciät fort peu de faire manquer la leur a ses compagnons." (Rousseau 1755, seconde partie) Im Hirschjagd-Spiel, so wie es anknüpfend an Rousseaus Bemerkungen in der Spiel theorie beschrieben wird>, geht es darum, dass zwei Jäger einen Hirschen nur gemeinsam erlegen können. Nur, wenn sie kooperieren, haben sie
25
Vgl. etwa Binmore 1994, Kap. 2.3.2.
36
Christoph Lütge
Erfolg, ansonsten gehen beide leer aus und können allenfalls alleine als Hasenjäger tätig werden. Trotz möglicher Gewinne für alle kommt es aber nicht zwangsläufig zur Kooperation. Der Grund liegt darin, dass ein Abkommen zur Kooperation schwierig zu implementieren ist; die (Selbst-) Bindung muss gegenüber dem Kontrahenten glaubhaft werden. Die Auszahlungsmatrix lautet wie folgt: y
Kooperation
Defektion
Kooperation
A,A
D,B
Defektion
B,D
c,c
x
(A > B > C > D)
Im Vergleich zum PD fehlt die Rationalitätsfalle, also die Situation, in der sich der Defektierer auf Kosten des anderen deutlich besser stellt als bei Kooperation. Dadurch wird die Besserstellung durch Kooperation eindeutiger, weil die Ausbeutungsmöglichkeit wegfällt. Dennoch muss erst ein Abkommen implementiert werden, um die Kooperation zu sichern. Wenn die Akteure sich gegenseitig vertrauen, kann dies eine solide Basis sein - aber das Vertrauen kann nicht einfach postuliert werden. Es muss Gründe dafür geben, den Partner für vertrauenswürdig zu halten - und letztlich auch Sanktionsmöglichkeiten. (Dies wird im Detail ausführlich von Seiten der Spieltheorie und Ökonomik bearbeitet.")
26
Vgl. exemplarisch wiederum Binmore 1994, 123f.
Gefangenendilemma bei Aristoteles, Locke und Hume
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Fazit Das Argumentationsmuster des Gefangenendilemmas ist bei Aristoteles, Locke, Hume, Spinoza und Rousseau zu erkennen. Alle kennen auch die negativen Auswirkungen des Dilemmas und schlagen Regeln vor, um aus dem Dilemma zu entkommen. Der Gedanke, dass das Dilemma jedoch auch positiven Folgen haben könnte, wird noch nicht voll erkannt, allenfalls einige rudimentäre Grundzüge bei Locke und Hume. Hobbes selbst hat die positive Wirkungen des PD schließlich noch am ehesten gesehen, wenn er sich über die Nachteile der Einrichtung eines Monopols äußert, "welches zwar ihnen selbst [den Kaufleuten, C'L] großen Vorteil, den übrigen Bürgern aber manchen Nachteil bringt. [... ] TImenbringt dies Gewinn, den übrigen Bürgern aber Schaden."27 Monopole schaden, Wettbewerb nutzt. Und in einem ganz anderen, eher alltagspraktischen Zusammenhang fand bereits Schopenhauer, von dem man es eher nicht erwarten würde, dass eine PDSituation durchaus nicht nur negative Seiten hat: Als die Bank, bei der seine Familie Geld angelegt hatte, 1819 in Konkurs ging, gelang es ihm, durch geschicktes Verhandeln Verluste völlig zu vermeiden - und reagierte auf das Argument "wenn alle so dächten" (Rationalfalle!) so: "Wenn alle Menschen dächten wie ich, so würde überhaupt mehr gedacht, und es gäbe weder Bankrotte noch Kriege noch Faro-Tische [GlÜcksspieltische]."28 Wer defektiert, denkt überhaupt - diesem Lob ist nichts mehr hinzuzufügen.
Literatur Aristoteles (1994): Nikomachische Ethik, Stuttgart: Rec1am. Aristoteles (2003): Politik, 9. Aufl., München: dtv.
zr Hobbes 1651/1995,205f. 28
Das Zitat verdanke ich H. Postma, "Das Leben ist eine missliche Sache", Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 21.09.2010, S. 6.
Christoph Lütge
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Binmore, Ken (1994): Game Theory and the Social Contract: VoL 1: Playing Fair, Cambridge, Mass., London: MIT Press. (1998): Game Theory and the Social Contract: Vol. 2: [ust Playing, Cambridge, Mass., London: MIT Press. Hardin, Garrett (1968): The Tragedy of the Commons. The population problem has no technical solution; it requires a fundamental extension in morality, in: Science 162, S. 1243-1248. Hobbes, Thomas (1651/1995): Leviathan, übersetzt von [acob Peter Mayer, Stuttgart: Reclam. Homann, Karl / Kirchner, Christian (1995): Ordnungsethik, in: Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie 14, S. 189-211. Homann, Karl / Lütge, Christoph (2005): Einführung in die Wirtschaftsethik, 2. Aufl., Münster: LIT. Homann, Karl / Suchanek, Andreas (2000): Ökonomik: eine Einführung, Tübingen: Mohr Siebeck. Hume, David (1739-40/1989): Ein Traktat über die menschliche Natur, übers. von Theodor Lipps, mit neuer Einf. hrsg. von Reinhard Brandt, Hamburg: Meiner 1989. (1748/1988): Über den ursprünglichen Vertrag, in: Politische und ökonomische Essays, übers. von Susanne Fischer, hrsg. von Udo Bermbach, Hamburg: Meiner, 301--324. (1751/1972): Eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral, übers. von Carl Winckler, Hamburg: Meiner. Kersting, Wolfgang (1994): Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Locke, [ohn (1689/1977): Zwei Abhandlungen über die Regierung, hrsg. W. Euchner, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Lütge, Christoph (2004a): Abschied von einer Ethik der Mäßigung: Moral, Eigeninteresse und Globalisierung, in: Norbert Copray (Hrsg.), EthikJahrbuch 2004, Frankfurt/M.: Fairness-Stiftung 2004, S. 133-139.
Gefangenendilemma bei Aristoteles, Locke und Hume
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Über den Autor:
Prof. Dr. Christoph Lütge •
Geboren in Helmstedt/Niedersachsen
•
Abitur am Gymnasium Anna-Sophianeum in Schöningen
•
Studium der Philosophie und Wirtschaftsinformatik in Braunschweig, Göttingen und Paris
•
Diplom Wirtschaftsinformatik, Magister Philosophie
•
Promotion zum Dr. phil.
•
Visiting Professor an der Venice International University
•
Habilitation im Fach Philosophie an der LMU München
•
Vertretung des Reinhard-Mohn-Stiftungslehrstuhls für Untemehmensführung, Wirtschaftsethik und gesellschaftlichen Wandel an der Universität Witten/Herdecke
•
Vertretung des Lehrstuhls für Philosophie an der Technischen Universität Braunschweig und Geschäftsführender Leiter des Seminars für Philosophie
•
Ab 8/2010 Inhaber des Peter Löscher-Stiftungslehrstuhls für Wirtschaftsethik an der Technischen Universität München
Betrachtungen zur Ethik und der Wirtschaft Peter N. Posch
Nähert man sich dem Thema der Ethik in den Wirtschaftswissenschaften ist es angebracht sich mit beiden Themenkomplexen zuerst einzeln zu beschäftigen. Einerseits ist hier also die "Ethik" Untersuchungsgegenstand und damit die Büchse der Pandora offen. Denn unter zweitausend Jahren Geistesgeschichte ist dieser Begriff kaum fassbar, hunderte Werke der Primärliteratur und abertausende Sekundäre warten in den Bibliotheken, die Klassiker empfehlen sich - selbstverständlich - im Original. Doch wird hier das Interesse an der Ethik in dem Wirtschaftsleben nicht ertränkt, vielmehr der Hintergrund erleuchtet auf welchem sich jegliche spezifischere Überlegungen abzeichnen. Entleeren wir also die Büsche gänzlich und schöpfen Hoffnung aus drei Pfeilern im Meer des Abendlandes: Aristoteles, Kant und die "best practice",1 Aristoteles nun stellt in seiner nikomachischen Ethik- die Zielbestimmung an den Anfang:" Jede [d.i. Alle] Kunst und jede Lehre, jede Handlung und jeder Entschluss, scheint ein Gut zu erstreben, weshalb man das Gute treffend als dasjenige bezeichnet hat, wonach alles strebt." (1094a). Und neben der Vielseitigkeit seiner folgenden Aussagen bleibt es doch die erste und vorrangige Frage: Was ist das Ziel all unseres Handelns?
1
Der Autor ist sich bewusst, dass die Vorsokratiker und Sokrates/platon unerwähnt zu lassen bei m kundigen Leser Unmut erregt, allerdings sei hier der Kürze des Textes der Vorrang vor der Genauigkeit geschuldet.
2
Zitiert im Folgenden nach der Übersetzung von E. Rolfes, herausgegeben von G. Bien bei Meiner, Hamburg.
T. Nguyen, M ensch und Markt, DOI 10.1007/978-3-8349-6728-2_3, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
Peter N. Posch
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Es geht Aristoteles hier also nicht um ein Wissen, eine erlernbare Kenntnis von Dingen, sondern die Frage nach dem Handeln, der Praxis guten Lebens: "Darum ist ein Jüngling kein geeigneter Hörer[... ] Ihm fehlt die Erfahrung im praktischen Leben[ ... ]"(1095a). Damit sind bereits in kürzester Zeit zwei entscheidende Charakteristika der Ethik umrissen: Es geht um das "doing", die tägliche Handlung, die guten Sitten, eben die Moral im Sinne des Wortursprungs. Und die Gründe dieses Handelens sind in dem Ziel verortet welchem das gute Leben folgt. Da dieses Ziel somit Ursprung der vielen einzelnen Handlungen darstellt steht sofort die Frage im Raum was denn ein Lebensziel sein soll? Ratgeber zu dem Thema türmen sich in den Eingängen jeder Buchhandlung, Anleitungen zum Glücklichsein, zur Vereinfachung des Alltags und zur Entschlackung der Komplexität gieren um die Käuferschaft. Glücklich kann sich hier schon fühlen, wer es heil wieder herausgeschafft hat. Was schlägt also Aristoteles vor? Was sollte seiner Meinung nach das höchste Gut sein, welches zu guten Handeln, zur Ethik Anlass gibt? Die "Glückseligkeit", so lautet die holprige Übersetzung für die griechische Eudamonia Und hier erfüllt sich der Rat der Philosophen, Klassiker im Original zu genießen. Den mitnichten sollte man nun doch nach den Ratgebern greifen, denn die Eudamonia bezeichnet anderes als wir heute mit "Glück" oder "Glückseligkeit" assoziieren. Vielmehr bezeichnet Eudomonia eine Art Endzustand, ein Freisein von Zwecken, weiteren Zielen, ein Ziel-an-sich. Denn viele Handlungen werden nur willens weiterer Handlungen ausgeführt, die Eudamonia jedoch aufgrund ihrer selbst allein. Und hier wird ein weiteres deutlich: Glückseligkeit erreicht man bei Aristoteles nicht durch Meditation oder durch Wissen, weder durch Initiation noch durch Geburt, nein allein durch Handeln und genauer durch gutes, ethisches, Handeln. Damit nicht genug, denn dieses soll "ein volles Leben hindurch dauern; denn wie eine Schwalbe und ein Tag noch keinen Sommer macht, so macht auch ein Tag oder eine kurze Zeit noch niemanden glücklich und selig." (1097b)3
3
Es sei an dieser Stelle nochmals angemahnt unser heutiges Verständnis von "glücklich" nicht mit der Übersetzung des aristotelischen Glücksbegriffs gleichzusetzen!
Betrachtungen zur Ethik und der Wirtschaft
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Hier wird also eine recht hohe Latte an ethisches Handeln gelegt und es schließt sich gleich die Frage an wie denn eine derartige Lebensweise aussehen könnte? Hier nun unterscheidet Aristoteles zwischen drei Lebensarten in aufsteigendem Gehalt an ethischer Fülle: die hedonistische, auf reinen Lusterwerb ausgelegt Lebensweise macht den Anfang. Diese kann kaum eine Zielan-sich darstellen. Ist doch die Lust kurz und lang ist das Leben. Besser ist hier die zweite, die politische Lebensweise, in der man sein Handeln nach dem Wohle der Gemeinschaft, der Polis, ausrichtet. Hierbei überprüft man seine Handlungen nach der Wirkung auf die Umgebung. Man bezieht andere in sein Handlungskalkül mit ein und sind damit nahe Kants Imperativ: Handle stets so, dass Deine Handlung als Anleitung gelten kann. Man ist mit seiner in der Gemeinschaft eingebetteten Handlung stets auch Vorbild, stets auch prägend für seine Umwelt. Allerdings klingt hier noch ein anderer Aspekt heraus, nämlich die Frage nach der Verhältnismäßigkeit. Denn kaum sind Handlungen derart, dass sie für alle, für den Handelnden und seine Gemeinschaft, vorteilhaft sind. Diese"winwin" Situationen finden sich nur in den Lehrbüchern der Ökonomie, im Leben
leidet der ein oder andere Teil immer mehr oder minder. Die Frage der Abwägung scheint kaum apriori beantwortbar, weshalb mehrere "Optimalitätskriterien" die Runde machen. Das demokratische Prinzip schlägt vor die Bedürfnisse der Mehrheit in den Vordergrund zu stellen: "the need of the many outway the needs of the few
,,4.
Doch schon bei der Betrachtung langfristiger Infrastrukturprojekte, beispielsweise und aus aktuellem Anlass, mag man dieses Prinzip in Frage stellen. Es könnte ja durchaus Situationen geben bei denen anfangs Viele wenig Nutzen aus einer Maßnahme zögen und nur Wenige viel Nutzen. Wenn im Laufe der Zeit jedoch Viele daraus mehr Nutzen ziehen könnten, wäre die Maßnahme dann am Beginn abzulehnen? • Während der Gedanke sowohl bei Aristoteles als auch später über den Hohepriester Caiaphas - durch [ohannes 11:49-50wiedergeben- auftritt und auch bei etlichen Urvölkern zu existieren scheint, stammt diese populäre Formulierung aus dem Kinofilm Star Trek und bietet ein anschauliches Beispiel für die Diffusion philosophischen Gedankengutes in die breite Gesellschaft.
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Peter N. Posch
Während moderne Effizienzkriterien selten die zeitliche Komponente einbeziehen, so weichen sie doch von der harten Demokratie ein wenig ab. In den Wirtschaftswissenschaften hat damit das Prinzip der "Pareto Effizienz" den höchsten Bekanntheitsgrad erreicht. Hiernach ist eine Maßnahme begrüßenswert wenn mindestens eine Person durch die Maßnahme besser gestellt und niemand schlechter gestellt wird als ohne die Durchführung. Was hier Generationen von Studenten als Olymp der Effizienzkriterien präsentiert wird ist vieles, nur eines nicht: lebensnah. Denn selbst jemand der freiwillig und unentgeltlich sich der Gesellschaft zur Verfügung stellt handelt nicht streng pareto optimal, sofern externe Kosten, wie beispielsweise die zugenommene Luftverschmutzung durch Nutzung des Autos etc., hinzukommen. Auch wenn dies kleinlich klingen mag, lassen sich derartige Beispiele viele finden. Einen Ausweg hieraus sucht das "Kaldor-Hicks" Kriterium. Die beiden Ökonomen Nicholas Kaldor und [ohn Hicks schlagen vor, dass die Profiteure einer Maßnahme die Leidtragenden kompensieren können MÜßTEN. Sie brauchen es nicht zu tun, es geht nur darum, dass diejenigen, denen es besser, geht diejenigen, denen es schlechter geht, überwiegen. Hierbei offenbaren sich wiederum Probleme anderer Art. Wie misst man "besser" und "schlechter" und wie fasst man dies dann zusammen? Wie wäre eine Situation zu beurteilen bei denen ein Bauunternehmer Milliarden verdient und Tausende wenige Euro verlieren? Hier kommt [ohn Rawls ins Spiel. Ursprünglich zum Ausgleich sozialer und ökonomischer Ungleichheiten formuliert kann sein Prinzip aus der "Theory of [ustice" ebenso als Effizienzkriterium gelten. Maßnahmen müssen den größten Nutzen für die am meisten benachteiligten Mitglieder einer Gesellschaft bieten. Die Idee hierbei ist, dass wenn man auf die am wenigsten Begünstigten achtet, man gesellschaftlich den größten Nutzen für alle hieraus zieht. Jedoch braucht man dieses Kriterium nicht global zu lesen, sondern für die Abwägung einer konkreten Maßnahme und denen daran beteiligten Gewinnern und Verlierern. Doch kommen wir zurück zu Aristoteles, es steht ja noch eine Lebensform aus, die dritte und höchste Form, nämlich die Kontemplation. Das rein auf die Wissensmehrung, das Verständnis der Welt gerichtete, Dasein stellt diese drit-
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te Lebensform dar. Sie hat nur Zweck-in-sich, dient keinem anderen Sinn als dem Eigensinn. Schlägt der antike Philosoph also vor uns eremitisch mit Mathematikbüchern in Zengärten zurückzuziehen? Anfangs schon, doch dann verlangt er die Rückkehr in die Lebenswelt: Nach der Kontemplation muss das Gemeinwohl kommen, man sollte also die Philosophen zwingen Politik zu machen, denn dem rein Politischen droht offenbar Machtlust, Intrigen und ÜbersichtsverIust,"
Was kann man also aus diesen Anfängen der Beschäftigung mit der Ethik entnehmen? Zum einen überrascht sicherlich die Aktualität, das Wiederfinden der eigenen Erfahrungswelt in der Beschreibung des antiken Philosophen. Insbesondere den Aspekt der Handlung sollte man bedenken. Ethik zeigt sich in der Handlung, nicht in der Theorie. Und damit sind wir beim modemen Manager angelangt. Diesem obliegt die Richtungsvorgabe und die Handlung. Dieser entscheidet über die Nutzung von Ressourcen, über den Gang der Unternehmung. Und dieser hat die Möglichkeit entweder ethisch oder unethisch zu handeln. Doch legen wir diesem Handlungsbevollmächtigten nicht zuviel Gewicht auf seine Schultern? Sind Handelnde en gros eigentlich fähig zu ethischem Handeln? Denn wenngleich klarer sein mag was darunter zu verstehen sei, so sind die Voraussetzungen noch dunkel. Zum einen ist ja die Kenntnis der Folgen einer Handlung Voraussetzung für die Abwägung, egal nach welchem Effizienzkriterium diese erfolgt. In der modemen arbeitsteiligen Welt regiert jedoch der Spezialist, der sehr hoch ausgebildet für seinen Bereich, sein Detailwissen verantwortlich zeichnet. Können wir von diesem erwarten das große Ganze zu überblicken und seine Handlung mitsamt der Konsequenzen hierin einzuordnen?
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Aristoteles erwähnt noch eine vierte Lebensweise, die des Kaufmanns und sagt darüber: "Das auf Gelderwerb gerichtete Leben hat etwas Unnatürliches und Gezwungenes an sich" (1096a 7-10). Diesem Gewinnstreben ist sogar der Hedonismus vorzuziehen. Wenngleich diese Anmerkung nach Kommentierung schreit, so sei dem Leser angemerkt, dass dies kaum der Platz ist dies zu tun.
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Peter N. Posch
Wollte man dies verlangen, so müsste man erwarten dürfen, dass die Person hierin eine Kompetenz haben kann. Es müsste Platz reserviert werden neben der Vermittlung von Fachwissen und Methoden für die Einübung der Ethik. Denn wir haben ja gesehen, dass richtiges Handeln und nicht Wissen um richtiges Handeln, die Ethik ausmacht. Doch Übung braucht Zeit und im Dickicht der Lehrpläne ist hierfür wenig vorhanden. Praktika müssen absolviert, Auslandssemester geplant und Klausuren geschrieben werden. Folglich spielt die Beschäftigung mit der Ethik in der überwiegenden Zahl der Vitae kaum eine Rolle. Man ist nun verleitet es dem Mangel an Zeit zuzuschreiben; doch wenn Zeit der knappe Faktor ist, dann sollte man seine Beschäftigungen nach der Wichtigkeit wählen. Ist denn dem Eigner einer Unternehmung, den Aktionären, wichtig ob ihre Angestellten, ihre Manager ethisch handeln? Oder verliert sich dieser "soft factor" in der Aggregation auf die erwartete Rendite ihrer Investition? Man mag dies glauben, sind doch gerade die Aktionäre handlungsfähig. Sie wählen aus welcher Unternehmung sie ihren Produktionsfaktor Kapital zur Verfügung stellen, sie bestimmen wer dem Aufsichtsrat angehört und damit wer von diesem berufen wird die Unternehmung zu leiten. Eng mit der Frage nach dem ethischen Unternehmertum verknüpft ist das Stichwort der Nachhaltigkeit. Der Grundgedanke ist hierbei, dass ethische Handlungen sowohl ökonomisch, ökologisch als auch sozio-kulturell werterhaltend oder gar mehrend zugleich sind. Nachhaltige Investitionen erfreuen sich, nicht zuletzt seit der Finanzkrise 2007-09, zunehmender Beliebtheit. Das Thema ist in einer alternden Volkswirtschaft modern geworden und der Grundsatz der Ethik scheint an Gewicht zu gewinnen. Jedoch ist Vorsicht angemahnt, zu schnell ändert sich die Mode, und nachhaltige Verhaltensänderungen bedürfen einer geänderten inneren Einstellung. So unterscheidet Kant in seiner Kritik der praktischen Vernunft nach legitimen und moralischem Handlungen. Hiernach ist eine legitime Handlung eine rechtlich zulässige und angebrachte Handlung. Moralisch wird sie jedoch erst durch die innere Einstellung zur Handlung. Spring man beispielsweise rettend einem Ertrinkenden in die Fluten zur Hilfe so ist zu unterscheiden warum man
Betrachtungen zur Ethik und der Wirtschaft
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rettet. Rettet man beispielsweise eine junge Dame von anmutiger Schönheit weil man sich hiervon ihre Gunst erhofft, so ist dies legitim, nicht aber moralisch. Abschließend zu diesem kleinen Umriss der Ethik in der Wirtschaft lässt sich festhalten, dass dieses Thema ebenso wichtig wie vielschichtig ist. Betrachtet man die Akteure der Wirtschaft aus verschiedenen Perspektiven, so stellt man fest, dass einerseits der Einübung ethischer Handlungsweisen wenig Raum zugemessen wird, andererseits die Formulierung gültiger und allgemeingültiger Handlungsmaxime schwierig und in Konkurrenz mit anderen, handfesten Interessen stehen. Es reicht also nicht die nikomachische Ethik zu lesen, es langt nicht aus in den Lehrplänen Raum der Moralphilosophie zu gewähren. Eine Änderung der inneren Einstellung ist von Nöten, sofern man ethisches Handeln etablieren und Nachhaltigkeit zu einem Allgemeingut erheben möchte. Der zu erwartende Profit ist nicht monetär, es ist sogar mit einem geldwerten Verlust zu rechnen. Der Gewinn jedoch liegt in der lebenswerten Gestaltung der Umwelt und letztlich der Eudamonia als Ziel-an-sich, denn Der Ziellose erleidet sein Schicksal- der Zielbewusste gestaltet es.", so Kant.
Über den Autor:
Dr. Peter N. Posch ist Junior-Professor für Finanzwirtschaft an der Universität UIrn und Lehrbeauftragter für Volkswirtschaftslehre an der Munich Business School Vor dieser Tätigkeit war er bei einer großen Bank für das Management von Kreditrisiken und den Handel mit Kreditderivaten verantwortlich.
Er hat in Finanzwirtschaft über die Dynamik von Kreditrisiken promoviert und hat während seiner Promotionszeit für den hier gewürdigten Prof. Arnold Übungen am Studienplatz München der Fernuniversität Hagen abgehalten. Sein Studium der Volkswirtschaftslehre, Philosophie und Jura hat er an der Universität Bonn absolviert.
Markt und Moral Andreas Suchanek
I. "Der Wirtschaftsethik kommt im Rahmen der vielfältig ausdifferenzierten Wirtschaftswissenschaften bestenfalls ein Mauerblümchen-Dasein zu." (Arnold 2009, 253) Dies schreibt Volker Arnold, der als ehemaliger Vorsitzender des Ausschusses "Wirtschaftswissenschaft und Ethik" im Verein für Socialpolitik weiß, wovon er spricht. Der von Arnold beschriebene Sachverhalt ist nicht nur zutreffend, sondern bei genauerer Betrachtung gleichermaßen verständlich wie bedauerlich.
Verständlich ist es, weil es sich der Sache nach bei Wirtschaftsethik nicht um eine hoch spezialisierte Einzelwissenschaft handeln kann, die sich auf einige wenige Aspekte ihres Forschungsgegenstandes fokussieren und alles andere ausblenden kann; vielmehr liegt es in ihrer Problemstellung begründet, dass sie die normativen Annahmen und Argumente in einen systematischen Zusammenhang mit hochkomplexen empirischen Verhältnissen bringen muss, die die Lebenswirklichkeit der Akteure betreffen. Dementsprechend sind Probleme und Themen der Wirtschaftsethik so geartet, dass es um eine Art des Erkenntnisgewinns geht, die an sich, soweit das möglich ist, durch die konzeptionelle Integration verschiedener Aspekte: technische, rechtliche, ökonomische, psychologische, philosophische usw., charakterisiert ist. Doch ist es nicht nur äußerst schwierig, entsprechende Theorien zu entwickeln; mindestens ebenso herausfordernd ist es, von der scientific community anerkannte Standards auszubilden, die den üblichen wissenschaftlichen Kriterien genügen.
Bedauerlich ist es, weil in einer derart komplexen Gesellschaft wie der heutigen es immer wichtiger wird, Orientierungen zu bieten, die mithelfen können, T. Nguyen, M ensch und Markt, DOI 10.1007/978-3-8349-6728-2_4, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Andreas Suchanek
normative Ideale wie Gerechtigkeit, Freiheit oder Nachhaltigkeit sachgerecht, also unter angemessener Berücksichtigung der empirischen Verhältnisse und Bedingungen, zur Geltung zu bringen. Doch gerade am Beispiel moralischer Einschätzungen des Marktes zeigt sich, wie anspruchsvoll es ist, Urteile darüber zu bilden, was gut oder nicht gut, gerecht oder ungerecht, verantwortlich oder unverantwortlich usw. ist.' Die folgenden Ausführungen befassen sich mit dem damit angesprochenen Problem wirtschaftsethischer Urteilsbildung in folgenden Schritten: Zunächst wird kurz das methodische Problem skizziert, das als Integration normativer und empirischer Aussagen charakterisiert werden kann. Diese Integration ist auch erforderlich, wenn es um eine moralische Beurteilung des Marktes bzw. um die Frage geht, ob und wann Markt und Moral miteinander vereinbar sind. Im Anschluss daran wird die These aufgestellt, dass diese Vereinbarkeit von Markt und Moral drei Voraussetzungen hat, die alle mit der Herausforderung vernünftiger wirtschaftsethischer Urteilsbildung verbunden sind: (1) verantwortlicher Gebrauch der Freiheit durch die Marktteilnehmer, (2) eine "gute" Rahmenordnung und (3) ein hinreichendes Verständnis als Grundlage der Legitimation der Marktordnung. Im weiteren Verlauf der Argumentation wird vor allem auf den ersten Punkt, mit dem Fokus nach einem angemessenen Verständnis des derzeit viel diskutierten Konzepts "Corporate (Social) Responsibility", also der Verantwortung von Unternehmen, genauer eingegangen. Einige kurze Schlussbemerkungen beschließen die Argumentation.
11. Es ist eine oft dramatisch unterschätzte Herausforderung, unser Verständnis von moralischen Konzepten - Gerechtigkeit, Solidarität, Verantwortung, Nachhaltigkeit usw. - in einen systematischen und damit rational diskutierbaren Zusammenhang mit Aussagen (Annahmen, Erkenntnissen) über empirische Verhältnisse zu bringen. Was im überschaubaren Feld der kleinen Grup-
pe, z.B. der Familie, relativ gut gelingt, wird zum Problem in komplexen Situa-
1
S. dazu etwa Enste et al. (2009); Beckmann (2010), Abschnitt 3.1.1.
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Markt und Moral
tionen, in denen eine enorme Vielzahl von Faktoren es schwer macht, angemessene Urteile über richtig oder falsch bzw. gut oder schlecht zu fällen. Vernünftige moralische Urteile zeichnen sich dadurch aus, dass sie konsensfähige moralische Ideale zu Grunde legen und die je relevanten empirischen Bedingungen angemessen berücksichtigen-, schematisch dargestellt:
(1) moralische Ideale, Werte (2) empirische Bedingungen (3) normative Urteile
Der Zusammenhang von (1) und (2), von normativen und empirischen Annahmen, ist indes gerade bei komplexeren Situationen - wie etwa der Beurteilung von Märkten - oft intransparent und man kann nicht selten eine von zwei Verkürzungen feststellen, die beide ihre je eigenen Probleme haben: So ist zum einen immer wieder beobachtbar, dass normative Urteile geprägt sind von hohen moralischen Erwartungen - z.B. an die Verantwortlichkeit einzelner Akteure in der Wirtschaft -, ohne dass diese Erwartungen abgeglichen wären mit den empirischen Handlungsbedingungen der Akteure; nicht selten mit der Folge, dass diesen Erwartungen überhaupt nicht entsprochen werden kann. Man kann hier von "normativistischen Fehlschlüssen" sprechen. Dies wird allerdings auch mitgeprägt von der zweiten angesprochenen Verkürzung, dem Umstand, dass jene, die unter den konkreten Handlungsbedingungen zu agieren haben, also typischerweise Entscheidungsträger aus Unternehmen, ihre Entscheidungen ihrerseits in der Regel nicht mit Bezug auf moralische Ideale und Werte begründen, sondern auf "Sachzwänge", betriebswirtschaftliche Rationalitäten usw., also auf empirische Bedingungen verweisen, die als solche indes noch keine normativen Gehalt tragen. Auch wenn sie selbst ihre Entscheidung als moralisch gerechtfertigt ansehen mögen:
2
Vgl. hierzu und zum Folgenden Suchanek 2007, Kap. 1.3
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Andreas Suchanek
Indem sie sie nicht explizit mit Bezug auf normative Prämissen, Werte, Normen usw. darlegen, fördern sie, ohne es zu wollen, den Graben zwischen moralischen Erwartungen und empirischen Verhältnissen. Denn normative Urteilsbildung ist darauf angewiesen, immer wieder Informationen über die empirischen Verhältnisse zu erhalten, in Bezug auf die moralische Urteile gefällt werden. Umso bedauerlicher ist es, wie bereits angemerkt, dass auch und gerade die (Wirtschafts-) Wissenschaft kaum dazu beiträgt, zu einer vernünftigen normativen Urteilsbildung beizutragen; vielmehr trägt sie in gewissem Sinne sogar teilweise zu einer Vertiefung des Grabens bei, indem sie dezidiert "Werturteilsfreiheit" anstrebt und sich systematischer Aussagen zu normativen Urteilen enthält - bzw. den skizzierten Zusammenhang nicht methodisch reflektiert. Nun hat das Streben nach "Werturteilsfreiheit" zweifellos seine Berechtigung. Doch gerade Max Weber, dessen Schriften hierzu erheblichen Einfluss hatten,3 betonte die Notwendigkeit, den Zusammenhang von Werten und empirischen Verhältnissen sachlich zu untersuchen; ihm ging es nur darum, dass Wissenschaft keine normativen Aussagen (Urteile, Forderungen usw.) mit dem Anspruch zwingender Verbindlichkeit machen solle. Was ihm jedoch gerade am Herzen lag, waren fundierte Aussagen über die "Kulturbedeutung" sozialer Systeme wie Märkten', also das Verständnis ihres sozialen Sinns, der darin besteht, dass die sozialen Systeme einen Beitrag zu einer gelingenden sozialen Ordnung leisten und insofern - mit Hegel gesprochen - "sittlichen" Charakter haben (HegeI1993). Dieser Frage soll auch im Folgenden weiter nachgegangen werden im Hinblick auf die Frage, unter welchen Bedingungen Markt und Moral miteinander vereinbar sind. Genauer sollen drei Voraussetzungen genereller Art diskutiert werden, die erfüllt sein sollten, damit Markt und Moral vereinbar sind. Diese drei Voraussetzungen leiten sich ab aus der Unterscheidung von drei Ebenen, auf denen Moral in der Gesellschaft zur Geltung kommt: (1) in den Handlun3
S. vor allem Weber 1988.
4
S. etwa ebd., S. 170
Markt und Moral
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gen selbst (etwa durch respektvolles, faires, verantwortliches, nachhaltigkeitsorientiertes usw. Handeln), (2) in Institutionen, Regeln, Standards usw., die moralisches Verhalten anleiten oder unterstützen (z.B. den zehn Geboten, dem kategorischen Imperativ, aber auch konkreten sozialen Ge- und Verboten einschließlich rechtlicher Vorschriften, sofern diese Geltung besitzen und als legitim angesehen werden), sowie (3) im Verständnis von Moral, wie es in Form von moralischen Intuitionen, Argumenten, Urteilen usw. zum Ausdruck kommt. Dieses Verständnis seinerseits bezieht sich in aller Regel wiederum auf Regeln, auf Handlungen, aber auch auf Handlungsfolgen sowie handelnde Akteure und deren Eigenschaften. Als solches bestimmt es das Urteil über die Legitimation von Systemen - hier vor allem von Märkten bzw. der Marktwirtschaft. Das folgende Schema, verbunden mit der metaphorischen Begrifflichkeit des Spiels, illustriert die drei angesprochenen Ebenen und ihre Zusammenhänge:
Spielverständnis
•••••••• •••••••• ••••••••
(Shared?) Mental Models Normative Erwartungen, Überzeugungen und Werte ' - - - - - - - - - - - - - '
•••••••••••
Spielregeln Gesetze Normen Standards
Anreize Handlungen Entscheidungen
Wie im Sport oder bei Spielen geben die Spielregeln für die Spielzüge einen Rahmen vor - in gewissem Sinne ermöglichen sie überhaupt erst ein "geregeltes" Spiel -, und Änderungen der Spielregeln führen zu anderen Spielverläufen oder gar Arten von Spielen. Beides wird jedoch immer auch beeinflusst von dem Spielverständnis aller Beteiligten, zu denen nicht nur die Spieler ge-
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Andreas Suchanek
hören, sondern auch jene, die Spielregeln gestalten oder durchsetzen, sowie jene, die in sonstiger Weise Einfluss auf das Spiel haben ("Zuschauer", Wähler, Bürger etc.). Dabei beeinflussen sich alle drei Ebenen ständig wechselseitig; so führen etwa Innovationen bei Spielzügen, man denke nur an die veränderten Informations- und Kommunikationsbedingungen, zur Notwendigkeit neuer Spielregeln und können auch das Spielverständnis verändern. Die drei Ebenen sind mithin interdependent. Diese wechselseitige Beeinflussung zeigt sich auch, wenn man das Schema auf Moral überträgt: So sind beispielsweise Handlungen immer auch maßgeblich geprägt von den moralischen Vorstellungen - sowohl den eigenen als auch jenen, die man anderen unterstellt -, aber auch von den bestehenden Regeln, die moralisches Handeln begünstigen oder erschweren. Mit Bezug auf die hier entwickelte Problemstellung des Verhältnisses von Moral und Markt lässt sich diese Unterscheidung der drei Ebenen nutzen, um präziser der Frage nachzugehen, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit Moral und Markt miteinander vereinbar sind. Als These formuliert:
Dauerhaft funktionsfähige Märkte benötigen (1) verantwortliches Verhalten der Marktteilnehmer, (2) gute Spielregeln sowie (3) die grundsätzliche Akzeptanz der Marktwirtschaft alssolcher. Im Folgenden wird zunächst kurz auf den Punkt (2), der in der wirtschafts-
ethischen Diskussion mittlerweile als selbstverständlich angesehen werden kann. Ausführlich wird dann die Frage erörtert, wie die derzeit intensiv diskutierte Verantwortung von Unternehmen ("Corporate (Sodal) Responsibility", C(S)R) in diesem Zusammenhang zu sehen ist. Abschließend wird noch knapp auf den Punkt (3) eingegangen.
IH. Es ist eigentlich ein Gemeinplatz seit Adam Smith (2005)und wird auch in der Wirtschaftsethik - u.a. von Volker Arnold (2009) - mit Recht betont, dass es eine Überforderung der Marktteilnehmer wäre, gesellschaftlich erwünschte Ergebnisse von Märkten allein von ihrem Wohlverhalten abhängig zu machen.
Markt und Moral
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Verantwortliches Verhalten kann vom einzelnen Akteur, auch und gerade von korporativen Akteuren, also Unternehmen, dann nicht erwartet werden, wenn es systematisch zu Nachteilen führt; dies gilt insbesondere unter Wettbewerbsbedingungen. Insofern ist es kein Zufall, wenn immer wieder die Bedeutung geeigneter "Spielregeln" - Eigentumsrechte, Vertrags-, Wettbewerbs-, Haftungsrecht und andere institutionelle Regulierungen - hervorgehoben wird, die für die Funktionsfähigkeit von Märkten unverzichtbar sind; Kar! Homann (1990) spricht folgerichtig von der Rahmenordnung als einem "systematischen Ort der Moral".5
Diese Betonung der "Spielregeln" ist aber nicht, wie gelegentlich unterstellt wird, gleichbedeutend mit einer völligen moralischen Entlastung des Individuums, d.h. der Marktteilnehmer. Wie Autoren wie F. A. v. Hayek- und andere immer wieder betont haben, ist der Markt ja nicht zuletzt deshalb vorzugswürdig, weil er dem Einzelnen Freiheit lässt und einen Rahmen anbietet, in dem diese Freiheit zum gegenseitigen Vorteil genutzt werden kann durch Arbeitsteilung, Tausch und andere Formen der "Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil"," Gerade weil aber nun der Markt ein freiheitliches Koordinationssystem wirtschaftlicher Handlungen darstellt, resultiert daraus die Bedingung, dass die Marktteilnehmer ihre Freiheit verantwortlich gebrauchen. Damit ist gemeint, dass nicht jede sich bietende Gelegenheit genutzt wird, diese Freiheit zu Lasten Dritter zu nutzen. Kein Regelsystem der Welt wäre in der Lage, die erforderlichen Rahmenbedingungen bereitzustellen, vollständige Anreizkompatibilität in jeder erdenklichen (Markt-)Situation zu gewährleisten, nicht zuletzt deshalb, weil die Etablierung und Durchsetzung eines Regelsystems selbst mit Kosten verbunden ist, einschließlich jener, wie man sie nennen könnte, "Opportunitätskosten" von Regeln. Dieses Konzept spielt auf den Sachverhalt an, dass Regeln oft entweder zuviel oder zuwenig sagen: zuviel, wenn sie z.B. Handlungen verbieten, die in einzelnen Situationen durchaus vorteilhaft hät-
5
S. dazu auch Homann/Blome-Drees 1992, Homann 2008.
6
S. Hayek 1991, 2003
7
S. hierzu auch Homann/Suchanek 20OS.
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ten sein können; zuwenig, wenn Ausnahmetatbestände nicht erfasst werden, die von den Regeladressaten zu ihren Gunsten, jedoch zu Lasten Dritter genutzt werden können. In der institutionenökonomischen Literatur wird dieser Punkt auch unter dem Stichwort der "unvollständigen Verträge" behandelt." Hinzu kommt, dass in den letzten Jahrzehnten Globalisierung und Digitalisierung zu einer großen Dynamik auf Märkten (und generell in der Gesellschaft) führten mit der Folge, dass manche Regeln obsolet oder zumindest anpassungsbedürftig wurden, dass unterschiedliche nationale Regeln miteinander unvereinbar sind oder dass für neue Problemfelder noch keine geeigneten Regeln existieren. Dies stellt die Unternehmen vor neue Herausforderungen, denn mit Globalisierung und Digitalisierung sind große Chancen verbunden, neue Märkte zu erschließen, Lieferketten effizienter zu gestalten und anderes mehr. Doch damit gehen neue Risiken und Organisationserfordernisse einher, die sich nicht selten in einem Konflikt von Gewinnerzielung und Verantwortungswahrnehmung ausdrücken", Insofern ist es wenig überraschend, dass das Thema der Verantwortung von Unternehmen in den letzten Jahren erheblich an Bedeutung gewonnen hat und oft auch unter dem Kürzel CSR ("Corporate Social Responsibility") diskutiert und implementiert wird. Unternehmen werden hierbei in zunehmendem Maße als Akteure angesehen, die einen Beitrag zur Lösung gesellschaftlicher Probleme und Aufgaben zu leisten haben. Allerdings ist unklar, worin dieser Beitrag bestehen soll: Sollen sie Aufgaben übernehmen, die früher dem Staat zukamen, etwa im sozialen Bereich? Oder sollen sie sich nicht einfach beschränken auf die Funktion, die ihnen traditionell zukommt: das Bereitstellen von Gütern und Dienstleistungen und damit verbunden von Arbeitsplätzen, dessen Erfolg unter Marktbedingungen am ehesten daran zu messen ist, dass sie Gewinn erzielen? Im folgenden Abschnitt soll dieser Frage näher nachgegangen werden.'?
8
S. Tirole 1999, Suchanek/Waldkirch 1999.
9
Als Beispiel kann hier die Gewährleistung von sozialen und ökologischen Standards entlang der Lieferkette genannt werden.
10
Ausführlich dazu Lin-Hi 2009, Lin-Hi/Suchanek 2011.
Markt und Moral
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IV. Eine vernünftige Bestimmung von Unternehmensverantwortung muss etwas über ihre Grenzen aussagen", nicht zuletzt angesichts des Umstands, dass sich diese Grenzen auch aus dem Umstand ergeben, dass Unternehmen unter Wettbewerbsbedingungen
agieren
müssen.
Genau
dieser
(Leistungs-
)Wettbewerb ist grundsätzlich erwünscht und ein Ansatz von CSR, der diesen Aspekt vernachlässigt, wird früher oder später in Widersprüche geraten. Insofern stellt sich die Frage nach einer konzeptionellen Bestimmung von Unternehmensverantwortung. Eine Betrachtung der theoretischen Diskussion, die in den letzten Jahren rasch gewachsen ist,12 sowie der tatsächlichen Aktivitäten in diesem Feld zeigt, dass das Konzept CSR nach wie vor nicht präzise bestimmt ist. So lassen sich drei Ansätze ausmachen, die nachfolgend diskutiert werden: (I) Unternehmensverantwortung als Wohltätigkeit (2) Unternehmensverantwortung als Gewinnsteigerung und (3) Unternehmensverantwortung als Investitionen in das Vertrauen von Kooperationspartnern.
Ad (1) Unternehmensverantwortung alsWohltätigkeit Nach verbreiteter Ansicht zeigt ein Unternehmen seine Verantwortung am besten, indem es sich freiwillig in sozialer und/oder ökologischer Hinsicht engagiert durch verschiedene Projekte und Aktivitäten wie Spenden und Sponsoring (s. z.B. Kotler/Lee 2005), Pro-Bono-Projekte, Freistellung von Mitarbeitern für soziale oder umweltbezogene Aktivitäten (s. z.B. Muthuri et al. 2009) usw. Mit solchen "Wohltaten" leisten Unternehmen, wie es scheint, einen sichtbaren Beitrag für das Gemeinwohl, und sie tun dies, so nicht selten der Anspruch: um der (guten) Sache - und nicht etwa des Geschäfts - wegen.
11
S. hierzu Lin-Hi 2009.
12
S. etwa Bamett 2007, Basu/Palazzo 2008, Hansen/Schrader 2005, Matten/Moon 2008, Seherer/Palazzo 2007.
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Andreas Suchanek
Doch eine solche Gleichsetzung von Unternehmensverantwortung mit Wohltätigkeit ist gleich in mehrfacher Hinsicht problematisch. So bleibt bei dieser Sichtweise außen vor, wie die Gewinne erzielt wurden, aus denen diese "Wohltaten" finanziert werden. Doch gerade dieser Prozess der Wertschöpfung ist es, in dem sich die Verantwortlichkeit - oder Unverantwortlichkeit eines Unternehmens zeigt. Auch wenn sich Verantwortung letztlich immer in konkreten Handlungen ausdrückt, ist Unternehmensverantwortung doch immer im Gesamtzusammenhang zu betrachten; einzelne Wohltaten wiegen Fehlverhalten in anderen Bereichen des Unternehmens nicht auf Tatsächlich wird denn diese Form von CSR auch nicht selten als "Greenwashing" (s. z.B. Banerjee 2007) kritisiert; "schöne" Projekte sollen von Problembereichen in der Wertschöpfung ablenken. Nicht weniger problematisch ist ein zweiter Aspekt: Indem man versucht, den Eindruck zu erwecken, dass das Unternehmen seine Verantwortung durch
uneigennützige Taten demonstriert, trägt man zur Delegitimation des eigentlichen Kerngeschäfts bei, das bei Unternehmen, die auf Märkten und unter Wettbewerbsbedingungen agieren müssen, stets auch auf Gewinnerzielung gerichtet - und insofern ,eigennützig' - sein muss. Uneigennützigkeit von Unternehmen könnte geradezu unverantwortlich sein, wenn sie dazu beitragen sollte, die Bedingung zu unterminieren, die das eigene Überleben im Wettbewerb gewährleistet, i. e.: die langfristige Gewinnerzielung. Dabei ist auch zu bedenken, dass "Wohltaten" unter Umständen Erwartungen wecken können, die das Unternehmen, wenn es finanziell in schwierigerer Lage sein sollte, nicht erfüllen kann, was ihm indes zum Nachteil ausgelegt werden könnte. Die gewissermaßen negative Seite eines solchen Erwartungsmanagements besteht darin, dass gerade dadurch, dass man den Erwartungen "uneigennütziger" Handlungen Genüge tut, man damit indirekt die Vorstellung stärkt, dass sich Verantwortung und Moral nicht im auf Gewinn ausgerichteten Kerngeschäft, sondern jenseits dessen manifestieren - was den Umkehrschluss nahelegt, dass gewinnorientiertes Verhalten gerade nicht als verantwortlich gelten könne. Genau dieser Umkehrschluss ist es jedoch, der auf Dauer gesehen die Legitimationsgrundlage unternehmerischen Handelns, das unter Wettbe-
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werbsbedingungen zwingend immer auch auf Gewinnerzielung ausgerichtet sein muss, unterminiert.
Ad (2) Unternehmensverantwortung alsGeuiinnsteigerungv Bereits 1970 hatte der Nobelpreisträger Milton Friedman in einem der meistdiskutierten Aufsätze der Unternehmensethik (Friedman 1970) Kritik an der Auffassung geäußert, die Verantwortung von Unternehmen in etwas anderem zu sehen als in der Orientierung am Ziel der Gewinnsteigerung. Für ihn ist die Vorstellung einer "gesellschaftlichen Verantwortung" von Unternehmen, die diesen die Lösung gesellschaftlicher, insbesondere sozialer oder ökologischer Probleme zuweist, geradezu gefährlich, da sie sozialistischem Gedankengut Vorschub leistet. Friedman spielt damit auf die fehlende Berücksichtigung systemischer Strukturen unternehmerischen Handelns an; dieses fehlende Verständnis der Funktion von Institutionen, insbesondere von Eigentumsrechtsstrukturen, war charakteristisch für den Sozialismus, in dem ebenfalls ein Kurzschluss von der - an sich sinnvollen - normativen Idee der Solidarität aller auf deren unmittelbare Umsetzung durch das Wohlverhalten aller Akteure beobachtbar war. Friedman verweist weiterhin darauf, dass aufgrund des diffusen und vagen Charakters eine Zuweisung von Verantwortung in Form von "Wohltätigkeit" die Möglichkeit des Machtmissbrauchs von Managern naheliegen kann, insbesondere da keine verlässlichen, gut beobachtbaren Kriterien existieren, nach denen beurteilt werden könnte, ob eine "Wohltat" gesellschaftlich sinnvoll ist oder eine (relative) Verschwendung von Ressourcen. Mehr noch: Friedman stellt zu Recht fest, dass im Rahmen einer funktionsfähigen Marktwirtschaft das Kriterium Gewinn die bestmögliche Möglichkeit bietet, die Arbeit der Manager zu bewerten; zudem bietet es Managern entsprechende Anreize für eine gute Arbeit. Hingegen droht ein Engagement für gesellschaftliche Zwecke "jenseits des Kerngeschäfts" diese Anreize und damit auch die Kontrollmöglichkeit zu zerstören. Schließlich weist Friedman auch darauf hin, dass Mana-
13
Ausführlicher hierzu siehe Suchanek (2004).
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ger in der Regel nicht über die notwendigen Kompetenzen verfügen, um die (knappen) Ressourcen effizient für wohltätige Aktivitäten einsetzen zu können. Diese Kompetenzen liegen vielmehr vornehmlich beim Staat, der für die Lösung ökologischer und sozialer Probleme zuständig ist. Positiv formuliert ist für Friedman die Verantwortung von Unternehmen in einer freiheitlich, d. h. demokratisch und marktwirtschaftlich verfassten Gesellschaft klar vorstrukturiert durch gesetzlichen Vorgaben und den Marktwettbewerb. Gewinne werden dann erzielt, wenn die von den Nachfragern gewünschten Leistungen möglichst effizient produziert werden. Genau deshalb sei Unternehmensverantwortung mit Gewinnsteigerung gleichzusetzen. Im Vergleich zu dem zuvor erörterten Konzept von Unternehmensverantwortung legt Friedman ein konzeptionell gehaltvolleres Verständnis von Unternehmensverantwortung vor, da er die institutionellen Rahmenbedingungen Eigentumsrechtsordnung, Marktwirtschaft und Wettbewerb usw. - berücksichtigt und sieht, dass diese Rahmenbedingungen darauf abstellen, dass Unternehmen im Rahmen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung eine spezifische Rolle zukommt. Doch ist kritisch anzumerken, dass Friedmans Argumentation das Konzept der Unternehmensverantwortung nur einseitig behandelt. Insbesondere werden diverse Probleme, die sich im Zusammenhang mit Unternehmensverantwortung stellen, erheblich unterschätzt oder gar ganz außer Acht gelassen. So blendet Friedman ein entscheidendes Problem aus: die Möglichkeit, dass eine Gewinnsteigerung zu Lasten Dritter möglich ist; Umweltverschmutzung, Korruption, Bilanzverschleierung, mangelnde Sicherheitstests und vieles andere mehr sind Beispiele, die hier genannt werden könnten. Die Ausrichtung am Kriterium der Gewinnerzielung kann auch mit der Externalisierung von Kosten verbunden sein. Man könnte einwenden, dass Friedman hier auf den Staat verweist, der die "Spielregeln" so zu gestalten hat, dass Gewinnerzielung unter Wettbewerbsbedingungen stets - entsprechend der Idee der "unsichtbaren Hand" - das Gemeinwohl fördern soll, also negative externe Effekte internalisiert werden (sollen). Doch führt eine solche Argumentation gerade zu einer Entwicklung,
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die Friedman selbst an vielen Stellen kritisiert-s: Wenn der Staat jedesmal, wenn soziale und ökologische Problemfelder auftreten, diese durch entsprechende Regelungen und Markteingriffe bewältigen soll, wäre genau jene Überregulierung zu erwarten, die Friedman als liberaler Denker eigentlich ablehnt, da sie auch die produktive Freiheit verhindert. Anders formuliert ist unternehmerische Freiheit aus (untemehmens-) ethischer Sicht mit der Verantwortung verknüpft, diese Freiheit nicht zu missbrauchen. Vermutlich teilt Friedman diese Auffassung, doch thematisiert er an keiner Stelle die damit verbundenen Herausforderungen für Unternehmen, wie sie sich insbesondere in einer globalisierten Welt stellen. Denn es geht nicht nur darum, bestimmte Handlungen zu unterlassen, sondern aktiv daran zu arbeiten - man könnte auch sagen: zu investieren -, dass sich ein verantwortlicher Gebrauch der unternehmerischen Freiheit auch unter Wettbewerbsbedingungen auszahlt. Das Manko der Friedmanschen Position besteht mithin darin, diese Herausforderung gewissermaßen zu bagatellisieren. Er unterschätzt dabei die stets hohe Selektivität menschlicher Perzeption, die bei einer ausschließlichen Fokussierung auf Gewinnsteigerung, verbunden mit der gleichzeitigen Legitimierung durch die Gleichsetzung mit Unternehmensverantwortung, moralische Pflichten und Werte aus dem Blick der Entscheidungsträger geraten lassen kann. Das Problematische an der Position von Friedman ist somit nicht, dass sie falsch ist - denn dies ist nicht der Fall -, aber sie ist einseitig. Indem er die Möglichkeit unverantwortlicher Formen der Gewinnerzielung per Annahme (staatliche Rahmenordnung und Marktwettbewerb) praktisch ausschließt, definiert er die zahlreichen möglichen Konflikte zwischen Gewinn und Moral weg, so dass es zwar zu Investitionen, aber nicht unbedingt zu solchen zum
gegenseitigen Vorteil kommen kann. Es ist deshalb auch kein Zufall, dass eine solche Argumentation, sofern sie von Unternehmen oder ihren Repräsentanten verwendet würde (bzw. wurde), kaum damit rechnen kann, auf breite Akzeptanz zu stoßen. Gerade im öffent-
,. S. insbes. sein Buch "Capitalism and Freedom" (Friedman 1962), Kap. 1 und 2.
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liehen Diskurs sind genügend Beispiele präsent, in denen unternehmerische Gewinnerzielung gerade nicht mit Unternehmensverantwortung, sondern im Gegenteil mit unverantwortlichem Verhalten (Korruption, Bilanzverschleierung, Arbeitsplatzabbau bei gleichzeitigen Rekordgewinnen usw.) gleichgesetztwird. Die uneingeschränkte Gleichsetzung von Unternehmensverantwortung mit Gewinnsteigerung ist mithin unangemessen, da es unverantwortliche Formen von Gewinnerzielung gibt und man keineswegs davon ausgehen kann, dass die Rahmenordnung(en) und der Marktwettbewerb immer schon dafür sorgen, dass diese unverantwortlichen Formen von vornherein für Entscheidungsträger in Unternehmen hinreichend unattraktiv sind. Was aber bedeutet dann Unternehmensverantwortung? Wie kann man diese in einer Weise konkretisieren, dass der Tatsache angemessen Rechnung getragen wird, dass Unternehmen gewollt unter Marktbedingungen - und damit unter Wettbewerbsdruck - agieren müssen? Der folgende Abschnitt soll eine Antwort geben.
Ad (3) Unternehmensverantwortung als Investitionen in das Vertrauen der Stakeholder15 Aus gesellschaftlicher Sicht ist es durchaus begründungsbedürftig, warum es Unternehmen geben sollte. Mittlerweile lässt sich aus ökonomischer Sicht dazu eine präzise Antwort geben. Durch Unternehmen wird es möglich, bei Aufrechterhaltung des erwünschten Marktwettbewerbs gesellschaftliche Kooperationsgewinne zu realisieren, die andernfalls nicht realisierbar wären. Das betrifft insbesondere die Organisation von tief arbeitsteiligen Wertschöpfungsketten, deren effiziente Koordination durch den Markt vergleichsweise höhere Transaktionskosten zeitigen würde. 16
15
Die hier entwickelte Position wird ausführlicher und differenzierter, als es hier möglich ist, entwickelt in Lin-Hi (2009).
16
S. ausführlicher hierzu Homann/Suchanek 2005, Kap. 5.2.
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Aus unternehmensethischer Sicht kommt ein weiterer Punkt hinzu: Unternehmen kann als korporativen Akteuren Verantwortung zugeschrieben werden, und diese Verantwortung kann innerhalb eines Unternehmens durch geeignete Governancestrukturen buchstäblich organisiert werden (Waldkirch 2002). Für externe Stakeholder-? ist sehr viel leichter, sich über die erwartbaren Eigenschaften, Entscheidungen und Leistungen eines Unternehmens ein Bild zu machen, wenn dieses als Einheit gesehen werden kann, von dem man nicht viel wissen muss. Insbesondere ist es als Nachfrager von Gütern und Dienstleistungen nicht erforderlich, die Personen zu kennen, die die diese herstellen; man vertraut dem Unternehmen (oder auch nicht). Dabei ist zu beachten, dass es die Mitglieder des Unternehmens sind, denen die Aufgabe obliegt, dieses Vertrauen zu rechtfertigen. Dieser Verweis auf Vertrauen ist deshalb von zentraler Bedeutung, weil Unternehmen im Rahmen ihrer Wertschöpfung zwingend auf die Beiträge ihrer verschiedenen Kooperationspartner angewiesen sind: Mitarbeiter müssen ihre Arbeitsleistung beisteuern, Investoren die notwendige Finanzierung; es muss Kunden geben, die bereit sind, für die vom Unternehmen angebotenen Güter und Dienstleistungen Geld zu bezahlen; man benötigt Lieferanten für die Bereitstellung der benötigten Vorprodukte oder sonstiger Leistungen, Behörden müssen die Aktivitäten genehmigen; Nicht-Regierungs-Organisationen sollten davon Abstand nehmen, gegen das Unternehmen Kampagnen zu unternehmen usw. Für alle Stakeholder gilt, dass sie diese Beiträge nur bereit sein werden zu erbringen, wenn ihnen (a) im Vorfeld versprochen wurde", dass sie vom Unternehmen bestimmte Cegenleistungen'? erhalten und (b) diese Versprechen dann auch tatsächlich gehalten werden. Da die Beiträge der Stakeholder nicht selten vor der Gegenleistung anfallen und es faktisch unmöglich ist, die Erbringung der Gegenleistung in jeder Hinsicht vertraglich abzusi17
Zu nennen sind hier etwa Kunden, Lieferanten, Banken und Versicherungen, Medien, Verwaltung, Nachbarn, Nicht-Regierungs-Organisationen u.a.
18
Diese Versprechen können auch impliziter Natur sein.
19
Bei Investoren, Kunden oder Mitarbeitern sind diese Gegenleistungen offensichtlich, doch auch für - beispielsweise - Nicht-Regierungs-Qrganisationen gilt, dass sie etwa die Einhaltung bestimmter sozialer Standards erwarten als Gegenleistung für den Verzicht auf eine Kampagne o. ä.
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chern20, ist Vertrauenswürdigkeit für ein Unternehmen ein zwingend notwendiger Vermägenswert. Und wie jeder andere Vermögenswert braucht auch dieser
Investitionen, die, so könnte man zusammenfassend sagen, für das Unternehmen darin bestehen, seine Versprechen zu halten. Nun ist dies in der Realität nicht ganz so einfach, da vor allem die indirekteren Leistungsversprechen oft nicht genau spezifiziert sind mit der Folge, dass es für Unternehmen schwierig bis unmöglich sein kann, den Erwartungen gerecht zu werden. Insofern gehört es auch zum "Management von Unternehmensverantwortung", solche Erwartungen von einzelnen Stakeholdergruppen, denen das Unternehmen nicht Rechnung tragen kann ohne andere Interessen zu verletzen, in geeigneter Weise als unberechtigt zurückweisen zu können. Die Wahmehmung unternehmerischer Verantwortung hat insofern immer auch etwas mit Erwartungsmanagement zu tun, wobei es wesentlicher Bestandteil eines solchen Managements ist, die Kommunikation daran auszurichten, dass die Vertrauenswürdigkeit des Unternehmens dadurch nicht unterminiert, sondern nach Möglichkeit sogar gestärkt wird. Berücksichtigt man, dass alle Stakeholder mit unterschiedlichen Perspektiven und Interessen an Unternehmen herantreten und sich dabei gemeinsame, aber eben immer auch gegensätzliche Interessen, ergeben, wird deutlich, dass das Management von Unternehmensverantwortung keineswegs reduziert werden kann auf einige "Wohltaten" oder das Delegieren an die PR-Abteilung, sondern zu den Grundlagen des strategischen Managements gehört. Diese Überlegungen gewinnen im Kontext des Themas Markt und Moral an Bedeutung durch den zuvor ausgeführten Sachverhalt, dass Märkte gerade daraufhin angelegt sind, die Freiheit der Marktteilnehmer - hier: der Unternehmen - in buchstäblich produktiver Weise zur Geltung kommen zu lassen. Dafür sind Spielregeln erforderlich, aber eben auch ein verantwortlicher Gebrauch der durch die Spielregeln ermöglichten Freiheit. Und es ist im wohlverstandenen Eigeninteresse der Unternehmen, diese Verantwortung
20
Das gilt insbesondere im Hinblick auf die indirekteren Leistungen, die ein Unternehmen erbringt durch die Einhaltung von Regeln und Standards, wodurch Schädigungen Dritter vermieden werden.
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kompetent wahrzunehmen. Denn je weniger sie das tun, umso mehr tragen sie zur Erosion einer grundlegenden Voraussetzung ihres Tuns bei: der Akzeptanz von Märkten als dem Rahmen untemehmerischen Handelns. Mit diesem Aspekt, dem "Spielverständnis", befasst sich der nächste Abschnitt.
v. Letztlich hängt die Legitimation der Märkte davon ab, ob die Öffentlichkeit generell dieses System der Koordination wirtschaftlicher Aktivitäten als vereinbar mit ihren moralischen Urteilen ansieht. Dementsprechend ist eine der wesentlichen Bedingungen dafür, dass Moral und Markt grundsätzlich miteinander vereinbar sind und bleiben, auch das Vorhandensein moralischer Urteilskraft, die die Funktionsbedingungen von Märkten hinreichend kennt, um sie bei moralischen Urteilen kompetent berücksichtigen zu können. Die Anforderungen an eine solche Urteilskraft sind in der heutigen hochkomplexen Gesellschaft sehr hoch, denn es gilt jenen Grundsachverhalt gesellschaftlicher Interaktionen angemessen zu reflektieren, der in der Alltagsweisheit zum Ausdruck kommt, dass nichts im Leben umsonst sei. Dieser Hinweis auf die jedem Ökonomen so vertraute Bedingung universeller Knappheits' lässt sich auch auf institutionelle Arrangements, und damit auch auf Märkte bzw. Marktwirtschaft, beziehen. Es gibt schlechterdings kein institutionelles Arrangement, das imstande wäre, jeden Wunsch bzw. alle normativen Erwartungen aller Betroffenen zu erfüllen. Vielmehr wird es immer "Kosten" geben derart, dass die Durchsetzung und das Aufrechterhalten eines Institutionensystems sowohl direkte Kosten verursacht als auch "Zumutungen" bereithält, im Fall von Märkten beispielsweise die Möglichkeit eines Konkurses, der Ent-
lassung oder des Arbeitsstresses aufgrund intensiven Wettbewerbsdrucks usw.
21
Aus Sicht der Interaktionsökonomik (s. Homann/Suchanek 2005) ist es zweckmäßiger, die Knappheitsannahme in die Annahme universeller Dilemmastrukturen zu überführen und so die soziale Dimension in den Vordergrund zu rücken
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Andreas Suchanek
Diese Kosten lassen sich in der Regel nicht monetär darstellen. Für die hier angesprochene moralische Urteilsbildung ist es vermutlich auch angemessener, diese Thematik unter dem Begriff der "Ambivalenzen" aufzugreifen. Die nachfolgend aufgeführten Beispiele genereller Ambivalenzen sollen helfen, diesen Punkt zu verdeutlichen; zugleich verweisen sie auf die Notwendigkeit (auch) ökonomischer Bildung, wenn es um moralische Urteilsbildung geht. • Die allgemeinste Ambivalenz betrifft ein grundlegendes Merkmal der modernen Gesellschaft: die Freisetzung des Eigeninteresses, sowohl durch die Herauslösung aus tradierten Wert-, Normen- und Klassenbindungen als auch durch die Eröffnung zahlreicher neuer Freiheiten durch technischen Fortschritt und gestiegenen materiellen Wohlstand. Dieses an sich positiv zu bewertende Mehr an Freiheit bringt jedoch, wie schon im Abschnitt über Unternehmensverantwortung gezeigt, zwingend das Problem mit sich, dass diese Freiheit(en) auch missbraucht werden können bzw. dass die Herausforderungen der Koordination individueller Handlungen freier Subjekte rasch wachsen (was sowohl an der Zunahme formaler Institutionen als auch an der wiederkehrenden Klage eines Werteverfalls ablesbar ist). Diese Ambivalenz ist deswegen von Bedeutung, da Märkte dazu tendieren, eigeninteressiertes Handeln zu fördern durch die Eröffnung attraktiver Konsum- oder Gewinnerzielungsmöglichkeiten. • Eine zweite sehr generelle Ambivalenz betrifft Regeln. Diese koordinieren Handlungen, schaffen wechselseitige Verhaltensverlässlichkeit und erweisen sich so als fundamentale Grundlage der sozialen Ordnung bzw. als Infrastruktur individueller Freiheit. Doch sind Regeln zugleich Gren-
zen, die nicht selten als Einschränkung, und damit als entfremdet, d.h. als unerwünschte Fremdbestimmung, erlebt werden; dies gilt sowohl für politische (Demokratie) als auch für wirtschaftliche (Markt-) Strukturen. • Eine weitere für Märkte grundlegende Ambivalenz betrifft die Etablierung bzw. Aufrechterhaltung des Wettbewerbs. Dabei soll an dieser Stelle weniger betont werden, dass diejenigen, die dem Wettbewerb unterworfen sind, stets Anstrengungen unternehmen, ihm zu entgehen bzw. ihn außer Kraft zu setzen. Vielmehr ist die eigentliche Ambivalenz die, dass
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der Wettbewerb unter anderem gerade dazu dient, zu einem effizienten Umgang mit knappen Ressourcen anzuhalten, doch dass genau dieser Druck dazu führen kann, Kosten zu externalisieren. • Im Zusammenhang mit dem Wettbewerb steht auch der Umstand, dass einige seiner positiven Wirkungen dadurch zustande kommen, dass die andere Marktseite die Möglichkeit der Abwanderung hat. Doch genau dies führt dazu, dass geringere Bindungsmöglichkeiten existieren bzw. man sich auch Beitragsleistungen entziehen kann, die eigentlich der Gesellschaft - und oft auch einem selbst - dienlich sind (Kollektivgutproblematik). • Wettbewerb und Märkte sind so ausgelegt, dass Leistung - im Sinne von Wertschöpfung - das dominante Kriterium ist, um Erfolg zu haben. Das bedeutet indes, dass Nicht-Leistung eben nicht honoriert wird - und dies zunächst unabhängig davon, worin diese Nicht-Leistung besteht bzw. warum sie zustande kommt (z. B. durch Krankheit, soziale Härten, fehlende Ausbildung usw.). Mehr noch: Was als Leistung gilt, entscheidet kein Philosophenkönig oder Experte der Bedürfnisforschung, sondern Marktteilnehmer, die bereit sind, Leistungen mit Gegenleistungen zu vergelten, und die einen anderen Geschmack haben können als der jeweilige Beobachter. • Die Dezentralität der Märkte vermeidet tendenziell viele Probleme einer zentralen Steuerung des Wirtschaftsgeschehens: volkswirtschaftliches Missmanagement, fehlende Anpassungsleistungen, massive Korruption und Vetternwirtschaft und anderes mehr. Doch ist mit dieser Verringerung politischer Steuerung unweigerlich verbunden, dass sich die Märkte einer unmittelbaren (interventionistischen) Steuerung und Kontrolle entziehen. Das hat zunächst gute Seiten, da politische Lenkungen wirtschaftlicher Aktivitäten oft genug Einladungen zu Machtmissbrauch, Korruption und Verschwendung waren (und sind); doch führt die Dezentralität in Einzelfällen auch immer wieder zu unvorhergesehenen Härten (ebenso übrigens wie zu zufälligen und, in gewissem Sinne unverdienten, Erfolgen).
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Andreas Suchanek • Märkte haben grundsätzlich aufgrund ihrer oben erwähnten Interdependenz an sich den solidaritätsfördernden Effekt einer gesellschaftlichen Integration. Doch werden damit auch wechselseitige Abhängigkeiten erzeugt, die durchaus unerwünscht sein können, wie etwa das Beispiel der Finanzkrise von 2008 illustriert.
Diese und andere Ambivalenzen verweisen auf die "Kosten", die die Etablierung von Märkten mit sich bringen, wenngleich es von der konkreten Ausgestaltung der Marktstrukturen abhängt, wer und in welcher Form diese Kosten tragen muss. Umso wichtiger ist es, im gesellschaftlichen normativen Diskurs über die richtige Weise des Wirtschaftens Kenntnisse über grundlegende strukturelle Zusammenhänge in möglichst klarer Weise einzubringen, verbunden mit der Verdeutlichung, welche Verantwortlichkeiten mit welchen wirtschaftlichen Aktivitäten einhergehen, und warum es im wohlverstandenen Eigeninteresse liegt, diese Verantwortlichkeiten wahrzunehmen. Hier liegt auch eine zentrale Aufgabe des Bildungssystems und seiner Vertreter, ihren Teil zur Vereinbarkeit von Moral und Markt beizutragen.
Schlussbemerkung Die Wirtschaftswissenschaften haben seit Adam Smith zweifellos wesentlich zum Erkenntnisfortschritt -
und dadurch auch zu gesellschaftlichem
Wohlstand - beigetragen. Es gibt gute Gründe zu behaupten, dass sie heute wichtiger denn je sind, denn man wird die anstehenden großen Herausforderungen: Vermeidung umfassender Krisen auf den Kapital- und Finanzmärkten, Bewältigung des Klimawandels, Linderung der weltweiten Armut usw., nur mithilfe ökonomischer Konzepte, Modelle und Theorien erfolgreich angehen können. Allerdings ist dafür auch erforderlich, dass sich die Wirtschaftswissenschaften nicht abkoppeln von den Fragen, Vorstellungen und Wertkonzepten der Gesellschaft, sondern ihre Theorieentwicklungen immer auch an daran orientieren bzw. ihre Erkenntnisse daran zurückzuvermitteln in der Lage sind.
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Gerade Wirtschaftsethik erfüllt hier eine grundlegende Vermittlungsfunktion, und deshalb ist es so wichtig, dass angesehene Vertreter der Wirtschaftswissenschaften wie Volker Arnold sich für eine niveauvolle Verankerung dieses "Faches" im Rahmen der Wissenschaft einsetzen.
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Über den Autor:
Prof. Dr. Andreas Suchanek, geb. 1961 in Stadthagen, studierte in den Jahren 1982-1986 an den Universitäten Göttingen und Kiel Volkswirtschaftslehre. Im
Jahr 1993 promovierte er an der Universität Witten/Herdeeke. 1999 habilitierte er an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, wo er bis 2004 den Lehrstuhl für Wirtschafts- und Untemehmensethik vertrat. Von September 2004 bis August 2009 war Prof. Suchanek Inhaber der DowForschungsprofessur "Sustainability and Global Ethies" an der Handelshochschule Leipzig (HRL). Seitdem hat er dort den Dr. Werner [ackstädt-Lehrstuhl für Wirtschafts- und Untemehmensethik inne. Zudem ist er seit 2005 Mitglied des Vorstands des Wittenberg-Zentrums für Globale Ethik, welches sich insbesondere mit den Themen "Building Global Cooperation" und Untemehmensverantwortung beschäftigt. Seine Forsehungsschwerpunkte sind: Wirtschafts- und Untemehmensethik, Nachhaltigkeit, Vertrauens- und Glaubwürdigkeitsmanagement, Institutionenökonomik und Methodologie (insbesondere homo oeeonomicus). Prof. Suchanek ist einer der führenden deutschen Experten im Bereich Untemehmensverantwortung (Corporate Responsibility). Den Orientierungspunkt seiner Arbeit bildet die ökonomisch reformulierte Goldene Regel: Investiere in die Bedingungen der gesellschaftlichen Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil.
Zwischen Markt und Brüderlichkeit - Zum Zusammenhalt von Gesellschaften Kurt Röttgers
"Wettbewerb ist solidarischer als Teilen",l Teilen",' sagt Karl Homann und stellt den Markt als das das Prinzip der Organisation von Gesellschaften der Modeme Moderne hergibt dagegen zu bedenken, dass der Markt denjenigen aus. Hauke Brunkhorst gibt Zusammenhalt von Gesellschaften nicht selbst gewährleisten kann, auf den er gleichwohl angewiesen ist, und er macht das Prinzip der Solidarität dafür geltend, wobei er - und das ist problematisch - Solidarität mit der Brüderlichkeit im Sinne der Fratemite Fraternite der bürgerlichen Revolution schlicht gleichsetzt und
diese wiederum auf die jüdisch-christliche Nächstenliebe und die BürgerzurückführU Die folgenden Überlefreundschaft der attischen Demokratie zurückführt.s gungen versuchen, im Zwischen von Markt und Brüderlichkeit eine Struktur zu identifizieren, die es erlaubt, das soziale Band zu erläutern, das auch dasjenige Vertrauen als Metanorm moralischen Verhaltens" Verhaltens3 plausibel macht, ohne das selbst selbst Märkte nicht funktionieren könnten, weil bei gänzlichem Mangel von Vertrauen die Transaktionskosten für Tausch- und Vertragsbeziehungen ins Unermessliche steigen würden. würden.'4 Dafür wird auch eine Neuformulierung
eines Begriffs von Solidarität erforderlich werden.
I
K. Hornann: Homann: Anreize und Moral, hrsg. v. Orr. Chr, Lütge. Münster 2003, 2003, p. 13, 111. 111.
2
H. Brunkhorst: Solidarität Von der Bürgerfreundschaft zur globalen Rechtsgenossen-
schaft. Frankfurt a. m. 2002. 2002. 3
Zum Begriff der Metanorm, s. G. Gamm: Der unbestimmte Mensch. Berlin, Wien 2004, 2004, p. 196 ff., dort allerdings bezogen auf das Versprechen.
• Dass das riskant ist, zeigt Luhmann, Luhrnann, N. Luhmann: Vertrauen. Stuttgart 1989, 1989, dass dass aber der Versuch, ohne Risiko zu handeln (in vermeintlich absoluter Sicherheit) Sicherheit) ebenso riskant ist, zeigt er ebenfalls (N. Luhmann: Soziologie des Risikos. Berlin 1991). 1991).
T. Nguyen, M ensch und Markt, DOI 10.1007/978-3-8349-6728-2_5, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Kurt Röttgers
Unbestreitbar scheint, dass gegenwärtig das Marktprinzip dasjenige Prinzip ist, durch das sich die globalisierte Weltwirtschaft und ihre Gesellschaft organisiert. Weil Märkte zuvor immer staatlich und rechtlich regulierte Märkte waren, ist die Globalisierung des Marktprinzips, teilweise jenseits der Staatlichkeit, eines jener Sozialexperimente im Weltmaßstab, vor denen Kar! Popper immer eindringlich gewarnt hatte,5 wobei er allerdings damals das Sozialexperiment einer sozialistischen Gesellschaft im Blick hatte. Doch seine Argumente gegen Experimente im Weltmaßstab treffen auf den entgrenzten Markt ebenso zu. Niemand weiß, wie dieses Experiment ausgehen wird, und ein Scheitern hätte unabsehbare Folgen - wer weiß denn - hypothetisch gesprochen -, ob nicht die kommunistische Weltrevolution die Globalisierung zur Voraussetzung hat und nicht in Leninscher Manier die Revolutionen ein einzelnen Staaten? Klassische Märkte waren immer regulierte Märkte, sei es im Mittelalter als spezifische Orte, denen Privilegien seitens eines zuständigen Fürsten verliehen worden waren, sei es durch Kontrollen nationaler Märkte durch Rahmenordnungen. 6 Die Erfahrung war, dass sich diese regulierten Märkte in der Aufgabe der Allokation benötigter Güter als effektiver erwiesen als es eine Regulierung des Geschehens selbst je sein konnte. Also: Regulierung der Struktur, statt Regulierung der Geschehensabläufe selbst? Daraus schloss man im Zuge der Emanzipation des Bürgertums gegen den feudalen Staat, dass
jede Intervention von Übel sei, indem man den Eingriff in eine Ordnung ebenso verwarf wie den Eingriff in die Abläufe. Da die Einrichtung einer Ordnung und die Intervention in sieB in der Neuzeit immer staatliches Privileg war, lief
5
K. R. Popper: Das Elend des Historizismus. 2. Auf!. Tübingen 1969, p. 66 ff.: "Die holistische Theorie des Sozialexperiments".
6
K. Röttgers: Markt.- In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. v. J. Ritter u. k. Gründer. Basel, Stuttgart 1971 ff., V, Sp. 753-758.
7
Je mehr sich freilich heute unter dem Diktat der Kurzfristigkeit Strukturinterventionen in ihrer Abfolge beschleunigen, desto mehr fällt diese Unterscheidung in sich zusammen und desto plausibler klingen die Argumente derjenigen, die sich gegen jegliche Intervention aussprechen.
8
Die Unterscheidung geht zurück auf das Denken von Johannes Duns Scotus, dort als die Unterscheidung der zwei Arten göttlicher Macht: als potentia ordinata und potentia absoluta, ersteres die Macht, im Rahmen einer Ordnung machtvoll zu wirken, letzteres als die Macht, diese Ordnung selbst zu verändern. Die absolutistischen Monarchen der frühen
Zwischen Markt und Brüderlichkeit
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die Verdammung jeglicher Intervention auf die Forderung der Abschaffung jeglicher staatlicher Wirtschaftspolitik oder die Reduzierung des Staates auf einen Minirnalstaat hinaus. Aus allerdings unterschiedlichen Gründen waren sich in dieser Frage Liberale und Anarchisten einig. Je weniger Staat, desto besser für die Menschen, weil sich der soziale Verkehr der Menschen untereinander störungsfreier ohne staatliche Eingriffe von selbst regelt,9 entweder auf der Grundlage des Eigennutzes, der Konkurrenz und des Tauschs (so die Liberalen), oder auf der Grundlage gegenseitigen Wohlwollens und gegenseitiger Hilfe und Kooperation (so die Anarchisten). "Laissez faire, laissez passer - le monde va de lui-meme", das war die von Turgot berichtete Antwort Gournays auf die Frage, was getan werden solle. Le monde - das war natürlich die Wirtschaft: die Wirtschaft läuft ganz von selbst, man muss nicht durch Regierungshandeln in sie eingreifen. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde der Markt schon gedacht als abstrakte Kategorie des VerkehrsZllsammenhangs rationaler, vom Eigeninteresse motivierter Individuen, d.h. Sozialatomen, die sich im Markt über formell friedliche Tauschbeziehungen begegnen. 10 Wenn alle diese Atome erfolgreich ihr
Neuzeit haben sich dieses Modell zu eigen gemacht: danach kann auch königliches Handeln niemals ungesetzlich sein; denn entweder es befolgt bestehende Gesetze oder es begründet in der Abweichung ein neues Gesetz. Cf. dazu im einzelnen K. Röttgers: Spuren der Macht. Freiburg, München 1990, p. 81ff. 9
Odo Marquard hat in: Lob des Polytheismus.- In: ders.. Abschied vom Prinzipiellen. Stuttgart 1981, p. 91-116, die These vertreten, dass es der Sinn der Gewaltenteilung sei, dass der Bürger im Schatten der gegenseitigen Neutralisierung der Gewalten seine Ruhe vor dem totalitären Zugriff habe. Das ist mindestens historisch falsch, denn Montesquieu, der die im Deutschen so genannte Gewaltenteilung formuliert hat, war mitnichten für eine Teilung der Macht, im Gegenteil; wie Hobbes hielt er eine Teilung der Macht für verderblich, weil sie zum Bürgerkrieg führen könne. Er war für die Einheit der Macht im Staate und ihre funktionale Gliederung. Daher heißt der französische Terminus bis in die Zeiten der Revolution hinein "distribution de pouvoir" und nicht etwa "separation des pouvoirs". Machtmäßigung erwartete Montesquieu vielmehr von den "pouvoirs intermediaires".
10
S. dazu insbes. M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Neuausg. Frankfurt a. M. 2005., p. 29,49ff.
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Eigeninteresse verfolgen,!1 dann geht es zwangsläufig allen gut. Der freie Markt kennt keine Not. Nun war aber im Verlauf der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts - selbst rur Hegel - unübersehbar geworden, dass es Not gab, thematisiert als "die soziale Frage".12 Es gibt in den durch das Marktprinzip organisierten Gesellschaften allgemein eine Gruppe von Gesellschaftsmitgliedern, die keine der Grundeigenschaften mitbringt, die im Marktprinzip für alle unterstellt werden: sie sind weder "freie"13, selbstbestimmte Subjekte, noch sind sie im vollen Wortsinne mögliche Adressaten für Verantwortungszuschreibungen l4, noch verhalten sie sich "rational" im Sinne der ökonomisch vorgeschriebenen Rationalität. Wenn man es genau nimmt, gehören sie gar nicht als Mitglieder zu der so definierten Gesellschaft, sondern sind Fremdlinge in ihr.15 Woran konnte die Emergenz solcher Probleme nur liegen? In der Beantwortung dieser Frage schieden sich die Geister. Die einen nahmen an, das seien Kinderkrankheiten der Freiheit des freien Marktes, mit der Zeit würden sich diese Probleme gemäß der Logik des Marktes ganz von selbst erledigen. Deren Nachfahren beteuern heute, dass auch die gegenwärtig zu beobachtenden Disproportionalitäten in der Verteilung der Gewinne und Verluste der Globalisierung über kurz oder lang aufgnmd der heilsamen Kräfte des Marktes ganz von selbst verschwinden würden. Doch schon unser großer Dichter Schiller drückte seine Skepsis gegenüber dem Ver-
11
Simmel zeigt, dass der Tausch nicht zustande käme, wenn nicht beide Seiten ihr subjektives Eigeninteresse dabei befriedigen könnten; wenn es nur um Äquivalente ginge, brauchte man ja gar nicht zu tauschen, so "dass jeder dem anderen mehr gibt als er selbst besessen hat." G. Simmel: Philosophie des Geldes. Frankfurt a. M.1989 (=Georg-SimmelGesamtausg. Bd. 6), p. 60.
12
E. Pankoke: Soziale Frage.- In: Historisches Wörterbuch der Philosophie IX, Sp. 1129-1134.
13
K. Röttgers: Die Freiheit in der Wirtschaft.- In: Jb 1998 d. Ges. d. Freunde der Fernuniver-
sität. Hagen 1999, p. 53-66. 14
Ders.: Verantwortung nach der Modeme in sozialphilosophischer Perspektive.- In: Unternehmensverantwortung aus kulturalistischer Sicht, hrsg. v. Th. Beschomer u.a.. Marburg 2007, p. 17-31; ders.: Verantwortung für Innovationen.- In: Verantwortung als marktwirtschaftliches Prinzip, hrsg. v. L. Heidbrink u. A. Hirsch. Frankfurt a. M., New York 20OS, p. 433-455.
IS
P. Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik. Bern, Stuttgart, Wien 1997, p. 106ff.
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trauen in das freie Spiel der Marktkräfte in dem Vergleich aus, das wäre so, als wolle man in einem Orchester die vollkommene Harmonie des Zusammenspiels davon erwarten, dass jeder einzelne Musiker falsch spiele. Schiller kannte freilich den "Free Jazz" noch nicht, wo jeder in der Tat spielt, was er will, aber eben in genauer Beobachtung und Abstimmung auf das Spiel der anderen; und genau das tun auch die Marktteilnehmer: sie beobachten sich ständig gegenseitig und richten grosso modo ihr Verhalten darauf ein.J6 Andere glaubten, dass die "soziale Frage" ein notwendiges Ergebnis der Struktur der kapitalistischen Produktionsweise sei, weil das Kapital auf Kapitalakkumulation (heute sagt man: auf "Wachstum") angewiesen sei und dass dieser Mehrwert ja irgendwo herkommen müsse, er also jemandem durch die Strukturlogik des Kapitalismus vorenthalten werden müsse. Und das könnten nur diejenigen sein, deren einziges Kapital ihre Arbeitskraft sei und die diese zwecks Erhaltung des Lebens des menschlichen Körpers zu beliebig oktroyierten Bedingungen vermarkten müssten. Die so redeten, wussten zwar im Prinzip, dass es Win-win-Situationen gibt, z.B. durch Arbeitsteilung und Kooperation, aber sie waren gewiss, dass der kapitalistisch organisierte Markt keine solche Situation ist und keine solche werden kann.J7 Wieder andere - zwischen diesen beiden Stühlen schwebend - sprachen vom Marktversagen. Das widersprach der ersten Gruppe, für die es ein Marktversagen gar nicht geben konnte, sondern höchstens eine noch nicht vollständige Realisierung dieses optimalen Prinzips der Allokation knapper Güter. Das widersprach aber auch der zweiten Gruppe, die die Erzeugung der Not nicht als 16
Auch der Markt hat freilich seine autoritären Effekte. Wenn man beispielsweise in einem bestimmten Jahr einen gelben Pullover oder sogar einen weißen Schal aus reiner Seide erwerben möchte, kann es einem leicht passieren, dass man mit der Ausktmft konfrontiert wird, vor zwei Jahren hätte man diese Produkte kaufen können, zum Glück aber seien sie nun alle ausverkauft. Die marktorientierte Produktion ist zwecks optimaler Allokation darauf angewiesen, Marktlücken entweder zu befriedigen oder aber unsichtbar zu machen, d.h. zusammen mit der Warenproduktion die Bedürfnisproduktion der Konsumenten zu steuern - fast wie in partriarchalen oder staatssozialistischen Systemen, die ebenfalls wissen, was die Bürger jetzt "eigentlich" wünschen und brauchen.
17
Dass der entfaltete Kapitalismus der Modeme, anders als die Subsistenzwirtschaft der Antike, grundsätzlich eine Win-win-Struktur hat, ist die These von Karl Homann, 1. C., p. 3-25.
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Versagen des Marktes, sondern als deren eigentlichen Mechanismus erkannt hatte. Die zwischen den Stühlen waren gute Menschen, von Mitleid zu ihren leidenden Mitmenschen bewegt. Sie betrieben aus christlichem oder philanthropischem Ethos "Armenfürsorge". Im 20. Jahrhundert wurde aus dieser Annahme möglichen Marktversagens in der Nachfolge der Impulse des 19. Jahrhunderts, vor allem in Frankreich und Deutschland, und aus einer humanistischen Gesinnung heraus die "soziale Marktwirtschaft" geboren. Die Variante "soziale Marktwirtschaft" kann nur dann funktionieren, wenn es eine Instanz oder Institution gibt, die nicht selbst den Marktmechanismen unterworfen ist. Im "rheinischen Kapitalismus" der Fünfzigerjahre war das ein an christlich-humanen Werten orientierter Staat. Ein solcher steht heute nicht mehr zur Verfügung. Überdies kann man berechtigt fragen, welches eine solche Instanz in dem entgrenzten, globalisierten Markt sein könnte. Die Einzelstaaten können es nicht mehr sein, selbst eine sich fundamentalistisch umorientierdende, imperiale USA wäre dieser Aufgabe nicht mehr gewachsen. In vielen ihrer ehemals souveränen Handlungsbereiche sind die Staaten heute selbst dem Markt unterworfen. Nach einer anderen Instanz als den Staaten kann man lange suchen und wird am Ende sich zu dem Zugeständnis gezwungen sehen, dass es eine "soziale Marktwirtschaft" im Weltmaßstab nicht geben wird, so dass die "soziale Marktwirtschaft", ohnehin eine deutsche nationale Besonderheit, auch nur noch eine historisch überholte Episode bleiben wird. Folgt man einem präzisen Begriff von Globalisierung,18 so wird man als eine der Konsequenzen der Globalisierung festhalten dürfen: Anders als vormals die Staaten und ihre Regierungen, von denen ja Kant noch optimistisch annahm, dass sie dem Rat der Philosophen zuhören und ihn insgeheim berücksichtigen würden,19 hat die durch die Globalisierungsprozesse entstandene Weltgesellschaft keine Möglichkeit mehr, sich selbst zu kontrol-
18
19
Zum präzisen Begriff der Globalisierung s. K. Röttgers: Ein philosophischer Begriff von Globalisierung.- In. Philosophische Aspekte der Globalisierung. hrsg. v. H. Busche. Würzburg 2009, p. 17-34. So Kant in seinem "Geheimen Artikel" als Zusatz zu seiner Schrift "Zum Ewigen Frieden", 1. Kant: Ces. Schriften, hrsg. v.d. Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 191Off., VIII, p. 368ff.
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lieren oder zu regieren. Die Weltgesellschaft der Globalisierung ist eine Gesellschaft ohne Zentrum und ohne Gipfel. Die Staaten der Neuzeit waren hierarchisch geordnet, vor der bürgerlichen Revolution offensichtlich in der Souveränität der Monarchen und auch noch nach der bürgerlichen Revolution durch die Repräsentationsfiktion der Demokratien in etwas versteckter Weise, die aber auch immer wieder als Konflikt zwischen den Regierenden und der Betroffenheit lIdes Volkes" aufbrechen kann. Die Weltgesellschaft dagegen ist netzförmig organisiert. Hierarchische Ordnungen haben ein Problem: wird das Zentrum zerstört, ist der Gesamtzusammenhang gefährdet, wenn man nicht schnell genug einen Ersatz als "König" ausrufen kann. Das ist ja auch der Grund, warum das Internet netzförmig organisiert ist. Sein Vorläufer in Zeiten des Kalten Krieges war ein militärisches Informationssystem, das nicht der Gefahr ausgesetzt sein sollte, im Fall eines befürchteten Militärschlags des Feindes auf einmal als ganzes zerstört zu werden. Jeder andere Knoten in dem Netz sollte die Funktion eines ausgefallenen Knotens übernehmen können. Allerdings hätte sich wohl auch ohne diesen militärischen Vorlauf die Netzstruktur durchgesetzt, wie man an der Entwicklung der Telefonie sehen kann. Wegen der Vernetzung von Virtualitäten als Charakteristikum der Globalisierung breiten sich Irritationen des Systems unglaublich schnell aus, siehe die Computerviren oder die letzte Finanzkrise, aber ebenso die Immunisierungen und Einkapselungen der Irritationen. Mit anderen Worten, Abhängigkeit und Unabhängigkeiten nehmen in einem solchen System gleichzeitig zu und steigern damit die Komplexität des Systems.20 Der Leviathan ist tot, die Menschen sind frei; zugleich aber sind sie im System allseitiger Vernetzung tausendfach unfrei und kontrolliert. Der fürsorgliche sogenannte Polizei-Staat vor der bürgerlichen Revolution übernahm die Verantwortung für das Glück und Wohlergehen der Untertanen. Der bürgerliche Staat stellte es jedem frei, sein Glück dort zu suchen, wo er es zu finden hoffte und stellte lediglich die rechtlichen Rahmenbedingungen der Harmonisierung der individuellen Bestrebungen auf. Die globalisierte :w
Dazu prominent die Studie von N. Luhmann: Globalisation ou societe du monde: Comment concevoir la sociere modeme, in: Regards sur la complexire sodale et I'ordre legal a la fin du XXe siede, hrsg. v. D. Kalegeropoulos. Bruxelles1997, p. 7-31.
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Gesellschaft dagegen hat keinen Ort mehr weder für Glücksermöglichungen noch für Rahmenwerke für Glücksverfolgungen. Es gibt in ihr kein systematisches Interesse am Wohlergehen der Menschen mehr. Wenn tatsächlich solches Wohlwollen auftritt, sei es durch Menschen, sei es durch partikulare Institutionen unterschiedlichster Art, so ist das immer punktuell, zufällig und teilweise sogar zueinander in Widerspruch. Der Tsunami in Sü-Asien, das Erdbeben in Haiti und die Überschwemmungen des Indus erregten hohe Aufmerksamkeit und Anteilnahme, ablesbar in Kontenbewegungen. Der Völkermord in Ruanda ließ dagegen die Menschheit wegblicken - rational ist das alles nicht. Nun gibt es allerdings jenseits der Nationalstaaten die Emergenz neuer und auch ganz neuartiger Governaru:e-Strukturen, die manche Defizite der Reichweite nationalen Rechts tatsächlich abfangen oder doch abfangen könnten. Sowohl ihrer Zusammensetzung nach als auch ihrer Regelungsreichweite nach gehen diese neuen Strukturen in eine ganz andere Richtung als Elemente einer zukünftigen Regierung der Weltgesellschaft zu werden. Sie behalten durchgehend Netzstruktur, sie entziehen sich oder bedienen sich lediglich fallweise nationaler Rechtsprechung und etablieren jenseits der Staaten ein Netzwerk von Normen eines "Soft Law".21 Und sie sind in sich und untereinander aus den heterogensten Elementen zusammengesetzt, teils aufgrund von internationalen Abkommen der Staaten, deren erstes Beispiel der Weltpostverein war, teils als Büros ursprünglicher Konferenzen, wie die KSZE, teils NGOs, teils Verbände ökonomischer Akteure, teils kriminelle Organisationen und teils eben auch joint ventures aus verschiedenen solcher Elemente der Weltgesellschaft. Die Globalisierung der Kriminalität ist eine nicht unerhebliche Komponente der Globalisierung. Teils ist ja in einem Staat strafbar, was in einem anderen nicht verfolgt wird; teils entziehen sich aber auch kriminelle Organisationen dem staatlichen Zugriff auf genau die gleiche Weise wie das
21
G. Teubner: Des Königs viele Leiber. Die Selbstdekonstruktion der Hierarchie des Rechts.ln: Soziale Systeme 2 (1996), p. 229-255; vgl. Global Law Without the State, hrsg. v. derns. Aldershot1997.
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multinationale Konzerne tun. Und die Vemetzung ist eines der hervorstechendsten Merkmale der Globalisierung der Kriminalität.22 Im Moment ist man versucht, überall dort, wo es Defizite der Allokation durch
den Markt gibt, die "Solidarität" zu beschwören. Aber zugleich sind sich alle einig, dass, obwohl alle dafür sind, weil Solidarität etwas Schönes und Gutes ist, niemand genau weiß, was Solidarität eigentlich meint. Dieser Begriff ist ein Fetisch, dem zugetraut wird, alle guten Geister herbeizurufen; doch bereits Maurice Block musste 1863 feststellen: "TI y ades mots qui jouent un röle dans la politique moins par leur signification precise et pratique que par ce qu'ils ont de vague et de purement moral."23 Und dazu gehört eben auch der Solidaritätsbegriff damals wie heute. 24 Zudem gibt es die verbreitete, allerdings falsche Ansicht, dass die Fraternite der Französischen Revolution und die Solidarität Austauschbegriffe seien und dass eine weitgehende Ersetzung des politischen Begriffs der Fraternite durch den der Solidarität um 1848 stattgefunden habe. Das ist schon strukturlogisch unwahrscheinlich; denn die Verbrüderung, letztlich zielend auf Menschheitsverbrüderung ist die Universalisierung einer Dyade, also der reinen Intersubjektivität, sie ist im Prinzip asozial,25 weil jede Form von Sozialität die Figur des Dritten voraussetzt.26 Die asoziale Struktur zeigt sich nicht zuletzt auch darin, dass die Verbrüderung zwanghaft ist und dass der Verbrüderungszwang stets die Morddrohung an die Verbrüderungs22
23 24
25
L. Napoleoni: Die Zuhälter der Globalisierung. Über Oligarchen, Hedge Fonds, ,Ndrangheta', Drogenkartelle und andere parasitäre Systeme. München 2008, enthält eine Fülle z. T. schockierender Informationen; theoretischer widmet sich dem Problem des Zusammenhangs von ökonomischer und krimineller Globalisierung 1. Taylor: Marche global et la question criminelle. Quelques perspectives theoriques en Europe.- In: Regards sur la complexite sociale et I'ordre legal a la fin du XXe siecle, 1. c., p. 47-73.
M. Block: Dictionnaire generale de la politique. Paris 1863/64, 1, p. 1069. Heute nennt George Khushf den Begriff der Solidarität "extremely ambiguous, drawing on intuition", G. Kushf: Solidarity as a Moral and Political Concept.- In: Solidarity, ed. K. Bayertz. Dordrecht, Boston. London 1999, p. 57-79, hier p. 64. K. Röttgers: Transzendentaler Voyeurismus.- In: Theorien des Dritten, hrsg. v. Th. Bedorf,
J. Fischer, G. Lindemann. München 2010, p. 33-71. 26
K. Röttgers: Kategorien der Sozialphilosophie. Magdeburg 2002, p. 245-271; Th. Bedorf: Dimensionen des Dritten. München 2003; Die Figur des Dritten, hrsg. v. E. Eßlinger, T. Schlechtriemen. D. Schweitzer u. A. Zons. Berlin 2010, darin vor allem die Beiträge von Th.. Bedorf und B. Priddat; Theorien des Dritten,!. c.
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unwilligen als Handlungsaltemative bei sich führt: "fraternite ou la mort" heißt es in der Revolution, bzw. "sois mon frere ou je te tue", zu deutsch: "Willst du nicht mein Bruder sein, dann schlag ich dir den Schädel ein." Solidarität dagegen ist in seiner Strukturlogik gemäß der Herkunft aus dem Römischen Recht eine Figur der Gesamtschuldnerschaft, bzw. wie Heinrich Pesch im Rahmen der Begründung der katholischen Soziallehre gesagt hat, der
"Gemeinhaftung".27 Jeder Einzelne einer Schuldnergemeinschaft haftet gegenüber einem Dritten in Höhe der Gesamtschuld. Diese (soziale) Figur findet sich auch heute noch in verschiedenen Zusammenhängen, wenn auch nicht mehr in der krassen mittelalterlichen Form, dass ein Kaufmann im Ausland gewärtig sein musste, für die Schulden seiner Landsleute aufzukommen. Mit Brüderlichkeit oder gar der Morddrohung an den Nicht-Bruder hat das nichts zu tun; und nur gutmenschlerisches Gerede macht aus der sozialen Verpflichtungsfigur der Solidarität einen moralisierenden Appell. Gut erhalten ist das Solidaritätsprinzip in der Soziallehre der katholischen Kirche. So heißt es etwa in der Sozialenzyklika "Mater et magistra", dass wir gemeinsam für die Hungernden der Welt verantwortlich seien, nicht etwa jeder Einzelne für sich, oder jeder Einzelne nur gerade deswegen, weil er Teil der christlichen Gemeinschaft ist. Das ist sehr realistisch; denn wollte man die Verantwortung für den Hunger der Welt jedem Einzelnen, allein gelassen mit seinem Gewissen, aufbürden, überforderte man ihn und ließe ihn als Reaktion auf eine solche Überforderung eher gleichgültig werden. Und genau deswegen ist auch eine im Sinne der Fraternite reduktiv uminterpretierte Solidarität, eine fraternisierte Solidarität, keine passende Antwort auf die Entgrenzung des Marktes in der Globalisierung; aber auch für eine nichtfraternisierte Solidarität gälte, dass die universalisierte Gesamtschuldnerschaft gegenüber der gesamten Menschheit den Gläubiger, also den Dritten, tilgt, sie lässt mit der Schuldverpflichtung dann leider auch die Solidarität verschwinden. Mit anderen Worten, und das hat auch Rorty herausgehoben, Solidarität ist stets eine begrenzte Solidarität und gründet sich auf "Wir-Intentionen".28
7:J
H. Pesch: Lehrbuch der Nationalökonomie. 2. Auf!. Freiburg 1914, I, p. 393ff.
28
R. Rorty: Kontingenz, Ironie und Solidarität. Frankfurt a. M. 1992, p. 310.
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Es scheint so, als wäre Solidarität den oben erwähnten "Fremdlingen" in der Gesellschaft völlig unangebracht, weil sie zwar Menschen sind, aber nicht zu "uns", den rational Wirtschaftenden gehören. Wenn wir dagegen von der fraternisierten Solidarität aller Menschen zueinander sprechen, dann gerade ist Solidarität selbst nicht rational, weil sie nicht vom Eigennutz ausgeht, sondern ihm sogar widersprechen kann. So sagt z. B. H. Tristram Enge1hardt, Jr., einer-
seits, dass Solidarität immer begrenzt ist,29 so dass es sich nicht widerspricht, eine gute Flasche Wein zu genießen, auch wenn anderwärts auf dieser Welt Menschen hungern, aber andererseits nennt er Solidarität einen Zwang zum Altruismus und damit etwas ökonomisch nicht Rationales, weil es nicht den Eigennutz fördert, sondern einschränkt. Es müsste neben dem Eigennutzprinzip wenigstens ein individuell motivierendes Prinzip der Erhaltung des Marktes als solchen geben, das im Zweifelsfall dann auch das Eigennutz-Prinzip partiell außer Kraft setzen kann. Ein solches Prinzip erscheint volkswirtschaftlich durchaus rational, weil alle davon profitieren, wenn der Markt auch weiterhin funktioniert, aber der sich selbst überlassene Markt kann ein solches Prinzip nicht generieren, weil es sofort diejenigen auf den Plan riefe, die aus der Hintanstellung des Eigennutzes der einen (der Solidarischen) sofort eine Optimierungstrategie für den eigenen Nutzen ableiten, solange es keinen Schutz der Solidarischen vor diesen Trittbrettfahrern gibt. Nach den Markt-Apologeten der strengen Observanz braucht es aber auch gar kein dem Markt selbst externes Erhaltungsinteresse zu geben, weil der Markt ein vollständig sich selbst steuerndes und reproduzierendes, kurz ein autopoietisches System ist.30
.. H. T. Engelhardt: Solidarity: Post-Modem Perspectives.- In: Solidarity, ed. K. Bayertz, l. p. 293-308, hier p. 293. 30
C.,
Die Systemtheorie von Niklas Luhmann, stellt die gesellschaft:lli:hen Subsysteme so dar,
dass sie über nur ihnen verständliche Codes geregelt sind, so dass moralische Appelle im System der Wirtschaft gar nicht "verständlich" sind, jedenfalls irrelevant sind. Solidarität gehört demnach nur zur Umwelt der Wirtschaft, nicht zu dieser selbst. Irrtümlich behauptet er daher, dass der Solidaritätsbegriff erst im 19. Jahrhundert aufgekommen sei, uns zwar als Name für etwas Verlorenes, N. Luhmann: Die Wirtschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M.1988, p. 212, Anm. 71.
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Eine Tatsache aber scheint auch zu sein, dass Solidarität, und zwar sowohl in ihrer ursprünglichen als auch in der fraternisierten Form, deswegen immer überflüssiger wird, weil gegen die diffusen Risikokomplexe auf gesellschaftlicher Ebene der postmodernen Gesellschaften Versicherungen besser helfen als immer fragliche Solidaritäten. Wer versichert ist, muss nicht lange nach demjenigen suchen, den er für den Gesamtschaden solidarisch in Anspruch nehmenkann. Wenn Solidarität in der Gestalt der fraternisierten Solidarität auf bloße Gegenseitigkeit, also auf Intersubjektivität reduziert wird, dann ist sie entweder nichts anderes als eine Tauschbeziehung, in der sich ja auch die Tauschenden (gegen die Mitbewerber) einig sind, oder sie ist eine kraftlos gewordene Brüderlichkeit, die die Konsequenz des Brudermords nicht mehr ernst nimmt. Versicherungen allein reichen jedoch nicht aus, denjenigen Zusammenhalt von Gesellschaften zu stiften oder zu erhalten, auf den auch die ökonomischen Aktivitäten auf dem Markt angewiesen sind. Normalerweise sagen wir, dass auch die Geschäfte mit Versicherungen auf eine Hintergrundsicherheit angewiesen sind, die nicht wiederum versicherbar ist, sondern in den modernen Gesellschaften durch staatliches Recht gewährleistet wird. Aber, wie gesagt, dieses ist in der postmodernen Weltgesellschaft unterminiert. Es gibt jedoch eine andere, immer schon bestehende Lücke im System des Rechts als Absicherung von Marktaktivitäten. Das Recht kann nicht alles, nicht jede Einzelheit regeln, sondern vertraut im Großen und Ganzen darauf, dass die einzelnen Abläufe entweder unter allgemeinere juristische Normen subsumierbar sind (kontinentaleuropäische Erwartung) oder vergleichbare Präzedenzen haben (case law). Aber es zeigt sich, dass auch die Subsumtionslogik und die Analogien ihre Grenzen haben. An diese Stelle treten dann subsidiär sogenannte "unbestimmte Rechtsbegriffe", die zwar im Rechtssystem auftauchen, aber dort nicht definiert werden können, wie z.B. der Begriff der "guten Sitten". Woher diese Begriffe stammen, ist für das Rechtssystem ungewiss. Einige meinen, an dieser Stelle sei Platz für die Subjektivität des Richters und die Integrität seines persönlichen moralischen Empfindens. Andere halten dagegen, dass es nicht das Ermessen aus subjektiver Willkür sein könne, sondern dass
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es im Hintergrund der Dezision so etwas wie die Objektivität einer Moral einer Gesellschaft stehe, wenn nicht gar eine ethisch gerechtfertigte Moral, etwa Kantischer Provenienz, die für alle Menschen als vernünftigen Wesen Geltung haben müsse, wofür dann eben deswegen nicht mehr die Juristen, sondern die philosophischen Ethiker zuständig seien. Aber die Delegation des Problems der Unbestimmtheit löst die juristischen Probleme der Ermöglichung einer eindeutigen richterlichen Entscheidung nicht, weil die philosophische Ethik eben nicht auf die Ableitung ethischer Lehrsätze hinausläuft und damit auf die zweifelsfreie Rechtfertigung moralischer Normen, sondern eher auf die methodisch angeleitete Problematisierung und Reflexion historisch kontingenter Geltungen von Moralsystemen oder Normen. Wir haben uns demnach zu fragen, ob es nicht eine Metanorm gibt, die jenseits der Partikularität geltender normativer Systeme gilt. Und wenn man danach fragt, wird man die Funktionsweise von Moral in den Blick nehmen müssen. Was leisten Moralen für den sozialen Zusammenhalt? Die wichtigste, wenn nicht vielleicht sogar die einzige Funktion von Moral ist es, Verlässlichkeit in den Interaktionen herzustellen und damit Kontingenz zu reduzieren. Das kann niemals vollständig gelingen. Das Lebenselixier von Normen ist ihre Übertretung und Überschreitung,-31 nur so ist ihr fordernder Sinn verständlich und nur so sind sie flexibel und an veränderte Umstände anpassbar. So wie Risiken nicht durch Sicherheit ersetzbar sind, sondern nur in andere Risiken transformierbar,32 so lässt sich auch kontingentes Erwarten lediglich transformieren. Wenn das begründete Erwarten des Verhaltens anderer aufgrund der unaufhebbaren Kontingenz enttäuscht wird, bleiben zwei Wege der Erwartungsenttäuschungsabwicklung: entweder kognitiv, dann wird etwas gelernt, nämlich dass die (soziale) Welt doch anders ist als vorgestellt und die normative Erwartung für die Zukunft justiert werden muss, und sei es auch nur in der Form des Zugeständnisses, dass gegen Normen zuweilen verstoßen wird, oder aber normativ, dann wird das normative Erwarten entgegen den gemachten Erfahrungen stabil gehalten und für die Zukunft trotz der eingetrete-
31
G. Bataille: Die Erotik. München 1994.
32
N. Luhmann: Soziologie des Risikos. Berlin, New York 1991.
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nen Enttäuschung die Einhaltung der Norm, die unsere Erwartungen leitete, gefordert und weiter erwartet. Und so kommen in der Stabilisierung der Erwartung hinsichtlich der Zukunft die Metanormen normativen Erwartens ins Spiel. Was immer die "guten Sitten" inhaltlich gewesen sein mögen, sie entlasten von der Furcht, dass alles Beliebige in Zukunft möglich sein könnte. Getragen sind sie dabei von der Metanorm des Vertrauens. Vertrauen ist eine riskante Investition; denn es kann enttäuscht werden, ja es muss enttäuscht werden können, andernfalls wäre es nicht Vertrauen. Das mit Vertrauen eingegangene Risiko minimieren zu wollen, gemäß der Lenin zugeschriebenen Devise, dass Vertrauen gut sei, Kontrolle aber besser, liefe darauf hinaus, entweder den Kontrolleuren vertrauen zu müssen oder aber ein ausuferndes Kontroll-Kontroll-System zu etablieren, das jede Kreativität blockiert. Insofern gibt es zwangsläufig in "high trust societies"33 ein Vertrauen in Vertrauen. 34 Ähnliches gilt auch für die Metanorm des Versprechens. Denn ein Versprechen stellt nicht nur ein zukünftiges Geschehen in sichere Aussicht, sondern verspricht implizit auch zugleich, dass das Versprechen auch morgen noch gilt, so dass ein heutiges Versprechen nicht morgen als bloßes vergangenes Geschehen gewertet werden darf.
.. In sozialphilosophischer Hinsicht steht das Thema des Marktes unter dem Oberthema der Stiftung des sozialen Bandes, formulierbar auch als die Frage: Wodurch werden Gesellschaften und letztlich die anvisierte postmoderne Weltgesellsch.aft zusammengehalten? Dass es der Markt allein sei durch die Kraft der in Tausch, Vertrag und dgl. durch Eigeninteresse verbundenen als autonom unterstellten Gesellschaftsatome [Individuen], ist die liberale Antwort. Die Kritiker des Liberalismus wenden ein, dass zwar das soziale Band, der Zusammenhalt der Gesellschaften, wichtig sei für das Funktionieren von Märkten, dass also die Märkte selbst ein Interesse an der Erhaltung dieses
Ja J(
F. Fukuyama: Trust. London 1996, p.ll. N. Luhmann, 1. c.
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Bandes haben oder haben müssten, z.B. senkt Vertrauen zwischen Marktteilnehmern die Transaktionskosten, dass aber der MarktrnechaIDsmus selbst diesen Zusammenhalten nicht stiften kann, ja ihn immer wieder gefährden und aufs Spiel setzen kann, auch wenn er ihn braucht und voraussetzt. Sind diese Kritiker des Liberalismus Kommunitaristen der einen oder anderen Spielart, dann setzen sie auf die quasi-naturalen, z.B. familialen Zusammenhänge, die Ferdinand Tönnies seinerzeit als durch"Wesenswillen" begründete Gemeinschaften von durch "Kürwillen" begründeten Gesellschaften abgesetzt hatte.3S Eine andere Option unter den Kritikern geht auf die revolutionäre Fraternite, die zwar die familiale Metaphorik der Brüderlichkeit im Hintergrund hat, aber sich einer anderen Handlungslogik verdankt.36 Fraternite ist das Resultat eines Fraternisierens, sie wird durch Verbrüderung der in eine revolutionäre Aktion involvierten Kämpfer erreicht; sie ist demnach eine andere Spielart des Kürwillens, gerade kein Wesenswille, um Tönnies' Begrifflichkeit aufzugreifen. Fraternite ist ein Begriff des Politischen, nicht der Politik.37 Die Verbrüderung als Stiftung des sozialen Bandes ist mit mehreren gravierenden Problemen behaftet. Verbrüderung ist eine Emphatisierung von Intersubjektivität. Nun lassen sich aber Gesellschaften nicht als Generalisierungen oder unbegrenzte Verkettungen von zwischenmenschlichen Intersubjektivitäten begreifen. Bezeichnenderweise führte die Verbrüderungsemphase der Revolution stets die Morddrohung an die Verräter oder Verbrüderungsunwilligen bei sich. Als Karnpfemphase der im Prozess der Revolution Verbrüderten mag das seinen handlungsleitenden Sinn haben; für die für Gesellschaftsstrukturen unabdingbare Verstetigung kann das jedoch nur Terror bedeuten, und hat es auch faktisch bedeutet, im Verstetigungsversuch sowohl der französi-
35
Ohne dass freilich Tönnies freilich so weit ging wie einige Kommunitaristen, nämlich eindeutig zu werten. F. Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. ND Dannstadt 1963, p. 1416; s. auch Plessners Kritik am überzogenen Gemeinschaftsbegriff in H. Plessner: Grenzen der Gemeinschaft. 2. Auf!. Bonn 1972.
36
Cf. jedoch Jürgen Haberrnas' "verschwisterte Genossen". J. Habermas: Gerechtigkeit und Solidarität.- In: Weibliche Moral, hrsg. v. G. Nunner-Winkler. Frankfurt a. M., New York 1991, p. 225-238, hier p. 232.
:r1
Zu dieser Unterscheidung s. die Beiträge in dem Bd.: Das Politische und die Politik, hrsg. v. Th. Bedorf. Berlin 2010, insbes. Die Einführung von Th. Bedorf, p. 13-37.
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schen wie der russischen Revolution. Die permanente Gewaltbereitschaft oder -aktualität ist nicht in der Lage, diejenige Kontinuität von Gesellschaften zu ermöglichen, die das soziale Band auszeichnet. Nur durch Modalisierung der Aktualität des HandeIns zur Möglichkeit des Handelns, d.h. die Ersetzung von Gewaltaktionen durch Machtstrukturen, kann man das erreichen.38 Der Verbriiderungsemphase fehlt ein weiteres entscheidendes Merkmal, nämlich die Figur des Dritten.39
.. Aus unseren bisherigen Überlegungen zum Markt einerseits zur Verbrüderung andererseits als Stiftung des sozialen Bandes ergibt sich die Ausschau nach einer dritten Möglichkeit, die vermutlich zwischen Markt und Brüderlichkeit angesiedelt sein muss, keineswegs aber auf kommunitaristische Manier von der "Natürlichkeit", sei es der genealogischen oder auch der kulturellen (gemeinsame Sprache und Geschichte als Identitätsgaranten) ausgehen wird, sondern von der Idee eines Kürwillens geleitet sein wird. Dieses Modell muss folgende Bedingungen erfüllen: • Es muss ein soziales Modell sein, d.h. die wesentliche Bedingung erfüllen, die Figur des Dritten zu kennen, • Es muss den Mord und auch eine mörderische Konkurrenz ersetzen durch die Figur der GegenseitigkeitIMutualität, vielleicht sogar der Kooperation, • Es sollte eher vom zoon politikon als vom Atom/lndividuum ausgehen, weil letzteres geradewegs zum Individualismus der Modeme und zum Markt der egoistischen Individuen führt,
38
H. Arendt Macht und Gewalt.5. Auf!. München 1985; K. Röttgers: Spuren der Macht und das Ereignis der Gewalt.- In: Reden von Gewalt, hrsg. v. K. Platt. München 2002, p. 80-
120. J9
Daran kranken auch die "Sozial"philosophien, die den Dritten nicht kennen, weil ihre Grundfigur die der Anerkennung ist, s. Th.. Bedorf. Verkennende Anerkennung. Berlin 2010. Die ausführliche Kritik sowohl des Fraternite-Gedankens und seiner Begriffsgeschichte, sowie auch der angeblkhen Ersetzung von Fratemite durch "Solidarität" muss zukünftigen weiteren Arbeiten überlassen werden.
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• Es sollte eher von Gabe, die nicht aus Mildtätigkeit und Barmherzigkeit herrührt, ausgehen als vom Äquivalententausch. Der Begriff des Zoon politikon gestattet weder eine kommunitaristische Hypostasierung der Gemeinschaft also einen Kollektivismus, gegenüber dem einzelnen Menschen, so als wäre die Polis mehr oder höherwertiger als der Mensch; noch ist das Konzept anthropologisch zu lesen als eine Wesensbestimmung des Menschen, der nur dort eigentlich Mensch wäre, wo er eine Polis hat; denn in Wirklichkeit wissen wir natürlich gar nicht, was der Mensch ist. 40 Zoon politikon stellt vielmehr ab auf die Relationalität der menschlichen Existenzweise. Der Bezug ist das menschliche Leben. Das aber heißt: Das Zwischen der Menschen definiert sowohl den Menschen als Einzelwesen im Ensemble seiner Bezüge, als auch die Polis als das Zusammen der Relationen, die teilen und verbinden zugleich.41 Die hier probeweise vertretene These ist, dass die Tischgenossenschaft das Modell abgibt, das das zugleich trennende und verbindende soziale Band verständlich machen kann. Der Tisch trennt und verbindet die an ihm die Speisen Genießenden (die Genossen). Wenn es sehr einfach ist, Vertrauen, die Metanorm allen sozialen Verkehrs, zu zerstören, so ist es außerordentlich schwer, (verlorenes) Vertrauen (wieder) aufzubauen. Wie gesagt, man kann gewiss nicht, solange Vertrauen noch nicht trägt, vorsichtshalber und begleitend Kontrolle ausüben; denn Kontrolle dort, wo Vertrauen möglich wäre, verhindert oder zerstört gar das Entstehen von Vertrauen, Kontrolle ist Misstrauen. Miteinander zu essen aber ist in vielen Gesellschaften genau das Arrangement, das ein vertrauensvolles Miteinander ermöglicht und vorbereitet.42
Am Tisch herrschen keine Vertragsverhältnisse zum gegenseitigen Vorteil. Hier ist die Aufforderung "Nimm doch noch ein bisschen" naheliegender als <0
41 42
G. Gamm: Der unbestimmte Mensch. Berlin, Wien 2004, bes. p. 4Off., p. 67:"'Niemand weiß, was ein Mensch ist'."; cf. H. Plessner: "Mensch-Sein ist das Andere seiner selbst Sein." H. Plessner: Macht und menschliche Natur. Frankfurt a. M. 1981 (=Ges. Schriften V), p. 225; Plessner nennt das die Unergründlichkeit des Menschen. Zu einer Philosophie des Zwischen s. insbes. J.-L.Nancy: Singulär plural sein. Berlin 2004. Zur sozialisierenden Funktion des Miteinander-Genießens (bis hin zur Kommunion in der Eucharistie) s. K. Röttgers: Kritik der kulinarischen Vernunft. Bielefeld 2009.
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die Frage "Und was gibst du mir dafür?" Dass die Gabe etwas strukturell anderes ist als ein zeitversetzter Tausch, ist von der französischen Ethnographie und Philosophie eindringlich plausibel gemacht worden.43 Selbst wenn der Tausch aus der Reziprozität von Gabe und Gegengabe hervorgegangen sein sollte, entwertet das die Logik der Gabe nicht zu einer bloßen Vorform des Tausches. Die Tischgenossenschaft der gemeinsamen Mahlzeit ist ein Lehrstück für diese These. Der Tisch, der bei der Mahlzeit zwischen uns steht, uns trennt und zugleich verbindet, ist ein Zwischen, ein Medium, er ist der Spiel-Raum unserer Beziehungen. Und damit kommen wir zu der Bedeutung des Parasiten am Tisch.. 44 Der Parasit ist eine der für Soziales konstitutiven Figur des Dritten. Wären nämlich die gewiss intensiv und extensiv steigerbaren Beziehungen der Ausnutzung anderer immer von der Art des Säuglings an der Mutterbrust, kämen wir niemals bei sozialen Beziehungen an. Soziale Beziehungen sind keine
quantitative oder qualitative Steigerung von Alteritätsbeziehungen oder von Intersubjektivität. Weder Verkettung noch Intensivierung von Dyaden bringen Gemeinschaft oder Gesellschaft hervor. Dazu bedarf es des Dritten, des eingeschlossenen oder des ausgeschlossenen; denn auch der Ausgeschlossene ist als Ausgeschlossener eingeschlossen: sei es als Drohung, sei es als Verlockung. Der Parasit als Dritter einer gelingenden Dyade profitiert von ihr und stabilisiert sie zugleich, m.a.W. die Beziehung profitiert auch von ihm. Der Tisch zwischen uns, der uns auf Abstand hält und uns verbindet, manifestiert die permanente Möglichkeit des Dritten, der sich zu uns setzen könnte; kein Tisch ist so klein, dass nicht auch noch ein Dritter an ihm Platz fände. Keine Paarbeziehung ist so dicht, dass nicht ein Dritter darin Platz hätte, sei es auch nur Kind oder Hund. Wenn der Dritte als Beziehungsparasit Sozialität stiftet, dann ist sein bevorzugter Ort der Tisch; denn das war auch in der griechischen Antike der Ort des Parasiten: er saß dabei und nahm sich seinen Teil; beim Götß
M. Mauss: Die Gabe. 2. Aufl. Frankfurt a. M 1984; Ethik der Gabe, hrsg. v. M. Wetzel u. J.M. Rabate. Berlin 1993; M. Godelier: Das Rätsel der Gabe. München 1999; dazu: GiftMarcel Mauss' Kulturtheorie der Gabe, hrsg. v. St. Moebius. Wiesbaden 2006.
.. Die grundsätzliche Bedeutung der Figur des Parasiten für Gesellschaft, Politik und Ökonomie hat Michel Serres herausgearbeitet, M. Serres: Der Parasit. Frankfurt a. M. 1981.
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teropfer erfüllte er dasjenige Ehrenamt, das mit den Göttern speisen durfte und auf dieses Weise dafür sorgte, dass nichts übrig blieb, was als eine Zurückweisung der Speisen durch die Götter hätte gedeutet werden können. Michel Onfray, in seiner Charakteristik von Grimod de la Reyniere, spricht den bemerkenswerten Satz aus. "La table est veritablement le lieu metaphysique, l'espace qui libere une ontologie", allerdings ohne ihm eine über die Charakterisierung Grimods hinausgehende Ausdeutung zu geben.45 Allerdings wäre zu erwähnen, dass bereits Brillat-Savarin die Tafel als konfliktfreien Typ von Gesellschaft en miniature ansah und damit als ein Modell für Gesellschaft, wie sie sein sollte: "Die Feinschmeckerei ist eines der stärksten gesellschaftlichen Bande; sie breitet täglich jenen geselligen Geist aus, der die verschiedenen Stände vereinigt, sie mit einander verschmilzt, die Unterhaltung belebt und die Ecken der gebräuchlichen Ungleichheit abschleift."46 Nun ist es sicher nicht möglich, das Modell der Tischgenossenschaft, die ja die Basis der gemeinsamen Sinnlichkeit voraussetzt, sonst könnte man ja gleich die Konferenz zum Modell wählen, direkt auf die Organisierung der Weltgesellschaft zu übertragen.47 Es wäre eine schale und abstrakte Vorstellung zu sagen, dass ja alle Menschen in der Sinnlichkeitsbedingung, essen zu müssen und es auch zu tun, miteinander verbunden seien. Sie sollen (normativ) auch nicht so tun, als säßen sie allesamt an einem gemeinsamen Tisch.48 Die Speisen und das, was die Kulturen für genießbar halten, ist zu unterschiedlich und z. T. definiert sich die Grenze zwischen dem Eigenen und dem Fremden gerade auch durch die Sinnlichkeit der Speisen, Getränke und Gerüche. Nicht durch Universalisierung darf man sich die Struktur des sozialen Bandes in der globallsierten Welt vorstellen. ~
M. Onfray: La raison gourmande. Paris 1995, p. 44.
46
J. A. Brillat-Savarin: Physiologie des Geschmacks. ND Wien, Köln 1984, p. 171.
<7
<8
I. Därmann: Kants Kritik der Tischgesellschaft und sein Konzept der HospitaIität.- In: Denkwege des Friedens, hrsg. v. A. Hirsch u. P. Delhom, p. 364-386, sowie dies.: Die Tischgesellschaft.- In: dass. Bielefeld 2008, p. 15-41. Das ist auch die Abstraktheit des Projekts "Weltethos". Entweder es formuliert wirklich das, was allen Moralen gemeinsam ist oder sein könnte, dann ist es zu allgemein und abstrakt, als dass es moralisch motivierende Kraft besitzen könnte, oder es ist doch nur der Oktroi einer Moral für alle anderen, was diese anderen ebenfalls nicht motivieren wird.
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Aber wie haben wir uns dann eine Struktur vorzustellen, deren Allgemeinheit nicht auf Universalisierung oberster Prinzipien beruht? Wie können wir uns orientieren, wenn wir nicht den Blick von oben haben können, d.h. von den obersten Grundsätzen, die als Prinzipien sowohl der Ableitung unterer Normen und Handlungsrichtlinien dienen können als auch zur verbindlichen Kritik beklagenswerter Realitäten? Die Antworten auf diese Fragen liegen sowohl
in der Philosophie als auch in der Realität bereits vor. Diese werden wir in den abschließenden Bemerkungen kurz skizzieren.
.. Die nun abschließend vertretene These ist es, dass es die Netzstruktur ist, durch die der Zusammenhalt ohne Einheit gedacht werden kann. Wir haben uns also die Weltgesellschaft weder, wie oben ausgeführt, als eine Riesenhierarchie noch als einen großen, virtuellen Tisch vorzustellen, sondern als eine miteinander vernetzte Struktur solche Zwischenräume, die wir als Tischgenossenschaft veranschaulicht haben. Das führt dazu, die Suche nach dem Einen aufzugeben, das alle Menschen verbindet; denn dieses eine wäre sehr abstrakt und seine Verbindlichkeit entsprechend gering. Wichtiger wäre es, die jeweiligen Zusammenhänge etwa von je einmaligen Kulturen zu stärken und zugleich die spezifischen Verbindungslinien zu den anderen friedvoll auszubauen; denn durch Offenheit halten auch die Kulturen sich selbst lebendig, nicht durch Abschluss und Verfeindung nach außen.49 Das Denken des Netzes ist in der Philosophie auf vielfältige Weise vorbereitet worden. Genannt seien hier vier Tendenzen50: 1. Kritik des Überflugs; 2. Kritik des "Transzendentalen Voyeurismus", 3. Rhizomatisches Denken, 4. Labyrinthik.
•• S. P. Huntington: Kampf der Kulturen. München, Wien 1996; d. Amartya Sens Kritik daran: A. Sen: Die Identitätsfalle. München 2007; zur Notwendigkeit der Offenheit für das Leben von Kulturen s. A. Hetzel: Zwischen Poiesis und Praxis. Elemente einer kritischen Theorie der Kultur. Würzburg 2001. 50
Selbstverständlich gibt es weitere, insbesondere etwa Wittgensteins Philosophie der Sprachspiele, die durch "Familienverwandtschaften", nicht aber durch einen allem zugrunde liegenden Begriff des Spiels geklärt wird; diese ist dann von Lyotard aufgegriffen und auf andere als sprachphilosophische Felder ausgedehnt worden.
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1. Die Kritik des Überflugs ist erstmals von Immanuel Kant formuliert
worden. Das Überfliegen hat bei ihm die Bedeutung eines Denkens, das sich von den Möglichkeits-Bedingungen menschlichen Denkens befreit und Aussagen wagt, die jeder Erkenntnisgrundlage entbehren, z.B. spezifische Aussagen über die Qualitäten Gottes. Dem Menschen ist ein Wissen davon prinzipiell versagt. - Bei dem französischen Philosophen des 20. Jahrhunderts Maurice Merleau-Ponty bekommt die Kritik des Überflugs ("survol") eine erweiterte Bedeutung. In seinem nachgelassenen Werk
"Das Sichtbare
und
das
Unsichtbare"51
nennt er
KouJ.lo8EWQ6C; denjenigen zur Figur gewordenen Anspruch, den Punkt identifizieren zu können, von dem aus alles in der Welt und im Bezug auf sie konstruiert oder rekonstruiert werden kann. Doch die avancierteste Wissenschaft (für ihn die Physik) weiß heute, dass bestimmte Aussagen nur von einem bestimmten Beobachtungsgesichtspunkt aus Sinn machen, von einem anderen aus aber sinnlos werden. Daher ist die Fiktion des (potentiellen) Alleswissers (des KouJ.lo8EwQ6C;) eine vorwissenschaftliche, eine naive Fiktion, die eine falsche Ontologie beansprucht. Die Arbeit des Wissenschaftlers besteht nicht darin, diesen fiktiven Punkt zu finden oder zu konstruieren, von dem aus die Einheit der Welt empirisch darstellbar wäre, sondern methodisch an einer Perspektivenkonkordanz zu arbeiten, die nicht die Einheit des Ganzen voraussetzt, sondern nur die jeweilige Kompatibilität der Elemente prüft. Und das betrifft für Merleau-Ponty gerade auch die leibhafte Zugehörigkeit des Erkennenden zur Welt. Wer das, sei es als Physiker, sei es als Psychologe, in seiner Arbeit anerkennt und berücksichtigt, der hat "die illusion der absoluten Überschau verloren."52 Oder wenn man denn - Philosophen lieben es - den Überflug tatsächlich startet, dann doch stets im Bewusstsein der Inhärenz, d.h. dass auch der Überflug nur eine Perspektive unter vielen ist. Der Erkennende ist und bleibt der Welt der Dinge verhaftet; sein Sehen ist nie "reines" Sehen, sondern immer ein
51
München 1986.
52
L.
C.,
p. 47.
94
Kurt Röttgers Sehen (dem Ertasten analog) von (sichtbaren) Dingen, die sich eben einem anderen Sehen anders darstellen. 2. Der "Transzendentale Voyeur" ist als einer bestimmt, für den gilt: "Er beobachtet alles und kann seinerseits nicht beobachtet werden."53 Er kann nicht, aber er braucht auch nicht beobachtet zu werden, weil er als gedachter Einheitspunkt der Transzendentalen Apperzeption alles Beobachten in sich selbst simulieren kann. Für ihn ist die vermeinte Einheit der Welt nicht mehr kosmologisch oder ontologisch fundiert, sondern erkenntnislogisch.54 Zugleich ist es eine Immunisierung; denn diese Transzendentale Apperzeption, dieses "Ieh denke", das nach Kant alle Vorstellungen stumm begleitet, ist nicht beweisbar, weil nicht beobachtbar (wie die unsterbliche Seele im Inneren des sterblichen Körpers), sondern allenfalls im Vollzug aufweisbar. Aber das wiederum ist kein Wahrheitsbeweis, da alle illusionen und Lügen ebenfalls im Vollzug aufweisbar sind. 3. "Rhizom" ist das Stichwort, das Gilles Deleuze und Felix Guattari im Vorwort zum zweiten Band ihres großangelegten Werks "Kapitalismus und Schizophrenie"55 in die Debatte eingebracht haben. Die Figur der Rhizomatik ist der Versuch, eine Philosophie der radikalen Immanenz zu entwerfen. In der Botanik wird unter einem Rhizom ein Wurzelgeflecht verstanden, bei dem weder die "eigentliche" Wurzel (Stammwurzel oder dgl.) identifizierbar ist, sondern alles mit allem irgendwie, d.h. ohne bestimmte Ordnung, zusammenhängt, noch die oberirdischen Teile morphologisch eindeutig von den unterirdischen unterschieden sind. Das Unterirdische setzt sich oberirdisch modifiziert fort. Deleuze und Guattari wählen diese Figur, um ein Denken "ohne General" zu konzipieren, ein Denken ohne Hierarchie, wie es klassisch in der Philosophie in der Arbor porphyriana Gestalt gewonnen hatte. Das rhizomatische
53
K. Röttgers: Transzendentaler Voyeurismus, 1. c., hier p. 47.
54
K. Röttgers: Die Kosten der Einheit.
http://www.phil-inst.hu/highlights/pecs_kant/Kosten der Einheit.pdf 55
G. Deleuze/ F. Guattari: Rhizome. Paris 1976, verändert auch in: dies.: Mille Plateaux. Paris 1980 [die deutschen Übers.sind nicht zuverlässig].
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Denken56 kennt keinen Transzendentalen Voyeur, der alles BeobachtenKönnen transzendental beobachtet oder alles Handeln in Autonomie anleiten könnte. Zugleich ist es ein Denken, das wegen seiner radikalen Immanenz jegliche transzendentale Unterscheidung von Subjekt und Objekt unterläuft und die damit verbundene Abbildung des eine auf das andere. Denn bereits das wäre ja der Anfang einer Hierarchiebildung, dass sich das Subjekt als autonom setzt und das Objekt, sei es erkennend, sei es handelnd bestimmt. Schon Friedrich Nietzsche hatte die Weltverdopplung kritisiert, die darin besteht, ein innerliches Sprechen des Subjekts den objektiven Sprachäußerungen voranzustellen, einen Täter anzunehmen, bevor er tätig etwas tut, bzw. einen Blitz, bevor er zu blitzen beginnt. Alle diese Phänomene gibt es nur im Geschehen, nicht vor ihm. Von der griechischen Philosophie haben wir es ererbt, den Einen Ursprung von allem, die Arche, zu suchen und zu finden, sowie das Eine Große Ziel, das Telos, auf das alles bunte Geschehen in dieser Welt hinausläuft. Diese Präokkupation des Abendlandes führte auch zu dem kulturellen Missverständnis zwischen griechischer und minoischer Kultur in der Interpretation des Labyrinths. 4. Das Labyrinth der Minoer war ursprünglich ein Tanz,57 der zwei kosmische Prozesse in einen komplex strukturierten und rhythmisierten Bewegungsablauf integrierte. Der griechische Architekt Daedalos baute daraus in Knossos (Kreta) ein "steinhartes" Gehäuse.58 Bemerkenswert ist dabei, und das ist das Grundmissverständnis in der KuIturbegegnung von Griechen und Minoern, dass die Griechen von Anfang an und wir Abendländler haben es ihnen seither nachgesprochen - behaupteten, dass man sich im Labyrinth verirre, während alle antiken 56
Cf. auch W. Welsch: Vernunft. Frankfurt a. Ml996, bes. p. 355ff.
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H. Kern: Labyrinthe. 3. Auf}. München 1995, dem folgt K. Röttgers: Arbeit am Mythos des Labyrinths.- In: Das Daedalus-Prinzip, hrsg. v. 1. Kais. Berlin 2009, p. 13-37; cf. auch R. Barthes: Les mols du labyrinthe.- In: Cartes et figures de la terre (Ausstellungskatalog des
Centre Pompidou). Paris 1980, p. 94-103. 58
Formulierung im Anklang an M. Webers Bezeichnung des Kapitalismus als "stahlhartes" Gehäuse, zugleich nimmt es die Grundbedeutung des Labyrinths (labyr+inthos) als Steinhausauf.
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Kurt Röttgers Labyrinthe und ihre bildliche Darstellungen Einweglabyrinthe zeigen, in denen man sich gar nicht verirren konnte, weil keine Entscheidungen fällig und daher keine Fehlentscheidungen möglich waren. Durch die Komplexität des Bewegungsrhythmus in der Struktur des Labyrinths, wenn es steinerne Gestalt angenommen hatte, verlor man allerdings die Orientierung an Arche und Telos, und das nannten die Griechen: verirren. Wie bei jedem Tanz musste man sich der Bewegung anvertrauen und durfte nicht krampfhaft nach Arche und Telos oder nach transzendentem oder transzendentalem Sinn suchen. Das Mißverständnis zwischen Griechen und Kretern ging so weit, dass der Architekt Daedalos sich im selbstgebauten Labyrinth gefangen glaubte und den Überflug startete. Thm reichte der minoische Durchblick (perspektive) nicht aus, er benötigte den Über-Blick. Heute ist es eine berechtigte Frage, ob wir es uns wirklich noch erlauben können, der griechischen Arche!TelosObsession zu folgen, oder ob nicht vielmehr unsere Wissens- und Handlungsorientierungs-Strukturen inzwischen labyrinthisch geworden sind, so dass die angemessene Haltung diejenige einer Performanz wäre, oder wie Novalis es sinngemäß formulierte: einer Philosophie des Übergangs statt einer Philosophie des Anfangs. Allerdings sind unsere Labyrinthe nun in der Tat Irrgärten geworden. Jeder Wissensfortschritt eröffnet mehr neue Fragen als dass er alte beantwortet, und jedes Handeln sieht sich der Veränderung der Parameter der Handlungsorientierung noch während des Handlungsvollzugs ausgesetzt, so dass wir es mit einem Labyrinth zu tun haben, das in genau dem Maße an Komplexität zunimmt, in dem wir ihm zu entkommen suchen. Tatsache aber ist zudem, dass wir kaum noch der Hierarchie vertrauen, sei es der alleinseligmachenden monotheistischen Kirche oder der alleinseligmachenden monotheistisch strukturierten Vernunft. Stattdessen ist es das Netz, das in einem profilierenden Labyrinth die angemessene Orientierungsbasis bietet. Es schreibt uns nicht den einen sicheren und methodischen Weg vor, sondern vielfältige Alternativen in einer rhizomatischen Struktur. Für Philosophen ist es schmerzhaft, dieses einzugestehen, strebten sie doch danach eine auf unbegrenzte Universalisierung angelegte Ethik zu
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entwerfen, die die Menschheit eint und für jeden Menschen gilt. Was aber nach der Anerkennung der Tatsache der Netzstruktur der WeltgeseIlschaft bleibt, ist der Gedanke der Kompatibilitätspflege diverser Moralen. Das ist gewiss nicht nichts. Und es ist mehr als sowohl ein Exzess des Marktes als auch ein Exzess der Brüderlichkeit je versprechen könnte. Die Genossenschaft am "Tisch" oder im Netz der "Tische"59 bietet das Modell des sozialen Bandes und eines Zusammenhalts, der einerseits den Markt konsolidieren könnte und andererseits die Brüderlichkeit in Grenzen hält.
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Es geht natürlich nicht um wirkliche Tische und wirkliche Mahlzeiten. sondern ihre Struktur dient als verallgemeinerbares Modell für eine nicht auf Tausch und nicht auf Brüderlichkeit angewiesene soziale Verkehrsform, die sich gerade auch global als Orienlierungsmodell bewähren könnte.
Über den Autor
Prof. Dr. Kurt Röttgers, Jahrgang 1944 •
1964-1969 Studium der Philosophie, Germanistik und Allgemeinen Sprachwissenschaft in Bonn und Bochum
• 1970-1983 Wissenschaftlicher Assistent an der Universität Bielefeld • 1972 Promotion zum Dr. phil. in Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum • Seit 1973 Mitherausgeber des "Historischen Wörterbuchs der Philosophie" • 1981 Habilitation in Philosophie an der Justus-Liebig-Universität Giessen • Seit 1984 Professor für Philosophie, insbesondere Praktische Philosophie an der FernUniversität Hagen
Intersubjektivität und die Beharrlichkeit der Moral in der Wirtschaft Bernd Remmele
Einleitung Intersubjektivität ist ein Konzept das zunehmend und an verschiedenen Stellen in das ökonomische Denken eindringt (vgl. Priddat 2010). In der Vergangenheit war es dort vornehmlich nur insoweit zuhause, als es sich auf individuelle Kalküle (z. B. principal-agent, moral hazard) reduzieren ließ. Dort wo dies schwierig ist, z. B. bei (voraussetzungslosem) Vertrauen, bei ,inequity aversion' oder bei mit Kosten verbundener Strafneigung, bleiben die ökonomistischen Erklärungen hinter den Phänomenen zurück. So zeigen sich in bestimmten alltäglichen und experimentellen Fällen Regulierungen, die, wenn man sie theoretisch entwickeln würde, dem Homo-Oeconomicus-Test (vgl. Homann/Pies 1994) nicht standhalten würden. Der Versuch soziales Verhalten auf individuelle Kalküle zu reduzieren folgt einer langen Tradition modernen Denkens, die insgesamt versucht Intersubjektivität auf eine in sich geschlossene Subjektivität zurückzuführen (zur Kritik an dieser Tradition vgl. Habermas 1988)1. Es gibt aber zunehmend Belege dafür, dass es keinen Primat einer sich selbst entfaltenden individuellen Subjektivität gibt. Vielmehr spricht einiges dafür, dass der menschliche Geist von vorneherein auch auf Intersubjektivität angelegt ist.
1
Habermas entwickelt dieses Problem an anderer Stelle anhand der ambivalenten Bestimmung .sozialen Handelns' bei Max Weber (Habermas 1981, 377ff; vgl. hierzu Goldschmidt/Remmele 2004)
T. Nguyen, M ensch und Markt, DOI 10.1007/978-3-8349-6728-2_6, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Die Anerkennung der grundlegend intersubjektiven Dimension der individuellen Ontogenese impliziert so zwar eine fundamentale Kritik von Annahmen hinsichtlich der Rolle der Rationalität, des modernen Selbstbewusstseins und des Individualismus (Rommetveit 1998: 354).2 Das heißt aber umkehrt nicht, dass der individualistische Ansatz generell falsch ist, sondern, dass Kontexte in denen ein solches Verhaltensmodell angebracht ist, von solchen unterschieden werden müssen in denen die Interessen bzw. die Intentionen anderer in spezifischer Weise Berücksichtigung finden," Diese Dualität macht somit einiges kompliziert. So ist es vor diesem Hintergrund notwendig sich die sozial-kognitiven Entwicklungsprozesse und sozialen Lernbedingungen genauer anzusehen. Denn diese Prozesse sind durch diese Dualität weitaus komplexer und z. T. konfliktträchtiger als etwa die Annahme, wir würden einen schlichten Kategorienfehler begehen, wenn wir unsere angeborene Herdenmoral auf moderne Marktprozesse anwenden (so etwa Hayek 1976). Wesentliche Aspekte der (möglicherweise fehlerhaft) angewandten Norm sind kein Überbleibsel unser sozialevolutionären Vergangenheit - die ohnehin im Dunkeln liegt bzw. ganz verschiedene Ausprägungen zeigt, je nachdem welche Affenspezies man als Modell für die humanoide Horde wählt (Haraway 1995) - sondern letztlich Ergebnis sozio-moralischer Lernprozessen unter modernen Bedingungen.
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Dies ist nicht nur relevant in anthropologischer Hinsicht sondern auch in methodologiseher. Intersubjektivität steht im Kontrast zur monologischen Subjektivität, die für die Tragfähigkeit des methodologischen Individualismus als allgemeine Methode der Erklärung sozialen Verhaltens nicht gänzlich neutral ist. In Verbindung mit bestehenden explanatorischen Grenzen des Modells, die sonst als ,Anomalien' behandelt werden, erfordert dieser Paradigmenwechsel eine Relativierung des methodologischen Individualimsus und ggf. des entsprechend selbst-bezüglichen Präferenz- und Nutzenkonzepts. Folger and Cropanzano (2001) untersuchen z. B. die intersubjektiven auf Fairness bezogenen Schlussweisen in realen Interaktionszusammenhängen, z. B. in Organisationen. Entsprechende Urteile basieren hier neben dem normativen Hintergrund auf der Analyse der Zurechenbarkeit auf den anderen. Hierzu werden mehr oder weniger implizit kontrafaktische Analysen angestellt: was wäre, wenn die Situation anders gewesen wäre, hätte der andere anders handeln können, wenn er gewollt hätte etc.
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Darüber hinaus müssen aus ökonomischer Perspektive weiterhin systemische Zusammenhänge unterschieden werden, die (im Moment der einzelnen Aktion bzw. Interaktion) einem intentionalen Zugang gar nicht offen stehen, da sie sich aus der komplexen Vermittlung einer Vielzahl von einzelnen Aktionen bzw. Interaktionen ergeben. Eine legitimatorische Auseinandersetzung mit dem Markt als System erfordert daher eine von der einzelnen (Markt-)Handlung abstrahierte Reflexion. Im Folgenden geht es daher zuerst um die mehrseitige anthropologische Bestimmung der Dualität aus Subjektivität und Intersubjektivität. Dann betrachten wir die Abhängigkeit der Ausprägung der beiden Teilstrukturen von den jeweiligen Bedingungen und im Hinblick auf deren lernbezogene Entwicklungsfähigkeit. Daran schließt die Frage nach den Bedingungen für die Entwicklung hin zur heute üblichen Entlastung von normativen Erwartungen wirtschaftlicher Aktivitäten an. Abschließend zeigt sich, dass der Zusammenhang insgesamt widersprüchlich bleibt, da der Markt von der Reproduktion normativer geprägter Situationen abhängig ist und die systemischen Gegebenheiten einen darin nicht gegebenen reflexiven Zugang erfordern.
Die Unmittelbarkeit des Anderen Auch wenn im Mainstream des modernen Denkens, d. h. insbesondere seit Hobbes und Descartes, das monologische Subjekt im Vordergrund stand, so finden sich immer wieder Ansätze einer Erweiterung in Hinsicht auf eine dialogische bzw. intersubjektive Grundlegung. Dass sich Menschen einander nicht nur strategisch und rein kognitiv begegnen ist daher nicht neu. Am Beginn seiner ,Theorie der ethischen Gefühle' führt etwa Adam Smith in das Phänomen des Mitgefühls und dessen spezifische Vorstellungskraft ein. Demgemäß nehmen wir nicht nur analytisch die Position eines anderen ein, sondern sind in einer geradezu physischen Form in dessen Position: "Wenn wir zusehen, wie ... jemand gegen das Bein oder den Arm eines anderen zum Schlage ausholt und dieser Schlag eben auf den anderen niedersausen soll,
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dann zucken wir unwillkürlich zusammen und ziehen unser eigenes Bein oder unseren eigenen Arm zurück ... Wenn der Pöbel einen Mann angafft, der auf dem schlaff gespannten Seile tanzt, dann dreht und wendet sich jeder einzelne von ihnen unwillkürlich und balanciert seinen eigenen Körper so, wie er es den Seiltänzer tun sieht und wie er es seinem Gefühle nach selbst tun müsste, wenn er in der Lage des letzteren wäre." (Smith 1759/2010: 6f) Smith betont, dass Menschen dies natürlicherweise und unwillkürlich ('unwittingly') tun und dies deckt sich, wie wir im Folgenden sehen, mit aktuellen neurobiologischen Erkenntnissen. Auch später etwa in der phänomenologischen Tradition finden sich Ansätze, die Fundamentalität der Intersubjektivität deutlich zu machen (zur ursprünglich problematischen Ambivalenz des Begriffs der Intersubjektivität in der Phänomenologie vgl. Welz 1996). Vor allem hebt Martin Buber die Unmittelbarkeit der Beziehung zwischen Ich und Du und die fundamentale Differenz dieser Beziehung zum Verhältnis von Ich und Es hervor: "Denn die eigentliche Grenze, freilich eine schwebende, schwingende, führt weder zwischen Erfahrung und Nicht-Erfahrung, noch zwischen Gegebenem und Ungegebenem, noch zwischen Seinswelt und Wertwelt hin, sondern quer durch alle Bezirke zwischen Du und Es: zwischen Gegenwart und Gegenstand." (Buber 1977:19; vgl. auch Levinas 1983)4 Forschungen der letzten Jahrzehnte bestätigen die von Smith angedachte grundlegende Form der geradezu physischen Perspektivenübernahme. Insofern sich bereits bei Neugeborenen und Kleinkindern motorische bzw. .emotionale' Verbindungen zu einer Bezugsperson zeigen, liegt die Vermutung nahe, dass es sich um eine in ihren Ansätzen angeborene Fähigkeit der ,alter-zentrischen' Beteiligung an bestimmten (lnter)Aktionen handelt. Bereits als klassisch lässt sich hierbei die Entdeckung der Fähigkeit von Neugeborenen bezeichnen, eine Reihe verschiedener mimischer Gesten (z. B. Herausstrecken der Zunge) differenziert nachzuahmen, und zwar ohne dass sie zuvor je ihr eigenes Gesicht im Spiegel gesehen hätten (Meltzoff • Analog diskutiert Rommetveit (1998:366) das 'reflective detachment' der intersubjektiven Ich-Du-Kommunikation von der strategischen Ich-Es-Haltung.
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1993). Weitere Forschungen zum Sozialverhalten von Neugeborenen und Kleinkindern haben zur Postulation eines eingeborenen ,virtuellen Anderen' geführt: "a virtual-other mechanism which complements the infant's bodily seH-feeling" (Braten 1998: 375). Mit diesem Anderen können sogar Interaktionen geübt werden, wenn kein realer Anderer gegenwärtig ist. Im Kern dreht sich Intersubjektivität um das Verstehen von Intentionen (in einem weiten Sinn) anderer Personen. Nur vor dem Hintergrund der Einsicht in spezifische Erwartungen anderer kann während der individuellen Ontogenese die normative Inklusion in die Familie und daran anschließende moralisch (teil)integrierte Gruppen erfolgen. Aktuelle Forschungen, vor allem um das Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie, beziehen sich u. a. auf das Verständnis von Intentionalität und die Bevorzugung sozial förderlichen Vorhaltens durch Kleinkinder (z. B. Buttelmann et al. 2009; Harnlin et al. 2007; Tomasello et al. 2005). Kinder im Alter von ungefähr 18 Monaten unterstützen beispielsweise Personen in einer Weise, die nahelegt, dass sie sowohl deren Intention verstehen wie auch eine Fehlannahme dieser Person hinsichtlich relevanter Begebenheiten, deren korrekte Form die Kinder beobachtet haben, unterstellen." Ko-Intentionalität ist dabei nichts weniger als die Basis der evolutionären Nische des Menschen, d. h. von Kultur. Betrachtet man die historische Vielfalt und Flexibilität kultureller Arrangements, wird deutlich, dass das spezifische soziale Lernen der Einzelnen in einem sozialen Zusammenhang wesentlich für Kultur ist. - Es handelt sich hierbei um eine Fähigkeit, die Schimpansen nicht haben. - Um Handlungen und Kommunikationen in ihren sozialen Kontext zu verstehen, ist das Verstehen der Intentionen entscheidend. Nur so kann man Ziele und die verwendeten Mittel unterscheiden und kooperativ in Hinsicht auf ein geteiltes Ziel mit (flexiblen) Mitteln 5
Binmore (2005)betont die evolutionäre Bedeutung von Fairness auch als Form der Wahrnehmung sozialer Regelstrukturen. Fairness ist für ihn ein Mittel um zwischen verschiedenen sozialen (Nash)Gleichgewichten zu unterscheiden, wobei die egalitärere Verteilung präferiert wird. Ein wichtiger Aspekt seiner Argumentation richtet sich dabei auch gegen den methodischen Individualismus, denn für den Einzelnen sind die jeweiligen Strategien ja schon optimal. Die individuelle Entwicklung und soziale Durchsetzung von derartigen Fairnesskonzepten ist kaum ohne die spezifische Form der Intersubjektivität vorstellbar.
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kooperieren. "understanding the behaviour of other persons as intentional and/or mental directly enables certain very powerful forms of cultural learning and sociogenesis, and these forms of social learning are directly responsible for the special forms of cultural inheritance characteristic of human beings" (Tomasello 1999: 25). Tomasello hat den Zusammenhang zwischen der intentionalen Form menschlichen Lernens und dessen Rolle für die Evoluierbarkeit menschlicher Gesellschaften deutlich herausgestellt. Während das Lernen bei anderen Spezies emulativ verläuft, d. h. durch Reproduktion bestimmten Verhaltens, zeichnet sich menschliches Lernen dadurch aus, dass es nicht (nur) um Nachahmung geht, sondern dass auch die (unterstellte) Intention des Beispielgebers mitgeführt wird; d. h. das Lernen wird bereits über die fundamentale Unterscheidung zwischen Mittel und Zweck prozessiert. Und diese Unterscheidung deutet bereits auf eine wesentliche Offenheit: Man kann einen Term festhalten und den anderen verändern. Man kann Wasser mit den Händen, mit einem Eimer, mit einer Pumpe etc. schöpfen. Man kann einen Stock als Keule, Hebel, Zeigestab etc. benutzen. In Hinsicht auf Hirnstrukturen wird die fundamentale Intersubjektivität häufig auf die sogenannten Spiegelneuronen bezogen. Spiegelneuronen sind Hirnregionen, die in derselben Weise ,feuern', wenn eine bestimmte Handlung selbst durchgeführt wird oder wenn diese bei einem anderen beobachtet wird. Auf neuronaler Ebene ist der Andere und sein Handeln damit in ähnlicher Weise ,präsent', wie man es für sich selbst ist. Rizzolatti/Craigero (2004: 119) beziehen sich direkt auf Adam Smith in ihrer Analyse der Bedeutung von Spiegelneuronen für Empathie (vgl. auch Khalil 2007). Auch bei Kleinkindern wurden entsprechende Untersuchungen mit analogen Ergebnissen durchgeführt (z. B. Hoehl/Striano 2008). Der Andere ist somit von Anfang an fundamentaler Teil unserer Wirklichkeit bzw. Wirklichkeitskonstruktion. D. h. angesichts dieser grundlegenden intersubjektiven Strukturen kann man, wie bereits erwähnt, nicht von einem ontogenetischen Primat der in sich geschlossenen Subjektivität gegenüber der intersubjektiven Form (der Kopräsenz eines realen oder virtuellen anderen) aus-
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gehen," Entsprechend hat sich in den vergangenen Jahren das Verständnis der menschlichen Ontogenese, d. h. die Perspektive auf die sozio-kognitive individuelle Entwicklung, stark verändert. Während das moderne Standardverständnis von einer in sich geschlossenen Subjektivität ausging, die sich zunehmend er sozialen und materiellen Umwelt öffnet, entwickelt sich mittlerweile ein Konzept fundamentaler Intersubjektivität, die die Grundlage für das Hineinwachsen in den allgemeinen sozialen Rahmen und damit in eine gemeinsame Umwelt darstellt. Im Rahmen der individualistischen bzw. monologischen Tradition der westlichen Philosophie des Geistes war man gewöhnt Neugeborene als geschlossene Systeme zu betrachten, die ihre sozialen Beziehungen in Hinsicht auf ihre Bedürfnisse und ihre Abhängigkeit von sorgenden Bezugspersonen entwickeln. Noch Piagets Ansatz ist hiervon sowohl in Hinsicht auf die physische wie die soziale Welt hin deutlich geprägt und drückt sich u. a. in der vom ,Egozentrismus' ausgehenden allgemeinen Entwicklungstendenz der ,Dezentrierung' aus (z. B. Piaget 1973,1978). Im Rahmen dieser geistigen Tradition waren die grundlegenden normativen Strukturen entsprechend angelegt auf der Basis von Eigeninteresse und Macht sowie deren Rationalisierung (vgl. z. B. Taylor 1983: 14ff). Der Blickwechsel ist damit auch für die Entwicklung der Struktur von Normativität von Bedeutung. Diese kann nicht mehr prinzipiell auf der mehr oder weniger abstrakten Rationalität individueller Akteure aufgebaut werden. In diesem Verständnisrahmen erscheinen die jeweiligen sozialen Verhältnisse als Teil der allgemeinen Rahmenbedingungen, an die sich das Individuum in Hinsicht auf die Verwirklichung der eigenen Interessen lediglich anpasst (vgl. TurieI1983: 6f). Vor dem Hintergrund der neuen Erkenntnisse muss dieser Ansatz erweitert werden. Der Einzelne ist von vorneherein (auch) auf eine spezifische soziale Integration und letztlich eine prosoziale Haltung eingestellt.
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Günther (1976) hat aufbauend auf die hegelsche Analyse des Selbstbewusstseins dessen notwendigen logischen Zusammenhang mit dem 'Du' entfaltet.
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Der Dualismus der sozialen Einstellungen Die sich hieraus ergebende duale Entwicklung findet sich in der Differenzierung der Handlungstypen durch Habermas (1981: 380ff) wieder: dieser unterscheidet zwischen instrumentellem bzw. strategischem Handeln einerseits und verständigungsorientiertem Handeln anderseits. Der transzendental-pragmatische Kern der Verständigungsorientierung stellt dabei eine formale ethische Struktur für die potentielle Anerkennung der Position anderer dar (zum weiterentwickelten Konzept der intersubjektiven Anerkennung vgl. Honneth 2010). Die Aktualisierung der jeweiligen Haltung hängt dabei stark von der Situation ab. So zeigen sich im Rahmen der Versuchsaufbauten der Verhaltensökonomik unterschiedliche Verhaltensweisen in Abhängigkeit von den jeweiligen Bedingungen. Vor diesem Hintergrund schließen Fehr/Schmidt (2005: 59) "the most important heterogeneity in strategic games is the one between purely selfish subjects and subjects with a preference for fairness or reciprocity." Fairness, kollaborative Einstellungen und damit einhergehende spezifische Wahrnehmung der jeweiligen Situation sind somit zumindest unter bestimmten Bedingungen von Bedeutung. Unter anderen Bedingungen zeigen sich dagegen überwiegend eigennützige bzw. kompetitive Strategien. Wir leben somit gleichsam in ,zwei Welten'; dieselben Menschen, die sich kooperativ in bestimmten Situationen (z. B. im Ultimatum-Spiel oder bei ,third party punishment games') verhalten, zeigen eigennützige Handlungsschemata unter veränderten Rahmenbedingungen (vgl. Smith 2003: 70f; Tyler/Blader 2000: 7f). In einer Abwandlung des Ultimatum-Spiels mit zwei Anbietern oder mit zwei Empfängern verringert sich der durchschnittliche Ertrag der kompetitiven Position, d. h. der Dritte kann den Wettbewerb der beiden anderen für sich nutzen (Fischbacher et al. 2009). In einer Abwandlung eines Vertrauenspiels mit zwei Anbietern reduzieren die Empfänger ihre Rücküberweisung - vermutlich weil sie bei den Anbietern nicht mehr eindeutig prosoziale Intentionen - sondern da sie ja im Wettbewerb stehen auch strategische - unterstellen (Bauernschuster et al. 2010). Umgekehrt erhöhen sich die
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abgegeben Beträge beim Diktatorspiel, wenn Kommunikation und damit Begründungen zwischen Diktator und Empfänger vor der Entscheidung stattfinden (Andreoni/Rao 2010). Fehr/Schmidt (2005) untersuchen verschiedene Erklärungsansätze (z. B. Equity, soziale Normen, verschiedene Reziprozitätsansätze sowie ihren eigenen Ansatz der ,other-regarding preferences') für in bestimmten Situationen gezeigtes, nicht direkt eigennütziges, faires Verhalten. Sie beurteilen die Validität dieser verschiedenen explanativen Modelle durch den Vergleich mit vielfältigen experimentellen Ergebnissen, um so die gegebenen ,Anomalien' zu normalisieren. Fehr und Schmidt liefern zwar hochinteressante Analysen der verschiedenen Interaktionssituationen, aber letztlich kann der Versuch diese Phänomene wieder auf ein (einheitliches) Präferenzmodell, und d. h. auf ein monologisches Subjekt, zurückzuführen, nicht gänzlich überzeugen. Ein Präferenzmodell, das relativ statisch etwa ,inequity aversion' als Element der Präferenzen zur Erklärung hoch spezifischer (d. h. häufig experimenteller) Verhaltensweisen nutzt, wird der Dynamik sozialer Situationen, die u. a. häufig mehr als drei Beteiligte umfassen, nur bedingt gerecht. Ohnehin erfordert die Art und Weise, wie Fairness in den Versuchsanordnungen der Verhaltensökonomie erscheint, meist Intersubjektivität, d. h. die Beurteilung der Intentionen und die Antizipation des Verhaltens anderer, als Teil der Erklärung.
Entwicklung und interne Spannungen Interessanterweise zeigen sich kulturvergleichend erhebliche Unterschiede im Verhalten bei den gebräuchlichen Spielen der Verhaltensökonomik (Henrich et al. 2004). Dabei zeigt sich, dass die Probanden etwa die unerwarteten Gewinne im Ultimatum-Spiel in Abhängigkeit vom Entwicklungsstand üblicher gesellschaftlicher Praxen verteilen. Als wesentliche Faktoren zeigen sich hierbei insbesondere die Häufigkeit von Handel auf Märkten und die vor dem gegebenen Subsistenzniveau möglichen Erträge aus Gruppenkooperation. Je häufiger diese Praxen in einer Gesellschaft vorkommen,
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und sich damit auch entsprechende Kooperationsnormen entwickeln können, desto höher sind die Angebote im Ultimatum-Spiel," Diese Ergebnisse, die einem starren Innatismus widersprechen, legen eine entwicklungstheoretische Perspektive nahe. Inter- und intrakulturelle Differenzen in der Berücksichtigung des anderen sind entsprechend zumindest teilweise durch (soziale) Lernprozesse zu erklären. So gibt es vielfältige Daten, die zeigen, dass moralische Einstellungen und die Fähigkeit normative Urteile zu fällen bzw. zu begründen, sich mit dem Stand der individuellen bzw. durchschnittlichen Bildung entwickeln (vgl. z. B. Hallpike 2004; Lind 2002). Dies gilt auch für normativ relevante Einstellungen zu ökonomischen Phänomenen, z. B. zu generellem Wettbewerb oder unternehmerischem Handeln. Diese verändern sich sowohl im Laufe der Geschichte wie im Lauf der individuellen Lernbiographie. In individueller Hinsicht nimmt die Zustimmung zu diesen Phänomenen in Abhängigkeit vom spezifischen Verständnis von Marktprozessen aber auch mit der formalen Bildung allgemein zu. Eine Studie von Walstad (1996: 179) zum Verhältnis zwischen ökonomischem Wissen und ökonomischen Einstellungen kommt zu dem Ergebnis, "that increased economics knowledge and more instruction in the subject significantly influence that attitude development." Und zwar in Richtung einer positiveren Bewertung ökonomischen Verhaltens und nur in dieser kausalen Richtung.
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Binmore (2008: 7) kritisiert zwar teilweise den methodischen Ansatz der Studie, unterstreicht dabei aber die Bedeutung des kulturellen Lernens: "If this attempt to apply game theory in an anthropological context has some descriptive validity, what should we expect to happen when we ask inexperienced subjects from small-scale societies to participate in a novel laboratory game designed to provide information on how people respond to situations involving social phenomena like fairness, trust, or reciprocity? The answer that seems obvious to me is that we should expect them to behave as they would behave in reallife if they were offered similar cues to those offered in the laboratory. That is to say, we should use whichever equilibrium their own society operates in its repeated game of life to predict their initial behavior, rather than one of the equilibria of the one-shot game they are required to play in the laboratory."
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Ohne einen einfachen Parallelismus zu unterstellen, zeigt sich historisch ein analoger Zusammenhang. Die normative Entlastung wirtschaftlichen Handelns konnte sich erst in der Neuzeit praktisch und theoretisch (wieder) durchsetzen. Auf der theoretischen Ebene verbindet sich diese Position insbesondere mit Adam Smith, der den genannten Dualismus auch in der anderen Richtung ausgelotet hat. Nicht nur, dass wir vom Schlachter und Brauer kein Wohlwollen erwarten können, wir sollen es auch nicht (um den optimalen Gang der Dinge nicht zu gefährden). Es bedarf eines spezifisch entwickelten sozio-historischen Entwicklungsstandes, der diese Entlastung auch in der allgemeinen Praxis gewährleistet. Gerade vor dem Hintergrund der Ergebnisse von Henrich et al. ist hier selbstverständlich die umfassende Entwicklung von Märkten mit der dazu gehörenden adäquaten Eigentumsordnung und entwickeltem Geldsystem von zentraler Bedeutung ist. Allerdings schließen sich hier zumindest zwei Zusammenhänge an, die das Spiel um Ent- und Belastung am Laufen halten. Zum einen geht es darum, dass soziale Handlungen hoch komplexe Phänomene sind, die über die ggf. normativ entlastete rein ökonomische Dimension weit hinausgehen. So bedarf das Handeln auf Märkten zwar einer allgemeinen normativen Entlastung, um letztlich eine kritische Masse an Tauschinteraktionen für deren systemisches Prozessieren hervorzubringen. Die einzelne Handlung ist aber insgesamt auch immer noch moralisch strukturiert, denn ohne bestimmte Kooperationsnormen könnte eine alltägliche Tauschinteraktion gar nicht abgewickelt werden. Die einzelnen wirtschaftlichen Interaktionen sind ,eingebettet' in und abhängig von komplexen normativ strukturierten Kontexten, ausgehend von allgemeinen Kommunikationsregel über die allgemeine Norm Verträge zu achten bis zu Professionsethiken etc. Einerseits wird das ökonomische Vorteilsstreben als legitim anerkannt, andererseits hat dieses Streben Teil einer ansonsten normativ strukturierten sozialen Interaktion zu sein (vgl. hierzu analog aus untemehmensethischer Sicht Wieland 2007: 36ff). Die normativen Anteile reproduzieren sich selbst und damit z. T. auch weitergehende normative Erwartungen; d. h.letztlich reproduziert so auch das vom Eigennutz angetriebene Handeln auf alltäglichen Märkten bestimmte norma-
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tive Strukturen. Es erfordert regelmäßiges Nachjustierungen, um die beiden Seiten sinnvoll zusammen- bzw. auseinanderzuhalten. Nur wer sich, wie die ,Heuschrecken', moralischer Verachtung auszusetzen bereit ist, kann darauf verzichten. Andere müssen sich ggf. auf einen ,fairen Handel', der u. a. auch auf ,faire Produktionsbedingungen' durchschlagen kann, einlassen (vgl. z. B. Stehr 2007). Neben der Legitimierung durch die einfache Zielerreichung ist die eigennützige Handlungsdimension systemisch verknüpft und erhält ihre diesbezüglich mögliche normative Rechtfertigung - d. h. durch ihre gesellschaftliche Allokationsleistung - nicht direkt aus dem einzelnen Handlungszusammenhang. Vielmehr erfordert eine diesbezügliche Legitimierung einen formal entwickelten kognitiven Zugang. Zum zweiten geht es somit darum, dass mit der normativen Entlastung des einzelnen Vorteilsstrebens der Markt als gesamtgesellschaftliches System noch nicht legitimiert ist. Der Markt und sein Funktionieren ist für die Handelnden intransparent, d. h. als nicht-intentionale systemisehe Prozesse ist er in der einzelnen Interaktion nicht gegeben und entsprechend in spezifischer Weise legitirnationsbedürftig. D. h. der Markt kann seine normative Rechtfertigung letztlich nicht selbst aus seinem Prozessieren generieren. Das Individuum kann allerdings auf verschiedene Weise, z. B. im Rahmen formaler Bildungsgänge oder im öffentlichen Diskurs, in die Lage versetzt werden, auf die nicht-intentional geprägten Strukturen zu reflektieren. Es kann dabei aber auch mit einem Mismatch zurückbleiben. Denn normative Positionen, die im alltäglichen Zusammenhang entwickelt werden, können nicht in derselben Form an soziale Systeme adressiert werden. Geld- und preisvermittelte Interaktionen in modernen Gesellschaften etwa bieten hierfür keine adäquate Struktur (vgl. auch Dux 2008: 14ff). Wie eben dargestellt, geht es aber nicht um eine angeborene Moral der Horde, die fehlerhaft angewendet wird. Vielmehr handelt es sich auch hier um eine systematisch notwendige Problemstellung, die auch nur unter Berücksichtigung der dargestellten Bedingungen begegnet werden kann.
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Über den Autor:
Prof. Dr. Bernd Remmele studierte Geschichte, Soziologie und Islamwissenschaften an der Universität Freiburg. Er promovierte dort im Jahr 2001 zur "Entstehung des Maschinenparadigmas". Er war in verantwortlicher Position in E-Learning-Verbünden zu den Themen "European Social Strocture & Cultural Globalization" sowie im Bereich Rechtsinformatik tätig. 2005 kam er als wissenschaftlicher Mitarbeiter zur WHL Wissenschaftliche Hochschule Lahr. Hier war er am Lehrstuhl für Wirtschaftspädagogik und Bildungsmanagement und im Research Service Center aktiv. Bemd Remmele arbeitet regelmäßig als Gutachter für verschiedene wissenschaftliche Förderprogramme, insbesondere der EU. Im Sommersemester vertrat er an der Universität Duisburg-Essen die Professur für Soziologie und Didaktik der Sozialwissenschaften. Im Anschluss daran kam er im Oktober 2009 an die Professur für Wissenschaftliche Weiterbildung und E-Learning an der WHLzurück.
Ökologie, Ökonomie und Ethik: Eine Gemengelage mit Zukunft? Dieter Beschorner
Einführung Für eine Festschrift mit dem Titel "Mensch und Markt: Beiträge zur Wirtschaftsethik" einen Beitrag zu leisten, stellt einen Professor der Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Controlling, Unternehmensplanung und Internationales Management, vor eine nicht triviale Aufgabe. Hat und kann er aus seiner Position überhaupt zu Fragen der Wirtschaftsethik fundiert Stellung nehmen? Mit einem auf ein Spezialgebiet des Controlling hinweisenden Weg, nämlich dem ökologischen Controlling, will ich versuchen, im Wege einer tour d'horizon, dem Thema aus dieser Perspektive ein Mosaiksteinehen beizufügen. Schon die grundsätzliche Frage, wer überhaupt für Wirtschaftsethik zuständig ist, kann kaum umfassend und eindeutig beantwortet werden. Sind es die Wirtschaftswissenschaftler selbst, die in ihrer Breite die Betriebswirtschaftslehre und die Volkswirtschaftslehre abdecken inklusive verschiedener Vertiefungs- und Nebengebiete, oder sind es die Wirtschaftenden, das heißt also die in der Wirtschaft Tätigen, die Unternehmen und Unternehmer also, oder sind es die Ethiker, die ihre Fundierung überwiegend aus Theologie und Philosophie beziehen, oder ist es die Judikative, die uns mit entsprechenden Normen Wegweisung zu wirtschaftsethischen Verhalten an die Hand gibt? Ähnliche Überlegungen zum Mauerblümchen-Dasein der Wirtschaftsethik finden sich bei Arnold (2009). Eben dort findet sich auch die Anregung, die Wirtschafts-
T. Nguyen, M ensch und Markt, DOI 10.1007/978-3-8349-6728-2_7, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Dieter Beschorner
ethik besser in den Wirtschaftswissenschaften zu verankern (Arnold 2009, S. 253).
Die Vielzahl von Veröffentlichungen dazu, wie sie sich auch im Literaturverzeichnis auszugsweise hier spiegelt, zeigt das breite Spektrum zu diesem Gebiet auf. In einem wissenschaftlich sicher sehr vereinfachenden Schema stelle ich mir drei Stufen der Ethik vor, die auf der ersten Stufe sich nur mit dem Menschen beschäftigt, auf der zweiten Stufe das Modell um das Tier ergänzt und auf der dritten Stufe Mensch, Tier und Pflanzen betrachtet. Daraus ließe sich bereits eine gesamtheitliche ethische Konzeption ableiten, die den Mensch in seiner Umwelt, also die gesamte Mitwelt betrachtet und damit auch das ökonomische Handeln einschließt. Aus diesem sehr vereinfachten und vereinfachenden Modell möchte ich versuchen, das wirtschaftliche Handeln in Bezug zur ökologischen Umwelt zu betrachten und von meiner Profession des Controlling her kommend, die Möglichkeiten eines ökologischen Controllings als wirtschaftsethische und innovative Verhaltensweise aufzuzeigen (vgl. z.B. Beschorner 1991 und 2009 sowie StitzeI1991). Ein wesentlich umfassenderer Blick auf die Mitwelt als Natur wird aus philosophischer Sicht möglich. So ist es z.B. von der Kette "Mensch-Natur-TechnikKultur" ausgehend, reizvoll die Frage nach der Ambivalenz der Stellung des Menschen zu stellen; dabei zeigt sich die aus dem Blickwinkel unserer Themenstellung bedeutsame Problematik nach dem dort anzutreffenden Gleichgewicht (vgl. Böhme 2008). Das betrifft zum einen das im Gleichgewicht mit sich selbst sein, wie auch zum anderen die Gleichgewichtslage mit der Natur, Technik und Kultur, also unserer Mitwelt/Umwelt, mithin also auch ein Lw.S. ethisches Ambiente. Im Idealfall ergäbe sich eine Einleibung, d.h. ethisches Verhalten in Ökonomie und Ökologie werden (selbstverständlicher) Teil des menschlichen Denkens und Handelns.
WirtschaftsethiklUntemehmensethik Die Wirtschaft- und Unternehmensethik hat sich seit den 1980er Jahren in betriebswirtschaftliche Theorie und Praxis als eigenständiges Untersuchungsge-
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biet etabliert. Anzeichen dafür ist nicht nur die zunehmende Anzahl von Veröffentlichungen, sondern auch die Aufnahme entsprechender Stichworte in die einschlägigen Handwörterbücher (vgl. Steinmann 1993, Spalte 4331). In diesem Zusammenhang gehören auch Probleme des Umweltschutzes, die die Interessen der Allgemeinheit als Ganzes berühren sowie Konflikte um bestimmte Produkte, Produktionen und/oder Belange unterschiedlicher Stakeholder. Diese Probleme sind nicht grundsätzlich neu, bekamen aber seit den 1970er Jahren eine zunehmende Brisanz durch die Umweltschutzbewegung und die Frage nach der gesellschaftsbezogenen Verantwortung und Rechenschaftslegung (vgl. dazu Beschorner 1976). Wirkungen bzw. Nebenwirkungen unternehmerischen Handelns führen also im erwähnten Kontext zu neuartigen Konflikten, die geeignet sind, den (inneren und äußeren) gesellschaftlichen Frieden zu bedrohen (vgl. Steinmann 1993, Spalte 4332). Aus volkswirtschaftlicher Sicht können derartige ethische Grundfragen der gesamten Wirtschaftsordnung unter dem Dach der "Wirtschaftsethik" behandelt werden und auf der Ebene der Unternehmen lässt sich über diese Konflikte unter dem Forschungsbegriff "Unternehmensethik" argumentieren. Aus Sicht der Wirtschaftsordnung stellt Holger Bonus in seinem Aufsatz "Wie ethisch ist die Marktwirtschaft?" (Bonus 1991) die positiven Leistungen einer sozialen Marktwirtschaft zur Lösung ethischer Fragen heraus. So ermöglicht die marktwirtschaftliche Ordnung, es den Menschen die wirtschaftliche Verantwortung für eigene Entscheidungen zu tragen, da die wirtschaftliche Verantwortung, zu Preisen geronnen, handhabbar und im wirtschaftlichen Alltag erlebbar geworden ist "Menschliches Maß ist erreicht: es handelt sich um eine dem Menschen angemessene, um eine menschenwürdige Wirtschaftsordnung. Funktionsfähigkeit und Menschenwürde einer Ordnung der Wirtschaft sind keine Gegensätze, sondern bedingen einander" (Bonus 1991, S. 13). Interessant in diesem Zusammenhang ist die von Eugen Böhler vertretene Meinung, dass Wirtschaftstheorie (die Nationalökonomie wie die Privatwirtschaftslehre) das Wirtschaftsleben als Mechanismus auffasse, bei dem Plan und Wirklichkeit zusammenfallen, also das Höchstmaß von Wirtschaftlichkeit automatisch verwirklicht wird " .... alles qualitative - wie die verschiedenen
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Bedürfnisse, die verschiedenen menschlichen Leistungen und die verschiedenen Methoden - wird in rein quantitative Geldgrößen umgewandelt, alles besondere - wie die individuellen Wertungen - in Allgemeines, nämlich in die Preise, und ebenso alles individuelle in Kollektives, da grundsätzlich alles gegen Geld käuflich und damit allen zugänglich ist. Die Wirtschaft ist deshalb ein autonomer, rationaler Komplex geworden, der scheinbar unabhängig von allen ethischen, politischen und sozialen Erwägungen abläuft" (Böhler 1957, S. 1). Bemerkenswert ist, dass Böhler im Verlaufe dieses Beitrags zu dem Schluss kommt, dass nur einseitig den Intellekt betonende Handlungen nicht zu ausgeprägten Individuen führen, sondern die Gemütskräfte, das Gefühl, die Empfindungen, die Intuition und die Instinkte zu bearbeiten sind, um als Mensch und Unternehmer zu einer vollständigen nicht abgespalteten Existenz und Ganzheit zu kommen. Er formuliert den ethischen Unternehmer als eine Person, die in einer Durchkreuzung von Kräften zu leben hat und selbst ständig gekreuzigt wird (vgL Böhler 1957, S. 6). Doch kommen wir zur Problematik, ja zum Dilemma der sozialen Marktwirtschaft, so liegt dieses in der Frage nach der Fähigkeit des Marktes, die richtigen (in der Sprache der Umweltökonomie) umweltgerechten internalisierten Kosten negativer externe Effekte widerzuspiegeln. Die Stärke der Marktwirtschaft ist die Verschmelzung von an sich zweier unvereinbarer Prinzipien: der Selbstverantwortlichkeit im Rahmen des Marktes - Preise sind geronnene Verantwortung - und der solidarischen Kostenübernahme durch die Gemeinschaft (vgl. Bonus 1991, S 20). Aus spieltheoretischer Sicht bietet sich hier das Modell des Gefangenendilemmas zur Lösung, welches allerdings zu einer suboptimalen Lösung führt. Dies zeigt sich am aktuellen Umweltproblem Weltklima besonders deutlich und führt zu der von Radermacher aufgeworfenen Frage des Mythos vom freien Markt und der Lösung eines Gefangenendilemmas am Beispiel des Klimaschutzes (vgl. Radermacher, Beyers 2007, S. 6199). Damit sind wir im Heute angekommen und bei dem Thema ethisch vernünftigen Verhaltens zur Erhaltung einer Ökonomie auf Basis der Lebensgrundlagen der Ökologie.
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Ökologie als Leitwissenschaft? Die Natur ins Recht setzen! Oder ökologische Ethik als ökonomisches Leitbild? Das Wort Ökologie ist schon mehrfach hier verwendet worden, ist auch Teil des Titels und verlangt daher auch nach einer etwas ausführlicheren Erklärung. Was also ist Ökologie, heißt die Frage und sie ist, wie wir sehen werden, nicht ganz leicht zu beantworten. Eine häufig gebrauchte Definition des Begriffes Ökologie geht auf die Ableitung vom griechischen "Oikos" zurück, was die Beschäftigung mit Fragen der Hauswirtschaft und des Haushalts bedeutet. Zurückgeführt wird der Begriff auf Haeckel (1866), der unter Ökologie die gesamte Wissenschaft von den Beziehungen des Organismus zur umgebenden Außenwelt versteht. Es geht also um ein Verständnis der Ökosysteme und eine Analyse der Wechselwirkungen zwischen den Populationen einzelner Organismen, die einen bestimmten Lebensraum besiedeln. Ökologie lässt sich aber auch institutionell abgrenzen als eine Disziplin mit Instituten, Fachverbänden etc., was in etwa dem englischen "Ecology" entspricht und mehr umfasst als nur eine biologische "Haushaltslehre", aber auch nicht eine von der Biologie emanzipierte Überwissenschaft. In manchen Veröffentlichungen findet sich auch die Meinung Ökologie sei als Leitwissenschaft des ausgehenden 20. Jahrhunderts und des beginnenden 21. Jahrhunderts zu verstehen (vgl. ausführlich dazu Trepl1987, S. 11-31). Eine Verbindung zwischen Ökologie und Ethik unter Einschluss des Zeitbegriffes versuchen unter verschiedenen Perspektiven Altner (1997) und Geißler (2009) sowie Held/Geißler (1993). Ethik und Ökoethik verlangen ein "ehrliches und tiefgründiges Nachdenken über die Bedingung der Möglichkeiten des guten Handelns unter Anrechnung jener bedrückenden Fragwürdigkeiten und Abgründigkeiten des menschlichen Bewusstseins" (Altner 1997, S. 306). Der hier zitierte Problembereich wird von Altner anhand dreier Themenbereiche näher erklärt, nämlich den Bemerkungen zum Naturbegriff und zum Verhältnis Mensch und Natur, der Frage von Natur und Zeit sowie der Nachhaltigkeit als Möglichkeit der Neuorientierung (Altner 1997, S. 306). Diese drei Themenbereiche bilden auch eine Basis für die später erfolgende Überleitung zum operativen Ansatz des ökologischen Controllings.
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Einen synoptischen Blick zu Ökonomie, Ökologie und Ethik versucht Höffe, indem er die Absicht des freien Marktes, Wohlstand durch Wettbewerb und Belohnung zu generieren, kritisch mit der dadurch einhergehenden Zunahme von Umweltverschmutzung anprangert: "So much for the ethics of the free marktet". Und etwas weiter kommt er zu dem Schluss "What is needed, therefore, is institutions on a global scale which ensure a free global market, such as a global system of competition and a global cartel office" (Höffe 2001, S. 65). All diese Gedanken fordern aber für ihre praktische Umsetzung unter anderem eine rechtliche Basis. Frühzeitig haben sich damit verschiedene Autoren auseinandergesetzt, deren Ausführungen ein Existenzrecht der Natur bezüglich ihrer Existenz, ihres Daseins und Soseins sowie ihrer Entwicklungsmöglichkeiten postuliert haben (vgL dazu beispielsweise Leimbacher 1992, S. 51). Basis an solcher Gedanken ist sicherlich das Umweltprogramm der Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland vom 29.09.1971, welches die Ziele und das Instrumentarium der Umweltpolitik darlegt (vgl. Beschorner 2009, S. 112f).
Neben der rechtlichen Fragestellung von ethischen, ökologischen und damit die Mitwelt erhaltendem Verhalten stellt sich die Umsetzungsfrage. Recht ist klassisch Normensetzung und Übertretungen sind mit Sanktionen belegt, die in Gesetzen kodifiziert sind. Daneben existiert aber das Instrument der freiwilligen Selbstverpflichtung im weitesten Sinne, und dazu können im Rahmen ethischer Überlegungen verschiedene Ethikinstrumente hilfreich sein. In einer Studie wurden bei unterschiedlichen Professional Service Firms in Deutschland und der Schweiz Unternehmensberater, Wirtschaftsprüfer und vergleichbare Berufsgruppen befragt, wie weit Ethikinstrumente bekannt und relevant sind (vgl. Scherer, Alt 2002, S. 314). Zu diesen Ethikinstrumenten zählen Ethik-Kodex, Seminare, die auch ethische Themen mit behandeln, Ethikbeauftragte bzw. Ombudsmänner, Ethik-Kommissionen, Ethik-Controlling, ethische Kriterien bei Verfahren der Einstellungs- und Leistungsbeurteilung, Leitfäden mit unternehmenstypischen Ethikfallstudien, öffentlich zugängliche Diskussionsforen über ethische Aspekte, öffentliche Hotline für ethische Anliegen oder Forderungen sowie eine Moralbilanzierung. Mit der Ausnahme von Ethik-Kodex und Seminaren sind die restlichen Instrumente bei mehr als
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80 % der Befragten unbekannt. Soviel zum Thema Ethik im Beratungsbereich (ebd. S. 314). Die ethischen Probleme aus Sicht der Technikentwicklung sind seit Anwendung von Technik relevant, haben aber durch die enormen Fortschritte technischer Entwicklungen in den letzten Jahren völlig neue Dimensionen erreicht, man denke in diesem Zusammenhang nur an ethische Fragen durch die Möglichkeiten Informationen jeder Art binnen Sekunden weltweit zugänglich zu machen, wie dies durch das World Wide Web heute fast schon selbstverständlich geworden ist. Eine pointierte Untersuchung zum Problembereich der Technikentwicklung geht davon aus, "dass in der technischen Entwicklung moralische und ökonomische Werte zusammenhängen (auch wenn es nicht immer so zu sein scheint!)" (Zimmerli 1990, S. 61). Mittels sieben plakativ zugespitzter Thesen wird der Weg aufgezeigt von Ethik als normativen Krisenund Risikomanagement bis hin zu einer Verantwortungspflicht aller Verantwortlichen entsprechend einer Ethos-Sensibilisierungs-Kapazität durch ReIndividualisierung der anfallenden Probleme der Technik-ffechnologieentwicklung (ebd. S. 68f). Da die Menschen/Verantwortlichen aber keine Engel sind, bedürfen sie einer inneren und äußeren Kontrolle, die in Marktwirtschaften, demokratischer Verfassung durch das Rechtssystem und die Regierung sichergestellt werden. Die Fragen, die sich durch den Interaktionsprozess von Macht und Recht ergeben, berühren auch die Sittlichkeit des Staates und Ethik der Machtausübung (vgl. Starck 2009, S. 6f). Mit in diesen Fragenkomplex gehört auch die Idee ethische Fragen im ökonomischen Zusammenhang durch Einrichtungen wie den DCGK (Deutscher Corporate Governance Kodex) im Rahmen von freiwilliger Selbstverpflichtung und staatlicher Überwachung zu regeln. Kritisch angemerkt werden könnten aus ethischer Sicht hier aber die engen Verflechtungen der so genannten Deutschland-AG, in der Aufsichtsräte oder Vorstände eines Unternehmens (vertikale Achse) im Aufsichtsrat eines anderen Unternehmens (horizontal) Sitz und Stimme haben (vgl. dazu Posch 2007). Dies kann in entsprechenden Entscheidungssituationen zu moralischen/ethischen Konflikten führen.
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Das Verhältnis von Ethik und Ökonomie als eine der Grundfragen der Unternehmensethik untersucht u.a. eine am Institut für Unternehmensplanung angefertigte Diplomarbeit, um hier Fragen nachzugehen, ob Ethik mit Ökonomie gleichzusetzen ist (ökonomistische Position), oder Ethik höherwertig als die Ökonomie ist (ethische Position mit unbedingtem Primat der Ethik), oder ob nicht die kooperative Position, die Gleichwertigkeit und Eigenständigkeit und damit ein kooperatives und komplementäres Verhältnis von Ethik und Ökonomie voraussetzt, die richtige Annäherung an die Fragen der Integration von Ethik und Ökonomie darstellt (vgl. Herold 2008, S. 49-51).
Öko-Controlling als ein Steuemngsinstrument für ethischökonomisch-ökologisches Handeln Die Ursachen, sich über die durch die Belastung der Umwelt auftretenden Schäden und deren wirtschaftlichen Bedeutung Gedanken zu machen, liegen mehrere Jahrzehnte zurück; in großen Dimensionen betrachtet, können wir sogar sagen, dass mit dem Beginn des wirtschaftlichen Tätigwerdens des Menschen die Ursache zur Problematik aller Umweltbelastung gelegt wurde. Das Problembewusstsein für sozio-ökologische und -ökonomische Zusammenhänge hat sich jedoch erst in den letzten Jahrzehnten, speziell auf die Bundesrepublik Deutschland bezogen seit etwa 1970, in der Literatur niedergeschlagen. Auch wenn wir unseren Blick weit in die Vergangenheit zurücklenken und uns folgendes Zitat ansehen"Wir sind bestrebt, die uns durch Gott geschenkte Gesundheit der Luft durch unsere Vorsorge, soweit uns dies möglich, reinzuhalten" (Stauferkaiser Friedrich 11., 1184-1250), so finden wir dieses Zitat nur als ein in dieser Zeit singuläres und auch durchaus ethisches Verhaltenspostulat für ökonomisch-ökologisch korrektes Verhalten. Interessant in diesem Zusammen ist, dass von diesem staufischen Kaiser auch das Fischen mit vergifteten Ködern unter Androhung eines Jahres Zwangsarbeit verboten wurde " ... werden doch dadurch auch die Fische mit Giftstoffen durchsetzt sowie die Gewässer, aus denen Mensch und Tier trinken" (vgl. Beschorner 2009, S. 112). Mit diesen wenigen Beispielen sei der Bogen von Ethik im ökonomischen Verhalten zum ökologischen Wohle gespannt.
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In der Folge des o. g. Umweltprogramms entstanden verschiedene Prinzipien
wie mit den Kosten des Umweltschutzes zu verfahren sei, wie zum Beispiel die Instrumentengruppen des Verursacherprinzips und des Gemeinlastprinzips. Auch die Kostenwirksamkeit der verschiedenen Strategien, wie Vermeiden, Vermindern bzw. Wiederverwerten, führten aufgrund der unterschiedlichen Kostenwirksamkeit zu einer betriebswirtschaftlichen Beschäftigung, die, ohne dass der Begriff des Öko-Controllers oder des Umwelt-Controllings schon geboren waren, doch Aufgabenfelder des Controllings waren. Aufgabe des Controllers, der in diesem Falle ein Öko-Controller sein wird, ist also dem Unternehmer klarzumachen, Umweltschutz nicht als lästige Größe, sondern als Chance zu sehen und das ökologische Ziel als Anreiz bei der Produkt- und Verfahrensgestaltung innovativ zu begreifen. Als ein Beispiel lässt sich hier das zunehmend bedeutsamer werdende Problem der energieorientierten Unternehmensplanung oder des
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Controllings anführen. In den 1980er Jahren wurden überwiegend zwei Aspekte verfolgt: Erstens soll eine Entkoppelung von Wachstum und Energieverbrauch angestrebt werden, was durch den Einsatz energiesparender neuer Technologien oder durch einen günstigeren Wirkungsgrad bei den bestehenden Produktionsverfahren erreicht werden kann. Und zweitens ist die Wirtschaft nach diesen Ausführungen schon bisher sparsam mit Energie umgegangen, da die Unternehmen ohnehin versuchen, ihre Kosten zu senken, um im Markt bestehen und darüber hinaus Gewinn erzielen zu können.
Einbettung in die Nachhaltigkeitsidee Aus den einzelnen Bausteinen zum Thema betriebliches Umweltmanagement wuchs in der Folge der Ansatz nachhaltige Unternehmensstrategien zu generieren und der Begriff des nachhaltigen Unternehmens wurde geprägt. Hier wird der Weg vom Umweltschutz zur Nachhaltigkeit an den folgenden Prinzipien und Leitlinien, die im Begriff "Nachhaltigkeit" enthalten sind, verdeutlicht: • Umgang mit den Ökosystemen (Senkenpotenziale)
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• Ressourcennutzung (Quellenpotenziale) • Verteilungsproblematik (Allokationsfragen) • Geschwindigkeit menschlich verursachter Prozesse (Systemdynamikprobleme) Ein jedes Öko-Controlling hat demnach die Dimensionen von Nachhaltigkeit zu betrachten, die sich in einer Dreigliederung vollziehen: ökonomisch, ökologisch und im Bereich Kultur, Gesellschaft und Soziales. Das alles inkludiert die jeweils kulturspezifische ethische Dimension und damit gleichzeitig die daraus erwachsenden Schwierigkeiten in der praktischen Umsetzung. Ein Baustein unter vielen zu einer nachhaltigen Gesellschaft und einem nachhaltigen Unternehmen findet sich im allgemeinen Steuerrecht. Die Idee von Umweltabgaben über Ökosteuern zur ökologischen Steuerreform zu gelangen, wird seit den 1990er Jahren thematisiert. Unabhängig davon, wie sich die Steuerreformpolitik und damit auch die Diskussion um Einführung weiterer Ökosteuern oder Abschaffung bestehender Ökosteuern gestalten wird, ist für den Öko-Controller hier ein genuines Einsatzfeld zur ökologisch und ökonomisch "richtigen" Steuerung des Unternehmens gegeben (vgl. Beschorner 2009, S. 119f).
Ausblick Wenn wir zu Ende dieses kleinen Beitrags uns noch einmal den Titel der Festschrift "Mensch und Markt: Beiträge zur Wirtschaftsethik" memorieren und mit dem Titel dieses Beitrags hier "Ökonomie, Ökologie und Ethik: Eine Gemengelage mit Zukunft?" spiegeln, so lassen sich ein paar verbindende Gedanken festhalten. Vom Erfinder des so genannten Schweinezyklusses, also der Analyse einer volkswirtschaftlich perspektivlosen Orientierung des Angebots an der aktuellen Nachfrage bei der Schweinezucht, dem Autor Fritz Baade, stammt auch das 1960 erschienene Buch "Der Wettlauf zum Jahre 2000". Es ist eine ökonomische Analyse mit politischen Implikationen, wie die Welt und ob die Welt das Jahr 2000 aus der Sicht von 1960 erleben wird (vgl. Baade 1960). Der ökologische Aspekt spielt als Ressourcenschonung und gerechtere
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Ressourcenverteilung eine Rolle und der ethische Aspekt kommt im Schlusskapitel zum Ausdruck, welches die Überschrift trägt "Die große Zeit des Christentums". Das Buch endet mit dem Bibelzitat, dass nur die Sanftmütigen dieses Erdreich besitzen werden. 50 Jahre später hat sich die Sichtweise nicht grundsätzlich verändert, aber es wurden doch im Detail sehr wesentliche neue Aspekte erkannt, bearbeitet und in handhabbare und angewendete Regeln, Verfahren, Vorschriften, Gesetze etc. überführt. Vom Markt her denkend, ist das ökologische Problem aus betriebswirtschaftlicher Sicht durch die Internalisierung der Kosten der Umweltbelastung weitgehend in den Griff bekommen worden. Umweltmanagement und Umweltcontrolling, die gemeinsam als Ökocontrolling zu bezeichnen wären, sind die planerischen und steuernden Elemente, die ökonomisches Geschehen ökologisch kontrollierbar machen und im weitesten Sinne auf die ethische Basis der vorgegebenen Wirtschaftsordnung stellen. Die dazu nötigen Regeln stellen nationale, europäische und internationale Systeme und Normen dar, wie zum Beispiel EMAS sowie DIN EN ISO 14000ff und verschiedene unternehmensinterne Vorschriften bis hin zu Selbstverpflichtungen im Rahmen der Corporate Govemance und verschiedener Ethikkodizes. Eine absolute Sicherheit bieten aber selbst so ausdifferenzierte Systeme wie die der EMAS I-III (Eco Management and Audit Scheme) oder ISO-Zertifizierung bezüglich der Einhaltung aller dort aufgestellten Normen nicht. Wesentlich wird die ethische Einstellung der betroffenen Akteure sein sowie häufigere, unangekündigte Prüfungen der entsprechenden Akkreditierungsstellen (vgl. dazu Müller 2006, S. 597). Um noch einmal den bei Baade angesprochenen Akzent des Christentums für die Zukunft aufzunehmen und mit Gesetzen und Normen in Verbindung zu setzen, sei Gründel zitiert: "Das Gesetz aber ist nicht aus Glauben. Insofern wird eine auf dem christlichen Glauben gründende Ethik keine Normenethik sein. Der Begriff der Norm ist keine theologischer, sondern ein soziologischer Terminus. Die Bibel spricht von "Tora", was soviel bedeutet wie "Weisung". Weisung gibt man jemanden, den man auf den Weg schickt, zu einem Ziel aussendet. In diesem Sinne tragen Gesetze, Gebote und Normen funktionalen Charakter; sie können höchstens Wegweiser
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für den rechten Entscheid sein, nehmen aber dem Einzelnen den Gewissensentscheid nicht ab" (Gründel 1978, S. 324). Der Blick auf dieses Thema ist zwangsläufig unter den Bedingungen einer sich globalisierenden Welt zu sehen. Das heißt die ethische Dimension im Zusammenspiel der drei Begriffe unseres Titels ist auch unter den Bedingungen der Globalisierung sichtbar zu machen. Eine eigene Wissenschaftsdisziplin Wirtschafts- und Unternehmensethik ist daher sinnvoll und notwendig, um die angesprochene Gemengelage auszudifferenzieren und Lösungswege aufzuzeigen (vgl. dazu Homann 2008 sowie Beschorner 2002, S. 112-114). Beenden möchte ich diese Ausführungen mit Zitaten der Verfechter der sozialen Marktwirtschaft als zukunftsfähiges Konzept und dem zu Ehrenden selbst. "Soziale Marktwirtschaft wurde als freiheitliche Alternative zur Planwirtschaft einerseits und als soziale Alternative zur reinen Marktwirtschaft andererseits etabliert. Dieser "dritte Weg" hat maßgeblich zu Wohlstand, zu sozialem Frieden und zu politischer Stabilität beigetragen.... Auch im Zeitalter der globalen Wirtschaft und der Ära der Informationstechnologie ist Soziale Marktwirtschaft ohne Alternative. Sie muss nur richtig verstanden, ihre Prinzipien müssen wiederbelebt werden. Knüpfen wir an Erhards hinterlassenem Erbe an, um die Aufgaben des 21. Jahrhunderts zu meistern und ein neues "Wirtschaftswunder" zu initiieren!" (Schlecht 2000, S. 26). Und Volker Arnold argumentiert, dass in der modernen Großgesellschaft, in der die ökonomischen Beziehungen zwischen den Handelnden unpersönlich sind und über anonyme Märkte gesteuert werden, die Mechanismen der so genannten "faceto-face"-Gesellschaften wie Ehrlichkeit, Verlässlichkeit, Hilfsbereitschaft, Fleiß usw. nicht greifen. "Damit solche Gesellschaften Unternehmen "zur Förderung des gegenseitigen Vorteils" (Rawls) sind, muss die Moral in den Rahmenbedingungen - in den Spielregeln für das zwischenmenschliche Handeln also - verankert werden" (Arnold 2009, S. 264). Damit lässt sich die in der Überschrift gestellte Frage nach der Gemengelage mit Zukunft unserer drei Begriffe Ökologie, Ökonomie und Ethik sehr gezielt beantworten. Dieses Gemenge ist a) nicht neu, b) seit langem erkannt und c) seit den letzten 50 Jahren in täglich fortschreitender und auch global wirken-
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der Umsetzung mit entsprechenden Rahmenbedingungen versehen. Dass noch viel zu tun bleibt, sei unbestritten, und dass der Weg zu einer ethisch akzeptablen ökonomischen Handlungsweise, die das ökologische System für die Nachwelt erhält, nicht einfach sein wird, darf uns nicht davon abhalten, heute zu agieren um das Morgen zu sichern. Diese Gemengelage also ist unsere Zukunft!
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Über den Autor:
Prof. Dr. Dieter Beschorner studierte Elektrotechnik und Wirtschaftswissenschaften und promovierte 1976 an der Technischen Universität München. Nach Lehraufträgen an den Universitäten Bamberg, Speyer, Wien und Freiberg leitet er seit 1992 das Institut für Unternehmensplanung an der UniversitätUlm. Er ist Beauftragter des Gründungsdekans und Mitglied der Gründungskommission für den Wiederaufbau einer wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät an der Technischen Universität Bergakademie Freiberg/Sachsen von 1991 bis 1992. In der Euro-Asia-Management Studies Association war er im Advisory Board tätig, fungierte als Chairman Europe 2004/07 sowie als Vice President Europe 2006/07. Prof. Beschorner ist AutorIMitautor und Herausgeber/Mitherausgeber diverser Bücher, Journale und Artikel zu den Gebieten Controlling, Umweltmanagement und Euro-Asia Management sowie der Schriftenreihe Hochschulschriften zur Betriebswirtschaftslehre und der Tagungsbände der DJAB.
2. Teil:
Wirtschaftsethik im Kontext der Globalisierung und Nachhaltigkelt
"Global Compact" - Geht es auch konkreter?
137
Nikolaus Knoepffler und Reyk Albrecht
Zur Entwicklung eines Ethikkodexes für die unternehmerische Globalisierung
163
Christopher Stehr und Timo Herold
Nachhaltigkeit als Brücke zwischen ökonomischer Rationalität und ethischer Vernunft
189
Georg Müller-Christ und Lars Amdt
Mensch, Markt und Technik Welche Landwirtschaft kann die Welt ernähren?
225
Franz-Theo Gottwald und Isabel Boergen
Economic Theory of Environmental Liability Law: Fundamental Issues and Recent Developments Alfred Endres
251
"Global Compact" - Geht es auch konkreter? Nikolaus Knoepffler und Reyk Albrecht
Die Frage nach global gültigen und durchsetzbaren Prinzipien oder Regeln verantwortungsvoller Führung wird angesichts der Unternehmens- und Führungsskandale der letzten Jahre immer dringender gestellt. Da eine Führungsund Unternehmensethik auf verschiedene kulturelle Hintergründe Rücksicht nehmen muss, die in Unternehmen und Ländern vorherrschen, ist es keineswegs sicher, dass eine Suche nach solchen globalen Prinzipien oder Regeln überhaupt Erfolg haben kann. Eine erste, international beachtete Initiative in diesem Bereich stellt der "Global Compact" dar, der am 31. Januar 1999 offiziell von UN-Generalsekretär Kofi Annan in einer Rede anlässlich des Weltwirtschaftsforums in Davos allen interessierten Unternehmensführern angeboten wurde. Unternehmen können sich im Rahmen des "Global Compact" zu zehn allgemeinen Prinzipien bekennen. Von Teilnehmern dieses "Global Compact" wird ein jährlicher Fortschrittsbericht in Bezug auf die Umsetzung dieser Prinzipien verlangt (siehe Global Compact 2008, 5). Ziel ist es, "die zehn Prinzipien in geschäftlichen Aktivitäten rund um die Welt zu etablieren".' Sowohl die Initiative selbst als auch die aufgestellten Prinzipien sind bezüglich ihres Inhalts und ihrer ethischen Wirksamkeit nicht unumstritten (vgl. Rasche 2010;Deva 2006;Brinkmann/Pies 2003,3).2 Vor diesem Hintergrund ist zu
1
2
Übersetzung der Verfasser: Original: ,,[to] mainstream the ten principles in business activities around the world" (http://www.ungloba1compact.orglAboutTheGC/index.html), eingesehen am 15. September 2010. Viele Unternehmen kommen ihren Berichtspflichten nicht nach. Am 15. September 2010 waren dies 1337 Unternehmen (http://www.ungloba1compact.orglCOP/non_communicating.html) bei ca. 7700 Teilnehmern (http://www.unglobalcompact.orglAboutTheGC/index.html).
T. Nguyen, M ensch und Markt, DOI 10.1007/978-3-8349-6728-2_8, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Nikolaus Knoepffler/Reyk Albrecht
fragen, wie ethisch gehaltvolle, international akzeptierte und gleichzeitig wirksame Prinzipien aussehen können. Der vorliegende Artikel zeigt anhand einer kritischen Auseinandersetzung mit dem "Global Compact", welche Anforderungen an ein internationales Regelwerk ethischer Führung gestellt werden müssen. In einem nächsten Schritt wird geprüft, inwieweit solche Regeln auf der Grundlage der international akzeptierten Grundsätze von Menschenwürde, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit entwickelt bzw. entfaltet werden können. Abschließend machen wir einen Vorschlag, wie lebensdienliche Regeln für global agierende Führungskräfte aussehen könnten.
1
Der "Global Compact" und Anforderungen an ein internationales Regelwerk ethischer Führung
Derzeit haben sich über 7.700 weltweit agierende Unternehmen zur Initiative "Global Compact" der Vereinten Nationen verpflichtet.' Der "Global Compact" versteht sich entsprechend der Website des Deutschen Global Compact Netzwerks (DGCN) zum einen als "weltweit größte[s] und wichtigste[s] Netzwerk für unternehmerische Verantwortung und Corporate Social Responsibility (CSR)."4 und zum anderen als "aktionsorientierte Lern- und Dialogplattform."5 Den Kern dieser UN-Initiative bilden zehn Prinzipien. Diese sind nach vier grundlegenden Anliegen strukturiert: Das erste ist die Wahrung der Menschenrechte, das zweite die Sicherstellung zentraler Arbeitsnormen, das dritte der Umweltschutz und schließlich das letztgenannte Anliegen die Verhinderung von Korruption. Im Einzelnen lauten die Forderungen:
3
siehe http://www.unglobalcompact.orgiAboutTheGC/index.html; eingesehen am 10. September 2010.
4
Webseite Deutsches Global Compact Netzwerk, http://www.globalcompact.de/index.php?id=15; eingesehen am 10. September 2010. Ebd.
5
139
"Global Compact"
Menschenrechte Prinzip 1:
Unternehmen sollen den Schutz der Internationalen Menschenrechte innerhalb ihres Einflussbereichs unterstützen und achten sowie
Prinzip 2:
sicherstellen, dass sie sich nicht an Menschenrechtsverletzungen mitschuldig machen.
Arbeitsnonnen Prinzip 3:
Unternehmen sollen die Vereinigungsfreiheit und die wirksame Anerkennung des Rechts auf Kollektivverhandlungen wahren sowieferner für
Prinzip 4:
dieBeseitigung aller Formen derZwangsarbeit,
Prinzip 5:
dieAbschaffung derKinderarbeit und
Prinzip 6:
die Beseitigung von Diskriminierung beiAnstellung und Beschäftigung eintreten.
Umweltschutz Prinzip 7:
Unternehmen sollen im Umgang mit Umweltproblemen einen vorsorgenden Ansatz unterstützen,
Prinzip 8:
Initiativen ergreifen, um ein größeres Verantwortungsbewusstseinfür die Umweltzu erzeugen und
Prinzip 9:
die Entwicklung und Verbreitung umweltfreundlicher TechnologienfOrdern.
Korruptionsbekämpfung Prinzip 10: Unternehmen sollen gegen alle Arten der Korruption eintreten, einschließlich Erpressung und Bestechung." (Global Compact 2008,23)
Die Aktivitäten sehr vieler Unternehmen überschreiten heute nationale Grenzen. Dies gilt sowohl für den Verkauf als auch die Produktion von Waren und Dienstleistungen. Damit begeben sich diese Unternehmen in unterschiedliche
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Nikolaus Knoepffler/Reyk Albrecht
nationale Regelrahmen und können sich gleichzeitig ungeliebten gesetzlichen Regelungen entziehen. Mit dem Mittel der Selbstverpflichtung zu zehn knapp formulierten Prinzipien und dem Werkzeug der Fortschrittsberichte sowie dem Bereitstellen von Informationens und Kommunikationsplattformen erprobt der "Global Compact" mögliche Lösungswege für diese Herausforderung. Dabei initiiert er einen internationalen Denkprozess zur Frage, wie global agierende Unternehmen bzw. Führungskräfte zu einem verantwortungsvollen Handeln bewegt werden können. Gleichzeitig wird eine erste Aufstellung und Systematisierung möglicher internationaler Prinzipien für ein verantwortungsvolles Wirtschaften angeboten und deren Ursprung, Ausgestaltung und Bedeutung für den Unternehmenserfolg näher erläutert? Trotz dieser Verdienste des "Global Compact" ist zu fragen, inwieweit er über seine symbolische Kraft hinaus Wirkung entfalten kann. Ein Punkt, der die praktische Wirksamkeit der Regeln des "Global Compact" gefährden kann, ist das Fehlen von klaren Kriterien und Mechanismen um gemeinsame Spielregeln, die einzelne Unternehmen nicht allein durchsetzen können, für alle "Global Players" verbindlich zu machen. Auch wenn dieses Fehlen beabsichtigt ist, um bewusst zur Zusammenarbeit und zu einem Lernprozess einzuladen (Ruggie 2002; Brinkmann/pies 2003,14), so führt es doch dazu, dass sich Unternehmen ohne wirkliche eigene Verpflichtung mit dem guten Namen der UN und dieser UN-Initiative schmücken können ("greenwashing") und damit mittel- und langfristig die Reputation der Initiative gefährden können. Die Frage der praktischen Wirksamkeit stellt sich in besonderem Maße mit Blick auf die zehn Prinzipien. Bei deren näheren Untersuchung ist festzustellen, dass das erste Prinzip eine so allgemeine Norm formuliert, dass praktisch
6
7
siehe hier z. B. http://www.unglobalcompact.org/AboutTheGC/tools_resources/index.html; am 25. August 2010.
eingesehen
Weitere interessante Versuche zur Aufstellung eines Kodex für Führungskräfte finden sich z. B. bei Khurana/Nohria (2008;)Brink/Tiberius (2005,219ft).
"Global Compact"
141
nicht zu überprüfen ist, wie diese realisiert wurde.B Zudem stellt sie in ihrer grundlegenden Formulierung eine Überforderung dar, da sie eine genuin politische Aufgabe zu rasch auch zu einer unternehmerischen Verantwortung erklärt." Das zweite Prinzip ist sehr deutungsoffen. Auch die näheren Erläuterungen bringen nur unzureichende Klarheit darüber, was in der Verantwortung eines Unternehmens oder einer Führungskraft liegt und was nicht, und können so eine latente Überforderung nicht beseitigen.!" Bedeutet das Prinzip für eine Führungskraft, dass sein Unternehmen nicht in Ländern investieren darf, die Menschenrechte verletzen oder zu verletzen scheinen? Macht man sich bereits mitschuldig, wenn man nicht all seinen Einfluss nutzt, um Menschenrechtsverletzungen zu verhindernj"! Was heißt das Prinzip für das Verhältnis zu Partnern in autoritär geführten Staaten, in denen die Rechte auf Meinungsfreiheit und politische Partizipation eingeschränkt sind? Man nehme die Frage des Handels mit China Die Prinzipien drei und vier sind erneut sehr weich formuliert und tragen Idealnormcharakter. In den Erklärungen zu Prinzip drei werden Vorschläge un8
9
10
11
Folge dieser allgemeinen Formulierung ist auch, dass in den Erläuterungen zu Prinzip eins z. B. Aspekte der fairen Entlohnung erwähnt werden. Dies wirft die Frage auf, warum nicht auch die Prinzipien im Bereich Arbeitsnormen darunter gefasst werden oder anders herum die faire Entlohnung nicht Teil der Arbeitsnormen ist. Auch wenn die Initiative in der näheren Erläuterung selbst auf dieses Problem verweist (http://www.unglobalcompact.org/AboutTheGC/TheTenPrinciples/principle1.html; eingesehen am 10. September 2010) erscheint die Verantwortung von Unternehmen noch unzureichend geklärt. So sollen diese z. B. auf der einen Seite Menschenrechtsprobleme in ihrer Lieferkette erkennen und vermeiden. Dies geschieht am besten durch den Verzicht auf die Zusammenarbeit mit entsprechenden Ländern oder Unternehmen (siehe hier auch die Erläuterungen zu Prinzip 2, http://www.unglobalcompact.org/AboutTheGC/TheTenPrinciples/principle2.html; eingesehen am 10. September 2010). Auf der anderen Seite wird Unternehmen eingeräumt, in Ländern mit Menschenrechtsproblemen zu arbeiten und dort Menschenrechtsregelungen zu fördern - eine deutlich schwächere Forderung (ebd.). siehe http://www.unglobalcompact.org/AboutTheGC/TheTenPrinciples/principle2.html; eingesehen am 10. September 2010. Auch die näheren Erklärungen des "Global Compact" (http://www.unglobalcompact.org/AboutTheGC/TheTenPrinciples/Principle2.html; gesehen am 10. September 2010) bringen hier nur unzureichende Klarheit.
ein-
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Nikolaus Knoepffler/Reyk Albrecht
terbreitet, wie verantwortungsvolles Handeln aussehen kann - die Hinweise bleiben aber explizit unverbindlich. Auch wenn die Erklärung zu Prinzip vier eine nützliche Differenzierung verschiedener Formen der Zwangsarbeit bietet, bleibt der Inhalt zum Teil unbestimmt, denn ob Produkte, die von Strafgefangenen hergestellt werden, einer Zwangsarbeit entspringen, hängt vielfach von der konkreten Ausgestaltung eines kaum zu überprüfenden Strafgefangenensystems ab. Prinzip fünf ist für sich allein genommen unklar, da der Begriff "Kinderarbeit" deutungsoffen ist. Wie ist beispielsweise die Mitarbeit von Kindern in Filmproduktionen zu bewerten? Wäre nicht viellebensdienlicher ein Prinzip, das Kinderarbeit nur unter den Bedingungen erlaubt, dass es nach festgelegten Kriterien Kindern nicht schadet und in einer Reihe von Kontexten sogar einen Beitrag zu ihrer Ausbildung und zur Linderung von großer Not darstellt? Erst die weitere Definition des Begriffes "Kinderarbeit" auf den Internetseiten des "Global Compact" macht klar, dass durchaus nicht jede Arbeit von Kindern durch das Prinzip untersagt sein soll." Die Prinzipien sieben bis neun zum Umweltschutz sind sehr weich formuliert und lassen fast jeden möglichen Auslegungsspielraum. Auch wenn die weiterführenden Erklärungen eine bessere Idee vermitteln, was die Verantwortung einer Führungskraft in diesem Bereich sein könnte, bleibt diese eher vage definiert.P Die Prinzipien sind damit ohne bindende Kraft. Zur Verwirrung in Bezug auf die Verantwortung trägt bei, dass in den Erläuterungen zu Prinzip acht auch ökonomische und soziale Nachhaltigkeitsziele angesprochen werden.>
12
siehe http://www.unglobalcompact.org/AboutTheGCfTheTenPrinciples/principle5.html; eingesehen am 10. September 2010.
13
siehe http://www.unglobalcompact.org/AboutTheGCfTheTenPrinciples/principle7.html; http://www.unglobalcompact.org/AboutTheGCfTheTenPrinciples/principle8.html; http://www.unglobalcompact.org/AboutTheGCfTheTenPrinciples/principle9.html; sämtlich eingesehen am 10. September 2010.
,. siehe http://www.unglobalcompact.org/AboutTheGCfTheTenPrinciples/principle8.html; eingesehen am 10. September 2010.
"Global Compact"
143
Nur das zehnte Prinzip scheint auf den ersten Blick eindeutig zu sein. Jedoch kann die Auslegung des Begriffes Korruption vor dem Hintergrund kultureller Unterschiede zu Schwierigkeiten führen: Was in der einen Kultur eine unabweisbare Freundschaftsgabe darstellt, wird in einer anderen als Bestechungsversuch verstanden (siehe zur Komplexität der Korruption auch Androulakis 2006, 48ff).l5 Wie kann das Gesagte zusammengefasst werden und was sind vor diesem Hintergrund Anforderungen an ein Regelwerk ethischer Führung? Die Prinzipien des "Global Compact" sind zum großen Teil nicht konkret genug, um klare Entscheidungen abzuleiten. Ihre Einhaltung ist hierdurch schwer überprüfbar. Wesentlich für führungsethische Regeln ist jedoch die Klarheit darüber, was von einer Führungskraft erwartet wird. Diese Konkretheit fördert die Umsetzbarkeit und die Überprüfbarkeit der Einhaltung dieser Regeln und damit die Glaubwürdigkeit einer entsprechenden Initiative. Daneben ist die Formulierung der Prinzipien des "Global Compact" ambitioniert aber gleichzeitig eher unverbindlich, was bei Führongskräften auf der einen Seite zu einem Gefühl der Überforderung führen und auf der anderen Seite die praktische Wirksamkeit der Prinzipien beeinträchtigen kann. Dabei fehlt die Berücksichtigung eines zentralen ethischen Grundsatzes: "Ultra posse nemo tenetur". Frei übersetzt: Über das hinaus, was jemand vermag, gibt es keine ethische Verpflichtung. Dieser Grundsatz jeder Ethik sollte führungsethischen Regeln zugrunde liegen. Sie verlangen von Führungskräften und Unternehmen nicht das Unmögliche, nämlich die Welt im Großen zu verbessern und zu leisten, wozu die Politik sich als unfähig erweist. Sinnvolle führungsethische Regeln sollten gleichzeitig realistisch und verbindlich sein.
15
Auch die in den Erläuterungen angesprochene Definition von Transparency International bleibt dabei vieldeutig (siehe http://www.unglobalcompact.orgiAboutTheGC/TheTenPrinciples/principle10.html; eingesehen am 10. September 2010.).
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Dem "Global Compact" fehlen zudem direkte Prinzipien in Bezug zu einem zentralen Verantwortungsbereich von Unternehmen und Führungskräften der ökonomischen Entwicklung des Unternehmens." Dies erscheint aus ethischer Sicht problematisch und für die Umsetzung ethischer Führung eher kontraproduktiv. Um praktische Wirksamkeit zu besitzen, müssen führungsethische Regeln vor allem auch die ökonomische Verantwortung von Führungskräften berücksichtigen und zum Ausdruck bringen. Für die Begründung der einzelnen Prinzipien des "Global Compact" wird jeweils auf bestimmte internationale Vereinbarungen verwiesenY Dabei bleiben die innere Logik der Prinzipien und die ihnen zugrunde liegende Motivation unklar. Der Bezug zu zentralen internationalen Dokumenten ist wichtig und im Sinne der Überprüfung einer möglichen internationalen Akzeptanz von
Prinzipien oder Regeln sinnvoll. Eine alleinige Begründung auf dieser Grundlage ist nicht nur aus ethischer Sicht unbefriedigend. Da ein Bezugspunkt nicht erkennbar ist 18, werden Prinzipien im "Global Compact" bei näherer Betrachtung eher unklarer und es entsteht, trotz einer ersten Systematisierung in die Bereiche Menschenrechte, Arbeitsnormen, Umweltschutz und Korruption, der Eindruck, dass bestimmte Prinzipien auf verschiedene Bedeutungsebenen gehören. Es bleibt zudem unklar, ob wichtige Aspekte ethischer Unternehmensführung fehlen (auch Prinzip zehn wurde
16
In den Erklärungen zu den Prinzipien wird immer wieder deren Bedeutung auch für den
wirtschaftlichen Erfolg betont - in den Regeln drückt sich diese Verantwortung der Führungskräfte jedoch nicht direkt aus. 17
http://www.unglobalcompact.org/AboutTheGCfTheTenPrinciplesfhumanRights.html; http://www.unglobalcompact.org/AboutTheGCfTheTenPrinciples/labour.html; http://www.unglobalcompact.org/AboutTheGC!TheTenPrinciples/anti-corruption.html; http://www.unglobalcompact.org/AboutTheGCfTheTenPrinciples/environment.html; alle eingesehen am 10. September 2010.
18
Die Prinzipien werden mit folgenden Worten eingeführt: "The UN Global Compact's ten principles in the areas of human rights, labour, the environment and anti-eorruption enjoy universal consensus [... l-" (http://www.unglobalcompact.org/AboutTheGCfTheTenPrinciples; eingesehen am 27. September 2010).
"Global Compact"
145
ergänzt) und in welcher Richtung gegebenenfalls nach weiteren wichtigen Prinzipien zu suchen ist.l? Gibt es einen auch international akzeptierten Bezugspunkt von Prinzipien oder Regeln 20 etltischer Führung?
2
Ein grundlegender Wertekomplex ethischer Führung
2.1
Menschenwürde und Menschenrechte als Ausgangspunkt ethischer Führung
Im Jahr 1945 wurde der Weltgemeinschaft das ganze Ausmaß der rassistisch motivierten nationalsozialistischen Verbrechen gegen Menschen jüdischen Glaubens und jüdischer Herkunft bewusst. Der millionenfache Mord am jüdischen Volk war trotz seiner Singularität nicht das einzige Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das das Gewissen der Menschen in der Welt aufrüttelte. Wie unmenschlich die Nationalsozialisten auch mit Menschen slawischer Herkunft umgingen, verdeutlicht eine Aussage Himmlers vom 4. Oktober 1943, die im Konzentrationslager Flossenbürg auf einer Gedenktafel dokumentiert ist: "Wie es den Russen geht, wie es den Tschechen geht, ist mir total gleichgültig. Das, was in den Völkern an gutem Blut unserer Art vorhanden ist, werden wir uns holen, indem wir ihnen, wenn notwendig, die Kinder rauben und sie bei uns großziehen. Ob die anderen Völker in Wohlstand leben oder ob sie verrecken vor Hunger, das interessiert mich nur so weit, als wir sie als Sklaven für unsere Kultur brauchen, anders interessiert mich das nicht. Ob bei dem Bau eines Panzergrabens 10.000 russische Weiber an Entkräftung umfallen oder nicht, interessiert mich nur insoweit, als der Panzergraben für Deutschland fertig wird."
19
Es wird (lediglich) darauf verwiesen, dass über die Prinzipien ein universeller Konsens bestehe und sie aus den folgenden Erklärungen und Konventionen stammen: The Universal Declaration of Human Rights; The International Labour Organization's Declaration on Fundamental Principles and Rights at Work; The Rio Declaration on Environment and Development; The United Nations Convention Against Corruption.
20
Regeln haben dabei im hier verstandenen Sinn einen größeren Anspruch auf Konkretheit und Umsetzbarkeit.
146
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Die Grundlage dieser Grausamkeiten bildeten zwei nationalsozialistische Prinzipien: 1) Du bist nichts, dein Volk ist alles. 2) Die arische Rasse ist besonders kostbar, andere Rassen sind minderwertig oder sind gar zu vernichten. Die Charta der Vereinten Nationen 1945, die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen 1948 und das bundesdeutsche Grundgesetz 1949 negierten diese zwei vom Nationalsozialismus propagierten Prinzipien und setzten an ihre Stelle positiv das Prinzip der Menschenwürde; in den Worten der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen (1948): "Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Geschwisterlichkeit begegnen." Gerade die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen (1948) wendet sich darüber hinaus Artikel für Artikel gegen die grausamen Menschenrechtsverletzungen der Nationalsozialisten, denen viele Millionen Menschen zum Opfer fielen. Vor diesem Hintergrund lässt sich das Prinzip der Menschenwürde als international geteilte Kontraposition gegenüber den beiden nationalsozialistischen Prinzipien verstehen und in folgender Weise entfalten: 1) Das Prinzip der Menschenwürde als Prinzip einer grundsätzlichen Sub-
jektstellung, d. h. der Einzelne darf nicht für das Volk oder sonstige Ziele (z. B. Glücksmaximierung der größtmöglichen Zahl) aufgeopfert werden. 2) Das Prinzip der Menschenwürde als Prinzip einer grundsätzlichen Gleich-
heit aller Menschen, wonach jeder Mensch jedem Menschen, egal welcher Rasse und Hautfarbe, welcher religiösen oder weltanschaulichen Überzeugung, egal ob Frau oder Mann, egal ob leistungsfähig oder nicht, die Anerkennung als Gleichen schuldet. Das Prinzip der Menschenwürde beansprucht universelle Gültigkeit. Es kann keine Situation geben, die berechtigt, es außer Kraft zu setzen. Gerade auf-
"Global Compact"
147
grund seines fundamentalen Charakters hat dieses Prinzip damit auch Leitbildcharakter und ist insofern in seinem"Wie" der Anwendung zu lernen. Das Prinzip der Menschenwürde ist darum auch nicht mit einzelnen Grundrechten gleichzusetzen. Menschenwürde ist nicht die einfache Summe der Grundrechte und der mit ihnen implizit gegebenen Pflichten, sondern vielmehr deren Grund. Das Prinzip der Menschenwürde ist also im Unterschied zu Prinzipien im Sinne der Menschenrechte ein Prinzip besonderen Typs. Es ist das Prinzip "hinter" den Prinzipien, das Fundament des ethischen Prinzipiengebäudes. Klaus Dicke (2002, 115) spricht deshalb davon, dass Würde das fundamentale Prinzip ist, in dessen Licht alle politischen und rechtlichen Entscheidungen - und wir möchten ergänzen: alle ethischen Entscheidungen - zu treffen sind. Die so verstandene Menschenwürde entspringt, einer Menschheitserfahrung: Menschen haben die grausamen Konsequenzen der Verletzung der Anerkenntnis dieser Würde erfahren und die Notwendigkeit gesehen, die Menschenwürde und die mit ihr verbundenen Menschenrechte und Werte zum Fundament einer neuen Weltgesellschaft zu machen. Darum beginnt die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen (1948) in ihrer Präambel damit festzuhalten, dass nur die "Anerkennung der angeborenen Würde und der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt ist". Damit sind auch drei Grundwerte benannt, die durch die Menschenwürde und die Menschenrechte gewahrt werden. Diese Werte differenzieren dabei aus, was für ein gelingendes menschliches Leben zentral ist. Die Anerkenntnis von Menschenwürde und Menschenrechten und der damit verbundenen Werte von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden hat ein fundamentales Ziel, nämlich Bedingungen zu schaffen, damit menschliches Leben geschützt wird und gelingen kann."
21
Es sind nicht nur diese Unheilserfahrungen, sondern auch Erfahrungen der Faszination für die Menschenwürde, die Menschen dazu gebracht haben, diesen Normen- und Wertkomplex zu unterstützen.
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Nikolaus Knoepffler/Reyk Albrecht
2.2
Menschenrechte und Menschenpflichten und die Bedeutung der Nachhaltigkeit
Allen Menschen kommt unabhängig von Geschlecht, Rasse und Glaubenszugehörigkeit Menschenwürde zu. Die Anerkenntnis jedes Menschen als Subjekt und prinzipiell Gleicher impliziert die Anerkenntnis, dass jedem Menschen (bestimmte gleiche) unveräußerliche Menschenrechte zustehen. Wie aber kann ihr Subjektstatus und ihre grundsätzliche Gleichheit ernst genommen werden? Als Lösung bietet sich an, die grundsätzliche Gleichheit aller Menschen als Subjekte im Hinblick auf ihre Würde und Rechte durch die Anwendung des Prinzips der Gerechtigkeit zu realisieren. Gerechtigkeit ist dabei zugleich ein Menschenrecht und eine Menschenpflicht. Die Verpflichtung zur Gerechtigkeit ergibt sich aus folgender so einfachen wie oft übersehenen Überlegung: Wer beansprucht, aufgrund seines Subjektstatus zugleich als Gleicher geachtet zu werden, hat die Verpflichtung, den anderen aufgrund dessen Subjektstatus als Gleichen zu achten. Täte er dies nicht, beginge er performativ (lateinisch: performare = vollziehen), also indem er diese Nichtachtung als Gleichen vollzieht, einen Widerspruch. Er würde aufgrund seines Subjektstatus vom anderen Achtung als Gleicher verlangen, diese aber umgekehrt zugleich dem anderen verweigern, obwohl diesem der gleiche Subjektstatus zukommt und er genau die gleiche Forderung nach Achtung als Gleicher aufgrund des ihm zukommenden Subjektstatus verlangen kann. Diese Verpflichtung hat eine individualethische und eine sozialethische Dimension. Man könnte sie unter dem Begriff der Verantwortung des Einzelnen, aber auch der institutionalisierten Verantwortung, insbesondere wirtschaftlicher, rechtlicher und politischer Institutionen, für eine gerechte Welt thematisieren. 22
22
Freilich darf diese ethische Forderung nicht mit einer rechtlichen Interpretation der Menschenwürde im Grundgesetz verwechselt werden. Hier ist nämlich herrschende Meinung, dass dieser Würdeanspruch, ebenso wie die mit ihm verbundenen Grundrechte, keine Pflichtdimension beinhaltet. Allerdings kann eigens wie bei der in Art. 14 II GG festgelegten Sozialbindung im Fall des Grundrechts auf Privateigentum praktisch eine dem Recht korrespondierende Pflicht rechtlich verbindlich sein: "Eigentum verpflichtet".
149
"Global Compact"
Die grundlegende Herausforderung bei der Anwendung des Gerechtigkeitsprinzips besteht darin, dass nicht nur die grundsätzliche Gleichheit im Hinblick auf Würde und Rechte, sondern auch die faktische Ungleichheit unter uns Menschen zu beachten ist. 23 So wäre ein reiner Gerechtigkeitsegalitarismus (lateinisch: aequalitas
=
Gleichheit) in allen Belangen, wonach alle in al-
lem das Gleiche zu bekommen haben, schlicht unsinnig, denn Menschen haben unterschiedliche Geschmäcker und unterschiedliche Vorlieben. Diese Form der - umgangssprachlich - Gleichmacherei verfehlt den Sinn des Gerechtigkeitsprinzips. Auch würde beispielsweise eine völlig gleiche Entlohnung unterschiedlicher Tätigkeiten ohne jede Rücksicht auf ein meritokratisches (lateinisch: merere
=
verdienen) Element, also ohne eine angemessene
Berücksichtigung des Geleisteten, eher als ungerecht empfunden. Dagegen wäre ein gerechtigkeitstheoretischer Inegalitarismus im Hinblick auf das Recht auf Leben nicht hinnehmbar: Alle Menschen haben das gleiche Recht auf Leben. Soziale Gerechtigkeit von Individuen und Institutionen realisiert sich als transzendentale Tauschgerechtigkeit durch Solidarität und Subsidiarität. Sie ist für den Einzelnen Anspruch und Verpflichtung zugleich. In diesem Feld
gilt der Gleichheitsgrundsatz: Jeder hat das gleiche Rechtauf Leben und die not-
wendigen Bedingungen seiner HandlungsJähigkeit. Jeder hat aber auch daran mitzuwirken, dass allen diese Rechte und diese notwendigen Bedingungen verfügbar gemacht werden. Dies ist die entscheidende Gemeinsamkeit zwischen der sozialen Gerechtigkeit im Sinne des transzendentalen Tausches und der sozialen Gerechtigkeit im Sinne legaler Cerechtigkeit.e Dagegen gilt grundsätzlich der Anspruch auf Freiheit bei allen sonstigen kategorialen Tausch- und Verteilungshandlungen. Aber auch hier besteht die Verpflichtung der Führungskräfte und Institutionen darin, für faire Vertrags- und Austauschbedingungen einerseits, undfaire Verteilungsbedingungen andererseits zu sorgen.
23
24
Vgl. zu den folgenden Überlegungen Rawls (1999 [1971]), Höffe (1994, 2002 und 2004) und Horn (2003, 92-100). siehe auch Knoepffler (2010, 104ff).
150
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Das einfache Beispiel des Fußballspiels zeigt die Bedeutung von Regeln für einen funktionierenden Wettbewerb (Rahmenordnung, Handlungsbedingungen), wie wichtig aber auch ein Schiedsrichter ist, der dafür sorgt, dass die Regeln beachtet werden. Führungskräfte haben darum eine doppelte Aufgabe, nämlich eine gerechte Rahmenordnung festzulegen und dann dafür zu sorgen, dass die mit dieser Rahmenordnung verbundenen Regeln befolgt werden. Nur so werden sowohl das individuelle Wohl und das Wohl der Gemeinschaft realisiert, sei es im Sport, in Unternehmen oder Staaten. Die Gerechtigkeit hat eine weitere Dimension, die erst in jüngerer Zeit unter dem Begriff der intergenerationellen Gerechtigkeit wieder in den Vordergrund gerückt ist. Unproblematisch ist eine entsprechende Auslegung des Gerechtigkeitsgrundsatzes, sofern die Generationen bereits leben. Eltern schulden ihren Kindern Fürsorge, Kinder schulden ihren alten Eltern Fürsorge. Doch die diachrone Dimension sollte noch viel weitergehender gefasst werden. Es gibt nicht nur eine Verantwortung für das individuelle und soziale Wohl der heute existierenden Menschen, sondern auch eine Verpflichtung gegenüber kommenden Generationen. Dahinter steht die Überzeugung, wie kostbar und schutzwürdig das menschliche Leben überhaupt ist. [onas (2003 [1979], 36) hat darum den Imperativ formuliert: ",Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden', [... ] oder einfach: ,Gefährde nicht die Bedingungen für den infiniten Fortbestand der Menschheit auf Erden"'. Es erscheint daher als angemessener, aufgrund dieses großen Zeithorizonts auf den Begriff der intergenerationellen Gerechtigkeit zu verzichten und stattdessen den gerade in dieser Hinsicht bereits auch international eingeführten Begriff der Nachhaltigkeit zu verwenden. Gemäß dem gerade zitierten Imperativ ist auch Nachhaltigkeit (sustainability) bzw. nachhaltige Entwicklung (sustainable development) eine Menschenpflicht. Der Begriff "Nachhaltigkeit" stammt aus der Forstwirtschaft und stellt ein Bewirtschaftungsprinzip dar, wonach nicht mehr Holz geerntet werden soll, als jeweils nachwachsen kann. Als ethisches Konzept erstreckt es sich prak-
151
"Global Compact"
tisch auf alle Bereiche menschlichen Lebens, die eine Zukunftsdimension haben. Seine weltweite Bedeutung bekam das Prinzip durch den BrundlandtReport (1987), benannt nach der Vorsitzenden der World Commission on Environment and Development (WCED). Hier wird Nachhaltigkeit in folgender Weise bestimmt: "Dauerhafte Entwicklung [sustainable development] ist eine Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können."25 Die Generalversammlung der Vereinten Nationen stimmte diesem Bericht zu und verlieh ihm internationale Bedeutung. Eine konkretisierende Auslegung des Prinzips der Nachhaltigkeit erfolgt im sogenannten Drei-Säulen-Konzept.> Dieses Konzept bewertet eine Entwicklung nach ihren Folgen für die ökologische, ökonomische und soziale Dimension menschlichen Handelns.
Nachhaltigkeit
ökologisch
sozial
ökonomisch
Abbildung:. Nachhaltigkeit
Das Prinzip der Nachhaltigkeit sollte als wichtiger Aspekt des Gerechtigkeitsgrundsatzes und als grundlegendes ethisches Prinzip auch für ethisches Führungsverhalten leitend sein.
25
26
hier zitiert nach Detzer, K A. u. a. (1999), im Original: "Sustainable development is development that meets the needs of the present without compromising the ability of future generations to meet their own needs". Zur Entwicklung des Nachhaltigkeitskonzepts siehe auch Tremmel (2003).
152
2.3
Nikolaus Knoepffler/Reyk Albrecht
Die drei Verantwortungsdimensionen des Führungshandelns
Das Drei-Säulen-Konzept der Nachhaltigkeit bildet eine geeignete systematische Grundlage für die Entfaltung eines Regelwerkes ethischer Führung, da es die zentralen Dimensionen des Führungshandelns abbildet. Neben der sozialen und ökologischen enthält es mit der ökonomischen Dimension einen wesentlichen Verantwortungsbereich einer Führungskraft, welcher oftmals bei ethischen Erwägungen übersehen wird. Neben der Gerechtigkeit gegenüber zukünftigen Generationen ist dabei die Gerechtigkeit gegenüber den Mitmenschen Teil der Führungsverantwortung und Teil eines der Menschenwürde gerechten Handelns. Wie die Überlegungen zeigen, geht es für eine ethisch handelnde Führungskraft bei der Wahrung von Menschenwürde und Gerechtigkeit vor allem um: •
die Achtung des gleichen Rechts auf Leben und der notwendigen Bedingungen der Handlungsfähigkeit;
•
die Achtung prinzipieller Gleichheit und Freiheit;
•
die Achtung fairer Vertrags- und Austauschbedingungen und
•
die Achtung fairer Verteilungsbedingungen.
Dieser Achtung gilt es in den drei Dimensionen des Führungshandelns Ausdruck zu verleihen. Ethische Führung zeichnet sich dabei dadurch aus, dass sie: •
in der sozialen Dimension, die direkten Wirkungen des eigenen Handelns oder auch Unterlassens auf andere Menschen und das menschliche Zusammenleben insgesamt berücksichtigt.27
•
in der ökologischen Dimension, die für Menschen und das menschliche Zusammenleben relevanten Wirkungen des eigenen Handelns oder auch Unterlassens auf die Umwelt berücksichtigt.
•
in der ökonomischen Dimension, die für Menschen und das menschliche Zusammenleben relevanten wirtschaftlichen Folgen des eigenen Handelns oder auch Unterlassens berücksichtigt.
27
Ausgehend vom Konzept der Menschenwürde fokussieren wir hierbei auf die Bedeutung von Handlungen für den Menschen.
"Global Compact"
153
Dabei trägt eine Fühnmgskraft Verantwortung gegenüber verschiedenen Personengroppen. Im wirtschaftlichen Kontext werden diese oftmals auch als "Stakeholder" bezeichnet. Zentrale interne Stakeholder sind Mitarbeiter und Eigenkapitalgeber. Wesentliche externe Stakeholder sind Kunden, Fremdkapitalgeber, Lieferanten, Partner und die Gesellschaft als Ganzes.
3
Ein konkretes Regelwerk ethischer Führung
3.1
Die soziale Verantwortung von Führungskräften und führungsethisehe Grundregeln
In der sozialen Dimension beachtet eine ethische Führungskraft die direkten
Wirkungen des eigenen Handelns oder Unterlassens auf andere Menschen und auf das menschliche Zusammenleben. Ein erster zentraler Aspekt ist die Achtung des gleichen Rechts auf Leben und der notwendigen Bedingungen der Handlungsfähigkeit. Wesentlich sind dabei aus Sicht der Führungskraft: •
die Gefahren für Leben und Gesundheit durch die von ihr zu verantwortenden Produkte und Dienstleistungen (hier geht es z. B. auch um eine korrekte Produktinformation),
•
die von ihr zu verantwortenden Gefahren für Leben und Gesundheit bei der Herstellung von Produkten (z, B. in Bezug auf verwendete Materialien) und auch
•
die Gefahren für Leben und Gesundheit bei der Herstellung von Vorprodukten, deren Verwendung von ihr zu verantworten ist.
Eine Führungskraft besitzt bei der Herstellung und dem Verkauf von Produkten und Dienstleistungen eine Verantwortung gegenüber: den eigenen Mitarbeitern, indirekten Mitarbeitern", Lieferanten und Partnern sowie Kunden und der Gesellschaft (auch Menschen, die keine direkten Kunden sind, könn-
28
Ob eine Führungskraft einen Menschen innerhalb oder außerhalb des Unternehmens beauftragt, erscheint für die ethische Bewertung irrelevant.
154
Nikolaus Knoepffler/Reyk Albrecht
ten durch Produkte gefährdet werden). In einer Regel zusammengefasst beinhaltet diese Verantwortung:
keine das Leben oder die physische oder psychische Gesundheit ernsthaft gefährdenden Produkte und Dienstleistungen anzubieten, keine entsprechenden Herstellungsweisen anzuwenden und keine entsprechenden Vorprodukte zu verwenden. In Bezug auf die Achtung prinzipieller Gleichheit und Freiheit ist es für eine
Führungskraft wesentlich, unangemessene Einschränkungen oder Gefährdungen für Mitarbeiter und Kollegen: •
durch die von ihr zu verantwortende Unternehmenskultur und institutionellen Regelungen (z. B. in Bezug auf Karrierewege) sowie
•
durch Leadershipmethoden (z. B. die verwendeten Machtinstrumente) oder
•
durch sonstiges zwischenmenschliches Verhalten (z. B. im direkten Mitarbeitergespräch) zu vermeiden.
Hinzu kommen die unangemessenen Einschränkungen oder Gefährdungen für Kunden und Gesellschaft, z. B. durch Geschäftspraktiken beim Umgang mit personenbezogenen Daten. Eine Führungskraft folgt dieser Verantwortung durch die Verpflichtung zur Achtung grundlegender Menschenrechte. Das bedeutet konkret:
sich nicht an unzulässiger Diskriminierung, Zwangs- oder Kinderarbeit, sexueller Belästigung, physischen oder psychischen Übergriffen oder einer Verletzung des Datenschutzes oder der Versammlungsfreiheit zu beteiligen. Gleichzeitig verpflichtet sichdieFührungskraft, dieAchtung dieser Grundsätze durch ihre Mitarbeiter, Zulieferer und Partner soweit wie möglich sicher zu stellen. Der Verantwortung für faire Vertrags- und Austauschbedingungen muss eine Führungskraft in verschiedenen Bereichen gerecht werden, bei der Ausgestaltung und Umsetzung: •
von Arbeitsverträgen (z. B. in Bezug auf die Vergütung von Überstunden),
"Global Compact" •
155
von Verträgen mit anderen Partnern (z. B. die fristgerechte Bezahlung von Lieferanten),
•
von Verträgen mit Kapitalgebern (z. B. die Prospektgestaltung beim Börsengang) und
•
von Verträgen mit Kunden (z. B. dem Erfüllen von Garantieansprüchen).
Eine Führungskraft sollte sich im Rahmen dieser Verantwortung verpflichten:
zur Gewährleistung fairer Arbeitsbedingungen (eindeutige und begrenzte Arbeitszeit, mind. einen freien Tag pro Woche, Recht auf Urlaub, Versicherungsschutz im Krankheitsfall) und der Gewährleistung fairer Entlohnung (angemessener Anteil am Wert der Arbeit, klare Kriterien, Verhältnismäßigkeit) für sich selbst, die eigenen Mitarbeiter sowie die Mitarbeiter in Zulieferbetrieben und beiPartnern sowie zur fairen Gestaltung und Einhaltung von Verträgen. Unternehmen haben einen großen Einfluss auf die Verteilung von Gütern und damit auch von Wohlstand. Es wäre jedoch eine Überforderung, Unternehmen und Führungskräfte für dessen faire Verteilung direkt verantwortlich zu machen. Anders herum liegt es jedoch in der Pflicht einer Führungskraft gegenüber der Gesellschaft und deren einzelnen Mitgliedern, bestehende Gesetze zu achten (z. B. in Bezug auf Korruption). Diese Achtung ist notwendig, um möglichst faire Verteilungsbedingungen zu gewährleisten. Mit welcher Regel kann diese Verantwortung beschrieben werden? Eine Führungskraft verpflichtet sich:
zur Einhaltung von Gesetzen der Länder, in denen sie operiert und zur Einhaltung von internationalen Gesetzen. Gleichzeitig verpflichtet Sie sich, diese Einhaltung auch bei ihren Mitarbeitern, Zulieferern und Partnern so weit wie möglich sicher zu stellen.
3.2
Die ökologische Verantwortung von Führungskräften und führungsethische Grundregeln
In der ökologischen Dimension zeichnet sich eine ethische Führung dadurch
aus, dass sie die für Menschen und das menschliche Zusammenleben relevan-
156
Nikolaus Knoepffler/Reyk Albrecht
ten Wirkungen des eigenen Handelns oder auch Unterlassens auf die Umwelt berücksichtigt. Hierbei ist die Nachhaltigkeit von zentraler Bedeutung. Ein erster Aspekt ist wiederum die Achtung des gleichen Rechts auf Leben und der notwendigen Bedingungen der Handlungsfähigkeit von Menschen und hierbei speziell die Achtung der dafür notwendigen natürlichen Grundlagen. Wesentlich sind: •
die Umweltgefahren der von einer Führungskraft zu verantwortenden Produkte und Dienstleistungen (z. B. chemische Produkte),
•
die von ihr zu verantwortenden Umweltgefahren bei der Herstellung von Produkten (z. B. die Kontaminierung von Gewässern) und auch die
•
Umweltgefahren bei der Herstellung der von ihr zu verantwortenden Vorprodukte (z. B. damit verbundene Emissionen).
Im Zusammenhang mit der ökologischen Verantwortung einer Führungskraft gegenüber der Gesellschaft als Ganzes sowie deren einzelnen Mitgliedern (lokal und global) sollte somit folgende Regel gelten. Eine Führungskraft verpflichtet sich:
keine das lokale oder globale Ökosystem ernsthaft gefdhrdende Produkte und Dienstleistungen anzubieten, keine entsprechenden Herstellungsweisen anzuwenden und keine entsprechenden Vorprodukte zu verwenden. Auf die Achtung prinzipieller Gleichheit und Freiheit sollte eine Führungskraft vor allem beim eigenen Geschäftsmodell (z. B. im Zusammenhang mit Wasser oder zentralen Lebensmitteln) aber auch bei Großbauvorhaben (z. B. Staudämmen) achten. Diese gesellschaftliche Verantwortung kann eine Führungskraft mit der Verpflichtung ernst nehmen:
den Zugang zu elementaren Lebensgrundlagen von Menschen wie Luft, Wasser, Nahrung und Wohnraum nicht ernsthaft einzuschränken. Bei der Verantwortung für faire Vertrags- und Austauschbedingungen geht es in der ökologischen Dimension vor allem um faire Austauschbedingungen mit zukünftigen Generationen. Man könnte sagen, es geht um die Erfüllung eines impliziten intergenerationellen Vertrags. Auch zukünftige Generationen sollen die notwendigen Bedingungen für ein gleiches Recht auf Leben und die physi-
"Global Compact"
157
sehe oder psychische Gesundheit vorfinden. Zentral ist dabei die Verantwortung einer Führungskraft für: •
die Wiederverwertbarkeit der zu verantwortenden Produkte (z. B. auch der hierfür notwendige Arbeits- und Energieaufwand),
•
die Ressourcenverwendung bei der Herstellung von Produkten und Dienstleistungen (incl. dem Bau von Fabriken) und
•
die Ressourcenverwendung bei den von ihr zu verantwortenden Vorprodukten (z. B. seltene Edelmetalle).
Mit welcher Regel kann diese Verantwortung beschrieben werden? Eine Führungskraft verpflichtet sich:
zur nachhaltigen Landnutzung, der Herstellung weitestgehend recyclebarer Produkte, der weitestgehend möglichen Verwendung erneuerbarer Energien und Nutzung erneuerbarer oder substituierbarer Grundmaterialien im eigenen Unternehmen und dies auch bei Zulieferbetrieben und Partnern so weit wie möglich sicher zu stellen. Auch in der ökologischen Dimension kann es nicht Aufgabe der Führungskraft sein, die faire globale Verteilung natürlicher Ressourcen sicher zu stellen. Anders herum muss eine Führungskraft ihre gesellschaftliche Verantwortung (national und international) im Rahmen politischer Aktivitäten (z. B. Lobbyarbeit) oder auch bei ihrer Unternehmensstrategie beachten (z. B. bei der Nutzung öffentlicher Güter). Eine ethische Führungskraft sollte sich verpflichten:
nicht bewusst ökologische Kosten auf andere abzuwälzen und nicht zu versuchen, die faire Internalisierung solcher Kosten zu verhindern und dies auch bei Zulieferern und Partnern so weit wie möglich sicher zu stellen.
3.3
Die ökonomische Verantwortung von Führungskräften und führungsethische Grundregeln
In der ökonomischen Dimension zeichnet sich eine ethische Führung dadurch
aus, dass sie die für Menschen und das menschliche Zusammenleben relevanten wirtschaftlichen Folgen des eigenen HandeIns oder auch Unterlassens berücksichtigt.
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Wesentlich für die Achtung von Menschenwürde und Gerechtigkeit ist die Achtung des gleichen Rechts auf Leben und der notwendigen Bedingungen der Handlungsfähigkeit von Menschen. Dabei geht es hier um die Achtung der relevanten ökonomischen Grundlagen. Eine Führungskraft besitzt dabei vor allem im Rahmen der Geschäftsstrategie (z. B. dem Umgang mit Märkten in Entwicklungsländern) aber auch im Zuge des normalen Geschäftsbetriebs (z. B. im Rahmen großer Finanzgeschäfte) eine Verantwortung gegenüber der Gesellschaft als Ganzes sowie deren einzelnen Mitgliedern - und dies auch auf internationaler Ebene. Mit welcher Regel kann diese Verantwortung beschrieben werden? Eine Führungskraft verpflichtet sich:
keine Aktivitäten durchzuführen oder zu unterstützen, die die wirtschaftliche Grundlage eines Landes, einer Region oder auch global ernsthaft gefährden können und dies auch bei Zulieferern und Partnern so weit wie möglich sicher zu stellen. Der Achtung prinzipieller Gleichheit und Freiheit gegenüber Kunden und Gesellschaft muss durch eine Führungskraft hauptsächlich im Rahmen der Marktpolitik (z. B. Kartelle, Monopole) aber auch der Verkaufspolitik (z. B. Preisgestaltung) beachtet werden. Mit welcher Regel kann diese Verantwortung beschrieben werden? Eine Führungskraft verpflichtet sich:
keine wettbewerbswidrigen Kartelle zu bilden oder vorhandene Marktmacht auszunutzen, um ungerechtfertigte Preise zu erzielen, Marktzugänge zu beschränken oder Konkurrenten mit Preisdumping aus dem Markt zu drängen. Bei der Verantwortung für faire Vertrags- und Austauschbedingungen geht es für eine Führungskraft primär um die Erhaltung der ökonomischen Grundlagen für die Erfüllung von eingegangenen Verträgen und Verpflichtungen. Wie bereits dargestellt, trägt eine Führungskraft Verantwortung für: •
Arbeitsverträge mit Mitarbeitern,
•
Verträge mit anderen Partnern (z. B. Lieferanten),
•
Verträge mit Kapitalgebern (z. B. Banken),
•
Verträge mit Kunden (z. B. Garantien) sowie
•
Verträge mit der Gesellschaft (z. B. mit Kommunen).
"Global Compact"
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Mit welcher Regel kann diese Verantwortung beschrieben werden? Eine Führungskraft verpflichtet sich:
den realen Wert des Unternehmens zu erhalten oder zu steigern und die langfristige wirtschaftliche Entwicklung des Unternehmens zu fördern und eine solche Politik auch bei Zulieferern und Partnern so weit wie möglich sicher zu stellen. Hierzu gehört explizit die Erhaltung und Förderung der eigenen (Arbeits-)Fähigkeiten sowie diederMitarbeiter. Auch in der ökonomischen Dimension kann eine Führungskraft die Achtung fairer Verteilungsbedingungen durch politische Aktivitäten (z.B. Lobbyarbeit) oder die Unternehmensstrategie gefährden (z. B. durch die Ausnutzung sozialer Sicherungssysteme). Eine Führungskraft besitzt dabei eine Verantwortung gegenüber der Gesellschaft als Ganzes sowie deren einzelnen Mitgliedern. Mit welcher Regel kann diese Verantwortung beschrieben werden? Eine Führungskraft verpflichtet sich:
nicht bewusst ökonomische Kosten auf andere abzuwälzen und auch nicht zu versuchen, die faire Internalisierung solcher Kosten zu verhindern und dies auch beiZulieferern und Partnern so weit wie möglich sicher zu stellen.
4
Zusammenfassung
Das Herz des dargestellten Ansatzes ethischen Leaderships bildet der grundlegende Wertekomplex von Menschenwürde, Menschenrechten sowie Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Durch den Bezug zum international anerkannten Grundsatz der Menschenwürde sowie dem damit verbundenen Gerechtigkeitsprinzip erscheint eine internationale Akzeptanz führungsethischer Regeln möglich. Auf Grundlage der Prinzipien von Menschenwürde und Gerechtigkeit lassen sich in den drei Dimensionen des Führungshandelns (sozial, ökologisch, ökonomisch) ethisch gehaltvolle, konkrete und überprüfbare Regeln für ethische Führung entfalten. Die Ausrichtung am zentralen Grundwert der Menschenwürde gibt den Regeln dabei die notwendige Klarheit und zeigt, in welcher Richtung weitere Ergänzungen oder Präzisierungen vorgenommen werden
160
Nikolaus Knoepffler/Reyk Albrecht
können und worauf bei der systematischen Überprüfung der Einhaltung der Regeln in der Führungspraxis besonders Wert gelegt werden sollte.
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Über die Autoren:
Univ.-Prof. Dr. Nikolaus Knoepffler ist seit 2002 Lehrstuhlinhaber für Angewandte Ethik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena (FSU) und zugleich Leiter des Bereichs "Ethik in den Wissenschaften" der Fakultät für Sozial- und Verhaltenswissenschaften der FSU Jena sowie Leiter des fakultätsübergreifenden Ethikzentrums der FSU. Zuvor hat Prof. Knoepffler seine Habilitation in Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München mit einer Arbeit zur Frage der Verantwortbarkeit der Forschung an menschlichen Embryonen erfolgreich abgeschlossen.
Dr. Reyk Albrecht •
10/1995 - 04/2001 Studium der Betriebswirtschaftslehre / Interkulturelles Management (BWL/IKM) an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Abschluss: DipL-Kfm.
•
08/1997 - 05/1998 Austauschstudent der Friedrich-Schi11er-Universität Jena an der "Northem Arizona University" (NAU) , USA, Studium der Kommunikationswissenschaften und des Marketing.
•
06/2003 - 06/2007 Promotion am Lehrstuhl für Angewandte Ethik der Sozial- und Verhaltenswissenschaftlichen Fakultät der FriedrichSchiller-Universität Jena, Abschluss: Dr. phil.
•
Seit 03/2009 wissenschaftlicher Geschäftsführer des Ethikzentrums und des Bereichs Ethik in den Wissenschaften der Friedrich-SchillerUniversität Jena.
Zur Entwicklung eines Ethikkodexes für die unternehmerische Globalisierung Christopher Stehr und Timo Herold
Überblick • Nach einer Darstellung der ethischen Herausforderungen einer unternehmerischen GlobaIisierung, geht der Artikel auf den Ethikkodex als unternehmensethische Maßnahme ein. • Das Ziel der Forschung ist die Entwicklung von Normen für einen global anwendbaren Ethikkodex. • Für die Normenerarbeitung wurde auf die Theorie von Donaldson und Dunfee zurückgegriffen, die in ihren Arbeiten auf die Basisnormen (hypernorms) eingehen. • Durch eine empirische Untersuchung werden Basisnormen für einen Ethikkodex abgeleitet. Dazu wird durch Deduktion ein vorläufiger Normenkatalog erarbeitet. Dieser Normenkatalog wurde durch Befragungen überprüft. • Das Ergebnis der Untersuchung ist ein Ethikkodex, der international tätigen Unternehmen als Grundlage zur Aufstellung eines eigenen Kodexes dienen kann. Dieser Kodex sollte durch jeweilige kulturspezifische Normen erweitert werden.
T. Nguyen, M ensch und Markt, DOI 10.1007/978-3-8349-6728-2_9, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
164
Christopher Stehr/Timo Herold
Summary The goal of this research is to develop a code of ethics for international acting companies. Content of such a code are guidelines for action in business. The intention of a code is to avoid criminal and immoral behavior. A code of ethics is categorical a voluntary commitment of a company to act ethical. In the course of the globalization of companies, there are some requirements on the global validity of the codified norms. The developing of norms in this research refers to the theory of Donaldson and Dunfee. According to this theory the method of this research is developed. First the norms are derived in a deductive process from international existing guidelines. In a second step, these norms are checked by interviews.
Zusammenfassung Ziel der Untersuchung ist die Entwicklung eines Ethikkodexes für international tätige Unternehmen. Inhalt eines Ethikkodexes sind Richtlinien (Normen) für das unternehmerische Handeln. Seine Intention ist die Vermeidung von kriminellem und unmoralischem Verhalten. Ein solcher Kodex stellt grundsätzlich eine Selbstverpflichtung für ein Unternehmen dar. Dabei werden an die kodifizierten Inhalte, im Zuge der unternehmerischen Globalisierung, Anforderungen an deren globale Gültigkeit gestellt. Für die Entwicklung der Normen für diese Untersuchung wird auf die Theorie von Donaldson und Dunfee Bezug genommen. An dieser Theorie lehnt sich die Methodik der Untersuchung an, die durch ein deduktives Verfahren Normen aus international existierenden Richtlinien ableitet und durch Interviews überprüft.
Ethikkodex für unternehmerische Globalisierung
A.
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Einleitung
Die Unternehmensethik rückt zunehmend in den Blickpunkt der Unternehmensfühnmg. Dies geschieht zum Einen durch den Druck der Öffentlichkeit und zum Anderen durch ein Umdenken innerhalb der Unternehmen (Usrey, 2007/ S. 41; Homann, 1994/ S. 9fV Beides wurde durch das Bekanntwerden von Skandalen, die in Verbindung mit Korruption, Veruntreuung oder Verletzung von Arbeits- und Umweltvorschriften entstanden, ausgelöst (Zelizer, 2007/ S. 14; Boatright, 2006/ S. 390; Trevino/Brown, 2005/ S. 273; Bentele/Anres, 2005/ S. 147; Ulrich/Wieland, 1998/ S. 10; Leisinger, 1997/ S. 22f.). Die Anforderungen an die ethische Kompetenz der Unternehmen sind nicht zuletzt aufgrund der medialen Verbreitung solcher Vorfälle gestiegen. "Unternehmensleitungen sind heute gefordert, mit gesellschaftlichen Wertfragen ebenso rational umzugehen wie mit den gewohnten geschäftsstrategischen Fragen."(Ulrich, 1998/S. 15) Unternehmen agieren heute nicht nur in einem nationalen Rahmen sondern international. Dadurch zeigt sich die Notwendigkeit der Anpassung der Unternehmensethik an einen internationalen/globalen Rahmen. Wirtschafts- und Unternehmensethik ist ebenso national, international oder global wie die Wirtschaft selbst und keine willkürlichen geographischen Grenzen beschränken diese (Oe George, 1987/ S. 204). Die betriebswirtschaftliche Globalisierung stellt eine Herausforderungen für die Unternehmensethik dar. Auf globaler Ebene existieren keine verbindlichen Vorschriften und Normen, da die politische und die wirtschaftliche Entwicklung nicht synchron verlaufen (Wallacher, 2006/ S. 85; Radermacher, 2006/ S. 21). Es gibt keine verbindliche und universell gültige Rahmenordnung, an die sich die Unternehmen halten könnten oder müssten (Chan/Pollard/Chuo, 2007/ S. 2). Als Rahmenordnung werden die "Spielregeln" der unternehmerisehen Tätigkeit bezeichnet (Homann/Blome-Drees, 1992/S. 23). 1
Vgl. dazu auch die Bestrebungen von Finanzinstituten sich in Folge der Bankenkrise einen Ethikkodex als Selbstverpflichtung zu geben (www.spiegel.de (3) (Zugriff: 17.07.2008». Ein ähnliches Beispiel stellt der Code of Ethics der International Federation of Accountants dar, der als Ethikkodex für Wirtschaftsprüfer fungiert (Lenz, 2008, S. 316; für nähere Ausführungen zu diesem Kodex Marten/Quick/Ruhnke, 2007/ S. 124ff).
166
Christopher Stehr/Timo Herold
Durch die Rahmenordnung werden die Bedingungen für eine funktionierende Marktwirtschaft geschaffen (Gärtner, 2008, S. 52; Heeg, 2002, S. 124f). Doch die Rahmenordnungen sind aus systemischen Gründen nicht lückenlos (Ulrich, 2001, S. 154; Homann/Blome-Drees, 1992, S. 53). Die Defizite haben unterschiedliche Ursachen und die Handlungsspielräume sind meist lokal und temporär (Ulrich, 2001, S. 154). Eine Grund für solche Defizite in der Rahmenordnung ist die Problematik des time-lag. Mit time-lag ist die Zeitverzögerung gemeint, die durch die Anpassung an neue Gegebenheiten entsteht. Technische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderungen erfordern oftmals Änderungen in den gesetzlichen Vorschriften. Diese bedürfen aufgrund des politischen Prozesses eine gewisse Zeit bis zu ihrer Umsetzung. Eine weitere Ursache kann in Mängeln der Kontroll- und Sanktionssysteme gesehen werden. Diese können die Einhaltung von Gesetzen nicht vollständig garantieren oder es wäre mit einem unangemessenen Aufwand verbunden (Kreikebaum, 2007, S. 25; Richter, 1997, S. 7f.; Wieland, 1996, S. 159; Steinmann/Löhr, 1994, S. 115). Die Legitimationsverantwortung wirtschaftlichen Handelns, di an die Ramenordnung delgiert wird, fällt bei Defiziten in der Rahmenordnung an die Unternehmen zurück. (Aßländer/Brink, 2008, S. 106; Homann/Blome-Drees, 1992, S. 126; Diese Legitimationsverantwortung besteht gegenüber den externen Anspruchsgruppen des Unternehmens.
B.
Beschreibung der empirischen Studie
1.
Ziel der Studie
Das zentrale Ziel des Forschungsprojekts ist die Entwicklung von Normen für einen Unternehmensethik-Kodex im Rahmen einer unternehmerischen Globalisierung. Diese Normen sollen dem Prozess der betriebswirtschaftlichen Globalisierung Rechnung tragen und deswegen für Unternehmen global anwendbar sein.
Ethikkodex für unternehmerische Globalisierung
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Es stellt sich die Frage, ob Normen existieren, die global anwendbar sind. Basisnormen werden als solche Normen betrachtet. Diese Basisnormen zu ermitteln ist das Ziel der Untersuchung. Damit verbunden ist die Frage was Basisnormen sind und wie diese identifiziert werden können. Es wird ein Prozess entwickelt der zur Aufstellung von Basisnormen genutzt werden kann. Aus diesen Basisnormen wird ein Ethikkodex entwickelt. Dieser Kodex soll Unternehmen als Grundlage zur Aufstellung eines eigenen Kodexes dienen. Dieser kann in international tätigen Unternehmen als unternehmensweiter Konsens betrachtet werden. Darauf aufbauend können die Kodizes in den verschieden Ländern differenziert werden.
II.
Methodik
Die Untersuchung betrachtete zunächst unterschiedliche internationale Richtlinien. Diese Richtlinien wurden verwendet, um daraus einen vorläufigen Normenkatalog zu erstellen. Bei den Richtlinien handelte es sich um die Menschenrechterklärung der Vereinten Nationen, den Global Compact, die Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisationen, die Interfaith Declaration, des Social Accountability 8000 Standard, die Grundsätze des Caux Round Table, die Leitsätze für multinationale Unternehmen der OECD und die Familie der ISO 14000 Standards. Die internationalen Richtlinien sind in Abbildung 1 dargestellt.
168
Christopher Stehr/Timo Herold Internationale Institutionen und Richtlinien
Menschenrechte
Global Compact
n..O
Interfaith Declaration
SABOOO
CauxRound Table
OECD
ISO
Abbildung 1: Verwendete Grundlage, (Quelle: Eigene Darstellung)
Der vorläufige Normenkatalog wurde anhand von Interviews überprüft um seine Konsistenz mit den Ansichten der unterschiedlichen Weltreligionen sicherzustellen. Zudem wurden Interviews mit Vertretern von Unternehmen und Nichtregierungsorganisationen (NRO) geführt. Mit Unternehmensvertretern wurden die Interviews geführt, um zu überprüfen ob die erarbeiteten Normen für ein Unternehmen sinnvoll und umsetzbar sind. Die Interviewten wurden bei jeder Norm zu ihrer Zustimmung zu der jeweiligen Norm befragt. Sie konnten auf einer Skala von 1 bis 10 auswählen, wobei 1 eine vollkommene Ablehnung und 10 eine absolute Zustimmung bedeutete. Eine Norm wurde ausgeschlossen, wenn der Mittelwert aller Befragungen kleiner als 8 war. Ebenso führte eine zweimalige Bewertung der Norm mit kleiner oder gleich 5 zum Ausschluss der Norm, da in diesem Fall von keiner allgemeinen Zustimmung mehr ausgegangen werden kann. Zum sofortigen Ausschluss für eine Norm führt eine Bewertung kleiner oder gleich 3. Hier wird angenommen, dass eine so geringe Bewertung eines einzelnen Befragten der Allgemeingültigkeit widerspricht.
Ethikkodex für unternehmerische Globalisierung
III.
169
Angaben zu den Befragten
Insgesamt wurden dazu 13 Personen befragt. Davon waren sechs der Befragten Religionsvertreter des Buddhismus, Christentums, Hinduismus, Islams, Judentums und Konfuzianismus. Bei den Unternehmensvertretern wurden vier Personen befragt. Drei Befragungen wurden mit Vertretern von Nichtregierungsorganisationen vorgenommen. Dabei wurden Vertreter von Transparency International, Amnesty International und eines Gewerkschaftsbundes interviewt. Die Auswahl der Interviewten wurde aufgrund der Theorie der Basisnormen von Donaldson und Dunfee (1999) vorgenommen. Diese Theorie wird in Teil D näher erläutert.
C.
Die Bedeutung von Kodizes
Kodizes sind eine mögliche Maßnahme für die Institutionalisierung von ethischen Grundsätzen im Unternehmen. Institutionalisierung meint dabei, ethische Aspekte in den alltäglichen Geschäftsablauf zu integrieren (Purcell/Weber, 1979, S. 6). "Institutionalisierte Ethik ist ein Mechanismus der Selbstbeobachtung und Selbstkontrolle eines Unternehmens, der intern auf die Herstellung von Firmenidentität und extern auf die Herstellung von Firmenautorität und Firmenakzeptanz zielt" (Wieland, 1993, S. 29).
I.
Definition
Kodizes sind Normenkataloge, die verbindliche Standards für das menschliche Verhalten darstellen (Kunze, 2008, S. 176; Talaulicar, 2006, S. 32; Wines/Napier, 1992, S. 833). Kodizes sind ein dokumentenorientiertes Implementierungsinstrument. Aus diesem Grund bedürfen Kodizes der Schriftform (Kunze, 2008, S. 176; Ulrich/Lunau/Weber, 1998, S. 139, Schlegelmilch, 1990, S. 367). Für Ethikkodizes finden sich unterschiedlich Namen, wie beispielsweise Verhaltenskodizes, Unternehmensleitlinien, Unternehmensrichtlinien oder Unter-
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Christopher Stehr/Timo Herold
nehmensgrundsätze (Kaptein/Schwartz, 2008, S. 112; Schlegelmilch, 1990, S. 369). Aus Vereinfachungsgründen werden diese im Folgenden unter dem Begriff Ethikkodex subsummiert. Ein Ethikkodex beinhaltet die niedergeschriebenen Unternehmensprinzipien, ethischen Grundsätze und Verhaltensregeln, soweit diese die Verantwortung gegenüber den internen und externen Anspruchsgruppen betrifft (Kunze, 2008, S. 176; Wieland, 1993, S. 30; Sims, 1991, S. 494; Schlegelmilch, 1990, S. 367). Er beinhaltet Normen, die Auskunft, über die im Unternehmen als ethisch richtig betrachteten Verhaltensweisen, geben (Remisova, 2007, S. 73; Talaulicar, 2006, S. 35; Schwartz, 2004, S. 324).2 Somit dient er als Orientierungs- und Handlungsleitlinie, die für das Unternehmen und seine Mitarbeiter als bindend angesehen werden kann (Kunze, 2008, S. 176; Remisova, 2007, S: 73; Leisinger, 1997, S. 115; Sims, 1991, S. 494). Ein Ethikkodex stellt eine Selbstverpflichtung für die Übernahme von Verantwortung zur Wahrung der legitimen Interessen der Anspruchsgruppen dar (Kunze, 2008, S. 176; Baumann, 2005, S. 40; Leisinger, 1997, S. 115; Schlegelmilch, 1990, S. 367). Er besteht aus ethischen Standards, die das Verhalten von Mitarbeitern und dem Unternehmen als Ganzem in ethisch korrekter Weise steuern sollen (Schwartz, 2001, S. 248; Leisinger, 1997, S. 115). Unternehmensinterne Kodizes sind verwandt mit Branchen- oder Berufskodizes. Ein Branchenkodex stellt eine Selbstbindung einer Branche, bzw. einer Branchenvereinigung dar. Berufskodizes beschreiben ein Standesethos einer bestimmten Berufsgruppe (Ulrich/Lunau/Weber, 1998, S. 141). Zudem bestehen weitere externe allgemeine Kodizes von Institution, die meist auf internationaler Ebene angesiedelt sind (Kunze, 2008, S. 177).3 Ethikkodizes wenden sich an unterschiedliche Adressaten und regeln unter anderem die Beziehungen des Unternehmens zu seinen Mitarbeitern, Kunden und Lieferanten. Auch andere Interessen, wie z.B. Umweltaspekte können Tei-
2
3
Diese Form der des Ethikkodexes wird auch Verhaltenskodex, bzw. code of conducct genannt. Ein weiteres Beispiel stellen die "Model Business Principles" dar, die von Bill Clinton während seiner Amtszeit initialisiert wurden (Steinmann/Scherer, 2000, S. 96f.).
Ethikkodex für unternehmerische Globalisierung
171
le von Kodizes darstellen (Kaptein/Schwarz, 2008, S. 113; Winkler/Remisova, 2007, S. 158; Talaulicar, 2006, S. 119; Schleglmilch, 1990, S. 370f.). Desweiteren können Kodizes beschreiben, welches Verhalten ein Unternehmen von seinen Mitarbeitern erwartet (Winkler/Remisova, 2007, S. 158).
II.
Legitimation durch Kodizes
Durch einen Ethikkodex kann ein Unternehmen seine moralische Verantwortung signalisieren und den Umfang und die Reichweite dieser Verantwortung definieren (Kaptein, 2004, S. 13; Beauchamp/Bowie, 1997, S. 119; Leisinger, 1997, S. 115; Schlegelmilch, 1990, S. 367). Dem Unternehmen eröffnet sich, durch das Aufstellen eines Kodexes, die Möglichkeit, die moralischen Problemstellungen zu benennen, welche dem Unternehmen besonders wichtig erscheinen (Talaulicar, 2006, S. 131). In einem globalen Kontext bietet ein Ethikkodex die Möglichkeit die unvollständige Rahmenordnung zu ergänzen und dadurch die Glaubwürdigkeit und das Vertrauen gegenüber externen Anspruchsgruppen zu stärken (Kreikebaum, 1996, S. 234). Die Notwendigkeit der Legitimierung liegt in der vielfältigen Weise begründet, wie Unternehmen in soziale Gemeinschaften und Institutionen eingebunden sind, deren Unterstützung sie benötigen (Logsdon/Wood, 2002, S. 158; Raiborn/Payne, 1990, S. 880). Aus diesem Grund sind Unternehmen bestrebt ihre gesellschaftliche Akzeptanz aufrechtzuerhalten (Post, 2002, S. 266). Durch Kodizes und damit verbundene Ethikprogramme wird die Wahrnehmung gesellschaftlicher Erwartungen signalisiert. Damit tragen sie zur Legitimierung unternehmerischen Handelns in einem globalen Umfeld bei (Weaver/Trevino/Cochran, 1999, S. 540; Ripperger, 1998, S. 171). Die Erzeugung von Vertrauen und Reputation die zur Legitimität des Unternehmens beitragen, kann nur unter der Voraussetzung der tatsächlichen Ausrichtung an den kodifizierten Normen und Werten gelingen (Talaulicar, 2006, S. 137).
172
D.
Christopher Stehr{fimo Herold
Normen für international tätige Unternehmen
Es stellt sich die Frage, welche Werte und Normen von einem Unternehmen, im Rahmen seiner unternehmerischen Globalisierung, vertreten werden (Rothlin, 2006, S. 42). Es besteht eine interkulturelle Herausforderung, da sich die Länder aufgrund verschiedener kultureller und religiöser Traditionen unterscheiden (Gurbaxani/Frühbauer, 2001, S. 127).
1.
Normen
Normen werden als aus Wertvorstellungen resultierende Orientierungshilfe verstanden. Sie sind abgeleitet aus übergeordneten Werten und werden als situationsbezogene Spezifikation der allgemeinen Werte aufgefasst (Hillmann, 2007, S. 629; Peukert, 2003,S. 255; Reinhold/Lamnek/Recker, 2000, S. 472). Normen beschreiben eine Verhaltensregel, die von den Mitgliedern einer Gruppe erwartet und sanktioniert wird (Reinhold/Lamnek/Recker, 2000, S. 470; Peukert, 2003,S. 255). Eine Norm liegt dann vor, wenn in einer bestimmten Situation eine Handlung mit Verbindlichkeit auftritt (Talaulicar, 2006, S. 197).
II.
Möglichkeiten des Umgangs mit Differenzen in den Normensystemen
Für die Begründung ethischer Normen in einem internationalen Kontext, lassen sich drei unterschiedliche Herangehensweisen unterscheiden, Universalismus, Ethnozentrismus und Relativismus. Die Überzeugung, von der der Ethnozentrismus ausgeht, ist die Überlegenheit der Werte und Normen der eigenen Kultur gegenüber denen anderer Kulturen (Messick/Bazerman, 1996, S. 15f.; Nill, 1994, S. 35). Eigene Moralvorstellungen werden als uneingeschränkt übertragbar auf andere Kulturen erachtet (Schmid, 1996, S. 272ff.; Usunier, 1993, S. 108ff.). Eigene kulturell entstandene Werte und Normen haben, dieser Argumentation folgend, eine unbedingte Gültigkeit auch in anderen Kulturen (Schäfers, 2004, S. 136).
Ethikkodex für unternehmerische Globalisierung
173
Der Relativismus geht von einer Nichtexistenz einer Vorzugswürdigkeit unterschiedlicher Normensysteme aus. Zwei widersprüchliche Normen können demnach weder richtig noch falsch sein und keine der beiden ist zu verurteilen (De George, 1995, S. 41; Hofstede, 1997, S.6; Donaldson, 1992, S. 14). Daraus ergibt sich die normative Verpflichtung sich entsprechend der moralischen Normen der jeweiligen Kultur zu verhalten, in der man sich befindet, da keine Kultur über ein Kriterium zur Bewertung der Vorzugswürdigkeit moralischer Normen verfügt (Kreikebaum/Behnam/Gilbert, 2001, S. 114; Nill, 1994, S.37). Für den Universalismus ist die These des Bestehens eines ethischen Systems, mit dem alle Menschen übereinstimmen können, konstituierend. Die universalistischen Normen sind demnach raum- und zeitunabhängig gültig (Nill, 1994, S. 41). Der Geltungsanspruch ist nicht auf eine bestimmte Kultur beschränkt, sondern kulturinvariant (Kreikebaum/Behnam/Gilbert, 2001, S. 117).
III.
Basisnormen
Der Begriff der Basisnorm geht zurück auf den Begriff Hypernorm (Donaldson/Dunfee, 1995, S. 95f.; Donaldson/Dunfee, 1994, S. 265).4 Eine Basisnorm ist definiert als eine "fundamentale moralische Regel für alle Menschen." (Donaldson/Dunfee, 1995, S. 95 (Übersetzung durch Verfasser)) Basisnormen spiegeln sich in den religiösen, philosophischen und kulturellen Überzeugungen der Menschen wider (Donaldson/Dunfee, 1994, S. 265). Sie sind dabei jene Normen, die sich je nach gesellschaftlichem und kulturellem Kontext konkretisieren und sich in den Normen der jeweiligen Gemeinschaft manifestieren (De George, 1995, S. 40). Die allgemeine Gültigkeit für alle Menschen wird dabei angenommen (Donaldson/Dunfee, 1995, S. 95). Die in der Realität auffindbaren Unterschiede in der moralischen Auffassung, können als voneinander
• Für eine erweiterte Ausführung zu diesem Begriff auch Donaldson/Dunfee, 1999, vor allem S. 50 und S. 60; Vgl. dazu auch den Begriff der Basisethik von Jöstingmeier. Jöstingmeier beschreibt mit Basisethik im Grunde ein System von Basisnormen (Iöstingmeier, 1994, S. 86 -108).
174
Christopher Stehr/Timo Herold
abweichende Ausprägung allgemeiner Basisnormen verstanden werden (Okleshen/Hoyt, 1996, S. 537; Pieper, 1994, S. 49). Das Konzept der Basisnormen setzt dem Relativismus Grenzen (Dunfee, 2006, S. 310). Gleichzeitig sind Basisnormen nicht ausschließlich universalistisch, da sie die Unterschiedlichkeit der Ausprägung der Normen anerkennen. Nicht jede moralische Norm kann auf Basisnormen zurückgeführt werden und es existieren Normenunterschiede, die nicht auf eine unterschiedliche kulturelle, religiöse oder philosophische Prägung zurückgehen (Dunfee, 2006, S. 304). Damit sind die Basisnormen ein Konzept auf einer Ebene zwischen dem Konflikt des Relativismus und des Universalismus. Das Problem auf globaler Ebene besteht in einem Konflikt zwischen den in Ethikkodizes kodifizierten Normen und den Normen anderer Kulturen, in die der Kodex übertragen wird (Weaver, 2001, S. 3; Smeltzer/Jennings, 1998, S. 57). Basisnormen können diesen Konflikt vermeiden, da sie überall akzeptiert werden. Somit können sie eine gemeinsame Grundlage schaffen (jackson, 1997, S. 1227; Kreikebaum, 1996, S. 309).55
N.
Empirische Vorgehensweise zum Auffinden von Basisnormen
Donaldson und Dunfee gehen davon aus, dass es Anhaltspunkte gibt, mit deren Hilfe Basisnormen, bei ihnen Hypernormen genannt, bestimmt werden können. Werden zwei oder mehr dieser Anhaltpunkte erfüllt, kann dadurch diese Norm als Hypernorm angenommen werden. Dazu haben sie elf Kriterien aufgestellt, nach denen man eine solche Norm auffinden kann. Diese sind im Folgenden aufgelistet (Donaldson/Dunfee, 1999, S. 60). 1. Umfassender Konsens über die Universalität der Norm.
2. Teil eines bekannten globalen Industriestandards.
5
In Deutschland sind die Arbeiten von Jöstingmeier, 1994 und Küng, 2006 Ansätze zur
Auffindung dieser gemeinsamen Basis (Kreikebaum, 1996, S. 309 - 313). Jöstingmeier nennt seinen Ansatz Basisethik, während Küng von einem Weltethos spricht.
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175
3. Unterstützt durch eine bekannte Nicht-Regienmgsorganisation, wie beispielsweise die International Labour Organization oder Transparancy International. 4. Unterstützt durch regionale Regierungsorganisationen, wie beispielweise der Europäischen Union, der OECD oder der Organisation der Amerikanischen Staaten. 5. Durch internationale Medien beständig als globaler ethischer Standard bezeichnet. 6. Als konsistent mit den Regeln der großen Religionen bekannt. 7. Unterstützt durch globale Wirtschaftsorganisationen, wie die International Chamber of Commerce oder den Caux Round Table. 8. Konsistent mit den Grundsätzen bekannter philosophischer Theorien. 9. Im Allgemeinen durch eine relevante Anzahl internationaler Fachmänner, wie beispielsweise Rechnungsprüfer oder Umwelttechniker, unterstützt. 10. Als konsistent mit Befunden über universelle menschliche Werte bekannt. 11. Unterstützt durch die Gesetze vieler unterschiedlicher Länder. So werden die Normen aus bekannten Industriestandards abgeleitet (Punkt 2) und auch von Standards die von regionalen Regierungsorganisationen (Punkt 4) und globalen Wirtschaftsorganisationen (Punkt 7) unterstützt werden. Desweiteren wurde die Erklärung der Menschenrechte herangezogen, die als universell gültig angenommen werden kann (Punkt 1). Zur Überprüfung der erarbeiteten Normen werden Vertreter unterschiedlicher Religionen und Überzeugungen befragt (Punkt 6). Es handelt sich um Vertreter von Buddhismus, Christentum, Hinduismus, Islam, Judentum und Konfuzianismus. Desweiteren werden die Normen anhand von Interviews mit Unternehmensvertretern (Punkt 9) und Vertretern von Nicht-Regierungsorganisationen (Punkt 3) überprüft. Dadurch kann die Forderung nach einer Übereinstimmung mit mindestens zwei der genannten Kriterien gewährleistet werden.
176
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Bestehende Internationale Richtlinien
Normenkatalog
Basisnormen Abbildung 2: Vorgehensweise bei der Normenfindung (Quelle: Eigene Darstellung)
Die hier angewendete Vorgehensweise zur Normenfindung ist in Abbildung 2 dargestellt. Zunächst wird aus den internationalen Standards ein Normenkatalog erstellt. Dieser Normenkatalog wird anhand der Interviews überprüft. Daraus ergeben sich die Basisnormen die als Grundlage für einen Ethikkodex dienen.
E.
Ergebnisse
Durch die Ableitung aus den genannten Normenkatalogen konnte ein vorläufiger Normenkatalog entwickelt werden. Dieser Normenkatalog umfasste 35 Normen, die die Verantwortung eines Unternehmens gegenüber seinen Anspruchsgruppen beschreiben. Die Normen wurden zunächst in die folgenden fünf Bereiche eingeteilt. 1. Verantwortung gegenüber den Mitarbeitern
2. Verantwortung gegenüber den Kunden 3. Verantwortung gegenüber den Lieferanten 4. Verantwortung für die Umwelt
177
Ethikkodex für unternehmerische Globalisierung 5. Verantwortung für die Gesellschaft
Durch die Überprüfung des Normenkatalogs mit Interviews, konnten einige der erarbeiteten Normen ausgeschlossen werden. Diese konnten als nicht konsistent mit den Grundsätzen der unterschiedlichen Weltreligionen oder für ein Unternehmen nicht umsetzbar identifiziert werden. Die Ergebnisse für den Bereich der Verantwortung gegenüber den Mitarbeitern sind in Abbildung dargestellt. Dieser Bereich wurde exemplarisch ausgewählt, um die Ergebnisse zu verdeutlichen.
Mittelwerte zu den Normen der Verantwortung gegenüber den Mitarbeitern
o
I
2
3
4
5
6
8
7
9
10
1.1 1.3
1.5
72
1.7
7.7
1.9
D
•
Angenommene Normen
Abgelehnt aufgrund von Minimumkriterium
D
Abgelehnt aufgrund von Mittelwert
Abbildung 3: Darstellung der Ergebnisse (Quelle: Eigene Darstellung)
Als Ergebnis wurden 16 Normen zu den Bereichen Verantwortung für die Mitarbeiter, Verantwortung für Kunden und Lieferanten und Verantwortung für Umwelt und Gesellschaft entwickelt. Diese können aufgrund der Theorie von Donaldson und Dunfee als Basisnormen angenommen werden. Der aus der empirischen Untersuchung folgende Ethikkodex ist in Abbildung 4 dargestellt.
178
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Basis-Ethikkodex für Unternehmen 1. Verantwortung für die Mitarbeiter 1.1 Das Unternehmen setzt seine Mitarbeiter weder physisch noch psychisch unter Druck. Dazu zählt jede Form der körperlichen Bestrafung, sowie der körperlichen und mentalen Nötigung. 1.2 Das Unternehmen sorgt für Arbeitsbedingungen, die die Gesundheit und Sicherheit seiner Mitarbeiter nicht gefährden. 1.3 Das Unternehmen sorgt für eine Bezahlung seiner Mitarbeiter, die es ihnen und ihren Familien ermöglicht, ihr Grundbedürfnis an Nahrung, Kleidung, Unterkunft und ärztlicher Versorgung zu decken. 1.4 Das Unternehmen diskriminiert seine Mitarbeiter nicht nach deren Rasse, Hautfarbe, Geschlecht oder Religionszugehörigkeit. 1.5 Das Unternehmen verpflichtet sich dazu, keine Zwangsarbeit in Anspruch zu nehmen. Dabei soll die Definition von Zwangsarbeit der ILO Anwendung finden. 1.6 Das Unternehmen schafft die Rahmenbedingungen für die Mitarbeiter sich ethisch Verhalten zu können und hält diese nicht zu unethischem Verhalten an.
2. Verantwortung für Kunden und Lieferanten 2.1 Das Unternehmen verpflichtet sich, seinen Kunden die vereinbarte Qualität und den vereinbarten Servicestandard bereitzustellen. 2.2 Das Unternehmen verpflichtet sich, seinen Kunden alle notwendigen Informationen über den korrekten Gebrauch seiner Produkte zur Verfügung zu stellen. 2.3 Das Unternehmen verpflichtet sich, keine Täuschung oder Irreführung gegenüber seinen Kunden, in Bezug auf seine Produkte, vorzunehmen. 2.4 Das Unternehmen verpflichtet sich, seine Zulieferer nach den vereinbarten Bedingungen über Preis und Termin zu bezahlen.
3. Verantwortung für Umwelt und Gesellschaft 3.1 Das Unternehmen verpflichtet sich, so wenige Ressourcen wie möglich bei der Produktion seiner Produkte zu verbrauchen und so viele wie möglich der Wertschöpfungskette wieder zuzuführen. 3.2 Das Unternehmen verpflichtet sich zu einer Beriicksichtigung möglicher Umweltrisiken seiner Verfahren, Güter und Dienstleistungen in seinen Entscheidungen. 3.3 Das Unternehmen verpflichtet sich zu einer Beriicksichtigung der gesellschaftlichen Auswirkungen seiner Tätigkeit in seinen Entscheidungen. 3.4 Das Unternehmen setzt weder Korruption ein, noch unterstützt sie diese in jeglicher Form. 3.5 Das Unternehmen verpflichtet sich durch die Entrichtung von Steuern zur Finanzierung des öffentlichen Haushalts, der Länder in denen es tätig ist, beizutragen und die Steuergesetze dieser Länder zu achten. 3.6 Das Unternehmen verpflichtet sich das geistige Eigentum anderer Personen und Unternehmen zu achten.
Abbildung 4: Ethikkodex für Unternehmen (Quelle: Eigene Darstellung)
Ethikkodex für unternehmerische Globalisierung
F.
Schlussbetrachtung
1.
Fazit
179
Die Unternehmensführung muss sich im Rahmen der Tätigkeiten des Unternehmens mit dem Thema Ethik befassen. Eine unternehmerische Globalisierung kann nur auf der Grundlage ethischer Prinzipien einen Erfolg für ein Unternehmen bringen. Die volkswirtschaftliche Globalisierung bringt hierbei neue Herausforderungen für die Unternehmen mit sich. Es existieren auf internationaler Ebene keine verbindlichen Normen, die ein Unternehmen einhalten müsste. Bis zur Schaffung einer global gültigen Rahmenordnung sind die Unternehmen auf ihre Eigeninitiative angewiesen. Sie müssen selbst entscheiden, auf welche Werte und Normen sie sich in einem globalen Umfeld verpflichten. Die hier vorgestellten Basisnormen und der daraus resultierende Basis-Ethikkodex, können den Unternehmen als Grundlage zum Aufstellen eines eigenen Kodexes dienen. Ein Ethikkodex ist der erste Schritt für ein Unternehmen, um die Wahrnehmung seiner gesellschaftlichen Verantwortung zu signalisieren. Doch nur durch die Umsetzung des Kodexes in die Praxis, kann ein Ethikkodex seine Funktion der Legitimation erfüllen. Aus den empirisch ermittelten Basisnormen lässt sich kein ethisches ,Sollen' ableiten, da die Normen sich im Zeitverlauf ändern können (Albert, 1991, S. 13f.). Die Basisnormen stellen ein Fundament für die weitere Erarbeitung eines Ethikkodexes dar. Sie dienen als gemeinsame, global gültige Diskussionsgrundlage, die nicht bei jeder Konzipierung eines Ethikkodexes neu erarbeitet werden muss (jöstingmeier, 1994, S. 106). Die Notwendigkeit der Ergänzung der erarbeiteten Basisnormen liegt in den darüber hinausgehenden Normensystemen der unterschiedlichen Kulturen begründet. Basisnormen können zur Beilegung von Konflikten dienen, die in allen Ländern als illegitim betrachtet werden. Bei Handlungen, die in einem Land als legitim gelten und in einem anderen als illegitim, können Basisnor-
180
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men nicht angewendet werden. Basisnormen stellen somit eine Möglichkeit dar, um kulturübergreifende ethische Konflikte zu lösen.
II.
Ausblick
Diese Untersuchung hatte zum Ziel Basisnormen zu finden und zu begründen, die einem Unternehmen als Grundlage zur Aufstellung eines Ethikkodexes im Rahmen einer unternehmerischen Globalisierung dienen können. In diesem Bereich besteht weiterer Handlungsbedarf für die empirische Forschung. Es wurde ein Prozess aufgezeigt, mit dessen Hilfe Basisnormen aufgefunden werden können. Eine größere Anzahl an Befragten könnte zu weiteren Ergebnissen führen. Hierfür könnte die zukünftige Forschung die Möglichkeit nutzen, Daten direkt über Vertreter der unterschiedlichen Kulturen in den einzelnen Ländern zu erheben und nicht, wie in dieser Untersuchung, indirekt über Vertreter von Religionen. Eine andere Vorgehensweise war in dieser Untersuchung aufgrund begrenzter Kapazität nicht möglich. Eine weitere Herausforderung für die zukünftige Forschung könnte die Entwicklung von Basisnormen für das Verhalten von Mitarbeitern gegenüber dem Unternehmen sein. Der Normenfindungs- und Normenbegründungsprozess müsste hierzu in anderer Weise gestaltet sein, da hierfür keine internationalen Normenkataloge bestehen. Eine Möglichkeit besteht darin, die Normen aus bestehenden Verhaltenskodizes von Unternehmen abzuleiten. Dabei müsste auf eine möglichst große Verteilung der Kodizes über unterschiedliche Kulturen geachtet werden. Solche global gültigen Verhaltensnormen für Mitarbeiter stellen eine Möglichkeit dar, die Koordination in einem global tätigen Unternehmen zu verbessern.
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Über die Autoren:
Prof. Dr. Christopher Stehr Studiengangsleiter und Professor für Internationales Management an der German Graduate School of Management and Law (GGS) in Heilbronn und habilitiert zusätzlich an der Universität Ulm, Fakultät für Mathematik und Wirtschaftswissenschaften. Davor war er an der Karlshochschule International University in Karlsruhe tätig. In der Lehre beschäftigt sich Prof. Stehr vor allem mit den Themen International Business und Intercultural Management. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Globalisierung von Klein- und mittelständischen Unternehmen, interkulturelle Kompetenzen von Menschen und Institutionen sowie die Regionalentwicklung unter Globalisierungsprozessen.
Dipl.-Wiwi. Timo Herold ist ehemaliger wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Unternehmensplanung, der Universität Ulm und arbeitet seit August 2010 bei KPMG im Bereich Corporate Govemance.
Nachhaltigkeit als Brücke zwischen ökonomischer Rationalität und ethischer Vernunft Georg Müller-Christ und Lars Arndt
Der Ruf nach einer größeren Rolle der Ethik in der Wirtschaft Das Thema Corporate Social Responsibility (CSR) und damit die Frage der ethischen Verantwortbarkeit des eigenen Handelns stehen seit längerem auf der Tagesordnung vieler Unternehmen. So gibt es heute kaum ein Großunternehmen, welches sich nicht öffentlichkeitswirksam zu seiner gesellschaftlichen Verantwortung bekennt. Die jüngste Finanz- und Wirtschaftskrise hat der Diskussion um die ethische Legitimität des wirtschaftlichen Handelns zusätzliche Nahrung verliehen. So konstatierte etwa das Handelsblatt in seiner Ausgabe vom 09.03.2009, dass die Finanzkrise den Wirtschaftsethikern neuen Auftrieb verliehen habe (Walter 2009). Dabei scheint die entsprechende Debatte allgemein von dem Empfinden geprägt, dass die Nebenfolgen bzw. Nebenwirkungen wirtschaftlichen Handelns - die sich in Zeiten der Krise in zugespitzter und nur unter größeren Anstrengungen überwindbarer Form offenbaren - eines ethischen Korrektivs bedürfen. Die Besinnung auf begründete Normen und Werte, also die Orientierung des Handelns an einer ethischen Vernunft, wird in dieser Vorstellung oft als eine Art "Zivilisierung" des Wirtschaftsgeschehens beschrieben. Auf der anderen Seite herrscht zugleich allgemeine Skepsis vor, ob eine solche Zivilisierung überhaupt realisierbar oder wirklich erstrebenswert ist. Ist nicht gerade das schrankenlose Gewinnstreben der Einzelnen der Garant für die Effizienzwirkung des Marktes? Ist also letztlich das, was in der aktuellen Debatte oftmals als "Gier" kritisiert wird, der eigentliche Motor der IIWohlstandsmaschiT. Nguyen, M ensch und Markt, DOI 10.1007/978-3-8349-6728-2_10, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Georg Müller-Cluist/Lars Arndt
ne" Marktwirtschaft? Und wie passen dann Moral und Wirtschaft überhaupt zusammen? Verkörpern nicht Moral und Wirtschaft autonome Handlungslogiken, zwischen denen als solche keine Schnittmenge - außer vielleicht mit Bezug auf die Bewertung des Handlungsergebnisses - besteht? Kann also von irgendeiner Art von Anschlussfähigkeit von Moral und Wirtschaft, von ethischer Vernunft und ökonomischer Rationalität die Rede sein? In diesem Beitrag wird von der These ausgegangen, dass es der Wirtschafts-
ethik bisher noch nicht gelungen ist, eine überzeugende Lösung für das Problem der Anschlussfähigkeit von Moral und Wirtschaft vorzulegen. Wie exemplarisch am wirtschafts- und unternehmensethischen Ansatz von Kar! Homann sowie am Ansatz der integrativen Wirtschaftsethik von Peter Ulrich gezeigt werden soll, wird anstelle der eigentlich zu leistenden Vermittlung von Moral und Wirtschaft der Versuch unternommen, einen Primat entweder der ökonomischen Rationalität oder aber der Ethik zu begründen. Vor dem Hintergrund dieser Problematik soll hier der Vorschlag gemacht werden, das Konzept der Nachhaltigkeit als Brücke zwischen Moral und Wirtschaft, zwischen ethischer Vernunft und ökonomischer Rationalität zu verstehen. Es wird argumentiert, dass Nachhaltigkeit - verstanden als Prinzip haushaltsökonomischer Rationalität - einerseits der ethisch fundierten Forderung nach einer Rücksichtnahme auf die gesellschaftliche und natürliche Umwelt Rechnung trägt, andererseits aber direkt an das ökonomische Interesse der Wirtschaftssubjekte anschlussfähig ist und somit nicht die im Kontext der Ethik üblicherweise auftretenden Begründungs- und Motivationsprobleme auslöst. Dazu soll zunächst in allgemeiner Form der Charakter des Konzeptes der Nachhaltigkeit als haushaltsökonomischer Rationalität herausgearbeitet werden, bevor anschließend auch deren Implikationen für die Unternehmensführung zu erörtern sind. Abschließend wird die Frage beleuchtet, welche Bedeutung der Ethik vor dem Hintergrund des dargelegten Nachhaltigkeitsverständnisses zukommt.
Nachhaltigkeit als Brücke zwischen Ökonomie und Ethik
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Wirtschaftsethik als Vermittler zwischen Wirtschaft und Moral Das primäre Interesse der Ethik gilt - unabhängig von den vielfältigen Formen seines konkreten Ausdrucks - der Bindung des menschlichen Handelns an bestimmte moralische Grundsätze. Bezugspunkt dieser Bindung ist dabei die jeweilige soziale Gemeinschaft, in die der Einzelne eingebunden ist. Moral impliziert entsprechend eine Einschränkung der Handlungsmöglichkeiten des Einzelnen, die unmittelbar mit seiner Zugehörigkeit zu einer sozialen Gemeinschaft einhergeht. Die Selbstbindung des eigenen Handelns zugunsten der Rücksichtnahme auf andere Menschen (abhängig vom jeweiligen ethischen Standpunkt auch auf die natürliche Umwelt) bildet mithin ein zentrales Motiv der Ethik. Während die Ethik als solche in Fragen der Begründung moralischer Grundsätze prinzipiell den Anspruch der Allgemeingültigkeit verfolgt, sieht sie sich in der gesellschaftlichen Praxis mit einer moralischen Desintegration konfrontiert. Moral gilt - so ein durchaus weit verbreitetes Argument - in der modernen Gesellschaft als "paradigm lost" (Luhmann 1990), welches sich gegen die jeweiligen "Codes" und "Programme" der funktional ausdifferenzierten Teilsysteme nicht behaupten kann. Die "Wirtschaft" wird dabei als ausdifferenziertes Funktionssystem par excellence angesehen - wie nicht erst seit Polanyis Rede von einem "System selbstregulierender Märkte" und der damit einhergehenden "Entbettung" der Wirtschaft aus der Gesellschaft geläufig ist (Polanyi 1978). Vor diesem Hintergrund kann man das in der jüngsten Zeit erstarkte Interesse an Wirtschaftsethik (und "angewandter Ethik" überhaupt) als Versuch deuten, der Ethik wieder Gehör zu verschaffen. Die Rückbesinnung auf Ethik scheint in dem Maße zuzunehmen als die Gesellschaft mit den problematischen Nebenfolgen der Funktionslogiken einzelner Subsysteme konfrontiert ist. Mit dem Ruf nach "angewandter" Ethik ist dann der Anspruch verbunden, die Ethik müsse sich auf ebendiese Funktionslogiken einlassen und in "angewandter" Form die Rolle eines Vermittlers zwischen ihnen und externen moralischen Ansprüchen übernehmen. Jeder Versuch, die Funktionslogik des Subsystems Wirtschaft zu beschreiben, wird in der einen oder anderen Form auf den Begriff der ökonomischen Rationalität
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Bezug nehmen müssen. Dort, wo ökonomisch rational gehandelt wird, gilt das Prinzip der Wirtschaftlichkeit bzw. der Effizienz. Die moderne Marktwirtschaft ist in hohem Maße von diesem Prinzip geprägt. Die Frage, wie die Rolle des Vermittlers zwischen moralischen Ansprüchen und ökonomischer Rationalität genau auszufüllen ist, kann gewissermaßen als zentrales Thema des wirtschaftsethischen Diskurses angesehen werden. An dieser Stelle soll jedoch die These vertreten werden, dass die in diesen Diskurs eingebrachten Vorschläge, wie diese Vermittlerrolle zu bestimmen ist, in der Regel darauf hinauslaufen, entweder den Primat der ethischen Vernunft oder aber der ökonomischen Rationalität zu begründen. Vor diesem Hintergrund ist denn auch Gerlachs (1999) Vorschlag der Unterscheidung wirtschaftsethischer Ansätze nach einem ökonomischen und nach einem ethischen Ausgangsparadigma keineswegs als rein formale anzusehen. Mit der Zuordnung zu einem Ausgangsparadigma ist vielmehr eine substantielle Aussage zum Verhältnis von Moral und Wirtschaft verbunden. Im Rahmen dieses Beitrags kann keine systematische Rekonstruktion des wirtschaftsethischen Diskurses vorgenommen werden, um die obige These zu untermauern. Wir beschränken uns daher auf die kurze Darstellung zweier Ansätze, die in idealtypischer Weise die oben genannten Positionen zum Ausdruck bringen. Es ist dies einerseits der wirtschafts- und unternehmensethische Ansatz von Karl Homann, andererseits der Ansatz der integrativen Wirtschaftsethik von Peter Ulrich.
Kar! Homanns Ansatz der Wirtschafts- und Untemehmensethik: Anschlussfähigkeit durch Ausklammerung der Ethik? Der wirtschafts- und unternehmensethische Ansatz von Karl Homann ist im Spektrum der wirtschaftsethischen Ansätze mit einem ökonomischen Ausgangsparadigma anzusiedeln. Entscheidend dabei ist, dass Homann Wirtschaftsethik von vornherein auf die Frage der Normimplementierung festlegt, wie in der folgenden Definition zum Ausdruck gebracht wird: "Wirtschaftsethik (bzw. Unternehmensethik) befasst sich mit der Frage, welche moralischen Normen und Ideale unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft
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(von den Unternehmen) zur Geltung gebracht werden können." (Homann/ Blome-Drees 1992, S. 14). Zur Frage der Normbegründung lassen sich bei Homann zwei verschiedene Ansatzpunkte erkennen: Einerseits klammert Homann die Normbegründung unter Verweis auf den "gegenwärtigen Stand der wirtschaftsethischen Diskussion" sowie die generelle Problematik der allgemeingültigen Begründung von Normen aus seiner Betrachtung aus. Folgt man dieser Begründung, scheint es sich zunächst nicht um einen theoriesystematischen Ausschluss zu handeln. Mit der Formel der "Solidarität aller Menschen" - Homann versteht darunter die für den Einzelfall zu präzisierende, "modeme Version der Goldenen Regel (Was du nicht willst, das man dir tu', das füg' auch keinem andern zu!) oder des christlichen Gebots der Nächstenliebe" (Homann/Blome-Drees 1992, S. 15) - nennt Homann vielmehr ein universalisierbares Moralprinzip, welches den Hintergrund seiner Überlegungen zur Normimplementierung bildet. An anderer Stelle geht Homann jedoch anders mit dem Problem der Normbegründung um. Die ethische Geltung wird dann an der Möglichkeit der Implementierung einer Norm festgemacht und damit die Frage der Begründung letztlich auf ein Problem der Implementierung reduziert. Homann selbst formuliert: "Eine moralische Norm hat keine Gültigkeit, solange ihre Durchsetzbarkeit nicht sichergestellt ist." (Homann 1993, S. 37). Hinsichtlich der Problematik der Normimplementierung verweist Homann schließlich auf die Wettbewerbssituation in einer Marktwirtschaft. Er argumentiert, dass unter Wettbewerbsbedingungen jede mit zusätzlichen Kosten verbundene moralische Vorleistung eines einzelnen Marktteilnehmers von seinen Wettbewerbern ausgenutzt werden kann, um sich Wettbewerbsvorteile zu verschaffen. Seiner Auffassung nach genügt allein die Möglichkeit einer solchen Ausbeutung moralischer Vorleistungen durch Wettbewerber, um ein System von Normen, welches ausschließlich die einzelnen Wirtschaftssubjekte adressiert, zu destabilisieren. Homann zieht daraus den Schluss, dass im Rahmen einer Marktordnung moralische Anforderungen, die als Appell an ein rücksichtsvolleres Verhalten der Individuen vorgetragen werden, ins Leere laufen oder gar gegenteilige Effekte hervorrufen. Solche Formen der Rück-
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sichtnahme können seiner Auffassung nach effektiv lediglich in einer Kleingruppenmoral angelegt sein. Wenn also nicht die Individuen die Adressaten moralischer Anforderungen sein können, muss die Aufmerksamkeit auf die Institutionen gerichtet werden, innerhalb derer die Individuen ihr Handeln vollziehen. Entsprechend lautet auch das Leitmotiv, welches Homann für die Wirtschaftsethik ausgibt: "Der systematische Ort der Moral in einer Marktwirtschaft ist die Rahmenordnung" (Homann/Blome-Drees 1992, S. 35). Die Frage nach der Moral im Wirtschaftsgeschehen muss in diesem Verständnis also bei den Handlungsregeln ansetzen und nicht bei den Handelnden und deren Präferenzen. Die systemisch angelegte Möglichkeit der Erosion von Moralstandards in einer Wettbewerbssituation ist für Homann kein Grund, die Marktwirtschaft als solche in Frage zu stellen. Die Marktordnung trägt nach Auffassung von Homann dem von ihm genannten Moralprinzip der "Solidarität aller Menschen" Rechnung: "Die moralische Vorzugswürdigkeit der Marktwirtschaft liegt darin, dass sie das beste bisher bekannte Mittel zur Verwirklichung der Solidarität aller Menschen darstellt." (Homann/Blome-Drees 1992, S. 49) Wie Homann unter anderem anhand einer spieltheoretischen Darstellung illustriert, ist die Wettbewerbssituation, die eben auch moralische Vorleistungen der einzelnen Marktteilnehmer in der Tendenz verunmöglicht, für die Wohlfahrtseffekte der Marktwirtschaft verantwortlich. Im Rahmen wirtschaftsethischer Überlegungen ist entsprechend nicht die Wettbewerbssituation als solche in Frage zu stellen, sondern eine anreizkompatible, wettbewerbsneutrale Implementierung moralischer Standards in die Rahmenordnung vorzunehmen, der sich die einzelnen Wirtschaftssubjekte zu unterwerfen haben. Unter der Voraussetzung einer solchermaßen konstruierten Rahmenordnung ist das einzelwirtschaftliche Handeln selbst von der Notwendigkeit der ethischen Legitimation entlastet. Solange - wie Homann formuliert - "die ,moralfreien' Aktionen der Unternehmen zum langfristigen Wohl der Allgemeinheit ausschlagen, ist die allein an ökonomischen Kalkülen orientierte Tätigkeit der Unternehmen grundsätzlich zustimmungsfähig und damit legitim." (Homann/Blome-Drees 1992, S. 39).
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Ein eigenständiger Legitimationsbedarf auf Unternehmensebene ergibt sich nach Auffassung von Homann erst, wenn Defizite in der Rahmenordnung bestehen, die sich in der Regel dann offenbaren, wenn in der Öffentlichkeit Kritik am Unternehmenshandeln laut wird. Es liegt dann ein moralischer Konfliktfall vor und Unternehmen müssen auf vorgebrachte moralische Forderungen reagieren, zumindest sofern diese vom Standpunkt eines universalisierbaren Moralprinzips aus berechtigt erscheinen. Homann unterscheidet dann zwischen ordnungspolitischen Strategien und Wettbewerbsstrategien als Möglichkeiten von Unternehmen, auf den moralischen Konfliktfall zu reagieren. Im Rahmen einer Wettbewerbsstrategie kann es beispielsweise darum gehen, durch unternehmerische Innovationen einen höheren moralischen Standard zu erreichen und auf diese Weise moralischen Konflikten zu begegnen sowie langfristig die eigenen Wettbewerbschancen zu erhöhen. Homann sieht ergänzend dazu die Möglichkeit, durch eine individuelle Selbstbindung die Reputation des eigenen Unternehmens zu verbessern und entsprechend eine "Art langfristig angelegter Investitionsstrategie" zu verfolgen, welche dem "Aufbau von Glaubwürdigkeitskapital" (Homann/Blome-Drees 1992, S. 137f.) dient. Auch zur Lösung moralischer Konfliktfälle setzt Homann also auf das ökonomische Interesse der einzelnen Wirtschaftssubjekte. Dort, wo die Wettbewerbsstrategie nicht erfolgversprechend scheint, d.h. die "Kompatibilität von Moral und Rentabilität allein durch eigene Aktivitäten [nicht] zu erreichen" (Homann/Blome-Drees 1992, S. 138) ist, bringt Homann ordnungspolitische Strategien ins Gespräch. Im Rahmen dieser Strategien kann einerseits versucht werden, auf eine Behebung der Defizite der Rahmenordnung auf politischem Wege hinzuwirken. Andererseits besteht die Möglichkeit, durch eine kollektive Selbstbindung, z.B. in Form freiwilliger Selbstverpflichtungen auf Branchenebene, die Defizite in der Rahmenordnung zu kompensieren. Wie anhand der vorangegangenen Darstellung deutlich geworden ist, versucht Homann das Problem der Anschlussfähigkeit von Moral und Wirtschaft dadurch zu lösen, dass er die Ethik der Logik der ökonomischen Analyse unterwirft und dadurch - wie er selbst formuliert - die Ethik als Ökonomik mit
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anderen, besseren Mitteln fortsetzt. Diese Logik gilt ihm dabei als Garant, dass wesentliche Strukturmerkmale der Marktwirtschaft als reale Bedingungen ethischer Überlegungen Berücksichtigung finden. Die Formulierung moralischer Anforderungen ist in seinen Augen nur dann sinnvoll, wenn auch die Modellfigur der ökonomischen Analyse, der "Homo Oeconomicus" ihnen nachkommen würde. Homann fordert entsprechend, alle institutionellen Arrangements einem "Homo-oeconomicus-Test" (Homann/Blome-Drees 1992, S. 95) zu unterziehen. Im Hintergrund von Homanns Argumentation steht dabei stets die Auffassung, dass die ethische Legitimation des Marktes aufgrund seiner Wohlfahrtswirkungen nicht prinzipiell in Frage gestellt werden kann. Ökonomische Rationalität hat demnach für Homann als solche schon eine moralische Qualität. Angesichts dessen fordert Homann von der Ethik letztlich eine Selbstbeschränkung auf den Bereich demokratischer Politik, wo auch die über die Rahmenordnung des Wirtschaftens verfügt wird. Insgesamt kann für den Ansatz von Homann festgehalten werden, dass der Idee einer Selbstbeschränkung des einzelwirtschaftlichen Handelns zum Zwecke einer ethisch fundierten Rücksichtnahme auf die Umwelt eine deutliche Absage erteilt wird. Selbst in moralischen Konfliktfällen, wo es gute ethische Gründe für eine solche Selbstbeschränkung gibt, ist sie nach Auffassung von Homann im Prinzip nur als Realisierung eines ökonomischen Interesses der einzelnen Akteure denkbar, was die Verfolgung der ebenfalls von ihm ins Spiel gebrachten ordnungspolitischen Strategien so schwierig macht. Ohne diesen Aspekt an dieser Stelle vertiefen zu können, sei zudem hervorgehoben, dass sich die Problematik des Verhältnisses von guten ethischen Gründen und dem ökonomischen Interesse der Einzelnen bei Homann auch in den Bereich der Ordnungsethik, mithin in den originären Wirkbereich der Wirtschaftsethik, hineinzieht. Wirtschaftsethik bleibt selbst dort für Homann etwas, was sich der Beurteilung aus dem Blickwinkel des ökonomischen Interesses nicht entziehen kann.
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Peter Ulrichs Ansatz der integrativen Wirtschaftsethik: Anschlussfähigkeit durch Ausklammerung der ökonomischen Rationalität? Der Ansatz der integrativen Wirtschaftsethik von Peter Ulrich (1997) kann jenen Ansätzen zugerechnet werden, denen ein ethisches Ausgangsparadima zugrunde liegt. Ulrichs Absage an jegliche Vorstellung einer IIZwei-WeltenTheorie", nach der Moral und Wirtschaft völlig unterschiedliche Handlungslogiken implizieren, ist in diesem Sinne in erster Linie als Absichtserklärung zu lesen, die Ethik gegen eine dominante ökonomische Rationalität zu verteidigen. Eines der Kernargumente von Ulrich ist dabei, dass das wirtschaftliche Handeln, die dazugehörigen institutionellen Arrangements und die das Handeln prägende ökonomische Rationalität selbst einen ausgeprägten normativen Gehalt haben und sich somit einer grundlegenden ethischen Reflexion nicht entziehen können. Dies setzt selbstredend den Primat der Ethik voraus, der auch nicht durch Verweis auf faktische Bedingungen in Frage gestellt sein darf, welche etwa unmittelbar die Handlungsfreiheit der Individuen einschränken. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen stellt sich für Ulrich auch nicht das Problem der Unterscheidung von Normbegründung und Normimplementierung, wie es etwa von Homann gesehen wird. Während die Wirtschaftsethik mit der Diskursethik auf ein bereits begründetes vernunftethisches Fundament zurückgreifen kann, obliegt es ihr aber uneingeschränkt, die ethischen Konsequenzen für den Bereich des Wirtschaftens zu formulieren. Dies gilt unbedingt, dass heißt ohne Einschränkungen durch normative oder empirische Voraussetzungen (wie etwa die Annahme der prinzipiellen Effizienzwirkung der Marktwirtschaft oder den Verweis auf vom Marktsystem ausgehende "Sachzwänge"). Nach Auffassung von Ulrich ist es mithin die Aufgabe der integrativen Wirtschaftsethik, "die Form des ökonomischen Denkens zu reflektieren. Kantianisch gesprochen, geht es einer so ansetzenden Wirtschaftsethik um die ethisch-vernünftige Orientierung im politisch-ökonomischen Denken, und das heißt: um die ethische Begründung bzw. Kritik aller Geltungsansprüche, die im Namen der ökonomischen Vernunft erhoben werden. Als integrative Wirtschaftsethik (...) ergründet sie so zuerst das Normative im
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ökonomischen Denkmuster und in seiner Anwendung auf immer mehr Lebensbereiche, um es ethisch-kritisch .zur Vernunft' zu bringen, d.h. im Lichte einer ethisch integrierten Idee vernünftigen Wirtschaftens zu reflektieren." (Ulrich 2006, S. 297) Die Wirtschaftsethik ist also nach Auffassung von Ulrich gar nicht mit dem Problem einer mangelnden prinzipiellen Anschlussfähigkeit von Moral und Wirtschaft konfrontiert, sondern vielmehr mit dem, was Ulrich als "Reflexionsstopp vor (...) empirischen oder normativen Bedingungen der Marktwirtschaft" (Ulrich 1997, S. 124) bezeichnet. Überspitzt könnte man sagen, dass die Anschlussfähigkeit von Moral und Wirtschaft eher eine Frage des "WolIens" als des "Könnens" ist. Auf das Problem des Reflexionsstopps, dessen Überwindung ja eine Kernaufgabe einer integrativen Wirtschaftsethik ist, soll im Folgenden noch kurz eingegangen werden. Der Reflexionsstopp kann nach Darstellung von Ulrich in zwei unterschiedlichen Varianten auftreten. Einerseits in Form einer Argumentation, die darauf verweist, dass moralische Überlegungen unter marktwirtschaftlichen Bedingungen aufgrund der Wettbewerbssituation gar nicht möglich seien, ohne die Marktchancen der Akteure zu gefährden. Ulrich spricht in diesem Zusammenhang von ökonomischem Determinismus und macht dagegen geltend, dass vermeintliche "Notwendigkeiten" immer vor dem Hintergrund der jeweiligen Interessen der Einzelnen gesehen werden müssten, die dann sehr wohl einer ethischen Reflexion zugänglich seien. Der andere Reflexionsstopp wird nach Auffassung von Ulrich dann vollzogen, wenn eine ethische Reflexion des wirtschaftlichen Handelns unter Verweis auf die apriori vorausgesetzte Wohlfahrtswirkung der Marktwirtschaft abgelehnt wird. In diesem Fall ist es zugleich konsequent, die uneingeschränkte Durchsetzung der ökonomischen Rationalität als das ethisch Gebotene anzusehen. Im Zuge seiner dogmengeschichtlichen Rekonstruktion und Kritik dieser Auffassung verweist Ulrich u. a. auf die aus ethischer Perspektive bestehenden Unzulänglichkeiten der traditionellen Wohlfahrtskonzepte der Volkswirtschaftslehre. Im Ergebnis gelangt Ulrich zu dem Schluss, dass sowohl auf der Ebene des einzelwirtschaftlichen Handelns als auch auf der Ebene der Ordnungspolitik
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prinzipiell unbeschränkter ethischer Legitimationsbedarf besteht. Ulrich unterscheidet hinsichtlich der einzelwirtschaftlichen Ebene noch einmal zwischen Unternehmensethik und einer Wirtschaftsbürgerethik, die das individuelle Handeln als Konsument, als Kapitalanleger sowie als Angehöriger von Unternehmen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt. Insgesamt kann damit hinsichtlich des integrativen Ansatzes festgehalten werden, dass bewusst darauf verzichtet wird, Wirtschaftsethik als "angewandte Ethik" zu konzipieren. Ulrich weist die Forderung nach einer Vermittlung von Moral und Wirtschaft, die für ihn nur als normative oder empirische Bedingtheit der Ethik vorstellbar ist, deutlich zurück. Wirtschaftsethik kann nach seiner Auffassung nur als Grundlagenreflexion der wirtschaftlichen Vernunft angelegt sein. Als problematisch ist allerdings anzusehen, dass Ulrich die Frage der Normimplementierung, auf die Homann ja die Wirtschaftsethik vollständig begrenzt sehen möchte, völlig aus dem Blickfeld gerät. Ulrich trägt der Ausgangssituation, vor deren Hintergrund ja überhaupt erst die Forderung nach Wirtschaftsethik erhoben wird, nicht systematisch Rechnung, wenn er bloß den Primat der Ethik (zurück)fordert und alle Verweise auf empirische oder normative Bedingungen der Geltung von Normen in letzter Konsequenz für ideologieverdächtig hält.
Nachhaltigkeit als Brücke zwischen Moral und Wirtschaft Anhand der vorangegangenen Darstellung konnte angedeutet werden, dass es der Wirtschaftsethik bisher noch nicht in überzeugendem Maße gelungen ist, das Problem der Vermittlung von Moral und Wirtschaft zu lösen. Die wirtschaftsethische Diskussion ist vielmehr geprägt von zwei entgegengesetzten Polen, die jeweils dazu neigen, den Vorrang der ökonomischen Rationalität bzw. der Ethik zu postulieren. Die eine Position geht im Kern davon aus, dass Wirtschaftsethik auf die Festlegung einer bestimmten Rahmenordnung zu begrenzen ist, innerhalb derer sich die ökonomische Rationalität frei entfalten soll. Die andere Position vertritt - vereinfacht gesagt - die Auffassung, dass ökonomische Rationalität sich Fragen der ethischen Legitimität jederzeit unterzuordnen habe. Für die erste Position gibt es unter Wettbewerbsbedingun-
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gen keine sinnvolle Möglichkeit, im einzelwirtschaftlichen Handeln eine Selbstbeschränkung zu realisieren, die gezielt auf die Abmilderung der Nebenwirkungen des eigenen Handelns für die Umwelt ausgerichtet ist. Für die zweite Position dagegen ist eine solche ethisch bedingte Rücksichtnahme eine kategorische Selbstverständlichkeit, die durch Verweise auf das tatsächliche Entscheidungsverhalten der Wirtschaftssubjekte und dessen gesellschaftsstrukturelle Bedingungen nicht in ihrer Geltung in Frage gestellt werden kann. Die Frage der realen Vermittlung von berechtigten moralischen Anforderungen und einzelwirtschaftlichem Handeln bleibt dann allerdings weiterhin offen. Genau an dieser Stelle soll das Konzept der Nachhaltigkeit ins Spiel gebracht werden. So wird hier die Auffassung vertreten, dass Nachhaltigkeit die mögliche Brücke zwischen Moral und Wirtschaft sein kann, nach der die Wirtschaftsethik seit langem mehr oder minder erfolglos sucht: Eine Brücke in dem Sinne, dass Nachhaltigkeit einerseits zu einer verstärkten individuellen Rücksichtnahme auf die Umwelt und damit zu einem ähnlichen Ergebnis wie eine moralische Selbstbindung führt, andererseits aber an wirtschaftliches Handeln und die hinter diesem Handeln liegenden ökonomischen Interessen unmittelbar anschlussfähig ist, ohne problematische Fragen der Normbegründung oder der Motivation aufzuwerfen. Diese Brückenfunktion des Konzeptes setzt voraus, dass Nachhaltigkeit selbst als ökonomische Rationalität begriffen wird, was im Folgenden kurz angedeutet und anschließend mit Bezug auf die Unternehmensführung expliziert werden soll Die Idee der Nachhaltigkeit wird von den meisten Menschen zunächst mit dem Konzept der "Nachhaltigen Entwicklung" in Verbindung gebracht, wie es im 1987 erschienen Bnmdtland-Bericht (WCED 1987) formuliert wurde. In diesem Konzept verbinden sich zwei unterschiedliche Gerechtigkeitskonzepte, nämlich einerseits die Frage der Gerechtigkeit zwischen den Generationen und andererseits die Frage der Gerechtigkeit innerhalb der heute lebenden Generation von Menschen. Der Verweis auf den Begriff der Gerechtigkeit deutet bereits an, dass das Konzept der nachhaltigen Entwicklung einen ethischen Kern hat. Für unsere Zwecke möchten wir jedoch auf einen anderen Ursprung
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der Idee der Nachhaltigkeit verweisen, der mittlerweile ebenfalls durchaus geläufig ist, nämlich die forstwirtschaftlichen Überlegungen des sächsischen Oberberghauptmanns Hans Carl von Carlowitz im frühen 18. Jahrhundert. Als eine der zentralen Aussagen gilt die Forderung, innerhalb eines bestimmten Zeitraums nicht mehr Holz zu schlagen als im selben Zeitraum auch nachwächst. Hinsichtlich des Umgangs mit erneuerbaren natürlichen Ressourcen wirkt diese Formel heute beinahe trivial und es ist davon auszugehen, dass sie durchaus lange vor dem 18. Jahrhundert zu einer ungeschriebenen Grundregel des Wirtschaftens zählte, die allerdings unter den institutionellen und sozioökonomischen Bedingungen der Modeme an Bedeutung verloren zu haben scheint. Insofern kommt der erstmaligen Formulierung von Nachhaltigkeit als Prinzip einer systematischen, langfristig orientierten Forstwirtschaft durch von Carlowitz eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu. Verallgemeinert man das Prinzip der Nachhaltigkeit als grundlegende Anweisung zum Umgang mit Ressourcenquellen, offenbart das Konzept seine Nähe zu einer haushaltsökonomischen Denkweise, die bereits in der praktischen Philosophie der Antike Beachtung findet (vgl. Müller-Christ 2010, 10Hf.). Im Zentrum dieses haushaltsökonomischen Denkens steht die Vorstellung der Daseinsvorsorge, d.h. der Reproduktion des Haushalts als Wirtschaftseinheit. Grundlage dieser Daseinsvorsorge ist dabei die Erhaltung der für die Reproduktion des Haushalts notwendigen Ressourcenquellen. Mit dem Begriff der Ressourcenquellen soll hier das Geflecht aus materiellen und immateriellen Prozessen bezeichnet werden, die zur Entwicklung von Ressourcen führen (Summe der Eigengesetzlichkeiten der Ressourcenquelle). Die Verfügbarkeit einer Ressource setzt mithin voraus, dass das eigene Handeln die Reproduktion dieser Ressourcenquellen nicht schädigt. In diesem Sinne kann man von einer notwendigen Rücksichtnahme auf die Eigengesetzlichkeiten der Ressourcenquellen sprechen. Diese Rücksichtnahme auf die Umwelt ist dabei nicht ethisch vermittelt; sie kommt vollständig ohne Bezug auf moralische Normen und Werte und die damit verbundenen Begründungsprobleme aus. Unter der Voraussetzung, dass die Reproduktion einer Wirtschaftseinheit gesichert werden soll, ist ein solcher rücksichtsvoller Um-
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gang mit den Ressourcenquellen und der damit verbundene Versuch der Vermeidung jener Nebenwirkungen des eigenen HandeIns, die schließlich zu negativen Rückwirkungen werden können, unmittelbar einsichtig. In diesem Sinne soll hier davon gesprochen werden, dass eine solche Rücksichtnahme ,rational' ist und sich nicht den mühevollen Anforderungen ethischer Begründungen unterwerfen muss. Mit Blick auf die Daseinsvorsorge als Ziel jeder Form von Wirtschaften - Wirtschaften hier verstanden in einem substantiellen Sinne - kann entsprechend von Nachhaltigkeit als ,ökonomischer Rationalität' gesprochen werden. Während die Ethik stets mit der schwierigen Übersetzung der Geltung von Normen in entsprechende Handlungsmotivationen konfrontiert ist, stellt sich mit Bezug auf das Konzept der Nachhaltigkeit nur noch die Frage, ob vernünftig gewirtschaftet wird oder nicht. Es schließt sich nun die Frage an, welche Bedeutung eine derartige haushaltsökonomische Rationalität der Nachhaltigkeit in der modernen Marktwirtschaft haben kann, die - wie bereits angedeutet - vollständig auf den erwerbswirtschaftlichen Erfolg bzw. die ökonomische Rationalität der Effizienz ausgerichtet ist. Ansatzpunkt ist hier die Feststellung, dass auch Unternehmen als soziale Systeme in ein Geflecht von Ressourcenaustauschbeziehungen mit ihrer Umwelt eingebunden sind. Der Begriff der Umwelt ist dabei weit gefasst und beinhaltet alle natürlichen und sozialen Systeme in der Umgebung eines Unternehmens. Entsprechend breit ist auch der Ressourcenbegriff angelegt, wobei eine Unterscheidung in materielle, immaterielle und finanzielle Ressourcen denkbar wäre (vgl. Gandenberger 2008). Jedes System in einem solchen Geflecht von Ressourcenaustauschbeziehungen ist abhängig von Ressourcen anderer Systeme und zugleich Ressourcenquelle für andere Systeme. Diese vitalen Ressourcenströme werden immer dann gestört, wenn ein System in seiner Funktionsfähigkeit so behindert wird, dass es als Ressourcenquelle für andere Systeme ausfällt. In dieser Perspektive ist es auch für Unternehmen rational, sich für den Erhalt ihrer Ressourcenquellen einzusetzen, indem sie die Eigengesetzlichkeiten ihrer Ressourcenquellen und ressourcenaufnehmenden Systeme beachten (vgl. Müller-Christ 2001). Derart rücksichtsvolle Beziehungen folgen der Rationalität der Nachhaltigkeit.
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Erweiterung der Managementrationalitäten: Die Bedeutung von Nachhaltigkeit für die Untemehmensführung Im Folgenden soll versucht werden, die mögliche Bedeutung dieser Rationalität der Nachhaltigkeit für Unternehmen analytisch weiter zu explizieren und das Konzept der Nachhaltigkeit damit der unternehmerischen Entscheidungssituation anzunähern. Es soll dabei gezeigt werden, dass die Managementrationalitäten, die das unternehmerische Entscheidungsverhalten heute prägen, keineswegs unzulänglich sind und entsprechend relativiert werden müssten. Es geht vielmehr darum, das Konzept der ökonomischen Rationalität der Nachhaltigkeit zu nutzen, um eine Erweiterung dieser Managementrationalitäten anzustoßen, die der Ressourcenabhängigkeit der Unternehmen gerecht wird. Den Ansatzpunkt der Ausführungen bildet die Unterscheidung dreier verschiedener
Managementrationalitäten
(Systemrationalität,
Zweck-Mittel-
Rationalität, Entscheidungsrationalität). Grundlage dieser Unterscheidung wiederum ist die Feststellung, dass die modeme Managementlehre den klassischen Erfolgsbegriff der optimalen Zweck-Mittel-Kombination erst verhaltenswissenschaftlich relativiert (Entscheidungstheorie) und später systemtheoretisch aufgeladen hat (Remer 2004). Die zu unterscheidenden Managementrationalitäten lassen sich zwar inhaltlich abgrenzen, haben aber gleichzeitig füreinander bindende Aussagen. Diese bindenden Aussagen, die zugleich auch die Unzulänglichkeiten begründen, werden bislang in der Managementlehre zu wenig beachtet. Die nachfolgende Abbildung verdeutlicht den Erkenntnisund Begründungsweg für die notwendige Erweiterung der Managementrationalitäten.
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Abbildung 1: Modell umfassender Managementrationalitäten
Erweiterung auf der Systemebene Unabhängig davon, wie man den Begriff des sozialen Systems genau fasst, herrscht in den Sozialwissenschaften doch Konsens darüber, dass soziale Systeme - wir sprechen hier von Organisationen oder noch genauer: von Unternehmen als Wirtschaftsorganisationen - in ihrem Handeln auf sich selbst Bezug nehmen. Auf die Art und Weise, wie sie das tun, bezieht sich der Begriff der Systemrationalität: Wie bezieht ein soziales System einzelne Handlungen auf das System als Ganzes. Von entscheidender Bedeutung ist in diesem Zusammenhang das Konzept des Zwecks. Systeme, die bestimmte Zwecke verfolgen, handeln systemrational, wenn ihr Handeln nachvollziehbar auf die Erreichung eines Zwecks ausgerichtet ist (Systemrationalität I). Von einer analytischen Perspektive aus kann man - wie Luhmann vorschlägtdie Zwecksetzung sozialer Systeme als einen Weg zur Reduzierung von Umweltkomplexität beschreiben. Wenn Unternehmen sich für einen Zweck entscheiden, bleiben die anderen möglichen Zwecke, die die umgebende Welt als Vorrat beinhaltet, bestehen und sind für andere Situationen aufbewahrt. Sie
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werden also nur vorläufig neutralisiert. Mit der Wahl eines Zweckes erhält das System Autonomie und Handlungsfähigkeit, weil es sich fortan nur noch mit den zweckbezogenen Fragestellungen beschäftigen, nur bestimmte Umwelten wahrnehmen und nur noch ausgewählte Perspektiven zulassen muss. Zwecksetzung ist aber nur eine Strategie der Komplexitätsreduzierung, und sie ist mit Wagnissen besetzt: Die Umweltkomplexität wird zwar durch verschiedene Verfahren auf eine bearbeitbare Form ins System gebracht, sie besteht aber außerhalb fort. Das Ausgeblendete (Neutralisierte) ist nur für das spezifische System unerkennbar geworden, seine prinzipiell weiter bestehenden Wirkungen können jederzeit wieder überraschend für das System Relevanz gewinnen (Luhmann 1979).
Die Relevanz, die sich den Unternehmen heute wieder vermehrt zeigt - und an dieser Stelle kommt Nachhaltigkeit ins Spiel- ist die Tatsache, dass sie ihre Zwecke zwar effizient verfolgen, ihre Umwelten aber zunehmend direkt signalisieren, dass sie nicht mehr die Ressourcen liefern können, die zur Bestandserhaltung benötigt werden. Gerade wenn die Nebenwirkungen des eigenen, voll auf die Zweckerreichung ausgerichteten Handelns zu einer Gefährdung der Ressourcenbasis führen, reicht es für Unternehmen nicht mehr aus, bei dieser ausschließlichen Zweckorientierung zu bleiben. Sie müssen vielmehr ihren Bestand durch weitergehende Maßnahmen sicherstellen. Wie könnte eine solche Ergänzung der Zweckorientierung auf der Ebene der Systemrationalität aussehen? Mögliche Hinweise liefert auch hier die neuere Systemtheorie Luhmanns. Bekanntermaßen arbeitet diese mit der Vorstellung der Selbstreferenz bzw. der operativen Geschlossenheit. Die Leistung operativ geschlossener Systeme (und dazu zählen für die neuere Systemtheorie auch Unternehmen) besteht weniger in der Herstellung eines überlebensrelevanten Fits mit der Umwelt als der ständigen Selbsthervorbringung ihrer Organisation und Identität, wobei gerade der Zwecksetzung im Bereich von Organisationssystemen eine besondere Rolle zukommt. Bei operativ geschlossenen Systemen sind die Möglichkeiten der Bezugnahme auf die Umwelt immer durch die interne Struktur des Systems bestimmt. Die Selbstreferenz dieser Systeme
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und die damit verbundenen geringen Möglichkeiten, auf Umweltereignisse zu reagieren, erfordern eine besondere Art von Umweltsensibilität. Luhmann deutet an, dass sich eine solche Umweltsensibilität im Falle selbstreferentieller Systeme nur in einem einfachen formalen Prinzip ausdrücken kann. So spricht er davon, dass ein "System seine Einwirkungen auf die Umwelt an den Rückwirkungen auf es selbst kontrollieren muss, wenn es sich rational verhalten will" (Luhmann 1984, S. 642). Damit wird eine über die Zweckorientierung hinausgehende Form der Systemrationalität angedeutet, die hier als Systemrationalität 11 bezeichnet wird. Als Rationalität ist sie ohne weiteres intersubjektiv nachvollziehbar, wie man leicht an der Feststellung sehen kann, dass die meisten Individuen genau diese Vernunft in der unmittelbaren Interaktion mit ihren Mitmenschen zum Anschlag bringen: Sie überprüfen gedanklich oder emotional ihre Verhaltensüberlegungen an den möglichen Reaktionen des Gegenübers und der Rückwirkungen auf sie selbst. Die Konsequenz dieser Selbstreflexion ist eine Selbstbeschränkung, sowohl in zwischenmenschlichen Beziehungen als auch in intersystemischen Austauschbeziehungen (Martens 1997,S. 285). Unter Verweis auf die Einbindung in ein Geflecht von Ressourcenaustauschbeziehungen zwischen verschiedenen Systemen lässt sich die Systemrationalität 11 weiter für Unternehmen konkretisieren. Im Wesentlichen läuft sie auf die Einsicht hinaus, dass ein Unternehmen ständig mit bestandsgefährdenden Rückwirkungen auf das eigene System rechnen muss, wenn es seine Umwelt gefährdet. Dies liegt eben daran, dass die Umwelten selber ressourcenabhängige Systeme mit Eigengesetzlichkeiten sind, so dass es in den Austauschbeziehungen zu Interessengegensätzen kommen kann. Dieser Zusammenhang ist in der nachfolgenden Abbildung aus der Ressourcenperspektive graphisch dargestellt. Die notwendig hohe Umweltsensibilität erzwingt also eine ständige Selbstreflexion der möglichen Rückwirkungen. Es geht darum, Rückwirkungen zu verhindern, vor denen sich das System aufgrund seiner strukturellen Geschlossenheit nicht schützen kann. Der konkrete Inhalt der Selbstreflexion eines sozialen Systems ist die Frage, inwiefern allein die Zweckerreichung das
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Überleben des Systems sichern kann (Existenz durch Effizienz) oder ob die Existenzerhaltung eine unabhängige Größe von der Zweckerreichung ist.
Interessensgegensätze
ressourcenabhängiges System mit spezifischen Überlebensbedingungen (Eigengesetzlichkeiten)
-=::::::
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Ressourcenbeziehung
ressourcenabhängiges System mit spezifischen Überlebensbedingungen (Eigengesetzlichkeiten)
Abbildung 2: Kontrolle der Rückwirkungen als Überlebensstrategie
Die beiden nebeneinander stehenden Systemrationalitäten lassen sich nicht ohne weiteres und vollständig aufeinander reduzieren. Es gilt weder "Zweckerreichung durch Rückwirkungskontrolle" noch umgekehrt "Rückwirkungskontrolle durch Zweckerreichung". Woran liegt das? Die Rückwirkungskontrolle ist das Instrument zur Bestandserhaltung. Luhmann spricht nicht von einer Bestandserhaltung oder einer Bestandsrationalität, sondern von einer Bestandsformel oder dem Bestandsmodell. Soziale Systeme haben den immanenten Drang zu überleben, also ihren Bestand zu erhalten. Das Bestandsproblem ist indes wesentlich komplexer zu beschreiben und zu realisieren als die Zweckrationalität. Beide Begriffe - Bestandsformel und Zweckrationalität - befinden sich auf unterschiedlichen Ebenen der Realitätsbeschreibung: Der Zweckbegriff bleibt auf der Ebene der Einzelhandlung. die Bestandsformel ist dagegen allgemein auf Systemprobleme zugeschnitten. Beide Formeln sind somit völlig unverträglich miteinander, wenn sie den Anspruch erheben, den alleinigen grundbegrifflichen Bezugsrahmen zu definieren im Sinne einer letzten und nicht mehr ableitbaren Begründung. Genau dies würden beide Formeln durch die Radikalität der ihnen eingegebenen Fragestellung versuchen: "Dabei müssen sie das
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Gegenprinzip verschlingen, ohne es verdauen zu können" (Luhmann 1979, S. 151). Das Entscheidende an der Entdeckung der Bestandsformel ist also ihre Selbstständigkeit gegenüber der Zweckrationalität. Deshalb ist von einem dualen Erfolgsbegriff für wirtschaftende Einheiten auszugehen. Zweckerreichung (Effizienz) ist der eine Erfolgsbegriff, Bestandserhaltung (Existenz) der andere.
Erweiterung auf der Zweck-Mittel-Ebene Die Zwecksetzung sozialer Systeme als abstraktes Instrument der Komplexitätsreduzierung konkretisiert sich auf der Ebene des Handelns als Gestaltung von Zweck-Mittel-Beziehungen. Sind die Zwecke gesetzt, also eine dauerhafte gewünschte Wirkung des sozialen Systems formuliert, stellt sich unmittelbar die Mittelfrage: Mit welchen Mitteln sollen die Zwecke erreicht werden? Die Auswahl der Mittel kann anhand verschiedener Kriterien vorgenommen werden. Dabei hängt es vom Zweck des Systems ab, welche Rationalität die Leitorientierung übernimmt. Im Falle eines erwerbswirtschaftlichen Unternehmens wird dies die ökonomische Rationalität der Effizienz sein. Die Betriebswirtschaftslehre kann in diesem Sinne vereinfacht auch als ZweckMittel-Lehre bezeichnet werden (Woll 1994, S. 37). Sie geht davon aus, dass die Zwecke von Unternehmen in der Marktwirtschaft gesellschaftlich vorgegeben sind und die optimalen Mittel bestimmt werden müssen. Die Zweck-MittelRelationen, die die Betriebswirtschaftslehre erarbeiten soll, müssen der Rationalität der Effizienz folgen. Die Zwecke von Unternehmen sind allgemein die Produktion von absatzfähigen Produkten und Dienstleistungen. Diese Herstellung muss im Verständnis einer erwerbswirtschaftlich orientierten Marktwirtschaft dem Ziel - ehemals der Gewinnmaximierung - heute eines angemessenen Gewinns folgen. Effizienz und Effektivität sind beide Begriffe, die die Wirksamkeit einer Zweck-Mittel-Gestaltung umschreiben. Eine Maßnahme ist dann effektiv, wenn mit ihr ein gewünschter Zweck erreicht wird. Eine Maßnahme ist dann effizient, wenn mir ihr ein gewünschter Zweck mit sparsamen Mitteleinsatz
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erreicht wird. Formal drückt sich Effizienz im Verhältnis von Output zu Input einer Maßnahme dar. Wenn Output und Input stofflich erfasst werden, ist die Messgröße die Produktivität; wenn Output und Input in Geldgrößen ermittelt werden, ist die Messgröße die Wirtschaftlichkeit einer Maßnahme. Ob eine Maßnahme produktiv oder wirtschaftlich ist, kann ohne eine dritte Bezugsgröße nicht festgestellt werden. Eine Maßnahme ist dann effizient, wenn durch sie ein günstigeres Output/Input-Verhältnis realisiert werden kann als durch eine vergleichbare Alternative. Aus der volkswirtschaftlichen Perspektive entsteht der nachvollziehbare Begründungszusammenhang der Effizienz durch die Setzung, dass alle Mittel knapp sind und zugleich die menschlichen Bedürfnisse unendlich. Unter der Annahme, dass die Realität so ist, ist es vernünftig, alle Mittel so effizient wie möglich einzusetzen. Aus der betriebswirtschaftlichen Perspektive entsteht der nachvollziehbare Begründungszusammenhang der Effizienz durch die normative Setzung des Gewinnprinzips. Gutenberg hat aus dem Gewinnprinzip die Notwendigkeit des wirtschaftlichen Handeins abgeleitet. Gewinn kann man nur machen, wenn der Ertrag höher ist als die Kosten, was wiederum nur dann der Fall ist, wenn ein bestimmter Ertrag mit einem minimalen Aufwand bzw. mit einem gegebenen Aufwand ein maximaler Ertrag realisiert wird (Gutenberg 1983, S. 464). Nun ist es - wie bereits dargelegt wurde - gerade die ökonomische Rationalität der Effizienz, die für viele der unerwünschten Nebenwirkungen verantwortlich sind, welche dann schließlich zum Ausgangspunkt für den Ruf nach mehr Ethik in der Wirtschaft werden. Es wurde ebenfalls dargelegt, dass im Rahmen des wirtschaftsethischen Diskurses bisher noch kein überzeugender Versuch einer Vermittlung von ethischer Vernunft und ökonomischer Rationalität vorgelegt wurde. Inwieweit kann nun Nachhaltigkeit - selbst verstanden als Form ökonomischer Rationalität - als Ergänzung zur ökonomischen Rationalität der Effizienz (hier bezeichnet als Zweck-Mittel-Rationalität I) angesehen werden, die das Problem der Nebenwirkungen des wirtschaftlichen Handelns abmildert? Der entscheidende Ansatzpunkt ist die Übersetzung der Systemrationalität 11 in eine Zweck-Mittel-Rationalität 11, in der unter Verweis auf
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Unternehmen als ressourcenabhängige Systeme die Vernunft des dauerhaften Wirtschaftens zum Ausdruck kommt: Nur wenn das Verhältnis von Ressourcennachschub zu Ressourcenverbrauch ausgeglichen ist, bleibt die Ressourcenbasis erhalten. Im Einsatz der ökonomischen Ressourcen ist diese Rationalität für Unternehmen bereits bindend: Erst wenn das eingesetzte Kapital wieder zurückgeflossen ist, dürfen Gewinne ausgewiesen werden. Nur so bleibt die Kapitalsubstanz erhalten. Und für alle Wirtschaftssubjekte gilt: Nur wer nicht mehr Geld ausgibt als nachkommt, erhält sein Vermögen. Eine solche haushaltsökonomische Vernunft kann heute nicht länger auf finanzielle Ressourcen beschränkt werden, sondern muss auch den Umgang mit sozialen und ökologischen Ressourcen steuern. Mit der Aufnahme des Reproduktionsgedankens verbindet Nachhaltigkeit den gegenwärtigen Produktions- und Konsumprozess mit den nachfolgenden und führt damit die Dimension Zeit wieder in die wirtschaftliche Vernunft ein. Genau diese Funktion kann die Rationalität der Effizienz nicht leisten. Je schwieriger es wird, zukünftige Erlöse zu prognostizieren (den Output), umso kürzer wird der Zeitraum, für den Effizienzberechnungen gelten können. Mit Nachhaltigkeit kehrt also auch die sozial-räumliche Dimension des Wirtschaftens wieder in die ökonomische Vernunft zurück. Handeln gemäß der Systemrationalität 11 verlangt, das Verhältnis von Innen und Außen, von System und Umwelt, von Zwecken und Mitteln neu zu gewichten. Nicht mehr die zweckmäßige Struktur des Systems (Nebenwirkungen!) ist die Überlebenseinheit, sondern das Beziehungsmuster des Systems mit seinen Umwelten (RückwirkungenJ). Alle Kosten, die zur Verbesserung der Ressourcenbeziehungen zwischen Unternehmen und ihren Umwelten anfallen, sind zugleich Investitionen in die dauerhafte Sicherung der Ressourcenbasis. Die gesamte ökonomische Rationalität besteht folglich aus der Effizienz- und der Nachhaltigkeitsrationalität. Diese Erweiterung hat erhebliche Konsequenzen, weil sie auf der Zweck-Mittel-Ebene zu Widersprüchen führt, die nicht ohne weiteres mit herkömmlichen Denkmustern bewältigt werden können (vgl. Hülsmann 2002).
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Erweiterung auf der Entscheidungsebene Die Entscheidungsebene ist in doppelter Weise mit der Zweck-Mittel-Ebene verbunden. Klassischerweise wird zum einen davon ausgegangen, dass wirtschaftende Einheiten über die Wahl der Mittel entscheiden müssen, mit denen sie ihre Zwecke optimal erreichen. Dies scheint im Wesentlichen ein Problem der Bewertung von Entscheidungsalternativen zu sein, weil einem Zweck viele mögliche Mittel gegenüber stehen, über die fortlaufend entschieden werden muss. Erst langsam setzt sich zum anderen in der Managementlehre die Erkenntnis durch, die Herbert Simon schon 1945 formuliert hat: Auch der Zweck einer Unternehmung ist das Resultat von Entscheidungen (vgl Simon 1945). Nachhaltigkeit im Sinne einer Erhaltung der Ressourcenbasis kann diesen Gedanken nun potenzieren, weil die Rücksichtnahme auf die Eigengesetzlichkeiten der Ressourcenquellen nicht mehr alle nur möglichen Zwecke zulässt. Tatsächlich wird genau das von den wirtschaftenden Einheiten gefordert werden: dass sie mit Blick auf den Erhalt ihrer Ressourcenquellen ihre Mittelverwendung und ihre Zwecke zugleich reflektieren. Aus der entscheidungstheoretischen Perspektive folgt der Entscheidungsprozess über Mittel einer anderen Logik als der über Zwecke. Die Entscheidung über Mittel stellt einen Wahlakt zwischen Alternativen dar, die mit der Wahrscheinlichkeit ihres Eintretens gewichtet und nach Präferenzen geordnet sind. Im Ideal der Rational Choice Theorie sind die Alternativen aufgrund vollkommener Information so aufbereitet, dass eigentlich kein Wahlakt mehr stattfinden muss. Die Abwägung ergibt eine Alternative ganz oben auf der Rangordnung, die den Nutzen maximiert (Entscheidungsrationalität I). Die Fokussierung der Alternativenbewertung auf das beste Kosten-NutzenVerhältnis in den Wirtschaftswissenschaften legt es dem ökonomischen Entscheider nahe, alle Kosten, die abwälzbar sind oder erst in der Zukunft anfallen, nicht in den Entscheidungsprozess einfließen zu lassen. Mit der Durchsetzung dieses Kosten-Nutzen-Kalküls verschwinden also auch die Nebenwirkungen aus der Reflexion. Insofern die Zwecke von sozialen Systemen nicht beliebig veränderbar sind, können auch sie im Rahmen des Kosten-Nutzen-
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Kalküls ausgeblendet werden, so dass aus ökonomischen Entscheidungsprozessen im Wesentlichen eine Suche nach den optimalen Mitteln wird. Damit werden auch die Schwierigkeiten angedeutet, die entstehen, wenn versucht wird, das Kosten-Nutzen-Kalkül auf Langfristentscheidungen anzuwenden. Dies liegt zum einen daran, dass langfristige Ursache-Wirkungsbeziehungen sich nur "gewaltsam" ins Kosten/Nutzen-Schema pressen lassen. Viele langfristige Wirkungen von Nachhaltigkeitsentscheidungen stellen kein Bedürfnis für den heutigen Entscheider dar, auf den der Nutzen bezogen werden könnte. Zudem basieren die Ursache-Wirkungsbeziehungen auf komplexen, ungewissen und individuell zu tragenden Ursachen (Verhaltensveränderung), die zu einer Wirkung für die gesamte Gemeinschaft der Ressourcennutzer führen müssen. Die Vermutung lautet, dass die Entscheidungsrationalität I nicht mit beiden Hemmnissen gleichzeitig im Entscheidungsprozess umgehen kann und deshalb um eine andere, nachhaltigkeitsorientierte Entscheidungsrationalität 11 ergänzt werden muss. Die Idee einer Entscheidungsrationalität 11 folgt dem allgemeinen Bemühen, Entscheidungen nicht der Irrationalität preiszugeben. Wir sind weiterhin darauf angewiesen, intersubjektiv nachvollziehbare Begründungen für Entscheidungen zu liefern, um diese auch durchsetzen zu können. Das geschilderte Problem ist indes die Tatsache, dass über die Schiene der Bestandssicherung und der Nachhaltigkeit die Komplexität der in den Entscheidungsprozessen zu verarbeitenden Informationen deutlich zunimmt, weil zwischen kurzfristigen direkten und langfristigen indirekten Wirkungen unterschieden werden muss. Anstelle des Versuchs, ausschließlich in der Logik des Kosten-Nutzen-Kalküls zu bleiben und entsprechend ein komplexeres Optimierungsproblem zu formulieren, soll hier ein anderer Weg vorgeschlagen werden. Aus dem zunehmend größer werdenden Problem, eine Entscheidung unter Nutzenmaximierungsgesichtspunkten berechenbar zu machen, werden zwei Teilprobleme abgeleitet, deren Lösungen erst einmal nebeneinander stehen bleiben. Hat diese Vorgehensweise auf der Systemebene und auf der Zweck-Mittel-Ebene aufgrund von bereits vorhandenen wissenschaftlichen Erkenntnissen zu ersten
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Ergebnissen geführt, wird nun auf der Entscheidungsebene Neuland betreten. Es sind kaum Ansätze bekannt, die Entscheidungen jenseits von KostenNutzen-Kalkülen modellieren. Genau darum geht es aber, wenn langfristige Wirkungen erzielt werden sollen. Wirkungen auszulösen, ohne einen direkten Nutzen zu haben, scheint eine Logik zu sein, die dem sozialen Tausch ähnelt. Wenn dem so wäre, dann könnten vielleicht Erkenntnisse sozialer Tauschtheorien - wie beispielsweise des Gabentausches - für die Entscheidungsrationalität II erschlossen werden. Eine gewisse Nähe des Anwendungskontextes ist zumindest gegeben: Ressourcenabhängige Systeme müssen sich mit ihren Umsystemen als Ressourcengemeinschaften begreifen (vgl. Müller-Christ/Remer 1999), ein Konstrukt, welches vielleicht am ehesten als Ressourcennetzwerk umschrieben werden könnte. Sozialer Austausch in Netzwerken thematisiert den Tausch ohne direkte Gegenleistung (Gabentausch), also einen Tausch, der nicht nach KostenNutzen-Gesichtspunkten entschieden werden kann, da der Nutzen in die ferne Zukunft gelegt wird (vgl. Matiaske 1999). Es könnte sein, dass es entscheidungstheoretisch keinen Unterschied macht, ob ein Wahlakt über Ursachen mit langfristiger Wirkung vollzogen wird oder über einen sozialen Tausch; es könnte auch dann keinen Unterschied machen, wenn die wesentliche Entscheidungsprämisse für Langfristwirkungen die Kausalität ist, die für den sozialen Tausch aber individuelle oder kollektive Normen. Abschließend wird versucht, aus den Unterschieden der Entscheidungsrationalitäten erste Erkenntnisse für die Entscheidungsrationalität II zu ziehen. Im Prozess der Entscheidungsrationalität I, und hier ganz besonders in der normativen Entscheidungstheorie, wird durch die Determinierung des Ergebnisses durch die optimierende Berechnung des Nutzenerwartungswertes die Paradoxie, die jeder Entscheidung innewohnt, wegdefiniert. Der Anspruch an die Entscheidungsrationalität II ist indes, dass das Ausgeblendete, also das Nicht-Beobachtete in den Entscheidungsprämissen mitberücksichtigt wird. Diese Notwendigkeit nennt Luhmann die Paradoxie der Entscheidung (Luhmann 1993). Die Schlüsselbegriffe im Luhmannschen Ansatz sind: entscheiden
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und unterscheiden. "Draw a distinction" ist das erste in sich paradoxe Paradoxievermeidungsgebot (Luhmann 1993, S. 289). Einen Unterschied machen, bedeutet etwas hervorzuheben und somit alles andere liegen zu lassen, also nicht zu beobachten. Das Grundproblem ist indes, dass zwar das Beobachtete das Unterschiedene ist, dass aus dieser Perspektive aber nicht beobachtet werden kann, was nicht beobachtet wird. Für eine Einheit der Unterscheidung müsste aber genau dies passieren. Notwendig ist folglich die Beobachtung der Beobachtung, kybernetisch formuliert: die Beobachtung zweiter Ordnung. In der Beobachtung zweiter Ordnung wird beobachtet, was in der Beobachtung erster Ordnung nicht beobachtet wurde, mithin ausgeblendet wurde. Nachhaltigkeitsentscheidungen werden in diesem Verständnis zu Entscheidungen über Entscheidungsprämissen, die durch einen Beobachtungsprozess zweiter Ordnung gesteuert werden. Wenn man es ganz genau nimmt, muss die Rationalität der Nachhaltigkeit als Entscheidungsprämisse in den Entscheidungsprozessen der wirtschaftenden Akteure auftauchen. Dadurch erhalten die Entscheidungsprämissen eine Tragweite, die sich ganz vom Problem der Rationalität der Entscheidung ablöst. Insofern konkretisiert sich die Forschungsfrage nun auf die Suche danach, wie die Entscheidungsprozesse über Entscheidungsprämissen gestaltet werden müssen, damit Nachhaltigkeit als Restriktion (Prämisse) in den Alternativenbewertungsprozess einfließt. Die ersten Überlegungen aus der Notwendigkeit der Beobachtung zweiter Ordnung weisen darauf hin, dass die Dimensionen der Nachhaltigkeit, also die ökonomische, die ökologische und die soziale Dimension sich gegenseitig beobachten und sich wechselseitig Prämissen setzen müssen. Diese Prämissen werden letztlich die Beachtung von Restriktionen einfordern und somit Rücksicht verlangen. Eine solche Rücksichtnahme bedeutet, nicht-konsequenzialistische Bindungen wie Fairness, Altruismus, Reziprozität oder Rückwirkungen im Entscheidungsprozess handlungsleitend zu Grunde zu legen. Folgt man dieser Argumentation, würde die Entscheidungsrationalität 11 in letzter Konsequenz auch wieder auf die Ethik zurückverweisen.
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Die Bedeutung der Ethik im Kontext der Rationalität der Nachhaltigkeit Im vorangehenden Abschnitt wurde erörtert, wie die ökonomische Rationalität der Nachhaltigkeit auf der Ebene unterschiedlicher Managementrationalitäten zu explizieren wäre. Es ging darum zu zeigen, dass sich auch aus dem Prinzip der Nachhaltigkeit - soweit es als Ausdruck einer haushaltsökonomischen Vernunft verstanden wird - eine Aufforderung zu einer verstärkten Rücksichtnahme auf die Unternehmensumwelt im unternehmerischen Handeln ableiten lässt. Welche Schlussfolgerungen lassen sich jetzt im Hinblick auf die weitere Bedeutung einer ethischen Vernunft im Kontext des Wirtschaftens ziehen? Können moralische Ansprüche an das einzelwirtschaftliche Handeln vollständig aufgegeben werden, wenn die ökonomische Rationalität der Effizienz um den Aspekt der Nachhaltigkeit ergänzt wird? Lassen sich mit Nachhaltigkeit mithin alle Probleme lösen, die erst den Ausschlag zur Entstehung eines wirtschaftsethischen Diskurses gegeben haben? Unserer Auffassung nach sind diese Fragen zu verneinen. Die Frage der Rücksichtnahme auf die Unternehmensumwelt ist nicht vollständig im Konzept der ökonomischen Rationalität der Nachhaltigkeit aufzulösen. Zur Begründung dieser Auffassung sollen hier wenigstens zwei Aspekte angeführt werden, hinsichtlich derer Ethik eine wichtige ergänzende Funktion hat.
Ethik als Grundlage eines nachhaltigkeitsorientierten Wertekontextes Zunächst ist dabei auf den notwendigen Bezug von Rationalitäten auf einen Wertekontext hinzuweisen. Von besonderer Bedeutung ist hier das Konzept des Framings, auf das im Folgenden eingegangen werden soll. Irgendwo zwischen dem nüchternen "intersubjektiv nachvollziehbaren, aber inhaltlich leeren Begründungszusammenhang [einer Rationalität; d. Verf.] und der Welt des Normativen und Nicht-Letztzubegründendem gibt es mentale Modelle, die pragmatisches Entscheiden ermöglichen" (Ortmann 2001, S. 284). Diese mentalen Modelle können als Frames bezeichnet werden, als Rahmen der Re-
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levanz, weil sie in ihrer komplexitätsreduzierenden Wirkung einen verkleinerten oder vereinfachten Rahmen liefern, in dem Handeln möglich ist. Die mentalen Modelle oder Frames reduzieren die vorhandene Vielfalt der Kombinationsmöglichkeiten im Suchraum des Wertekontextes und schaffen eine gemeinsame Definition der Ziele und der Handlungssituation. Unter Verweis auf das Konzept des Framings lässt sich ein möglicher Grund finden, warum den wirtschaftlichen Akteuren der Wandel zu mehr Nachhaltigkeit bislang so schwer fällt: Thnen fehlt ein Frame, der den gesellschaftlichen Wertekontext und die Rationalität der Nachhaltigkeit komplexitätsreduzierend und handlungsorientiert verknüpft. Während sich die ökonomischen Rationalitäten intersubjektiv begründen lassen, sind die Umschreibungen der ökonomischen Wertekontexte und der Frames eine Interpretationsaufgabe. Der Begriff des "Frame" ist von Goffmann entliehen. Er versteht darunter ein "scheme of interpretation to organize und guide action" (Goffmann 1974, S. 21). Das Konzept des Framings bietet sich an, einen vereinfachten Handlungsrahmen zwischen dem Wertekontext einer Rationalität und der Rationalität selbst zu formulieren. Ein Frame besteht aus einer handlungsnahen und komplexitätsreduzierenden Formel, die die Wertvorstellungen auf den Handlungskontext bezieht und die formale Logik der Rationalität in einen gängigen Erfolgsbegriff übersetzt. Zweck eines Frames ist es, den Entscheider von der permanenten Reflexion der Werte und der konsequenten Anwendung des Formalprinzips zu entlasten, indem ein Relevanzrahmen oder ein kognitiver Filter für die Zielstruktur geschaffen wird (Esser 1990, S. 238). Das Konzept der Frames wird in der Entscheidungstheorie als korrigierendes Element der rationalen Entscheidung eingesetzt, als deskriptives Denkmodell der Vereinfachung, wie Akteure die Informationsflut verarbeiten. "Framing ist die kluge Antwort des menschlichen Organismus auf das Problem der bounded rationality" (Esser 1996, S. 17). Die Verknüpfung von Wertekontext und Rationalität, wie sie hier beschrieben wird, wird jedoch nicht als ein bewusster Entscheidungsprozess verstanden, sondern als eine vorbewusste Reduzierung der Verknüpfungsmöglichkeiten von Wertekontext und Rationalität zu einem mentalen Modell
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Die Rationalisienmg der Effizienz war ein Werkzeug der Betriebswirtschaftslehre, um die Unternehmensziele in der Nachkriegszeit zu erreichen. Wirtschaftlichkeit maximierte den Output der Unternehmen in einer Zeit, in der die Nachfrage nach Gütern sehr groß war. Das Ziel der Produktionsausweitung war die Anhebung des Lebensstandards und die Erfüllung des gesellschaftlichen Leitmotivs: "Wohlstand für alle". Der anfängliche Frame, der die Wertsetzung "Wohlstand für alle" und die Rationalität der Effizienz verband, war in bildhaften Worten des bekannten Zitates des Vorstandsvorsitzenden Wilson von General Motors: What's good for General Motors is good for the countryl (Staehle 1994, S. 588). Mit der Intensivierung des Wettbewerbs und Sättigung der Märkte erscheint als neue normative Zielsetzung, dass Unternehmen über Arbeitsplätze Einkommen sichern sollen. Dies können sie aber nur, wenn sie ausreichende Gewinne machen. Folglich lautet der Frame für Unternehmen, dass Gewinne das Überleben sichern, analog für die Volkswirtschaft, dass Wachstum den Wohlstand sichert. Die Indikatoren für diese Interpretation sind evident: Wirtschaftspolitik ist im Wesentlichen Wachstumspolitik (oder Wachstumsreduzienmgsverhinderungspolitik), Unternehmenspoli-
tik ist im Wesentlichen Kostensenkungspolitik oder Ertragsreduzierungsvermeidungspolitik. Die Managementlehre ringt beständig um diesen Frame, indem sie ihn theoriegestützt in neue Instrumente übersetzt, empirisch aber nicht bestätigen kann. Der Wertekontext rund um die Effizienzrationalität basiert auf Werten, die auf die Bedürfnisse der jetzt lebenden Generationen rekurrieren. Er umfasst die normativen Festlegungen, welche Primärziele durch die wirtschaftliche Tätigkeit erreicht werden soll. Nicht zu dem direkten ökonomischen Wertekontext gehören die Werte, die die Ausmaße des wirtschaftlichen Handelns begrenzen wollen und die heute die wirtschaftsethische Debatte prägen. Sie lassen sich als "relationale Werte" zusammenfassen, weil sie die Vorstellungen über den rücksichtsvollen Umgang mit den angrenzenden Systemen transportieren: Rücksicht auf den Menschen, die Natur, die Gesellschaft als solche. Auf diese Werte nimmt auch das Konzept der Nachhaltigen Entwicklung Bezug, wie es oben kurz angedeutet wurde. Das Werkzeug für dieses Ziel ist die Rationalität der Nachhaltigkeit. Dauerhaft Wirtschaften, um die Bedürfnisse aller nachfol-
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genden Generationen befriedigen zu können, funktioniert nur, wenn die Ressourcenbasis oder die Substanz der Gesellschaft erhalten bleiben. Folglich müssen die verbrauchten ökologischen, ökonomischen und sozialen Ressourcen in vollem Umfang wieder reproduziert werden können, was die Funktionsfähigkeit der hierfür zuständigen Ressourcenquellen voraussetzt. Der entsprechende Frame müsste lauten: Selbstbeschränkung sichert den dauerhaften Ressourcenzufluss. Die nachfolgende Abbildung zeigt die beiden ökonomischen Rationalitäten in ihrem jeweiligen Wertekontext. Bei der Konstitution eines solchen Frames kommt der Ethik eine entscheidende Rolle zu, indem sie die Grundlage schafft für die Geltung des zugrunde liegenden Wertekontextes. Obwohl sich die Idee der Generationengerechtigkeit, die dem Konzept der nachhaltigen Entwicklung zugrunde liegt, in ihrer allgemeinen Formulierung großer Zustimmung erfreut, steht eine normative Konkretisierung weiterhin aus. Im Rahmen einer solchen gilt es vor allem mögliche Widersprüche zwischen den Wertkontexten zu reflektieren und auf ethischer Grundlage Entscheidungen herbeizuführen. Erst wenn als Resultat einer solchen ethischen Diskussion ein ausreichend konkretisierter Wertekontext für Nachhaltigkeit vorliegt, ist auch damit zu rechnen, dass ein entsprechender Frame entsteht, der das alltägliche Entscheiden der Akteure beeinflusst. In diesem Sinne kommt der Ethik eine grundlegende Funktion zu, um der Nachhaltigkeit als ökonomischer Rationalität im praktischen Handeln Geltung zu verschaffen.
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/' Ökonomische Rationalität der Effizienz
") Widersorüchlichkeiten
Ökonomische Rationalität der Nachhaltigkelt Selbstbeschränkung sichert den Ressourcenzufluss
Überleben durch Gewinn Lebensstandard Wohlstand Einkommenssicherung
r
Widersorüchlichkeiten
Langfristigkeit Generationengerechtigkeit Entwicklung der gesellschaftlichen Substanz
Abbildung 3: Die ökonomischen Rationalitäten in ihren Wertekontexten
Ethische Selbstbindung als Fundament eines kooperativen Ressourcenmanagements Neben diesem Aspekt ist noch ein weiterer Punkt anzusprechen: Die haushaltsökonomische Vernunft der Nachhaltigkeit wurde bislang als einzelwirtschaftliche Rationalität beschrieben, der jedoch auch auf gesamtwirtschaftlicher Ebene eine Bedeutung zukommen kann, wenn es um die Sicherung der Ressourcenquellen nicht nur eines einzelnen Akteurs, sondern der Gesellschaft als Ganzer geht. Im Folgenden soll auf ein Problem verwiesen werden, welches im Kontext der einzelwirtschaftlichen Sichtweise auftritt. So kann die ökonomische Rationalität der Nachhaltigkeit dann an Grenzen stoßen, wenn es sich bei den Ressourcenquellen, die ein Unternehmen nutzt, um Kollektivgüter handelt. So ist beispielsweise denkbar, dass eine Vielzahl von Unternehmen auf dieselben Quellen natürlicher Ressourcen zugreift. Die Funktionsfähigkeit der Ressourcenquellen ist dann von den Einwirkungen nicht nur eines, sondern vieler Akteure abhängig. Selbst wenn also ein einzelnes Unternehmen im Interesse der Erhaltung seiner Ressourcenquellen besondere Rücksicht auf seine Umwelt nimmt, besteht aufgrund möglicher Einwirkungen von Dritten keine Gewährleistung, dass eine Schädigung der Ressourcenquellen tatsächlich unterbleibt.
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Dieses Problem ergibt sich immer dann, wenn Ressourcenquellen gemeinsam von verschiedenen Akteuren genutzt werden und rücksichtsvolles Verhalten eines einzigen Akteurs nicht ausreicht, um ihre Reproduktion zu gewährleisten. Dabei geht es nicht nur um die Vermeidung von Nebenwirkungen des Handelns, sondern auch um mögliche Investitionen in die Erhaltung der Funktionsfähigkeit der Ressourcenquellen. In diesem Fall stellt sich die Frage, von wem die dafür notwendigen Mittel aufzubringen sind. Dort, wo Nachhaltigkeit als einzelwirtschaftliche Rationalität solchermaßen an Grenzen stößt, kann einer ethischen Selbstbindung des Verhaltens eine wichtige ergänzende Rolle zukommen. Die Problematik, die hier beschrieben wird, nähert sich erkennbar wieder der Thematisierung des wirtschaftsethischen Grundproblems bei Homann an, der in diesem Zusammenhang auf die Gestaltung der Rahmenordnung verweisen würde. Ungeachtet der Auffassung von Homann, dass in einem solchen Fall auch der Ansatz einer individuellen ethischen Selbstbindung fruchtlos sein wird, stellt sich die Frage, ob die einzelwirtschaftliche Rationalität der Nachhaltigkeit hier schon systematisch an ihre Grenzen stößt und entsprechend durch eine gesamtwirtschaftliche bzw. gesamtgesellschaftliche Rationalität ersetzt werden muss, die - unabhängig von den Schwierigkeiten ihrer Durchsetzung - nur in der Rahmenordnung verkörpert sein kann. Ethik kann unserer Auffassung nach eine wichtige Grundlage schaffen, um Nachhaltigkeit auch im Kontext gemeinsam genutzter Ressourcenquellen zu einem wirksamen Prinzip einzelwirtschaftlicher Vernunft zu machen. Diese Grundlage besteht darin, dass eine ethische Selbstbindung die Basis für eine Kooperation all jener Akteure sein kann, die eine gemeinsame Ressourcenquel1e nutzen und entsprechend alle das Interesse an ihrer Erhaltung teilen. Die ethische Selbstbindung kann in diesem Fall als vertrauensbildende Vorleistung verstanden werden, auf der ein kooperatives Ressourcenmanagement mehrer Akteure überhaupt erst aufbauen kann. Es ist davon auszugehen, dass die Erfahrung der Möglichkeit einer solchen ethischen Selbstbindung, verbunden mit einem manifesten einzelwirtschaftlichen Interesse, welches aber nur durch Kooperation realisiert werden kann, die Resistenz gegen
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unmittelbar opportunistisches Verhalten bei den einzelnen Akteuren stärkt. Ethik bildet somit ein Fundament, auf dem eine nachhaltigkeitsorientierte Kooperation wachsen kann. Schließlich soll noch darauf hingewiesen werden, dass Ethik auch dort relevant bleibt, wo Nebenwirkungen produziert werden, von denen die Verursacher annehmen können, dass sie keine negativen Rückwirkungen hervorrufen. Immer dann, wenn eine Selbstbeschränkung des eigenen Verhaltens aus wohlverstandenem Eigeninteresse nicht geboten erscheint, muss geprüft werden, ob eine solche denn aus ethischen Gründen notwendig ist, was selbstverständlich höhere Ansprüche an Begründungs- und Motivationsleistung stellt. Wie
bereits
im
Kontext
der
Ausführungen
zu
einer
nicht-konse-
quenzialistischen Erweiterung der Entscheidungsrationalität bei Langfristigkeit angedeutet, ist der Versuch, die langfristigen Wirkungen eines bestimmten Handeins als Nutzen zu fassen, mit unterschiedlichen Schwierigkeiten verbunden. Gerade deshalb gewinnt hier eine ethische Motivation ergänzend zur ökonomischen Rationalität der Nachhaltigkeit an Bedeutung.
Literatur Esser, H. (1990): Habits, Frames und Rational Choice. Die Reichweite der Theorie der rationalen Wahl. In: Zeitschrift für Soziologie 14(6), S. 435-449. Esser, H. (1996): Die Definition der Situation. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 48(1), S. 1-34. Gandenberger, C. (2008): Nachhaltiges Ressourcenmanagement. Konzeptionelle Weiterentwicklung und Realisierungsansätze in der Bekleidungsbranche. Berlin. Gerlach,
J. (1999): Das Zuordnungsverhältnis von Ethik und Ökonomik als
Grundproblem der Wirtschaftsethik. In: Korff, W. et al. (Hrsg.): Handbuch der Wirtschaftsethik. Bd. 1: Verhältnisbestimmung von Wirtschaft und Ethik. Gütersloh. S. 835-883.
Georg Müller-Cluist/Lars Arndt
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Über die Autoren
Prof. Dr. Georg Müller-Christ •
geboren 1963 in Köln
•
1986-1991: Studium der Betriebswirtschaftlehre an der Universität Bayreuth. Abschluss: Diplomkaufmann
•
Promotion mit dem Thema: "Wirtschaft und Naturschutz - von der technologischen zur humanorientierten Problemsicht"
•
1992-1996: wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Organisations- und Managementlehre von Professor Dr. Andreas Remer an der Universität Bayreuth
•
1996-2000: Geschäftsführer der Interdisziplinären Forschungsstelle Umweltmanagement der Universität Bayreuth
•
Habilitation mit dem Thema: "Wirtschaftsökologie - Theoretische Grundlagen und praktische Implikationen für ein nachhaltiges Ressourcenmanagement".
•
Seit 02/2001: Hochschullehrer im FB 7: Wirtschaftswissenschaft der Universität Bremen
•
Seit 2009: Konrektor für Lehre und Studium der Universität Bremen
Lars Arndt studierte Wirtschaftswissenschaft und Soziologie an der Universität Bremen und der New School for Social Research, New York (USA) mit Abschluss: Diplom-Ökonom. Seit August 2005 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Prof. Dr. Müller-Christ (professur für Nachhaltiges Management, Fachbereich Wirtschaftswissenschaft, Universität Bremen).
Mensch, Markt und Technik Welche Landwirtschaft kann die Welt ernähren? Franz-Theo Gottwald und Isabel Boergen
Globale Landwirtschaft am Scheideweg Die heutige Land- und Lebensmittelwirtschaft sieht sich zahlreichen Herausforderungen gegenüber. In den Industrienationen herrscht ein gigantischer 'Überfluss an Nahrungsmitteln: Allein in den USA kosten Übergewicht und Fettsucht die Amerikaner jährlich an die 150 Milliarden Dollar und haben damit die gesundheitlichen Folgekosten für Tabakkonsum bereits überholt'. Auch in Deutschland wird Übergewicht zunehmend zu einem Problem. So waren laut des Statistischen Bundesamtes im Jahr 2009 circa 60 Prozent der Männer und 43 Prozent der Frauen übergewichtlg-, Diese Entwicklung wird begleitet von einem eklatanten Schwund an Emährungswissen und ernährungskulturellen Werten. Großer medialer Präsenz zum Trotz wissen die Menschen immer weniger über Nahrungsmittel und deren Zubereitung. Auch die Wertschätzung gegenüber Lebensmitteln und deren Herstellungsprozessen hat abgenommen. Nahrungsmittel sind in den Industrienationen billig und in nahezu unbegrenzter Menge überall verfügbar. Dieses allgegenwärtige Vorhandensein von Essen scheint zu Übersättigung
1
[ia, Haorniao; Lubetkin, Erica I. (2010), Trends in Quality-Adjusted. Life-Years Lost Contributed by Smoking and Obesity. In: American Journal of Preventive Medicine, Vol. 38/2, S.138-144.
2
Destatis (2010): Mehr als jeder Zweite in Deutschland hat Übergewicht. Pressemitteilung Nr.194 vom 02.06.2010.
T. Nguyen, M ensch und Markt, DOI 10.1007/978-3-8349-6728-2_11, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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und Werteverlust bei den Menschen zu führen: Allein in den Vereinigten Staaten werden 40 Prozent der Lebensmittel weggeworfene, Andererseits herrscht in vielen Ländern der Welt Hunger. Über eine Milliarde Menschen weltweit hungern, etwa zwei Milliarden sind fehl- oder mangelernährt. Und jedes Jahr kommen mehr Menschen hinzu, die satt werden wollen: Bis 2050 werden nach Schätzungen der Food and Agriculture Organization der Vereinten Nationen (FAO) 9,1 Milliarden Menschen die Erde bevölkerrr', Dabei wird das Wachstum am stärksten die Städte in den Entwicklungsländern betreffen, insbesondere in Afrika südlich der Sahara. Mit dem Bevölkerungswachstum geht auch Landknappheit einher, die die Lage weiter verschärft. Denn das Land wird zunehmend nicht nur für den Anbau von Nahrungspflanzen, sondern in wachsendem Maße für die Produktion von Genuss-, Rohstoff- und Energiepflanzen verwendet. Hinzu kommt der steigende Anbau von Futtermitteln, um den zunehmenden Bedarf an Fleischprodukten und tierischen Nahrungsmitteln der Industrie- und Schwellenländer zu decken. Bereits heute wird lediglich knapp die Hälfte des landwirtschaftlich genutzten Landes für die Kultivierung von Nahrungspflanzen genutzt, 70 Prozent der importierten Futtermittel stammen aus Entwicklungsländern. Gleichzeitig wird ein ganz anderer "Wert" von Lebensmitteln entdeckt: Das Handelsvolumen von sogenannten Nahrungsmittelpapieren an der Börse hat sich im letzten Jahrzehnt vervielfacht, von 10 Milliarden US-Dollar im Jahr 2000 auf 175 Milliarden im Jahr 20085• Im selben Jahr hatten sich durch die Spekulationen einige Grundnahrungsmittel schlagartig verteuert, was in är-
3
Hall, Kevin D.; Guo, Juen; Dore, Michael; Chow, Carson C. (2009), The Progressive Increase of Food Waste in America and Its Environmental hnpact. In: PLoS ONE 4(11): e7940.
4
Food and Agriculture Organization of the United Nations (FAO) (2009), Global Agriculture towards 2050. High-Level Expert Forum. Rome, 12.-13. Oktober 2009.
5
Gehrs, Oliver (2009), Ein Kind, das heute verhungert, wird ermordet. Interview mit [ean Ziegler. In: Fluter - Magazin der Bundeszentrale für Politische Bildung: Wer isst was? Thema Ernährung. Nr. 33/2009, S. 8.
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meren Regionen zu massiven Engpässen und sozialen Spannungen führte, wie die Hungerrevolten auf Haiti zeigten. Diese Entwicklungen offenbaren, dass die globale Agrar- und Lebensmittelwirtschaft ebenso wie die Agrarpolitik vor Herausforderungen steht, denen sie mit bisherigen Maßnahmen kaum gerecht werden kann. Die Landwirtschaft befindet sich an einem Scheideweg, und es scheint klar: Neue Wege werden beschritten werden müssen. Konzepte für eine Umgestaltung der Agrarwirtschaft gibt es einige, doch nur wenige scheinen zweckmäßig im Kampf gegen die Hungerproblematik. Die Verfechter der Biotechnologie in der Land- und Lebensmittelwirtschaft nehmen zunehmend für sich in Anspruch, mit einer immer stärker technisierten Landwirtschaft, wie etwa dem Einsatz gentechnisch modifizierter Tiere und Pflanzen, eine passende Lösung nicht nur für das Welthungerproblem zu bieten. Wie ist diese zunehmend technisch basierte Landwirtschaft agrarethisch zu bewerten? Wie wirkt sie sich auf das Leben der Menschen und ihre Mitwelt aus? Und welche Potentiale bietet sie ganz konkret zur Verringerung des Welthungers? Die folgende Analyse soll mögliche Antworten auf diese Fragen geben.
Die technische Evolution: Gentechnisch veränderte Pflanzen und Tiere Eine Reihe von Experten propagiert die Entwicklung und den Anbau von gentechnisch veränderten Nutzpflanzen als entscheidendes Element zur Verbesserung und Sicherung der globalen Ernährung. Genetische Veränderungen werden insbesondere aus den nachfolgenden Gründen vorgenommen: Erstens sollen die Erträge von Nutzpflanzen noch weiter gesteigert werden, als dies durch konventionelle Züchtungsmethoden bisher möglich ist. Zweitens sollen Pflanzen besser an Umweltbedingungen wie Schädlinge, Trockenheit, Nässe, Bodenversalzung etc. angepasst werden. Und drittens arbeitet man seit einigen Jahren an einer Veränderung der emährungsphysiologischen Eigenschaften, wie etwa einem erhöhten Vitamin- oder Mineralstoffgehalt.
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Im Jahr 2009 wurden weltweit auf insgesamt 134 Millionen Hektar Land gentechnisch veränderte (gv) Pflanzen angebaut; das bedeutet eine Steigerung um sieben Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Die Länder mit den größten Anbauflächen für gy-Pflanzen sind die Vereinigten Staaten von Amerika, Argentinien, Brasilien, sowie Indien und Kanada. In Europa hingegen ist die Anbaufläche für gentechnisch veränderte Pflanzen weiter zurückgegangen. Dies ist unter anderem auf nationale Anbauverbote für den Gen-Mais MON 810 des US-Agrarkonzerns Monsanto in einigen EUStaaten zurückzuführen. Weltweit am häufigsten angebaut wird gentechnisch verändertes Soja, gefolgt von Baumwolle, Mais und Raps.e Die Grüne Gentechnologie wird häufig als die konsequente Fortführung moderner Pflanzenzuchtverfahren beschrieben. Allein: Sie ist mehr als das. Sie überschreitet eine Grenze, die auch im Deutschen Gentechnikgesetz ganz eindeutig benannt ist. Denn nach §3(3) GenTG ist ein gentechnisch verändertes Lebewesen ein Organismus, "dessen genetisches Material in einer Weise verändert worden ist, wie sie unter natürlichen Bedingungen durch Kreuzen oder natürliche Rekombination nicht vorkommt". Der entscheidende Unterschied zwischen konventionellen und gentechnischen Zuchtmethoden besteht also darin, dass durch den Einsatz von Gentechnik ein gezielter Gentransfer auch zwischen artfremden Organismen möglich ist. Bei klassischer Züchtung hingegen können nur die Eigenschaften eng miteinander verwandter Pflanzen kombiniert werden. Auch in der agrarindustriellen Zucht landwirtschaftlich genutzter Tiere sind biotechnologische Verfahren heute kaum wegzudenken. In der industriellen Tierzucht zählt Höchstleistung, denn Zucht, Mast und Schlachtung sind ein Markt, und der ist heute vornehmlich ökonomisch orientiert. Innerhalb dieser Marktstrukturen wird das Tier zur Ware und diese Ware wird züchterisch optimiert. Hohe Legeleistung, schnelles Wachstum, fettarmes Fleisch, vergrößerter Brustmuskel, Rekordmilchleistungen - die Turbo-Tiere von heute sollen die Verbraucher satt und den Herstellern wirtschaftlichen Erfolg bringen.
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http://www.transgen.de/anbau/eu_internationaI/531.doku.html. Zugriff am 30.6.2010
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Durch den Einsatz von Biotechnologie in der Tierzucht kann der Mensch gezielt Körperfunktionen der Tiere beeinflussen und steuern, und auf diese Weise den Zuchtfortschritt erheblich verbessern. So sind heute nahezu alle wesentlichen Leistungssteigerungen bei landwirtschaftlich genutzten Tieren auf modeme Züchtungsverfahren zurückzuführen. Wesentlichster Bestandteil ist noch immer die künstliche Besamung. Sie wird bereits bei mehr als 90 Prozent der deutschen Milchkühe angewendet. Künstliche Besamung macht die Tierzucht effizienter und kostengünstiger, da die Anschaffung teurer Vatertiere entfällt und einzelne männliche Hochleistungstiere so annährend beliebig viele Nachkommen "zeugen" können. Parallel zur künstlichen Besamung wird durch den Embryonentransfer versucht, die Vermehrungsrate mütterlicherseits zu steigern. Dabei wird bei züchterisch hochwertigen Tieren durch die Verabreichung von Hormonen eine Superovulationsbehandlung durchgeführt. Nach Befruchtung mehrerer Eizellen werden die transfertauglichen Embryonen auf Empfängertiere übertragen oder in flüssigem Stickstoff konserviert. Während eine Kuh normalerweise nur ein Kalb pro Jahr gebären kann, wird die Zahl der Kälber mittels Embryonengewinnung und Leihmutterschaft deutlich gesteigert? Gentechnische Veränderungen, etwa im Sinne von transgenen Nutztieren, spielen derzeit im landwirtschaftlichen Bereich (noch) kaum eine Rolle. Zwar stehen einzelne Tiere, wie etwa ein schnell wachsender gv-Lachs aus den USA, immer wieder in den Schlagzeilen, doch trotz jahrzehntelanger Forschung sind die Verfahren wenig ausgereift und die Erfolgsquote gering. Auch ist in der letzten Zeit häufiger der Begriff "Klonfleisch" aufgetaucht, der das Fleisch geklonter, also künstlich erzeugter, genetisch identischer Tiere bezeichnet. In den USA und Kanada sind Produkte von geklonten Tieren nach langjähriger Prüfung durch die Washingtoner Behörde für Lebensmittelaufsicht (FDA) seit Januar 2008 zugelassen. Eine Kennzeichnungspflicht gibt es nicht. Das EU-Parlament sprach sich zuletzt im Juli 2010 für ein Verbot von Klonfleisch aus, eine endgültige Entscheidung liegt jedoch noch nicht vor. 7
Busch, Walter; Waberski, Dagmar (2007),Künstliche Besamung bei Haus- und Nutztieren, Schattauer, Stuttgart, S. 133ff.
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Biotechnologie in der Landwirtschaft - Fortschritt um jeden Preis? Der Einsatz von Biotechnologie ist in der modemen Landwirtschaft von heute kaum wegzudenken. Pflanzen- und Tierzucht wurden durch die Genornforschung optimiert, Erträge und damit Gewinne immer weiter gesteigert. Doch die Technologie wirft auch Schatten. Manche liegen in der Technologie selbst begründet, andere in den Strukturen, innerhalb derer sie gedeiht, wieder andere in den Verfahren und Umständen, die sie begleiten. Die Genforschung geht bereits viele Jahrzehnte zurück, dennoch sind die Fortschritte gemessen an der Zeit und den eingesetzten Mitteln zum Teil enttäuschend. Gerade an transgenen Tieren forscht man bereits seit vielen Jahren. Traurige Berühmtheit erlangten in den 80er Jahren die sogenannten BeltsvilleSchweine. TImen wurde ein Wachstumshormon-Gen vom Rind transferiert, um die Produktivität und das Wachstum weiter zu steigern. Was auch gelang - allerdings mit fatalen Nebenwirkungen. Die transgenen Schweine waren lahm und stressempfindlich, litten unter Arthritis, Magengeschwüren, Nierenschmerzen und Parakeratosis. Aufnahmen von den grotesk aussehenden, von Krankheit gezeichneten Schweinen gingen damals um die Welt. Bis heute schaffte es im agrarwirtschaftlichen Bereich kaum ein transgenes Tier bis zur Marktreife. Zu komplex ist das Zusammenspiel der Gene, zu weitreichend die Folgen von derartigen Eingriffen für den gesamten Organismus. Ganz ähnlich verhält es sich bei geklonten Tieren. Dieses Verfahren ist kompliziert, aufwändig und extrem unrentabel. Allein für das Klonschaf Dolly waren 277 Versuche notwendig. Nur 14 bis 15 Prozent der erfolgreich geklonten Rinder-Embryonen werden zu lebenden Nachkommen, von denen wiederum viele rasch, andere erst im Laufe des Lebens schwer erkranken. Viele Tiere kommen bereits zu groß zur Welt, haben ein schwaches Immunsystem oder Organschadens. Neben dem immensen Tierleid ist eine über 95-prozentige Sterberate ethisch vollkommen inakzeptabel.
8
Vgl. Idel, Anita (2009), Science oder Fiction? 25 Jahre Klonforschung an Tieren - aktueller Stand und Perspektiven. In: Der Kritische Agrarbericht 2009. ABL Verlag, Hamm.
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Denn Gene lassen sich nicht einfach beliebig an- und abschalten, ohne dass dies gravierende Konsequenzen für andere Gene und Körperfunktionen hätte. Ähnlich wie das einzelne Lebewesen eingebettet ist in das Ganze der Natur, sind dessen Gene eingebettet in ein komplexes System. Von diesem System und dessen Regulationsmechanismen weiß der Mensch nur einen Bruchteil Oder, wie es der amerikanische Genomforscher Craig Venter jüngst auf den Punkt brachte: "So steht es um unser Wissen vom Genom: Wir wissen nichts."? Nach jahrzehntelanger Forschung plädiert auch er dafür, "das gesam-
te Bild zu sehen". Ein Lebewesen ausschnittartig von einer "Gen-Perspektive" her zu betrachten, missachtet die komplexen Dimensionen und Interdependenzen innerhalb und zwischen Organismen. Ein Lebewesen ist mehr als die Summe seiner Gene; in seiner Ganzheit ist es wesentlich komplexer.w Es scheint, als habe das Gros der Gen- und Biotechnologieforscher es lange Zeit versäumt, über die eigenen Institutsgrenzen hinweg interdisziplinär mögliche Chancen, Risiken und Konsequenzen dieser Technologien zu erforschen. Jahrelang hat man sich auf einzelne Gene und deren Funktionen fokussiert, und das Zusammenspiel der Gene innerhalb eines Organismus oder gar von gv-Organismen innerhalb der Umwelt vollkommen vernachlässigt. Auch den Wirkungen dieser Technologie auf die Gesellschaft, auf kleinbäuerliche Strukturen oder den Agrar- und Arbeitsmarkt wurde lange Zeit kaum Beachtung geschenkt. Gerade diese reduktionistische Sichtweise innerhalb der Wissenschaft könnte nicht nur mitverantwortlich sein für die mangelnde gesellschaftliche Akzeptanz insbesondere der Grünen Gentechnik, sondern führt heute zu Problemen innerhalb der teils hochkomplexen Agrar- und Marktstrukturen, die bei einer ganzheitlichen Sichtweise absehbar und vermeidbar hätten sein können. Die weitreichenden Folgen der Missachtung dieser vielschichtigen Prozesse und Zusammenhänge zeigt sich besonders augenfällig bei der industriellen Tierzucht. Durch künstliche Besamung kann ein männliches Zuchttier mehr 9
10
"Wir wissen nichts", Interview mit Craig Venter. In: Der Spiegel Nr. 26/2010, S. 126-129. Vgl. Gould, Stephen Iay (2005), Das Ende vom Anfang der Naturgeschichte. S. Fischer, Frankfurt a.M
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als eine Million Nachkommen zeugen. Auf diese Weise steigt das Risiko für rezessive Erbkrankheiten beträchtlich. Die einseitige Fokussierung auf einzelne Zuchtmerkmale kann zu gravierenden Erbfehlern führen, sowie zu züchtungsbedingten Erkrankungen, Verschleißerscheinungen und Verhaltensauffälligkeiten. Milchkühe leiden unter schmerzhafter Mastitis und Erkrankungen der Klauen. Beim Schwein führt die Selektion auf einen hohen Magerfleischanteil und schnellen Muskelfleischansatz zu schmerzhaften Entzündungen des Knochen- und Gelenkapparates, sowie zu einer erhöhten Stressanfälligkeit und MHS (Malignes Hyperthermie Syndrom). Legehennen leiden unter einem Totalausfall der Selbstregulationsmechanismen; Überlastung führt nicht zu Leistungsabfall, sondern zu einer Reservennutzung bis zum verfrühten Tod. Broiler müssen ihr extrem schnelles Wachstum mit Skelettdeformationen und Beinschäden bezahlen. Zu den züchtungsbedingten gesundheitlichen Beeinträchtigungen kommen etliche weitere Einschränkungen und Beeinträchtigungen durch die hoch technisierten, nicht tiergerechten Haltungsformen. Das enorme Tierleid, das die moderne Nutztierzucht und -Haltung bereits mit sich bringt, erreicht durch den Einsatz von gentechnischen Methoden eine weitere Dimension. Die enormen Kosten sowie die geringe Erfolgsquote transgener oder geklonter Tiere für eine landwirtschaftliche Nutzung lässt die Frage nach der Notwendigkeit und dem Nutzen dieser Technologie für eine kommerzielle Nutzung aufkommen. Die Vorteile der fortschreitenden Biotechnisierung der Landwirtschaft müssten angesichts dieser immensen Kosten vieles aufwiegen.
Neue Wege, alte Probleme Im Wesentlichen bedeutet der verstärkte Einsatz von Biotechnologien in der
Landwirtschaft eine Fortführung der bisherigen Marktstrategie: Erhöhung der Erträge, Minimierung der Ernteausfälle, Maximierung des Profits. Allein: Die Industrialisierung und Technisierung der weltweiten Agrarwirtschaft hat bereits zu enormen Ertragssteigerungen geführt - und konnte dennoch den
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Welthunger nicht mindern. Im Gegenteil: Im Jahr 2009 hungerte jeder sechste Mensch auf der Erde, damit wurde die Milliardenmarke erstmals überschritten. Ein bloßes "Mehr" an Nahrung wird auch in Zukunft nicht ausreichen, um die Menschen dauerhaft satt zu machen. Ein sehr häufiges Argument für den Einsatz von gy-Pflanzen und zunehmend auch von gv- Tieren ist eine optimale Anpassung der Sorten und Rassen an die jeweiligen Standorte. Besonders in vom Hunger betroffenen Gebieten herrschen meist schwierige Umweltbedingungen, wie etwa Trockenheit und Dürre, Überschwemmungen oder minderwertige Böden. Mit dem einsetzenden Klimawandel wird sich die Lage weiter verschärfen", Deshalb werden zunehmend optimal angepasste, robuste und widerstandsfähige Pflanzen und Tiere gefragt sein. Dies soll nun durch den Einsatz von gen- und biotechnologischen Methoden verstärkt gelingen. Für eine optimale Anpassungsfähigkeit der Arten an sich stetig verändernde Umweltbedingungen, Krankheiten und Schädlinge müssen ständig neue Gene eingekreuzt werden. Dieses genetische Material stammt vorwiegend aus traditionellen, lokalen Landsorten bzw. -Rassen. Doch die natürliche Biodiversität ist akut bedroht. Die aktuelle Rate des globalen Artensterbens übersteigt die angenommene natürliche Aussterbungsrate um das bis zu 1.000fache12• Die Verantwortung dafür trägt der Mensch: Jährlich wird eine Waldfläche von 13 Millionen Hektar zerstört, aufgrund unmäßiger Überfischung sind ein Viertel aller Meeresfischbestände gefährdet, 35 Prozent aller Mangroven wurden innerhalb der letzten 20 Jahre zerstört, derzeit sind mehr als 16.000 Arten vom Aussterben bedroht. Gemäß der Roten Liste der gefährdeten Biotoptypen sind über 70 Prozent aller Lebensraumtypen gefährdet bzw. akut bedroht".
11
Reichert, Tobias & Gottwald, Franz-Theo (2007),Hunger, Armut und Klimawandel: Neue globale Herausforderungen für die Landwirtschaft. Institutionele Ansätze zur Entwicklung tragfähiger Lösungen. In: Gottwald, Franz-Theo & Fischler, Franz (Hrsg.) (2007), Ernährung sichern - weltweit. Ökosoziale Gestaltungsperspektiven. Hamburg, S. 90-175.
12
Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (2008), Schutz der Biodiversität. Zahlen, Beispiele und Argumente. Hintergrundpapier, Berlin. Ebd.
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Dabei gibt und gab es standortangepasste Pflanzen, die unter widrigen Wetter-, Boden- und Umweltbedingungen gedeihen, schon immer. Bei deren Entwicklung waren traditionelle landwirtschaftliche Zuchtverfahren maßgeblich. Erst durch die Industrialisierung der Landwirtschaft wurden etliche Sorten verdrängt und die Landwirte im Hinblick auf die Nutzpflanzenzucht entmündigt - Einheitssaatgut, teuer und patentgeschützt, hat traditionelle Sorten verdrängt. Die Industrialisierung der Landwirtschaft hat zu einer extremen Artenverarmung geführt. In den vergangenen 100 Jahren sind 75 Prozent der Artenvielfalt bei den Nutzpflanzen verschwunden'<, In den Vereinigten Staaten sind es bereits über 90 Prozent. In Asien wurden früher etwa 30.000 verschiedene Reissorten angebaut. Nach der Grünen Revolution beherrschen nun lediglich zehn Reissorten drei Viertel der Anbauflächen. Bei den Nutztieren ist die Situation ähnlich dramatisch. Nach Angaben der Gesellschaft zur Erhaltung alter und gefährdeter Haustierrassen (GEH) stirbt weltweit pro Woche eine Nutztierrasse aus. Gab es im 19. Jahrhundert in Bayern noch 35 Rinderrassen, sind es heute nunmehr fünf. Die FAG hat in ihrem Bericht zu Tiergenetischen Ressourcen mehr als 7.500 Schweine-, Rinder-, Schaf-, Ziegen- und Geflügelrassen untersucht. Das Ergebnis: 20 Prozent der Rassen stehen kurz vor dem Aussterben, zwei Drittel davon sind lokale Rassen mit hoher genetischer Anpassungsleistung." Sie könnten einen enormen Beitrag zur Ernährungssicherung leisten - wenn sie überlebten. Weltweit bilden heute nur noch rund zehn Pflanzenarten und fünf Nutztierrassen die Basis für die globale Ernährung. Dieser Verlust von genetischem Material ist fatal. Denn die Nutzpflanzen und -Tiere müssen sich zukünftig gerade aufgrund des Klimawandels immer schneller auf veränderte Umweltbedingungen einstellen. Wenn die dazu notwendigen genetischen Ressourcen 14
15
Niebel, Dirk, Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, "Der entwicklungspolitische Wert der Vielfalt: Biodiversität und Ernährungssicherung". Rede anlässlich der Auftaktveranstaltung zum Jahresthema von KfW und GTZ "Vielfalt - Impuls für Entwicklung", Berlin, 24. Februar 2010. Food and Agriculture Organization of the United Nations (FAO) (2008), Weltzustandsbericht über tiergenetische Ressourcen für Ernährung und Landwirtschaft, Rom.
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zunehmend versiegen, hat das unmittelbare Auswirkungen auf die Sicherheit der Weltemährung. Es gibt also gute Gründe, den Schutz der Biodiversität sehr ernst zu nehmen: Erstens, weil die Bewahrung der Biodiversität direkte Konsequenzen für das Überleben der Menschheit hat. Zweitens, von ethischer Warte aus betrachtet, weil diese Vielfalt an Genen, Sorten, Rassen und Lebensräumen ein Gemeingut ist, das im Sinne einer Nachhaltigkeitsethik allen Menschen, auch den nachfolgenden Generationen zur Verfügung stehen sollte. Und nicht zuletzt steckt in der biologischen Vielfalt der Erde ein enormes ökonomisches Potential: Die Weltnaturschutzorganisation IUCN schätzt den wirtschaftlichen Wert der weltweiten Ökosystemdienstleistungen auf bis zu 64 Billionen US-Dollar 16 • Dennoch beschreitet man mit dem verstärkten Einsatz biotechnologiseher Methoden weiterhin den Weg, den die industrielle Agrarwirtschaft seit Jahrzehnten vorgezeichnet hat, obwohl deren Probleme längst bekannt sind: Umweltzerstörung, Wasserverschmutzung, Bodenverdichtung, Artenverarmung, Inzucht, Probleme mit der Pflanzen- und Tiergesundheit. Mit dem Einsatz biound gentechnologischer Methoden erwachsen weitere Probleme: Resistenzbildungen bei Unkraut und Schädlingen, hohe Lizenzgebühren, Monokulturen, Patentierung von Lebewesen, bisher ungelöste Koexistenzfragen sowie der Einsatz von Breitbandpestiziden. Hinzu kommen ethische Fragestellungen, die mit dem Einsatz von bio- und gentechnologischen Methoden in der Landwirtschaft zwingend diskutiert werden müssen.
Mehr Technik, mehr Profit - ... und die Ethik? Wie jede neue Technologie bringen auch biotechnologische Verfahren in der Land- und Lebensmittelwirtschaft Risiken und Nachteile mit sich. Die Frage ist allerdings, wie notwendig eine Technologie ist, um diese Risiken und Nachteile in Kauf zu nehmen. Und weiterhin: In welchem Verhältnis stehen 16
Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (2008), Schutz der Biodiversität. Zahlen, Beispiele und Argumente. Hintergrundpapier, Berlin.
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Vor- und Nachteile zueinander? Im Sinne eine utilitaristischen Ethik könnte man auch fragen: Wem nützt die Technologie? Ist sie zum Wohle einer Vielzahl von Menschen oder gereicht sie vielmehr einigen Wenigen zum Vorteil? Innovationen oder technologische Entwicklungen entstehen, weil sie den Menschen das Leben erleichtern sollen, weil sie einen Markt darstellen und Gewinn versprechen, oder schlicht aus Forschungsinteresse. Es gehört wohl zum ureigensten Wesen des Menschseins, zu forschen, zu entwickeln und zu verändern. Wäre dem nicht so, und würde der Mensch dieser auch evolutionär notwenigen Neugier nicht nachgehen, wären wir nicht dort, wo wir heute sind. Auch ist richtig, dass keine Technologie risikofrei ist. Selbst wenn es zunächst so scheinen mag, können mit dem Fortschreiten des wissenschaftlichen Kenntnisstandes immer und zu jeder Zeit bisher unbekannte negative Begleiterscheinungen ans Tageslicht treten. Dennoch gibt es mehrere Besonderheiten, wenn wir über biotechnologische Verfahren wie die Grüne Gentechnik sprechen, die sie von anderen technischen Innovationen abheben und eine gesonderte Betrachtung angemessen erscheinen lassen: Erstens, weil derartige Verfahren den absoluten und verletzlichsten Kern des Lebens, das Erbgut, betreffen. Dieser Eingriff in ein Lebewesen wirft zweifellos ethische Fragen im Hinblick auf die Würde und den Eigenwert von Lebewesen auf, die im Vorfeld diskutiert werden müssen. Zweitens, weil sich gv-Lebewesen im Gegensatz zu unbelebten Gegenständen fortpflanzen und vermehren können. Damit entziehen sie sich möglicherweise der Kontrolle durch den Menschen, was besondere Anforderungen an die ethischen Grundsätze der Vorsorge und Verantwortung stellt'" 18.
17
Vogt, Markus, GenEthik, Grüne Gentechnik in ethischer Sicht, Vortrag im Rahmen der Veranstaltung "Gemachte Natur? Chancen, Risiken und ethische Bewertung von Grüner Gentechnik", Universität Bayreuth, 19. 11. 2004.
18
Fischer, [ohn Martin; Ravizza, Mark (1998), Responsibility and Control: A Theory of Moral Responsibility, New York, Cambridge University Press.
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Drittens kann und muss im Sinne einer Nachhaltigkeitsethik in dieser Frage das Biodiversitätsprinzip Beachtung finden. Die natürliche Vielfalt an Genen, Arten und Biotopen wird nicht nur durch den züchterischen Eingriff an sich, sondern auch durch die begleitenden Methoden dieser technisierten industriellen Landwirtschaft wie etwa Bodenbearbeitung, Anpflanzung von Monokulturen oder Einsatz von Chemikalien, berührt. Und viertens ist hinsichtlich der Gentechnik in der Landwirtschaft das ethische Prinzip der Gerechtigkeit von Belang. Und zwar sowohl Gerechtigkeit als primärer Faktor der Hungerbekämpfung, als auch Cenerationengerechtigkeitw Denn die gentechnische Veränderung von Lebewesen bietet keinerlei Raum für Fehler. Sämtliche Auswirkungen auf Mensch, Tier und Umwelt sind irreversibel Sie werden im Zweifelsfall für zahllose Folgegenerationen spürbar sein. Das ist umso bedenklicher, da es hier letztlich um die Frage nach der Zukunft der Menschheit geht - um unser tägliches Brot.
Mehr Technik - weniger Hunger? Gerade das populärste Argument der Saat- und Zuchtgutindustrie, dass der Einsatz von Biotechnologie in der Landwirtschaft, allen voran die Grüne Gentechnik, einen entscheidenden Beitrag zur Emährungssicherung leisten würde, ist mittlerweile hoch umstritten. Zwar arbeitet man seit Jahren an gvPflanzen, die gegen widrige Umweltbedingungen wie Dürre und Hitze und/oder Schädlinge resistent sind, höhere Erträge erzielen oder einen verbesserten Nährstoffgehalt aufweisen. Doch ein nennenswerter Erfolg bleibt bisher aus. Selbst das Vorzeige-Projekt "Golden Riee" steht immer wieder im Kreuzfeuer der Kritik. Der Einsatz von Biotechnologie ist teuer, die Verfahren kompliziert. Nicht zuletzt deshalb ist der Markt für gv-Nutzpflanzen und -Tiere extrem monopolisiert. Zwei Drittel des Saatguts gehören zehn weltweit operierenden Agrar-
19
Vogt, Markus, GenEthik: Grüne Gentechnik in ethischer Sicht, Vortrag im Rahmen der Veranstaltung "Gemachte Natur? Chancen, Risiken und ethische Bewertung von Grüner Gentechnik", Universität Bayreuth, 19. 11.2004.
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konzernen. Über 90 Prozent der Mais-Pflanzen sind sterile Hybridpflanzen, deren Samen jedes Jahr von Neuem gekauft werden müssen. Doch das patentgeschützte Saatgut ist wesentlich teurer als herkömmliches oder traditionelles Saatgut, weshalb es sich gerade die armen Kleinbauern in Entwicklungsländern, die am stärksten vom Hunger betroffen sind, nicht leisten können. Außerdem gibt es in diesen Ländern nicht selten keinerlei gesetzliche Vorschriften zum Umgang mit gentechnisch verändertem Saatgut, was nicht nur hinsichtlich einer friedlichen Koexistenz oder der Möglichkeit einer gentechnikfreien Produktion nachdenklich stimmen muss. Der Nachweis einer längerfristigen Wirksamkeit der Vorzüge der gy-Pflanzen steht noch aus. Viele behauptete und anfangs dargelegte Vorteile, etwa Pestizid- und Schädlingsresistenzen oder gesteigerte Erträge, wurden durch rasch auftretende Beeinträchtigungen oder Mängel wieder relativiert. Denn was in der Theorie verlockend klingt, hat sich in der Praxis zunehmend nicht oder zumindest nicht dauerhaft bewährt. Verstärkt klagen Landwirte über ungewollte Resistenzenö', Gv-Raps ist gebietsweise bereits gegen sämtliche Herbizide resistent und entwickelt sich zu einem Unkraut, das selbst durch Totalherbizide nicht zu bezwingen ist. Auf gv-Baumwollieldern in den USA verbreiten sich Superunkräuter, die gegen sämtliche Herbizide resistent sind." Selbst der US-Saatguthersteller Monsanto reagiert nun auf Kundenbeschwerden: Unkräuter seien gegen den wichtigsten Wirkstoff der RoundupPflanzenschutzmittel zunehmend resistent. Monsanto musste deshalb gar seine Gewinnerwartungen für das laufende Jahr nach unten korrigieren.P
20
Kilman, Scott (2010), Superweed Outbreak Triggers Arms Race. In: The Wallstreet Journal vom 4.6.2010, http://online.wsj.com/article/SB10001424052748704025304575284390777746822.html, Zugriff am 14.7.2010.
21
Tabashnik, Bruce E.; Gassmann, Aaron J.; Crowder, David W.; Carriere, Yves (2008), Insect resistance to Bt crops: evidence versus theory. In: Nature Biotechnology 26, S. 199202.
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Financial Times Deutschland: Monsanto kapituliert vor Unkraut. Ausgabe vom 28.5.2010, 5.4.
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Auch die Folgen von gv-Saatgut und dem begleitenden Einsatz von Chemikalien für die Umwelt sind umstritten: Nicht zuletzt das britische Departement of Environment (DEFRA) stellte in einem Review mehrerer Langzeitstudien verheerende Auswirkungen auf die Artenvielfalt bei Wildpflanzen und -tieren fest 23 • Bei der Debatte um den Beitrag produktiverer gv-Pflanzen für die Welternährung darf nicht übersehen werden, dass durch die Intensivierung der Landwirtschaft, konventionelle und modeme Zuchtpraktiken und neuartige, leistungsfähigere Sorten in der Vergangenheit die weltweiten Erträge bereits bedeutend erhöht wurden, gleichzeitig jedoch der Hunger in der Welt drastisch zunahm. Hunger und Mangelernährung sind weniger ein Problem der Menge, als vielmehr des Zugangs und der Verteilung. Unter diesem Gesichtspunkt müssen die Gestaltung der Landbewirtschaftung, sowie die Marktstrukturen und Vermarktungswege von Agrargütern betrachtet werden. Hinzu kommt, dass gerade bei gentechnisch veränderten Pflanzen bislang der Anteil an Futter-, Energie- und Rohstoffpflanzen deutlich überwiegt, diese Pflanzen also ausdrücklich nicht unmittelbar der Ernährung der lokalen Bevölkerung dienen. Selbst die Deutsche Hungerhilfe, die Welthungerhilfe und andere Non-ProfitOrganisationen, die sich für die Welternährung einsetzen, stehen der Gentechnik sehr skeptisch gegenüber. Denn bislang gibt es kein gv-Saatgut, das die Anforderungen an eine nachhaltige Armutsreduzierung seitens der Kleinbauern in Entwicklungsländern erfüllF4. Und gerade dort ist die ländliche Bevölkerung, allen voran die Subsistenzbetriebe, von Hunger betroffen. Sie produzieren für die Selbstversorgung, Überschüsse werden auf lokalen Märkten verkauft. Die globalen Agrarmarktstrukturen sowie Agrarsubventionen in den Industrienationen, beispielsweise für den Export, machen diese Form der Sub-
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Squire, G.R.; Hawes, c.; Bohan, D.A; Brooks, D.R; Champion, G.T.; Firbank, L.G.; Haughton, AJ.; Heard, M.S.; May, M.J.; Perry, J.N.; Young, MW. (2005), Biodiversity effects of the management associated with GM eropping systems in the UK. Final report of project EPG 1/5/198, Defra, London. Deutsche Hungerhilfe e.V. (Hrsg.) (2010), Dossier "Grüne Gentechnik". In: Weltemährung. 2/2010, Bonn, S. 9.
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sistenzlandwirtschaft zunehmend unrentabel. Die Folgen sind Armut, Mangelernährung und Hunger. Nur: Gentechnisch verändertes Saatgut stellt keinen geeigneten Ausweg aus dem Dilemma dar, weil es sich kaum für eine kleinteilige Landwirtschaft eignet und die Strukturen des bestehenden Agrarmarktes eher zementiert. Anders sieht es bei großindustriellen Agrarfabriken aus. Ausländische Investoren drängen zunehmend in die Entwicklungs- und Schwellenländer, kaufen zu Dumpingpreisen Land auf und bauen dort Energie- und zunehmend auch gy-Pflanzen an. 25 Diese neue Form des Agrarkolonialismus bedeutet jedoch für die Bevölkerung vor Ort keinen Wohlstand, im Gegenteil. Als Beispiel sei Brasilien angeführt. Das Land ist führender Exporteur von Agrargütern. 2009 wurden hier auf 16,2 Millionen Hektar genveränderter Soja angebaut, das größtenteils als Nutztierfutter nach Europa exportiert wird. Gleichzeitig leiden große Teile der brasilianischen Bevölkerung an Mangelernährung. Auf dem afrikanischen Kontinent kauften in den vergangenen drei Jahren ausländische Investoren mehr als 20 Millionen Hektar Land auf. Dieses sogenannte "land grabbing"26 ist auch in Europa zunehmend verbreitet: Viele Ausländer nutzten die Finanzkrise im letzten Jahr, um beispielsweise in Rumänien zu Spottpreisen Land aufzukaufen. Die biotechnologisch basierte Zucht von Nutztieren scheint ebenso wenig geeignet für den Einsatz in ärmeren Regionen der Welt. Auch hier sind die Verfahren extrem kostspielig und aufwendig. Die sensiblen und teuren Hochleistungstiere mit ihren hohen Haltungs- und Futteransprüchen sind kaum zweckmäßig für eine extensive Haltung und die kleinbäuerlichen Strukturen in den Entwicklungsländern. Hinzu kommen hohe Lizenzgebühren, die an die "Hersteller" der Tiere entrichtet werden müssten.
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Welthungerhilfe (Hrsg.), Landgrabbing - Den Armen wird der Boden unter den Füßen weggezogen. In: Brennpunkt Nr. 8, Bonn, April 2009. Ebd.
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Nahrungssouveränität vs. Patentrecht Mit der gentechnischen Veränderung von Lebewesen stellt sich auch die Frage nach der Patentierbarkeit von Leben. Patente bedeuten Schutz vor Konkurrenz und sind für die weltweit agierenden Agrarunternehmen äußerst attraktiv. Während sich traditionelles Wissen nicht patentieren lässt, kann jede Veränderung im Labor zu einer lukrativen Patentanmeldung führen. Die Patentierbarkeit von Nutzpflanzen und -Tieren geht einher mit einer fortschreitenden Marktmonopolisierung. Weniger als eine Handvoll Konzerne halten mehr als 95 Prozent der Saatgutpatente: Nur wenige Hersteller können überhaupt gv-Saatgut produzieren. Die Forschung ist teuer und aufwändig, die Kosten hierfür zahlen die Bauern über die Lizenzgebühren. Das hat Folgen, insbesondere im Hinblick auf die Verfügbarkeit von Saatgut und die Nahrungssouveränität. Die Bauern müssen jedes Jahr neues Saatgut kaufen, dürfen keine Samen zurückbehalten, um sie im neuen Jahr wieder auszusäen. Das führt zu einer Abhängigkeit von den Herstellern, die meist auch gleich die Pflanzenschutzmittel mitliefern-", Neben einer bioethischen Debatte, die die Patentierung von Leben unfraglich nach sich ziehen muss, stellt sich die sozial- und wirtschaftsethische Frage, ob Saatgut zu einem kommerziellen Handelsgut wie jedes andere werden darf. Diese Frage könnte sich in Zukunft zu einer Frage über die menschliche Existenz entwickeln, betrifft sie schließlich die Welternähung und deren Zukunft. Und die Patentanträge betreffen längst nicht nur gy-Pflanzen und -Tiere, sondern auch konventionelle Züchtungen und Verfahren. Dass dies nicht nur Gentechnik-Kritiker beunruhigt, sondern auch innerhalb der Branche für Unmut sorgt, zeigt das aktuelle Patent EP 1069819, ein Brokkoli des britischen Konzerns Plant Bioscience Ud. Der betreffende Brokkoli enthält einen besonders hohen Anteil des angeblich Krebs vorbeugenden Stoffes Glucosinolat. Das Verfahren, bei dem Gene markiert, nicht jedoch manipuliert werden, ließ sich Plant Bioscience vom Europäischen Patentamt (EPA) schützen. Dagegen wiederum legte das Schweizer Unternehmen Syngenta Einspruch ein. xr The International Commission on the Future of Food and Agriculture, Manifesto on the
Future of Seeds. Florenz 2007.
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Das Patent EP 1257168 des US-Konzerns XY Inc, auf die geschlechtsspezifische Auswahl von Sperma und die künstliche Besamung bei Säugetieren bezieht sich dezidiert auf einzeln aufgeführte Säugetierarten, unter anderem menschlichen Sperma Damit schließt das Patent möglichenfalls ein Verfahren zur Geschlechtsauswahl bei Menschen ein. 28 Manche Hersteller versuchen mittlerweile gar, sich vom Kom bis zum Steak die gesamte Kette der Lebensmittelproduktion schützen zu lassen. Etwa der Patentantrag WO 2006079567, eingebracht von dem deutschen Konzern Bayer, erhebt Anspruch auf verschiedene Verfahren zur Erzeugung von Ölsaaten, die derart "erzeugten" Pflanzen sowie alle daraus gewonnenen Produkte. Das Problem liegt weniger in der Rechtsprechung, als vielmehr bereits in einer unzureichenden Gesetzeslage. Die allgemeinen Prinzipien des Patentrechts wurden in der Vergangenheit einfach auf den Bereich der tier- und pflanzengenetischen Ressourcen übertragen, ohne die besonderen Umstände der Produktions- und Innovationsprozesse ausreichend zu beachten.i? Es ist anzunehmen, dass dieser Prozess nicht nur die Verfügbarkeit und Nutzbarkeit von Agrobiodiversität gefährdet, sondern langfristig auch Auswirkungen auf die weltweite Emährungssicherheit hat,30 Denn momentan sieht es so aus, als liege die globale Ernährung künftig in den Händen einiger weniger Agrar- und Lebensmittelkonzerne. Doch es gibt Widerstand gegen diese Entwicklungen, die von vielen Menschen als Bedrohung empfunden werden. Die Kritiker stützen sich auf das immer stärker Beachtung findende Konzept der Gemeingüter (Allmende/ Commons). Dieses basiert auf einer Ökonomie des Teilens. Ein Gemeingut muss allen Menschen frei zugänglich sein, die Menschen können meist frei und selbstbestimmt lokal oder regional über die nachhaltige Nutzung natürlicher, kultureller und sozialer Güter entscheiden.
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Feindt, Peter, K; Beirat für Biodiversität und Genetische Ressourcen beim BMELV (2010), Biopatente - eine Gefährdung für Nutzung und Erhaltung der Agrobiodiversität? Stellungnahme des Beirats für Biodiversität und genetische Ressourcen beim Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, Bonn, S. 16f. Ebd., S. 25.
30
Ebd., S. 26.
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Dass das Konzept der Gemeingiiter wieder verstärkt in den Fokus von Wissenschaftlern gerät, bemerkt man an zahlreichen aktuellen Aktionen und Publikationen zum Thema. Im Frühjahr 2009 verabschiedete das Weltsozialforum das "Manifest zur Wiedergewinnung der Gemeingüter'?", Im Rahmen des Interdisziplinären Politischen Salons "Zeit für Allmende" an der Heinrich-BöllStiftung entstand das Manifest "Gemeingiiter stärken - Jetzt!"32/ und ebenfalls 2009 wurde die US-Wirtschaftswissenschaftlerin Elinor Ostrom für ihre Arbei-
ten zur Gemeingiitertheorie mit dem Wirtschafts-Nobelpreis ausgezeichnet. Nach Auffassung dieser neuen Bewegung, die in der Land- und Ernährungswirtschaft auch von der Menschenrechtlerin und Trägerin des alternativen Nobelpreises Vandana Shiva vertreten wird, ist Saatgut ein Gemeingut, und kein Ergebnis betriebswirtschaftlicher oder technologischer Planarbeit. Weder Gene noch ihre Bestandteile dürfen als menschliche, patentierbare Erfindungen angesehen werden. Sie sind ein öffentliches Gut und garantieren seit Jahrtausenden Nahrungssouveränität als Grundbestandteil der Landwirtschaft. Alle Bäuerinnen und Bauern müssen weltweit auch künftig die Möglichkeit haben, ohne Einschränkungen Saatgut und Tiere zu züchten, zu tauschen und weiterzuentwickeln. Das Konzept der Gemeingiiter jedoch mag sich nicht so recht einfügen in die modeme Agrarwirtschaft, die zunehmend auf biotechnologischen Verfahren und deren Patentierung beruht. Denn es ist auch einleuchtend, dass kein Unternehmen die immensen Kosten für Entwicklung, Forschung und Vermarktung tragen will, wenn anschließend das Saatgut frei erhältlich ist und beliebig vermehrt werden kann. Im Schnitt 15 Jahre dauert es, bis aus einem Forschungsvorhaben ein konkretes Produkt entsteht, und die Entwicklung der Hightech-Agrargiiter verlangt hohe Investitionssummen. Die Unternehmen möchten diesen Aufwand honoriert wissen, indem sie die Produkte als geistiges Eigentum patentrechtlich schützen lassen. Insofern bringt die Biotechnologie hier einen enormen Interessenskonflikt zwischen Emährungssouveräni-
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http://bienscommuns.orglsignature/appel/?lang=de www.boell.de/downloads/Gemeinguetermanifest.pdf
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tät und Ernährungssicherung einerseits, und marktwirtschaftlichen Konzerninteressen andererseits. Es scheint, als könnte der Einsatz biotechnologischer Methoden in der Landwirtschaft einen weit geringeren Beitrag zur Bekämpfung des Welthungers leisten, als bisher erhofft. Nicht zuletzt der Weltagrarbericht 2009 mahnt deshalb, dass die industrielle Landwirtschaft in eine Sackgasse geführt hat und ein "business as usual" keine Option mehr sei. Über 400 wissenschaftliche Kapazitäten aus aller Welt, die im Auftrag der Weltbank und der Vereinten Nationen in vierjähriger Arbeit die bisher umfassendste Bestandsaufnahme der globalen Landwirtschaft erstellten, schätzen darin den Beitrag der Grünen Gentechnik zur Bekämpfung von Hunger und Armut als eher gering ein 33 • Doch neben der eher düster gezeichneten Zukunft der globalen Landwirtschaft nennt der Bericht auch alternative Konzepte, Chancen und bisher vernachlässigte Potentiale. Eine nachhaltige, sozial und ökonomisch ausgestaltete, regionale Landwirtschaft könne gerade in den Entwicklungs- und Schwellenländern zu einer verbesserten Nahrungsversorgung beitragen, so der Bericht.
Nachhaltig, sozial und ökologisch - Ein Gegenentwurf In den letzten Jahrzehnten hat sich gewissermaßen ein Gegenentwurf zu der
heutigen Landwirtschaft mit ihrem verstärkten Einsatz von Bio- und Gentechnologie entwickelt: der ökologische Landbau. Auch er beansprucht für sich, einen wesentlichen Beitrag zur Ernährungssicherung zu leisten. Doch anders als die Biotechnologie, die das Prinzip der Ertragssteigerung gewissermaßen perfektionieren möchte, geht eine nachhaltige Landbewirtschaftung weniger den konventionellen Weg der Ernährungssicherung, sondern fokussiert vielmehr auf Ernährungssouveränität. Die Bio-Branche ist seit Jahren ein Wachstumsmarkt. 2009 setzte sich die stabile Aufwärtsentwicklung mit ca. fünf Prozent Wachstum weiter fort. Nach aktuellen Schätzungen weitete sich die ökologisch bewirtschaftete Fläche in
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International Assessment of Agricultural Knowledge, Science and Technology for Development (IAASTD) (Hrsg.), Agriculture at a crossroads. Island Press, Washington 2009.
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Deutschland im letzten Jahr um knapp 44.000 Hektar auf 951.557 Hektar aus. Im gleichen Zeitraum stieg die Zahl der Bio-Betriebe um sechs Prozent auf über 21.000 Betriebe34. Der Europäische Biomarkt setzte 2008 knappe 18 Milliarden Euro um und zeigte trotz Finanzkrise auch im Jahr 2009 ein positives Wachstum. Denn Bio-Lebensmittel kommen beim Verbraucher nach wie vor gut an - sie gelten als sicher, gering bis gar nicht belastet sowie klimaund umweltfreundlicher als industriell produzierte Ware. Im Gegensatz zur Grünen Gentechnik und gentechnisch manipulierten Lebensmitteln, die von rund 70 Prozent der deutschen und europäischen Verbraucher abgelehnt werden, erfreuen sich ökologisch hergestellte Lebensmittel ungebrochener Beliebtheit. Dennoch setzt die Politik hier entgegen gesetzte Schwerpunkte. Der Wachstumsmarkt "Bio", der ein großes Potential für die ländliche Entwicklung, den Arbeitsmarkt und eine kleinteilige, regional und umweltfreundlich wirtschaftende Landwirtschaft bietet, findet politisch wenig Zuspruch. Zum Vergleich: 2009 wurden 165 Millionen Euro für die Biotechnologieforschung ausgegeben, weitere 26 Millionen Euro für die Erforschung nachwachsender Rohstoffe. Die Ökolandbauforschung hingegen musste mit einem Forschungsetat von 7 Millionen Euro auskommen'", Dabei ist die ökologische Landwirtschaft keinesfalls eine Luxus-Produktionsmethode für die anspruchsvollen Kunden der reichen Industrienationen. Im Gegenteil: Eine nachhaltige, regional strukturierte Landbewirtschaftung spielt bei der Bekämpfung des Welthungers eine große Rolle und kann auch in Zukunft einen entscheidenden Beitrag zur Ernährungssicherung leisten, indem sie besonders in ärmeren Ländern nachhaltig zur Qualität und Sicherheit der Ernährung beiträgt. Gerade die ländlichen Regionen sind von Hunger betroffen. Durch den Anbau von cash crops und den Export von Überschussproduktionsmengen zu Dumpingpreisen ist in vielen Entwicklungs- und Schwellen-
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Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft e.V. (Hrsg.): Zahlen, Daten, Fakten - Die BioBranche 2010, Berlin 2010. Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft e.V., Innovationspotential des Ökolandbaus wird in der Forschung sträflich vernachlässigt. Presserneldung vom 26.01.2009.
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ländern die Nahrungsmittelproduktion und damit die Nahrungssouveränität elementar gestört bzw. vernichtet worden. Hier kann eine regionale Versorgung gezielt entgegenwirken, indem die Menschen wieder von dem leben können, was sie vor Ort anbauen. Die intensive Landbewirtschaftung verbraucht außerdem viel zu viele Ressourcen, die in den Entwicklungsländern ohnehin nicht oder nur sehr begrenzt zur Verfügung stehen. Bodendegradation, Wasserknappheit und ein beispielloser Verlust an Biodiversität verschärfen die Problematik zusätzlich und führen zu langfristigen Schäden, die das Land auch für spätere Generationen unbrauchbar machen. Eine nachhaltige Landbewirtschaftung hingegen wirkt sich positiv auf Umwelt, Biodiversität, Bodengesundheit und Klima aus. Auf diese Weise wird der Zugang zu Nahrung künftiger Generationen aktiv und nachhaltig gefördert. Zu diesem Ergebnis kommt auch die FAO, die sich in jüngster Zeit verstärkt für eine nachhaltige und kleinteilige Landwirtschaft zur Ernährungssicherung weltweit einsetzt. Bereits im Mai 2007, im Rahmen der Konferenz "Organic Agriculture and Food Security", kam man zu dem Ergebnis, dass der Biolandbau Umweltschäden und die damit einhergehenden Kosten verringern, den Pestizideinsatz reduzieren, Bodenerosion verhindern und Einkommen sowie die Ernähungssicherheit verbessern kannv, Dass die ökologische Landwirtschaft gerade in Entwicklungsländern eine Steigerung der Erträge mit sich bringen kann, zeigt auch eine große Vergleichsstudie, in der knapp 300 Einzelstudien analysiert wurden". Das Ergebnis: Eine Umstellung von konventioneller Bewirtschaftung auf Ökolandbau würde nicht zu einer Verringerung der Lebensmittelmenge führen und gleichzeitig die Emährungssicherheit erhöhen. Denn während in den Industrieländern die durchschnittlichen Erträge bei der biologischen Landwirtschaft mit 36
Y1
Food and Agriculture Organization of the United Nations (FAO): International Conference on Organie Farming and Food Security, http://www.fao.orglorganicaglofs/index_en.htm. Zugriff am 12.7.2010. Badgley, Catherine; Moghtader, Jeremy; Quintero, Eileen; Zakem, Emily; Chappell, M. Jahi; Aviles-Väzquez, Katia; Samulon, Andrea; Perfecto, Ivette (2007), Organie agriculture and the global food supply. In: Renewable Agriculture and Food Systems 22 (2), S. 86-108.
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92 Prozent knapp hinter denen der konventionellen Bewirtschaftung liegen, werden in den Entwicklungsländern bei der ökologischen Landwirtschaft rund 80 Prozent mehr Erträge eingefahren. Dies ist damit zu begründen, dass die benötigten Hilfsmittel für die ökologische Landwirtschaft in den Entwicklungsländern leichter zugänglich sind. Die industrielle Bewirtschaftung ist dort hingegen zum Teil sehr teuer (Saatgut, Düngemittel, Pestizide, Maschinen, etc). Momentan produziere die weltweite Landwirtschaft rund 2786 Kcal pro Person und Tag. Mit ökologischer Produktion, so die Wissenschaftler, könnten zwischen 2641 und 4381 Kcal pro Person und Tag produziert werden. Das zeigt, dass die Frage nach der Versorgungsmenge bei der Ernährungssicherung nicht immer unmittelbar relevant ist: Denn weltweit werden mehr als genug Lebensmittel produziert - sie werden nur ungerecht verteilt. Sicher, auch der Ökolandbau besitzt Verbesserungs- und Entwicklungspotenziale. Eine modifizierte ökologische Landwirtschaft beispielsweise könnte als wesentlichen Bestandteil die Intensivierung durch ökologische Prozesse beinhalten. Dieses Konzept, dem die Ökolandbauforschung in Europa viel Beachtung schenkt, steht für eine Verbesserung der Bodenfruchtbarkeit, die Erhöhung der Biodiversität und einer Verbreiterung der genetischen Ressourcen landwirtschaftlich genutzter Tiere und Pflanzen." Außerdem sollen die Ökosysteme durch einen minimalen Verlust an Nährstoffen, Sediment und Chemikalien geschont werden. Drittens, und das ist die größte Herausforderung, sollen die Prinzipien der Ökologie zu einer Erhöhung der Produktivität angewandt werden. Die Landwirtschaft soll die Biodiversität und Komplexität der Ökosysteme nicht bekämpfen, sondern anerkennen und zu ihren Gunsten nutzen. Eine nachhaltige Landbewirtschaftung kommt im Übrigen der Multifunktionalität der Landwirtschaft" zugute: Landschaftspflege, Erholungsraum, Ener-
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Niggli, Urs; Gerber, Alexander (2010), Okölandbau-Forschung. Innovationsmotor für zukünftige Landwirtschaft. In: Ökologie & Landbau, Jahrgang 38, Heft 155, 3/2010, S. 21-23. Gottwald, Franz-Theo (2003), Agrar-Kultur-Politik. Zur Anerkennung des Wertes und der Gemeinnützigkeit bäuerlichen Handels in der modemen Gesellschaft. In: Adam, Armin; Kohout, Franz; Merk, Peter K.; Schönherr-Mann, Hans-Martin (Hrsg.), Perspektiven der
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gieerzeugungs-potenziale, Umwelt- und Gewässerschutz, Regionalentwicklung können so zum großen Nutzen aller besser gefördert werden, als es bei der industriellen Produktion von Lebensmitteln möglich ist.
Fazit Um eine Antwort auf die weltweite Ernährungskrise zu finden, braucht es einen grundlegenden Wandel innerhalb der globalen Agrarwirtschaft, wie er auch vom Weltagrarrat IAASTD gefordert wird40 • Die Hightech-Evolution der Landwirtschaft ist wenig nachhaltig, bietet kaum Potential für Kleinbauern und geht letztlich an den Bedürfnissen des überwiegenden Teils der betroffenen Menschen vorbei. Für die Sicherung der Weltemährung sind nachhaltige, ökologische und sozial gerechte Konzepte vonnöten, die regionale Eigenarten berücksichtigen und den Landwirten als Nahrungsmittelproduzenten mehr Wertschätzung entgegenbringen. Ökologische Anbaumethoden können hier einen wesentlichen Beitrag leisten". Deshalb braucht es - auch und gerade auf politischer Ebene - eine Stärkung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft. Die Eigenversorgung der ländlichen Bevölkerung ist ein wesentlicher Aspekt zur Bekämpfung des Welthungers. Dazu müssen Kleinbauern in ihren Rechten gestärkt werden, Saatgut und landwirtschaftlich genutzte Tiere auch weiterhin als Gemeingut frei zugänglich sein. Längst überfällige Bodenreformen müssen die ländliche Bevölkerung in Entwicklungsländern vor Enteignung und Agrarkolonialismus schützen. Innovationen des Ökolandbaus können die gesamte Branche inspirieren, einzelne Elemente die traditionelle Subsistenzlandwirtschaft bereichern und stär-
Politischen Ökologie. Festschrift für Peter-Cornelius Mayer-Tasch, Königshausen und Neumann, Würzburg 2003. 40
41
International Assessment of Agricu1tural Knowledge, Science and Technology for Development (IAASTD) (Hrsg.), Agriculture at a crossroads. Island Press, Washington 2009. Deutsche Bank Research: Lebenslnittel- Eine Welt voller Spannung. Studie, Frankfurt am Main, September 2009.
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ken. 42 Deshalb braucht es aus wissenschaftlicher Sicht innovative, interdisziplinäre Forschungsansätze43, die traditionelles Wissen berücksichtigen, den Wissensaustausch zwischen Erzeugern fördern und den Zugang zu Wissen über kostengünstige und nachhaltige Bewirtschaftungsformen verbessern. Die Agrarforschung benötigt dauerhaft eine breitere Basis. Die Ökolandbauforschung sollte politisch stärker unterstützt werden, und auch im Hinblick auf den anstehenden Klimawandel und Erhalt der Biodiversität wesentlich stärker ausgebaut werden. Gleichzeitig müssen die Strukturen der globalen Agrarmärkte radikal verändert werden. Exportsubventionen sollten gestrichen, Agrarsubventionen in den Industrieländern umverteilt bzw. langfristig abgebaut werden. Kriterien für Umwelt- und Sozialstandards müssen entwickelt und international etabliert werden. Nicht zuletzt aufgrund der gesellschaftlichen Leistungen, die ökologisch wirtschaftende Betriebe leisten, muss hier über eine andere Art der Förderung diskutiert werden, weg von einer Subventionierung von industriellen Großbetrieben, hin zu einer gezielten Unterstützung derer, die sauber, umweltfreundlich und sozial wirtschaften, und regionale Arbeitsplätze schaffen. 44 Denn die Landwirtschaft ist kein Wirtschaftszweig wie jeder andere; sie ist untrennbar von Tier- und Saatgutzucht, Bodenschutz, Umwelt- und Wassermanagement - und damit dem Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen verbunden. Nicht zuletzt deshalb ist ihre Gestaltung und Entwicklung ausschlaggebend für die Zukunft des Menschen auf Erden.
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Niggli, Urs; Gerber, Alexander (2010), Okölandbau-Forschung. Innovationsmotor für zukünftige Landwirtschaft. In: Ökologie & Landbau, Jahrgang 38, Heft 155, 3/2010, S. 21-23. Schmid, Otto (2010), Strategische Forschungsagenda 2025: Bioforschung für die Zukunft, In: Ökologie & Landbau, Jahrgang 38, Heft 155, 3/2010, S. 49-51. Reichert, Tobias & Gottwald, Franz-Theo (2007): Hunger, Armut und I
Über die Autoren:
Prof. Dr. Franz-Theo Gottwald • Diplom-Theologe und Dr. phil. • Dozent für Politische Ökologie an der Hochschule für Politik, München • Honorarprofessor für Umwelt-, Agrar- und Ernährungsethik an der Humboldt-Universität, Berlin • Gastprofessor für Business Governance an der Shanghai Academy of Social Sciences. • Seit 1984 selbstständiger Management-Trainer und Unternehmensberater • Vorstand der Schweisfurth-Stiftung (München) seit 1988. • Leiter Ernährungskommission Bundesverband für Wirtschaftsförderung und Außenwirtschaft e.V.. • Stellvertretender Kuratoriumsvorsitzender Stiftung Bewusstseinswissenschaften. • Geschäftsführender Kuratoriumsvorsitzender Stiftung für Kooperationsforschung und kollektive Entwicklung. • Arbeitsgebiete: Wirtschafts- und Untemehmensethik, Bewusstseinsforschung und Zukunftsfragen in den Bereichen Ernährung, Gesundheit und Bildung.
Isabel Boergen, B.A., MSc. Wissenschaftliche
Mitarbeiterin,
Projekt-
und
Vorstandsassistenz
der
Schweisfurth-Stiftung München • Geb. 1979 in München • Bachelor of Arts in Lehr-, Lern- und Trainingspsychologie sowie Rechtswissenschaften an der Universität Erfurt • Master of Science in Applied Animal Behaviour and Animal Welfare an der University of Edinburgh • Seit 2006 wissenschaftliche Mitarbeiterin sowie Projekt- und Vorstandsassistentin in der Schweisfurth-Stiftung München • Arbeitsschwerpunkte: tiergerechte Haltung von Nutztieren, tierethische Fragestellungen, nachhaltige Land- und Lebensmittelwirtschaft, Grüne Gentechnik, Weltemährung, nachhaltige Lebensstile, Fleischkonsum.
Economic Theory of Environmental Liability Law: Fundamental Issues and Recent Developments Alfred Endres
I.
Introduction
The Polluter Pays Principle is among the most fundamental eoneepts in environmental policy. In more theoretieal terminology, environmental policy is meant 10intemalize extemalities. To assess the role of liability law in environmental policy, its potential to make polluters pay and to eontribute to the intemalization of extemalities must be analyzed. As observed from the perspective of eeonomics, environmental problems are a ease of market failure due to negative extemalities. A negative extemality is a eonsequenee of an eeonomic activity of one agent decreasing the welfare of another agent if this eonnexion between the two individuals is not mediated by the market mechanism. The emissions of air boume pollutants generated by a produetion proeess and redueing the air quality in the neighborhood of the plant are among the many environmental examples. Extemalities destroy the ability of markets to provide for optimal alloeation of searee resourees. The
reason is that environmental resourees are used free of charge by the generator of the extemality. Thereby, rational agents do not appropriately take resouree searcity into aeeount when deciding on the quantity and quality of their economie aetivities. Compared to optimal resouree use, too many environmental resourees are used if they are free goods. Environmental liability law is one possible instrument to make amends by making the polluter pay. Liability law, speeifying the rules under which the generator of an extemality is reT. Nguyen, M ensch und Markt, DOI 10.1007/978-3-8349-6728-2_12, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
252
Manfred Endres
quired to eompensate the victims, should be designed to internalize externalities. If this is achieved, decision makers are indueed to take the value of environmental resourees used in their eeonomic activities into aeeount, just as they do with any searee resouree whieh has to be bought within the market system. With full internalization the ability of perfect markets to provide for optimal resouree alloeation is restored. Below, the potential as well as problems of environmentalliability law to serve as an intemalization strategy are discussed in more detaiL
11.
Internalizing Externalities by Liability Law The Textbook Modell
To assess the degree to which environmentalliability law is able to internalize externalities, first, a situation with full internalization must be characterized. The properties of this situation serve as a measuring rod. Consider a eertain production proeess which might generate an environmental risk. E.g., in the case of an aecident, toxie substanees are released into the environment. From the point of view of society there are two types of cost associated to this risk. The first one is damage eost. Sinee the occurrenee of an aecident is not certain, pereeived ex ante, these eosts take the form of expected dam-
age. Expected damage is the product of the probability with which the aecident oecurs and the amount of damage eost given the aecident. The seeond kind of eost is cost of care. To understand this eoneept it must be acknowledged that the probability of an aecident to oecur and the amount of the damage in the case of an aecident are not exogenously determined. In most cases there are measures of prevention which might reduee one of the two eomponents of expected damage, or both. These activities range from the kinds of technieal installations used, monitoring these installations, using specially trained personal and motivate employees to activate their skills on the job etc. In many eases, these kinds of preeautionary possibilities do not only
1
See the seminal contributions by Landes/posner (1987)and Shavell (1987).
Economic Theory of Environmental Liability Law
253
exist for the generator of the risky activity but also for the potential victim. A setting of analysis, where the Iatter possibility is ignored is said to deal with
unilateral accidents, one where both types of precaution are considered, with bilateral accidents. In the literature all the possibilities of taking precautionary measures are summarized in the term "care". Of course, taking care uses scarce resources, the value of these resources determines the cost of care. According to the criterion of social welfare maximization a risk neutral society would want to exercise care at a level which minimizes the sum of expected damages and cost of care. In this situation the external risk generated by the production process under consideration would be fully internalized. Below, this allocation is used as a norm to assess the internalization performance of environmentalliability law. Consider the case of unilateral accidents. Under strict liability the injurer is required to fully compensate the damage caused in the case of an accident. The obligation to compensate is not conditional on the level of care. Therefore, rational and risk neutral potential injurers can be expected to take cost of care and expected damages into account when deciding upon the level and quality of their care activities. If the goal of the decision makers is profit maximization they will strive to exercise care minimizing the sum of expected damages and cost of care. (Cost minimization is a necessary (but not sufficient) prerequisite for profit maximization.) Therefore, the decision problem of the generator of the external risk under strict liability law is identical to the decision problem of the society striving for the optimal level of care: find the amount of care which minimizes the
SUfi
of damage and care costs. Since the decision problems of
the individual agent under strict liability and society are identical, so is the level of care solving this decision problem. Accordingly, strict liability is able to perfectly internalize the external risk under the "textbook- model" of strict liability considered here.
This assessment is not true in the case of bilateral accidents. In the "textbook case" of strict liability the victim is fully compensated for the damage. Even though this might be welcomed conforming to a popular concept of justice it is detrimental on allocative grounds. In the case of bilateral accidents optimal
Manfred Endres
254
levels of care taken by the potential injurer and the potential victim, respectively, are defined by the sum of expected damages and the costs of these two kinds of care being minimized. However, being fully compensated for any damage under strict liability, there is no incentive for the rational and risk neutral potential victim to exercise any care.
IH.
Incomplete Intemalization by Strict Liability in the Case of Unilateral Accidents
Even if we confine the analysis to unilateral accidents internalization by strict liability is incomplete in a setting which is modeled closer to reality than the one considered in seetion 11., above. In the "textbook setting" it has been assumed that compensation is complete.
This means that the sum to be paid by the injurer to the victim in the case of an accident is identical to the monetary value of the damage. Below, some of the reasons why this is quite a heroic assumption are listed. It is fundamental to understand that deviations between the value of the damage and the amount of compensation payment seriously hamper the ability of environmentalliability law to perform as an internalization strategy. If expected compensation payments are lower than expected damages cost minimizing agents only partially acknowledge external costs when deciding upon the level of their care activities. Therefore, in equilibrium the amount of care is lower than required in the socially optimal situation achieved by the full internalization, Then, strict liability only leads to partial internalization subjecting society to a level of risk which is too high compared to the optimal level. If, on the other hand, expected compensation is above expected damage, the equilibrium level of care is too high compared with the socially optimal level. Then, scarce resources are allocated to the care activity which would have been more beneficial to the society if allocated to alternative uses. Below, we concentrate on reasons for compensation payments being lower than damages, a phenomenon labeled "damage discounting" in the law and economics literature.
Economic Theory of Environmental Liability Law
255
• Incomplete monetization The idea of compensating the victim for the damage by a payment from the injurer implies that damages can be monetized. It has been disputed in the literature that this is possible in the case of severe illness or even death as a consequence of an environmental catastrophe. It must be mentioned, however, that this problem is not specific to envi-
ronmentalliability law as a means to internalize extemalities but to the concept of intemalization as such. Monetization is aprerequisite for any internalization independent of the specific instrument which is used, be it liability law, a Pigouvian tax or any other scheme. • Uncertain causation It has been tacitly assumed above that there is no doubt about the eco-
nomic activity under consideration being the cause for the external damage. However, in realistic settings, causation is often hard to establish. This is particularly the case if there are long distances between the presumed cause and the effect, in space and/or time, and if several potential causes might have been working together to generate the detrimental effect. If causation is not obvious the application of environmentalliability of-
ten depends upon whether the burden of proofhas to be carried by the potential injurer or the potential victim. In cases where it is very hard to establish causation liability law is practically inapplicable if the burden of proof rests with the potential victim. On the other hand, if the burden of proof is on the injurer, "liability for suspicion" might be the detrimental consequence. • Lacking personal attributability and rational disinterest It has been tacitly been assumed, above, that damages occur at the ex-
pense of certain persons who are entitled for compensation under strict liability. In a more realistic setting this assumption is not always warranted. Damages might reduce the value of resources for which private property rights are not specified. In the case of these "eco damages" it is
256
Manfred Endres difficult to establish a claim for compensation or restitution on the basis of liability law. A similar problem to make a liability case generated on the side of potential victims occurs when aggregate damage is high but distributed among many individuals. Transaction costs for each individual may be too high to exercise the claims to be compensated. The damaged individuals are "rationally disinterested" in the procedure. In the literature
dass action is discussed as a means to lower transaction costs and thereby to overcome the problem of rational disinterest. • Limitations of liability An important deviation from the principle of full compensation, assumed to be met in the textbook model of liability law, exists if liability is limited to a certain amount of money. There are many empiricalliability laws which contain a limit. Another kind of limitation exists as far as the assets of a potential injurer which can be used to satisfy claims are limited. It has been argued that firms strive to outsource dangerous activities to companies with specifically limited assets (see Segerson, 2000).
IV.
Standard Oriented Liability Rules as Internalization Strategies
1.
Negligence and Strict Liability with a Defence of Contributory Negligence in the "Textbook"-Setting.
The constitutional property of strict liability is that the potential injurer is liable independent of the amount of care taken. This is different under the negli-
gence rule. For simplicity, consider the case of unilateral accidents first. Under negligence injurers are liable for the damages cost if the actual care they have taken is less than due care. To be operational, the norm of due care has to be specified. In
the textbook model of negligence the due care standard is assumed to require the injurer to take socially optimal care.
Economic Theory of Environmental Liability Law
257
Economic analysis suggests that injurers will take optimal care under these conditions for the following reasons: If injurers choose a level of care which renders them exempt from liability the only cost they have to consider is the cost of care. Damages generated are irrelevant for the injurer's decision. Since exemption from liability holds for levels of care equal or above the due care level the cost minimizing decision is to exactly keep due care standard (instead of exercising "excessive" care). On the other hand, it is not in the interest of the injurer to exercise less than due care under the negligence rule as specified here. In this case not only the cost of care but, additionally, expected damages would have to be calculated by the decision maker. The sum of care and damage costs is always higher than the cost of care only, when optimal care is exercised. Therefore, equilibrium care is identical to optimal care as realized by full internalization. This result of the textbook analysis of negligence also holds for the bilateral
case. Given the injurer exercises optimal care the victim is not entitled to compensation. Therefore, victims have an incentive to minimize the sum of expected damages and their own cost of care. This minimization incentive is exactly what is required in the socially optimal situation. In the case of bilateral accidents a mixed form of strict liability and negligence
is feasible, strict liability with a defense of contributory negligence. Here, injurers are liable for the damage independent of their own level of care given the victims have observed their own due care standard. In the textbook version of this liability rule, victims' due care standard is defined by their socially opti-
mal care. If victims violate this standard injurers are exempt from liability. It follows from reasoning analogous to the one above that the equilibrium care levels of injurers and victims will be identical to the optimal levels: Given the due care standard addressed to the victim is set at its socially optimal level any victim striving for cost minimization will decide to exactly observe this level. Given that injurers are liable. Being liable any rational injurer strives to exereise care in order to minimize the sum of care and damage costs. Thereby, optimality is obtained.
258
2.
Manfred Endres
Complications • Suboptimal Standards In the "textbook-version" of the standard oriented liability rules, presented above, due care standards are set at socially optimal levels of care. This requires, first, that the standard setting institution strives for social optimality in the sense of economic theory and if so that it, second, is informed weIl enough to be able to do so. The standard setting institution must know all the relevant damage and cost of care functions with the care levels as independent variables. Of course, these assumptions are heroic. It is plausible that suboptimal standards attenuate the ability of standard oriented liability rules to induce economic agents to exercise optimal care. Economic modeling confirms this intuition. • Incomplete Standards A similar distortion in the ability of environmental liability law to achieve full internalization is incomplete standards. Standard oriented liability rules can constitute incentives to take optimal care only for those care activities for which a standard is established. There are some possibilities to reduce expected damages for which it is hard to establish a norm, The most prominent example is the level of the economic activity generating the external risk. If the due care standard addressed to the injurer under the negligence rule in the case of unilateral accidents does not contain a norm for the level of the externality generating activity, this level is not likely to be optimal in equilibrium. The same holds for the victim's activity level under a rule of strict liability with a defense of contributory negligence in the case of bilateral accidents.
259
Economic Theory of Environmental Liability Law
V.
The Textbook Model and Selected Complications - A Graphical Illustration MG (X) I
I I I I
€
Pt I
Figura 1
The textbook model of the economics of liability law is illustrated in Figure I, showing marginal cost of care, Me, increasing and expected marginal damage, MD, decreasing as the level of care, X, increases. By definition, the polluter has to cover the
SUfi
tal residual damages under strict liability. This exercised at the level of
X~
of the total cost of care and toSUfi
is minimized when care is
satisfying the first order condition MD
=
MC The
cost that the polluter has to pay in equilibrium is illustrated by the area OAX. Obviously,
X~ = X"
holds.
Under negligence, the polluter observes due care which is identical to socially optimal care in the textbook model by definition, i.e.,
x~ = X"
holds. The sum
to be calculated in this situation is illustrated by the area OAX" in Figure 1.
260
Manfred Endres
We also illustrate two of the many deviations from the textbook model in figure 1. First, strict liability with undercompensation, then, negligence with a suboptimal due care standard are dealt with. The case of incomplete compensation is illustrated in figure 1 by the curve of marginal compensation payments,
MCP,
running strictly below the marginal
damage curve. Given undercompensation, the equilibrium care level of the polluter is X SL' " , under strict liability. This equilibrium is defined by the marginal cost of care being equal to the marginal compensation payment, MC MCP.
Total equilibrium cost is illustrated by the area
OA' J(",
=
in figure 1.
Next, the equilibrium under negligence for the somewhat more complicated case of the due care standard differing from socially optimal care is discussed using figure 1. We consider the case of the due care standard
X(+)
which is
bigger than socially optimal care. In order not complicate the analysis too much we go back to the case of full compensation for this consideration. Whether or not the polluter keeps the excessive due care standard depends upon the size of that exaggeration. The standard is kept if the cost of care associated with doing so are less than the sum of care and damage cost given the polluter chooses the care level which minimizes this sum, Obviously the latter care level is exact1y the one that is chosen under strict liability. Considering figure 1, the polluter keeps the standard if
VI.
Liability and Insurance
1.
Insurance with "Fair" Premium
OA"X(+) < OAX
holds.
The most prominent role of insurance is to pool the risks of the insured.
Above, it has been assumed for simplicity that economic agents are risk neutral. Risk neutral individuals do not benefit from risk pooling and therefore do not demand insurance. In order to analyze the effect of insurance on equilibrium precaution under liability law individuals analyzed in the economic model are assumed to be risk averse, below. For simplicity the analysis is confined to the case of unilateral accidents and strict liability.
Economic Theory of Environmental Liability Law
261
Ideally, the premium paid by the insured decision maker for full coverage is identical to the expected damage. Since expected damage is determined by the level of care exercised by the decision maker, as explained above, the insurance premium is determined by this level also. Therefore, the equilibrium care level of the risk adverse decision maker who is insured by a contract implying a fair premium is identical to the equilibrium care level of the risk neutral decision maker without insurance. It follows that this equilibrium level of care is socially optimal under the conditions of the "textbook-model" of seetion 11., above. In this setting insurance is beneficial in terms of social welfare in that the burden of risk is shifted from the risk adverse decision maker to the insuring institution (which is taken to be risk neutral). Moreover, insurance is also allocatively beneficial. This is so because the equilibrium care level of a risk averse decision maker without insurance is higher than the equilibrium care level of a risk neutral agent. Since the equilibrium care level of the risk neutral agent is socially optimal under the conditions considered here the equilibrium care level of the risk averse decision maker is socially excessive. As soon as insurance takes the burden of risk from risk averse agents they behave just like risk neutral agents do and this is socially optimal in the given context.
2.
Moral Hazard
Aprerequisite for the feasibility of a fair premium is that the level of care exercised by the insured decision maker is fully observable by the insurance company. This is highly unrealistic. Insurance contracts often suffer from asymmetrie information between the insured party and the insurance company. This is the cause for the problem of moral hazard well known from the literature on insurance economies. The allocative consequences of moral hazard for equilibrium care are most visible in the extreme case where the insurance company cannot observe the level of care exercised by the insured agent at all. In this case the insurance premium cannot be related to the level of care but is
a fixed amount. Given the premium is predetermined, there is no incentive for the decision maker to take any care. Any care taken would increase the cost of the decision
262
Manfred Endres
maker without being able to lower the insurance premium and thereby conflict with the goal of profit maximization. In a more realistic setting, the degree to which the care level is observable for the insurance companies will be between the two extreme cases considered above, full observability and no observability at all. The difference between the equilibrium care level to optimal care will be the higher the worse observability is,
3.
Risk Management
In the insurance literature several strategies have been proposed to cope with
the problem of moral hazard and they have also been used in practice. The most common feature is that insurance contracts do not provide full coverage. Decision makers who have to pay a certain part of the compensations to the victims themselves, in the case of an accident, are subject to higher incentives to take care then fully insured agents. Of course, the allocative benefits of partial insurance can only be realized by forsaking apart of the beneficial effect of insurance in terms of risk distribution. If the risk averse decision maker carries apart of the burden of risk, the potential of insurance to provide optimal risk shifting cannot be fully realized. Other forms of risk management might strive to increase the observability of care activities. The insurance contract might determine certain precautionary activities by the insured agent and might specify reporting duties of this agent and monitoring rights of the insurance company. The contract might exempt the insurance from the duties to cover damage in case of the insured decision maker not having complied to these elements of the contract. It is an interesting side issue that by these contractual provisions, the limits between strict liability and negligence are blurred considering the economic incentives of these two liability rules. Regarding the incentives to take care the duties specified in an insurance contract under strict liability are very similar to the due care standards the decision maker is expected to observe under the negligence rule.
Economic Theory of Environmental Liability Law
263
VII. New Horizons in the Economic Theory of Environmental Liability Law
1.
Introduction
There is a fundamental even if very often overlooked assumption, the economics of liability law presented above shares with most of the contributions to the relevant literature: the technology underlying the cost of care functions which constitute an important element of the economic analysis have been taken to be given. In the earlier environmental economics literature this assumption
has been applied not only for the economic analysis of liability law but also for all other instruments of environmental policy (like effluent charges, transferable discharge permits as well as command and control approaches). However, regarding these other instruments the picture has been changing within the last 20 years. The number of studies theoretically or empirically investigating how effluent charges, transferable discharge permits or command and control policy induce technical change has dramatically increased.s The equilibria with regard to the level of care activities (in this context: pollution abatement) and technology choice under these alternative instruments are compared to each other, as well as to socially optimal choices. However, the economic analysis of the incentives to introduce progress in care technology produced by environmentalliability law is still in its infancy," Below, abrief assessment on the role of liability law for the advances of environmentally friendly technology is given. We proceed as follows: in subsection 2., a simple 2-period-model of socially optimal technical progress in care technology and socially optimal care is introduced. In subsection 3., technology and abatement equilibria under strict liability and negligence as well as their
2
3
See, e.g. Coria (2009), Endres/Rundshagen (2010), JaffelNewell/Stavins (2002), Requate (2005), and the literature referred to therein. After this issue had been overlooked in the literature even though the discussion about the technology incentives of other environmental policy instruments has flourished, awareness about the importance of "dynamic" aspects of liability law seems to be catching up now. An indication is that on the program of the 2010 Annual Conference of the European Association of Law and Economics, there are three papers dealing with this issue. See Endres/Friehe (2010), Franzoni/Dari Mattiacci (2010),[acob (2010).
Manfred Endres
264
welfare implications are analyzed. In this first step we use the textbook models of strict liability as sketched in section IL, above, and of the negligence rule, as sketched in subsection IV.I, above. The analysis is confined to the simpler case of unilateral accidents. In subsection 4., we introduce one of the many complications to the highly idealistic textbook model. The complication we choose as an example is the one that already played a prominent role in the earlier sections of this article: we consider liability to be incomplete, i.e., we assume compensation to differ from harm. Spedfically, we analyze the case where compensation payment is lower than harm and find out what this complication does to equilibrium care and induced technical progress in the care technology.
2.
Socially Optimal Care Level and Care Technology
Consider a most simple two-period-model of a risk neutral society striving to minimize the social cost associated with pollution. Let X. represent abatement in period t, where t=O,l. Social cost consists of expected damages D(Xt), abatement costs C,(X,'/o)' and investments into improvements of abatement technology, 10, which decrease total and marginal abatement costs in period I, i.e.,
Formally, the society's cost minimization problem is
where Co, Cl and D are twice continuously differentiable with oc, > 0 ifc,2 > 0 aCI < 0 ifc2I > 0 ifc1 < 0 , BI , axal axt ' ax ' al0 ' and 0 1 0 t
• Here and in the following we assume that firms can appropriate all benefits from innovation, i.e., no R&D spillovers occur. The role of spillovers for the dynamic incentives of environmentalliability law are analyzed in Endres/Rundshagen/Bertram (2007).We also ignore discounting. In case the social rate of discount is identical to the private rate of discount, discounting does not affect the results presented here. The case of a private discount rate differing from the social one is analyzed in Endres/Bertram/Rundshagen (2007).
265
Economic Theory of Environmental Liability Law D'(Xt)
t e {O,l}.5
The first order conditions (for an interior solution) are:
=>C~( Xo)=-D'(X o)
(1.2) asc / ex, = aClX/,lo)/ aX J +D'(XJ)=O
=> aClx/Jo) =-D'(X/) aXJ
The sociaHy optimal levels of emission reduction are denoted cially optimal level of investment is
X~', X;', the
so-
I~·.
According to (1.1) and (1.2), marginal abatement costs are equal to expected marginal damages in each period. Marginal abatement costs in period 1 are smaller than they are in period 0, due to investment into technical change. According to condition (1.3) optimal investment is defined by its marginal cost (normalized to 1) being equal to the present value of the marginal abatement cost savings in period 1.
3.
Equilibrium Care and Equilibrium Care Technology under Liability Law
Below, equilibrium care and technology levels as well as the welfare effects under strict liability and negligence are investigated. • Strict Liability Under strict liability the problem of the poHuter striving to minimize private costs PCSL is
5
To make sure that the second order conditions for the cost minimum are met we also as-
[a'se J' from which follows that SC aXial,
esc esc > - sume - , ._,aXI
al,
is strictly convex.
266
Manfred Endres
Obviously, the private cost function of the polluter is identical to the social cost function in this highly stylized setting. Therefore, the equilibrium abatement and investment levels
X;, X;,
i; are identical to the
socially optimaIones. • Negligence Under the negligence rule the problem of the representative polluter is (3) Min PCN = Co( Xo)+/o +ClX].Io) + (/JoD(Xo)+(/JP( X])
subject to (3a) (/J, = {al for X,? X;' for X, <X,'"
te
fO,I},
where (/J, is the "switch parameter" in period t taking the value of 1 if the firm is liable and 0 if the firm is not. Liability of the firm is decided upon whether the firm ignores or respects the emission norm. This "due care standard" is assumed to be set at the socially optimal level of pollution, X ," .6 The first order conditions are:
(3.2)
eec; lax] = aClx].Io) I ex, +D'(X])=o
~ aClXl'/o) ax]
= -D'(X )
]
where (3.1) and (3.2) only hold in case of (/Jo = I respectively (/J1 = I .
6
In Endres/Bertram (2006), we deviate from the full information assumption. In particular, we consider a social planner who does not know the optimal technology of the future pe-
riod.
Economic Theory of Environmental Liability Law Given lPOJ
= 0,
267
i.e, for levels of pollution abatement beyond the required mini-
mum standard (X,
'? X,", t E (O, 1})
the cost function increases monotonically in
Xr, Accordingly, costs are minirnized at
X;'.
The corresponding investment
level follows from (3.3). Thus, the costs of the firm are less keeping the standard
X;'
than violating it.
Concerning period 1 the minimum values of (3) are (X;' ,1;') irrespective of lPJ the polluter chooses the socially optimal values and thus keeps the standard. This result is analogous to the well known result of the textbook static model of the negligence rule, as presented in subsection IV.1, above. In spite of this analogy the result of the model presented above may be surprising to some. Opposed to the standard static model, the polluter simultaneously optimizes two decision variables, pollution abatement and investment into technical change, in the dynamic model presented above. (In the static model only the former variable exists.) Nevertheless, under the given assumptions the negligence rule needs one standard only to set the correct incentives for the polluter to make socially optimal decisions regarding both variables. This may seem to be a contradiction to the well-known rule that two policy objectives need to be tackled by two policy instruments (Tinbergen, 1952). However, this rule holds for policy objectives which are independent from each other. In the model sketched above technology choice and the choice of care level are not. This picture would change if we would introduce an allocation problem into the model of the technology choice also. The most obvious example would be knowledge spillovers. However, we refrain from discussing this complication here and assume that technology choice is undistorted,? Instead, in section 4., we will concentrate on the dynamic incentive effects of the distortion that was already highlighted in the presentation of the static model given above, incomplete liability. Before we turn to the complications, important elements of the previous analysis are illustrated graphically. 7
The role of technology spillovers for the static and dynamic incentives of environmental liability law have been discussed in Endres/Rundshagen/Bertram (2007).
268
Manfred Endres
€
MD
x Figure 2
Figure 2 illustrates the consequences of technical progress by showing two marginal cost of care curves, MCo and MC
j •
MCo is supposed to be the mar-
ginal cost of care function if the "old technology" is used. Accordingly, MC
j
shows the cost of care function after the "new technology" has been introduced. To do so, I > 0 has been invested. As a consequence of the introduction of the new technology, socially optimal care goes up from
X~'
to X;' .The
gross benefit of technical change to society is illustrated by the area OAB in the figure. Let us assume, for the time being, that this gross benefit is higher than the cost of introducing technical change, 1. Under strict liability gross benefit and cost of technical change to the polluter are exactly the same as they are to society. Whenever it is advisable from the point of view of society to introduce the new technology the polluter will just do that under strict liability. Moreover, equilibrium care is equal to socially optimal care after the new technology has been introduced. In this simple model including technical change the result is just the same un-
der negligence. Given the due care standard is at the socially optimal level the
269
Economic Theory of Environmental Liability Law
polluter will decide to keep it. Moreover the polluter will obviously use the new care technology. This is so because the cost of keeping
x;' are
at DBX';
using the new technology and at DA' X;' using the old one. Moreover, the gross benefit of keeping the standard with the new technology instead of with the old one, DA'B, is bigger than it is under strict liability, DAB. Since we have assumed that DAB > I in the first place, DA' B > I follows. Therefore, whenever the new technology is socially superior to the old one it will be introduced by the polluter given the due care standard is at its socially optimal level,"
4.
Incomplete liability - implications for technological change
4.1
Introduction
Above, technical change has been stylized to reduce the marginal cost of care irrespective of the level of care. In subsection 4.2, we stick to this stylization. In subsection 4.3, we allow for other forms of technical change which have received a certain attention in the literature. Henceforth we call the stylization that has been used in most of this paper (and in most of the literature) to be "conventional". The stylization deviating from the conventional one is called "alternative".
4.2
"Conventional" Stylization of Technical Change
In section
m., above, we have listed some reasons for the compensation pay-
ment under liability law to differ from damage. Most of these considerations point into the direction of compensation falling short of harm, and it is this case the analysis below is focused on.?
8
9
For this reasoning, we assume that the regulator is aware of the optima! standard ex ante and commits to fixing due care at this level. This assumption is rnaintained in the present paper. In Endres/Bertram (2006), the case of ex post regulation is discussed. StiIl, it has been noted that compensation rnight exceed the level of harm in some cases. E.g., artic1e 8 of the EU Liability Directive states that poIluters ought to bear the costs of the preventive and remedial actions due under the Directive. Assuming that the harm done can be completely removed it may very weIl be that total remediation costs are actuaIly in excess in the level of socia! harm since remediation costs are an upper cap for socia!
270
Manfred Endres
Let us consider strict liability first. It is plausible that the result attained for incomplete liability under the condition of given care technology will persist in a framework with variable technology: if the polluter calculates only partial damage compensation the intemalization effect of liability law is attenuated with the consequence that care is underprovided in the equilibrium. Moreover, equilibrium investment into technical progress is too low under these circumstances. Since equilibrium care is too low the amount of cost saving due to technical progress is lower for the polluter than it is for society. Since the investor only appropriates parts of the social benefit from technical progress equilibrium investment falls short of what it should be from the point of view of society. These considerations can be illustrated using figure 3. Again, we assume that it is socially beneficial that the new technology is introduced. MC o €
'7<-------'-:--='~'_:_:_---~----_ X
Figura 3
harm in this circumstance. Moreover, compensation exceeding harm may arise if the court imposes "punitive damages".
Economic Theory of Environmental Liability Law Under strict liability, equilibrium care is defined by Me]
271 =
MCP if the new
technology is introduced. The benefit of using the new technology for the polluter is illustrated by the area DA' B' in figure 1. Obviously, the benefit of introducing the new technology to the polluter given the case of undercompensation is smaller than the benefit to society, DAB. Therefore, opposed to the case of full compensation the polluter will not in any case introduce a new technology that is socially beneficial to be introduced. Speaking in terms of figure 3, since the private gross incentive for innovation DA' ß' is smaller than the social gross incentive DAß, the assumption that the sodal gross incentive exceeds the cost of introducing progress, I, does not imply at the private gross incentive exceeds this cost. Private optimization under strict liability will have the polluter stick to the old technology even if the new one is socially preferable in case the cost of investment is between the private and the social gross incentive.l'' Things are somewhat more complicated under the negZigence rule. The crucial issue is the decision of the polluter to keep or to ignore the due care standard. In the textbook model where compensation equals damage by definition, this
is not a problem. Things change in the more realistic framework were compensation payment falls short of the damage. It is no longer certain that the cost of ignoring the standard and adjusting optimally to then having to pay compensation, is lower than the cost of keeping the standard. This is so because the level of care which minimizes the sum of investment into technical change, taking care and paying compensation is lower than the due care standard. In case the compensation payment is "much lower" than the damage it might well occur that the sum of these payments is lower than the cost of meeting the due care standard. If this happens then, the polluter decides to ignore the standard. Thereby he is liable and the equilibrium care level is the same as it is under strict liability with incomplete compensation. If, to the con-
10
For this graphical illustration we use the idea of discrete technology choice. In the formal model of continuous technology choice presented in Endres/Friehe (2010) it is shown that the polluter always underinvests into technical change under strict liability with undercompensation if technical progress reduces marginal abatement cost independent of the level of care.
Manfred Endres
272
trary, compensation is "a little lower" than damage the polluter decides to keep the standard. Then, equilibrium care is socially optimal by definition and the polluter also invests optimally into technical change.!'
We use figure 3 for a graphical illustration. Suppose the firm introduces the new technology ("technology I"). Then, the due care standard is kept if the cost of doing so is less than the cost associated with ignoring the standard and adjusting the care level optimally to the fact of liability. Speaking in terms of figure 3, the condition for a polluter using the new technology to keep the standard is OBX" < OB' X(-). lf this condition holds (and by implication the due care standard is kept) our
assumption that the polluter introduces technology 1 is consistent with equilibrium behavior. Given the standard X .. is kept it will never be better to use technology 0 instead of technology 1 to do that. On the other hand, if the aforementioned condition does not hold (i.e., the standard is ignored) the polluter is in the same situation as under striet liability. Given that, the assumption that technology 1 is used may be contradietory to equilibrium behaviour. The reasons for that and the condition for the polluter deciding to stick to the old technology are exactly the ones discussed for the case of striet liability, above.
4.3
11
Alternative" Stylization of Technical Change
It has been argued in the literature that the effeet of technical change is not
necessarily as assumed above - decreasing the marginal cost of care independent of the level of care. To the contrary, in some cases technical progress might decrease the cost of care only for "low" care levels and increase the cost of care for "high" Ievels.P
11
A formal proof is in Endres/Friehe (2010).
12
See Amir et al. (2008), Baker/Adu-Bonnah (2008), Baker/Oarke/Shittu (2008), Baker/Shittu (2008), Baumann/Lee/Seeley (2008), Brechet/Iouvet (2008).
Economic Theory of Environmental Liability Law
273
€
(C") (C')
0
Xl
I I
X·1
X·
X(-~
0
I I
x X
X"
Figura 4 We consider the consequences this alternative idea of technical change has for the economics of environmental liability law and use figure 4 to illustrate. There,
X
is the care level separating the care levels which are "low" from
those which are "high", in the sense of the proceeding paragraph. For a change, we assume that it is not socially beneficial to introduce the new technology. In terms of figure 4 this means that the benefit of technical change does not cover investment costs, i.e., O(C?C(C'? - CAB < I holds. Under strict liability the polluter introduces the new technology if the benefit of this introduction exceeds investment cost, i.e., O(C?C(C'? - CA' B' > I holds. The two aforementioned conditions are compatible with each other. That is due to the fact of undercompensation the negative part of the benefit of innovation is smaller for the polluter than it is for society, CA' B' < CAB . Thereby it might well be that the polluter decides to innovate even if innovation is not advisable from the point of view of society, as assumed here. In this case we
Manfred Endres
274
arrive at the somewhat counterintuitive result that the polluter "overinvests" even though he "undercompensates", under strict liability.
13
Let us now consider negligence. Assume that the due care standard is at its socially optimal level x", (Since we have assumed that it is not advisable from the social point of view to introduce the new technology, socially optimal care is defined by marginal cost of care being equal to marginal damage using the old technology.) The cost of keeping this standard using the old technology is OAX". If the polluter decides to stick to the old technology the standard will never be ignored for the reasons explained by the textbook model. Then, equilibriurn abatement and investment are socially optimal. However, if the new technology is used and the standard is ignored the polluter might fare better. In this case the costs of the polluter to be paid in equilibriurn are illustrated by the area OB' X(-) + / . This means that if the polluter uses technology 1 and ignores the standard he is in the same situation as he is under strict liability. If OB' X(-) +/
VIII. Conclusion This contribution has considered environmentalliability law as an instrument
to internalize external risks. Only under very restrictive conditions can full intemalization be realized. Under more realistic conditions intemalization is partial. However, in order to assess the quality of liability law as a means to intemalization it must not only be compared to the ideal of full intemalization but also to its realistic alternatives. A comparative analysis shows that these internalization policies, like Pigouvian taxes or Coasean bargains are also incomplete. Moreover, it has to be noted that for the benefit of the transparency it has been assumed above that liability law is not applied jointly with other policies to induce care. For a realistic analysis liability law should be analysed as apart of a portefeuille of policies.
13
A formal proof is in Endres/Friehe (2010).
Economic Theory of Environmental Liability Law
275
Even though the literature on the economics of liability law covers some aspect which had to be ignored in this contribution.t- there are a number of important issues which have not been suffidently dealt with to date. Suggestions for future research follow: • Most of the literature on the economics of environmental liability law assurnes that externalities are the only reason which prevents markets from being perfect. However, in a more sophisticated setting it must be acknowledged that there are other imperfections, like market power and asymmetric information. These might interact with the extemality, complicating the analysis of the allocative properties of environmental liability law. • Most of the economic models dealing with the incentive effects of liability law are static. Equilibria defined for the liability rules under consideration as well as social optima used as a measuring rod are defined for predetermined cost of care and damage functions. However, over time, liability law might constitute incentives to change damage costs and the costs to take care. In the final section of this paper we have reviewed the first approaches dealing with this problem. However, this research is still in its infaney and much work needs to be done to leam more about the ability of different forms of liability law to induce technical change. To the best of this author's knowledge, e.g., there is no analysis in the literature at all dealing with the incentives of liability law for technological change in the case of non-competitive market structures. • Most of the literature on the economics of environmentalliability law is theoretical. Even though Segerson (2000) points to some empirical studies it is still save to say that the empirical evidence on the precautionary effects of liability law is by far too sparse, to date.
14
Faure (2009) presents an outstanding review which has a somewhat different foeus than the paper at hand.
Manfred Endres
276
• A most recent applied question is: how can environmental liability be designed to serve as an ecologically and cost effective tool of international c1imate pOlicy?15
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15
See Faure/Nollkaemper (2007),Faure/peeters (2011)opening up this discussion.
Economic Theory of Environmental Liability Law
277
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278
Manfred Endres
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Über den Autor
Prof. Dr. Manfred Endres •
geboren in Frankfurt/M.
•
1968 -1973 Studium der Volkswirtschaftslehre an der Universität Bonn
•
Promotion an der Abteilung Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der Universität Dortmund
•
Habilitation an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften und Statistik der Universität Konstanz
•
01.04.1982 - 31.12.1991 Professor (C3) für Volkswirtschaftslehre, insbes. Allokationstheorie und Umweltökonomie am Fachbereich Wirtschaftswissenschaften der Technischen Universität Berlin
•
Seit 01.01.1992 Professor (C4) für Volkswirtschaftslehre, insb. Wirtschaftstheorie am Fachbereich Wirtschaftswissenschaft der FernUniversität Hagen (Ablehnung eines C4-Bleibeangebots des Senators für Wissenschaft des Landes Berlin)
•
01.11.1993 - 30.04.1994Visiting Scholar, Law and Economies Center und Dept. of Economics, University of Miami, U.S.A
•
30.04.1998 Ablehnung eines Rufes auf einen Lehrstuhl für Wirtschaftspolitik an der Universität Augsburg
•
01.09.1998 - 28.02.1999 Visiting Scholar, Dept. of Economies, University of California at San Diego, USA
•
Seit 01.01.1999 Externer Wissenschaftler im DFG-Graduiertenkolleg "Recht und Ökonomik" an der Universität Hamburg
•
28.09.2001 Ablehnung eines Rufes auf einen Lehrstuhl für Umweltökonomie an der Universität Rostock
•
Seit 01.01.2002 Mitglied des Review Panels im National Centre of Competence in Research "Climate" des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der Wissenschaftlichen Forschung
•
Seit 01.04 2002 Ständiger Gastprofessor für "Integrative Umweltökonomik" an der Privaten Universität Witten/Herdecke
3. Teil:
Wirtschaftsethik in der praktischen Umsetzung
Ethik der Finanzmärkte Der virtuelle Kapitalismus und die menschliche N atur
283
~ichaelSchralllfn
Bankenaufsicht in Deutschland Entwicklungslinien und -tendenzen
315
Michael Bitz und Dirk Matzke
Ethische Investmentfonds: Ein Modeprodukt?
373
Stephan Schöning
Gedanken zu einer normativen Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre .......419 Dieter Schneeloch
Der Einfluss von Vertrauen in einem Inspektionsspiel zwischen Disposition und Controlling Günter Fandel und [an Trockel
451
282 Untemehmerisches Verhalten im Kontext der Europäisierung des Rechts
Heinz Kußmaul, Christoph Ruiner und Dennis Weiler
481
Ethik der Finanzmärkte Der virtuelle Kapitalismus und die menschliche Natur Michael Schramm
Am 15. September 2008 war es so weit. Nachdem die Investmentbank Lehman
Brothers Holdings Inc. Insolvenz angemeldet hattet, begann die Welt, im Elend zu versinken: Zunächst begann das artifizielle Luftschloss - manche sagen: das "Kasino"2 - des real existierenden Finanzmarktkapitalismus einzustürzen ("Global Financial Meltdown"). Die Nerven lagen blank, und die Finanzjongleure wurden zu kollektivem Suizid aufgefordert3. Der Zusammenbruch riss in der Folge dann aber auch zunehmend die weltweite Realwirtschaft mit in den Abgrund ("Economy Meltdown"). Und hiervon waren nicht zuletzt die
1
Im Gefolge der Subprime-Krise musste Lehman im Laufe des Jahres 2008 zunächst massi-
ve Abschreibungen vornehmen. Anders als bei drei anderen großen Banken tBear Stearns, Fannie Mae und Freddie Mac), die zuvor unter dem Motto "too big to fail" mit Milliarden von Stützungsgeldern aufgefangen worden waren, wollte Finanzminister HENRY PAULSON nicht erneut Steuermilliarden zur Verfügung stellen und ließ Lehman fallen, was am 15. September 2008 zum Insolvenzantrag (nach Chapter 11 des U5-Insolvenzrechts) führte. Etwa 25.000 Lehman-Mitarbeitern wurden gekündigt, so dass einige Tage nach der Insolvenz nur noch gut 150 Menschen für Lehman arbeiteten. Aus der Insolvenzmasse wurde das US-Geschäft Lehmans von der britischen Universalbank BaTclays übernommen. Weitere Geschäftsteile kaufte etwa der japanische Broker Nomura Holdings (Asiengeschäft plus Investmentbanksparte in Europa und im Nahen Osten). Besucht man heute die Hornepage von Lehman an (http://www.lehman.com/).soist dort nur kurz und bündig zu lesen: .Lehman Brothers Holdings Inc. has filed for bankruptcy protection in the u.s.". 2
3
Selbst Autoren, die bis dato nicht unbedingt als Kapitalismuskritiker auffällig geworden waren, verwendeten nunmehr diesen moralisch aufgeladenen Begriff: SINN(2009). So forderten aufgebrachte Demonstranten vor der New Yorker Börse die Banker der Wall Street auf, die Konsequenzen aus ihrem Fehlverhalten und ihrer Unfähigkeit zu ziehen: "Jump! You fuckers" stand auf den Transparenten.
T. Nguyen, M ensch und Markt, DOI 10.1007/978-3-8349-6728-2_13, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
Michael Schramm
284
ärmeren Länder der Erde besonders betroffen'. Eine Systemdebatte über den Kapitalismus ließ nicht lange auf sich warten. So diagnostizierte etwa die "Weltmacht Habermas"5 das "Zerplatzen der letzten neoliberalen Sprechblasen [...]. Ich hoffe, dass die neoliberale Agenda nicht mehr für bare Münze genommen/ sondern zur Disposition gestellt wird. Das ganze Programm einer hemmungslosen Unterwerfung der Lebenswelt unter Imperative des Marktes muss auf den Prüfstand'", Ich denke, dass man diesbezüglich eine Unterscheidung vornehmen sollte: "What we are experiencing is not a failure of capitalism or free markets per se, but the failure of unregulated markets - in particular, of unregulated financial sector and risk management'".
1.
Das Grundproblem: Globalisierung ohne hinreichende Spielregeln
Die Finanzmärkte sind nur ein besonders drastisches Beispiel für ein grundsätzliches Problem globaler Märkte: Da eine global ordnende Instanz fehlt, sind die Märkte nicht hinreichend geordnet. Der Ökonom LESTER THuROW vergleicht die wirtschaftliche Globalisierung insgesamt sogar mit dem - nun teils eingestürzten - "Turm zu Babel". "Globalization is much like the biblical Tower of Babel. [...] This economic Tower of Babel is being built without a set of construction plans'",
4
Hierzu etwa EMUNDS / REICHERT (2009).
5
50 der Titel des Leitartikels in: Die Zeit Nr. 25 (2009).
6
HABERMAS (2008)/ 5. 53. Ähnlich hat auch FRIEDHELM HENGSBACH die 5ystemdebatte eingeklagt: "Ich rede von 5trukturmoral. Die Krise wurde mitverursacht durch den schleichenden Umbau des rheinischen Kapitalismus in den angelsächsischen Finanzkapitalismus, Das ist für mich ein moralischer 5trukturbruch" (FRIEDHELM HENGSBACH, in: HENGSBACH & HOMANN 2009/ 5. 27).
7
ACEMOGLU (2009)/ p. 13.
8
THUROW (2003).
Ethik der Finanzmärkte
285
Historisch war der Turm zu Babel ziemlich sicher der Stufentempel Etemenanki (Mesopotamien; erstmals 764 vC bezeugt; 91 m hoch) - und im Gegensatz zur Globalisierung hatte er durchaus einen (beeindruckenden) Konstruktionsplan! Dennoch kann die biblische Geschichte auch angesichts der Finanzkrise - und vielleicht der Globalisierung insgesamt - durchaus lehrreich sein: Der Mensch sollte seine Fähigkeiten nicht überschätzen, sondern sich bewusst sein, dass er nicht alles kann und dass seine Konstruktionen - zum Beispiel auch die Konstruktionen der globalen Finanzmärkte - immer einstürzen können, wenn man nicht sehr gut aufpasst. Wichtig wird von daher die Konstruktion eines geordneten Kapitalismus sein!
2.
Die Baustelle: Güter-und Finanzmärkte
Der Kapitalismus besteht aus eine Vielzahl vernetzter Güter- und Finanzmärkte. Das globale Wirtschaftssystem ist nicht "die einfache Marktwirtschaft", sondern der "Kapitalismus": "Marktwirtschaft [auf Gütermärktenl allein bringt noch keinen Wohlstand hervor?", "Den Wohlstand, in dem wir heute leben, verdanken wir nicht der Marktwirtschaft, sondern erst dem Kapitalismus?". Erst die Organisation von Kapitalvermögen sowie die entsprechenden Investitionen ließen eine kapitalistische Wirtschaftsordnung entstehen, die mit wirklichem Wirtschaftswachstum verbunden war. Zentral war hierbei etwa die Aktiengesellschaft, ohne die es weder die Eisenbahn, das Automobil oder Flugzeuge geben würde. Die Finanzmärkte bilden also ein komplexes (Sub)System des Kapitalismus, dessen Funktion darin besteht, Dienstleistungen für die Realwirtschaft bereit zu stellen. Nun waren und sind es vor allem die derivativen oder "strukturierten" (= Derivate enthaltenden) Finanzinstrumente, die in einer globalisierten Wirtschaft einerseits nützlich sind ("Hedging" als Risikoabsorption), andererseits aber als Spekulationsobjekte auch die Ursache für Spekulationsblasen und damit für 9
ENGELS (1995), S. 29.
10
ENGELS (1996), S. 293.
286
Michael Schramm
die Produktion von Finanzkrisen darstellen-'. Die Komplexität dieser neueren Finanzprodukte hat nun derart zugenommen, dass ein verantworteter Umgang mit ihnen in der gegenwärtigen Form nicht mehr möglich ist. Dies erklärt, warum WARREN E. BUFFEIT Die Derivate als "finanzielle Massenvernichtungswaffen" bezeichnet hat: "In our view, however, derivatives are financial weapons of mass destruction, carrying dangers that, while now latent, are potentially lethal"u. Die entscheidende Aufgabe wird darin bestehen, den "Kapitalismus" - zu dem es keine vernünftige Alternative gibt - so zu reparieren, dass er keine Massenvernichtungswaffe mehr darstellt, sondern eine solide Konstruktion aufweist, die in der Lage ist, für die Realwirtschaft die nützlichen Dienstleistungen zu erbringen. Genau dies hat Wolfram Engels schon vor fünfzehn Jahren im Blick auf das "Tollhaus der Finanzmärkte" mit der notwendigen Deutlichkeit erklärt: "Nachdem die Ökonomen schon die Zufallspfade zur Erklärung von Kursbewegungen herangezogen haben, versuchen sie es nun mit der Chaostheorie, und es gibt gute Hoffnung, dass man die Finanzmärkte damit auch beschreiben kann. Der Nutzen solcher Bemühungen ist freilich nicht recht zusehen. Der Markt ist ein geregeltes System oder sollte es doch wenigstens sein. Wenn ein Ingenieur ein geregeltes System, beispielsweise eine Heizungsanlage beobachtet und dabei feststellt, dass sie völlig unprognostizierbar einmal bei Wärme und einmal bei Kälte an-
11
Relevant sind hier vor allem die Credit Default Swaps (CDS), die so etwas wie eine Kreditversicherung darstellen (sollen): Die eine Seite (z.B. eine Geschäftsbank = Sicherungsnehmerin = floating rate payer), welcher denkbarerweise ein (von ihr gegebener) Kredit ausfällt (= Credit Default, zum Beispiel eines weniger bemittelten Häuslebauers = Subprime-Kunden), tätigt regelmäßige (lokal festzulegende = floating) Zahlungen (Prämie) an die andere Seite (zum Beispiel eine Investmentbank = Sicherungsgeberin = fixed rate payer), welche im Austausch (Swap) verspricht, den Kredit gegebenenfalls zu übernehmen. Ein Typus dieser CDS sind die (synthetic) CDOs ("Collateralized Debt Obligations").
12
BUFFETI (2003), p. 23.
Ethik der Finanzmärkte
287
springt, dann versucht er nicht, mit Hilfe der Chaostheorie das Verhalten der Heizung zu beschreiben, sondern er versucht, sie zu reparieren'T',
3.
Die Chronologie der Krise
Wie kam es zum Einsturz dieses "Tollhauses der Finanzmärkte"? Kurz gesagt: Weil man nicht mehr vernünftig nachgedacht hatte, wurden virtuelle Luftschlösser gebaut. Genauer: •
Beginnen wir mit dem 11. September 2001. Um nach den Terroranschlägen die Investitionsbereitschaft zu erhöhen, senkte ALAN GREENSPAN (FED) mehrfach die Leitzinsen. In 2003 liegen sie bei nur 1 %, also noch niedriger als die Inflationsrate.
•
Niedrige Zinsen und die Regressfreiheit von US-Hypotheken machten es deutlich attraktiver, sich sofort ein Haus auf Pump zu kaufen (auch als Spekulationsobjekt) als langwierig darauf zu sparen. Folge: Allein im Jahr 2003 wurden 1,7 Mio. neue Häuser gebaut, und die Hauspreise stiegen um 13 %.
•
Zunehmend kamen jetzt auch ärmere Leute auf die Idee, sich ein Eigenheim zu gönnen - und umgekehrt bestanden für die Banken aufgrund der niedrigen Zinsen Anreize, möglichst viele Kredite vergeben zu vergeben, um wenigstens durch die Masse Gewinn zu machen. Schlussendlich kam es dann zu den bekannten Subprime Loans oder IINinja Credits" (No income, no job, no assets).
•
Dabei bestand für die Banken aber natürlich ein erhöhtes Kreditrisiko. Die Idee war nun, die Kredite zu verkaufen. Zu diesem Zweck erfanden Investmentbanken neue Varianten von "Asset Backed Securities" (ABS): die "Mortgage Backed Securities" (MBS). In einem zweiten Schritt wurde eine weitere Klasse von "structured products" kreiert: beispielsweise die IICredit Default Swaps" (CDS) sowie die IICollateralized Debt Obligations" (CDO).
13
ENGELS (1996), S.3.
288
Michael Schramm
•
CDSs und CDOs wurden dann von Rating Agencies mit dem Höchstprädikat Triple-A (AAA) eingestuft. Daraufhin boomte der globale Handel: Alle Banken dieser Welt investierten in diese "strukturierten" Produkte. Die enormen Risiken, die tatsächlich darin steckten, konnte man nicht mehr sehen - zu sehen war nur das AAA. Doch der scheinbare Höchstwert AAA sollte sich schon bald als schöner Schein entpuppen. Die Virtualität der monetären Werte wurde spätestens 2008 sichtbar. Der Immobilienausverkauf begann, Immobilienprojekte wurden massenhaft eingestellt und verkamen zu Geisterstädten. Investmentbanken, die sich seit Jahren auf diesem Sektor geschäftlich tummelten (wie etwa die Lehman Brothers), implodierten.
Das Wolkenschloss hatte sich in Luft aufgelöst, der Abgrund wurde sichtbar. Nicht gerade weit hergeholt ist daher die Diagnose einer kollektiven Irrationalität, die man als Chicken-Game modellieren kann: "Man kann sich die Situation vielleicht am besten als Chicken-Game vorstellen. [...] Den Abgrund haben viele der Marktakteure längst gesehen oder wussten zumindest, dass er irgendwann kommt. Die Liquiditätsblase musste wohl irgendwann platzen'<s, Erst über dem Abgrund bemerkten die vermeintlichen Gewinner des ChickenGames, dass unter ihnen nichts als Luft war, dass das Wolkenschluss nur virtuell und der Bezug zur realen Situation verloren gegangen war. Dazu passt auch der Vergleich der Finanzwirtschaft mit Wile E. Coyote im "Economist": .Yet, like Wile E. Coyote running over the edge of a cliff, financial services kept on going"15. Man rennt kopflos dem Geld hinterher, missachtet die Gesetze der ökonomischen "Schwerkraft" - und endet im Abgrund.
14
FETZER (2008), S. 34.
15
What went wrong, in: The Economist print edition, Mar 19th 2008. Download: http://WU7W.econamist.com/node/10881318?story_id=10881318 (04.10.2010).
Ethik der Finanzmärkte
289
"Aufräumen" musste dann hinterher der (gute alte) Staat bzw. der Steuerzahler. Aber es blieb gar nichts anderes übrig, wollte man einen "Totalschaden" vermeiden: "Wenn es auf den Weltfinanzmärkten brennt [... ], dann muss gelöscht werden, auch wenn es sich um Brandstiftung handelt. Anschließend müssen die Brandstifter aber daran gehindert werden, so etwas wieder zu tun. Die Brandbeschleuniger müssen verboten werden, und es muss für einen besseren Brandschutz gesorgt werden">,
The "Conceptual Framework" matters!
4.
Dass grundsätzliche Denkmuster ("conceptual frameworks") auch für die Wirtschaft entscheidend sein können, hat die Finanzmarktkrise eindeutig gezeigt.
4.1
Die Finanzmärkte als Babel Tower - Der Mythos der sich selbst regulierenden Finanzmärkte
Wie bereits erwähnt hatte LESTER nruROW 2003 die gesamte Globalisierung als einen Hausbau ohne Konstruktionspläne bezeichnet - anders formuliert: als Spiel ohne Spielregeln. Unerwarteterweise bekannte am 23. Oktober 2008 selbst ALAN GREENSPAN - von 1987 bis 2006 Chairman der FED (U5Notenbank Federal Reserve System) - vor dem Congressional Committee for Oversight and Government Reform, dass sich sein ökonomisches "conceptual framework", seine "ideology" von sich selbst regulierenden Finanzmärkten als falsch herausgestellt habe. Nachdem ihn der Kommissionsvorsitzende HENRY WAXMAN inquisitorisch mit einer Reihe regulierungsfeindlicher Zitate konfrontiert hatte, bekannte GREENSPAN kleinlaut: "I made amistake in presuming that the self-interest of organizations, specifically banks and others, were such that they were best capable of protecting their own shareholders and their equity in the firms. [...] So 16
STEINBRÜCK (2008), S. 14.
290
Michael Schramm the problem here is, something which looked to be a very solid edifice, and indeed a critical pillar to market competition and free markets, did break down. And I think that, as I said, shocked me. I still do not fully understand why it happened. And obviously, to the extent that I figure out where it happened and why, I will change my views. And if the facts change, I will change".
WAXMAN fragt ihn dann, ob ihn seine Weitsicht, seine "Ideologie", zu Statements und Entscheidungen geführt habe, die er heute lieber nicht vorgenommen hätte, und Greenspan antwortet: "Well, remember that what an ideology is, It's a conceptual framework with the way people deal with reality. Everyone has one. You have to exist, you need an ideology. The question is whether it is accurate or not. And what I'm saying to you is, yes, I've found a flaw [...] a flaw in the model that I perceived as the critical functioning structure that defines how the world works, so to speak. [...] That's precisely the reason I was shocked, because I had been going for 40 years or more with very considerable evidence that it was working exceptionally well". Doch das tat es offenbar nicht, GREENSPAN war geschockt und hatte immerhin den Mut, seine fehlerhafte "ideology", sein falsches "Spielverständnis"17, auch zu bekennen ("GREENSPAN'S Confession")".
17
Dieser Begriff bei LIN-HI / SUCHANEK (2009), S. 25: "Die Finanzkrise zeigt eindrucksvoll, dass sowohl die Befolgung und die Auslegung als auch die Implementierung und Durchsetzung von Spielregeln immer auch erheblich vom Spielverständnis aller Beteiligten mit geprägt werden. So war es nicht zuletzt die Überzeugung sich selbst regulierender, .freier' Märkte - mit anderen Worten die Unterschätzung der Bedeutung, die Spielregeln für funktionsfähige Märkte haben -, die Alan Greenspan und viele andere Akteure zu ihren ,Spielzügen' veranlasst haben".
18
"Greenspan's Confession" ist natürlich vielfach dokumentiert, beispielsweise in der online-Ausgabe der "Washington Post": http://www.washingwntimes.com/weblogs/potus-
notes/200B/Oct/24/he-jound-jlaw/
291
Ethik der Finanzmärkte 4.2
Die Ordnung der (Finanz)Märkte
Die Finanzmarktkrise erwies nicht ein Scheitern des Kapitalismus per se, sondern ein Scheitern eines unregulierten Einanzmarktkapitalismus". Der Gedanke, dass Märkte geordnet (geregelt) werden müssen, ist nicht gerade neu. Er findet sich prominent schon bei den Vertretern des "Ordoliberalismus", etwa bei WALTER EUCKEN.
nun
ging es darum, dass "eine Wettbe-
werbsordnung aufgebaut und funktionsfähig gemacht"20 wird. "Sie [...] wächst [...] nicht aus der wirklichen Wirtschaft von selbst heraus'?', Hier trifft sich der "Ordoliberalismus" mit Gedanken von Vertretern der traditionellen "Katholischen Soziallehre", zum Beispiel der Wirtschaftsethik von JOHANNES MESSNER: Allgemein sieht MESSNER vor, "dass die "gesellschaftliche Ordnung [...] das menschliche Verhalten so regelt, dass allen Menschen die Selbstverwirklichung ermöglicht wird"22. Das Stichwort lautet: nicht ausgeschalteter, sondern "geordneter Wettbewerb"23. Auch in der neueren Wirtschaftsethik wird auf die Ordnungsregeln abgehoben, insbesondere bei KARL HOMANN: "Wirtschaftsethik in der Marktwirtschaft ist paradigmatisch Ordnungsethik">, Im Unterschied zu HOMANN bin ich zwar der Meinung, dass Ordnungsregeln (Spielregeln) nicht alles sind (es gibt noch genuine Individualmoral usw.), aber ohne Spielregeln geht es sicher auch nicht!
19
ACEMOGLU (2009), p. 13.
20
EUCKEN (1952/ 1990), S. 304.
21
Ebd., S. 325. Dabei wird diese Ordnung als eine moralökonomische Herausforderung betrachtet: "Es ist [...] nur die eine Seite der Wettbewerbsordnung, dass sie auf die Durchsetzung der ökonomischen Sachgesetzlichkeit dringt. Ihre andere Seite besteht darin, dass hiergleichzeitig ein soziales und ethisches Ordnungswollen verwirklicht werden soll. Und ein dieser Verbindung liegtihrebesondere Stärke. Denn ein sozial-ethisches Wollen ohne Verbindung mit der ökonomischen Sachlogik ist ebenso ohnmächtig, wie andererseits die wirtschaftliche Sachlogik nicht zur Auswirkung kommt, wenn nicht ein soziales Ordnungswollen die Gestaltung der Formen beeinflusst" (ebd., S. 370 f.),
22
MESSNER o.J., S. 9.
23
Vgl. MESSNER (1960), S. 1024 und 1030 f.; MESSNER (1964), S. 116.
24
HOMANN (1990), S. 41.
Michael Schramm
292
5.
Den Kapitalismus durch eine solidere Konstruktion retten!
Wenn sich der modeme Kapitalismus nicht selbst zerstören soll, dann brauchen wir insbesondere für die globalen Finanzmärkte eine solidere Konstruktion. Es geht darum, dass wir die Finanzmärkte zu beherrschen, damit nicht sie uns beherrschen-", Dies ist insbesondere angesichts der Gefährlichkeit zusammenbrechender Finanzmärkte von Bedeutung: "Mit dem Güterhandel ist es wie mit Zahnpasta: Jeder weiß, dass man regelmäßig die Zähne putzen sollte, aber wenn man es einmal vergisst, fällt einem nicht gleich das Gebiss aus. Finanzprodukte dagegen sind wie Benzin. Wenn Sie einen Fehler machen, brennt Ihnen das Haus ab"26. Natürlich besteht die Schwierigkeit in der genauen Beantwortung der Frage: Wie ordnen? ALAN GREENSPAN hatte grundsätzlich schon recht, wenn er im April 2008 erklärte: Man muss "sich auf eine allgemeine Strategie festlegen. Dabei hat man
die Wahl zwischen einer leicht und einer streng(er) regulierten Wirtschaft. Das erste Modell ist wettbewerbsorientiert, innovativ und dynamisch - aber es wird in regelmäßigen Abständen von schmerzhaften Krisen heimgesucht. Das zweite Modell ist stabiler, aber es bringt auch niedrigeres Wachstum"27. Es besteht ein Kontinuum zwischen diesen beiden Polen. Und die Kunst besteht darin, den richtigen Punkt zu finden. Dabei muss man - und das scheint mir sehr wichtig zu sein - mindestens vier Hebel gleichzeitig bedienen: die informellen Institutionen, die formalen Insti-
25
"Die Zähmung der Bestie: Wie wir die Finanzmärkte beherrschen können" (AKERWF / SHILLER 2009, S. 208).
26
JAGDISHBHAGWATI, zit. nach: PIPER (2009), S. 40 f..
X!
ALAN GREENSPAN im April 2008; zit. nach I'IPER (2009), S. 255.
Ethik der Finanzmärkte
293
tutionen, die Strukturen wirtschaftlicher Organisationen und die individuellen Selbstbindungen".
5.1
Der Beitrag der informellen Institutionen
Die informellen Institutionen sind die moralischen, kulturellen oder religiösen Hintergrundüberzeugungen einer Gesellschaft, die die Zwecke definieren, die sich die Mitglieder dieser Gesellschaft als Ziele setzen (wollen). Jede Gesellschaft muss daher mit all ihren Gruppen überlegen, was sie wirklich will Welche Werte sind uns wichtig (Freiheit, Stabilität, Wohlstand, Fairness usw.)? Diese kulturelle oder ethische Selbstverständigung sollte dann zum Beispiel solchen ökonomistischen Verengungen vorbeugen, wie sie bisweilen bei VON HAYEK begegnen (von dem man im Übrigen viel lernen kann): "Eine wirksame Verteidigung der Freiheit find. Marktfreiheit; M.S.] muss [00'] notwendig unbeugsam, dogmatisch und doktrinär sein und darf keine Zugeständnisse an Zweckmäßigkeitserwägungen machen'?", Das Gegenteil ist der Fall. Da der Markt nicht letzter Zweck, sondern Mittel zum Zweck ist, ist es zweckmäßig, immer und überall "Zweckmäßigkeitserwägungen" anzustellen, um zu überprüfen, ob und wie der Markt seine Funktion erfüllt oder nicht.
5.2
Der Beitrag derformalen Institutionen
Rahmenbedingungen (Spielregeln), die Ordnung des Wettbewerbs, Gesetze usw. sind die (unverzichtbaren) formalen Institutionen einer Gesellschaft. In der Wirtschaftsethik herrscht weitgehend Konsens, dass in modemen, ausdifferenzierten Gesellschaften "die Moral in den Rahmenbedingungen - in den
28
29
Ich orientiere mich bei dieser Aufzählung an der Govemancefunktion von JOSEF WIELANDs Govemanceethik (vgl. WIELAND 2001 und WIELAND 20OS). HAYEK (1961), S. lOS. Darüber hinaus etikettiert er den Markt als "Wunder" (HAYEK 1952; S. 116), dem eine "Demut gegenüber den Vorgängen des Marktes" (ebd.; S. 47) zu entsprechen habe.
294
Michael Schramm
Spielregeln für das zwischenmenschliche Handeln also - verankert werden"30 muss. Auch und insbesondere im Hinblick auf die Finanzmärkte ist es völlig unstrittig, dass wir einschneidende Reformen der Spielregeln, der Anreizstrukturen brauchen. Ich nenne (exemplarisch) fünf Punkte, die weiter diskutiert und implementiert werden müssen:
(1) Banken- und Finanzaufsicht. Wie jedes Spiel, so braucht auch das "Spiel" der Finanzmärkte einen neutralen Schiedsrichter. "Alle privaten Finanzinstitute (inklusive Investmentbanken, Hypothekenbanken, Investment- und Pensionsfonds, Hedgefonds, Equity Trusts, Versicherungsgesellschaften et cetera.) und alle marktgängigen Finanzinstrumente werden derselben Banken- und Finanzaufsicht unterstellt"31. Zu dieser Erkenntnis hatte sich auch schon JOSEF ACKERMANN durchgerungen: "Die Aufsicht sollte das Recht und die Pflicht haben, die Geschäftsrnodelle von Banken zu überprüfen". In dieser Frage habe er sich "vom Saulus zum Paulus gewandelt'<'. (2) Eigenkapitalminima und Haftung. Obwohl es schon vor der Finanzkrise durchaus Regeln zum Mindest-Eigenkapital gab ("Basel I" und "Basel 11"), waren diese unzureichend oder wurden etwa in den USA nicht konsequent umgesetzt. Im Hintergrund steht hier die Tatsache, dass insbesondere die Investmentbanken (beispielsweise die Lehman Brothers) riskante Geschäfte mit äußerst geringem Eigenkapital-Fundament, Geschäfte auf Pump also gemacht haben.
30
ARNOLD (2009), S. 264.
31
SCHMIDT (2009), S. 20.
32
JOSEF ACKERMANN am 17. November 2008, zit. nach: "Ackermann: Aufsicht soll Banken-
Geschäftspläne prüfen", in: FAZ Nr. 270, 18. November 2008, S. 13 r, hier: S. 13.
295
Ethik der Finanzmärkte
Eigenkapital-
Eigenkapital-
Eigenkapital-
quote (%)
rendite brutto (%) rendite netto (%)
Bear Stearns
3,5
25,9
16,9
Goldman Sachs
4,3
40,7
26,7
Lehrnan Brothers
3,8
30,8
20,9
Merrill Lynch
4,6
25,1
18,2
Morgan Stanley
3,2
25,7
21,1
Abbildung: Eigenkapitalquoten und -renditen (2006)33, Quelle: SINN (2009), S. 89
Im Jahr 2008 kamen beispielsweise bei den Lehman Brothers auf einen Dollar Eigenkapital 44 geliehene Dollar, mit denen auf dem Immobilienmarkt spekuliert wurde. Als dann zunehmend Gerüchte aufkamen, die Immobilienpreise könnten stürzen, war dies für RICHARD FULD (CEO Lehman) natürlich die Hiobsbotschaft schlechthin, die man möglichst unter dementieren sollte. Als die Preise dann tatsächlich einbrachen, konnten die spekulativen Geschäfte natürlich nicht mehr funktionieren - und die Investmentbanken hatten kaum Eigenkapital, um das Problem abzufangen. Ohne staatliche Stützen sind dann Insolvenzen nicht mehr zu vermeiden. Was hier fehlt ist: Haftung!34 (3) "Finanz-TÜV". Um zu verhindern, dass die Finanzindustrie mit der Erfin-
dung ständig neuer Finanzinstrumente jedwede Regulierung unterläuft, hat Nobelpreisträger JOSEPH E. STIGLITZ eine Positivliste der zugelassenen Finanzprodukte vorgeschlagen: "Wir sollten eine Behörde schaffen, die diese Produkte prüft und testet, ehe sie zugelassen werden. Das ist bei Medikamenten nicht anders: Ehe 33
34
Eigenkapitalquote: Eigenkapital geteilt durch Bilanzsumme; Eigenkapitalrendite: Gewinn geteilt durch Eigenkapital (einschließlich der einbehaltenen Gewinne); Brutto: vor Steuern; Netto: nach Steuern. Haftung fehlte wegen der "Regressfreiheit" in den USA aber auch bei den Häuslebauern.
296
Michael Schramm Pharmaunternehmen diese vertreiben dürfen, muss der Staat sie zulassen"35.
Im deutschsprachigen Raum wird diese Regulierungsmaßnahme auch "Finanz-TÜV" genannt: Es "wäre [...] angebracht, innovative Finanzprodukte nicht eher zuzulassen, als sie von einem öffentlichen ,Finanz-TÜV' überprüft und in eine Art ,Positiv-Liste' aufgenommen worden sind">,
(4) Neuordnung bei den Rating Agencies. Die drei großen Rating Agenturen Standard & Poor's, Moody's und Fitch Ratings -, die weltweit einen Marktanteil von 94 % besitzen, haben erheblichen Anteil an der Krise (falsche AAAs), sind aber völlig unbehelligt aus ihr hervorgegangen. Hätten wir einen funktionierenden Markt von Rating Agencies gehabt, dann wären diese drei Agenturen allesamt pleite. Das Hauptaugenmerk muss daher darauf liegen, einen echten Wettbewerbsmarkt von Rating-Agenturen in Gang zu bekommen - sei es durch den Aufbau von öffentlich-rechtlichen Agenturen, durch die Unterstellung unter eine öffentliche Aufsicht oder durch Gründung weiterer Agenturen (um den Wettbewerb zu erhöhenj'".
(5) Tobin-Sieuer, Finanztransaktionssteuer. Zunächst: Spekulation gilt weithin als Auswuchs bloßer Spielsucht, doch das ist sie nicht (unbedingt). Spekulation kann mehrere volkswirtschaftlich nützliche Funktionen ausüben. Vor allem ist hier die Funktion risikomindernder Marktsignale für eine effektive Kapitallenkung zu nennen: "Die [...] Kurse der [...] Aktien spiegeln den erwarteten Gewinn und das erwartete Risiko seines Eintretens bei jenen Firmen wider, die am Kapitalmarkt teilnehmen. Die Aktienkurse zeigen, wie die kapitalmarktgängigen Firmen von den Marktteilnehmem gesehen werden. Die Preise für
35
STIGLITZ (2008).
36
HENGSBACH (2009), S. 11.
'37
Hierzu auch HÜBNER (2009).
Ethik der Finanzmärkte
297
Aktien, die Aktienkurse, spiegeln die Einschätzungen von Gewinn und Risiko wider'?", Aber: Die an und für sich sinnvolle Signalfunktion der (durch Spekulation beeinflussten) Kurse kann durch bestimmte Überhitzungsphänomene in ihr Gegenteil verkehrt werden. Hier ist insbesondere das "Herden"-Verhalten zu nennen, das zu Spekulationsblasen führt. Der rationale Homo Oeconomicus ist ein Individualist, reale Menschen aber sind offenbar "Herdentiere" - insbesondere auf Finanzmärkten (z.B. Börsen). "Die massenpsychologischen Reaktionen sind an der Börse wie im Theater: Einer gähnt, und in kürzester Zeit gähnt jeder. Hustet einer, so hustet sofort der ganze Saal"39. Das kann ganz vernünftig sein ("Die Fachleute werden es schon wissen"), diese "animal spirits"40sind aber auch die Basis für die Entwicklung von Spekulationsblasen: "Das wichtigste singuläre Element für das Verständnis dieser oder jeder anderen Spekulationsblase ist die soziale Ansteckungskraft des Boomdenkens'<. Durch diese Vernetzung werden die Entscheidungen von Anlegern voneinander abhängig. Eine Spekulationsblase bildet sich, und zwar selbst dann, wenn man in einem experimentellen Markt - anders als in einem echten Börsenmarkt (!) - Gewissheit über den Wert einer Aktie hat. Das ergab ein Experiment des Verhaltensökonomen COLIN F. CAMERER, das einen Handel mit Aktien an einem fiktiven Unternehmen inszenierte. Das Experiment bestand aus 15 5-Minuten-Perioden. Jeder der Teilnehmer bekam vorab zwei Aktien sowie einen Geldbetrag, um Aktien kaufen zu können. Am Ende jeder 5-Min.Periode wurde pro Aktie eine Dividende von 24 Cent ausgeschüttet. Nun hätte man nach der ersten Periode für eine Aktie eigentlich nicht mehr als $ 3,36
(1997), S. 286.
38
KosWWSKI
39
ANDRE KOSTOLANY, zit. nach: ELGER / SCHWARZ (2009), S. 148.
40
AKERLOF / SHILLER (2009).
41
SHILLER (2008), zit. nach: THALER / SUNSTEIN (2009), S. 96.
298
Michael Schramm
zahlen dürfen. Doch weit gefehlt: Der Preis sprang gleich auf $ 3,40 und stieg danach sogar noch weiter auf $ 3,50 und $ 3,60 - bis er kurz vor Ende völlig abstürzte. COLIN CAMERER erklärt diese Irrationalität mit einer "Greater-Fool"Theory: "When we asked the subjects how it came about, they'd tell us a story that sounded very much like the greater-fool theory. They'd say, sure I knew the prices were way too high, but I saw other people buying and selling at high prices. I figured I could buy, collect a dividend or two, and then sell at the same price to some other idiot"42. Auf realen Spekulationsmärkten ist die Gefahr von Seifenblasen natürlich noch ungleich höher: In "Seifenblasen an realen Börsenmärkten [...] wird einem gar nicht bewusst, dass man sich mitten in so einer Blase befindet. [...] Das Teuflische an einem Börsenschwindel besteht darin, dass er, je länger er dauert, desto weniger wie eine Seifenblase wirkt - zum Teil deshalb, weil niemand weiß, wann er endet"43. Und zudem muss bei einem Ausstieg befürchten, als "Chicken" dazustehen: Natürlich gab es beispielsweise "jede Menge Gurus [...], die 1998 den katastrophalen Niedergang der Nasdaq-Aktien prophezeiten. Wer zu dem Zeitpunkt ausgestiegen wäre, hätte jedoch einen 40-prozentigen Gewinn verpasst. Wäre man vor 1998 ausgestiegen, hätte man sogar einen 85prozentigen Gewinn versäumt'w, Um diese - aufgrund fehlender Transaktionskosten) - hohe Nervosität (Volatilität) der Finanzmärkte nun wenigstens etwas abzudämpfen, um "in das Getriebe internationaler Finanzmärkte etwas Sand zu streuen"45, hat JAMES TOBIN bereits 1972 eine Steuer auf Finanztransaktionen (= "Tobin"-Steuer) vorgeschlagen.
42
CAMERER (1997), p. 18.
43
SUROWIECKI (2004 / 2005), S. 320.
.. Ebd., S. 320. 45
TOBIN (1978), p. 154 (dt. Übersetzung: M.5.).
Ethik der Finanzmärkte
5.3
299
Der Beitrag der (Wirtschafts)Organisationen
Spielregeln sich wichtig und unverzichtbar, aber ohne den Beitrag "der Wirtschaft", sprich: der Unternehmen, wird es am Ende auch nicht gehen. Um hier nur eine unternehmensinterne Maßnahme herauszugreifen: Nicht nur bei Bankmanagern sollten die variablen Vergütungsbestandteilen (Boni) deutlich stärker an den langfristigen Ertrag für das Unternehmen gebunden werden: "Wir sollten Bonifikationen zahlen, wenn jemand einen langfristigen Ertrag erzielt für das Unternehmen, in dem er arbeitet und wir sollten ihm diesen Ertrag auch nicht unmittelbar auszahlen, sondern mit zeitlicher Verzögerung'w, Es geht darum, dass den Managern nicht Anreize gegeben werden, übermäßige Risiken wegen kurzfristiger Erfolge einzugehen, sondern vertretbare Risiken für eine "langjährige Wertentwicklung des ganzen Unternehmens":". Immerhin hat sich auch ausgerechnet LLOYD BLANKFEIN, der CEO der USInvestmentbank Goldman Sachs, im April 2009 für ein Entlohnungssystem ausgesprochen, das Manager stärker für den langfristigen Erfolg belohne. Was wäre konkret denkbar? Beispielsweise könnte man eine Einzahlung von BoniAnteilen auf Sperrkonten vorsehen, die erst ausgezahlt werden, wenn feststeht, dass der Erfolg nachhaltig war. So wird es beispielsweise bei Boecn schon länger praktiziert: "Auch bei Bosch haben wir eine Ergebniskomponente in der Vergütung unseres oberen Führungskreises. Über das feste Grundeinkommen hinaus honorieren wir jedoch nicht bloß die Zielerreichung im laufenden Jahr, vielmehr auch über drei Jahre hinweg. So belohnen wir den längerfristigen ebenso wie den kurzfristigen Erfolg - und das übrigens nicht erst seit 2008, sondern schon seit 2003"48.
46
47 48
NORBERT WALTER, Chefvolkswirt der Deutschen Bank, in der Sendung "Menschen bei Maischberger: In der Schuldenfalle - Gehen wir allepleite?" (ARD, 15.04.2008). PIPER (2009),S. 262. FEHRENBACH (2009),S. 5.
300
5.4
Michael Schramm
Die individuellen Selbstbindungen
Und schließlich ist auch die individuelle Moral unverzichtbar. Auf sich alleine gestellt, kann sie die massiven strukturellen Probleme der globalen Finanzmärkte natürlich nicht lösen, dennoch kommt ihr eine wichtige Anstoß- und Unterstützungsfunktion zu. Denn was meines Erachtens nicht funktionieren wird, ist die Strategie, dass wir lediglich Reformen der Spielregeln (Reformen der Anreizstrukturen) bräuchten und dann mit "gierigen", also radikal nur eigeninteressierten Individuen ("Homines Oeconomici") die Dinge schon in die richtigen Bahnen lenken könnten. So etwa MICHAEL HÜTHER: "Die Finanzmärkte sind nicht in die Verwerfung geraten, weil es Gier gibt, sondern weil Gier auf eine falsche Anreizstruktur getroffen ist"49. Hätten wir also nur die richtigen Spielregeln, dann würden wir mit dem "gierigen" Homo Oeconomicus in der kapitalistischen Wirtschaft ausgezeichnet fahren. Ich neige sehr zu der Vermutung, dass diese frohe Kunde eine doch zu schlicht gestrickte Botschaft darstellt, denn beispielsweise kommen Regelwerke erstens immer zu spät und sind zweitens immer systematisch lückenhaft (sie lassen von daher immer auch Raum für Umgehungsstrategien). VOLKER ARNOLD zitiert in diesem Zusammenhang einen bezüglich der Durchschlagskraft von Ordnungsregeln doch recht pessimistischen ADAM SMTIH: "Es ist allerdings nicht möglich, solchen Zusammenkünften [bei denen
Leute aus der Wirtschaft zum Beispiel Kartelle schmieden oder Strategien zur Umgehung von Gesetzen aushecken; M.S.] durch irgendein Gesetz vorzubeugen [...]"50. Und auch die Politik weiß auch ganz genau, dass sie mit dem Projekt der Erstellung eines Gesetzesgebäudes, das zum einen schon vor eventuellen Krisen komplett aufgebaut würde und zum anderen völlig wasserdicht gegenüber Umgehungsstrategien wäre, vollkommen überfordert wäre: "Das was diese Krise an allererster Stelle zeigt, ist, dass kein Regelsystem, kein Regelwerk [...] bestehen kann, wenn ihre einzelnen wirtschaft49
MICHAEL HÜTHER 2008, zit. nach: KrNKARTZ (2008).
50
ADAM SMlTII, zit. nach: ARNOLD (2009), S. 263.
Ethik der Finanzmärkte
301
liehen Akteure glauben, frei von moralischer Bindung, frei von unternehmerischer Ethik, ohne gesamtgesellschaftliches Verantwortungsgefühl agieren zu können [...]. Der Staat kann durch Regulierung nie erset-
zen, was an moralischer Selbstverpflichtung von verantwortlichen wirtschaftlichen Akteuren nicht mehr empfunden wird"51. Neue "Spielregeln" sind natürlich unverzichtbar. Aber: Die Individualmoral bzw. die Moralkultur kehrt ins Spiel zurück, sobald es darum geht, die Spielregeln nachhaltig zu rekonstruieren'<, Wir kommen im Finanzsektor nur dann zu funktionstüchtigen Ordnungsregeln, wenn auch die finanzwirtschaftlichen Akteure in den Banken Spielregeln, die ihr eigenes Risikoverhalten in der Zukunft begrenzen, befürworten und aktiv unterstützen. Institutionen (Spielregeln) können sich nicht selber ändern. Und es gibt niemanden außer den Individuen (und ihren Organisationen), der die Regeln reformieren könnte.
6.
Virtueller Kapitalismus & menschliche Natur. Oder: "Why Dealing with Cash Makes Us More Honest"53
"Geld" wurde in der Fortentwicklung des Kapitalismus immer virtueller. Ein entscheidender Schritt hierbei war zunächst die Erfindung des Papiergeldes. Nachdem erste Vorformen von Papiergeld bereits in China (11. [h.) und Spanien (die "heiligen Scheiben von Alhama'<-) erfunden worden waren, begann im 17. Jahrhundert die systematische "Produktion" von Papiergeld. Da Gold ein hohes physisches Gewicht hat, die Taschen ausbeult und jeder von außen 51
NORBERT RÖTTGEN (CDU) am 7. Oktober 2008 im Deutschen Bundestag. Download: http://webtv.bundestag.de/iptv/player/macros/_vJ_514_de/od-J.layer.html?singleton=true&conte nt=185457 (4.10.2010).
52
Dies wird implizit auch von KARL HOMANN vorausgesetzt: "Alle Parteien sagen, dass wir dem System Regeln geben müssen. Allerdings ist mit der Besserung der Lage zu befürchten, dass die Bereitschaft dazu wieder schwindet"( KARL HOMANN 2009, in: HENGSBACH & HOMANN 2009, S. 27).
53
54
ARIELY(2008), p. 217. "Bei der Belagerung der spanischen Stadt Alhama durch die Mauren schneiden die christlichen Stadtbewohner {im Jahr 14831 aus ihren Meßbüchern Pappmünzen und verwenden sie als Zahlungsmittel. Die 'heiligen Scheiben von Alhama' gelten als erstes 'Papiergeld' Europas" (WEIMER 1994, S. 84).
302
Michael Schramm
sehen kann, dass da einer offensichtlich größere Werte mit sich herumträgt, schaffte man sein Gold zu angesehenen Goldschmieden und Bankiers, die dann bezifferte Depotbestätigungen über das bei ihnen hinterlegte Gold ausstellten. Diese "Noten" - die Vorläufer der Banknoten - konnten im Sinne eines Ersatzgeldes als Zahlungsmittel verwendet werden. "Da nie alle Noten gleichzeitig eingelöst wurden, konnte der Goldschmied mehr Noten ausgeben als durch seine Einlagen lGoldeinlagen, M.S.] gedeckt waren"55.
Das heißt: Die Goldschmiede konnten via "Banknoten" verzinsliche Kredite gewähren und so ein Vielfaches des Währungsgoldes als Papiergeld in Umlauf bringen's. Hier zeigt sich eine Dimension der modernen Wirtschaft, die der Ökonom HOLGER BONUS als "das Unwirkliche in der Ökonomie" bezeichnethat: "Der Glaube an den Realitätsgehalt der Goldeinlösepflicht [...] beruhte [...] auf der Konvention, dass man allgemein so tun würde, als ob real wäre, was doch offensichtlich fiktiv war, wobei es tatsächlich real blieb, solange es für real genommen wurde und niemand begann, in der Fiktion herumzustochern'<". Wären jedoch alle Kunden gleichzeitig gekommen, um ihre Banknoten in Gold einzulösen, wäre das Fiktive schnell offenbar geworden. Dies zeigt, so BONUS, "die machtvolle Präsenz des Unwirklichen in der Ökonomie - eines Unwirklichen, dem man ebenso wenig ins Antlitz blicken darf wie der Medusa'w, Das Geniale dieser Erfindung des "Papiergeldes" bestand aber genau in dieser Loslösung von den naturalen Begrenzungen einer reinen Metallwährung, denn nur so war es prinzipiell möglich, die Geldmenge flexibel der jeweiligen Wirtschaftsentwicklung anzupassen'".
55
NORTII (1994), S. 113.
56
In späterer Zeit schwankte die Golddeckung etwa der Deutschen Reichsbank zwischen 28% in 1881 und 65% in 1888.
57
BoNUS (1990), S. 3lf.
58
Ebd., S.34.
59
ENGELS (1996).
Ethik der Finanzmärkte
303
Nach der Aufhebung des Goldstandards ist heute die Geldversorgung frei von der Begrenzung durch die Goldmenge. Doch auch unser Geldsystem ist von Unwirklichem durchsetzt. Dies erweist sich etwa am Phänomen der sogenannten "Giralgeldschöpfung". Laut HANS CHRISTOPH BINSWANGER ist dies Alchemie mit modernen Mitteln'", Auch lI[d]as Regime einer Geldversorgung ohne Golddeckung kann [...] nur funktionieren, wenn die Bankkunden [...] eine offensichtliche Fiktion als Realität [...] behandeln. Die Fiktion behauptet, dass ein Bankguthaben so gut wie Bargeld sei. Solange das für Realität genommen wird und niemand handelt, als liege eine Fiktion vor, bleibt es auch tatsächlich Realität" 61• Auch im modernen Geldsystem sollte man dem Unwirklichen nicht ins Gesicht blicken - oder man sieht ins Antlitz der Medusa. Aber der Glaube versetzt Berge. Nur selten bröckelt in unseren Breiten dieser Glaube: Als 1974 in Köln die Herstatt-Bank aufgrund riskanter Devisengeschäfte zusammenbrach, wurden auch einige Kunden der Kölner Stadtsparkasse nervös. Sie gingen zum Kassenschalter, räumten ihre Konten ab, zählten das Geld nach, stellten fest, dass noch alles da war und - zahlten es sofort am Schalter wieder ein62 • Hätten alle ihr Geld mit nach Hause mitgenommen, hätte das letzte Stündlein der Sparkasse geschlagen. Die Zeiten, in denen das Geld nur konkretes Gold war, sind längst vorbei. Geld ist heute digital, abstrakt, virtuell, fiction: II[F]inancial instruments can take an unlimited variety of forms for trade in a market. [... ] [Tjhe possibilities for trading in financial markets are limited only by human imagination and the reach of the law" 63 • Und das hat (Verhaltens)Konsequenzen. Der Behavioral Economist DANARIELY stellt hierzu folgende Frage:
60
BINSWANGER (1985).
61
BoNUS (1990), S. 41.
62
Dies berichtet BRODER (1996), S. 10.
63
BOATRIGHT (2008),
p. 142.
304
Michael Schramm "Do you think that the architects of Enron's collapse - Kenneth Lay, Jeffrey Skilling, and Andrew Fastow - would have stolen money from the purses of old women? Certainly, they took millions of dollars in pension monies from a lot of old women. But do you think they would have hit a woman with a blackjack and pulled the cash from her fingers?"64.
Was sich hier zeigt, ist ein grundsätzliches ethisches Problem des modemen Kapitalismus: •
Denn wenn einerseits das ursprünglich noch recht konkrete "Geld" (Gold; Bargeld) in der Evolution des Kapitalismus immer digitaler und virtueller (Digitalgeld; Finanzderivate, CDOs usw.) wurde,
•
und wenn wir andererseits "analoge" Menschen aus Fleisch und Blut natürliche Wesen also - sind,
dann ergibt sich daraus ein problematischer Kontrast zwischen dem Virtual Capitalism und der menschlichen Natur. Und das hat für unser faktisches Verhalten durchaus relevante Konsequenzen, denn: "Dealing with Cash Makes Us More Honest"65. Diesen Umstand hat
ARIELY
mit einem kleinen Experiment sehr schön unter
Beweis gestellt. Die Teilnehmer sollten innerhalb von fünf Minuten zwanzig einfache Rechenaufgaben lösen und für jede richtige Antwort 50 Cent erhalten. Dabei wurden drei Gruppen gebildet: " •
Eine erste Gruppe diente als Kontrollgruppe: "When the participants in the first group finished their tests, they took their worksheets up to the experimenter, who tallied their correct answers and paid them 50 cents for each"66.
•
Der zweiten Gruppe jedoch wurde Gelegenheit zum Schummeln gegeben: "The participants in the second group were told to tear up their worksheets, stuff the scraps into their pockets or backpacks, and simply
64
ARIELY (2008), p. 219.
65
ARIELY (2008), p. 217.
66
Ebd., p. 220.
Ethik der Finanzmärkte
305
tell the experimenter their score in exchange for payment'w. Das Ergebnis: Die erste Gruppe löste durchschnittlich 3,5 Matheprobleme korrekt, die zweite Gruppe jedoch 6,2 "richtig gelöste" Aufgaberrs, Schon dieses Ergebnis ist interessant: Im Experiment wirkte zunächst einmal ein extrinsischer ökonomischer Anreiz: Für jede richtig gelöste Frage bekam man ja 50 Cent bar ausbezahlt. Relevant waren daneben aber auch intrinsische ökonomische Anreize: Wenn man als Mitglied der zweiten Gruppe nicht nur drei, sondern sechs Aufgaben gelöst hat, ist damit insofern eine immaterielle "Auszahlung" verbunden als man sich dann eher das Prädikat "Mathegenie" zuschreiben kann. Beide Typen ökonomischer Anreize führten dazu, dass die Teilnehmer geschummelt haben, also mehr Aufgaben "gelöst" haben als die Kontrollgruppe. Aber auch moralische Anreize waren signifikant wirksam. Denn es stellt sich ja die Frage: Warum gaben die Teilnehmer aus der zweiten Gruppe "nur" sechs richtig "gelöste" Aufgaben an? Die traditionelle ökonomische Theorie der Kriminalität arbeitet ja bekanntlich vor allem mit zwei Größen: mit der Höhe der Strafe einerseits und mit der Aufdeckungswahrscheinlichkeit andererseits. Nun betrug die Aufdeckungswahrscheinlichkeit - zumindest die juristisch nachweisbare Aufdeckungswahrscheinlichkeit - in unserem Experiment Null. Ein Homo Oeconomicus hätte also eigentlich zwanzig "gelöste" Matheaufgaben angeben können (oder: müssen), und er hätte den vollen Geldbetrag von 20 x 50 Cent ausbezahlt bekommen. Ein Anreiz, der die Teilnehmer dazu bewogen hat, nicht zwanzig, sondern "nur" sechs "gelöste" Matheprobleme anzugeben, war offenbar ein extrinsischer moralischer Anreiz: Da die Teilnehmer genau wussten, dass sie realiter nur drei Aufgaben gelöst hatten, hätten sie mit einer moralischen Verachtung (für die Schummelei) seitens des Experimentators oder seitens anderer Teilnehmer rechnen müssen. Vor allem aber dürfte ein intrinsischer moralischer
67 68
Ebd., p. 220. "The first conclusion, is that when given the opportunity many honest people will cheat. [...] The second [...] result: [...] even when we have no chance of getting caught, we still don't become wildly dishonest" (ebd., p. 201).
306
Michael Schramm Anreiz ein exorbitant hohes Schummelniveau verhindert haben. Auf der einen Seite wirken zwar die "ökonomischen Anreize", möglichst viel Geld (extrinsisch) und auch den Nutzen des inneren Gefühls, ein guter Mathematiker zu sein (intrinsisch), mit nach Hause nehmen zu können. Auf der anderen Seite aber war auch das Motiv der Selbstachtung effektiv: Ein bisschen schummeln - das kann man vor sich selber noch vertreten ("Ich habe heute Nacht schlecht geschlafen, aber ,eigentlich', ,normalerweise' hätte ich durchaus sechs Aufgaben gelöst"), aber bei einer Angabe von zwanzig "richtigen" Matheproblemen hätte man sich nicht mehr ins Gesicht sehen können ohne das Gefühl, doch ein richtiger Lügner zu sein. Was sich hier zeigt, ist "the personal fudge factor" (ARIELY). Und dieser persönliche Schummelfaktor wird nach oben vor allem durch einen intrinsischen moralischen Anreiz begrenzt.
•
Auch die Teilnehmer der dritten konnten ihre Arbeitsblätter zerreißen und dem Versuchsleiter einfach mitteilen, wie viele Fragen sie richtig beantwortet hätten. Der entscheidende Unterschied zur zweiten Gruppe bestand nun aber darin, dass sie dann zunächst kein Bargeld bekommen würden, sondern stattdessen einen Poker-Chip pro (angeblich) richtig gelöster Aufgabe. Sie sollten anschließend zu einem anderen Mitarbeiter in einen Raum nebenan gehen, wo sie dann für jeden Chip die 50 Cent erhalten würden. Das Ergebnis: Die Teilnehmer der dritten Gruppe behaupteten (im Durchschnitt), 9,4 Fragen gelöst zu haben - also 5,9 Fragen mehr als die Kontrollgruppe und immerhin noch 3,2 mehr als die zweite Gruppe. "This means that when given a chance to heat under ordinary circumstances, the students cheated, on average, by 2.7 questions. But when they were given the same chance to cheat with nonmonetary currency, their cheating increased to 5.9 - more than doubling in magnitude. What a difference there is in cheating for money versus cheating for something that is a step away from cash!"69.
Das bedeutet: Je weniger material das monetäre Medium ist, je virtueller die Seinsweise des Geldes ist, desto leichter wird das Schummeln und Betrügen. 69
ARIELY (2008), p. 221.
Ethik der Finanzmärkte
307
Offenbar sind wir als "analoge" Menschen aus Fleisch und Blut - als natürliche Wesen also -, nicht wirklich in der Lage, mit den virteullen, abstrakten Geldformen (Digitalgeld; Finanzderivate, CDOs usw.) umzugehen. "Let's not forget that the tokens in our experiments were transformed into cash within a matter of seconds. What would the rate of dishonesty have been if the transfer from a nonmonetary token to cash took a few days, weeks, or months (as, for instance, in a stock option)?"?", Ich neige zu der Auffassung, dass diese Tatsache virtueller Geldgrößen größere Auswirkungen auf das Verhalten in vielen Bereichen hat als man zunächst vielleicht vermuten würde. Alarmierend sind zudem Erkenntnisse der Neuroökonomik:
"Die neuronalen Aktivitäten eines Anlegers, der mit seinen Investitionen Geld verdient, sind nicht zu unterscheiden von denjenigen einer Person im Kokain- oder Morphiumrausch'?', Umgangssprachlicher formuliert: Auf Geld reagiert unser Gehirn ähnlich wie auf Kokain, Morphium oder Sex. Das erhöht nicht gerade die Chancen für einen rationalen Umgang mit monetären Größen. Und vermutlich wird diese Irrationalität (Rausch) durch die im Finanzkapitalismus eröffnete virtuelle Unendlichkeit des Profits noch einmal systematisch gesteigert. Die Virtualität, die einen unendlichen Horizont eröffnet und aus der Geldsphäre ein Alchemieprojekt macht, begründet daher die Tatsache, dass die Finanzmärkte ein ethisch besonders relevantes Gebiet darstellen: "Kartoffeln eignen sich nicht für Alchemie und Magie, Geld schon. Um beim Umgang mit Geld nicht in Phantasmata zu verfallen, muss man es sehen wie Kartoffeln. [...] Da es sich bei Finanzwerten nachweislich nicht um Kartoffeln handelt, ist es umso schwerer, im Finanzwesen eine Klugheitsethik zu beherzigen, weil das Phantasma stets in Gefahr ist, [...] unsere Sicht der Realität zu trüben. Daher ist am Ende die Finanz-
70
71
ARIELY(2008), p. 222. ZWEIG (2007), S. 7. Neurowissenschaftliche Erkenntnisse hierzu etwa bei KUHNEN / KNUTSON (2005).
308
Michael Schramm wirtschaft ethisch relevanter und ethisch gefährdeter als die Realwirtschaft, in der die Realität des Produkts leichter zu erkennen und zu bewerten ist"72.
Die zunehmende Virtualität des (Finanz)Kapitalismus produziert ein grundsätzliches wirtschaftsethisches Problem: •
Auf der einen Seite gibt es zum Kapitalismus (Markt, Wettbewerb, Geld, Kredit usw.) keine vernünftige Alternative.
•
Auf der anderen Seite aber besteht gerade aufgrund der zunehmenden Virtualität des (Finanz)Kapitalismus die Gefahr eines "Vulgärkapitalismus": "Man hat [...] das Gefühl, [...] dass man im Kapitalismus nicht mehr genug darüber nachdenkt, was man tut. Dass man im Grunde genommen da zu einem Vulgärkapitalismus gekommen ist, zu einer Vulgärmarktwirtschaft [...]. Denn sehr glücklich sind diese Banker in New York ja auch nicht gewesen. Die sind dem Geld hinterher gerannt bis ihnen der Atem ausgegangen ist. Häufig machen die das nur wenige Jahre, weil du das nicht lange aushältst. [...] Glücklich hat das nicht gemacht, es hat reich gemacht"73.
Aufgrund dieser besonderen ethischen Gefährdung des (virtualisierten) Finanzsektors ist es vor allem wichtig, dass funktionierende Spielregeln die Spielzüge der Akteure in den Finanzmärkten wirksam kanalisieren und dass sich die Gesellschaft kulturell der Gefahr eines"Vulgärkapitalismus" bewusst hält. Dabei dürfte die Erinnerung daran, dass es neben dem Geld noch andere Werte gibt, entscheidend sein:
72 73
KOSLOWSKI
(2009),S. 15 f..
HANS-PETER BURGHOF (2008): Interview SWR1 http://W.U7W.ardmediathek.de/ardJservlet/content/986968 (4.10.2010).
Leute,
2008-10-02;
Ethik der Finanzmärkte
309
"Everybody loves money, inc1uding myself [he giggles]. In order to live you need money. Without money you can't work. [But:] Beside money, there are other values'?'. Wir müssen erst noch lernen, mit den Virtualitäten des modemen Kapitalismus umzugehen. Nur dann wird die Globalisierung nicht als ein einstürzender"Turm zu Babel" enden.
Literatur ACEMOGLU, DARON (2009): The Crisis of 2008. Structural Lessons for and from Economics, Cambridge (Massachusetts): Massachusetts Institute of Technology (MIT). Download. http://econ-www.mit.edu/jiles/3703 (04.10.2010).
AKERLOF, GEORGE A. / SHILLER, ROBERT J. (2009): Animal spirits. How Human Psychology Drives the Economy, and why it Matters for Global Capitalism, Princeton: Princeton University Press. AKERLOF, GEORGE A. / SHILLER, ROBERT J. (2009): Animal Spirits. Wie Wirtschaft wirklich funktioniert, Frankfurt (M.) / New York: Campus. ARIELY, DAN (2008): Predictably Irrational The Hidden Forces That Shape Dur Decisions, Hammersmith, London: HarperCollins. ARNOLD, VOLKER (2009): Vom Sollen zum Wollen - über neuere Entwicklungen in der Wirtschaftsethik, in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik 10 (3/2009), S. 253 - 265. BOATRIGHT, JOHN R. (2008): Ethics in finance (Foundations of Business Ethics Vol 1), 2nd. Ed., Malden (Mass.) / Oxford; Blackwell BONUS, HOLGER (1990): Wertpapiere, Geld und Gold. Über das Unwirkliche in der Ökonomie, Graz / Wien / Köln: Styria.
74
So der DALAI LAMA im Jahr 2009. Download: http://www.manager-magazin.de/magazin/artikel/O.2828.632732.OO.html(4.10.2010).
310
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Über den Autor:
Prof. Dr. Michael Schramm •
geb. 22. September 1960 in Bad Brückenau (Unterfranken)
•
Promotion (Theologische Ethik) 1989
•
Habilitation (Theologische Ethik) 1993
•
Lehrstuhl für Christliche Sozialwissenschaft an der Theologischen Fakultät Erfurt von 1995 bis 2001
•
Lehrstuhl für Katholische Theologie und Wirtschaftsethik an der Uni Hohenheim (seit 2001)
•
seit 1996 Mitglied des Ausschusses "Wirtschaftswissenschaften und Ethik" im "Verein für Socialpolitik"
•
2006-2009: Sprecher der Arbeitsgemeinschaft "Christliche Sozialethik"
Bankenaufsicht in Deutschland - Entwicklungslinien und -tendenzen Michael Bitz und Dirk Matzke
1.
Einleitung: Bankenaufsicht im Geflecht allgemeiner regulatorischer Grundsätze
In menschlichen Gemeinschaften ist seit jeher das Bestreben zu beobachten,
dem zunächst allein am eigenen Vorteil orientierten Handeln der einzelnen Mitglieder der Gemeinschaft Grenzen vorzugeben und es auf das übergeordnete "Gemeinwohl" auszurichten. Dabei mag offen bleiben, ob es sich dabei wirklich um den Versuch handelt, im Sinne einer wie auch immer zu ermittelnden "volonte gem?rale"l) dem Wohl aller zu dienen, oder nur um das Partikularinteresse einzelner Gruppen daran, die bestehenden gesellschaftlichen Machtstrukturen aufrecht zu erhalten. In beiden Fällen bieten sich der Durchsetzung derartiger Ordnungsvorstellungen grundsätzlich zwei Wege, die sich in der praktischen Umsetzung in vielfältiger Weise ergänzen und durchdringenkönnen. Der pädagogische Weg besteht darin, die Mitglieder der Gemeinschaft - in ihrer Gesamtheit oder in einzelnen Gruppen - durch erzieherische Maßnahmen dazu zu bringen, sich in ihrem Handeln an bestimmten Leitbildern zu orientieren'] - und zwar nach einmal erfolgreich abgeschlossener Erziehung ohne weitere äußere Kontrolle, sondern freiwillig dem nunmehr "umpro-
I
Vgl, RoUSSEAU (1762), S. 360-362, zur Unterscheidung zwischen der "volonte generale"
und der"volonte de tous" ebda, S. 371 f. 2
Zu früheren Quellen bereits LOCKE (1693), ROUSSEAU (1762), LESSING (1780) oder KAm (1785).
T. Nguyen, M ensch und Markt, DOI 10.1007/978-3-8349-6728-2_14, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
316
Michael Bitz/Dirk Matzke
gramrnierten" eigenen Impuls folgend. Derartige Leitbilder kennen wir zur Genüge: Der "tapfere Soldat", der - für König und Vaterland, für Ehre und Freiheit oder für welche erhabenen Begriffe auch immer - bereit ist, Leib und Leben aufs Spiel zu setzen. Der "ehrliche Finder", der trotz eigener finanzieller Sorgen die gefundene Geldbörse zum Fundbüro bringt. Der "ehrbare Bürger", der für einen von ihm angerichteten Schaden einsteht, auch wenn ihn niemand bei dessen Entstehung beobachtet hat. Die Liste derartiger Leitbilder ließe sich beliebig fortsetzen bis hin zu der im Zusammenhang mit den hier anstehenden wirtschaftswissenschaftlichen Überlegungen vorrangig interessierenden Figur des "ordentlichen Kaufmanns", der auch dem in einer Notsituation befindlichen Geschäftspartner einen "fairen" Preis zahlt und seine Bücher so sorgfältig und vollständig führt, 3) dass dem Fiskus der erzielte Gewinn in seiner gesamten Höhe offenbar wird.
Setzt der pädagogische Weg letztlich auf die Internalisierung von Regeln, so misstraut der regulatorische Ansatz dem "Guten" im Menschen und seiner Erziehbarkeit. Er versucht vielmehr, am reinen Egoismus orientierte Verhaltensweisen dadurch einzugrenzen, dass ein explizit vorgegebenes Normensystem auf seine Einhaltung hin überwacht wird und Verstöße dagegen mit Sanktionen belegt werden4). Auch solche Systeme der Kontrolle und Sanktionierung sind uns seit Jahrtausenden bekannt. Dabei sind die kaufmännischen Aktionsfelder heutzutage in den meisten Ländern in ein besonders dichtes Geflecht über den für "jedermann" verbindlichen Kodex hinausgehender Sondervorschriften eingebunden, die in juristischer Sicht unter dem Begriff des Wirtschafts- und Unternehmensrechtes zusammengefasst werden können'J. An dieser Stelle kann offen bleiben, ob diese Sonderstellung ihre Ursache dar-
3
Zur Konkretisierung dieses Bildes durch die Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung im Jahresabschluss vgl. Brrz/SCHNEELOCH/WITISTOCK (2011), S. 7-53.
• Zu den rechtsphilosophischen Grundlagen vgl. ARNOLD (2009), S. 254-256. Entsprechende Überlegungen zum Inhalt und Umfang staatlichen Handelns bilden auch den Gegenstand unterschiedlicher Staatstheorien. zu deren wichtigsten Vertretern Bentham, Hobbes, Hume, Locke und Mill gehören; vgl. hierzu weiterführend BREDEKAMP(2006), SALZBORN [HRsG.] (2010) und ASBAOI[HRsG.] (2009). 5
Zu den mit dieser Begriffsbildung verbundenen Problemen vgl. RAISER (2009), S. 59-71.
Bankenaufsicht in Deutschland
317
in hat, dass der Bereich des wirtschaftlichen Handelns im Laufe der Zeit deutlich mehr an Komplexität und damit verknüpftem Regulationsbedarf gewonnen hat als das "einfache" Alltagsleben, oder eher daraus resultiert, dass die seit jeher ohnehin zu den eher schwächeren Leitbildern zählende Figur des "ordentlichen Kaufmanns" im Lauf der Zeit immer mehr an Tauglichkeit verloren hat, eine Moral des praktischen Handelns zu konstituieren. Innerhalb der Regulierung wirtschaftlicher Aktivitäten ist seit einem knappen Jahrhundert eine zunehmende Tendenz zu beobachten, insbesondere das Bankgewerbe branchenspezifischer Sondervorschriften zu unterwerfen"). Bei näherem Hinsehen zeigt sich allerdings, dass diese vermeintlichen Sonderregelungen in ihrem Grundsatz keineswegs auf einen rein bankspezifischen Regulierungsbedarf zurückzuführen sind, sondern ihre Rechtfertigung aus dem Zusammentreffen von drei Phänomen beziehen, die auch über den Bereich der Bankgeschäfte hinaus ganz allgemein Anlass für ein normierendes, kontrollierendes und sanktionierendes Eingreifen in das "freie Spiel der Kräfte" liefern. Es sind dies die Prinzipien des Gläubigerschutzes und des Verbraucherschutzes sowie die spezielle Problematik externer Effekte.
Gläubigerschutz Soll ein Wirtschaftssystem durch freiwillige, auf das jeweilige Eigenwohl ausgerichtete Übereinkünfte zwischen den einzelnen Wirtschaftssubjekten getragen werden, so ist es von grundlegender Bedeutung, dass die Vertragsparteien mit hinlänglicher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen können, dass die ihnen zugesagte Leistung auch tatsächlich erbracht wird und sich der jeweilige Vertragspartner der zunächst eingegangenen Verpflichtung nicht einfach entziehen kann, wenn sich deren Erfüllung - zumindest im Nachhinein - als
6
Für einen Überblick über diese Entwicklung vgl. stellvertretend für viele KAsERER (2006), 5.70-73, MARKEL (2010), 5.75-89 ferner PLEYER (1988),5.116-133 und MÜLHAUPT (1982), 5.440-445. Weiterführend speziell zur Bankenkrise von 1931 KASERER (2000), 5. 4-26.
318
Michael Bitz/Dirk Matzke
nachteilig erweist'). Dies gilt insbesondere für solche Vereinbarungen, die - so wie etwa jede Art der Darlehensgewährung und somit auch die Geldanlage bei einer Bank - dadurch gekennzeichnet sind, dass die Leistung der einen Partei und die dafür versprochene Gegenleistung der anderen Seite zeitlich deutlich auseinanderfallen''). Unsere Rechtssysteme kennen daher seit Jahrtausenden die unterschiedlichsten Regelungen, um die Durchsetzung des Grundsatzes "pacta sunt servanda" nicht dem Faustrecht zu überlassen, sondern die Verfolgung der entsprechenden Ansprüche ganz allgemein unter den Schutz der jeweiligen Rechtsordnung und für den Bedarfsfall auch der staatlichen Exekutivgewalt zu stellen9) . Während das Eingehen in dieser Weise "geschützter" Verbindlichkeiten für Unternehmen des "nicht finanziellen" Sektors jedoch eher eine mehr oder minder bedeutsame Begleiterscheinung bei der Verfolgung ihres eigentlichen Unternehmenszieles - etwa der Herstellung von Automobilen oder dem Angebot von Speditions-Leistungen - darstellt, wird das "Schuldenmachen" in Form der Hereinnahme von Kundeneinlagen bei Kreditinstituten zu einem konstitutivem Element ihres primären Geschäftszwecks lO ) . Es ist daher naheliegend, dass das ganz allgemein geltende Prinzip des Gläubigerschutzes im Hinblick auf das Bankgeschäft ganz spezifische Konkretisierungen erfahren hatll) .
7
8
Sehr deutlich zur Bedeutung der Sanktionierung mangelnder Zahlungsfähigkeit in diesem Zusammenhang STÜTZEL (1975), Sp.2517f. Weiterführend zur Ausgestaltung eines entsprechenden Insolvenzrechts Brcus/EcER (2002),S. 193-209. Für eine Systernatisierung verschiedener Tauschverträge nach dem zeitlichen Grundmuster vgl. KAIsER (2009), S. 95lf; speziell zu den mit der Darlehensgewährung verbundenen Gläubigerrisiken vgl. BITZ/STARK (2008),S. 51-53.
9
Ein Überblick über die häufigsten Arten von Vertragsstörungen und ihre Sanktionierung findet sich bei RICHTER (2009),S. 239 452.
10
Zur modellgestützten Erklärung dieser Funktion von Banken vgl. weiterführend BrTZ (2006),S. 353-361und BITZ (1988),S. 8-21.
11
Einen Überblick über die unterschiedlichen hierzu angeführten Argumente geben FEST (2008), S. 69-72 und DöTZ (2002),S. 10-22. Ausführlich ferner bereits MÜLLER (1981),S. 53114.
Bankenaufsicht in Deutschland
319
Verbraucherschutz
Das Prinzip des Verbraucherschutzes ist - trotz einzelner früherer Ansätze rechtshistorisch sicherlich deutlich jünger als das des Gläubigerschutzes, inzwischen allerdings ebenso fester Bestandteil unserer Wirtschaftsordnung geworden12) . Es bezieht sich auf Vertragssituationen, in denen einer der beiden (angehenden) Vertragspartner die Qualität der ihm angebotenen Leistung (oder auch das Gewicht der ihn im Falle eines Vertragsabschlusses treffenden Belastungen) nach den für seine Lebensumstände typischen Gegebenheiten gar nicht oder allenfalls sehr ungenau abschätzenkannund ein möglicher Qualitätsirrtum für ihn die Gefahr schwerwiegender negativer Konsequenzen in sich birgt. Während sich das Prinzip des Gläubigerschutzes grundsätzlich auf Vereinbarungen zwischen Vertragspartnern jeglicher Art erstreckt, zielt das Prinzip des Verbraucherschutzes in erster Linie - wenn auch nicht ausschließlich - auf Geschäfte zwischen professionellen Anbietem und privaten Nachfragern, die davor geschützt werden sollen, etwa gesundheitsgefährdende Stoffe enthaltene Lebensmittel oder technisch unzulänglich gesicherte Elektrogeräte zu erwerben13 ) oder sich beispielsweise bei Mobiltelefonverträgen, Fernlehrgängen oder Haustürgeschäften auf ein Geflecht von wenig transparenten Vertragsklauseln und daraus resultierenden Zahlungsverpflichtungen einzulassen, die die Grenzen der eigenen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit erreichen oder gar überschreiten können").
U
Für einen Überblick über die Vielfalt des Verbraucherschutzgedankens in diversen Rechtsbereichen vgl. stellvertretend für viele die Beiträge in GENZOW [HRsc.] (2010).
13
Für einen Überblick über Regeln des Verbraucherschutzes in der Lebensmittelüberwachung vgl. beispielsweise ROTH (2009).
14
Zu den entsprechenden Problemen bei Mobilfunkverträgen vgl. GoERlli (2004), S.277283.
320
Michael Bitz/Dirk Matzke
Speziell im Bereich der Bankgeschäfte kommt diesem Schutzprinzip gleich in mehrfacher Hinsicht besondere Bedeutung zu: •
Im Einlagengeschäft und bei der Emission eigener Wertpapiere wie z. B. Sparbriefen oder Hypothekenpfandbriefen schließen Banken ja nicht nur mit finanztechnisch versierten Firmenkunden Verträge ab, sondern in großem Umfang auch mit wirtschaftlich wenig erfahrenen privaten Anlegern, die "ihrer" Bank unter Umständen einen erheblichen Teil ihrer Existenzreserven anvertrauen. Die allgemein gültigen Prinzipien des Gläubigerschutzes und des Verbraucherschutzes überlagern sich hier zu dem bankspezifischen Prinzip des Einlegerschutzes"),
•
Daneben treten Banken aber auch bei sonstigen Formen der Vermögensanlage, insbesondere in Form von Wertpapieren, als Vermittler, Verwalter und vor allem als Berater auf, und zwar wiederum in erheblichem Ausmaß auch gegenüber wenig erfahrenen privaten Anlegern, die die Qualität der ihnen empfohlenen Anlagen in der Regel gar nicht beurteilen können und sich dementsprechend weitgehend auf die Empfehlungen ihres Bankberaters verlassen müssen. Die Bankkunden geraten hier in eine typische Prinzipal-Agenten-Situation, die insbesondere dann an Schärfe gewinnt, wenn der Berater für den "Verkauf" verschiedener Anlageformen durch Provisionssätze unterschiedlicher Höhe entlohnt wird16) .
•
Schließlich treten Banken nicht nur im Anlage- sondern auch im Kreditgeschäft als Vertragspartner finanziell wenig erfahrener Kunden auf, die oftmals nur sehr eingeschränkt beurteilen können, ob sie den aus einer Darlehensaufnahme resultierenden Zins- und Tilgungsverpflichtungen
15
Zur Ableitung der Schutzbedürftigkeit von Bankkunden aus dem allgemeinen Verbraucherschutz vgl. KÜMPEL (2005)/ S. 1-8 und HEIDRICH (2003)/ insbes. S. 44-54. Zur Begründung entsprechender Maßnahmen durch zwischen Einlegern und Bankeigentiimem bestehende Interessensdivergenzen vgl. Brrz (1988)/ S. 36-38. Für eine kritische Analyse der Regelungen speziell zum Schutz von Pfandbriefgläubigem vgl. MERBECKS (2008)/ S. 119-
16
Für einen Überblick über die Principal-Agenten-Theorie vgl. die Beiträge in BAMBERG/SPREMANN [Hrsg.] (1987). Weiterführend und im Ergebnis kritisch MEINHÖVEL (1999)/ insbes. S. 7-105 und S. 171-212.
129.
Bankenaufsicht in Deutschland
321
überhaupt dauerhaft gewachsen sein werden. Auch hier erhält die daraus wiederum resultierende Gefahr unsachgemäßer Beratung besonderes Gewicht, wenn der zuständige Kreditbearbeiter - etwa ebenfalls als Folge entsprechender Provisionsstrukturen - in erster Linie ein Interesse am Abschluss von Kreditverträgen hat, nicht jedoch an deren nachhaltiger Erfüllbarkeit. Das gilt erst recht, wenn auch die kreditgebende Bank als Gesamtinstitution ebenfalls kein sonderliches Interesse an der Erfüllung der abgeschlossenen Verträge hat, etwa weil sie davon ausgehen kann, dass sie die aus diesem Verträgen resultierenden Ansprüche - je einzeln oder in einem größeren Pool eingebracht - umgehend an "ahnungslose" und dem Urteil leichtfertiger Ratingagenturen trauende Dritte weiter verkaufen kannI").
Externe Effekte
Dem klassischen Modell einer freien Marktwirtschaft zu Folge führt das am eigenen Vorteil ausgerichtete Handeln der einzelnen Marktteilnehmer letzten Endes dazu, das die geschlossenen Verträge und sonstige Vereinbarungen nicht nur den Interessen der unmittelbaren Geschäftspartner in bestmöglicher Weise entsprechen, sondern zugleich auch ein gesamtwirtschaftlich optimaler Zustand erreicht wird18) . Neben diversen idealisierenden Voraussetzungen insbesondere über den Informationsstand der Beteiligten"), die Etablierung von Eigentumsrechten, die Möglichkeiten aus vertraglichen Vereinbarungen resultierende Ansprüche auch durchzusetzen und die mit alle dem verbundenen Transaktionskosten setzt dieses Modellkonstrukt zudem voraus, dass sich die Konsequenzen der aus einem Vertrag resultierenden Aktivitäten ausschließlich in den Vermögenssphären der an dessen Abschluss beteiligten Per17
Derartige Verhaltensweisen werden als einer der verschiedenen Auslöser der aktuellen Finanzmarktkrise diskutiert, vgl. hierzu RUDOLPH (2010), S. 715-722 und S. 722-729, MICHLER/1'HIEME (2009), S. 186-197 und RUDOLPH (2008), S. 4-26. Ausführlich zur Analyse der Funktion von Ratingagenturen HORSCH (2008),S. 177-264.
18
Ausführlich zu den ethischen Grundlagen und Funktionsvoraussetzungen der Marktwirtschaft ARNOLD (2009), S. 256-261; ferner die grundlegenden Arbeiten von Adam Smith, vgl. SMrrH (1776) und WalterEucken, vgl. EUCKEN (1990) und EUCKEN (1989).
19
Sehr deutlich hierzu ARNOLD (2009),S. 262f.
Michael Bitz/Dirk Matzke
322
sonen niederschlagen. Haben diese Aktivitäten demgegenüber als sogenannte "externe Effekte" auch Auswirkungen auf die Vermögenssphäre weiterer, an dem Vertragsabschluss gar nicht beteiligter Personen, so kann das ausschließlich durch das Interesse der Einzelpersonen gesteuerte "freie" Marktgeschehen in zweifacher Weise zu gesamtwirtschaftlich suboptimalen Ergebnissen führen 20 ) , ein geeignetes Messkonzept hier einmal ohne Problematisierung als gegeben unterstellt. •
Zum einen kann es dazu kommen, dass insgesamt vorteilhafte Aktivitäten unterbleiben, weil die damit verbundenen externen Vorteile nicht in das privatwirtschaftliche Kalkül der maßgeblichen Akteure eingehen: Ein Landwirt entscheidet sich dafür, auf einem neu erworbenen Landstück keine Blumenweide zu errichten, sondern Mais anzubauen, weil er so über entsprechende Verträge mit verschiedenen Abnehmern den größeren Nutzen erzielen kann, obwohl die Blumenweide angesichts der zusätzlichen Vorteile, die eine Vielzahl in der Nähe tätiger Imker daraus ziehen könnten, die gesamtwirtschaftlich günstigere Verwendung des neues Landstücks darstellen würde. Solange es jedoch nicht gelingt, die Betroffenheit der Imker - etwa durch ein umlagefinanziertes Subventionssystem - in das private Kalkül des Landwirts einfließen zu lassen, sie also zu "internalisieren", wird das gesamtwirtschaftliche Optimum verfehlt.
•
Ähnlich verhält es sich in dem entgegengesetzten Fall negativer externer Effekte21) . Hier kann es dazu kommen, dass zwei Parteien etwas vereinbaren, das ihnen beiden durchaus zum individuellen Vorteil gereicht, an dem Vertragsabschluss gar nicht beteiligten Dritten aber Schäden - etwa in Form von Luft- und Gewässerverunreinigungen oder Geräusch- und Geruchsbelästigungen - zufügt, die in ihrem Ausmaß den gemeinsamen privaten Nutzen der Initiatoren bei weitem übersteigen. Und wiederum gilt, wie in unserem Imkerbeispiel: Gelingt es nicht, diese externen Effekte zu internalisieren, kann privates Handeln zu einer gesamtwirtschaftlich suboptimalen Lösung führen.
20
Vgl. ARNOLD (1973), S. 111-116. Ausführlicher auch SEIFERT (1984), S. 55-68 (m.w.Nw.).
21
Zur modelltheoretischen Analyse weiterführend ARNOLD (1973), S. 122-139.
Bankenaufsicht in Deutschland
323
Nun kann man sich Situationen vorstellen, in denen die Internalisierung (zunächst) externer Effekte letztendlich doch allein durch zusätzliche Absprachen aller Betroffenen erreicht werden kann. In vielen Fällen scheitert dies jedoch an den damit verknüpften Kommunikations- und Organisationskosten sowie dem Problem der "Trittbrettfahrer,,22). Die Existenz externer Effekte wird daher - zumindest soweit sie eine gewisse Größenordnung erreichen - auch in grundsätzlich marktwirtschaftlich ausgerichteten Systemen als Rechtfertigung dafür angesehen, die sie verursachenden Aktivitäten nicht mehr allein dem "freien Spiel der Kräfte" zu überlassen, sondern in mehr oder weniger großem Umfang - etwa durch Subventionen oder finanzielle Belastungen, Gebote oder Verbote, Definition spezieller Eigentumsrechte und Schadensersatzansprüche - staatlich zu regulieren oder das Angebot der entsprechenden Leistungen ganz in staatliche Hände zu legen23) . In geldwirtschaftlich ausgerichteten Systemen können mit den Beziehungen von Banken zu ihren Kunden den gerade erörterten externen Effekten sehr ähnliche Wirkungszusammenhänge verbunden sein. Derartige Systeme sind u. a. dadurch gekennzeichnet, dass der Leistungsverkehr nicht durch den unmittelbaren Austausch verschiedener Wirtschaftsgüter gegeneinander erfolgt, sondern Realleistungen gegen Zahlungsmittel getauscht werden. In modemen Wirtschaftssystemen haben die Zahlungsmittel dabei immer weniger die klassische Form von Münzen oder Banknoten, sondern manifestieren sich ganz überwiegend in Verfügungsrechten über Guthaben bei Banken oder von diesen eingeräumte Kreditlinien24) . Dazu stellt das Bankensystem sogenannte Gironetze bereit, deren Nutzung es den Bankkunden erlaubt, ihre Zahlungsverpflichtungen einfach und mit geringen Transaktionskosten zu erfüllen. Muss nun eine Bank, etwa auf Grund von Verlusten im Anlagen- oder Kreditgeschäft, ihre Geschäftstätigkeit einstellen, so werden ihre Kunden damit 22
Für einen Überblick über die hiermit verbundenen Probleme vgl. WEIMANN (2005),S. 127144.
23
Zur Bedeutung öffentlicher Unternehmen in der Infrastrukturpolitik vgl. ARNOLD (1984), 5.159-180.
24
Weiterführend zur Bedeutung neuerer Erscheinungsformen von Geld vgl. 1HIE(2002),S. 279-298.
ME/WACKER
324
Michael Bitz/Dirk Matzke
schlagartig der technischen Möglichkeiten zur Erfüllung ihrer Zahlungsverpflichtungen beraubt. Eine solche Entwicklung vollzieht sich allerdings innerhalb der Vertragsbeziehung zwischen der Bank und ihren Kunden, stellt insoweit zunächst noch gar keinen externen Effekt der soeben betrachteten Art dar. Das gar nicht aus der eigenen Geschäftstätigkeit resultierende zumindest temporäre Unvermögen der Bankkunden, ihren Zahlungsverpflichtungen nachzukommen, kann sich jedoch quasi dominoartig auf deren Geschäftspartner fortpflanzen und damit auch weit über den unmittelbaren Kundenkreis der zusammengebrochenen Bank hinaus zu mehr oder weniger gravierenden Störungen der realwirtschaftlichen Abläufe führen25) . Dieser Gefahr kommt insbesondere dann Gewicht zu, wenn nicht nur die Möglichkeit des Zusammenbruchs einer einzelnen Bank, sondern die Gefahr einer weiter greifenden Bankenkrise ins Auge gefasst wird26 ) . Von noch größerer Bedeutung ist allerdings ein zweiter Aspekt. Die realwirtschaftlichen Leistungsprozesse sind typischerweise durch eine deutliche zeitliche Divergenz zwischen Input und Output gekennzeichnet"), Auch wenn die damit einhergehenden Zahlungsbewegungen in aller Regel nicht exakt gleichzeitig erfolgen, verbleibt als typisches Kennzeichen fortgeschrittener Wirtschaften, dass für die Unternehmen der Schwerpunkt der dem Faktoreinsatz entgegenlaufenden Auszahlungen zeitlich deutlich vor dem der aus der Leistungserstellung und -verwertung resultierenden Einzahlungen liegt. In unseren modemen Wirtschaftssystemen wird der draus permanent resultierende Finanzierungsbedarf ganz überwiegend von den Banken in Form lang- und mittelfristiger Darlehen oder auch die revolvierende Bereitstellung kurzfristi-
2S
Vgl. beispielsweise KAsERER (1998), S. 355-359 [m.w.Nw., im Ergebnis allerdings kritisch]; KAUFMAN (1994), pp. 139-143und SANTOMERO/SIEGEL (1981), insbes. pp. 47-52. Kritisch zur begrenzten empirischen Basis für derartige Krisen insbesondere SCHUMACHER (2000), pp. 258.
26
Vgl. FEST (2008), S. 107-116; KöRNERT (1998), S. 73-121; SEIFERT (1984), S. 121 und weiterführend S. 123-135. Sehr ausführlich auch KAUFMAN(1994), pp. 123-150. Zum Versuch einer Erklärung der Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge der aktuellen Finanzkrise vgl. RunOLPH (2008), insbes. S. 722-738.
zr Sehr deutlich hierzu bereits STÜTZEL (1964), S. 550-552.
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ger Kreditfazilitäten gedeckf8) . Ein Zusammenbruch einer Bank oder gar einer Mehrzahl von Instituten wäre somit nicht nur mit einer Beeinträchtigung der Möglichkeiten verbunden, Zahlungsverpflichtungen rein technisch zu erfüllen, vielmehr bestünde darüber hinaus die noch gravierendere Gefahr, dass auch die materielle Fähigkeit der Unternehmen, überhaupt Zahlungen zu leisten, angesichts der plötzlich versiegenden Finanzierungsmöglichkeiten in Mitleidenschaft gezogen werden könnte. Auch hier besteht dann selbstverständlich die Gefahr, dass die zunächst "nur" in den Vertragsbeziehungen der betroffenen Banken zu ihren Kunden auftretenden Störungen leicht auf das gesamte Wirtschaftssystem überspringen können"). Unter den genannten Aspekten wird daher neben dem Einlegerschutz der sogenannte Funktionsschutz als weitere Rechtfertigung für spezielle aufsichtsrechtliche Regelungen im Bankgewerbe herangezogen. Dabei werden unter dem Bergriff des Funktionsschutzes insbesondere die beiden gerade angesprochenen Sicherungsbereiche subsumiert, nämlich die "Sicherung" der verkehrstechnischen Funktionsfähigkeit'<") des Bankensystems sowie die "Sicherung einer ausreichenden Versorgung der Wirtschaft mit Kredit".31) In Deutschland blicken spezielle bankenaufsichtliche Regelungen inzwischen
auf eine fast achtzigjährige Geschichte zurück, die in ihren wesentlichen Entwicklungsschritten als jeweilige Reaktionen des Gesetzgebers auf bestimmte krisenhafte Entwicklungen verstanden werden kann32). Der folgende Beitrag 28
Für einen Überblick über entsprechende Finanzierungsleistungen vgl. BITZ/STARK (2008), S.64-117.
29
Vgl. SEIFERT (1984), S. 136f. Für eine Analyse der Zusammenhänge aus Anlass der aktuellen Finanzmarktkrise vgl. MICHLER/THIEME (2009), 5.186-197. Für eine Analyse der Zusammenhänge der Finanzmarktkrise von 1931vgl. KAsERER (2000), hier S. 6-19.
30
KRÜMMEL (1975), S. 524; im Ergebnis ähnlich auch SOiNEIDER (2006), S. 70.
31
KRÜMMEL (1975), S. 524; zu ähnlichen Überlegungen ferner SEIFERT (1984), S. 102-104.
32
Für eine entsprechende Analyse aus politökonomischer Perspektive stellvertretend für viele KAsERER (2006), insbes. S. 73-83 (m.w.Nw.) und FEY (2006), S. 215-270. Feybezeichnet die Evolution von Bankenregulierung treffend als ,,Interventionskette".
326
Michael Bitz/Dirk Matzke
ist der Aufgabe gewidmet, die wichtigsten Entwicklungsschritte der Bankenaufsicht unter diesem speziellen Blickwinkel Revue passieren zu lassen.
2.
Bankenkrisen und ihr Einfluss auf die Entwicklung der Bankenaufsicht
2.1
Vorbemerkungen und der Begriffder Bankenkrise
Unter "Bankenkrise" soll hier eine spezifische Unternehmenskrise verstanden werden, in der das Vertrauen der Öffentlichkeit in den finanziellen Sektor aber auch das Vertrauen der Banken untereinander - durch Probleme einzelner Banken so schwer geschädigt wird, dass eine Kettenreaktion droht. Durch eine derartige Kettenreaktion können auch andere Banken und deren Gläubiger, möglicherweise die Finanzmärkte und in Folge die gesamte Volkswirtschaft geschädigt werden. Der Fall, dass mehrere, eventuell sogar zahlreiche Banken betroffen sind, wird von einigen Autoren als "systemische" Krise bezeichnet. 33) Bankenkrisen können zu einem Banken-Run führen: Einleger der betroffenen Bank(en) - aber auch Einleger von nicht direkt betroffenen Banken - rufen ihre Einlagen schlagartig bei Fälligkeit oder eventuell auch schon vorfällig ab. Die Einleger versuchen möglichst schnell, ihre Einlagen abzuheben, weil sich dadurch ihre Chancen erhöhen, ihr Geld auch tatsächlich zurückzuerhalten.t'I Bei der Northern Rock, einer britischen Großbank, kam es laut verschiedenen Presseberichten beispielsweise Mitte September 2007 zu einem Banken-Run: Von Freitag bis Montag hoben die Kunden etwa 2 Mrd. Pfund (ca. 2,9 Mrd. Euro) von den Konten der Bank ab. Im Folgenden wird dargestellt, wie Gesetzgeber oder Aufsichtsbehörde jeweils auf bestimmte Bankenkrisen reagiert haben. Dabei wird insbesondere auf diejenigen "berühmt-berüchtigten" Bankenkrisen eingegangen, die den deutschen oder europäischen Gesetzgeber "auf den Plan" gerufen haben. Die
33
Vgl. z.B. HARTMANN-WENDELS / PFINGSTEN / WEBER (2007), S. 358.
34
Vgl. z.B. HARTMANN-WENDELS / PFINGSTEN / WEBER (2007), S. 208-209, S. 216-221.
Bankenaufsicht in Deutschland
327
Darstellung wird sich vorwiegend an der Chronologie der Ereignisse ausrichten. Allerdings wird im Anschluss an die Darstellung der Reaktionen von Gesetzgeber oder Aufsichtsbehörde jeweils auch die weitere Entwicklung der ergriffenen Maßnahmen aufgezeigt. Dabei wird auf Übergangsregelungen nicht eingegangen; diese sind in aller Regel recht großzügig gestaltet, um den beaufsichtigten Banken die Umstellung auf die neuen Regeln zu erleichtern. Die vom Gesetzgeber ergriffenen Maßnahmen schlagen sich vor allem im Gesetz über das Kreditwesen (KWG) nieder. Die Maßnahmen der Aufsichtsbehörde gehen im Allgemeinen auf Änderungen im "Umfeld" des KWG zurück. Zu diesem Umfeld zählen vor allem Rechtsnormen der zuständigen Aufsichtsbehörde, d.h. derzeit der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin). Sie haben unterschiedliche Rechtsverbindlichkeit, worauf in dieser Untersuchung nicht weiter eingegangen werden soll, und werden veröffentlicht in Form von Verordnungen, Richtlinien, Rundschreiben, Bekanntmachungen und Verlautbarungen sowie sog. "Schreiben". Einzig die letztere der genannten Arten von Rechtsnormen kann sich auch nur an eine bestimmte Bank wenden und diese beispielsweise schriftlich abmahnen, gegen sie Bußgelder verhängen oder ihr die Erlaubnis zum Betreiben von Bankgeschäften entziehen. Die Mehrzahl der konkreten Regelungen der Bankenaufsicht sind insbesondere seit 1992 in den EU-Mitgliedstaaten sowie in Island, Liechtenstein und Norwegen, nicht jedoch in der Schweiz, für die meisten Aufsichtsbereiche harmonisiert, d.h. die betreffenden Organe der EU haben Richtlinien mit Mindeststandards erlassen. Bei der Umsetzung dieser Richtlinien in nationale Gesetze oder Verordnungen müssen diese Mindeststandards eingehalten werden; es können aber auch strengere Vorschriften erlassen werden, die dann jeweils von den Geschäftsbanken und anderen Unternehmen des finanziellen Sektors im jeweils betreffenden Staat einzuhalten sind.
328
2.2
Michael Bitz/Dirk Matzke
Von der Danat-Pleite zum Herstatt-Zusammenbruch
2.2.1 Die deutsche Bankenkrise von 1931 und das Reichsgesetz über das Kreditwesen von 1934 Die Bankenkrise in Deutschland von 1931 war Folge der Weltwirtschaftskrise, die 1929 mit dem Börsencrash in New York ("Schwarzer Freitag") begonnen hatte.35) Unter dem Eindruck dieser Krise erließ die deutsche Reichsregierung zahlreiche Notverordnungen, darunter die "Verordnung über Aktienrecht, Bankenaufsicht und über Steueramnestie" vom Sept. 1931. Die Verordnung wurde zum Grundstein für eine umfassende und einheitliche, staatliche Aufsicht über alle Banken. Aufsichtsregeln unterworfen waren zuvor nur einzelne Institutsgruppen, wie die öffentlich-rechtlichen Sparkassen in Preußen seit 1838 und die Hypothekenbanken seit 1899, oder einzelne Arten von Bankgeschäften, etwa durch dasDepotgesetz und dasBörsengesetz von 1896. Die Bankenkrise nahm in Deutschland ihren Lauf, als nach der Insolvenz der Österreichischen Creditanstalt im Mai 1931 ein "Run" der Einleger auch auf deutsche Banken und Sparkassen einsetzte. Die Lage spitzte sich zu, als die Darmstädter und Nationalbank ("Danatbank") nach dem Konkurs des Textilkonzerns "Nordwolle" hohe Verluste im Kreditgeschäft hinnehmen und ihre Schalter am 13. Juli 1931 schließen musste. Zu dieser Zeit war die Danatbank die zweitgrößte Geschäftsbank im Deutschen Reich. Das Vertrauen der Anleger auch in andere Banken schwand schnell; betroffen war vor allem die Dresdner Bank, die mit der Danatbank vertraglich eng verbunden war. Als letztlich alle Berliner Großbanken nur noch ein Fünftel der geforderten Einlagen auszahlen konnten, griff die Reichsregierung ein: Sie schloss für zwei Tage alle Bankschalter, übernahm die Garantie für die Einlagen der Danatbank und stellte der Dresdner Bank 300 Mio. Reichsmark (RM) zur Verfügung, indem sie die von der Dresdner Bank nur zu diesem Zweck emittierten Vorzugsaktien aufkaufte. 36) Die Reichsregierung verfügte schließlich ein dreiviertel Jahr später die Fusion von Dresdner Bank und Danatbank. Insgesamt musste das
35
Vgl. zu Folgendem Z.B. www.bafin.de.
36
Vgl. BORN (1967), S. 129-130.
Bankenaufsicht in Deutschland
329
Reich für die Bankensanierung 1,3 Mrd. RM aufbringen:") Zum einen erwarb das Reich, die Reichsbank und die Golddiskontbank, eine Tochtergesellschaft der Reichsbank, an den Berliner Großbanken Beteiligungen und leistete die erforderlichen Einlagen. Die Beteiligungen wurden anschließend - zum Teil nur zu geringeren Preisen - wieder verkauft. Zum anderen vergab das Reich auch Kredite an diese Berliner Großbanken, von denen nur ein Teil von den Banken zurückgezahlt wurde, der andere Teil blieb endgültig uneinbringlich. Die Notverordnung des Reichspräsidenten vom 19. Sept. 1931 führte die beobachtende Bankenaufsicht ein. Eine über die reine Beobachtung hinausgehende eingreifende Bankenaufsicht wurde erst mit dem Reichsgesetz über das Kreditwesen vom 5. Dez. 1934 etabliert. Wesentliche Grundprinzipien dieses Gesetzes, das im Jahre 1939 neu gefasst wurde, sind zum Teil bis heute erhalten geblieben: -
Unterstellung aller Kreditinstitute unter eine staatliche Aufsicht;
-
Einführung einer Erlaubnispflicht für das Betreiben von Bankgeschäften;
-
Anzeige- und Auskunftspflichten der Kreditinstitute, z.B. bei organisatorischen Veränderungen, bei der Vergabe von sog. Millionenkrediten, etc.;
-
Begrenzung der Vergabe von Großkrediten;
-
Grenzen für die Vergabe von sog. Organkrediten;
-
Mindestanforderungen an Eigenkapital und Liquidität;
-
Erweiterung der Publizitätsbestimmungen sowie
-
gesetzliche Bestimmungen für den Spar- und bargeldlosen Zahlungsverkehr.
2.2.2 Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg Nach Ende des Zweiten Weltkrieges dezentralisierten die westlichen Militärregierungen zunächst die zentrale staatliche Bankenaufsicht und übertrugen sie auf die neu geschaffenen Bundesländer. Zur Koordinierung schufen die 37
Vgl. im Einzelnen BORN (1967), S. 168-170 und S. 176.
330
Michael Bitz/Dirk Matzke
Landesregierungen bald einen "Sonderausschuss Bankenaufsicht", dem Vertreter aller Bankenaufsichtsbehörden, der Bank deutscher Länder - der späteren Deutschen Bundesbank - sowie ab 1949 Vertreter der zuständigen Bundesministerien angehörten. Kurz nach Kriegsende setzten Bestrebungen ein, das KWG umfassend zu überarbeiten. Problematische Ermächtigungen zur Ausfüllung von Rahmenvorschriften, unklare Kompetenzverteilungen und Wünsche seitens der Besatzungsmächte führten zu einer Reihe von Änderungswünschen, über die man ab 1950 diskutierte. Nach mehrjähriger Vorarbeit trat am 1. Jan. 1962 das "neue" Gesetz über das Kreditwesen vom 10. Juli 1961 in Kraft. Die organisatorische Form der deutschen Bankenaufsicht hat sich mehrfach geändert. Von Anfang an besaß die Notenbank wichtige Mitwirkungsbefugnisse. Auf Grund des "neuen" Gesetzes über das Kreditwesen wurde mit dessen Inkrafttreten das Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen (BAKred) als zentrale Bankenaufsichtsbehörde errichtet. Am 1. Mai 2002 schließlich wurde die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin), mit Sitz in Bonn und Frankfurt am Main, gegründet. Die BaFin vereinigt die drei ehemals selbständigen Bundesaufsichtsämter für das Kreditwesen (BAKred), für das Versicherungswesen (BAV) und für den Wertpapierhandel (BAWe).
2.2.3 Der Zusammenbruch der Herstatt-Bank im Jahre 1974 und die 2. KWG-Novelle Das KWG wurde seit seinem Inkrafttreten am 1. Jan. 1962 mehrmals grundlegend überarbeitet ("Novellen"). Damit folgte die Bankenaufsicht den Entwicklungen auf den nationalen und - in den letzten Jahrzehnten zunehmend auch - den internationalen Finanzmärkten. Diese Entwicklungen bezogen sich auf die Organisation der Finanzmärkte und auf die Verwendung "neuer", derivativer Finanzinstrumente. Nach einigen nur punktuellen Änderungen durch die erste Novelle von 1971 brachten die nachfolgenden Novellen umfangreiche Neuerungen mit sich. Zu nennen sind folgende KWG-Novellen: -
die 2. KWG-Novelle vom 24. März 1976, die am 3. Mai 1976 in Kraft trat;
Bankenaufsicht in Deutschland
331
-
die 3. KWG-Novel1e vom 20. Dez. 1984, die am 1. [an, 1985 in Kraft trat;
-
die 4. KWG-Novelle vom 21. Dez. 1992, die am 1. [an, 1993 in Kraft trat;
-
die 5. KWG-Novelle vom 28. Sept. 1995, die am 1. [an, 1996 in Kraft trat;
-
die 6. KWG-Novelle vom 22. Okt. 1997, die mehrheitlich am 1. [an. 1998 in Kraft trat, sowie
-
die 7. KWG-Novelle vom 22. Nov. 2006, die am 1. [an, 2007 in Kraft trat.
Die 2. KWG-Novelle von 1976 ist als Reaktion auf den Zusammenbruch des Kölner Bankhauses I. D. Herstatt KGaA und dessen Schließung durch das Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen (BAKred) am 26. Juni 1974 anzusehen. 38) Der Schließung waren einige Insolvenzen kleinerer Banken vorausgegangen und es breitete sich in deren Folge eine allgemeine Vertrauenskrlse gegenüber dem deutschen Kreditgewerbe aus. Im Folgenden wird ausführlicher auf die Umstände des Zusammenbruches der Herstatt-Bank eingegangen. Im Jahre 1973 wurde das System starrer Wechselkurse, auf welches sich die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges 1944 geeinigt hatten und in welchem die europäischen Währungen starr an den US-Dollar gekoppelt waren, außer Kraft gesetzt und durch frei schwankende Wechselkurse ersetzt. Dadurch breitete sich weltweit ein "spekulativer" Eigenhandel in Devisen aus und wurde insbesondere auch zum Kerngeschäft der Herstatt-Bank. Abgewickelt wurden diese Geschäfte der Herstatt-Bank durch sechs sehr junge Devisenhändler, den sog. "Goldjungs". Sie konnten weitgehend ohne Kontrolle handeln, was auch durch vergleichsweise geringe aufsichtsrechtliche Vorschriften begünstigt wurde. Die "Goldjungs" durften zwar nur Devisentermingeschäfte im Umfang von höchstens 10 Mio. Dollar pro Person und Tag tätigen, was sie jedoch durch den Einsatz von Strohmännern (anderen Mitarbeitern der Bank) umgingen. Nach der Ölkrise 1973 setzten die "Goldjungs" auf einen steigenden USDollar, wie dies weltweit bei Banken der Fall war. Im Jahr 1973 betrug das Vo-
38
Zum Zusammenbruch des Körner Bankhauses I. D. Herstatt KGaA siehe die "larmoyante" Biographie von HERSTATT (1992)oder z.B. www.general-anzeiger-bonn.de.
332
Michael Bitz/Dirk Matzke
lumen der Investitionen der Herstatt-Bank in US-Dollar insgesamt 8 Mrd. DM, so dass eine Schwankung des US-Dollar-Kurses von 1% entweder 80 Mio. DM Gewinn oder Verlust ergab. Warnungen des Risiko-Managements wurden bei Mitgliedern des Vorstandes und des Aufsichtsrates zunächst nicht ernst genommen. Doch der erwartete Anstieg des US-Dollar-Kurses trat nicht ein; der Kurs fiel seit Anfang 1974. Dies bedeutete, dass die Devisen-Glattstellungen bei jeweiliger Fälligkeit teurer eingedeckt werden mussten, als man sie zuvor erworben hatte. Am 31. Mai 1974 fand eine bankinterne Prüfung statt. Danach beliefen sich die Verluste aus Devisentermingeschäften auf etwa 64 Mio. DM, was fast 90% des bilanziellen Eigenkapitals entsprach. Bereits am 16. Juni 1974 wurden aufgrund der Kursrückgänge die Verluste zwischen 450 und 520 Mio. DM beziffert. Nach Überprüfung dieser Angaben durch den Wirtschaftsprüfer wurde am 23. und 24. Juni 1974 die Bundesbank bzw. das BAKred informiert. Am 26. Juni 1974 hat das BAKred die Schließung der Schalter der Herstatt-Bank angeordnet. An jenem Tag beliefen sich die Verluste auf 480 Mio. DM. Am 27. Juni 1974 beantragte die Bank die Eröffnung des Vergleichsverfahrens wegen Überschuldung. In Köln kam es zu Tumulten am Hauptsitz der HerstattBank; die Polizei musste das Gebäude vor den Einlegern schützen, die die Auszahlung ihrer Einlagen forderten. Mit der 2. KWG-Novelle von 1976 sollten die im Zuge der Herstatt-Bank-Krise als besonders gefahrbringend angesehenen Lücken im System der Bankenaufsicht beseitigt werden. 39 ) Schwerpunkte der Änderungen waren die Verschärfung der Großkreditregeln, die Erweiterung der Prüfungs- und Eingriffsbefugnisse des BAKred sowie die Einführung des sog. Vier-Augen-Prinzips auch bei der Geschäftsleitung einer Bank, d.h. jede Bank musste nun mindestens zwei Geschäftsleiter haben, die nicht nur ehrenamtlich für das Kreditinstitut tätig sind. Über diese 2. KWG-Novelle hinaus sind noch weitere Maßnahmen im Zusammenhang mit den vorausgegangenen Bankenzusammenbrüchen zu sehen:
39
Vgl. DEUTSarn BUNDESBANK (1976).
Bankenaufsicht in Deutschland •
333
Die Bankenaufsicht ist nun berechtigt, über eine in Not geratene Bank ein vorübergehendes sog. "Moratorium" zu verhängen (§ 46a KWG), d.h. ein Veräußerungs- und Zahlungsverbot. Grundgedanke eines Moratoriums ist, der Bankenaufsicht die Möglichkeit zu geben, eine "offene" Insolvenz einer Bank zu vermeiden und diese stattdessen "still" zu sanieren, z.B. durch "Stützungsmaßnahmen", etwa in Form von Krediten eines Einlagensicherungssystems oder anderer Banken. Die Bankenaufsicht kann zudem eine "Sonderprüfung" ohne besonderen Anlass vornehmen (§ 44 Abs.1KWG).
•
Devisentermingeschäfte werden durch den neuen Grundsatz Ia des BAKred begrenzt.
•
Die Liquiditäts-Konsortialbank GmbH wird gegründet; sie soll bonitätsmäßig einwandfreien Banken Kredite zur Überbrückung eines Liquiditätsengpasses gewähren.
•
Der Staat bemüht sich um den Ausbau von freiwilligen Einlagensicherungssystemen.
2.3
Konsolidierungsvorschriften und Anteilseignerkontrolle
2.3.1 Die "Mehrfachnutzung von haftendem Eigenkapital" und die Einführung von Konsolidierungsregeln mit der 3. KWG-Novelle Umfassend überarbeitet wurde das KWG mit der 3. Novelle von 1984, mit der unter anderem die EG-Richtlinie über die Beaufsichtigung der Kreditinstitute auf konsolidierter Basis in deutsches Recht umgesetzt wurde. Außerdem wurden mit der 3. KWG-Novelle die Bestandteile des Deckungspotenzials von Banken neu fest gesetzt sowie unter anderem die Regelungen über die Vergabe von Groß- und Organkrediten und die Meldepflichten für sog. Millionenkredite strenger gefasst. Für die aufsichtsrechtliche Konsolidierung wurde § 10a KWG eingeführt. Bestimmte, durch Beteiligungen miteinander verbundene Unternehmen des finanziellen Sektors sind seitdem durch aufsichtsrechtliche Konsolidierungsvorschriften verpflichtet, dem effektiv vorhandenen Deckungspotenzial eines
334
Michael Bitz/Dirk Matzke
derartigen "Finanzkonzerns" das gesamte Risikopotenzial aller, aufsichtsrechtlich als relevant angesehenen Konzernunternehmen gegenüberzustellen. Um zu begründen, warum Konsolidierungsvorschriften notwendig sind, versetzen wir uns in die Zeit vor dem 1. Juli 1985, d.h. bevor die 3. KWG-Novelle mit den ersten Konsolidierungsvorschriften in Deutschland in Kraft trat. Damals war durch aufsichtsrechtliche Vorschriften z.B. für eine Bank mit einem Deckungspotenzial von 100 Geldeinheiten (GE) das potenzielle Kreditgeschäft auf maximal 1250 GE beschränkt. Bei Beachtung weiterer aufsichtsrechtlicher Begrenzungsregelungen, wonach sich eine Bank höchstens bis zu einer Höhe von maximal 20% des eigenen "haftenden Eigenkapitals" an einer anderen Bank beteiligen darf, hatte diese Bank ohne besondere Konsolidierungsvorschriften folgende Gestaltungsmöglichkeit: Sie konnte z.B. fünf Tochterbanken gründen und jeweils mit einem Eigenkapital von 20 GE ausstatten. Die Mutterbank selbst konnte dann immer noch Kredite im Volumen von maximal 1150 GE, jede Tochterbank zusätzlich Kredite in Höhe von 250 GE vergeben. Gegenüber der Ausgangssituation konnte das potenzielle Kreditgeschäft so ohne "neues" Eigenkapital von 1250 auf 2500 GE ausgeweitet werden. Durch Gründung weiterer Tochter- und Enkelbanken konnte eine Mutterbank somit fast unbegrenzt risikobehaftete Kreditgeschäfte tätigen ("Kreditpyramiden,,).40) Die Gründung von Tochter- und Enkelbanken ist als Ausweichreaktion der Mutterbank auf aufsichtsrechtliche Vorschriften anzusehen. Immer mehr Banken gründeten Tochterbanken im Ausland, die nicht der deutschen Bankenaufsicht unterlagen und in ihren Sitzländern erheblich geringere Kapitalanforderungen zu erfüllen hatten. 41) Solange jede Bank als isolierte Haftungseinheit betrachtet werden kann und Beteiligungen an anderen Banken nicht als risikoreicher anzusehen sind als andere Vermögenspositionen von Banken, entstehen aus Konstruktionen der aufgezeigten Art unmittelbar keine besonderen Risiken, die einer eigenen auf-
40
Zu dem Begriff "Kreditpyramide" siehe
41
Vgl. DEUTSOfE BUNDESBANK (1985), S. 38.
SCHrERENBECK
(1984).
Bankenaufsicht in Deutschland
335
sichtsrechtlichen Regulienmg bedürften. Nun geht man aber im Allgemeinen davon aus, dass sich eine Mutterbank - z.B. aus übergeordneten Image- oder Standinggründen - verpflichtet fühlt, für Vermögensverluste ihrer Tochterbank einzustehen oder deren Einleger bei Insolvenz zu befriedigen. Deshalb erscheint es gerechtfertigt, bestimmte, durch Beteiligungen miteinander verbundene Unternehmen des finanziellen Sektors aufsichtsrechtlich als "Haftungseinheit" zu betrachten. Diese, aus einer solchen De-facto-Haftung einer Mutterbank für ihre Tochter resultierende Problematik der sog. "Mehrfachnutzung von haftendem Eigenkapital" wurde in der Literatur frühzeitig erkannt42) und führte im Rahmen der 3. KWG-Novelle zu einer ersten gesetzgeberischen Maßnahme: Mit § 10a KWG wurde die Konsolidienmgsnorm geschaffen, wonach in einem bestimmten Beteiligungsverbund stehende Banken auch insgesamt die Solvabilitätsvorschriften in Verbindung mit § 10 KWG einhalten müssen. 43) Im Einzelnen legt der Gesetzgeber Konsolidierungskreis und Konsolidienmgsverfahren fest. Während beim Konsolidienmgskreis die Zusammenschlüsse von Unternehmen des finanziellen Sektors definiert werden, die ihr Risiko- und ihr Deckungspotenzial zusammenrechnen müssen, regelt das Konsolidienmgsverfahren die Art und Weise, in der diese Zusammenrechnung zu erfolgen hat. 44 ) Im Rahmen weiterer KWG-Novellen wurden Konsolidienmgsverfahren und Konsolidienmgskreis mehrfach grundlegend geändert. 45) Der Konsolidienmgskreis wurde zuletzt 2005 erheblich ausgeweitet. Hiermit reagierte der Gesetzgeber auf einen gravierenden Kritikpunkt: 46) Obwohl Versicherungsunternehmen in ihren Vermögenspositionen einer Bank strukturell ähnliche Risiken eingehen, wurden sie bisher nicht in die aufsichtsrechtliche 42
So z.B. SCHIERENBECK (1982).
43
Siehe z.B. DEUTSCHE BUNDESBANK (1985);HENKE (1985);STARKE (1985);WALDECK (1985).
.. Siehe z.B. MATZKE / MERBECKS / TERsTEGE (1996). 45
Siehe z.B. BUNDESRATS-DRUCKSACHE 22/94, S.50-52, 67-76; DEUTSCHE BUNDESBANK (1994a), S.60-64; GÖTIGENS / KARG (1994), S. 199-202; Boos / KLEIN (1994), S.530-533; Boas / KLEIN (1995);BUNDESRATS-DRUCKSACHE 963/96, S. 80-81; DÜRSELEN (1997).
46
Siehe hierzu DEUTSCHE BUNDESBANK (1994);WIENBERG (1993);AMELY (1994).
336
Michael Bitz/Dirk Matzke
Konsolidierung einbezogen. Durch Gründung oder Erwerb von Versicherungsunternehmen mit anschließender Verlagerung von Kredit- und Wertpapieranlagegeschäften hätten Banken die Solvabilitätsvorschriften umgehen können. Seit 2005 sind nun auch branchenübergreifend tätige sog. Finanzkonglomerate einer einheitlichen "Allfinanzaufsicht" durch BaFin und Deutsche Bundesbank unterstellt.") Bei einem Finanzkonglomerat setzt sich der Konsolidierungskreis nicht nur aus Bank- und Wertpapier-, sondern auch aus Versicherungsunternehmen zusammen. Von dieser zusätzlichen Beaufsichtigung betroffen sind nur durch Beteiligungen miteinander verbundene Finanzkonzerne (in Deutschland etwa acht Konglomerate), nicht jedoch die selbständigen Unternehmen des Sparkassen- oder Genossenschaftssektors. Finanzkonglomerate haben nach § lOb KWG spezifische Anforderungen bezüglich ihres Deckungspotenzials einzuhalten. Vor allem Risikokonzentrationen, deren Wechselwirkungen und gruppeninterne Transaktionen sind einer gesonderten, auch grenzüberschreitend tätigen Überwachung zu unterstellen.
2.3.2 Der Skandal der Bank of Credit and Commerce International im Jahre 1991 und die Einführung der Anteilseignerkontrolle durch die 4. KWG-Novelle
Am 5. Juli 1991 wurden die Zweigniederlassungen der Bank of Credit and Commerce International (BCCI) gleichzeitig in insgesamt sieben Ländern in einer abgestimmten Aktion der Bankenaufsichtsbehörden dieser Länder unter Führung der Bank of England geschlossen. Die BCCI war eine 1972 in Pakistan gegründete internationale Großbank. Auf dem Höhepunkt ihrer Geschichte operierte das Institut in 78 Ländern, hatte über 400 Niederlassungen und verfügte über Einlagen in Höhe von ca, 25 Mrd. U5-Dollar. Im Jahre 1991 geriet die BCCI in den Mittelpunkt des bisher größten internationalen Finanzskandals, der als "the biggest fraud in world history,,48) bezeichnet wurde, weil Einleger erhebliche Vermögensverluste hinnehmen mussten.
47
SieheDEUTSCHE BUNDESBANK (2005);PAPENHAUSEN / WOLFGARTEN (2004).
48
ATKINSON (1999).
Bankenaufsicht in Deutschland
337
US-amerikanische und britische Ermittlungsbehörden stellten im Verlauf ihrer Untersuchungen fest,
dass
das Institut in
Geldwäsche,
Bestechung,
Waffenhandel und den Verkauf von Nukleartechnologie verwickelt war, den Terrorismus unterstützte, Steuerhinterziehung initiierte und förderte, sowie mit Schmuggel, illegaler Einwanderung, dem illegalen Kauf von Immobilien und Banken sowie der Förderung von Prostitution in Verbindung stand.49) Eine von den damaligen US-Senatoren [ohn Kerry und Hank Brown geführte Untersuchung kam zu dem eindeutigen Ergebnis, dass u. a. der ehemalige panamaische Diktator Manuel Noriega die Bank nutzte, um Drogengelder des Medellin-Kartells zu waschen. Zu weiteren "prominenten" Kunden des Instituts wurden u. a. der Führer der Contras Adolfo Calero, Saddam Hussein, Daniel Ortega, Ferdinand Marcos, der peruanisehe Präsident Alan Garcia und Waffenhändler wie z.B. Adnan Khashoggi gezählt. 50) Nach der Schließung des Instituts enthüllten die Ermittler: "BCCI was not an ordinary bank. H was set up deliberately to avoid centralized regulatory review, and operated extensively in bank secrecy jurisdictions. Its affairs are extraordinarily complex. Its offers were sophisticated international bankers whose apparent objective was to keep their affairs secret, to commit fraud on a massive scale, and to avoid detection".51) Die BCCI unterhielt unternehmenseigene
nachrichtendienstliche
und
diplomatische
Strukturen
sowie
Speditionen und Handelsunternehmen. Die Struktur der BCCI-Gruppe war darauf abgestellt, den Konzern als Ganzes durch undurchsichtige Eigentumsverhältnisse und Abhängigkeiten jeder aufsichtlichen Kontrolle zu entziehen. Mit der 4. KWG-Novelle von 1992 wurde u. a. als Reaktion auf den BCCI-Skandal die Anteilseignerkontrolle eingeführt: Neben der Kontrolle, ob die Geschäftsleiter einer Bank zuverlässig sind, müssen sich nun auch die Anteilseigner von Banken einer solchen Kontrolle unterwerfen. 52) Dadurch sollen insbesondere Gefahren für die Funktionsfähigkeit 49
Siehe KERRY / BROWN (1992), chapter 4.
50
Siehe BEATY / GWYNNE (1991).
51
KERRY / BROWN (1992), chapter 4.
52
Siehe DEUTSCHE BUNDESBANK (1993), S. 37-38.
338
Michael Bitz/Dirk Matzke
der Banken und für deren Gläubiger abgewendet werden, die sich aus der Zusammensetzung des Eigentümerkreises ergeben können, und Vorsorge dagegen getroffen werden, dass die Institute etwa zur sog. Geldwäsche missbraucht werden. Die Anteilseignerkontrolle setzt bei der Zulassung eines Instituts und bei späteren wesentlichen Änderungen der Eigentümerverhältnisse ein. Werden an einem neu zuzulassenden Institut von einem Anteilseigner unmittelbar oder mittelbar über Tochterunternehmen mindestens 10% des Kapitals oder der Stimmrechte gehalten (sog. bedeutende Beteiligung gemäß § 1 Abs. 9 KWG), so ist heutzutage im Erlaubnisverfahren von der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) zu prüfen, ob der Inhaber der bedeutenden Beteiligung oder seine gesetzlichen Vertreter den im Interesse einer soliden und umsichtigen Führung des Instituts zu stellenden Ansprüchen genügen. Wird diese Voraussetzung nicht erfüllt, so ist die Erlaubnis gemäß § 33 Abs. 1 Satz 1 Nr.3 KWG zu versagen. Darüber hinaus kann die BaFin gemäß
§ 33 Abs. 3 Nr. 1 KWG die Erlaubnis verweigern, wenn das zuzulassende Institut derart in eine Unternehmensgruppe eingegliedert wird, dass eine wirksame Beaufsichtigung nicht möglich ist. Beabsichtigt jemand, eine bedeutende Beteiligung an einem bestehenden Institut zu erwerben oder seine bestehende Beteiligung über die Schwellen von 20%, 30% oder 50% der Stimmrechte oder des Kapitals zu erhöhen, hat er dies gemäß § 2c Abs. 1 KWG ebenfalls der BaFin und der Deutschen Bundesbank anzuzeigen. Die BaFin kann den beabsichtigten Erwerb oder die beabsichtigte Beteiligungserhöhung aus den gleichen Gründen untersagen, aus denen wegen fehlender Zuverlässigkeit der Antei1seigner oder mangelnder Transparenz der Konzernstruktur ein Institut nicht zugelassen wird (§ 2c Abs. 1b KWG). In den Fällen, in denen der Erwerb einer bedeutenden Beteiligung untersagt werden kann, kann die BaFin bei bestehenden Beteiligungen dem Anteilseigner gemäß § 2c Abs. 2 KWG untersagen, seine Stimmrechte auszuüben. Um zu vermeiden, dass die Arbeitsfähigkeit der Organe des Instituts durch den Ausfall der Stimmrechte beeinträchtigt wird, kann ein Treuhänder zur Ausübung der Stimmrechte des ausgeschlossenen Inhabers bestellt werden. Auch müssen
Bankenaufsicht in Deutschland
339
die Institute BaFin und Bundesbank nach § 24 Abs. 1 Nr. 11 KWG jährlich Namen und Anschrift der Inhaber bedeutender Beteiligungen anzeigen. Erst mit der 6. KWG-Novelle von 1997 wurde u. a. die Regulierung der Anteilseignerkontrolle wieder aufgenommen und die BCCI-Folge-Richtlinie in deutsches Recht umgesetzt. Nach § 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 und Abs. 3 KWG ist Unternehmen des finanziellen Sektors die Zulassung nun auch dann zu versagen oder zu entziehen, wenn die Organisation des Unternehmens oder die Besitzverhältnisse an ihm eine wirksame Aufsicht beeinträchtigen. 53) Darüber hinaus gelten von nun an effizientere Vorschriften zum Informationsaustausch zwischen Aufsichtsbehörden und anderen Stellen sowie zu den Informationspflichten externer Prüfer.
2.4. Die Entwicklung der Zusammensetzung des Deckungspotenzials Die realen aufsichtsrechtlichen Regeln in § 10 KWG orientieren sich in ihrer Reihenfolge an keiner erkennbaren Systematik, sondern präsentieren in bunter Mischung eine Aufzählung der unterschiedlichen Zuschlags- und Abzugspositionen.54) Die aktuelle Zusammensetzung des Deckungspotenzials ist das Ergebnis von Reaktionen des nationalen und zunehmend auch des europäischen Gesetzgebers - allgemein formuliert - auf "Entwicklungen im Bankwesen". Im Wesentlichen lassen sich die folgenden Entwicklungslinien aufzeichnen: •
Im KWG von 1961 hat der Gesetzgeber ausschließlich Bestandteile des bilanziellen Eigenkapitals entsprechend § 266 Abs. 2 HGB als Deckungspotenzial in § 10 KWG zugelassen und missverständlich als "haftendes Eigenkapital" bezeichnet. Hierzu zählte zum Ersten die Bilanzposition "eingezahltes Kapital". Sie wird handelsrechtlich je nach Rechtsform unterschiedlich bezeichnet, z.B. "Geschäftskapital" bei Einzelkaufleuten, OHG und KG, "Grund- oder Stammkapital" bei AG, KGaA und GmbH, "ausgewiesene Geschäftsguthaben" bei eG und "Dotationskapital" bei Spar-
53
Siehe DEUTSCHE BUNDESBANK (1998), S. 70-71.
54
Siehe MATZKE / SEIFERT (1998). Zur grundlegenden Systematik vgl. BITZ (1996).
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kassen. Dieses sog. "Dotationskapital" ist öffentlich-rechtlichen Sparkassen gegebenenfalls von ihrem jeweiligen Gewährträger, also etwa ihrer Kommune, zur Verfügung gestellt. Bei den Genossenschaftsbanken wurde zudem der sog. "Haftsummenzuschlag" in Höhe von 50% der Geschäftsguthaben zusätzlich anerkannt. Dieser Haftsummenzuschlag sollte der genossenschaftlichen Nachschusspflicht Rechnung tragen, nach der jeder Genosse für den Fall zu "Nachschüssen" verpflichtet ist, dass die Gläubiger in einer etwaigen Insolvenz der Genossenschaft nicht befriedigt werden. Demgegenüber wurde bei öffentlich-rechtlichen Kreditinstituten ein sog. "Haftungszuschlag" nicht anerkannt. Diese Form einer externen Haftungszusage hätte der Gewährträgerhaftung Rechnung tragen sollen, nach der die Gebietskörperschaft (z. B. Kommune oder Bundesland), die ein öffentlich-rechtliches Unternehmen errichtet, für dessen Verbindlichkeiten in vollem Umfang haftet. Zu dem eingezahlten Kapital wurden zum Zweiten die "offenen Rücklagen" addiert, die z.B. bei der AG in der Bilanz als Unterposten "Kapitalrücklage" und "Gewinnrücklage" auszuweisen sind. Zum Dritten wurde der "Reingewinn" dem Deckungspotenzial zugerechnet, soweit seine Zuweisung zum Geschäftskapital, zu den Rücklagen oder den Geschäftsguthaben beschlossen ist. Abzuziehen war ein eventuell im Unterposten "Bilanzverlust" ausgewiesener Betrag, der entweder aus einem Jahresfehlbetrag der Gewinn- und Verlustrechnung oder aus einem Verlustvortrag des Vorjahres resultieren kann. Zum Vierten schließlich wurden "Vermögenseinlagen stiller Gesellschafter" unter bestimmten Voraussetzungen als "haftendes Eigenkapital" anerkannt. Diese, derart zusammengesetzte Größe entspricht weitgehend dem Ausgangspunkt zur Ermittlung eines aufsichtsrechtlich geeigneten Deckungspotenzials und erfüllt die drei "traditionellen" Anforderungen an dessen Bestandteile. Im Zeitverlauf ist die Zusammensetzung des Deckungspotenzials häufig geändert worden. •
Eine erste Änderung der Zusammensetzung des Deckungspotenzials erfolgte mit der 3. KWG-Novelle von 1984. Gesetzgeber, Bundesbank und Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen (BAKred) blieben ihrer Ansicht
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treu, dass nur eingezahlte, eigene Mittel, die der Bank dauerhaft zur Verfügung stehen und am laufenden Verlust teilnehmen, den drei "traditionellen" Anforderungen an die Bestandteile aufsichtsrechtlichen Deckungspotenzials genügen. 55) Dementsprechend wurde dem Wunsch öffentlich-rechtlicher Kreditinstitute, insbesondere der Sparkassen, wegen der Gewährträgerhaftung einen Haftungszuschlag zum "haftenden Eigenkapital" einzuführen,56) nicht stattgegeben. Um den Wettbewerbsvorteil der Kreditgenossenschaften durch den Haftungszuschlag von 50% der Geschäftsguthaben gegenüber den Sparkassen abzubauen, wurde als Kompromiss festgelegt, dass dieser Haftsummenzuschlag im Laufe von zehn Jahren stufenweise von 50% auf 25% zurückzuführen ist. Zudem hat der Gesetzgeber nachrangige Verbindlichkeiten nicht als Bestandteil des Deckungspotenzials anerkannt, was in der Diskussion vorgeschlagen worden war. 57) Des Weiteren wurden die Voraussetzungen zur Anerkennung von Vermögenseinlagen stiller Gesellschafter als "haftendes Eigenkapital" verschärft. Lediglich Genussrechtsverbindlichkeiten wurden unter bestimmten Voraussetzungen als zusätzlicher Bestandteil des Deckungspotenzials für alle Banken zugelassen. •
Die Komponenten des Deckungspotenzials wurden mit der 4. KWGNovelle von 1992 erneut reformiert. 58) Diese Reform war notwendig, weil der EG-Binnenmarkt u.a, durch die EG-"Eigenmittel"-Richtlinie harmonisiert worden war. Wegen Umsetzung dieser Richtlinie in nationales Recht, sah sich der deutsche Gesetzgeber gezwungen, von seinen drei "traditionellen" Anforderungen an die Bestandteile aufsichtsrechtlichen Deckungspotenzials erheblich abzuweichen. Bei der Definition der sog. "Eigenmittel" einer Bank wird seitdem zwischen "Kernkapital" und "Ergänzungskapital" unterschieden. Das "Kemkapital" muss mindestens 4% des Risikopotenzials aus Kreditausfallrisiken
55
Siehe DEUTSCHE BUNDESBANK (1985), S. 40-41.
56
Siehe z.B. MöLLER (1993).
57
Siehe z.B. KRÜMMEL (1983a); PANOWITZ (1992).
58
Siehe DEUTSCHE BUNDESBANK (1993), S. 38-41.
342
Michael Bitz/Dirk Matzke ausmachen und das "Ergänzungskapital" darf das "Kernkapital" nicht überschreiten. Eine Bank muss also über ein Deckungspotenzial von mindestens 8% des Risikopotenzials aus Kreditausfallrisiken verfügen. Das "Kernkapital" setzt sich ausschließlich aus Bestandteilen zusammen, die weitgehend die drei "traditionellen" Anforderungen erfüllen. Zusätzlich zu den bisher schon anerkannten Komponenten wurde der offen in der Bilanz ausgewiesene "Sonderposten für allgemeine Bankrisiken" nach
§ 340g HGB als Bestandteil des Kernkapitals zugelassen. Das "Ergänzungskapital" besteht jedoch aus Bestandteilen, "die im Vergleich zum Kernkapital von minderer Qualität sind, da sie entweder nicht in der Bilanz ausgewiesen sind oder nur nachrangig haften und zurückzuzahlen sind".59) Das "Ergänzungskapital" enthält somit eine Reihe von Bestandteilen, die bisher nicht als Deckungspotenzial anerkannt waren, so z.B. Vorsorgereserven nach § 340f HGB, stille Aktivreserven (sog. "nicht realisierte (Neubewertungs-) Reserven") und nachrangige Verbindlichkeiten. Stille Aktivreserven lassen sich nach Abschnitt 2.5.2.3.2 der Korrekturkategorie
59
DElITSCHE BUNDESBANK (1993), S. 39. Diese Einschätzung der Deutschen Bundesbank, die Bestandteile des Ergänzungskapitals seien "von minderer Qualität", hält einer analytischen Betrachtung nicht stand. Der erste Teilsatz, "nicht in der Bilanz ausgewiesen", bezieht sich auf "nicht realisierte Reserven". Dieser Bestandteil des Ergänzungskapitals ist tatsächlich problematisch, weil er die Informationsfunktion des Jahresabschlusses nicht erfüllt. Konstituierendes Merkmal stiller Reserven ist, dass sie still gebildet und auch still wieder aufgelöst werden können. Eine Bank verfügt damit über die Möglichkeit, ihre Verluste gegebenenfalls zu "verschleiern", vgl. hierzu beispielsweise BITZ / SCHNEEWCH / WITISTOCK (2011), 5.86-88. Zur Diskussion um stille Reserven in Banken siehe beispielsweise SÜCHTING (1981)und BAUER (1984). Der zweite Teilsatz, "nur nachrangig haften und zurückzuzahlen sind", bezieht sich insbesondere auf nachrangige Verbindlichkeiten. Diese Einschätzung der Deutschen Bundesbank lässt erkennen, dass sie zu diesem Zeitpunkt die drei "traditionellen" Anforderungen an die Bestandteile aufsichtsrechtlichen Deckungspotenzials grundsätzlich noch für sachgerecht hält. Deckungspotenzial, welches "zurückzuzahlen" ist, erfüllt die Forderung nach Dauerhaftigkeit der Finanzmittel nicht. Der Aspekt, "nur nachrangig haften", beruht auf einem gravierenden Missverständnis der Bundesbank. Verbindlichkeiten erfüllen keine Haftungsfunktion; nur das Vermögen eines Unternehmens haftet für seine Zahlungsverpflichtungen. Mit Verbindlichkeiten, die "nachrangig haften", sind Rückzahlungsverpflichtungen gemeint, die erst dann zu befriedigen sind, wenn die Ansprüche aller anderen, zuvor zu befriedigenden Gläubigem von dem Unternehmen erfüllt worden sind.
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"Zusatzvermögen" und nachrangige Verbindlichkeiten der Korrekturkategorie "Abzugsschulden" zuordnen. •
Mit der 6. KWG-Novelle von 1997 hat der Gesetzgeber durch die Einführung der "Drittrangmittel" und der "Dynamisierung" die Zusammensetzung des Deckungspotenzials in zweifacher Hinsicht erweitert.60) Die Drittrangmittel sind eine neue Komponente des Deckungspotenzials und bilden mit dem "haftenden Eigenkapital", bestehend aus Kem- und Ergänzungskapital, von nun an die Eigenmittel einer Bank. Die Drittrangmittel setzen sich aus dem Nettogewinn des Handelsbuches und den kurzfristigen nachrangigen Verbindlichkeiten zusammen. Der (fiktive) "Nettogewinn" ist der Gewinn, der bei einer Glattstellung aller Positionen des Handelsbuches entstünde, abzüglich aller Aufwendungen und Ausschüttungen sowie der bei einer Liquidation der Bank voraussichtlich entstehenden Verluste aus dem Anlagebuch. Die "kurzfristigen nachrangigen Verbindlichkeiten" unterscheiden sich von den nachrangigen Verbindlichkeiten, die bisher schon als Ergänzungskapital anerkannt wurden, lediglich durch die kürzere Ursprungslaufzeit von mindestens zwei statt fünf Jahren. Drittrangmittel können in einem begrenzten Ausmaß als Deckungspotenzial für Marktrisiken herangezogen werden (§ 10 Abs.2c KWG).
Nach der Dynamisierung richtet sich die Höhe, in der die Komponenten als Deckungspotenzial angerechnet werden, nicht mehr nach der letzten für den Schluss eines Geschäftsjahres festgestellten Bilanz. Stattdessen haben die Kreditinstitute zukünftig ihre aktuelle Eigenmittelsituation zu berücksichtigen.") Emittiert beispielsweise eine Bank Genussrechtsverbindlichkeiten, so gelten diese unmittelbar als Ergänzungskapital, ohne dass es wie bisher einer förmlichen Anerkennung durch die Bankenaufsicht bedarf. Von der Dynamisierung werden die Mehrzahl der Positionen des Kem- und Ergänzungskapitals sowie sämtliche Komponenten der Dritt-
60
Siehe DEUTSCHE BUNDESBANK (1998), S. 66-67.
61
Siehe BUNDESRATS-DRUCKSACHE 963/96, S. 75-76.
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Michael Bitz/Dirk Matzke rangmittel erfasst. Die Dynamisierung erfasst nicht den Reingewinn, eventuelle Zwischengewinne, die offenen Rücklagen und den Sonderposten für allgemeine Bankrisiken; diese Positionen sind weiterhin in der Höhe ihres Ausweises in der letzten festgestellten Bilanz zu berücksichtigen. Nach dem Prinzip der Dynamisierung können die "Eigenmittel" eines Kreditinstituts unterjährig schwanken, entsprechend dem tatsächlichen Zufluss (Einzahlungen z.B. im Rahmen einer ordentlichen Kapitalerhöhung oder durch die Emission nachrangiger Verbindlichkeiten) und Abfluss der Mittel (Entnahmen des Inhabers oder persönlich haftenden Gesellschafters, Erwerb eigener Aktien, Geschäftsanteile, in Wertpapieren verbriefter eigener Genussrechte oder nachrangiger Verbindlichkeiten usw.).
•
Das im Jahr 2007 eingeführte "modifizierte verfügbare Eigenkapital" stellt eine bestimmte Kategorie stiller Aktivreserven dar. 62) Es ist nach § 10 Abs. Id KWG diejenige Größe, die der Ermittlung des Deckungspotenzials nach der Solvabilitätsverordnung zugrunde zu legen ist. Banken dürfen zur Prüfung der Frage, ob ihr aufsichtsrechtliches Deckungspotenzial angemessen ist, bankeigene Messverfahren für Kreditausfallrisiken verwenden. Hierbei kann es vorkommen, dass die betreffende Bank für ihre ausstehenden Forderungen höhere Wertberichtigungen und Rückstellungen bei einer bestimmten Position gebildet hat, als nach dem sog. "erwarteten Verlustbetrag" notwendig ist. Somit hat sich ein Wertberichtigungsüberschuss gebildet, der nach Ansicht der Bankenaufsicht beim "modifizierten verfügbaren Eigenkapital" berücksichtigungsfähig ist (§§ 104-105 SolvV). Im Fall zu niedriger Wertberichtigungen oder Rückstellungen im Vergleich zu dem erwarteten Verlustbetrag sind Minderungen bei den Eigenmitteln vorzunehmen. Eine Bank erwartet beispielsweise, dass eine ihrer Kreditforderungen im Zeitpunkt ihres eventuellen Ausfalls 100 Geldeinheiten (GE) betrage. Außerdem prognostiziert die Bank für diesen Kredit eine Verlustquote von 80% und eine Ausfallwahrscheinlichkeit von 5%. In diesem Falle beträgt der erwartete Verlustbetrag 4 GE.
62
Siehe DEUTSCHE BUNDESBANK (2006), S. 72-73; 5cHuLTE-MAITLER (2007), S. 60-64.
Bankenaufsicht in Deutschland
2.5
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Marktrisiken, operationelle Risiken und Großkredite
2.5.1 Die Entwicklung der Vorschriften zur Begrenzung des Risikopotenzials aus Marktrisiken Der Handel mit derivativen Geschäften hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten stark zugenommen. Nach Angaben der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) hat sich der Nominalwert aller weltweit ausstehenden OTC-Kontrakte (ohne Kreditderivate) von 2000 bis 2005 von 95 Billionen U5Dollar auf 285 Billionen U5-Dollar verdreifacht. 63) Dabei werden unter derivativen Geschäften (oder kurz Derivaten) im Allgemeinen (vgl. § 1 Abs. 11 Satz 3 KWG) Termingeschäfte verstanden, deren Wert oder Zahlungsstrom von der (Markt-) Preisentwicklung eines bestimmten Basiswertes ("Underlying") abgeleitet wird (lat. Derivare = ableiten). Derivaten können verschiedene Basiswerte zugrunde liegen, beispielsweise festverzinsliche Wertpapiere, Aktien, Zinssätze (z.B. EURIBOR), Währungen (z.B. USDollar-Kurs in Euro), Rohwaren (z.B. Rohöl, Weizen oder Schweinebäuche), Indizes (z.B. DAX) oder auch Derivate selbst (z.B. Optionen, Futures oder Swaps). Derivative Geschäfte haben in Banken zwei unterschiedliche Einsatzbereiche. Zum einen werden sie im Kundengeschäft verkauft; hierbei tritt die Bank mal als Vertragspartner des Kunden selbst auf, mal lediglich als Händler. Zum anderen setzen Banken derivative Geschäfte im Eigengeschäft ein. Derivative Eigengeschäfte haben verschiedene Funktionen. Sie können einerseits zur Ertragssteigerung und andererseits zur Risikosteuerung abgeschlossen werden. Derivative Geschäfte weisen Merkmale von "schwebenden" oder "bilanzunwirksamen" Geschäften auf, weil sie zwar vertraglich vereinbart, aber beiderseitig noch nicht erfüllt sind und weil ihre Abbildung im Jahresabschluss sowohl nach HGB als auch nach lAS spezifischen Regelungen unterliegt. Dies
63
Siehe DEUTSCHE BUNDESBANK (2006a), S. 56.
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bedeutet, dass manche Zahlungsansprüche und Zahlungsverpflichtungen aus derivativen Geschäften im Jahresabschluss nicht abzubilden sind. 64) Derivative Positionen können ein einzelnes Geschäft, aber auch mehrere als "gleich" anzusehende Geschäfte umfassen. Als "gleich" sind einem derivativen Geschäft zugrunde liegende Wertpapiere anzusehen, wenn sie von demselben Emittenten ausgegeben wurden, identische Zins- und Tilgungszahlungen aufweisen oder im Falle der Insolvenz des Emittenten denselben Rang einnehmen. Als"weitgehend gleich" sind Positionen aus derivativen Geschäften anzusehen, wenn sie denselben Nominalwert haben und auf dieselbe Währung lauten sowie in der Höhe ihres Zinssatzes und ihrer Restlaufzeit ähnlich sind. Zu unterscheiden sind darüber hinaus offene und geschlossene Positionen; bei Letzteren heben sich gegenseitige Geschäfte auf. So führt z.B, die Verpflichtung, am ersten Handelstag des kommenden Quartals 5 Mio. USDollar zu liefern und am gleichen Tag 8 Mio. US-Dollar zu empfangen, zu einer "offenen" Aktivposition in US-Dollar. Derivate werden börslich oder außerbörslich abgeschlossen und gehandelt. Börsengehandelte Derivate (Kontrakte) sind in ihren Vertragselementen standardisiert. Die Vertragsbestandteile von außerbörslichen OTC-Geschäften (Over-the-Counter) werden zwischen Käufer und Verkäufer individuell vereinbart. Es lassen sich im Allgemeinen drei Grundtypen von Derivaten unterscheiden: •
Festgeschäfte (unbedingte Termingeschäfte) sind für beide Vertragspartner verbindliche Vereinbarungen, einen bestimmten Basiswert in der Zukunft zu liefern oder abzunehmen. Börsengehandelte Festgeschäfte werden Futures, außerbörsliche Forwards genannt. In der Regel werden Futures nicht durch Lieferung und Abnahme des Basiswertes erfüllt, sondern vor Fälligkeit durch fiktive Gegengeschäfte, d.h. vor Fälligkeit werden gekaufte Kontrakte durch Verkauf und verkaufte Kontrakte durch Kauf gleicher Kontrakte kompensiert. Eventuell verbleibende Unterschiede zwischen Kauf- und Verkaufskurs werden gewöhnlich durch Differenzzahlungen
64
Siehe z.B. HARlMANN-WENDELS / PFINGSTEN / WEBER (2007), S. 812-817.
Bankenaufsicht in Deutschland
347
ausgeglichen. Futures über Rohwaren werden Commodity-Futures genannt. •
Optionsgeschäfte sind bedingte Termingeschäfte, die für den Käufer das Recht begründen, eine bestimmte Menge eines bestimmten Basiswertes zu einem bei Vertragsabschluss festgelegten Preis (Basispreis) innerhalb eines festgelegten Zeitraums oder zu einem festen, in der Zukunft liegenden Termin zu kaufen (Call) oder zu verkaufen (Put). Der Käufer zahlt für dieses Recht bei Vertragsabschluss eine Prämie (Optionspreis). Übt der Käufer die Option aus, ist der Verkäufer (Stillhalter) verpflichtet, den Basiswert zum vereinbarten Basispreis zu liefern oder abzunehmen. Übt der Käufer die Option nicht aus, verfällt das Optionsrecht.
•
Swaps sind außerbörsliche Tauschgeschäfte zweier Vertragspartner, die den Austausch (to swap = tauschen) von Zahlungsströmen während einer frei vereinbarten Vertragslaufzeit betreffen. Die Partner tauschen Zahlungsverpflichtungen in verschiedenen Währungen (Währungsswap) oder Zinsverpflichtungen (Zinsswap), z.B. feste Zinszahlungen gegen variable.
Diese drei Grundtypen derivativer Geschäfte können beliebig miteinander kombiniert werden, z.B. Optionsgeschäfte auf Zinsswaps; sie werden dann als "exotische" oder "hybride Produkte" bezeichnet.f'l Als Risiken von derivativen Geschäften sind vor allem Marktrisiken und Kreditausfallrisiken zu nennen. Marktrisiken ergeben sich aufgrund (unvorteilhafter) Änderungen von Marktpreisen; diesen Risiken stehen bei günstiger Entwicklung der Marktpreise entsprechende Chancen gegenüber. Als derartige Marktpreise kommen je nach Basiswert z.B. Rohwarenpreise, Währungskurse, Aktienkurse oder Zinssätze in Frage. Das Kreditausfallrisiko bei Derivaten besteht darin, dass bei einer vorher geschlossenen Position durch den Ausfall des Kontrahenten eine offene Position entsteht. Diese kann bei veränderten Marktpreisen des zugrunde liegenden Basiswertes unter Umständen nur zu ungünstigeren als den bei Vertragsabschluss herrschenden Konditionen geschlossen werden. In der Regel ist bei außerbörslichen Derivaten die
65
Siehe DEUTSCHE BUNDESBANK (1993b), S. 48.
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Michael Bitz/Dirk Matzke
Höhe dieses Ausfallrisikos auf die Wiederbeschaffungskosten des Kontraktes am Markt begrenzt. Die Erfüllung börslicher Kontrakte wird im Allgemeinen von der jeweiligen Börse garantiert. Die Reaktion der Bankenaufsicht auf die Tatsache, dass Banken in zunehmendem Ausmaß derivative Geschäfte tätigen und die damit verbundenen Marktund Kreditausfallrisiken eingehen, lässt sich in folgenden Schritten aufzeigen: •
Der Zusammenbruch der Herstatt-Bank führte am 3. Mai 1976 zur Einführung von Grundsatz Ia: Danach musste eine Bank die Höhe der Differenz zwischen ihren Zahlungsansprüchen und ihren Zahlungsverpflichtungen für jede ausländische Währung, umgerechnet in Deutsche Mark, ermitteln. Die Ermittlung erfolgte unabhängig von der Fälligkeit der Zahlungen. Der Gesamtbetrag aller dieser sog. offenen Positionen durfte täglich bei Geschäftsschluss 30% des "haftenden Eigenkapitals" der Bank nicht überschreiten. Der Gesamtbetrag, der innerhalb eines Monats sowie innerhalb eines Halbjahres fällig wurde, durfte zudem täglich bei Geschäftsschluss 40% des "haftenden Eigenkapitals" der Bank nicht überschreiten.
•
Dieser Grundsatz Ia wurde am 16. [an, 1980 ergänzt, indem zusätzlich zu den offenen Positionen in ausländischer Währung auch solche in Gold, Silber und Platinmetallen einbezogen wurden.
•
Eine Neufassung der Grundsätze I und Ia erfolgte am 17. Mai 1990. In Grundsatz Ia wurden sämtliche Risiken, die sich in Folge einer Änderung von Marktpreisen ergaben, in umfassender Weise ermittelt und ebenfalls im Verhältnis zum Deckungspotenzial begrenzt. Neben Währungskursen und bestimmten Rohwarenpreisen wurden nun also auch Aktienkurse und Zinssätze erfasst.
•
Am 29. Dez. 1992 erfolgte eine erneute Novellierung von Grundsatz I und Ia. Weil mit der 4. KWG-Novelle von 1992 zum einen die Zusammensetzung des Deckungspotenzials bedeutend erweitert und zum anderen der Solvabilitätskoeffizient von 5,56% (= Kehrwert des 18fachen) auf 8% erhöht wurde, mussten die Grenzen für offene Positionen entsprechend abgesenkt
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werden. 66) Die neuen Obergrenzen für die einzelnen Marktpreisbereiche lauteten wie folgt: Devisenrisiken 21%, Zinstermin- und Zinsoptionsgeschäfte 14% und Termin- und Optionsgeschäfte mit sonstigen Preisrisiken 7%.
•
Die Änderung und Ergänzung von Grundsatz I vom 29. Okt. 1997 trat am 1. Okt. 1998 in Kraft und ersetzte die alten Grundsätze I und Ia, Nach den
Bestimmungen des neuen Grundsatzes I mussten die beaufsichtigten Banken und sonstigen Institute des finanziellen Sektors neben den Kreditausfallrisiken auch ihre Marktrisiken mit Eigenmitteln nach international harmonisierten Vorgaben unterlegen. Dies galt nun sowohl auf der Ebene des Einzelinstituts als erstmalig auch auf konsolidierter Basis.
2.5.2 Der Fall der Barings Bank im Jahre 1995 und die Berücksichtigung operationeller Risiken Am 26. Feb. 1995 kam es zum Zusammenbruch der Barings Bank, einer traditionellen britischen Investmentbank. Der Grund waren Kompetenzüberschreitungen des Wertpapierhändlers Nick Leeson, dessen Finanztransaktionen zu Verlusten in Höhe von einer Mrd. Pfund führten. Diese Verluste konnten nicht durch das Deckungspotenzial der Barings Bank aufgefangen werden. Die niederländische ING Group erwarb die Barings Bank für den symbolischen Preis von einem Pfund und führte Teile der Investmentgeschäfte unter der Marke ING Barings fort. Der Fall der Barings Bank gilt bis heute als Lehrbeispiel einer schlechten Ablauforganisation. Die mangelhafte Zusammenarbeit zwischen Marktbereich, Abwicklung und Risikomanagement begünstigte den Zusammenbruch der Barings Bank. Die Vorgehensweise von Nicholas "Nick" Leeson lässt sich wie folgt skizzieren: 67) Im Jahre 1992 wurde der als ehrgeizig und fleißig geltende Leeson zum
66
Siehe DEUTSCHE BUNDESBANK (1993), S. 56-57.
67
Siehe LEESON / WlllTHLEY (1999).
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Generalmanager der Niederlassung der damals renommierten Barings Bank in Singapur. Er wurde dort gleichzeitig Händler und Kontrolleur der eigenen Handelsgeschäfte. Das Management in London, das aus dem traditionellen Bankgeschäft stammte, erlaubte diese unübliche Konstruktion, weil es einen zusätzlichen Kontrolleur für unnötig hielt ("zu wenig zu tun und zu teuer"). Die Zuständigkeit der Niederlassung in Singapur beschränkte sich ausschließlich auf die Abwicklung von Kundenaufträgen und das angeblich "risikoarme" Arbitragegeschäft. Nick Leeson begann bereits 1993 unautorisiert zu spekulieren. Seine Verluste verbuchte er auf ein geheimes Konto, die (fiktiven) Gewinne erhielt die Bank. Aufgrund der permanent hohen Überschüsse stieg er bald zum Star der Händler auf. Seine Position innerhalb von Barings wurde unangreifbar. Nachfragen aus der Zentrale befriedigte er durch teilweise recht aufwändige Fälschungen von Briefen und Faxen, Computermanipulationen und Ausreden. Von kurzen Zwischenphasen abgesehen, verlor Leeson mit seinen Spekulationen von Anfang an Geld. Die Verluste auf dem verborgenen Konto schwollen von 2 Mio. Pfund Ende 1993 auf 23 Mio. Pfund Ende 1994 an. Leeson versuchte die aufgelaufenen Verluste durch immer waghalsigere Spekulationen auszugleichen. Im. Jahr 1995 erhöhte sich der Fehlbetrag auf etwa 400 Mio. Pfund. Leeson setzte schließlich alles auf eine Karte und versuchte durch äußerst risikoreiche Spekulationen das Ruder herumzureißen. Vergeblich, die Verluste stiegen innerhalb weniger Wochen dramatisch an, erreichten schließlich 825 Mio. Pfund und hatten wenig später den Zusammenbruch der Barings Bank zur Folge. 68)
68
Nick Leeson floh am 23. Feb. 1995. Nach mehreren Zwischenstationen wurde er am Frankfurter Flughafen verhaftet, am 23. Nov. an Singapur ausgeliefert und dort wenig später zu sechseinhalb Jahren Gefängnis wegen Urkundenfälschung, Untreue und Betrug verurteilt. Leeson wurde 1999 vorzeitig entlassen. Noch während seiner Haftzeit schrieb er seine Autobiographie, die in Deutschland unter dem Titel "Das MilliardenspieI" erschien. Das Buch wurde 1999 auch verfilmt; in Deutschland lief dieser Spielfilm unter dem Namen "High Speed Money", späterer deutscher Titel: "Das schnelle Geld - Die NickLeeson-Story".
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Der Fall der Barings Bank und ihres Händlers Nick Leeson ist ein Beispiel für eine Kategorie operationeller Risiken. Derartige operationelle Risiken lassen sich allgemein als Verlustrisiken definieren, die auf technisches oder menschliches Versagen, auf unangemessene interne Organisationsstrukturen oder auf externe Katastrophen zurückzuführen sind. Es sind jeweils nur die unmittelbaren Kosten, nicht aber mittelbare Ertragseinbußen in Folge des Eintretens operationeller Risiken zu berücksichtigen. Es lassen sich somit vier Kategorien operationeller Risiken unterscheiden: •
Der Kategorie interne Verfahren werden Verlustrisiken aus fehlerhaft konzipierten Geschäftsabläufen zugeordnet.
•
Die Kategorie Menschen umfasst z.B. Verlustrisiken, die auf Irrtum, Fahrlässigkeit oder Betrug von Mitarbeitern basieren.
•
Der Kategorie Systeme werden z.B. Verlustrisiken zugeordnet, die auf eine unzureichende Zugriffssicherheit der Datenbestände oder auf eine Anfälligkeit für Computerviren zurückzuführen sind.
•
Zu den externen Ereignissen zählen Verlustrisiken, die durch Naturkatastrophen, Terroranschläge, politische und militärische Ereignisse verursacht werden. Ein Beispiel für die Gefahren von Naturkatastrophen ist das ElbeHochwasser 2002, durch das beinahe die EDV-Zentrale einer Sparkasse überflutet worden wäre. Die potenziellen Verlustrisiken sind in solchen Fällen schwer abzuschätzen.
Diese Definition operationeller Risiken schließt Rechtsrisiken ein, beinhaltet aber nicht strategische Risiken oder Reputationsrisiken. Rechtsrisiken beinhalten u.
a,
die potenzielle Verpflichtung zur Zahlung von Bußgeldern, Geldstra-
fen oder auch (Straf-) Zahlungen, die sich aus aufsichtsrechtlichen Maßnahmen oder privatrechtlichen Vereinbarungen ergeben. Strategische Risiken einer Bank liegen in der Ausrichtung ihrer langfristigen Geschäftspolitik. Reputationsrisiken entstehen allgemein, wenn die Glaubwürdigkeit oder das Ansehen einer Bank in der Öffentlichkeit in Mitleidenschaft gezogen werden, z.B. weil öffentlich bekannt wird, dass diese Bank Geschäftsbeziehungen zu krimi-
352
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nellen Kunden unterhält oder weil ihre Geschäftsleiter oder ihre Geschäftspraktiken in einen schlechten Ruf geraten. Die Ereignisse, die operationelle Risiken beinhalten, lassen sich in Bezug auf ihre Häufigkeit und Schadenshöhe durch ein Spektrum beschreiben, dessen Endpunkte einerseits durch häufig eintretende Verlustereignisse mit tendenziell eher geringem Schadenspotential (z.B. Fehlbuchungen) gebildet werden und andererseits durch selten auftretende Verlustereignisse mit sehr hohen Schadenssummen, wie z.B. Terroranschläge, Naturkatastrophen oder Fälle des Kompetenzmissbrauchs. Die aufsichtsrechtliche Ermittlung operationeller Risiken lässt sich in zwei Schritten kennzeichnen: •
Zuerst wurde von Bundesbank und zuständiger Aufsichtbehörde lediglich erwartet, dass Banken für operationelle Risiken im Durchschnitt 12% ihres jeweiligen Deckungspotenzials "reservieren".
•
Eine explizite Ermittlung operationeller Risiken schlug der Baseler Ausschuss erstmals in seinem Regelwerk "Überarbeitete Rahmenvereinbarung" ("Basel II") vor, welches am 26. Juni 2004 verabschiedet wurde. 69) Diese Regelungen wurden in den §§ 269-293 der Solvabilitätsverordnung in deutsches Recht umgesetzt.
Zur Ermittlung des notwendigen Deckungspotenzials für operationelle Risiken sind in der Solvabilitätsverordnung drei alternative Verfahren zugelassen. Sie reichen von leicht anwendbaren, dafür aber pauschalen und ungenauen Methoden bis zu solchen, die das operationelle Risiko eines Instituts individuell und "genauer" ermitteln, d.h. "risikosensitiv" sind.
69
Siehe Baseler Ausschuss für Bankenaufsicht (2004) und Basel Cornrnittee on Banking Supervision (2005).
Bankenaufsicht in Deutschland
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2.5.3 Die Entwicklung der Vorschriften zu Begrenzung des Risikopotenzials aus Großkrediten Wie in Abschnitt 2.2.1 geschildert, führte der Konkurs des Textilkonzerns "Nordwolle" in der Bankenkrise 1931 zum Zusammenbruch der Darmstädter und Nationalbank ("Danatbank"). Dies zeigt beispielhaft, dass der Ausfall eines Großkredits mit besonderen Risiken für eine Bank verbunden sein kann. Die Deutsche Bundesbank stellte 1976 fest:70 ) "Es ist erwiesen, dass die weit überwiegende Zahl der Bankinsolvenzen seit 1962 im Zusammenhang mit uneinbringlich gewordenen Großkrediten stand." Aus diesem Grunde wurden bereits im Reichsgesetz über das Kreditwesen von 1934 und schließlich auch im KWG von 1962 spezielle Großkreditvorschriften eingeführt.
Ziel von Großkreditvorschriften ist es zu vermeiden, dass die Kreditvergaben an einen einzelnen Schuldner oder an eine kleine Gruppe von Schuldnern ein solches Ausmaß annehmen, dass der Ausfall eines oder einiger weniger Schuldner die Existenz der Bank und damit die Sicherheit der gesamten Bankeinlagen gefährden kann?!) Die Großkreditvorschriften setzen dem Ziel der Regelung entsprechend bei der maximal möglichen Vedustgröße sämtlicher an ein und denselben Geschäftspartner vergebenen "Kredite" an. Hierbei ist der Kreditbegriff weit zu fassen und sollte grundsätzlich alle Ansprüche einer Bank an einen Schuldner umfassen, d.h. neben Krediten auch Ansprüche aus Anleihen und Aktien sowie aus derivativen Geschäften, Bürgschaften und Garantien. Auch der Kreditnehmerbegriff ist weit zu fassen und sollte sich auf die Risikoeinheit von juristischen und natürlichen Personen beziehen, z.B. sollten Kredite an Mutter- und Tochterunternehmen wie Kredite an einen Kreditnehmer behandelt werden; das gleiche gilt für Kredite an eine Personenhandelsgesellschaft und deren persönlich haftende Gesellschafter. Im Einzelnen wird der Begriff des Kredits und des Kreditnehmers in § 19 Abs. 1 bzw. Abs. 2 KWG geregelt. Auf die geschichtliche Entwicklung dieser beiden
70
DEUTSCHE BUNDESBANK (1976), S. 19.
71
Siehe HARTMANN-WENDELS / PFINGSTEN / WEBER (2007), S. 567.
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Begriffsdefinitionen, die tendenziell immer weiter gefasst wurden/2) wird in dieser Untersuchung nicht eingegangen. Die Grundkonzeption von Großkreditvorschriften läuft darauf hinaus, dass Banken Großkredite nur in einem Ausmaß vergeben dürfen, das durch eine aufsichtsrechtlich als "angemessen" erachtete Relation zu ihrem Deckungspotenzial begrenzt wird. Zu diesem Zweck muss ein Großkredit zuerst definiert werden. Hierbei kann man entweder eine absolute Betragsgröße oder eine relative Bezugsgröße vorgeben. Als relative Bezugsgröße kommen beispielsweise das Deckungspotenzial der Bank oder ihr gesamtes Kreditvolumen in Betracht. Hiervon ausgehend könnte man das Volumen einiger, besonders großer oder aller Großkredite zusammen in Relation zum Deckungspotenzial der Bank begrenzen. Bei dieser Grundkonzeption ist auf zwei kritische Aspekte hinzuweisen: •
Dem bei gegebenem Deckungspotenzial mit steigender Kreditsumme sukzessive wachsenden Risikopotenzial wird durch die Großkreditvorschriften nicht Rechnung getragen. Hier dürfte es sachgerechter sein, wenn man ein mit größer werdendem Kreditbetrag zunehmendes Deckungspotenzial aufsichtsrechtlich für erforderlich erklärt. Man könnte sogar wegen der bei größer werdendem Kreditbetrag steigenden Insolvenzgefahr für die Bank erwägen, ein progressiv zunehmendes Deckungspotenzial zu fordern.
•
Die Großkreditvorschriften sind eine reine Risikozerfällungsregel. Es wird kein Unterschied gemacht, ob die Großengagements einer Bank ein und denselben oder vollkommen unterschiedlichen Ausfallursachen unterliegen. Eine Risikozerfällung, d.h. der Übergang von einem Großengagement zu einer Mehrzahl kleinerer Engagements, führt nur dann in effizienter Weise zu einem Risikoabbau für die Bank, wenn damit zugleich ein Übergang zu Einzelrisiken verbunden ist, die voneinander unabhängigen Eintrittsursachen unterliegen. Eine derartige Diversifizierungsregel könnte etwa an die Korrelation zwischen einzelnen Engagements anknüpfen.
Die Großkreditvorschriften in § 13 KWG von 1962 umfassten folgende Regeln: n Siehe beispielsweise DEUTSCHE BUNDESBANK (1985), S. 41-42.
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Als Großkredit wurde die Verschuldung eines Kreditnehmers definiert, die 15% des Deckungspotenzials nach § 10 KWG erreichte oder überstieg. Hierbei waren sämtliche Geschäfte mit diesem Geschäftspartner zusammenzufassen. Von dieser Definition aus wurden zwei Restriktionen festgelegt: (1) Großkrediteinzelobergrenze: Ein einzelner Großkredit sollte 100% des Deckungspotenzials der Bank nicht überschreiten. Ein Kredit unterhalb der Bagatellgrenze von 20.000 DM galt nicht als Großkredit. Eventualansprüche, wie Bürgschaften und Garantien, waren nur zur Hälfte anzusetzen. (2) Großkreditgesamtobergrenze: Alle Großkredite zusammen durften nicht mehr als die Hälfte des Kreditvolumens der Bank ausmachen.
•
Eine Überschreitung der Höchstgrenze für einen einzelnen Kredit oder für alle Großkredite zusammen war mit Zustimmung der Aufsichtsbehörde grundsätzlich zulässig. Die Zustimmung war im Voraus einzuholen; außerdem war eine Überschreitung unverzüglich der Aufsichtsbehörde anzuzeigen. Verletzte eine Bank diese Meldevorschriften, so war das Kreditgeschäft trotzdem wirksam. Großkredite waren der Deutschen Bundesbank unverzüglich anzuzeigen. Die Bundesbank leitete diese Anzeigen mit ihrer Stellungnahme im Regelfall an die Aufsichtsbehörde weiter. Darüber hinaus galten für die Beschlussfassung über die Gewährung von Großkrediten bestimmte aufsichtsrechtliche Verfahrensvorschriften, deren Intention es heute noch ist, besondere prozedurale Regeln vorzugeben, um die Banken zu einem hinlänglich fundierten Entscheidungsprozess anzuhalten und damit der Gefahr von Fehlentscheidungen vorzubeugen.
Im Laufe der Zeit wurden die Großkreditvorschriften mehrfach verändert. Im Einzelnen lassen sich chronologisch folgende Schritte aufzeigen: •
Im Rahmen der 2. KWG-Novelle von 1976, die auch als "Sofortnovelle" bezeichnet wurde, wurden die Großkreditvorschriften verschärft: 73) Die Großkreditdefinition wurde mit 15% beibehalten. Allerdings müssen von
73
Siehe DEUTSCHE BUNDESBANK (1976), S. 18-20.
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nun an Bürgschaften und Garantien in voller Höhe einbezogen werden. Die Großkrediteinzelobergrenze wurde von 100% auf 75% des Deckungspotenzials der Bank abgesenkt; außerdem wurde die "Sollvorschrift" in eine "Mussvorschrift" umgewandelt. Die Verletzung der Mussvorschrift führt nun grundsätzlich zu aufsichtsrechtlichen Konsequenzen, während die bisherige Sollvorschrift zunächst nur einen Dialog zwischen der Aufsichtsbehörde und der Bank auslöste. Die Bagatellgrenze wurde von 20.000 DM auf 50.000 DM erhöht. Außerdem wurde die Bezugsgröße für die Großkreditgesamtobergrenze verändert: Alle Großkredite durften zusammen 800% des Deckungspotenzials der Bank nicht übersteigen. Zusätzlich wurde eine Großkreditteilobergrenze eingefügt: Die fünf größten Großkredite durften zusammen 300% des Deckungspotenzials der Bank nicht übersteigen. •
Im Rahmen der 3. KWG-Novelle von 1984 wurde die Konsolidierung auch für Großkredite eingeführt. Die Großkreditdefinition wurde mit 15% beibehalten, die Großkrediteinzelobergrenze aber von 75% auf 50% des Deckungspotenzials der Bank abgesenkt, aber die Bagatellgrenze von 50.000 DM beibehalten. Die Großkreditteilobergrenze wurde ersatzlos gestrichen.
•
Im Rahmen der 5. KWG-Novelle von 1995 wurde die Großkreditdefinition
auf 10% des Deckungspotenzials der Bank gesenkt und die Bagatellgrenze ersatzlos gestrichen. Die Großkrediteinzelobergrenze wurde erneut gesenkt, und zwar von 50% auf 25% und sogar auf 20% des Deckungspotenzials der Bank für nicht konsolidierte Mutter-, Tochter-, Enkel- oder Schwesterunternehmen; bei derart verbundenen Unternehmen wurde offenbar ein größeres Risikopotenzial vermutet. •
Im Rahmen der 6. KWG-Novelle 1997 wurden die verschiedenen Restrik-
tionen beibehalten. Es wurde jedoch die Kapitaladäquanz-Richtlinie umgesetzt: Die Großkreditvorschriften unterscheiden sich nun danach, ob die Bank in größerem Ausmaß im Eigenhandel mit Wertpapieren und Finanzderivaten tätig ist und damit als Handelsbuchinstitut anzusehen ist oder als Nichthandelsbuchinstitut gilt.
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Außerdem wurde bestimmt, dass eine Überschreitung der Großkrediteinzelobergrenze und der Großkreditgesamtobergrenze in voller Höhe mit "haftendem Eigenkapital" abzudecken sei. Diese Position stand dann nicht mehr als Deckungspotenzial für Kreditausfall- und Marktrisiken im Rahmen von Grundsatz I zur Verfügung. In Fällen, in denen eine Bank mehrere Restriktionen überschritt, war jeweils nur für den höheren Überschreitungsbetrag Deckungspotenzial vorzuhalten. Die Regelung des Anzeigeverfahrens erfolgte nun detailliert im Rahmen der Großkredit- und Millionenkreditverordnung, die seit 1998 statt einer "unverzüglichen" Anzeige zur Entlastung der Banken eine quartalsweise Sammelanzeige vorsah.
3.
Ausblick
Die zurückliegenden Ausführungen haben gezeigt, dass bankenaufsichtsrechtliche Vorschriften überwiegend, wenn auch nicht ausschließlich, in Reaktion auf eingetretene Missstände entwickelt worden sind. Eine Fortsetzung dieser Tendenz zeichnet sich naheliegender Weise auch im Zusammenhang mit der "großen" Finanzkrise ab, die mit dem Zusammenbruch der Lehmann-Bank im Herbst des Jahres 2008 ihren spektakulären Höhepunkt erreichte. In der darauf einsetzenden Diskussion um eine stärkere Regulierung der Finanzmärkte insgesamt sowie der Banken insbesondere ist allerdings eine neue Qualität zu verzeichnen: Bis in die ersten Jahre dieses Jahrhunderts hinein wurden entsprechende Maßnahmen ganz überwiegend in Expertenkreisen vorbereitet und ohne nennenswerte öffentliche Beachtung umgesetzt. Seit der jüngsten Finanzkrise werden demgegenüber die unterschiedlichsten Vorschläge zur Regulation der Finanzmärkte auch von Personen, insbesondere aus Politik und Publizistik, vorgestellt, die bislang noch nicht gerade als Bank- und Finanzexperten in Erscheinung getreten sind. Entsprechend fragwürdig, wenn auch publikumswirksam, fallen etliche der präsentierten Maßnahmenkataloge dann auch aus. So wurde in einer sogenannten"Talkrunde" etwa vorgeschlagen, Devisenspekulationen gegen eine Währung drastisch ein-
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zuschränken, also Geschäfte, bei denen - etwa in Form von Terminverkäufen darauf gesetzt wird, an fallenden Devisenkursen zu profitieren. Spekulationen
zugunsten einer Währung, also Versuche, aus einem Kursanstieg der fraglichen Währung Gewinne zu ziehen, sollten demgegenüber frei von Restriktionen möglich sein. Dieser - in der fraglichen Femsehrunde mit zustimmendem Kopfnicken einer etwas hektischen Dame und einiger würdiger, sich nichtsdestoweniger ständig wechselseitig ins Wort fallender Herren bedachte - Vorschlag, den "Märkten" nun endlich einmal ihre Grenzen aufzuzeigen, weist allerdings einen kleinen Schönheitsfehler auf: Im Devisengeschäft, also dem Handel von Währungen untereinander, stellt eine in diesem Sinne verstandene Spekulation gegen eine Währung zwangsläufig zugleich auch immer eine Spekulation zugunsten der dagegen getauschten Währung dar und umgekehrt. Die mit selbstzufriedenem Stolz vorgeschlagene Regulierungsmaßnahme würde also völlig ins Leere gehen. Ähnlich Kluges ließ sich auch zur Tätigkeit der Ratingagenturen vernehmen. Zunächst wurde gefordert, sie einer staatlichen Aufsicht zu unterwerfen, um zu verhindern, dass die Agenturen - wie in den Ursprüngen der Finanzkrise in der Tat geschehen - zu lange unzutreffende Bonitätssignale senden. Als sie dann zwei Jahre später im Zuge der sogenannten "Griechenlandkrise", einer Randepisode der ausklingenden "großen" Finanzkrise, genau das taten, was zuvor von ihnen verlangt worden war, indem sie - völlig korrekt - griechische Staatsanleihen in eine schlechtere Ratingklasse hinabstuften und "die Märkte" darauf - noch schlimmer! - gar mit weiteren Kursrückgängen bei den ohnehin im Fallen begriffenen griechischen Staatsanleihen reagierten, war dies wiederum Anlass zu der Forderung nach einer staatlichen Kontrolle der Ratingagenturen, jetzt allerdings wohl mit dem entgegengesetzten Ziel, sie davon abzuhalten, zutreffende Bonitätssignale zu senden. Die Liste ähnlich dubioser Vorschläge ließe sich beliebig fortsetzen. Es bleibt abzuwarten, ob es dennoch gelingt, aus der "großen" Finanzkrise so wie bei vorangegangenen Krisen auch - vernünftige Lehren für die weitere Entwicklung des Bankenaufsichtsrechts zu ziehen. Die in Deutschland bislang
Bankenaufsicht in Deutschland
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schon umgesetzten und in weiterer Vorbereitung befindlichen Maßnahmen'") lassen ein abschließendes Urteil noch nicht zu.
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Über die Autoren:
Univ.-Professor Dr. Michael Bitz studierte an den Universitäten in Marburg, Berlin und Saarbrücken Betriebswirtschaftslehre und Mathematik. Nach dem Examen zum Diplom-Kaufmann wurde er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Bank- und Börsenwesen an der Universität des Saarlandes. Dort folgten die Promotion zum Dr. rer. oec., die Ernennung zum Assistenzprofessor und die Habilitation. 1976 übernahm Michael Bitz als ordentlicher Professor den Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Bank- und Finanzwirtschaft, an der FernUniversität in Hagen. Er hat neben seinen Aufgaben in Lehre und Forschung verschiedene Ämter in der akademischen Selbstverwaltung wahrgenommen, u.a, als Prorektor, Vorsitzender des Senats und Dekan. Seit seiner Berufung an die FernUniversität hat Michael Bitz Rufe an die Universitäten Hohenheim, Gießen, Hamburg, Erlangen-Nümberg, Linz sowie Köln abgelehnt.
Dirk Matzke war langjähriger Mitarbeiter am Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Bank- und Finanzwirtschaft, an der FernUniversität in Hagen; er ist während der Mitarbeit an diesem Beitrag im Februar 2010 verstorben. Nennenswerte Teile des zweiten Abschnitts gehen auf seine Vorarbeitenzurück.
Ethische Investmentfonds: Ein Modeprodukt? Stephan Schöning
1.
Einleitung
Seit einigen Jahren verstärkt sich die Einbeziehung sozialer und ökologischer Aspekte im Finanzsektor. Nachdem ethische und ökologische Überlegungen unter dem Begriff Socially Responsible Investments (SR!) schon seit längerer Zeit auf den angelsächsischen Finanzmärkten an Einfluss gewonnen haben, sprang diese Tendenz in den 1990er Jahren auch auf die deutschsprachigen Märkte über. Neu gegründete Finanzdienstleister wie die Ökobank Frankfurt eG, die GLS Gemeinschaftsbank eG oder die Umweltbank AG, die ihr Tagesgeschäft nicht nur nach finanziellen, sondern insbesondere auch nach ideellen Kriterien steuerten, sind ebenso Beleg für diese Entwicklung wie der wachsende Markt an ethisch-ökologischen Direktanlagen und Investmentfonds.' Mittlerweile gehören diese Produkte zu den gängigen Anlageformen und sind nicht mehr als Nischenprodukte zu bezeichnen. So sind in den USA bereits 12,2 % des professionell verwalteten Vermögens im weitesten Sinn in nachhaltigen Anlageformen investiert.2 Allerdings besteht keine einheitliche Begrifflichkeit, sodass derartige Ergebnisse mit Vorbehalt zu betrachten sind. Zudem raten auch einige Finanzexperten aufgrund der hohen Volatilität der Renditen von einer Anlage in ethische Investments ab und bezeichnen diese als "Modeproduktv.'
I
Vgl, Haßler/Bammert (2003), S. 113, vgl. auch GabrieVSchlagnitweit (2009) und Scherhorn (2008).
2
Vgl. Social Invesbnent Forum (2010), S. l.
3
Vgl. Peter McGahan (Woddwide Financial Planning) in Scott (2008), S. 3.
T. Nguyen, M ensch und Markt, DOI 10.1007/978-3-8349-6728-2_15, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
Stephan Schöning
374
Im Rahmen dieses Beitrags werden die vier wesentlichen Ausprägungsformen ethischer und ökologischer Investmentfonds - Ethikfonds, Umwelttechnologiefonds, Öko-Effizienz-Fonds und Sustainable Development Funds - vorgestellt. Im Zentrum dieser Darstellung stehen die geschichtliche Entwicklung und die grundlegenden Anlagestrategien dieser Fondsarten. Darauf aufbauend wird die aktuelle Marktsituation insbesondere des deutschsprachigen Marktes fiir prinzipiengeleitete Investmentfonds dargestellt. Unter Zuhilfenahme dieser Daten werden die Problemfelder und Chancen, die dieser relativ neue Markt bietet, analysiert, wobei auch auf die Entwicklungen im Zuge der Finanzmarktkrise eingegangen wird.
2.
Grundlagen zu ethisch-ökologischen Geldanlagen
2.1
Möglichkeiten einer ethisch-ökologischen Geldanlage
Grundsätzlich steht der Investor bei Geldanlagen vor der Entscheidung, entsprechend seiner persönlichen Präferenzen das Anlageinstrument auszuwählen. Traditionell existiert dabei ein als "magisches Dreieck" bezeichneter Zielkonflikt. Sobald ethische und ökologische Aspekte einfließen, erweitert sich die Situation um einen weiteren Aspekt, sodass nunmehr von einem "magischen Viereck" gesprochen werden kann (vgL Abb. 1). Grundsätzlich bestehen vielfältige Möglichkeiten bei der Geldanlage ethische oder ökologische Aspekte einfließen zu lassen.s Die Berücksichtigung ethischer Aspekte ist damit verknüpft, Anlagekriterien zu definieren, durch die gesellschaftlich als positiv angesehene Zustände bzw. Entwicklungen abgebildet werden (Definition von Positivmerkmalen). Alternativ kann versucht werden, durch die Anlagekriterien diejenigen Anlageformen auszuschließen, die mit als negativ angesehenen Zuständen/Entwicklungen verbunden sind (Definition von Negativmerkmalen). Beide Ansätze sind, wenn auch mit unterschiedlicher Intensität, mit dem Problem verbunden, dass die gesellschaftlich anzustrebenden bzw. einzudämmenden Zustän• Grundlegend hierzu Beck/Fischer (2007), Gabriel (2007) und Bonnet/Ulshöfer (2009), vgl. auch bereits Pfeiffer (1995).
Ethische Investmentfonds: Ein Modeprodukt?
375
de je nach individueller Prägung (Wertesystem, Religion etc.) unterschiedlich ausfallen können und es daher kaum möglich ist, eine allgemein akzeptierte Negativliste aufzustellen. Die Aufstellung einer Positivliste erfordert darüber hinaus die Vision eines anzustrebenden Idealzustands der Gesellschaft sowie der Mittel zur Erreichung dieses Zustands,"
Risiko
Nachhaltigkeit
Rendite
Abbildung 1: Magisches Viereck
In Bezug auf ökologische Aspekte ist es auf den ersten Blick leichter, die infrage kommenden Anlageobjekte zu identifizieren. Es handelt sich um Unternehmen, deren Schwerpunkt im Umweltsektor liegt oder die in besonderem Maße umweltschonende Technologien einsetzen. Beispiele hierfür sind die Bereiche Energieeinsparung, ökologische Energiegewinnung, Produktion und Vertrieb von Biokraftstoffen, Recycling oder auch die umweltschonende Produktion herkömmlicher Produkte. Bei näherer Betrachtung offenbaren sich allerdings mannigfaltige Schwierigkeiten bei der Eingrenzung der Anlageobjekte, da es sich vielfach nicht um absolute ökologische Vorteile handelt, son-
5
Vgl. Wemer (2009), S. 46 ff. Zusätzlich ist noch der vergleichende "Best-in-Oass"-Ansatz möglich, siehe Abschnitt 3.4. Hierzu und zu weiteren Varianten vgl. Figeac (2007),S. 23 ff.
376
Stephan Schöning
dem lediglich um relative Vorteile, also im Vergleich zu stärker oder andersartig umweltbelastenden Technologien,"
2.2
Wesensmerkmale und Entwicklung ethisch-ökologischer Investmentfonds
Prägendes Merkmal von Investmentfonds ist, dass Kapital von Anlegern eingeworben, aus diesem ein Sondervermögen gebildet und dieses dann gemeinsam in einem Paket verschiedener Wertpapiere und anderer Vermögensobjekte angelegt wird? Der dadurch entstehende Diversifikationseffekt führt zu einer Risikoreduzierung im Vergleich zum Kauf eines einzelnen Wertpapiers. Generell orientieren sich Anleger bei der Fondsauswahl an der Maximierung der erzielbaren Rendite um das damit verbundene Investitionsrisiko zu optimieren," Die Frage nach der konkreten Mittelverwendung, also der Asset Allokation durch den Fondsmanager ist dabei im Regelfall zweitrangig, sofern
ihr überhaupt Beachtung bei der Auswahl des geeigneten Portefeuilles geschenkt wird. Vielfach erfolgt die Auswahl allein auf Basis der Ausrichtung des Fonds, der in der Vergangenheit erzielten Performance sowie der prognostizierten Renditen. Die Ausrichtung der Fonds ist dabei in den jeweiligen Anlagerichtlinien festgelegt, in denen bestimmt wird, welche Klassen von Anlageobjekten grundsätzlich ins Portefeuille aufgenommen werden dürfen," Indes hat der Anleger üblicherweise keinen Einblick, in welche Einzelwerte konkret investiert wird. Diese komplexen und anonymisierten Mechanismen der Asset Allokation führen dazu, dass der einzelne Anleger kaum verhindern kann, dass sein Kapital unter Umständen in Branchen und Einzelunternehmen in-
6
Prägnante Beispiele unter vielen anderen sind die Abwägung zwischen Recycling oder Vermeidung von Aluminiumgetränkedosen oder die Diskussion um Mehrwegverpackungen, die bei fehlender Standardisierung zu erhöhten Umweltbelastungen durch weite Transportwegen führen.
7
Vgl. Werner (2009),S. 111.
S
Zu Grundlagen der Fondsauswahl vgl. z.B. Wittrock (2003),S. 3 ff.
9
Zu den verschiedenen Anlageobjekten zählen neben Aktien auch festverzinsliche Wertpapiere (Renten) und andere Wertpapiere, vgl. Werner (2009),S. 121 ff.
Ethische Investmentfonds: Ein Modeprodukt?
377
vestiert, die er als ethisch und moralisch verwerflich bzw. als ökologisch bedenklich ansieht. Die Grundidee der ethischen und ökologischen Investmentfonds hat ihre Wurzeln im angelsächsischen Raum und dort in den religiösen Überzeugungen der Quäker und Methodisten zu Beginn des 20. [ahrhunderts.P Der Glaube verbot diesen Glaubensgemeinschaften, in Bereiche zu investieren, die gegen ihre Werte, den Frieden und die Menschenrechte verstoßen. Um trotz der religiösen Vorbehalte am Aktienmarkt teilhaben zu können, wählten die Gruppen eine pragmatische Kompromisslösung: Diejenigen Aktien, die gegen die Regeln der Glaubensgemeinschaften verstießen, wurden als Investitionsobjekt ausgeschlossen." In Kontinentaleuropa sind derartige selektive Überlegungen erst in den 1970er Jahre und damit wesentlich später in das Anlegerverhalten eingeflossen. Auslöser waren nicht so sehr religiöse Überzeugungen, sondern vielmehr das Gedankengut der Umweltbewegung. "Nie hat es in Deutschland eine Erbengeneration gegeben, die über derartige finanzielle Mittel verfügt. (...) (Das Vermögen) wird bei vielen nicht für das Lebensnotwendige gebraucht. Also kann es dazu dienen, zu gestalten."12 Diese neue Art der Gestaltung erfolgt auch in Form von ethisch und ökologisch unbedenklichen Investments. Als Motiv dient entweder das "gute Gewissen" oder gar die Überzeugung, die Wirtschaftswelt über die Steuerung der Geldströme positiv beeinflussen zu können.P In der Folgezeit entwickelten sich ethische und ökologische Investmentfonds zu attraktiven Anlagealternativen, zumal wenn sich mit ihnen ähnlich hohe Renditen wie mit den herkömmlichen Fonds erwirtschaften ließen. In Bezug auf die mit dem Erwerb "ethischer" oder "grüner" Wertpapiere verbundene Hoffnung, direkt eine positive Beeinflussung der Wirtschaft herbeizuführen, ist anzumerken, dass bei gehandelten Aktien kein direkter Wirkungszusammenhang zwischen dem Käufer und den jeweiligen Unternehmen
10
Vgl. Karius (2000), S. 40 ff.
11
Vgl. Karius (2000), S. 41.
12
Weber (2000a), S. 12.
13
Vgl. Jäger/Waxenberg (1998), S. 60.
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besteht. Schließlich kommt der Erlös der Aktie dem Verkäufer zugute, nicht jedoch dem Unternehmen." Dennoch ist davon auszugehen, dass mit dem Erwerb von Ethik- oder Ökofonds eine Reihe indirekter positiver Effekte für die betroffenen Unternehmen verknüpft sind: Eine erhöhte Nachfrage und damit ein steigender Kurs der Aktie erleichtern die Durchführung von Kapitalerhöhungen und erhöhen tendenziell die Unternehmensreputation, was sich in Form eines Spill-over-Effekts wiederum vorteilhaft auf ähnliche Unternehmen auswirken dürfte, die in Zukunft in den Markt eintreten werden. Steigende Aktienkurse demonstrieren zudem die Stärke eines Unternehmens und begünstigen die Aufnahme von zusätzlichem Fremdkapital etwa in Form von Krediten." Dass "zukunftsfähige" Unternehmen aus der Eigendynamik des Aktienmarktes großen Nutzen ziehen können, zeigten in der Vergangenheit einige deutsche Unternehmen der alternativen Energieerzeugung: So war beispielsweise die Aktie des 1995 gegründeten Unternehmens Plambeck Neue Energien AG (seit 9/2009 in PNE WIND AG umbenannt), das Windparks errichtet und betreibt, bei der Emission mehrfach überzeichnet und konnte eine hervorragende Performance vorweisen, obwohl das angebotene Produkt zunächst nicht wettbewerbsfähig war und nur vom Idealismus der Kunden getragen wurde. Auch die Preise für Solarstrom betragen noch immer ein Vielfaches von dem, was herkömmliche Energieträger am Markt kosten. Die prognostizierten Zukunftschancen der Photovoltaik versprechen dem Anleger jedoch, dass ein Kauf derartiger Aktien eine Option auf die Teilhabe am zukünftigen Erfolg der Unternehmen sein wird."
14
Vgl. Delaber (1999), S. 73-76. Eine Ausnahme stellt der Kauf von Neuemissionen dar, da hier dem betroffenen Unternehmen das eingesetzte Geld direkt als Kapital zur Verfügung gestellt wird.
15
Vgl. Weber (2000b), S. 107 f.
16
Vgl. Delabar (1999),S. 76.
Ethische Investmentfonds: Ein Modeprodukt?
3.
379
Ausprägungsformen ethisch-ökologischer Investmentfonds
Grundsätzlich werden vier Grundarten ethischer und ökologischer Investmentfonds unterschieden: Ethikfonds, Umwelttechnologiefonds, Öko-Effizienz-Fonds und Sustainable Development Fonds. Mittlerweile stellt auch die Einteilung in Ethische Fonds i.e.S., Nachhaltigkeitsfonds, ökologische Fonds und Klimawandel-Ponds'? eine gängige Einteilung dar (vgl. Abb. 2).18 Die Übergänge zwischen den Untergruppen sind indes fließend, sodass ein Fonds durchaus mehreren Kategorien zugeordnet sein kann. Ethische Fonds i.w.S. Kategorie
Ethische Fonds Nachhaltigkeitsi.e.S. fonds
Ökologische Fonds
KlimawandelFonds
Andere gän- Ethikfonds gige Bezeichnungen
Sustainable Fonds, Ökofonds, SustainabilityUmweltfonds Fonds
Klimafonds (oftmals tauchen Begriffe wie Climate Change, Warming, Klimawandelim Fondsnamen auf)
Merkmale
Honorierung von Verhaltensweisen, durch die auch spätere Generationen noch eine lebenswerte Welt vorfinden (z.B. durch ausschließliche Verwendung emeuerbarer Ressourcen oder HersteIlung emeuerbarer Energien).
In der Regel als
Berücksichtigung ökologischer und/oder sozialer Standards
Oftmals als ein Teilbereich der Ethikfonds bzw. Nachhaltigkeitsfonds angesehen. Vorrangige Berücksichtigung ökologischer Ziele, also z.B. Umweltschutz.
Teilbereich der Ökofonds anzusehen, allerdings ist klare Abgrenzung als sehr schwierig anzusehen, da es sehr unterschiedliche Ausgestaltungen der Fonds gibt.
Abbildung 2: Grundtypen ethischer Investmentfonds 17
Vgl. speziell zu dieser Gruppe die Beiträge in Kosch (2008).
18
Vgl. auch Faust/Scholz (2008). SchoenheitiGrazek (2003), S. 130, propagieren eine Dreiteilung in ethisch-orientierte, Ökofonds sowie Nachhaltigkeitsfonds.
380
Stephan Schöning
Im Rahmen dieses Kapitels wird auf die Entstehungsgeschichte und die grundlegenden Anlagestrategien dieser Fondsarten eingegangen, um dann in den nachfolgenden Kapiteln die aktuelle Marktsituation und typische mit ethischen und ökologischen Investmentfonds zusammenhängende Problemfelder darzustellen.
3.1
Ethische Fonds
3.1.1 Ethische Fonds in den USA Ethische Investmentfonds'? sind die ältesten der hier dargestellten Fondsvarianten. Ihre Ursprünge liegen in den 1920er Jahren in den USA. Angesichts der damals drastisch steigenden Aktienkurse entschlossen sich Glaubensgemeinschaften wie die Methodisten und die Quäker, ihre negative Haltung gegenüber der Börse aufzugeben'? und am Börsenboom teilzuhaben. Aufgrund ihres Glaubens war es den Kirchenmitgliedern jedoch nicht gestattet, in die Alkoholbranche, in Spielcasinos oder in die Waffenindustrie zu investieren. Um dies zu verhindern, wurden Aktien dieser Branchen öffentlich als "Sin Stocks" gebranntmarkt." Somit konnten die Glaubensbrüder mit Hilfe von entsprechend zusammengesetzten Fonds spekulieren, ohne ihr gutes Gewissen zu belasten. Im Verlaufe der politischen Entwicklungen der 1970er Jahre wurden ethische Investmentfonds erstmals einer breiteren Masse zugänglich. Zusätzlich zu religiös geprägten Fonds kamen sozialthemenorientierte Fonds aufp Als Reaktion auf die Apartheid in Südafrika und den Vietnamkrieg stieg das Interesse in der amerikanischen Bevölkerung, lediglich in so genannte "Socially Responsible Investments" zu investieren. Durch diese Fonds wurde es möglich, auf bestimmte nicht gewollte Anlageformen zu verzichten, speziell auf Anlagen in Unternehmen der Rüstungsindustrie und in Unternehmen, die 19
Im Folgenden werden hierunter die ethischen Fonds i.e.S. verstanden.
2D
Zuvor war ein Engagement an der Börse von verschiedenen Kirchen als verbotenes Wettspiel eingestuft worden, vgl. Metzger (2000),S. 11.
21
Vgl. Karius (2000),5.40 H.
22
Vgl. Schoenheit/Grazek (2003),5.131.
Ethische Investmentfonds: Ein Modeprodukt?
381
wirtschaftliche Beziehungen mit Südafrika unterhielten. Als prominentestes Beispiel derartiger Fonds gilt der 1971 eröffnete "Pax World Fund", ein Mischfonds, der sich seit Ende der 1970er Jahre insbesondere bei Kleinanlegern großer Beliebtheit erfreut. Maßgeblich trägt hierzu bei, dass der Mindestanlagebetrag lediglich 250 Dollar beträgt und überdies kein Ausgabenaufschlag anfällt. 23 Ab Mitte der 1970er Jahre entwickelte sich eine große Bandbreite von Fonds, die mit dem Attribut "ethisch" versehen waren und eine bestimmte Anlagestrategie über Negativlisten durchsetzten. Alle potentiellen Unternehmen werden einem "Ethical Check-up"24 unterzogen, bei dem ihre Tätigkeiten auf das Vorhandensein etwaiger Ausschlusskriterien überprüft wurde. Zudem wird anhand von Positivkriterien versucht, diejenigen Unternehmen zu identifizieren, die Sozialstandards einhalten oder besondere Leistungen im sozialen Bereich aufweisen können. 25 Kriterium
Anteil
Tabak
96%
Glücksspiel
86%
Alkohol
83%
Rüstungsindustrie
81 %
Umwelt
79%
Menschenrechte
43%
Arbeiterrechte
38%
Abtreibung und Geburtenkontrolle
23%
Tierversuche
15%
Abbildung 3: Ausschlusskriterien bei US-amerikanischen Ethikfonds26
23
Vgl. Deml/Weber (2000),S. 124.
24
Vgl. Schierenbeck/Seidel (1992),S. 32.
25
26
Vgl. Schoenheit/Grazek (2003), S. 131; allgemein zur Verwendung von Positivkriterien vgl. Wemer (2009),S. 47. Vgl. Social Investment Forum (1999),S. 9.
382
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Welche Anlagestrategien aktuell im Einzelnen bei ethischen Fonds verfolgt werden, hängt in starkem Maße vom Fondsmanagement und den Anlegern ab. Schließlich lässt sich die Frage, nach welchen Kriterien Ethik gemessen werden kann, nur individuell unter Berücksichtigung der individuellen Werthaltungen und vor dem Hintergrund der eigenen Kultur beantworten. Dieser Aspekt wird besonders deutlich bei der Betrachtung der Ausschlusskriterien, die Ende der 1990er Jahre in den USA bei Ethikfonds-Angeboten anzutreffen waren (vgL Abb. 3). Seit den 1980er Jahren haben neben Negativlisten zunehmend auch Positivkriterien an Bedeutung gewonnen. Beispiele hierfür sind besondere Aktivitäten des' betrieblichen Umweltschutzes oder Bemühungen zur Wahrung der Menschenrechte, die als Kriterien dienen, nach denen ein Ethikfonds zusammengestellt wird. Wie sehr die Fondsauswahl und damit das Portefeuille von individuellen Werthaltungen und den religiösen bzw. kirchlichen Einstellungen abhängig ist, lässt sich besonders gut am Beispiel des Kriteriums Geburtenkontrolle demonstrieren: Während konservativ ausgerichtete Fonds Unternehmen dieser Branche ausschließen, gibt es auch ethische Fonds, die die Herstellung derartiger Produkte begrüßen und als Positivkriterium verwenden." Zu diesen "Socially Responsible Investments (SRl)", die sich ausschließlich oder vordergründig an moralischen oder karitativen Zielen orientieren, gesellen sich in den Vereinigten Staaten seit einigen Jahren die so genannten "Economically Targeted Investments (ETI)". Diese berücksichtigen neben der finanziellen Performance der Anlagen auch gesamtwirtschaftliche Ziele wie beispielsweise die Arbeitsplatzpolitik. Über ETI werden Arbeitsmarktprojekte finanziert, die von privatwirtschaftlichen Gewerkschaften initiiert werden. Sowohl SRI als auch ETI erhalten mittlerweile in den USA auch staatliche Unterstützung. So wurde im Department of Labour eine Clearingstelle geschaffen, die Pensionsfonds und private Anleger über Möglichkeiten des SRl und ETI informiert.
zr Vgl. Karius (2000), S. 42.
Ethische Investmentfonds: Ein Modeprodukt?
383
Im Gegensatz zur US-Regierung steht die Mehrheit der Pensionsfonds den ETI recht kritisch gegenüber. Begründet wird dieser Standpunkt damit, dass die Einflussnahme der Gewerkschaften gesetzeswidrig von ihrem eigentlichen Auftrag abweiche. Dennoch ist festzustellen, dass ETI in den letzten Jahren ein ähnlich starkes Wachstum wie die SRIs aufweisen können." Allerdings hat sich der Anteil am Gesamtmarkt kaum verändert: Bereits Ende 1999 berücksichtigten zirka 13% der in den USA verwalteten Anlagen ethische Gesichtspunkte.s? war dieser Anteil in den 2000er Jahren zurückgegangen und ist erst
in den letzten Jahren wieder auf 12,2 % gestiegen."
3.1.2 Ethische Fonds außerhalb der USA Zu Beginn der 1980er Jahre wurden auch in Europa die ersten Ethikfonds aufgelegt. Ähnlich wie in den USA, wenn auch mit einem deutlich niedrigeren Marktvolumen, war die Anlagestrategie zumeist politisch begründet und richtete sich gegen das Apartheid-Regime Südafrikas oder generell gegen die Rüstungsindustrie. Die größte Verbreitung fanden derartige Fonds in Großbritannien, wohingegen reine Ethikfonds in Kontinentaleuropa und insbesondere im deutschsprachigen Raum kaum vorzufinden sind. Die britischen Ethikfonds unterscheiden sich von den US-Fonds in ihrer Anlagestrategie insofern, dass bei ihnen Tierversuche das gängigste Ausschlusskriterium bilden, während Kriterien wie Geburtenkontrolle oder Glücksspiel kaum eine Rolle spielen. Eine Besonderheit ist zudem, dass die Mehrzahl der britischen Ethikfonds es als Ausschlusskriterium ansieht, wenn Unternehmen größere Parteispenden vornehmen, um politischen Einfluss zu gewinnen. Daneben wurden englischen Marktes auch so genannte "Sovereign Ethical"-Fonds aufgelegt, die unter anderem auch Banken und die Hersteller von Fleisch- und Milchprodukten aus ihren Portefeuilles ausschließen,"
28
Vgl. Nussbaum (2000), 5.91.
29
Vgl. Kläsgen (2000), S. 24
30
Vgl. EthicalMutualFunds.com (2010).
31
Vgl. Metzger (2000), S. 9.
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Mit einer großen Medienpräsenz sind die von der französischen Ordensschwester Nicole ReiHe initierten Fonds "Nouvelle Strategie 50" (NS 50) und "Actions Ethique" bedacht.v Der erste der beiden Fonds wurde 1983 von der damals als Finanzverwalterin des Pariser Notre-Dame-Ordens tätigen Nonne als Altersvorsorge für Kirchenangestellte ins Leben gerufen, hat jedoch konti-
nuierlich andere Anleger gewinnen können.P Der Aktienfonds "Actions Ethi-
que", der 1998 aufgelegt wurde, wies 1999 mit einem Wachstum von 41% sogar eine ähnliche Performance wie der CAC 40, dem französischen Pendant zum DAX, auf. Allerdings wurden die Fonds 2008 überaus heftig von der Finanzmarktkrise getroffen,34 wodurch auch das Gesamtvolumen von NS 50 auf 25 Mio. Euro sank. Als deutsche Unternehmen waren zeitweise Allianz, Metro und Siemens vertreten. Der Grundsatz der Ordensschwester bei der Fondsverwaltung35 war: "Die Wirtschaft muss im Dienste der Menschheit stehen und nicht umgekehrt. 11 Hierfür stellte sie einen Katalog von 20 Kriterien auf, der von den Unternehmen erfüllt werden muss. Unter den Kriterien befinden sich Aspekte von der Mitbestimmung von Mitarbeitern bis hin zu Fortbildungsmaßnahmen oder dem Umgang mit Behinderten. Wie interpretationsfähig auch in diesem Fall die Auslegung der Anlagekriterien sein kann, zeigte sich, als sich der französische Mineralölkonzern Totalfina Elf im Portefeuille befand, obwohl das Unternehmen für die bisher größte Ölkatastrophe an der französischen Atlantikküste verantwortlich war und zudem seit Jahren Geschäftsbeziehungen mit Ländern wie Birma unterhält, denen gravierende Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen wurden. Grund für die Entscheidung, Totalfina Elf zunächst
32
Vgl. Kläsgen (2006).
33
Vgl. Deml/Weber (2000),5. 156 f.
34
35
So verlor der N5 50 im Jahr 2008 41,9 % und damit deutlich stärker als der Vergleichsindex an Wert, vgl. Meeschaert Asset Management (2009a), 5. 7, vgl. auch Meeschaert Asset Management (2009b). Die Verwaltung des Fonds ist 2006 auf eine Laiin übergangen, vgl. Kläsgen (2006). Wei-
terhin werden die Grundsatzentscheidungen von den mehr als 150 Vereinsrnitgliedem monatlich beraten.
Ethische Investmentfonds: Ein Modeprodukt?
385
im Portefeuille zu belassen, war die nach Aussage von Reille "recht soziale Personalpolitik" des Konzerns.w In der Bundesrepublik scheiterten bisher die Versuche, Ethikfonds zu lancieren, an der Genehmigungsbehörde. Diese vertritt die Auffassung, durch den Begriff "Ethik" würden alle anderen Fonds bzw. Aktien als nicht-ethisch diskriminiert. Infolgedessen ist die überwiegende Zahl deutschsprachiger Ethikfonds in Luxemburg ansässig, weitere finden sich in Österreich und der Schweiz.F Bei den deutschsprachigen ethisch-ökologischen Investmentfonds
ist im Gegensatz zu ihren britischen und amerikanischen Pendants eine wesentlich stärkere Akzentuierung auf die Umweltwirkung von Unternehmen gerichtet. Gängige "ethische" Ausschlusskriterien dieser Fonds sind Atomtechnik, Rüstungsindustrie, Tabak, Alkohol und Pornographie." Einen Sonderfall des ethischen Investments bildet die Kategorie der islamischen Investmentfonds. Durch die Akkumulation erheblicher Mengen an Kapital und das Erstarken religiöser Kräfte in den Golfstaaten entstand dort die islamische Vermögensverwaltung. Neben einigen auch in westlichen Industriestaaten gängigen Ausschlusskriterien wie dem Glücksspiel, Alkohol oder Rüstungsgütern (siehe oben) finden sich in der Regel auch Schweinefleisch und Zinseinnahmen sowie Zinszahlungen auf den Negativlisten der islamischen Fonds. Das Zinsverbot, "Riba", geht auf den Koran zurück, in dem es heißt, dass Allah den Handel erlaube, den Wucher jedoch verbiete. Da allerdings ein Großteil der heutigen Unternehmen einen gewissen Verschuldungsgrad aufweist, wäre die strikte Umsetzung dieses Gebotes aus Gründen der Risikodiversifikation nicht möglich. Als pragmatische Zwischenlösung haben sich im Laufe der Zeit ein maximaler Verschuldungsgrad von einem Drittel des Eigenkapitals und maximale Zinseinnahmen in Höhe von 15% der Gesamteinnahmen etabliert. Auch der Teil der von den Unternehmen ausgeschütteten Dividende, der aus Zinseinnahmen herrührt, darf nicht von den Anlegern einbehalten 36
Vgl. Kläsgen (2000), S. 24. Total wurde erst 2004 ausgeschlossen, vgl. Kläsgen (2006).
'37
Vgl. Deml/Weber (2000), S. 116.
38
Vgl. Metzger (2000), S. 9.
386
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werden, sondern muss an wohltätige islamische Organisationen abgeführt werden." Auch im deutschsprachigen Raum werden seit längerem islamische Fonds angeboten.w
3.2
Ökologische Investmentfonds
3.2.1 Zur Entstehung ökologischer Investmentfonds Mit dem Ende des Apartheid-Regimes in Südafrika und dem Amtsantritt Nelson Mandelas 1993 wurde den ethischen Investmentfonds in den USA ein baldiges Ende prophezeit. Stattdessen führten sowohl verheerende Umweltkatastrophen, wie Bhopal, Tschernobyl oder Exxon Valdez, als auch neue wissenschaftliche Erkenntnisse über das Ozonloch, den Treibhauseffekt oder den sauren Regen dazu, dass die ethischen Kriterienkataloge sukzessive durch ökologische Kriterien ergänzt oder ersetzt wurden. Die Anzahl der klassischen amerikanischen Ethikfonds, die neben ethischen auch ökologische Kriterien berücksichtigen, stieg von 1997 bis 1999 auf 79 % an." Seit Anfang der 1990er Jahre werden auch im deutschsprachigen Raum verstärkt Investmentfonds aufgelegt, die unter Berücksichtigung ökologischer Kriterien gebildet werden. 42 Die zwei Hauptformen des reinen ökologischen Investmentfonds, die Umwelttechnologiefonds und die Öko-Effizienz-Fonds, werden in diesem Abschnitt vorgestellt.
3.2.2 Umwelttechnologiefonds Das Konzept der Umwelttechnologiefonds stellte auf die erwartete zunehmende Bedeutung von Umwelttechnologien, insbesondere nachgeschalteter Umweltschutzeimichtungen ab.43 Somit entspricht dieser Fondstypus konzep-
39
40
Chapuis (2000), S. 45. Vorreiter war die Schweizer Privatbank Pietet & Cie, die seit 1999 eine Palette islamischer Fonds anbietet.
41
Vgl. Karius (2000), S. 42 f.
42
Vgl. Homolka (1991).
43
Vgl. Schaltegger/Figge (1999),S. 6.
Ethische Investmentfonds: Ein Modeprodukt?
387
tionell eher den traditionellen Branchenfonds als dem der angelsächsischen Ethikfonds. Auswahlkriterium für ein Umwelttechnologie-Portefeuille ist einzig und allein die Zugehörigkeit zur Umwelttechnologiebranche als ökologisches Positivkriterium.v' Grund für die Entstehung dieser Fonds war weniger die ethische Maßgabe eines pfleglichen Umgangs mit der Natur als vielmehr die hohen Wachstumserwartungen, die mit dieser Branche angesichts der sich verschärfenden Umweltsituation verknüpft wurden. Die hohen Rendite-Ewartungen konnten jedoch bisher nicht erfüllt werden. Als Hauptgrund hierfür ist anzunehmen, dass die Bedeutung integrierter Umweltschutztechnologierre in den letzten Jahren stark zunahm, wahrend der klassische Umweltschutztechnologiesektor überwiegend End-of-the-PipeTechnologien anbot. Als End-of-the-Pipe-Lösungen werden Technologien bezeichnet, die dem eigentlichen Produktionsprozess nachgeschaltet sind, wie beispielsweise Kläranlagen oder nachgeschaltete Filtertechnologien. Je mehr der Umweltschutz jedoch im eigentlichen Produktionsprozess ansetzt, desto geringer fallen auch der Tätigkeitsbereich und somit auch der finanzielle Erfolg der klassischen Umwelttechnologiebranche aus. Im Übrigen sind die Umwelttechnologiefonds aufgrund der sehr stark eingeschränkten Diversifikation, stärker noch als die zuvor beschriebenen Ethikfonds, hohen finanziellen Risiken ausgesetzt, was sich ebenfalls negativ auf die Gesamtperformance eines Umwelttechnologie-Portefeuilles auswirkt," Beispiel für einen deutschen Umwelttechnologiefonds ist der 1990 aufgelegte "Focus GT Umwelttechnologiefonds", der seit 01. April 2003 INVESCO Umwelttechnolgie Fonds hieß und dann am 1. März 2004 in INVESCO Umwelt und Nachhaltigkeits Fonds umbenannt wurde. Er weist mittlerweile ein Investitionsvolumen von 19,98 Mio. Euro auf. 47 Die Wertentwicklung war vor der erasten Umbenennung wenig befriedigend (+2,4 % im Jahr 1999, Minus von 44 45
Vgl, Schoenheit/Grazek (2003),S. 131.
Beispiele sind neue Wege des Stoffstrommanagements oder Wege der Schadstoffvermeidung bzw. Substitution auf umweltvertraglichere Stoffe (FCKW-freie Kühlschränke, effizientere Automotoren etc.).
46
Vgl. Schaltegger/Figge (1999),S. 4.
47
Vgl. finanzen.net (2010a).
388
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1,5 % im Jahr 1998), was die geschilderten Probleme diese Fondstypus illustriert.48 Mittlerweile weist der Fonds eine 1-Jahres-Performance von 11,47 % und 14,77 % im 3-Jahres-Vergleich auf. 49 Ein weiteres typisches Beispiel ist der "Credit Suisse Equity Fund (Lux) Global Sustainability B", der ursprünglich 1992 als reiner Umwelttechnologiefonds mit dem Namen "Credit Suisse Oeko-Protec Fonds" lanciert wurde. 1997 fand aufgrund der bis zu diesem Zeitpunkt eher schwachen Performance eine Neuausrichtung der Anlagestrategie statt und eine erste Umbenennung in "Credit Suisse Eco Efficiency Fund" erfolgte. Zwischenzeitlich war der Fonds in die Kategorie "Öko-Effizienz-Fonds" einzuordnen. Mittlerweile ist er nach einer erneuten Änderung der Anlagestrategie den "Sustainable Development Fonds" zuzuordnen.v Beide Änderungen der Anlagestrategie wirkten sich positiv auf die Fondsperformance aus. Derzeit hat der "Credit Suisse Equity Fund (Lux) Global Sustainability B" ein Volumen von 37,77 Millionen EurO.51
3.3.3 Öko-Effizienz-Fonds Trotz der oben aufgezeigten Schwächen, die die Umwelttechnologiefonds aufweisen, lässt sich als ihr größter Verdienst nennen, dass sie das Umweltthema im Finanzsektor einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht haben. Als Ausgangspunkt sind die in den 1990er Jahren anwachsenden politischen und wirtschaftlichen Bemühungen zu sehen, den betrieblichen Umweltschutz weiter voranzutreiben.S Hieraus entstand der Gedanke, ein Portefeuille nicht nur mittels der finanziellen Performance der darin enthaltenen Unternehmen zu bewerten und anhand von Negativlisten zu prüfen, ob es eine
48
Vgl. Deml/Weber (2000),S. 155.
4. Vgl. finanzen.net (2010b). 50
Vgl. Schaltegger/Figge (2000),S. 125.
51
Vgl. Umweltfinanz (20l0c).
52
Anfang der 1990er Jahre wurde durch eine Reihe von internationalen Abkommen und Richtlinien (Agenda 21 des Rio-Gipfels 1992, EMAS-VO 1993, ISO 1400l-Richtlinien 1995) versucht, eine institutionelle Basis für den betrieblichen Umweltschutz zu schaffen. Zentrale Begriffe dieser Bemiihungen waren die der Öko-Effizienz und der Nachhaltigen Entwicklung.
Ethische Investmentfonds: Ein Modeprodukt?
389
ethisch vertretbare Geschäftspolitik verfolgt, sondern auch nach ihrem Beitrag zum Umweltschutz auszurichten. Schon auf dem Klima-Gipfel von 1992 herrschte Übereinstimmung bezüglich der These, dass langfristig nur nachhaltig wirtschaftende Unternehmen am Markt erfolgreich sein würden. Diesen Gedanken greifen die Öko-Effizienz-Fonds auf. Kernelement dieser seit 1994 aufgelegten Anlageprodukte ist die "Öko-Effizienz" der Unternehmen: "Unter
Öko-Effizienz versteht man eine Verhältniszahl zwischen Wertschöpfung und Schadschöpfung, das heißtzwischen einer ökonomischen Leistungsgröße und derverursachten Umwelteinwirkung. "53 Ein Unternehmen, das in hohem Umfang Recycling betreibt, wenig Energie verbraucht, etc. ist also als öko-effizient zu bezeichnen. Die Auswahl des Portefeuilles wird vielfach nach einem "Best-of-Class-Ansatz"54 vorgenommen, das heißt nur Unternehmen, die sowohl in finanzieller als auch in ökologischer Hinsicht überdurchschnittlich abschneiden, qualifizieren sich als potenzielle Anlageunternehmen für Öko-Effizienz-Fonds." Als Beispiel für die Anlagestrategie eines Fonds dieser Gattung und für die in diesem Zusammenhang eingesetzten Analysemethoden wird in Abschnitt 3.4 das sog. Sarasin-Modell zur Bewertung der Nachhaltigkeitseffizienz von Unternehmen vorgestellt. Zwar handelt es sich hierbei um einen SustainableDevelopment-Fund, dieser unterscheidet sich von den hier vorgestellten ÖkoEffizienz-Fonds jedoch nur in der zusätzlich durchgeführten Sozialbewertung der Unternehmen. Der restliche Teil der Analyse ist deckungsgleich mit den für Öko-Effizienz-Fonds üblichen Methoden. Der erste Öko-Effizienz-Fonds, "Sarasin OekoSar", wurde 1994 lanciert. In der Zwischenzeit folgten rund ein Dutzend weitere Fonds dieser Art, die nach Auflegung allesamt eine bessere Performance im Vergleich zu den zuvor er-
53
Schaltegger/Sturm (1990),S. 280.
54
Vgl. Wemer (2009),S. 48.
55
Vgl. Schaltegger/Figge (1999), S. 6; zudem werden auch Positiv- und Negativkriterien verwendet, vgl. Schoenheit/Grazek (2003),S. 131.
390
Stephan Schöning
wähnten Umwelttechnologiefonds erzielen konnten." Dies ist unter anderem durch die vergleichsweise erhöhte Risikodiversifikation zu erklären.
3.3
Sustainable Development Funds
Während die zuvor geschilderten Ansätze ihre Anlagestrategie entweder nach ethischen oder nach ökologischen Gesichtspunkten ausrichten, handelt es sich bei den Sustainable Development Funds um einen übergreifenden Ansatz, der sowohl die finanzielle Situation der Unternehmen als auch ökologische und soziale Aspekte berücksichtigen soll.57 Über die Einbeziehung der IISozialeffizienz"58 wird versucht, die IINachhaltigkeitseffizienz" der Unternehmen, also deren Gesamterfolg in den drei Dimensionen Ökonomie, Ökologie und Soziales, zu beurteilen. Die Anbieter von Sustainable Development Funds sind der Auffassung, dass sich langfristig nur nachhaltig wirtschaftende Unternehmen am Markt durchsetzen werden. Je nach Ausrichtung ist eine Unterteilung in Nachha1tigkeits-Leader-, Nachhaltigkeits-Pionier- und sozialökologischen Fonds zweckmäßig:59 Während die erste Gruppe überwiegend in Blue-Chips, also in Großunternehmen investiert, umfasst die zweite Gruppe Anlagen in besonders innovative, zumeist kleine Unternehmen. Bei der dritten Gruppe spielt die Unternehmensgröße keine Rolle. Die Entwicklung des IICredit Suisse Eco-Efficiency Fonds" illustriert diese Auffassung. Ursprünglich wurde der Fonds 1992 als Umwelttechnologiefonds IICredit Suisse Oeko- Protee Fonds" aufgelegt, ist dann jedoch 1997 im Rahmen eines Relaunches auf Öko- Effizienz ausgerichtet worden und hat seit 1999 zu-
56
Vgl. Deml/Weber (2000),S. 155.
57 Vgl. Bartsch (0. J.). 58
Schaltegger/Figge (2000), S. 123, bezeichnen als Sozialeffizienz eines Unternehmens die Effizienz von Stakeholder-Beziehungen allgemein, d.h. das qualitative Verhältnis zwischen Nutzen und Kosten aus einer Stakeholder-Beziehung bspw. dem Umgang mit Kunden, Lieferanten, Medien, Anrainern etc.
59
Vgl. irnug (2003),S. 26, vgl. auch Schoenheit/Grazek (2003),S. 131 f.
Ethische Investmentfonds: Ein Modeprodukt?
391
sätzlich erste ethische Kriterien mit in die Bewertung aufgenommen.w Es ist anzumerken, dass nach wie vor der überwiegende Teil der Investmentfonds ohne Berücksichtigung einer Öko- oder Finanzanalyse verwaltet wird, was die Analyse der aktuellen Marktdaten in Kapitel 4 verdeutlichen wird. Im Übrigen ist bisher eine deutliche Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit bei dem Anlagetypus des Sustainable Development Funds beobachtbar. Dies hängt primär damit zusammen, dass konkrete, objektive Instrumente zur Analyse der Nachhaltigkeitseffizienz eines Unternehmens bisher nicht entwickelt worden sind.v Zumeist geschieht die Bewertung eher unvollständig und fallbezogen. Dennoch ist davon auszugehen, dass die meisten der bestehenden deutschsprachigen Fondsanbieter, die bisher Öko-EffizienzFonds verwalteten, in Zukunft ihre Analyse auf soziale Aspekte erweitern werden/"
3.4
Nachhaltigkeitsanalyse bei Sarasin & Cie, Basel
Aufgrund der Neuorientierung in Richtung Sustainability hat die Schweizer Bank Sarasin & Cie für ihre beiden zuvor auf Öko-Effizienz ausgerichteten Fonds "OekoSar" und "ValueSar" (nunmehr "Sustainable Equity") ein Konzept entwickelt, dass die drei "Nachhaltigkeitsdimensionen" systematisch analysieren soll. Grundsätzlich wird angestrebt, sogenannte "Value Stars" zu identifizieren, das heißt die Unternehmen, die in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung der wirklich relevanten Aspekte als nachhaltig und damit zukunftsfähig bezeichnet werden körmen.P Der Prozess lässt sich in sieben Analyseschritte aufgliedern.w 1. InformationsbeschaHung 2. Pre- Screening
60
Vgl. Schaltegger/Figge (2000), S. 125.
61
Zu Ansätzen vgl. z.B. Henle (2008).
62
Vgl. Schaltegger/Figge (1999), S. 6.
63
Vgl. Knörzer (1999), S. 57.
64
Vgl. Knörzer (1999). S. 59.
392
Stephan Schöning
3. Finanzielle Analyse 4. Beurteilung der Nachhaltigkeit 5. Ökologische und soziale Benchmarks 6. Qualitätskontrolle 7. Sustainable Contribution Nach der Phase der Informationsbeschaffung, die neben anderen Medien auch Fragebögen umfasst, die von den adressierten Unternehmen ausgefüllt werden, wird ein Pre-Screeening auf der Basis einer Negativliste durchgeführt. Es folgt eine Finanzanalyse, wie sie auch bei herkömmlichen Investmentfonds vorgesehen ist. In der nachfolgenden Phase der Beurteilung der Nachhaltigkeit untersucht Sarasin die Unternehmen auf ihre Öko- und Sozialeffizienz. In die Umweltbewertung soll nach Möglichkeit der gesamte Lebenszyklus der Produkte einbezogen werden. Kriterien, die berücksichtigt werden, sind beispielsweise die Reduktion von Material- und Energieintensität, Reduktion der Toxizität, Erhöhung der Wiederverwertbarkeit, vermehrter Einsatz erneuerbarer Ressourcen, Steigerung der Langlebigkeit und des Service-Anteils. Hierauf basierende Kennziffern sollen den Vergleich von Unternehmen innerhalb einer Branche ermöglichen. In der Sozialbewertung der Unternehmen wird eine Stakeholder-Analyse vorgenommen. Auch hier sind die Kriterien eher qualitativer Natur: Untersucht wird zum Beispiel, ob bei international tätigen Unternehmen im jeweiligen Heimatland gültige Standards sinnvoll auf lokale Gegebenheiten adaptiert angewendet werden, ob Technologie-Transfer stattfindet, ob Sozial-Dumping betrieben wird oder wie das Unternehmen mit nicht-demokratischen Regimes
umgeht." Im nächsten Schritt werden die zuvor gewonnenen Erkenntnisse vorgegebenen ökologischen und sozialen Benchmarks gegenübergestellt. Diese können sowohl aus intern gewonnenen Branchenkennziffern als auch aus Börsenindizes bestehen. In den letzten Jahren wurden einige "nachhaltige" Börsenindizes
65
Vgl. Knörzer (1999), S. 58·
393
Ethische Investmentfonds: Ein Modeprodukt?
wie der DJSGI oder der NAX geschaffen, um diesbezüglich eine Vergleichsmöglichkeit herzustellen." Abschließend werden im Rahmen der Qualitätskontrolle die von den Unternehmen bereitgestellten Daten mit den aus anderen Quellen gewonnenen Informationen abgeglichen, um dann im Schritt des "Sustainable Contribution" zur Bildung eines geeigneten Portefeuilles zu gelangen. Dies geschieht nach einem "Best-in-elass-Ansatz", d. h. nur Unternehmen, die in allen untersuchten Bereichen überdurchschnittliche Werte erreichen, werden bei der Portefeuille-Bildung berücksichtigt/"
4.
Der aktuelle Markt ethisch-ökologischer Investmentfonds
4.1
Die Marktakteure
Bei der Analyse der Nachfragestruktur des Marktes für ethische und ökologische Investmentfonds lassen sich zwei wesentliche Gruppen von Nachfragern identifizieren. Auf der einen Seite stehen die privaten Kleinanleger, die den zahlenmäßig größten Anteil der Nachfrageseite darstellen. Auf der anderen Seite sind die institutionellen Anleger und hierbei speziell die Pensionskassen, die den Großteil des gesamten Investitionsvolumens bereitstellen." Diesem Nachfrageverhalten passt sich die Angebotsseite mit einem zweigeteilten Angebot von ethisch-ökologischen Investmentfonds an. Während die für Kleinanleger
kreierten
Portefeuilles
in
der
Regel
überwiegend
aus
"hochgrünen" Unternehmen wie beispielsweise die Kunert AG oder Bodyshop bestehen, zeigen sich die Fonds für Großanleger wesentlich kompromissbereiter in ihrer Titelauswahl. Auffällig ist weiterhin, dass die ethisch-ökologischen Fonds in aller Regel nicht von Großbanken, sondern von mittleren bis kleinen
66 67
68
Siehe Abschnitt 5.1. Vgl. Knörzer (1999),S. 59. Prägnant hierzu der Sarasin-Slogan: "Branchengewinner in Gewinnerbranchen". Vgl. Haßler/Bammert (2003), S. 114; zur Bedeutung von Pensionskassen vgl. Klumb/Kahlenbom (2000).
394
Stephan Schöning
Finanzdienstleistern angeboten werden/" Im deutschsprachigen Bereich gab es zwar in den 1980er Jahren eine Reihe österreichischer Großbanken, die den Versuch unternahmen, ökologische Fonds aufzulegen. Diese Versuche scheiterten jedoch vermutlich an der Tatsache, dass Institue, die in ihre konventionellen Fonds Rüstungs-, Chemie- und Gentechnikuntemehmen aufnehmen, Glaubwürdigkeitsprobleme beim Auflegen eines Öko-Fonds haben dürften.v
4.2
Exemplarische Analyse ethisch-ökologischer Fonds
Um das zuvor angedeutete zweigeteilte Angebot beispielhaft zu beschreiben, werden nachfolgend die beiden von Sarasin & Cie angebotenen Investmentfonds "OekoSar Portfolio" und "Sustainable Equity"71 näher analysiert. Der 1999 erstmals aufgelegte Sustainable Equity ist ein eher für Kleinanleger geeigneter reiner Aktienfonds, der auch zur Anlage vermögenswirsamer Leistungen genutzt werden kann. Durch eine Negativliste werden die Rüstungsindustrie, Kernenergieproduktion, Automobilindustrie, Kinderarbeit, das Erotikgeschäft und diverse weitere ökologische und soziale Bereiche per se ausgeschlossen? Demgegenüber ist der seit 16.02.1994 angebotene OekoSar, der insbesondere für Großanieger geeignet ist, weit weniger konsequent in Bezug auf umwelt- oder sozialschädliche Branchen und Unternehmen. Es werden bei der Titelauswahl gemäß der in Abschnitt 3.4 beschriebenen Analysemethode die jeweils Besten ihrer Branchen ermittelt (sog. Best-in-class-Ansatz). Ausschlusskriterien sind vorhanden, sie sind jedoch weniger streng als beim ValueSar. Während Sarasin & Cie beim "OekoSar" auf eine relativ sichere und "angemessene" Rendite verweisen, wird beim "ValueSar" das Thema Nachhaltigkeit in den Vordergrund gestellt. Dieses unterschiedliche Angebot ist auf die jeweils unterschiedlichen Interessen von Kleinanlegern zurückzuführen: Da der Erfolg eines Investmentfonds herkömmlicherweise an den führenden
69 70
71
Vgl. Knörzer (1999),S. 55. Vgl. Delabar (1999),S. 73. Der Fonds hieß vormals ValueSar Equity und wurde am 29.09.2005 in die jetzige Bezeichnung umbenannt.
n Vgl. Umweltfinanz (2010a).
Ethische Investmentfonds: Ein Modeprodukt?
395
Börsenindizes gemessen wird, sind Großanleger wie Pensionskassen aus Gründen der Risikominimierung bemüht, in Portefeuilles zu investieren, die sich in ihrer Zusammensetzung ebenfalls an dem jeweiligen Börsenindex orientieren. Das Maß, das den Zusammenhang zwischen Portefeuille und Börsenindex beschreibt, ist der so genannte "Tracking Error". In der Regel ist davon auszugehen, dass Pensionskassen nicht in Fonds investieren, die einen Tracking Error von 3 % überschreiten, das heißt mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit wird die Performance des Investmentfonds um über 3 % vom Börsenindex, in Deutschland zumeist dem DAX, abweichen. Um diesen Tracking Error möglichst gering zu halten, kann ein Investmentfonds also nicht auf die wesentlichen Größen seines Bezugsindex verzichten. In einem verhältnismäßig kleinen Markt wie der Schweiz bedeutet dies zwangsläufig, dass Nestle Bestandteil der schweizerischen Umweltfonds ist, unabhängig von der Umweltwirkung des Konzerns. Allerdings kann die entsprechende Position im Portefeuille unterbewertet werden, jedoch nur im Rahmen des Tracking Errors. Bei Kleinanlegern, für die in der Regel nicht der Tracking Error, sondern ethische oder ökologische Motive bei der Investmententscheidung von übergeordneter Bedeutung sein dürften, kann dieser Punkt eher vernachlässigt werden. Die Konsequenz hieraus ist, dass für Kleinanleger konzipierte Fonds in ihrer Zusammensetzung zwar risikoreicher, aber auch "grüner" strukturiert sind. 73 Für diese Anlegergruppe existiert mittlerweile eine Vielzahl von auf Nachhaltigkeitsratings spezialisierten unabhängigen Ratingagenturen.e Generell muss allerdings die Frage gestellt werden, ob es überhaupt zweckmäßig ist, Fonds mit dem Attribut "Öko" zu versehen, wenn in den Portefeuilles eine ähnliche Auswahl an Unternehmen enthalten ist wie in herkömmlichen Investmentfonds. Die Vermutung liegt nahe, dass ein "Etikettenschwindel" betrieben wird, wenn "öko-fremde" Unternehmen wie Henkel, BMW, 73
74
Dementsprechend hat sich mittlerweile die Unterscheidung in "light green" und "dark green" etabliert, vgl. Scott (2008),S. 2. Für einen Überblick vgl. z.B. Haßler/Bammert (2003), S. 114 ff.; speziell zum Ansatz der oekom research AG ebenda S. 118 ff. Für die zu überwindenden Probleme und den Ansatz der imug vgl. Schoenheit/Grazek (2003),S. 132 ff.
396
Stephan Schöning
Daimler, Siemens etc. in Umweltfonds aufgenommen werden. Zudem existieren zahlreiche Beispiele von Unternehmen, die unter anderem der Rüstungsindustrie zuzuordnen sind, die also schon über die Negativlisten fast aller ethisch-ökologischen Fonds von vornherein aus dem Portefeuille eliminiert werden müssten."
4.3
Aktuelle Marktdaten
Einen Überblick über die positive Entwicklung der Anzahl und der Volumina der offenen nachhaltigen Publikumsfonds bietet Abb. 4.76
350 Anzahl der Fonds
Volumen 40 der Fonds in Mrd € 35
300
30
250
25 200 20 150 15
=
Volumen der Fonds In Mrd €
-Anzehlder Fonds
100
10
50
5 0
0 2003
2004
2005
2006
2007
2008
2009
Abbildung 4: Entwicklung und Volumen der nachhaltigen Investmentsfonds im deutschsprachigen Raum77
75
Für Beispiele siehe Deml/Weber (2000),S. 116 ff. oder Hamm (1999),S. 69 ff.
76
Zur Entwicklung bis zum Ausbruch der Finanzmarktkrise vgl. auch Ecoreporter (2008).
77
Vgl. Nachhaltiges Investment (2010a).
Ethische Investmentfonds: Ein Modeprodukt?
397
In Deutschland, Österreich und der Schweiz waren am 30.09.2010 nach Informationen des Sustainable Business Institute (SBI)78 insgesamt 351 nachhaltige Publikumsfonds zum Vertrieb zugelassen.v Einen Überblick über wesentliche Fonds liefert Abbildung 5. In den Fonds waren zum 30.09.2010 rund 32 Mrd. Euro investiert. Das Wachstum der Anzahl der nachhaltigen Publikumsfonds hat sich damit fortgesetzt, denn Ende 2009 registrierte das SBI 313 Fonds. Die Zunahme resultiert zum einen daraus, dass 20 Fonds (sieben Aktien-, neun Misch-, drei Renten-, und ein Microfinancefonds) mit einem Volumen von zirka 394 Mio. Euro in den ersten neun Monaten 2010 neu aufgelegt worden sind. Darüber hinaus sind gegenüber Ende 2009 31 Fonds mit einem Volumen von zirka 1,9 Mrd. Euro hinzugekommen, die entweder bereits in anderen Ländern zugelassen waren oder neuerdings Nachhaltigkeitskriterien berücksichtigen. Gleichzeitig wurden 13 Fonds seit Beginn des Jahres geschlossen oder mit anderen Fonds zusammengelegt. In den 209 Aktienfonds waren 21,31 Mrd. Euro investiert. Die Performance derjenigen Fonds, die bereits Ende 2009 aufgelegt waren, war in den ersten neun Monaten sehr unterschiedlich: Sie lag in den ersten drei Quartalen des Jahres 2010 zwischen zirka plus 28 % und zirka minus 22 %. Ursächlich hierfür ist unter anderem, dass sich die Ausrichtung der Fonds wie in Abb. 5 aufgezeigt sehr stark unterscheidet: Neben breit aufgestellten internationalen Fonds bestehen auch spezialisierte Fonds mit regionalem Fokus sowie Technologieund Themenfonds. In den 46 Rentenfonds waren 5,14 Mrd. Euro investiert. Die Performance derjenigen Fonds, die bereits Ende 2009 aufgelegt waren, lag in den ersten drei Quartalen des Jahres 2010 zwischen zirka plus 13 % und zirka 0 %.
78 79
Vgl. Nachhaltiges Investment (201Ob). Einbezogen werden dabei sämtliche Fonds, die angeben, in besonderer Weise soziale, ökologische oder auch ethische Kriterien zu berücksichtigen. Die Einschätzung basiert auf Angaben in den Fondsprospekten und Factsheets der Fondsgesellschaften.
398
Name
Stephan Schöning
WKN
Region, Branche
Kategorie
Ausschlusskriterien (Auszug)
Größe Gründung in Mio € des Fonds
Aktien Ethik Global
Wasserversorgung, Luftreinhaltung, Ethik
Keine
4.400
2000
1.263
1990
994
2001
824
2001
542
1996
3.767
2001
Aktienfonds Pictet PF Lux WaterP Pioneer Global EcologyAND früher: Activest Lux EcoTechC SAMSustainable WaterFund B UBSLux EquityFund Global Innovators
ÖkoWorld ÖkoVision Oassic (früher: ÖkoVision) MLIIFNew Energy FundA USD Pictet PF Lux Europe Sustainable Equ.P UBSLux EquityFund Eco Performance Sarasin Sustainable Equity (früher Sarasin Value Sar)
933349
AOMJ48 früher: 971345
Aktien Ökologie Global
Umwelttechnologie
Rüstung, Tierversuche, Massentierhaltung, Kinderarbeit, Menschenrechte
763763
Aktien Ethik Global
Wasserversorgung,Ethik
Rüstung, Tabak, Luftfahrt
Aktien Ökologie Global
Erneuerbare Energien, Energie-Dienstleistungen
676908
Aktien Ökologie Global
Ökologie, Ethik
Rüstung, Kernenergie, Tierversuehe, Massentierhaltung, Menschenrechte, Kinderarbeit, Gentechnik i.d. Landwirtschaft
630940
Aktien Energie Global
Energie, Energietechnologien, erneuerbare Energien
Keine
750443
Aktien Ethik Europa
Ethik, Ökologie, Nachhaltigkeit
Rüstung, Kernenergie, Tabak
247
2002
987076
Aktien Ökologie Global
Ökologie, Ethik
Rüstung, Kernenergie, Tabak, Menschenrechte
165
1997
Ethik, Ökologie, Nachhaltigkeit
Rüstung, Kernenergie, Automobilindustrie, Agro-/ Chlorchemie, Kinderarbeit, Tabak
101
1999
974968
921125
Aktien Ethik global
399
Ethische Investmentfonds: Ein Modeprodukt?
ÖkoAktienfonds Invesdo Umwelt-und Nachhaltigkeitsfonds Pioneer GlobalEthical Equity Dexia Sustainable Europe
SarasinNew Energy
SEBÖkoLux Credit Suisse EuqityFund (Lux) Global Sustainability
971682
Aktien Ökologie Global Ökologie
Rüstung, Kernenergie, Kinderarbeit,Tabak
36
1991
847047
UmwelttechnoAktien Ökologie logien, NachhalGlobal tigkeit
Rüstung, Kernenergie, Tabak, Alkohol, Glücksspiel
34
1990
580490
Aktien Ethik Global
Ethik, Ökologie
Kernenergie, Rüstung, Tabak, Alkohol, Luftfahrt, Bergbau
270
2000
550962
Aktien Ethik Europa
Ethik, Umweltschutz
229
2000
Aktien Energie Global
Alternative Energien, Nachhaltigkeit Schwerpunkte: Fotovoltaik, Kernenergie, Windkraft Edelmetalle
581365
89
2000
971898
Aktien Ökologie Global Ökologie
Rüstung, Kernenergie, Kinderarbeit, Suchtmittel, Biozide
39
1992
974278
Aktien Ethik Global
Rüstung, Kernenergie, Kinderarbeit, Tabak, Glücksspiel
36
1994
Ethik, Ökologie
Klimawandel-Fonds (Klimafonds) Aktien Ökologie KIimawandel DWSODT Global
Umwelttechnologien, Nachhaltigkeit, K\imawandel
486
2007
Aktien KBCEco Ökologie Fund Climate KIimaChange wandel (thes.) AOMKZM Global
Umwelttechnologien, Nachhaltigkeit, K\imawandel
81
2007
Aktien Ökologie KIimawandel AOMKZN Global
Umwelttechnologien, Nachhaltigkeit, KIimawandel
81
2007
DWSKIimawandel
KBCEco Fund Climate Change (aussch.)
400
LBBWGlobal Warming Strategie
Stephan Schöning Aktien Ökologie Klimawandel AOKEYM Global
Umwelttechnologien, Nachhaltigkeit, Klimawandel
35
2007
10
2005
Dachfonds
IAMF-ProVita World Fund
AOD84R
Dachfonds Nachhaltigkeit N achhaltigkeit, Global Aktien Renten
Kernenergie, Kinderarbeit, Rüstung, Tabak
Mischfonds
Sarasin FairInvestUniversal Fonds Dr. Hoeller PrlmeValue Mix
SarasinÖko Sar Portfolio
531712
Mischfonds Nachhaltigkeit Europa
986054
Mischfonds Ethik Global
973502
Nachhaltigkeit 75% Renten Euro 25% Aktien Europa
Ethik, Ökologie
Mischfonds Ökologie Ökologie, NachGlobal haltigkeit
94
2001
Rüstung, Kemenergie, Kinderarbeit, Menschenrechte
77
1995
Rüstung, Kemenergie, Automobilindustrie, Chlorchemie, Fluggeseilschaften
252
1994
Kernenergie, Rüstung, Chlorchemie, Agrochemie, Tabak, Gentechnik i.d, Landwirtschaft, Kinderarbeit
54
2003
Rüstung, Kemenergie, Suchtrnittel, Tierversuche, Chlorchemie
25
1998
Rentenfonds
Sarasin Sustainable Bond Euro
SEBÖkoRen
113590
971297
Renten Ethik Euro
Ethik, Ökologie
Renten Ökologie Global Ökologie
Abbildung 5: Marktüberblick über in Deutschland vertriebene ethisch-ökologische Investmentfonds
Ethische Investmentfonds: Ein Modeprodukt?
401
Zirka 4,1 Mrd. Euro waren in 68 Mischfonds und 105 Mio. Euro in 14 Dachfonds angelegt. Die Performance der Mischfonds, die bereits vor 2010 aufgelegt wurden, lag in den ersten drei Quartalen des Jahres 2010 zwischen zirka plus 14 % und zirka minus 12 %. Die Performance der Dachfonds, die vor 2010 aufgelegt waren, lag zwischen zirka plus 6 % und zirka minus 5 %. Bei diesen beiden Fondsarten ist zu berücksichtigen, dass der Aktienanteil unterschiedlich hoch ist und dies entsprechende Auswirkungen auf Rendite und Risiko hat. Insgesamt zirka 555 Mio. Euro waren in den elf nachhaltigen ETF investiert. Die Performance der bereits vor 2010 aufgelegten ETF lag in den ersten drei Quartalen des Jahres 2010 zwischen zirka plus 6 % und zirka minus 18 %. In den drei Microfinancefonds waren Ende September 2010 486 Mio. Euro investiert. Die Performance der bereits vor 2010 aufgelegten Microfinancefonds lag zwischen plus 1,9 % und plus 1,6 %. Da sich die Zusammensetzung der verschiedenen ethischen und ökologischen Portefeuilles sehr stark unterscheidet, ist auch die Performance der einzelnen Fonds weiterhin überaus unterschiedlich.
5.
Ansätze zur Bewertung der Marktentwicklung
5.1
Verwendung"nachhaltiger" Börsenindizes
Zu zum Teil deutlich abweichenden Ergebnissen bei der Beurteilung der Performance kommen die Ende der 1990er Jahre geschaffenen prinzipien- und ökologie-orientierten Börsenindizes. Mittlerweile existiert eine Vielzahl derartiger Indizes/" sodass nachfolgend nur zwei exemplarisch näher untersucht werden, um deren Aussagekraft zu würdigen. Der 1997 kreierte Natur-Aktien-Index (NAX) ist im Zeitraum bis Mitte 2005 um 209 % gestiegen, während der MSCI World im gleichen Zeitraum um 42,3
so Für einen Überblick vgl. Ecoreporter (2010);vgl. auch Sehröder (2005),S. 5 f. und Gabriel (2005).
402
Stephan Schöning
% und der DAX um 34,3 % anstiegen.s' Bis 2010 ist er auf 477 % gestiegen und
übertrifft damit nicht nur konventionelle Aktienindizes, sondern ist auch weitaus erfolgreicher als andere Sustainability-Indizes wie der Dow [ones Sustainability Index (DJSI), der Financial-Times-Index (FTSE4Good) oder der Öko-Dax.82 Der 1999 geschaffene Dow Iones Sustainability Group Index, der zunächst die 200 "nachhaltigsten" Unternehmen des Dow Iones Global Index enthielt, zeigte sogar eine deutliche Outperformance des Dow [ones im Zeitraum von 1994 bis 1999.83 Mittlerweile werden unter dem Dow [ones Sustainability Index eine Vielzahl von Indizes unterschiedlicher globaler und regionaler sowie zusammensetzungsspezifischer Natur ermittelt.v Der Dow Iones Sustainability Index weist mit 0,22 % im Vergleich zu 0,00 % beim Dow Iones Industrial Index in den letzten fünf Jahren die bessere Performance auf. Dementsprechend verkündeten die Fachleute des NAX und des DJSI, der Nachweis, dass nachhaltige Unternehmen eine größere Rendite erwirtschaften, sei geführt. Zu dieser Aussage gibt es jedoch eine Reihe von Kritikpunkten anzuführen. Der NAX, der sich auf einen Katalog aus ökologischen und sozialen Kriterien konzentriert." war zunächst ein gleichgewichteter Index aus ursprünglich 20 Werten. Jeder Wert war ist somit mit 5% vertreten, unabhängig von der eigentlichen Marktkapitalisierung. Die USA waren zunächst sehr stark gewichtet und Länder mit unterschiedlicher wirtschaftlicher Bedeutung wie Polen und Japan hatten mit jeweils 5% die gleiche Gewichtung." Mittlerweile wurde der Index auf 30 Titel aufgestockt und die Gewichtung verändert. In der aktuellen Zusammensetzung'" sind einige Länder weiterhin überge-
81
82
Vgl. NA! (2005), S. 1. Darüber hinaus zeichnete sich der NA! nach eigenen Angaben auch dadurch aus, dass er ein deutlich geringeres Risiko als die (nicht näher bezeichnete) konventionelle Benchmark hat. Vgl. NA! (2010a), S. 1.
83
Vgl. Armbruster (2000),S. 95 f.
84
Für einen Überblick über die verschiedenen Indices vgl. Dow Iones (2010).
85
Vgl. NA! (201Oa), S. 1 ff.
86
Vgl. Armbruster (2000),S. 95 f.
87
Vgl. NA! (2010c).
Ethische Investmentfonds: Ein Modeprodukt?
403
wichtet (11 Unternehmen stammen aus den USA), viele Länder und Branchen sind weiterhin nicht vertreten. Die tatsächliche Länder- und Branchenstrulctur ist somit sehr verzerrt und vereinfacht in dem Index abgebildet. Es ist daher verständlich, dass der NAX nur bedingt allgemeingültige Aussagen über die Performance von Umweltfonds treffen kann. Ein wesentlich komplexeres Konstrukt ist der Dow [ones Sustainability World Index (DJSI),8s Dieser 1999 geschaffene Index beinhaltet aktuell 323 Unternehmen aus den 2500 Firmen des Dow Iones Global Stock Market Index, die nach dem Kriterium der Nachhaltigkeit führend sind.s9 Die Auswahl erfolgt mithilfe eines Kriterienkatalogs, mit denen für sämtliche 19 Branchen jeweils die 10 % nachhaltigsten Unternehmen ermittelt werden. Dabei machen branchenübergreifenden Kriterien 43 % des gesamten Fragebogens aus, der Rest setzt sich aus den branchenspezifischen Kriterien (18 % wirtschaftliche, 3 % ökologische und 22 % soziale Kriterien) zusammen. Die Outperformance des DJSI gegenüber dem DJGI ist jedoch ähnlich kritisch zu beurteilen wie der NAX.90 Zuerst ist anzumerken, dass der DJSI in dem Zeitraum, in dem er besser abschnitt als der DJGI, zum Teil noch nicht existierte. Die Ergebnisse resultieren aus einem Backcasting auf die Jahre 1994 bis 1999. Das bedeutet, dass das Portefeuille von 1994 mit einem Informations-
stand von 1999 zusammengestellt wurde. Seine Aussagekraft wird somit wesentlich eingeschränkt. Es liegt der Verdacht nahe, dass nur Unternehmen in den Index aufgenommen wurden, die eine überdurchschnittliche Performance in diesem Zeitraum aufweisen," Selbst wenn auch in der Folgezeit der DJSI den konventionellen Vergleichsindex weiter übertroffen hat, wurde dies von den am DJSI angelehnten Fonds nicht immer erreicht."
B8
Vgl. Günther/Weber (2008),S. 1136 f.
89
Vgl. SAM (2010),S. 10, vgl. auch Haßler/Bamrnert (2003),S. 117.
90
Zur Kritik vgl. v.a. Hope/Fowler (2007),S. 243 ff.
91
Vgl. Figge/Schaltegger (2000),S. 98 ff.
92
So übertraf der SAM Sustainability Global Fund den Vergleichsfonds seit Auflage bis Ende 2006 um 1,5 Prozentpunkte. Dagegen lag der SAM Sustainable Leaders im 5-JahresVergleich um mehr als sechs Prozentpunkte zurück, vgl. Gerstenberg (2007),S. 2.
404
Stephan Schöning
Im Übrigen stellt sich die Frage, wie "grün" der Index in seiner Zusammensetzung ist. Analog zu den Feststellungen über die derzeitigen ethischen und ökologischen Investmentfonds finden sich auch im aktuellen DJSI Unternehmen wie RWE und E.on, also Energiekonzerne, die zu den größten Emittenten von Treibhausgasen in Europa zählen, sowie Fraport und die Chemiekonzerne BASF und Bayer, also Unternehmen, die sie unter der kritischen Beobachtung von Umweltschützern stehen." Dies ist jedoch unvermeidbar, da der DJSI sich aufgrund der Auswahl der enthaltenen Unternehmen und der Verwendung des Best- in-dass-Ansatzes in seiner Zusammensetzung nicht zu stark von seinem Vergleichsmaßstab, dem DJGI, unterscheiden kann. Außerdem wäre ein Vergleich zwischen "nachhaltigeren" und "weniger nachhaltigen" Unternehmen nicht möglich. Allerdings sind kleinere Gesellschaften, die oftmals innovativ im Sinne der Nachhaltigkeit wirtschaften, von vornherein aus dem Index ausgeschlossen. Gleichwohl ist der DJSI aus zwei Gründen positiv zu beurteilen: Begrüßenswert ist zum einen, dass Dow [ones als eines der weltweit führenden Indexunternehmen sich an diesem Index beteiligt, wodurch das Thema Nachhaltigkeit eine deutliche Aufwertung erfährt.w Zum anderen besteht die Hoffnung, dass durch diesen Index der Druck auf weniger nachhaltig operierende Großunternehmen steigt. So schaltete BMW, das bereits 1999 vom DJSGI zum "Nachhaltigkeits-Leader" seiner Branche gekürt worden war, bundesweit halbseitige Anzeigen, um dieses Ergebnis zu verkünden. Dies erzeugte nicht nur Missfallen bei der Konkurrenz, sondern führte auch dort zu erhöhten Anstrengungen im Zusammenhang mit der Nachhaltigkeit." In seiner Analyse von 29 Nachhaltigkeitsindizes kam Schröder'" 2005 zu dem Ergebnis, dass diese keine Unterschiede hinsichtlich der risikoadjustierten
93
Zur Kritik vgl. z.B. Disselho (2010).
94
Vgl. Armbruster (2000),S. 96.
95
Vgl. Weber (2000a), S. 15. So intensivierte Daimler-Chrysler in der Folgezeit seine Bemühungen deutlich und wurde ebenfalls in den DJS! aufgenommen. Daimler wurde allerdings 2010 wieder ausgeschlossen.
96
Vgl. Sehröder (2005),S. 19.
Ethische Investmentfonds: Ein Modeprodukt?
405
Rendite zeigten im Vergleich zu konventionellen Indizes. Allerdings wiesen einige Nachhaltigkeitsindizes vergleichsweise höhere Risiken auf.
5.2
Ethisch-ökologische Investmentfonds vor und während der Finanzmarktkrise
Trotz aller methodischer Vorbehalte stimmen die vorliegenden Untersuchungen dahingehend überein, dass ethisch-ökologische Investmentfonds einen Performancevergleich mit sonstigen Fonds nicht scheuen müssen. Gleichwohl ist zu konstatieren, dass Anleger in ethisch-ökologische Fonds von den Turbulenzen, die die Finanzmarktkrise an den internationalen Wertpapiermärkten ausgelöst hat, stärker als Anleger in sonstigen Fonds betroffen waren.f? So betrug nach Berechnungen von Moneyfacts der Wertverlust bei ethischökologischen Fonds im Zeitraum September 2007 bis September 2008 durchschnittlich 9,1 %, während konventionelle Fonds nur um 5,7 % an Wert verloren. Damit war der Wertverlust allerdings immer noch nicht so stark wie derjenige des Aktienmarkts, denn der FTSE 100 sank im gleichen Zeitraum um 10
%. Insgesamt kommt Moneyfacts zu dem Ergebnis, das ethisch-ökologische Fonds zwar im Jahr vor dem Ausbruch der Finanzmarktkrise eine bessere Performance als sonstige Fonds aufwiesen (Outperformance von 3,3 %-Punkten) und dies auch im 3-Jahreszeitraum der Fall war (16 % Performance verglichen mit 15,6 %). Für längere Anlagehorizonte kehrt sich das Ergebnis jedoch um, hier wiesen bei der Betrachtung der Zeiträume 2003 bis 2008 und 1998 bis 2008 ethisch-ökologische Fonds jeweils schlechtere Durchschnittswerte auf als konventionelle Fonds." Speziell für den britischen Fondsmarkt ergab die Analyse, dass nur sieben von den 57 untersuchten Fonds in der Finanzmarktkrise noch eine positive Per-
'P 98
Vgl. 5cott (2008),5.1. So war die lO-Jahres-Rendite für konventionelle Fonds (Zeitraum 1998 bis 2008) mit 90,4 % fast doppelt so hoch wie diejenige der ethisch-ökologischen Fonds (48,6 %). Im Jahr zuvor betrug der Renditeabstand nur 15 %-Punkte, vgl. Scott (2008),5. 3.
406
Stephan Schöning
formance aufwiesen, während speziell die in Großbritannien investierenden Fonds hohe Verluste aufwiesen.?'
5.3
Grundlegende Chancen und Risiken ethisch-ökologischer Investmentfonds
"Die Kunst (... ) besteht darin, sicherzustellen, dass die erwünschte Wirkung in bezug auf Ertrag und Risiko größer ist als die negative Wirkung durch die Einschränkung der Diversifikationsmöglichkeiten und die Kosten der zusätzlichen Analyse. "100 Das Grundprinzip von Investmentfonds ist, eine erhöhte Sicherheit gegenüber Aktien durch eine breite Streuung auf zahlreiche Aktien aus verschiedenen Branchen und Ländern zu erreichen. Diese Risikominderung wird durch den Wegfall
eventueller überdurchschnittlicher
Gewinne
einzelner
Aktien
"erkauft". Gewährt ein Investmentfonds nicht mehr genügend Risikodiversifikation, entfällt sein Hauptvorteil und sinken damit auch seine Renditechancen. Dies ist das zentrale Argument, das gegen ethische und ökologische Investmentfonds angeführt wird. Die Beantwortung der Frage, ob die Risikodiversifikation eines ethischökologischen Investmentfonds geringer ist als diejenige herkömmlicher Fonds, ist grundsätzlich von der jeweiligen Anlagestrategie der Fonds abhängig. Je mehr Branchen ausgeschlossen werden, desto unwahrscheinlicher wird es, eventuelle Verluste einzelner Bestandteile des Portefeuilles kompensieren zu können. Je einseitiger die Anlageinhalte sind, desto geringer fällt in der Regel über einen längeren Zeitraum betrachtet auch die Rendite aus.l°1 Als Beleg für diese These lassen sich die deutschsprachigen Umwelttechnologiefonds heranziehen. Die in Abschnitt 5.2 aufgeführten Ergebnisse zur durchschnittlichen Performance von ethisch-ökologischen Investmentsfonds werden daher unter anderem darauf zurückgeführt, dass einige Branchen wie Bergbau, ÖI-
99
Vgl. Scott (2008), S. 2 f.
100
Schaltegger/Figge (2000), S. 125.
101
Vgl. Knörzer (1999), 5.56.
Ethische Investmentfonds: Ein Modeprodukt?
407
und Gasfördenmg von der Anlage ausgeschlossen sind. Diese Branchen wiesen jedoch vor der Finanzmarktkrise eine besonders gute Performance auf und waren in der Finanzmarktkrise von den Kursrückgängen nicht so stark betroffen. Negativ schlägt auch zu Buche, dass oftmals nicht in Blue Chips, sondern in KMU investiert wird, die von der Finanzmarktkrise aufgnmd eingeschränkter Diversifikationsmöglichkeiten stärker als Großunternehmen betroffen waren.l 02 Das Argument der eingeschränkten Risikodiversifizienmg gilt allerdings nur begrenzt für Öko-Effizienz-Fonds und Sustainable Development Funds, da diese durch ihren .Best-in-classr-Ansatz auf ein breiteres Spektrum an Branchen zugreifen und hier die jeweils lIethischsten" oder "grünsten" Unternehmen der jeweiligen Branche auswählen. Somit sind aus Gründen der Risikodiversifikation weniger Renditeverluste zu erwarten und gleichzeitig profitiert der Anleger von der möglicherweise bestehenden Verbindung zwischen Nachhaltigkeit und Unternehmenserfolg. Die Frage, ob Unternehmen durch eine erhöhte Öko-Effizienz oder SozialEffizienz tatsächlich eine höhere Rendite erwirtschaften, wie die Ergebnisse des DJSI oder NAX vorgeben, ist allerdings noch nicht abschließend geklärt. Es existieren zahlreiche Studien, die sich mit den Chancen-/Renditen einzelner nachhaltig orientierter Investmentfonds befassen. Sie kommen zu überaus unterschiedlichen Ergebnissen.P" Ursächlich hierfür ist vor allem, dass neben der Besonderheit des Anlageuniversums (nachhaltige Anlage) weitere Faktoren wie zum Beispiel die Transaktionskosten, Timingaspekte oder die Managementqualität eine Rolle spielen. Daher lassen sich die Ergebnisse nicht eindeutig zur Beurteilung der Anlageform heranziehen. Zudem konnte in Bezug auf die Korrelation von Sozialverträglichkeit und Unternehmenserfolg bisher kein signifikanter Zusammenhang hergestellt werden.P' Dies ist insofern nicht wei102
Vgl. Scott (2008),S. 2.
103
Für einen Überblick vgl. Sehröder (2005), S. 3 f., vgl. auch Camejo (2002). Einen positiven Zusammenhang zwischen Finanz- und Nachhaltigkeitsperformance belegen die Studien von European Business School/Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (2001), Hypovereinsbank AG/oekom research AG (2007)sowie SchäferlStederoth (2001).
104
Vgl. Butz/Plattner (1999).
408
Stephan Schöning
ter verwunderlich, als dass bisher noch keine allgemein anerkannten Konzepte zur Analyse, der Sozialeffizienz eines Unternehmens existieren.P' Immerhin lässt sich trotz fehlender allgemeingültiger Zusammenhänge feststellen, dass sozial inakzeptables Verhalten, sofern es an die Öffentlichkeit gelangt, durchaus von den Konsumenten bestraft wird, beispielsweise wenn bekannt wird, dass ein Unternehmen Kinderarbeit toleriert oder wenn schwere Missstände bei den Arbeitsbedingungen festgestellt werden.P' Im deutschsprachigen Raum herrscht in Bezug auf eine mögliche Korrelation zwischen Umwelteffizienz und Unternehmenserfolg zumindest Übereinstimmung in dem Punkt, dass sich ein verbessertes Umweltverhalten in "umweltrelevanten" Branchen wie Energie, Chemie, Industrie etc. auch positiv auf den Unternehmenserfolg auswirkt.i'" In weniger umweltrelevanten Branchen wie beispielsweise Banken, Versicherungen oder Telekommunikation hingegen konnte kein Zusammenhang hergestellt werden. Als Zusammenfassung dieser Untersuchungen lasst sich feststellen, dass die Frage, ob das Sozial- und Umweltverhalten eines Unternehmens seinen Erfolg beeinflusst, nicht allgemeingültig beantwortet werden kann. Die zukünftigen Marktentwicklungen werden zeigen, welches der Argumente stärker ins Gewicht fällt.
6.
Fazit
Der zukünftige Erfolg ethischer und ökologischer Investmentfonds und damit die Frage, ob es sich um mehr als nur ein Modeprodukt handelt, wird in starkem Maße davon abhängen, ob die Probleme, die sich in jüngster Vergangenheit im Zusammenhang mit den am Markt befindlichen Fonds offenbarten, bewältigt werden können. Erstens ist fraglich, ob sich der Hauptkritikpunkt
105
Vgl. Schaltegger/Figge (2000),S. 126.
106
Zum Beispiel mussten die Sportartikelhersteller Nike und Reebok vor einigen Jahren erhebliche Ertragseinbußen in Kauf nehmen, als bekannt wurde, dass ihre in Südostasien gefertigten Schuhe unter katastrophalen Arbeitsbedingungen von Kindern gefertigt wurden, vgl. Beamish et al. (1997),S. 578 ff.
107
Vgl. Armbruster (2000),S. 95 ff.
Ethische Investmentfonds: Ein Modeprodukt?
409
der verringerten Rendite prinzipiengeleiteter Fonds entkräften lässt. Von zentraler Bedeutung wird zweitens sein, inwiefern Ethik- und Umweltfonds ihren selbst formulierten Ansprüchen gerecht werden können. Neben einer angemessenen Rendite ist Glaubwürdigkeit eine grundlegende Bedingung für den Erfolg dieser Fonds. Die Bestrebungen der Ratingagenturen, die Transparenz der Fonds zu erhöhen, sind ein Schritt in die richtige Richtung, drohen aber mittlerweile eine neue Form der Intransparenz zu schaffen. Anlagen in ethisch-ökologische Fonds erfordern vom Kapitalanleger zunächst eine intensive Beschäftigung mit den eignen Zielen und der individuellen Risikotragfähigkeit. Angesichts der Merkmale "erhöhte Volatilität sowie "Verpassen von Chancen in Aussch1ussbranchen", die den Fonds produktimmanent sind, ist ein sorgfältiges Abwägen zwischen Rendite, Risiko und Nachhaltigkeit erforderlich. Auf dieser Basis ist anschließend eine sorgfältige Auswahl des passenden Fonds erforderlich.I'" .You have to keep picking the right funds. Ethical investing is going to be more volatile than mainstream investing and it could take longer to make the returns but if you believe the principles behind ethical investing and investing for a sustainable planet, the argument in their favour stands and you need to invest for the long term."109
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108
Vgl. z.B. Disselho (2010).
109
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Über den Autor:
Prof. Dr. Stephan Schöning studierte nach einer Ausbildung zum Bankkaufmann in der Bank für Gemeinwirtschaft Betriebswirtschaftslehre mit den Schwerpunkten Bankbetriebslehre und Wirtschaftsgeographie an der Universität Hamburg mit dem Abschluss Diplom-Kaufmann. Anschließend promovierte er am Institut für betriebswirtschaftliche Geldwirtschaft der GeorgAugust-Universität Göttingen zum Doktor der Wirtschaftswissenschaft (Dr. rer. pol.). Nach der Habilitation im Jahr 2007 erhielt Prof. Schöning die Lehrbefugnis (Venia Legendi) für "Betriebswirtschaftslehre". Von 3/1991 bis 11/1994 war Prof. Schöning als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Bank- und Versicherungsbetriebslehre, Arbeitsbereich Bankbetriebslehre, der Universität Hamburg tätig. Anschließend wechselte er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an das Institut für Untemehmensplanung Bankseminar der Universität Hannover. Von 4/1997 bis 4/2009 arbeitete Prof. Schöning als wissenschaftlicher Mitarbeiter und als Hochschulassistent am Bankseminar der Leuphana Universität Lüneburg. Seit 1/2009 ist er Inhaber des Lehrstuhls für ABWL, Finance and Banking an der WHL Wissenschaftliche Hochschule Lahr. Prof. Schöning ist/war als Dozent unter anderem für die Frankfurt School of Finance and Management und den Genossenschaftsverband Norddeutschland tätig. Darüber lehrt er als Gastdozent an der MarmaraUniversität in Istanbul.
Gedanken zu einer normativen Betriebswirtsehaftliehen Steuerlehre Dieter Schneeloch
1.
Einführung und Problemstellung
Während der vergangenen Jahrzehnte hat sich der Jubilar, Herr Kollege Arnold, immer wieder mit Fragen der Wirtschaftsethik auseinandergesetzt-, In seinen Beiträgen hat er insbesondere Probleme der Steuer- und Verteilungsgerechtigkeit erörtert-. Hierbei geht es vor allem um die Frage, wie das Steuerrecht beschaffen sein sollte, um dem Gerechtigkeitspostulat möglichst weitgehend zu entsprechen. Problematisiert werden also letztlich Steuerrechtsnormen, sei es de lege lata, sei es de lege ferenda. Selbstverständlich sind die Ausführungen von Herrn Kollegen Amold eingebettet in das volkswirtschaftliche Theoriengebäude. Nachfolgend sollen Gedanken darüber entwickelt werden, welchen Grundwertungen das Steuerrecht aus Sicht der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre, einer betriebswirtschaftlichen Disziplin also, entsprechen sollte. Hierbei soll auch auf sich aus den Grundwertungen ergebende Zielkonflikte eingegangen werden. Ferner soll zu der Frage Stellung genommen werden, welche Verpflichtungen dem einzelnen Fachwissenschaftler aus seinen Forschungen gegenüber anderen Personen und der Allgemeinheit erwachsen.
1
2
Vgl. Arnold in Perspektiven der Wirtschaftspolitik 2009, S. 253 ff. Der Jubilar ist Mitglied des Vereins für Socialpolitik und war dort von 1999 - 2003 als Vorsitzender des Ausschusses "Wirtschaftswissenschaft und Ethik" tätig. In dieser Funktion hat Herr Kollege Amold verschiedene Diskussionen zu diesem Forschungsbereich begleitet und Schriften in der Reihe "Wirtschaftsethische Perspektiven" mitherausgegeben. Vgl. Arnold, in: Homann (Hrsg.), 1994, S. 53 ff.; Arnold, in: Nutzinger (Hrsg.), 1996, S. 75 ff.
T. Nguyen, M ensch und Markt, DOI 10.1007/978-3-8349-6728-2_16, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
420
2.
Dieter Schneeloch
Die Betriebswirtschaftliche Steuerlehre im Kanon der Wissenschaften
Die Betriebswirtschaftliche Steuerlehre ist eine Teildisziplin der Betriebswirtschaftslehre. Ihre Aufgabengebiete lassen sich wie folgt umreißen: 1. Analyse der steuerlichen Folgen betriebswirtschaftlicher Entscheidungen (Steuerwirkungslehre), 2. Erarbeitung von Kriterien und Entscheidungsregeln für rational begründbare betriebswirtschaftliche Gestaltungsmaßnahmen unter Berücksichtigung der Besteuerung (Steuergestaltungslehre), 3. kritische Würdigung bestehenden oder geplanten Steuerrechts aus betriebswirtschaftlicher Sicht und Erarbeitung von Vorschlägen zu seiner Verbesserung (normative Betriebswirtschaftliche Steuerlehre) und 4. empirische Überprüfung der auf entscheidungslogischem Wege gefundenen Ergebnisse (empirische Betriebswirtschaftliche Steuerlehre). Die genannten unterschiedlichen Problemstellungen lassen sich anband des folgenden Beispiels verdeutlichen:
Beispiel Zur Ankurbelung der Wirtschaft beschließt der Gesetzgeber, die steuerlichen Abschreibungshöchstsätze um 10 % zu erhöhen. Er geht davon aus, dass diese Maßnahme die Wirtschaft veranlassen wird, ihr Investitionsvolumen zu vergrößern. Aufgabe der Steuerwirkungslehre ist es, die steuerlichen Folgen einer Erhöhung der höchstzulässigen steuerlichen Abschreibungen um 10 % für den einzelnen Betrieb oder für bestimmte Gruppen von Betrieben zu analysieren. Aufgabe der betrieblichen Steuergestaltungslehre ist es, zu untersuchen, ob es als Folge der Erhöhung der Abschreibungssätze sinnvoll ist, den vorgesehenen Investitionsplan zu ändern. Zur Klärung dieser Frage ist es erforderlich, die geänderten Steuerfolgen in den Investitionskalkül einzubeziehen.
Normative Betriebswirtschaftliche Steuerlehre
421
Eine mögliche Aufgabe der rechtskritischen Steuerlehre besteht darin, zu analysieren, ob die Gesetzesänderung den gewünschten Erfolg verspricht, d. h. ob für die Unternehmen tatsächlich ein Anreiz zu zusätzlichen Investitionen besteht. Der empirischen Steuerlehre bleibt es vorbehalten, zu untersuchen, ob das tatsächliche Verhalten der für die Investitionsentscheidungen Verantwortlichen den Erwartungen des Gesetzgebers entspricht. Es kann z. B. versucht werden, dies mit Hilfe einer Repräsentativbefragung der betrieblichen Entscheidungsträger zu klären. Steuerwirkungslehre und Steuergestaltungslehre können unter dem Oberbegriff der Steuerplanung oder der Betrieblichen Steuerpolitik zusammengefasst werden", Beide haben während der letzten Jahrzehnte einen hohen Reifegrad erreicht'. Gleiches kann von der normativen Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre - ebenso wie von der empirischen - nicht behauptet werden. Vielmehr liefern sich hier verschiedene "Schulen" seit Jahrzehnten einen erbitterten Grundsatzstreit. Hierauf wird noch näher einzugehen sein", Die Betriebswirtschaftliche Steuerlehre kann nicht nur als Teildisziplin der Betriebswirtschaftslehre, sondern - bei einer Einteilung nach anderen Kriterien auch als Teildisziplin der Steuerwissenschaften angesehen werden. Zu dieser werden neben der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre die Finanzwissenschaft und das Steuerrecht gezählt. Gemeinsames Problemfeld dieser Wissenschaften ist deren rechtskritischer (normativer) Teilbereich. Hier geht es also um die kritische Beurteilung von Rechtsnormen, und zwar sowohl de lege lata als auch de
lege ferenda, um dieselben Probleme also, mit denen sich der Jubilar während der vergangenen Jahre aus volkswirtschaftlicher Sicht in erheblichem Maße
3
Vertiefend hierzu s. Schnee/ach, 2009, S. 3 ff.
• Dieser kommt insbesondere darin zum Ausdruck, dass fast alle Lehrbücher zur Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre - neben steuerrechtlichen Grundlagen - ausschließlich oder zumindest schwerpunktmäßig Probleme der Steuerplanung behandeln. Über deren Methoden und Hauptproblemfelder scheint weitgehende Einigkeit zu bestehen. Vgl. in diesem Zusammenhang insbesondere folgende Lehrbücher: LemmISchinner, 2005; Haberstack/Breithecker, 2010; Schneeloch. 2009; Kußmaul. 2010; Scheffler, 2010. 5
Vgl. die Gliederungspunkte 3.3 und 3.4.
Dieter Schneeloch
422
beschäftigt hat6. Zur Beurteilung steuerrechtlicher Normen bedarf es - auch aus Sicht der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre - zwingend der Reflexion über die diesen zugrunde liegenden ethischen Normen.
3.
Grundlagen der normativen Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre
3.1
Grundsätzliche Zusammenhänge
Allgemein wird als Forschungsgebiet der normativen (rechtskritischen) Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre die kritische Würdigung bestehenden oder geplanten Steuerrechts aus einzelwirtschaftlicher Sicht und die Erarbeitung von Vorschlägen zu seiner Verbesserung angesehen", Ein Verbesserungsvorschlag kann auch in der Unterbreitung eines neuen Besteuerungskonzepts bestehen. Zur kritischen Würdigung des Steuerrechts und zur Erarbeitung von Vorschlägen zu seiner Verbesserung bedarf es der Kenntnis eines Beurteilungsmaßstabs. Dieser kann nur auf Wertungen (Werturteilen) beruhen. Diese können von unterschiedlichen Personen und Institutionen stammen, ggf. von diesen entwickelt werden. Als derartige Personen bzw. Institutionen kommen insbesondere der Gesetzgeber, die Gemeinschaft der Fachwissenschaftler und der einzelne Wissenschaftler in Betracht. Unabhängig davon, um wessen Wertungen es sich handelt, sollten diese in jeder wissenschaftlichen Veröffentlichung klargestellt werden. Strebt der Wertende aufgrund seiner Wertungen mehrere Ziele an, so sollten diese genannt, außerdem sollte ihre Rangordnung festgelegt werden. Nur so kann dem Vorwurf der Parteilichkeit begegnet werden",
6
Vgl. Gliederungspunkt O.
7
Vgl. Fischer/Schneeloch/Sigloch in DStR 1980, S. 700; Siegel/Bareis, 2004, S. 7.
8
So auch Bareis in StuW 2002, S. 135 f. Vertiefend zur Problematik von Werturteilen in der Betriebswirtschaftslehre generell siehe Steinmann. in: Steinmann, 1978, S. 83 ff. m. w. N. Siehe auch Kamitz in DBW 1985, S. 308 ff. sowie die Replik von Schneider in DBW 1985, S. 357 ff. und die erneute Replik von Kamitz in DBW 1985a, S. 360 ff. Hinsichtlich der Bedeutung von Wertungen speziell in der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre sei insbesondere auf folgende z. T. voneinander abweichende Ansichten im Schrifttum der letzten Jahre hingewiesen: Schmiel in zfbf 2005, S. 177 ff.; Bareis in BFuP 2007, S. 421 ff. sowie die Replik von Schmiel in BFuP 2008, S. 177 ff.; Siegel in BFuP 2007, S. 625 ff.
Normative Betriebswirtschaftliche Steuerlehre
3.2
423
Ableitung normativer Aussagen aus Vorgaben des Gesetzgebers
In vielen Gesetzesbegriindungen zu Steuergesetzen finden sich Aussagen zu wirtschaftspolitischen Zielen des Gesetzgebers. So hat der Gesetzgeber die wiederholten Tarifsenkungen der letzten Jahre bei der Einkommen- und Körperschaftsteuer insbesondere mit der Notwendigkeit einer Stärkung der Investitionsbereitschaft der Unternehmen zur Sicherung des Standorts Deutschland begründet". Eine mögliche - und außerordentlich sinnvolle - Aufgabe der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre besteht nun darin, zu prüfen, ob zu erwarten ist, dass das vom Gesetzgeber angestrebte Ziel mit den von ihm zur Verfügung gestellten Mitteln, also den Gesetzesändenmgen, erreicht wird. Das Instrumentarium, das dem Wissenschaftler für seine Prüfung zur Verfügung steht, ist das der Steuerwirkungsanalyse. Die Frage, die er in dem o. a. Beispiel zu stellen und zu beantworten hat, lautet: Ist es für die Unternehmer bzw. potentiellen Unternehmer nach der Gesetzesändenmg vorteilhafter zu investieren als vorher? Hierauf wird noch zurückzukommen seint", Bei Prüfung von Fragen der soeben gestellten Art ist es erforderlich, dass der Wissenschaftler seine Untersuchung nicht auf die Änderung der Normen beschränkt, für die der Gesetzgeber eine Begründung gibt, hier also auf die Tarifnormen (§ 23 KStG, § 32a EStG). Vielmehr ist es notwendig, dass er die Gesamtheit der Normen, die der Gesetzgeber geändert hat bzw. ändern will, in seine Untersuchung einbezieht. Nur so kann er beurteilen, ob die Gesetzesänderungen insgesamt eine Verhaltensändenmg der Unternehmer - bei diesen rationales Verhalten unterstellt - in der vom Gesetzgeber erhofften Weise erwarten lassen. So kann es sein, dass der Gesetzgeber neben einer Gesetzesändenmg, die Investitionen vorteilhafter werden lässt, eine weitere beschließt, die bewirkt, dass Investitionen nachteiliger werden. Genau dies ist während der letzten Jahre wiederholt geschehen. So hat der Gesetzgeber mehrfach in einem einzigen Änderungsgesetz die Ertragsteuersätze, zugleich aber auch die
9
10
Vgl. z. B. BT-Drucks. 14/23 v. 09.11.1998; BT-Drucks. 14/2683 v. 15.02.2000; BT-Drucks. 14/4217 v. 06.10.2000; BR-Drucks. 220/07 v. 30.03.2007. Vgl. Gliederungspunkt 4.2.
424
Dieter Schneeloch
steuerlichen Abschreibungssätze gesenkt". Während die erste Maßnahme (Senkung der Steuersätze) vielleicht überwiegend die Vorteilhaftigkeit möglicher künftiger Investitionen erhöht, ist dies bei der zweiten gesetzgeberischen Maßnahme mit Sicherheit nicht der Fall. Eine Senkung der steuerlichen Abschreibungssätze hat - zumindest bei Normalinvestitionen's - eindeutig eine Verringerung der Vorteilhaftigkeit der Investitionen zur Folge. Die bisherigen Ausführungen zeigen, dass es für die am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Personen außerordentlich wichtig ist, dass sie die Steuerwirkungen, die eine von ihnen beabsichtigte Steuerrechtsänderung bei den betroffenen Personen herbeiführt, kennen. Intuition über die möglichen Folgen reicht nicht aus; sie kann zu Fehlschlüssen führen. Intuitiv ist der Gesetzgeber in der Vergangenheit wiederholt davon ausgegangen, dass seine Gesetzesänderungen die Vorteilhaftigkeit von Investitionen im Inland erhöhen. Ob dies tatsächlich der Fall ist, hat er - soweit ersichtlich - nicht geprüft.
3.3
Ableitung nonnativer Aussagen ausschließlich aus ökonomischen Grundwertungen
In Diskussionen über eine grundlegende Steuerreform, die in kurzen Abständen immer wieder das Land überziehen, ist es sinnvoll, auch die Grundwertungen, auf denen das geltende Steuerrecht beruht und das neue beruhen soll, zu hinterfragen. Für die an der Diskussion beteiligten Betriebswirte stellt sich die Frage, welche Grundwertungen es aus der Sicht ihres Faches gibt. Genannt
11
Vgl. StEntlG 1999/2000/2002v. 24.03.1999, BGBl1999 I, S. 402; SteuerSenkG v. 15.02.2000, BGBI 2000 I, 5.1433; StSenkErgG v. 19.12.2000, BStBl 2001 I, S. 25; UStRG v. 14.08.2007, BGBl2007 I, S. 1912.
12
Unter einer Normalinvestition wird in der Betriebswirtschaftslehre eine Investition verstanden, bei der auf eine Investitionsauszahlung in to in den Folgeperioden bis zum Ende des Investitionszeitraums stets die Einzahlungen die Auszahlungen übersteigen, in denen also nur ein einmaliger Vorzeichenwechsel der Zahlungsüberschüsse stattfindet.
Normative Betriebswirtschaftliche Steuerlehre
425
werden dann üblicherweise zwei, und zwar die Forderung nach der Entscheidungsneutralität und die nach der Allokationseffizienz der Besteuerungr'. Von einigen Betriebswirten werden diese beiden Grundwertungen als die einzig akzeptablen angesehen». Sie sind der Ansicht, dass bei uneingeschränkter Beachtung der Entscheidungsneutralität und der Allokationseffizienz der Besteuerung durch den Gesetzgeber dem Allgemeinwohl am besten gedient sei Sie verkennen hierbei, dass ihre Modellwelt eine extrem vereinfachende und verzerrende Abbildung der Realität darstellt. So ist Allokationseffizienz und die bei ihrer Befolgung behauptete höchstmögliche Wohlstandsmehrung der Gesellschaft insgesamt und ihrer Individuen sicherlich nicht das alleinige Motiv, in den meisten Fällen vermutlich auch nicht das Hauptmotiv, für Handlungen der einzelnen Individuen. Eine strikt am Ziel einer kurzfristig orientierten Allokationseffizienz ausgerichtete Wirtschafts- und damit auch Steuerpolitik kann dazu führen, dass das Ziel verfehlt wird und der allgemeine Wohlstand langfristig deutlich schwächer wächst oder sogar fällt im Vergleich zu dem Fall, dass Allokationseffizienz nicht als einziges Ziel verfolgt wird. Dieser Effekt kann insbesondere dadurch entstehen, dass sich ein großer Teil der Arbeitnehmer benachteiligt fühlt. Frustration und sinkende Leistungsfähigkeit und -willigkeit können die Folge sein. Auf Dauer kann eine strikt am Ziel der Allokationseffizienz ausgerichtete Wirtschaftspolitik zu erheblichen sozialen Spannungen führen und den Arbeitsfrieden beeinträchtigen. In diesem Fall dürfte das Gegenteil dessen erreicht werden, was eigentlich bezweckt ist. Die strikte Verfolgung des Ziels der Allokationseffizienz mit Hilfe der Wirtschaftspolitik auf der Grundlage eines ökonomischen Effizienzmodells ist deshalb bereits wirtschaftspolitisch nicht sinnvoll. Darüber hinaus ist zu beachten, dass ein wirtschaftspolitisches Ziel auf keinen Fall alleiniges politi-
13
14
Vgl. Elschen in StuW 1991, S. 102 ff.; Wagner in StuW 1992, S. 4; Bareis, in: Baron/Bareis (Hrsg.), 1996, 5.34; Hundsdoerjer/Kiesewetter/Sureth in ZfB, 2008, S. 68 f.; Haberstock/Breithecker, 2010, S. 17 ff. So insbesondere Wagner in BFuP 1984, S. 201 ff.; Wagner in FA 1986, S. 32 ff. Siehe auch die Streitschriften zwischen Wenger und Schneider: Wenger in FA 1985, S. 307 ff.; Wenger in FA 1986,S. 258 ff.; Schneider in FA 1985,S. 470 ff.; Schneider in FA 1986, S. 224 ff.
426
Dieter Schneeloch
sches Ziel der Regierung bzw. des Gesetzgebers sein sollte", Neben diesemzweifellos sehr wichtigen Ziel - sollten beide weitere Ziele verfolgen, die sich aus den Wünschen und Bedürfnissen der Staatsbürger ableiten lassen. Oberstes Ziel des Gesetzgebers sollte es sein, eine möglichst große Zufriedenheit und Identifikation der Staatsbürger mit ihrem Staat zu erreichen. Dieses Ziel sollte langfristig verfolgt werden. Hierbei können die Subziele im Zeitablauf durchaus wechseln oder ein anderes Gewicht erhalten. Im Vergleich zur Forderung nach Allokationseffizienz ist die nach der Entscheidungsneutralität der Besteuerung weniger problematisch. Doch ist auch sie im Schrifttum nicht unumstritten. So wendet sich Schneider gegen die Forderung nach Rechtsformneutralität der Besteuerung, die als Unterform derjenigen nach Entscheidungsneutralität angesehen werden kann>. Schmiel lehnt die Forderung nach Investitionsneutralität der Besteuerung ab". Unter Berücksichtigung der aufgezeigten Zusammenhänge ist es wenig sinnvoll, in wissenschaftlichen Abhandlungen von der Allokationseffizienz und der Entscheidungsneutralität der Besteuerung als alleinigen Zielen auszugehen. Vielmehr sollte der einzelne Wissenschaftler das zur jeweiligen Zeit und im jeweiligen Land herrschende soziale und kulturelle Umfeld berücksichtigen18 • Macht er dies nicht, so mögen seine Ausführungen zwar von intellektuellem Interesse sein, eine Hilfe bei der Politikberatung sind sie hingegen nicht. Befolgt der Gesetzgeber dennoch seinen Rat, so kann dies zu fatalen gesellschaftspolitischen Fehlentscheidungen führen.
3.4
Ökonomische und nicht ökonomische Grundwertungen
Damit stellt sich die Frage, von welchen Grundwertungen bei steuemormativen Überlegungen ausgegangen werden sollte. Aus ökonomischer Sicht sind in der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre noch am ehesten die soeben ange-
15
Vgl. hierzu insbesondere Bareis in StuW 2002, S. 136 m. w. N.
16
Vgl. Schneider, in: SiegeI/Kirchhof/Schneeloch/Schneider (Hrsg.), 2005, S. 275 ff.
17
Vgl. Schmiel, in: Schmiel/Breithecker (Hrsg.), 2008, S. 333 ff.
18
Vgl. Bareis in StuW 2002, S. 136.
Normative Betriebswirtschaftliche Steuerlehre
427
sprochenen Postulate der Entscheidungsneutralität und der Allokationseffizienz der Besteuerung anerkannt, allerdings von den meisten Autoren nicht als alleinige Crundwertungen'", Soweit die Einkommensteuer betroffen ist,
finden darüber hinaus folgende nichtökonomischen Grundwertungen in hohem Maße Anerkennung: • der Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung, • die Förderung des Sozialstaatsprinzips durch Umverteilung und • der Grundsatz der Einfachheit und Transparenz des Steuerrechts-', Der Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung beinhaltet, dass jeder Staatsbürger entsprechend seiner persönlichen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit mit Einkommensteuer belastet werden soll. Der relative Nutzenentzug soll also für jeden Bürger - gemessen an einer standardisierten und allgemein verbindlichen Nutzenfunktion - gleich sein. Wie diese standardisierte Nutzenfunktion, der Einkommensteuertarif also, konkret aussehen soll, kann nur politisch entschieden werden. Dem Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung liegt ein allgemein anerkanntes Gerechtigkeitsempfinden zugrunde, letztlich also eine ethische Norm-t. Dieses Gerechtigkeitsempfinden findet in der Bundesrepublik
Deutschland seinen staatsrechtlichen Niederschlag in dem Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 GG22. Aus dieser Grundrechtsnorm wird letztlich auch - folgerichtig - der Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung abgeleitet-', Eine Korrektur des Ergebnisses der Einkommenserzielung durch die Einkommensteuer zur Erfüllung des Sozialstaatsprinzips wird weitgehend als notwendig und sinnvoll angesehene. Gleiches gilt derzeit in der Bundesrepu19
Bareis. in: Baron/Bareis (Hrsg.), 1996, S. 34. Grundlegend zur Entscheidungsneutralität siehe Schneider, 1992, S. 193 H. Siehe auch Wagner in StuW 1992, S. 2 H.; Elschen, 1994.
20
Vgl. Schneider in StuW 1989, S. 329 H.; Bareis in DStR 1995, S. 158.
21
Vgl. Schneider in DB 1997; Siegel in BFuP 2007, S. 625 ff.
22
Vgl. Gersch, in: Klein, § 3 Rz. 6 H.
23
24
Vgl. Siegel, in: Siegel/Kirchhof/Schneeloch/Schneider (Hrsg.), 2005, S. 363 und Lang, in: Tipke/Lang, 2008, § 4, Rz. 70 f. Vgl. Andel, 1998, S. 445 ff.
428
Dieter Schneeloch
blik nicht hinsichtlich einer Korrektur des Ergebnisses der Vermögensverteilung durch die Erbschaft- und Schenkungsteuer. Eine derartige Korrektur findet durch die Begünstigung von Betriebsvermögen durch § 13a ErbStG nur in sehr geringem Umfang statt. Grundsätzliche Kritik an dieser Gesetzgebung ist von Fachvertretern der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre allenfalls vereinzelt zu vernehmen. Eine besondere Stellung innerhalb eines jeden Systems von Grundwertungen nehmen die Grundsätze der Einfachheit und Transparenz ein. Der Forderung nach Einfachheit und Transparenz des Steuerrechts wird vermutlich jeder Fachvertreter und auch jeder Politiker zustimmen-", Bei diesem Befund ist es erstaunlich, dass das deutsche Steuerrecht während der letzten Jahrzehnte tendenziell ständig komplizierter und undurchschaubarer geworden ist. Dies wird vermutlich von keinem Fachwissenschaftler und von keinem mit dem Steuerrecht beschäftigten Politiker bestritten. Hier ist offensichtlich eine bereits seit Jahrzehnten andauernde Fehlentwicklung zu beklagen. Inzwischen haben die Kompliziertheit und Intransparenz des deutschen Steuerrechts ein Ausmaß angenommen, das allgemein als unerträglich empfunden wird>, "Spitzenleistungen" geradezu monströser Steuerrechtsnormen waren die §§ 2 Abs. 3 und IOd EStG in der für die Veranlagungszeiträume 1999 bis 2003 geltenden Fassung. Zu nennen ist auch § 8a KStG in seiner derzeitigen Fassung". Diese Rechtsnorm hat die Finanzverwaltung dazu veranlasst, in einem BMFSchreiben "Klarstellungen" vorzunehmenv, die kaum noch mit dem Gesetzeswortlaut vereinbar slnd-", Heftig umstritten wegen ihrer unklaren Formu-
2S
Vgl. z. B. BT-Drucks. 14/23 v. 09.11.1998; BT-Drucks. 14/2683 v. 15.02.2000; Schneider in DB 2004, S. 1517 f.
26
Vgl. Sigloch, in: Krause-Junk (Hrsg.), 1996, S. 89 ff. sche Meinung 1997, S. 5 ff.
X!
Eingefügt durch das Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002 v. 24.03.1999, BGBl1999 I, S. 402.
28
In. W.
N. Siehe auch Bareis in Die politi-
Vgl. BMF-Schreiben IV A 2 - S 2742a - 20/04 v. 15.07.2004, BStB12004 I, S. 593 ff.
2. Vgl. die Kritik der Bundessteuerberaterkammer. Stellungnahme zu § 8a KStG v. 04.06.2004; Pressemitteilung derBundessteuerberaterkammer v. 21.06.2004.
Normative Betriebswirtschaftliche Steuerlehre
429
lierung ist die zum 1.1.2010 geänderte Vorschrift des § 5 Abs. 1 Satz 1 EStG30• Diese Rechtsnorm enthält den Grundsatz der Maßgeblichkeit der Handels- für die Steuerbilanz. Immerhin handelt es sich hierbei um eine der zentralen Vorschriften zur steuerlichen Gewinnermittlung. Der Katalog komplizierter Steuerrechtsnormen kann in jüngster Zeit ergänzt werden um die Vorschrift zur Tarifbegünstigung nach § 34a EStG, die Anrechnungsvorschrift des § 35 EStG31 sowie dasLohnsummenkriterium des § 13a ErbStG. Die Liste kaum verständlicher, teilweise auch unverständlicher und extrem komplizierter Steuerrechtsnormen ließe sich fortsetzen. Betroffen sind hiervon nicht nur das Einkommen- und Körperschaftsteuergesetz sowie das Erbschaftsteuergesetz, sondern insbesondere auch das Umsatzsteuergesetz.
3.5
Zielkonflikte
Aus den unterschiedlichen Grundwertungen können unterschiedliche Ziele abgeleitet werden, die entweder der Gesetzgeber verfolgt oder von denen bestimmte Personen oder Personengruppen meinen, dass sie der Gesetzgeber verfolgen sollte. Die einzelnen Ziele können miteinander vereinbar sein, es können sich aber auch Zielkonflikte ergeben. Letzteres dürfte sogar sehr häufig der Fall sein. Ein möglicher Zielkonflikt ergibt sich aus den Ausführungen zu Gliederungspunkt 3.3. Er betrifft einen möglichen Zielkonflikt zwischen der Verfolgung des Ziels der Allokationseffizienz und der Verfolgung eines oder mehrerer nicht ökonomischer Ziele. So kann eine Verfolgung des Ziels der (kurzfristigen) Allokationseffizienz im Konflikt stehen zu dem Ziel einer Wahrung des sozialen Friedens innerhalb der Gesellschaft. Ein weiterer Zielkonflikt ergibt sich häufig aus dem Ziel einer gerechten, d. h. i. S. d. Art. 3 GG gleichmäßigen Besteuerung und dem Ziel, Arbeitsplätze zu
schaffen und zu erhalten. Letzteres Ziel hat in der Vergangenheit häufig dazu geführt, dass der Gesetzgeber (gewerbliche, freiberufliche und land- und
30
31
Vgl. Dörfler/Adrian in DB 2008, S.44 ff.; Herzig in OB 2008, S. 1 ff.; Förster/Schmidtmann in BB 2009, S. 1342 ff.; Herzig/Briesemeister in OB 2009, S. 976. Vgl. PatekJSchröder in OStZ 2009, S. 922 ff.
430
Dieter Schneeloch
forstwirtschaftliche) Arbeitgeber gegenüber anderen Steuerpflichtigen bevorzugt hat. Das vielleicht eklatanteste Beispiel aus neuerer Zeit für eine entsprechende Gesetzgebung ist die erhebliche erbschaft- bzw. schenkungsteuerliche Bevorzugung der Vererbung oder Schenkung gewerblichen, freiberuflichen sowie land- und forstwirtschaftlichen Vermögens durch § 13a ErbStG gegenüber der Vererbung bzw. Schenkung aller anderen Vermögensarten. Diese Begünstigung ist insbesondere daran geknüpft, dass der Erbe des entsprechenden Vermögens Arbeitsplätze in einem vom Gesetzgeber vorgeschriebenen Mindestmaß für eine bestimmte Mindestzeit erhält32 • Häufig dürfte ein Konflikt zwischen dem Ziel einer gerechten, d. h. gleichmäßigen Besteuerung einerseits und dem Ziel einer einfachen und transparenten Steuergesetzgebung andererseits entstehen. In jüngster Zeit wird dies vor allem an den Regelungen zur sog. Abgeltungssteuer deutlich. Nach § 43 Abs. 5 EStG gilt die Einkommensteuer des Empfängers von Einkünften aus Kapitalvermögen auf diese Einkünfte mit der von dem Schuldner der Kapitalerträge nach § 43 Abs. 1 EStG einzubehaltenden und an das Finanzamt abzuführenden Kapitalertragsteuer als abgegolten. Der Kapitalertragsteuersatz beträgt nach § 43a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG grundsätzlich 25 % der Kapitalerträge. Die Regelungen zur Abgeltungssteuer sollen nach dem erklärten Willen des Gesetzgebers die Besteuerung der Einkünfte aus Kapitalvermögen deutlich vereinfachen», Da der Gesetzgeber in einer Reihe von Fällen die Anwendung eines Steuersatzes von 25 % im Ergebnis als nicht gerecht(-fertigt) ansieht, hat er für diese Fälle Sonderregelungen geschaffen. Er schreibt deshalb in einigen Fällen die Einbeziehung von Kapitalerträgen - trotz einbehaltener Kapitalertragsteuer in die Einkommensteuerveranlagung des Empfängers der Kapitalerträge vor. In anderen Fällen räumt er dem Steuerpflichtigen das Recht ein, Einkünfte, die
der Kapitalertragsteuer unterlegen haben, freiwillig in die Veranlagung einzubeziehen. Er schafft damit aus Gründen der Steuergerechtigkeit Ausnahmen von dem Grundsatz, dass mit der Erhebung von Kapitalertragsteuer die Ein32
Näheres hinsichtlich der Wirkungsweise des § 13a ErbStG s. z. B. bei RoselWatrin, 2009.
33
Vgl. BR-Drucks. 220/07 v. 30.03.2007, S. 61.
Normative Betriebswirtschaftliche Steuerlehre
431
kommensteuer auf die zugrunde liegenden Einkünfte abgegolten sein soll Durch diese Ausnahmeregelungen wird die Besteuerung der Einkünfte aus Kapitalvermögen, die mit der Einführung der Abgeltungsregelung des § 43 Abs. 5 EStG erheblich vereinfacht werden sollte, tatsächlich in hohem Maße erschwert. Die Regelungen sind derart kompliziert, dass seit einiger Zeit bundesweit Tagesseminare angeboten werden, die nur der Erläuterung dieser Vorschriften dienen. Diese Seminare richten sich keinesfalls an Kapitalanleger, sondern an deren Steuerberater sowie an Steuerexperten der Banken. Für "normale" Kapitalanleger kann der Inhalt dieser Seminare nur völlig unverständlich sein. Für die Kompliziertheit der Regelungen spricht auch, dass das BMF-Schreiben zur Anwendung der neuen Vorschriften zur Besteuerung der Einkünfte aus Kapitalvermögen 105 Seiten umfasst34. Die Neuregelung der Besteuerung der Einkünfte aus Kapitalvermögen zum 1.1.2009 ist ein Paradebeispiel für den Fall, dass der Gesetzgeber mit einer Gesetzesänderung eine Vereinfachung der Besteuerung bezweckt, aus Gründen der Steuergerechtigkeit tatsächlich aber eine deutliche Verkomplizierung des Steuerrechts schafft.
3.6
Stellungnahme zu Zielen und Zielkonflikten
Die bisherigen Ausführungen lassen erkennen, dass es ein allgemein anerkanntes System von Grundwertungen und daraus abgeleiteten gesetzgeberisehen Zielen nicht gibt und vermutlich auch niemals geben wird. Jede konkrete gesetzgeberische Maßnahme wird deshalb Zielkompromisse beinhalten, die die Interessen und die politische Stärke und Geschicklichkeit verschiedener Personen und Personengruppen widerspiegeln. Soweit die Gesetzgebung und damit auch die Steuergesetzgebung - wissenschaftlich begleitet wird, ist es deshalb aus Gründen der wissenschaftlichen Redlichkeit zwingend geboten, dass der einzelne Wissenschaftler die Grundwertungen, von denen er bei seinen Ausführungen ausgeht, offenlegt. Bei Zielkonflikten sollte er diese sowie die von ihm vorgenommene Gewichtung der Ziele kenntlich machen. Un-
34
Vgl. BMF-Schreiben IV C 1- S 2252/08/10004 v. 22.12.2009, BStB12010 I, S. 94 ff.
432
Dieter Schneeloch
bedingt erforderlich ist auch, dass der Wissenschaftler offenlegt, ob er von eigenen Grundwertungen und daraus abgeleiteten Zielen oder ob er von Zielen Dritter ausgeht. Als Dritter ist in diesem Zusammenhang (selbstverständlich) auch der Gesetzgeber anzusehen. Geht der Wissenschaftler von dessen Zielen aus, so muss er sorgfältig begründen, weshalb er meint, dass dieser die von ihm behaupteten Ziele verfolge. Eine intersubjektive Überprüfbarkeit der Ausführungen ist in diesen Fällen - wie stets in derWissenschaft - oberstes Gebot. Aus meiner eigenen Sicht wird in der Gesetzgebung dem vom Gesetzgeber immer wieder beschworenen Ziel der Verabschiedung einfacher und verständlicher Gesetze viel zu geringe Bedeutung beigemessen. Das gilt auch für die die Gesetzgebung begleitende wissenschaftliche Diskussion. Inzwischen haben die Zahl schwer verständlicher, teilweise auch unverständlicher Steuerrechtsnormen sowie die Komplexität des Steuerrechts ein unerträgliches Ausmaß angenommen. Frustration aller Beteiligten sowie eine erdrückende Zahl von außergerichtlichen und gerichtlichen Verfahren sind die Folge. Der Hauptgrund für diese Fehlentwicklung liegt darin, dass sowohl der Gesetzgeber als auch die meisten Fachwissenschaftier dem Grundsatz der Einfachheit und Transparenz des Steuerrechts im Vergleich zu den übrigen Grundsätzen eine nachrangige Bedeutung beimessen», Hier ist eine Änderung der Einstellung der am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten dringend geboten. Der Gesetzgeber sollte überlegen, den Grundsatz der Einfachheit und Transparenz des Steuerrechts aus seinem Zielekatalog herauszunehmen und ihn als (strikte) Nebenbedingung beachten. Er müsste dann Kriterien entwickeln, die es ermöglichen, die Grenzen der noch tolerierbaren Komplexität und Intransparenz im Einzelfall zu bestimmen. Bei der Suche nach derartigen Kriterien sollten Fachwissenschaftler beratend zur Seite stehen. Wünschenswert wäre es, wenn die Wissenschaftler sich in stärkerem Maße als bisher des Problems annehmen und eine breitangelegte wissenschaftliche Diskussion führen würden. 35
So werden Einfachheit und Transparenz einer Steuerrechtsnorm nie in der einschlägigen Gesetzesbegründung an erster Stelle genannt. VgL z. B. BT-Drucks. 14/23 v. 9.11.1998;BTDrucks. 14/2683 v. 15.2.2000; BR-Drucks. 220/07 v. 30.03.2007; BT-Drucks. 16/7918 v. 28.01.2008; BT-Drucks. 17/15 v. 09.11.2009.
Normative Betriebswirtschaftliche Steuerlehre
4.
433
Verhältnis der normativen Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre zur Finanzwissenschaft und zum Steuerrecht
4.1
Einführung
Betriebswirtschaftliche Steuerlehre, Finanzwissenschaft und Steuerrecht haben einen gemeinsamen Forschungsbereich: die kritische Auseinandersetzung mit den Normen des Steuerrechts, sei es mit den Normen des Steuerrechts in toto, sei es mit einzelnen dieser Normen. Hierbei kann es sich sowohl um Untersuchungen de lege lata als auch um Untersuchungen de lege ferenda handeln. Die Fragestellungen im Einzelnen sowie die Methoden des Herangehens an die Fragestellungen können aber erheblich voneinander abweichen. Nachfolgend soll in knapper Form auf das Verhältnis der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre zu den beiden anderen Steuerwissenschaften eingegangen werden, und zwar zunächst auf das Verhältnis zur Finanzwissenschaft und anschließend auf das zum Steuerrecht.
4.2
Verhältnis zur Finanzwissenschaft
Bekanntlich wird in der Volkswirtschaftslehre zwischen rein makroökonomischen Untersuchungen und Untersuchungen mit mikroökonomischer Fundierung unterschieden", Dies gilt auch für die Finanzwissenschaft als Teildisziplin der Volkswirtschaftslehre'", Nach ihrem Selbstverständnis beschäftigt sich die Betriebswirtschaftslehre mit wissenschaftlichen Problemen aus einzelwirtschaftlicher Sicht38 • Dies gilt auch für die Betriebswirtschaftliche Steuerlehre - und damit auch für ihren normativen Bereich. Nach der in der Volkswirtschaftslehre üblichen Terminologie handelt es sich also um mikroökonomische Untersuchungen. Selbstverständlich bleibt es dem einzelnen Fachwissenschaftler der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre unbenommen, aus seinen mikroökonomischen Ansätzen makro-
36
Vgl. Bartling/Luzius, 2008, S. 7; Edling, 2010, S. 2.
37
Vgl. Edling, 2010, S. 3.
38
Vgl. Wähe, 2008,S. 2 H.; Weber/Kabst, 2009, S. 6 H.
434
Dieter Schneeloch
ökonomische Schlüsse zu ziehen. Macht er dies, so befindet er sich im Kernbereich dessen, womit sich auch die mikroökonomisch fundierte Finanzwissenschaft beschäftigt. Betriebswirtschaftliche Steuerlehre und Finanzwissenschaft haben dann insoweit denselben Forschungsgegenstand. Volkswirte gehen in ihren quantitativen mikroökonomischen Analysen üblicherweise davon aus, dass die einzelnen Wirtschaftssubjekte das Ziel einer Gewinnmaximierung verfolgen. Diese modelltheoretische Grundannahme wird in der entscheidungsorientierten Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre der letzten Jahrzehnte vermutlich einhellig abgelehnt. Stattdessen gehen ihre Fachvertreter üblicherweise von der Zielvorstellung der Endvermögensmaximierung aus. Hieraus abgeleitet wenden sie dann je nach Problemstellung Kapital- oder Endwertmodelle oder auch aus diesen abgeleitete vereinfachende Modelle an 39 • Entscheidend für den hier betrachteten Zusammenhang ist, dass in diesen modellmäßigen Ansätzen Zinseffekte berücksichtigt werderr'", Es handelt sich also um dynamische Modelle, die die Zeitpräferenz der Wirtschaftssubjekte berücksichtigen. Demgegenüber kann die Anwendung des Kriteriums der Gewinnmaximierung als statische Betrachtungsweise angesehenwerden. Die unterschiedliche Vorgehensweise kann weitreichende Konsequenzen haben. In besonders eklatanter Weise weichen die Ergebnisse der unterschiedlichen modelltheoretischen Ansätze bei der Frage voneinander ab, ob eine Senkung der Ertragsteuersätze (Einkommen-, Körperschaft- und Gewerbesteuersätze) Investitionsanreize und damit Arbeitsplätze schafft. Mit der Begründung der Schaffung von Arbeitsplätzen sind während der letzten drei Jahrzehnte in vielen Ländern die Körperschaftsteuersätze gesenkt worden, in der Bundesrepublik Deutschland von 56 % - in mehreren Schritten - auf nunmehr 15 %41. Wird bei der modelltheoretischen Analyse von der Zielsetzung der Gewinnmaximierung der Unternehmer ausgegangen, so ist die Beantwortung der 39
Vertiefend hierzu s. Schneeloch. 2009, S. 67 ff. Vgl. auch die dort aufgeführte Literatur.
40
Vgl. Haberstock/Breithecker, 2010, S. 122.
41
Näheres hierzu s. bei Schneeloch. 2009, S. 10 ff.
Normative Betriebswirtschaftliche Steuerlehre
435
aufgeworfenen Frage einfach. Mit einer Senkung des (Körperschaft-)Steuersatzes erhöht sich der Gewinn aller Unternehmen. Damit kann für sie ein Anreiz bestehen, ihre Investitionen zu erhöhen und somit zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen. Wird bei der modelltheoretischen Analyse hingegen von dem Kapitalwertkriterium ausgegangen, so ergeben sich differenziertere Ergebnisse. Nunmehr wirkt die Senkung des Steuersatzes auf zweierlei Weise. Zum einen bewirkt eine Senkung des Steuersatzes eine nachhaltige Senkung der Auszahlungen in der Auszahlungsreihe. Hierdurch erhöhen sich zweifellos die Kapitalwerte aller Realinvestitionen. Gleichzeitig bewirkt eine Senkung des Steuersatzes aber auch eine Erhöhung des Nettokalkulationszinssatzes, d. h. eine Erhöhung des Kalkulationszinssatzes nach Steuern. Zumindest bei sog. Normalinvestitionen wird hierdurch eine Verringerung des Kapitalwerts bewirkt. Damit ergeben sich infolge einer Steuersatzsenkung zwei gegenläufige Effekte: Eine Erhöhung des Kapitalwerts durch eine Verringerung der Auszahlungen in der Auszahlungsreihe einerseits und eine Verringerung des Kapitalwerts durch eine stärkere Abzinsung der nach der Investition zu erwartenden Überschüsse der Einzahlungen über die Auszahlungen andererseits. Hierbei ist der erste Effekt keinesfalls stets größer als der zweite. Vielmehr können die gegenläufigen Effekte im Einzelfall sowohl zu einer Erhöhung als auch zu einer Verminderung des Kapitalwerts führen. Es lässt sich zeigen, dass es je nach der Datenkonstellation (Höhe und Verlauf der Zahlungsüberschüsse der Perioden, voraussichtliche Nutzungsdauer, Abschreibungsmethode, Art und Höhe des Kalkulationssatzes) unterschiedliche optimale Steuersätze gibt. Diese können positiv und von Null verschieden sein; sie können durchaus 50 %, 60 % oder sogar noch mehr betragenv, Damit ist - unter Zugrundelegung des Kapitalwertkriteriums - nachgewiesen, dass eine Senkung des (Körperschaft)Steuersatzes keinesfalls zwangsläufig Investitionsanreize schafft. Diese Erkenntnis wird nicht ausschließlich von Betriebswirten vertreten. Vielmehr gibt es durchaus vereinzelt auch Volkswirte, die sich des Instrumentariums des
42
Im Einzelnen s. [apes, 2010, S. 145 f., S. 163 f. u. S. 173 f.
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Kapitalwerts bedienen und dann - selbstverständlich - zu den gleichen Ergebnissen kommen wie Betriebswirtes', Zusammenfassend kann also festgestellt werden, dass es zur Analyse von Steuerwirkungen als Grundlage für normative Aussagen zum Steuerrecht zwei unterschiedliche Modellansätze gibt. Beide werden sowohl von Vertretern der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre als auch der Finanzwissenschaft angewendet. Der eine Ansatz findet sich ganz überwiegend im betriebswirtschaftlichen, der andere überwiegend im volkswirtschaftlichen Schrifttum. Streng genommen besteht demnach kein Unterschied zwischen betriebs- und volkswirtschaftlichem Ansatz, vielmehr innerhalb der beiden Disziplinen jeweils zwischen den Wissenschaftlern, die von der Zielsetzung der Gewinnmaximierung ausgehen und denjenigen, die das Kapital- oder Endwertmodell als technisches Hilfsmittel der Analyse anwenden.
4.3
Verhältnis zum Steuerrecht
Im letzten Gliederungspunkt ist herausgearbeitet worden, dass sowohl die normative Betriebswirtschaftliche Steuerlehre als auch die Finanzwissenschaft auf Steuerwirkungsanalysen, auf ökonomischen Analysen also, beruhen. Völlig anders wird in der Steuerrechtswissenschaft verfahren. Bei ihr geht es um die Kritik und Formulierung von Steuerrechtsnormen - de lege lata oder auch de lege ferenda - aus rechtlicher Sicht. Zu beantworten ist etwa die Frage, ob eine bestehende oder geplante Rechtsnorm in Übereinstimmung mit höherrangigem Recht steht. Als höherrangig kommen insbesondere Normen des Verfassungs- oder auch des EU-Rechts in Betracht. Ferner kann es um die Auslegung einer konkreten Rechtsnorm mit Hilfe der in der Rechtswissenschaft allgemein anerkannten Auslegungsmethoden gehen44 • Diese kurzen Ausführungen lassen bereits erkennen, dass die Fragestellungen des Steuerrechts von denen der normativen Betriebswirtschaftlichen Steuer-
43
Vgl. Cansier,2004, S. 100.
.. Hinsichtlich der im deutschsprachigen Raum seit Jahrzehnten herrschenden Methodenlehre sei auf Larenz, 1991 verwiesen.
Normative Betriebswirtschaftliche Steuerlehre
437
lehre (und auch der Finanzwissenschaft) deutlich verschieden sind. Soweit für steuerrechtliche Erörterungen die Kenntnis von Steuerwirkungsanalysen erforderlich ist, müssen diese dem Steuerrechtler bekannt sein. Hierzu muss er sich - wenn er seine Ausführungen seriös formulieren will - der Methoden und Erkenntnisse der betriebswirtschaftlichen Steuerwirkungsanalysen bedienen. Insoweit steht also die Steuerwirkungsanalyse zum Steuerrecht im Verhältnis einer (zwingend notwendigen) Hilfswissenschaft. Das Verhältnis ist etwa das gleiche wie das der Physik zur Mathematik: Aus Sicht der Physik ist die Mathematik eine unentbehrliche Hilfswissenschaft. Im Steuerrecht werden vielfach aus der Betriebswirtschaftslehre stammende Begriffe verwendet. Soweit sie im Gesetz nicht von der betriebswirtschaftlichen Terminologie abweichend definiert werden, ist anzunehmen, dass der Gesetzgeber den Begriff in dem in der Betriebswirtschaftslehre üblichen Sinne verwenden will. Ist dies der Fall, so ist der Begriffsinhalt dem betriebswirtschaftliehen Schrifttum zu entnehmen. Auch insoweit stellt also die Betriebswirtschaftslehre eine Hilfswissenschaft des Steuerrechts dar. Ein typisches Beispiel für die Ableitung rechtlicher Begriffsinhalte aus der Betriebswirtschaftslehre ergibt sich aus § 255 HGB. Dort wird u. a. der Begriff der Gemeinkosten verwendet. Da er an keiner Stelle definiert wird, ist der Begriffsinhalt dem betriebswirtschaftlichen Schrifttum zu entnehmen.
5.
Zur Verantwortung des Steuerwissenschaftlers
5.1
Einführung
Steuerwissenschaftler sind zu einem großen Teil Hochschullehrer. Als solche tragen sie - wie alle Hochschullehrer - eine große Verantwortung für Forschung und Lehre in ihrem Fach. Außerdem haben sie aufgrund ihrer herausgehobenen Stellung in der Gesellschaft und des großen Vertrauens, das sie in der Bevölkerung genießen, eine große Verantwortung gegenüber der Gesellschaft. Nachfolgend soll in knapper Form auf die drei genannten Arten der Verantwortung näher eingegangen werden.
438
5.2
Dieter Schneeloch
Verantwortung in der Forschung
Die Verantwortung des Steuerwissenschaftlers in der Forschung unterscheidet sich in ihrem Kern nicht von der eines jeden Wissenschaftlers einer anderen Fachrichtung. Der Forscher hat also dafür Sorge zu tragen, dass •
seine Forschung unparteilich erfolgt,
•
Forschungsansatz und -methoden klar herausgearbeitet werden und die Ergebnisse intersubjektiv überprüfbar sind,
•
sofern den Ausführungen Wertungen zugrunde liegen, diese klar herausgearbeitet werderr",
Wie allgemein bekannt, ist die staatliche Steuerpolitik stets heftig umstritten. Politische Glaubensgrundsätze spielen in dieser Diskussion eine große Rolle. In dieser Situation ist es für den einzelnen Steuerwissenschaftler oft sehr
schwer, die für wissenschaftliche Arbeiten unabdingbare Unabhängigkeit und Unparteilichkeit zu wahren. Gründe für diesen Befund sind insbesondere: •
Ergebnisse seiner Forschung passen nicht in das eigene politische Weltbild des Wissenschaftlers oder in dasjenige, das die politische Partei, der er angehört oder der er nahesteht, vertritt.
•
Es besteht die Gefahr, dass sich der Wissenschaftler zu einem (evtl hoch dotierten) Gefälligkeitsgutachten hinreißen lässt.
Selbstverständlich bedeutet der Grundsatz der Unparteilichkeit nicht, dass der Wissenschaftler sich politischer einschließlich parteipolitischer Äußerungen enthalten sollte. Das Gegenteil ist der Fall46 • Zwingend geboten ist lediglich, dass er bei politischen Stellungnahmen, die er erkennbar als Wissenschaftler
45
46
Hinsichtlich der Anforderungen, die an Forschungsarbeiten zu stellen sind, siehe vertiefend "Hinweise und Regeln der Max-Planck-Gesellschaft zum verantwortlichen Umgang mit Forschungsfreiheit und Forschungsrisiken" 2010 sowie die Veröffentlichung "Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis" der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) 1998. Vgl. auch die Äußerungen der Fachvertreter der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre. An dieser Stelle kann insbesondere auf die bereits in Fußnote 8 genannten Veröffentlichungen von Bareis und Schmiel verwiesen werden. Vgl. Gliederungspunkt 5.4.
Normative Betriebswirtschaftliche Steuerlehre
439
und nicht als Politiker abgibt, die seinen Ausführungen zugrunde liegenden Wertungen in verständlicher Weise offenlegtv.
5.3
Verantwortung in der Lehre
Wie jeder andere Hochschullehrer auch, trägt der in den Steuerwissenschaften Lehrende eine hohe Verantwortung gegenüber "seinen" Studenten. Diese Verantwortung bezieht sich insbesondere auf •
die Vermittlung eines soliden Fachwissens sowie
•
die Anleitung zu eigenständigem und kritischem Denken.
Durch Fehlentwicklungen der letzten Jahre und Jahrzehnte droht die Qualität der universitären Lehre zu leiden. Vielfach hat sie nach meiner eigenen Einschätzung bereits erheblich gelitten. Der vielleicht wichtigste Grund für diese Fehlentwicklung ist die z. T. ungenügende Personalausstattung der Hochschulen. Extreme Engpässe bei Seminarplätzen und bei der Annahme und Betreuung von Diplom-, Bachelor- und Masterarbeiten sind die Folge. Abhilfe durch den einzelnen Hochschullehrer ist hier nicht oder nur in geringem Maße möglich. Verantwortung kann er hier nur insoweit übernehmen, als er bei jeder sich bietenden Gelegenheit - inner- und außeruniversitär - auf die Missstände hinweist. Eine andere - wahrscheinlich genau so folgenschwere - Fehlentwicklung besteht darin, dass bei der Berufung von Universitätsprofessoren den Forschungsleistungen der Bewerber ein ungleich größeres Gewicht beigemessen wird als deren Leistungen in der Lehre. Hierbei werden die Forschungsleistungen zunehmend schlicht durch ein Zählen der Veröffentlichungen in "internationalen" und referierten Fachzeitschriften gemessen. Besonderheiten des einzelnen Faches nehmen viele Berufungskommissionen nicht wahr und wollen dies auch gar nicht. So wird häufig nicht zur Kenntnis genommen, dass die Betriebswirtschaftliche Steuerlehre auf institutionellen Rahmenbedingungen beruht, die es in dieser Form "international" überhaupt nicht gibt. Um für Be-
47
Vgl. Gliederungspunkt 3.
Dieter Schneeloch
440
rufungskommissionen überhaupt berufungsfähig zu sein, sehen sich Nachwuchswissenschaftler daher häufig gezwungen, Veröffentlichungen über Themen anzustreben, die für ihre Lehre an einer deutschsprachigen Universität unbrauchbar sind. Insgesamt dürfte sich der Druck, möglichst viel in "internationalen" Zeitschriften zu veröffentlichen, verheerend auf die Qualität der Lehre in einzelnen universitären Fächern auswirken. So erwecken viele Veröffentlichungen zur Betriebswirtschaftliche Steuerlehre währen der letzten Jahre den Eindruck mathematischer Spielereien"; Um nicht missverstanden zu werden: Mathematische Ableitungen sind in der Betriebswirtschaftliche Steuerlehre unverzichtbar. Im Vordergrund sollte aber stets die zu behandelnde steuerliche Problematik stehen und diese sollte - zumindest
i,
d. R. - einzel-
oder gesamtwirtschaftlich von Relevanz sein. Mindestens ebenso wichtig wie die Vermittlung von Fachwissen ist nach meiner eigenen Überzeugung die Anleitung der Studenten zu eigenständigem und kritischem Denken. Für die Lehre in dem Fach der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre bedeutet dies, dass es eine wichtige Aufgabe des Hochschullehrers ist, die Studenten mit dem normativen Zweig des Faches vertraut zu machen. Sinnvoll ist dies aber erst dann, wenn die Grundlagen für kritische Analysen bereits gelegt sind. Dies bedeutet, dass der Student mit den Methoden und Hilfsmitteln der Steuerwirkungsanalysen vertraut sein muss. Hilfreich sind zudem solide Kenntnisse des tatsächlichen Steuerrechts.
5.4
Verantwortung gegenüberder Allgemeinheit
Als Vertreter eines hochangesehenen und meistens im Beamtenstatus befindlichen Berufsstandes trägt jeder Hochschullehrer auch Verantwortung gegenüber der Allgemeinheit. Diese besteht selbstverständlich in erster Linie darin, dafür Sorge zu tragen, dass der akademische Nachwuchs gut ausgebildet und zum kritischen Denken angeleitet wird. Darüber hinaus sollte der Wissenschaftler aber auch versuchen, sein Fachwissen - zumindest soweit es für die
4B
Vgl. hierzu auch die Ausführungen von Schneider, in: Scherer/Kaufmann/Patzer (Hrsg.) 2009, S. 1 ff.
Normative Betriebswirtschaftliche Steuerlehre
441
Gesellschaft relevant ist - der Allgemeinheit in möglichst verständlicher Form zur Verfügung zu stellen. Für den Fachvertreter der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre bedeutet dies vor allem, dass er versuchen sollte, sein Fachwissen in die politische Diskussion und in den politischen Entscheidungsprozess einzubringen. Dies kann durch eine aktive Mitgliedschaft in einer politischen Partei, durch deren bloße Beratung, durch die Mitwirkung in politischen Gremien als Sachverständiger oder auch durch Veröffentlichungen in der Presse sowie durch Stellungnahmen in Rundfunk und Fernsehen geschehen. Wie bereits mehrfach betont, ist es dringend geboten, dass er die seinen Ausführungen zugrunde liegenden Wertungen klar und unmissverständlich offenlegt. Weichen die Ergebnisse von Experten aufgrund unterschiedlicher Modellannahmen voneinander ab, so halte ich es im Rahmen eines politischen Entscheidungsprozesses für zwingend geboten, dass die Fachwissenschaftler die politischen Entscheidungsträger über die Annahmen aufklären. Sie sollten zumindest den ernsthaften Versuch unternehmen, den politischen Entscheidungsträgern die unterschiedlichen Modellannahmen verständlich zu machen. Dies müsste bei Parlamentariern i. d. R. möglich sein, da diese zu einem sehr großen Teil eine akademische Ausbildung erfolgreich abgeschlossen haben. Es kann deshalb i. d. R. davon ausgegangen werden, dass sie die Bedeutung unterschiedlicher Modellannahmen verstehen und in der Lage sind, sich über die Realitätsnähe bzw. -ferne dieser Annahmen ein eigenes Urteil zu bilden. Besonders wünschenswert wäre eine Aufklärung der politischen Entscheidungsträger über die Modellannahmen bei einer zu erwartenden erneuten Debatte über die Vorteile einer Steuersatzsenkung im Hinblick auf die Förderung von Investitionen. Weiter oben ist bereits herausgearbeitet worden, dass die Ergebnisse einer modellhaften Vorteilhaftigkeitsanalyse einer Steuersatzsenkung in hohem Maße von dem der Untersuchung zugrunde gelegten Entscheidungsmodell abhängen", Wird von der Verfolgung des Ziels einer Gewinnmaximierung durch die Unternehmer ausgegangen, so erhöht sich zweifellos die Vorteilhaftigkeit der Investitionen. Bei dieser Betrachtungsweise sind 4. Vgl. Gliederungspunkt 4.2.
442
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Zinseffekte nicht berücksichtigt. Diese spielen aber in der Realität eine erhebliche Rolle. Werden sie mit in die Untersuchung einbezogen, so ist es - wie weiter oben dargestellt - keinesfalls sicher, dass durch eine Steuersatzsenkung die Vorteilhaftigkeit einer Investition steigt. Es ist noch nicht einmal sicher, dass dies wenigstens in der großen Mehrzahl der Investitionen der Fall ist 50 • Verknüpft der Gesetzgeber eine Steuersatzsenkung mit einer Verschlechterung der Abschreibungsmodalitäten, so ist sogar zu vermuten, dass die Kombination dieser Maßnahmen im Ergebnis zu einer Verringerung der Vorteilhaftigkeit von Investitionen auf breiter Front führt. Ganz offensichtlich sind dem Gesetzgeber diese Zusammenhänge nicht klar, sonst hätte er in der Vergangenheit kaum wiederholt Steuersatzsenkungen mit einer Verschlechterung der Abschreibungsmodalitäten verknüpft. Erklärtes Ziel des Gesetzgebers war es in diesen Fällen stets, potentiellen Investoren Investitionsanreize zu verschaffen. Vermutlich hat der Gesetzgeber seine Entscheidungen intuitiv getroffen, allenfalls hatten die am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Personen die Zielsetzung der Gewinnmaximierung vor Augen. Bei künftigen Diskussionen über die Höhe des (Körperschaft-)Steuersatzes halte ich es deshalb für eine außerordentlich wichtige Aufgabe der Fachvertreter der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre, den Gesetzgeber auf die Unzulänglichkeit seiner Vorgehensweise hinzuweisen und ihn vor gesetzgeberisehen Fehlmaßnahmen zu warnen. Die hier skizzierten Zusammenhänge lassen es aus Sicht des Gemeinwohls als notwendig erscheinen, dass das Steuergesetzgebungsverfahren durch Steuerwirkungsanalysen der Fachwissenschaftler begleitet wird, und zwar von Vertretern der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre. Dies ist in der Vergangenheit häufig nicht oder nur in unzureichendem Maße geschehen. Zwar werden Referentenentwürfe und Gesetzesentwürfe zu Steuergesetzen regelmäßig im Schrifttum kritisch gewürdigt. Doch erfolgt die Kritik i. d. R. allein aus einem typisch juristischen Blickwinkel, etwa aus rechtsdogmatischer Sicht oder unter dem Gesichtspunkt der Verfassungsmäßigkeit der geplanten Gesetzesänderung. Eine Analyse der einzelwirtschaftlichen Steuerwirkungen, verbunden 50
Vgl. Gliederungspunkt 4.2.
Normative Betriebswirtschaftliche Steuerlehre
443
mit einer Stellungnahme zu dem zu erwartenden Verhalten der Steuersubjekte, deren rationales Verhalten vorausgesetzt, erfolgt hingegen vergleichsweise selten. Dies gilt sowohl hinsichtlich der einschlägigen Veröffentlichungen als auch der Stellungnahmen in den parlamentarischen Beratungen. Nach meiner eigenen Einschätzung haben Vertreter des Faches z. Z. allenfalls einen geringen Einfluss auf die Steuergesetzgebung. Wie gering dieser ist, ist schlagartig bei der Diskussion und der Entscheidung über die Abschaffung des körperschaftsteuerliehen Anrechnungsverfahrens klar geworden. Soweit ersichtlich, ist kein Vertreter der Fachrichtung zu Rate gezogen worden; vor der Abschaffung des Anrechnungsverfahrens ist von den Fachvertretern so gut wie einhellig in einer gemeinsamen und veröffentlichten Stellungnahme eindringlich gewarnt worden'", Der Hauptgrund für den geringen Einfluss, den die Fachvertreter der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre auf die steuerliche Gesetzgebung haben, dürfte in Berührungsängsten zwischen Politikern und Fachwissenschaftlern liegen. Insbesondere dürfte die geringe Bereitschaft der meisten Wissenschaftler, sich politisch zu engagieren oder zumindest der Politik beratend zur Seite zu stehen, eine Rolle spielen. Es bleibt nur die Hoffnung, dass möglichst viele Fachkollegen in Zukunft ihre Berührungsängste überwinden.
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51
Vgl. Siegel/Bareis/Herzig et al. in BB 2000, S. 1269 H. mit Zustimmung von 72 Fachkollegen; vgl. auch Schneeloch/Trockels-Brand in DStR 2000, S. 907 H.
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Über den Autor:
Prof. Dr. Dieter Schneeloch •
SS 1964 - 55 1968 Studium der Betriebswirtschaftslehre an der FU Berlin mit Abschluss zum Dipl.-Kfrn., während der Semesterferien Arbeit am Finanzamt Solingen-Ost
•
55 1968 - SS 1971 Doktorand an der FU Berlin bei Prof. Dr. Langen, Abschluss des Promotionsverfahrens mit "summa cum laude". Titel der Dissertation: "Besteuerung und Investitionsfinanzierung"
•
1968 - 1971 Angestellter bei der "ATH - Allgemeine TreuhandGesellschaft", als deren Berliner Steuerabteilung und als Prüfer
•
1971 Ablegung des Steuerberaterexamens und Niederlassung als selbständiger Steuer-berater in Berlin
•
1971-1977 Habilitant an der FU Berlin, zugleich Assistenzprofessor und zum Schluss Privat-dozent; Verleihung der venia legendi. Thema der Habil-Schrift: "Steuerbelas-tungs-vergleiche. Einzelwirtschaftliche Analysen ausgewählter Steuergestaltungs-möglichkeiten im Einpersonenund im Ehegattenfall", Betreuer: Prof. Dr. Bareis
•
1973 -1988 Prüfer im Steuerberaterexamen in Berlin
•
1975 -1979 Mitglied des Vorstands der Steuerberaterkammer Berlin
•
1978 - 2010 Ordentlicher Professor bzw. Universitätsprofessor an der FernUniversität in Hagen, Leiter des Lehrstuhls "Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Steuer- und Prüfungswesen"
•
1991 Ablehnung eines Rufs an die Universität Göttingen
Der Einfluss von Vertrauen in einem Inspektionsspiel zwischen Disposition und Controlling Günter FandeI und Jan Trockel
1.
Einleitung
Bereits seit einigen Jahren ist zu beobachten, dass die Akteure des marktwirtschaftliehen Wirtschaftssystems weltweit mit Vertrauensverlust zu kämpfen haben. Zahlreiche Umfragen sowohl unter Wirtschaftsfachleuten als auch bei anderen gesellschaftlichen Gruppierungen zeigen eindeutig, dass das Vertrauen in die Überlegenheit dieses Wirtschaftssystems gegenüber autoritären Systemen geringer geworden ist. Im Mittelpunkt der Erörterungen steht dabei oft das heutige Erscheinungsbild des Kaufmanns und die Frage, inwieweit dieses noch dem des ehrbaren Kaufmanns entspricht, dessen Wort und Handschlag gelten. Diese Betrachtungen lassen sich jedoch auf alle Akteure eines Unternehmens übertragen, wenn man Überlegungen anstellt, wie Ethik als Basis für betriebswirtschaftliche Aktionen positiv genutzt werden kann und mitunter sogar zu Wettbewerbsvorteilen führt. Ethik bedeutet im Hinblick auf die Beurteilung menschlichen Handelns die Wissenschaft von moralischem Handeln. Dabei bezieht sich der Begriff "Moral" auf Konventionen. Ethik ist folgerichtig die Reflexion darauf, ob diese Konventionen auch tatsächlich vertretbar und somit gut und richtig sindl, Eine Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass die Akteure eine Möglichkeit besitzen zu handeln und auch die Absicht aufweisen, korrekt zu handeln. Somit impliziert Ethik Fragen der Moralbegründung und -kritik-,
1
VgL Weibler (2001), S. 406.
2
VgL Amold (2009), S. 253.
T. Nguyen, M ensch und Markt, DOI 10.1007/978-3-8349-6728-2_17, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
452
Günter Fandel/jan Trockel
Erweitert man den Begriff der Ethik auf die normative Ethik, so wird deutlich, dass man moralische Normen definieren muss, die als Leitfaden für verantwortungsvolles Handeln dienen sollen. Unter die normative Ethik fällt auch die formale Ethik, die inhaltlich auf Verhaltens- und Entscheidungsregeln abzielt, anhand derer die Akteure jeweils die korrekten Handlungsalternativen ableiten'. Als moralisch richtig gelten diese dann, wenn sie gegenüber Dritten zu rechtfertigen sind-, Die allgemeine Ethik stellt also die theoretische Basis für die Unternehmenstheorie dar" und ist somit eine entscheidende und unverzichtbare Grundlage für das unternehmerische Handeln", Die Ethik steht dabei aber nicht über der Betriebswirtschaft, sondern sie stellt eine Hilfestellung dar, das Handeln von Unternehmen aus einem anderen Blickwinkel zu
sehen", Grundlage jeden Handelns in Unternehmen sind Verträge, die zwischen Eigentümern und Unternehmensleitung bzw. zwischen der Unternehmensleitung und Mitarbeitern geschlossen worden sind. Da nicht alle Verträge vollständig spezifiziert sein können, herrscht ein gewisses Maß an Informationsdefizit, was wiederum Misstrauen oder"Treu und Glauben" induziert, da gewisse Spielräume ausgenutzt werden könnten", Vertrauen bildet eine wichtige Einflussgröße des Nicht-Ausnutzens der Informationsasymmetrie. Generell ist Vertrauen ein Beziehungsphänomen zwischen den Akteuren. Die Interaktion zwischen diesen ist folglich der Ausgangspunkt für die Definition von Vertrauen", Die Vertrauensbereitschaft stellt auf die Einstellung eines Akteurs gegenüber einem anderen Akteur ab. Vertrauenswürdigkeit hingegen ist als Eigenschaft anzusehen, die einem anderen Akteur zugesprochen wird. Vertrau-
3
Vgl. Weibler (2001), S. 407.
4
Vgl. Weibler/Lucht (2004), S. 884ff.
5
Vgl. Albach (2007), S. 11.
6
Vgl. Rosenberger/Koller (2009), S. 25.
7
Vgl. Rosenberger/Koller (2009), S. 30f.
8
In Anlehnung an Laux (2006), S. 197ff., und Güth/Kliemt (2007), S. 32.
9
Vgl. Eber! (2004), Sp. 1596f.
Einfluss von Vertrauen in einem Inspektionsspiel
453
en ist dann eine besondere Qualität an Beziehung zwischen zwei Akteuren, die nicht alltäglich, sondern sehr exklusiv vergeben wird'", Vertrauen baut sich nur in langfristigen Beziehungen auf. Güth/Kliemt (2007) verbinden in ihren Ausführungen dabei Vertrauen mit rationaler Zusammenarbeit. Vertrauen eines Akteurs zu einem anderen Akteur bezieht sich auf diejenigen Situationen in Unternehmen, in denen der Akteur gefahrlos von einer Strategie abweichen könnte. Hier führte der Verzicht der Ausnutzung von kurzfristigen Vorteilen gegenüber den langfristig generierten Payoffs zu einem der Kooperation ähnlichen Verhalten und demzufolge zur Bildung von Vertrauen", Vertrauen zwischen Akteuren kommt gerade in solchen Situationen zum Tragen, die durch ein hohes Maß an Unsicherheit über das Verhalten des anderen Akteurs gekennzeichnet sind'", Wirklich vertrauenswürdige Akteure zeichnen sich dadurch aus, wie Güth/Kliemt (2007)beschreiben, dass die "goldene Gelegenheit" des Ausbeutens nicht wahrgenommen wird. Die Wahrscheinlichkeit für ein derartiges Verhalten hängt dabei von der Häufigkeit des miteinander Agierens ab 13• Spieltheoretisch kann diese Vertrauensbildung sehr einfach abgebildet werden. Anhand der Darstellung eines wiederholten Spiels, das den Konflikt zwischen der Disposition und dem Controlling beschreibt, wird im Folgenden aufgezeigt, welchen Einfluss hier Vertrauen als ethischer Aspekt auf die generierte Lösung aufweist. Die Analyse zeigt, dass durch dauerhaftes Vertrauen die Auszahlungen der Akteure die Auszahlungen ohne Vertrauen dominieren, zudem aber auch durch eine höhere Wahrscheinlichkeit optimaler Entscheidungen die Gefahr gemindert werden kann, dass höhere, vermeidbare Kosten für die Unternehmensleitung entstehen.
10
Vgl. Eber! (2004), Sp. 1598.
11
Vgl. Güth/Kliemt (2007), S. 32.
12
Vgl. Eber! (2004), Sp. 1597f.
13
Vgl. Deutsch/Kotik (1978), S. 32.
454
Günter FandellJan Trockel
2.
Vertrauen in einem Inspektionsspiel
2.1
Der klassische Disponenten-Controller-Konflikt ohne Vertrauen
Fandel/Trockel (2009) untersuchen spieltheoretisch einen Konflikt zwischen Disposition und Controlling. Grundlage hierfür bilden die Überlegungen von Dresher (1962), Borch (1982), Avenhaus et al. (1996), Biermann (2006) und Avenhaus/Canty (2009) zum Inspektionsspiel. Das sogenannte Inspection Game wird durch folgende Eigenschaften charakterisiert: Nicht-kooperatives Zwei-Personen-Spiel mit imperfekter Information ohne Nash-Gleichgewicht in reinen Strategien und mit simultanen Spielzügen's, Inspektionsspiele beschreiben dabei zumeist vertikale Konfliktsituationen zwischen mindestens zwei Akteuren, die vertragliche Verpflichtungen miteinander eingegangen sind>. Eine weitere Instanz wird damit beauftragt, anhand von vertraglich festgelegten Überwachungsmaßnahmen die Einhaltung der Bedingungen zu prüfen>, Allerdings können aufgrund persönlicher Interessen Anreize für den Kontrollierten bestehen, von diesen vereinbarten Regelungen bzw. Bedingungen abzuweichen. Das primäre Ziel des Inspizierten ist es dann, dass die gegen den Vertrag verstoßende Aktion nicht auffällt, damit dadurch ein Vorteil entsteht. Der Inspektor-? hat die Möglichkeit, dem Inspizierten zu vertrauen oder ihn zu prüfen. Dabei richtet sich sein Fokus auf die Einhaltung des Vertrages und auf die Reduktion der Gefahr, dass sich der Inspizierte einen Vorteil verschaffen will. Die Nichteinhaltung der Regeln versucht der Inspektor sicher und schnell aufzudecken", Das Ziel beim Lösen dieser Konfliktsituation ist es, eine optimale Inspektionsstrategie zu definieren, die
,. Vgl. Fudenberg/Tirole (2008), S. 17. Weitere Modifikationen dieses Spiels gehen dahin, dass eine sequentielle Struktur betrachtet wird. Vgl. hierzu die Ausführungen von Rinderle (1996) und Wölling (2002). 15
Vgl. Abel (1997),S. 1.
16
Vgl. Wölling (2002),S. 6.
17
Der Inspektor kann die beauftragte Behörde sein, aber auch die Organisationseinheit, die keine Aufgaben delegiert, sondern die Problematik selbst untersucht.
18
Vgl. Rinderle (1996),S. 1.
Einfluss von Vertrauen in einem Inspektionsspiel
455
legales Verhalten als optimale Entscheidung für den Inspizierten zur Folge
hat'", Das
nachfolgend
betrachtete
Spiel
setzt
sich
aus
dem
Tupel
r=(N.(St)iEN,(ll"d iEN) zusammen. Dabei bezeichnen N={1,2, ...,n} die Menge
der Spieler, Si die Menge der möglichen Strategien für Spieler und
1ft
i, i
E
{I, ..., n},
die Auszahlungsfunktion für Spieler i .
Bevor auf die relevanten Parameter SI und
1ft
eingegangen werden kann,
werden die Aktionen der Spieler erläutert. In diesem nicht-kooperativen 2Personen-Spiel (n = 2) interagiert ein Disponent aus der Beschaffung mit einem Controller, wobei es keine bindenden Verträge zwischen beiden gibt, dem Unternehmen aber durch fehlerhafte Bestellmengen, die beim Controlling nicht auffallen, hohe Kosten entstehen können. In dem Zwei-Personen-Konflikt stehen dem jeweiligen Akteur genau 2 Aktionen zur Verfügung. Anhand dieser Aktionen können nach Berechnung des gleichgewichtigen Zustands die jeweiligen Strategien der Spieler formuliert werden. Reine Strategien bzw. Aktionen sind hierbei für den Inspizierten (Disponenten), dass er • die Bestellmenge methodisch korrekt bestimmt-'' (m) oder • die Bestellmenge ohne Anwendung analytischer Modelle bestimmt und nicht-methodisch vorgeht (nm)".
19
Ziel des Inspektionsspiels ist es folglich, eine Optimierung von Kontroll- und Überwachungsstrategien zu generieren. Vg1. hierzu Piehlrneier (1996), S. 159 -172.
20
Varian (1990) erläutert in diesem Zusammenhang, dass eine hohe Leistungsfähigkeit einen effizienten Output mit sich bringt. Dies kann auf diesen Konflikt dahingehend übertragen werden, dass eine analytische Berechnung eine hohe Leistung nach sich zieht. Vg1. Varian (1990), 5.162 -163.
21
Hier wird in Anlehnung an Fellingham/Newrnan (1980) argumentiert. Viele dieser Modelle zu Inspektionen teilen die Aktionen des Inspizierten in legal und illegal ein. Vg1. hierzu u.a. Dresher (1962), Klages (1968), Thomas/Nisgav (1976), Borch (1982), Ewert (1993, 2004), Avenhaus et a1. (1996), Andreozzi (2004), Biermann (2006), Friehe (2008) oder Ohta (2008). Mehr als zwei Aktionen diskutiert u.a. Anderson/Young (1988). Dort werden dem Inspizierten drei Möglichkeiten zur Wahl der Aktion gegeben. Avenhaus (1997) diskutiert in seiner Erweiterung des Inspection Game dabei das Problem, dass der Inspizierte unabsichtlich illegal gehandelt haben könnte. Auch Holler/Nguyen (2007) modellieren in ih-
Günter Fandel/jan Trockel
456
Der Inspektor (Controller) hat die Möglichkeit, den Disponenten mit einem • hohen Prüfniveau zu kontrollieren und einen genauen Bericht zu verfassen (h) oder mit • geringem Prüfniveau den Soll-Ist-Vergleich und die Analyse der Bestellmengenplanung durchzuführen und möglicherweise einen inkorrekten Bericht zu verfassen (nh)22. Sofern der Controller nicht selbst noch einer Kontrolle unterliegt, besteht die Gefahr, dass er sich aufgrund eines geringen Prüfniveaus nicht im Sinne des Unternehmens verhält, d.h. nur eine geringe Überprüfung der kostenminimalen Gestaltung der Bestellmengen vornimmt. Dieses Problem wird in Fandel/Trockel (2008) diskutiert und dahingehend gelöst, dass die Unternehmensführung als dritter Akteur die Interaktion zwischen Disponent und Controller überprüft und dabei entstehendes Fehlverhalten mit der Wahrscheinlichkeit Pa entdeckt. Die Unternehmensführung bildet in diesem Ansatz aber lediglich
eine exogene Größe ab 23 • Das Modell sieht vor, dass bei Fehlverhalten sowohl der Controller als auch der Disponent bestraft werden. Die Bestrafungen für die Akteure können durch Sc (für den Controller) und Sn (für den Disponenten) beschrieben werden24 • Wir nehmen ohne weitere Beschränkung Sc
=
Sn = S an. In diesem Mo-
dell kann gezeigt werden, dass durch diese Modifikation des Inspection Game die Bedeutung der Unternehmensführung sehr klar wird, da durch ein Nichtrem Manager-Prüfer-Ansatz drei Aktionsparameter für den Inspizierten. Die ausführliche Darstellung der Entwicklung des Inspection Game kann auch als Basisliteratur für die Darstellung der Aktionsparameter gewählt werden. 22
23
2~
Vgl. hierzu u.a. die Ausführungen von Ewert (2004), wobei auch dort wieder ein Manager-Prüfer-Spiel diskutiert wird. Die Idee des Kontrollierens kann sehr leicht von der externen Rechnungslegung auf die interne Unternehmensrechnung übertragen und angepasst werden. Jedoch liegt hier, wie aufgezeigt, nicht die klassische vertikale Struktur vor. Die dortige Bimatrix enthält keine Bestrafung des Controllers. Dieses Problem liegt vor, wenn ein laterales Inspection Game diskutiert wird, ohne dass die Kontrollinstanz sich wiederum einer Kontrolle unterziehen müsste. Vgl. Fandel/Trockel (2008),S. 4. Bei Pandel/Trockel (2009)wurde von einem linearen Zusammenhang zwischen Strafe und Kostenabweichung ausgegangen. Dies kann dahingehend verallgemeinert werden, dass eine Funktion S = S(M) mit BSIaM > 0 vorliegt.
Einfluss von Vertrauen in einem Inspektionsspiel
457
Aufdecken des Fehlverhaltens beider Akteure dauerhaft der Gewinn des Unternehmens reduziert wird. Aufgrund der je zwei möglichen Aktionen des jeweiligen Akteurs resultieren vier Konstellationen in reinen Strategien. Der dritte, nicht endogene und folglich nicht strategische Spieler, die Unternehmensführung, wird in diesem grundlegenden Ansatz als Umweltzustand in Form einer Wahrscheinlichkeit Pa E(O,l) des Aufdeckens des fehlerhaften Berichts eingeführt". Sie tritt, da ein
fehlerhafter Bericht nur in der Strategienkombination (nm, nh) unentdeckt bleiben kann, auch nur in dieser Strategienkombination auf. Dabei sollen die totale Selbststeuerung (Pa = 0) und die Totalkontrolle (Pa = 1) ausgeschlossen sein26• Insgesamt können in der so modellierten Entscheidungssituation die vier nachfolgend beschriebenen reinen Strategien auftreten, die prinzipiell alle ein Nash-Gleichgewicht bilden könnten": I.
Der Disponent handelt korrekt, indem er die Bestellmenge methodisch bestimmt, und der Controller handelt ebenfalls korrekt, indem er ein hohes Kontrollniveau gegenüber dem Disponenten ausübt - Aktionenkombination (m, h)28.
11.
Der Disponent handelt nicht korrekt, da er die Bestellmenge nichtmethodisch bestimmt, und der Controller handelt korrekt, da er den Disponenten auf hohem Niveau kontrolliert - Aktionenkombination (nm, h).
25
26
Dies ist vergleichbar mit der Aussage von Ewert (1993), der dargestellt hat, dass ein fehlerhaft erteiltes Testat und Inhalte der Berichte nach einiger Zeit mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit ans Licht kommen. Vgl. Ewert (1993),S. 730. Bei einer Totalkontrolle wird sich der Controller ohne Ausnahme korrekt verhalten.
zr Damit ist für dieses Spiel schon einmal neben der Anzahl der Spieler die Strategienwahl in
reinen Strategien fix. 28
Reine Strategien können auch als Wahl der explizit vorgegebenen Aktionen gewertet werden. Wenn in einem weiteren Schritt hingegen gemischte Strategien und somit eine Wahrscheinlichkeitsverteilung in das Modell integriert wird, ändert sich die Menge an möglichen Kombinationen.
458
Günter FandellJan Trockel
III. Der Disponent handelt korrekt, indem er die Bestellmenge methodisch bestimmt, und der Controller handelt nicht korrekt, da er den Disponenten mit niedrigem Prüfniveau kontrolliert - Aktionenkombination (m, nh). IV. Der Disponent handelt nicht korrekt, indem er die Bestellmenge nichtmethodisch bestimmt, und auch der Controller handelt nicht korrekt, da er den Disponenten mit niedrigem Prüfniveau kontrolliert - Aktionenkombination (nm, nh) -, wobei, wie oben erläutert, diese Situation in die Aktionenkombinationen (nm/nh/a) und (nm/nh/na) aufgesplittet werden muss. Dabei bezeichnet (a) die Aktion, dass die Untemehmensfühnmg das suboptimale Verhalten von Disponent und Controller aufdeckt, und (na), dass dies unentdeckt bleibt. Das führt zu dem extensiven Spielbaum aus Abbildung 1. Dabei stehen Pm und Ph für die Wahrscheinlichkeiten, dass der Disponent methodisch bei seiner Entscheidung vorgeht und der Controller eine hohe Priliintensität an den Tag legt.
Disponent
Controller
Untemehmensführung
o
0
Abbildung 1: Extensiver Spielbaum im Disponenten-Controller-Konflikt
Einfluss von Vertrauen in einem Inspektionsspiel
459
In dem Modell bedeutet ein hohes Kontrollniveau (h), dass das nicht-
methodische Entscheiden (nm) auch aufgedeckt wird und dass dies bei einem niedrigen Kontrollniveau (nh) unter Umständen nicht erfolgt. Prüft der Controller mit geringem Niveau, wird er auf jeden Fall einen positiven Prüfbericht verfassen; lediglich wenn er mit hohem Kontrollniveau prüft, wird er im Prüfbericht je nach Lage der Dinge differenzieren. Daraus ergibt sich für die Untemehmensleitung ein Kontrollbedarf in den Knoten 4 und 5 (nm/nh). In den Kosten K für das zusätzliche Prüfen des Controllers können neben den
Prüfgebühren auch Arbeitsleidfaktoren enthalten sein-", so dass bei einem hohen prüfniveau der Payoff um K reduziert wird. Die Grundvergütung für die betrachteten Akteure wird hier nicht weiter beachtet, da sie keinen Einfluss auf die im Folgenden generierte Nash-Lösung ausübt. In Manager-PrüferModellen sind derartige Vergütungen zwar teilweise enthalten, wir aber orientieren uns an der Vorgehensweise von Avenhaus/Canty (2009), die bei ihren Überlegungen zum Inspection Game lediglich Kosten, Boni und Strafen beschreiben". Bestimmt der Disponent die Bestellmenge methodisch, so wie es von der Untemehmensleitung erwartet wird, erhält er einen Bonus BD für sein korrektes Arbeiten. Dieser Bonus kann aus einer Geldleistung oder auch in einem Imagegewinn bestehen". Analog erhält der Controller für ein hohes Prüfniveau einen Bonus Be, wenn er entsprechend prüft und dabei das nichtmethodische Vorgehen des Disponenten aufdeckt-', In diesem Fall entstehen 29
Vgl. Ewert (1993), S. 730.
30
Vgl. Avenhaus/Canty (2009), S. 4857 und S. 4864.
31
Vgl. Fandel/frockel (2009). [ost (1999) erklärt dabei, dass finanzielle Anreize immer dann eine zielkonforme Durchführung einer Aufgabe beeinflussen und fördern, wenn der Akteur extrinsisch motiviert ist. Der Akteur muss durch die eigenen Aktionen seine Entlohnung beeinflussen können. Kontrollen des Akteurs können dabei eine Lösung für dieses Problem darstellen. Frese (2000) und auch Baker et al. (1988) beschreiben, wie exzellente Leistungen, hier die Optimierung der Bestellmengen, entsprechende finanzielle Belohnungen mit sich bringen sollen. In der Praxis werden diese Anreize sogar in Form von Beförderungen formuliert, vgl. hierzu Frese (2000), S. 172 -173.
32
Vgl. Friehe (2008), S. 130. Friehe (2008) beschreibt dies dadurch, dass die Auszahlung für das Aufdecken des illegalen Verhaltens größer ist als die Auszahlung für das NichtAufdecken des illegalen Verhaltens. Dies kann mit einem zusätzlichen Bonus gleichgesetzt werden.
460
Günter Fandel/jan Trockel
ihm, wie bereits dargestellt, jedoch auch zusätzliche Prüfkosten K33. Prüft er dagegen mit niedrigem Niveau und deckt die Fehlbestimmungen des Disponenten nicht auf, so entstehen ihm dadurch weder Kosten, noch erleidet er Mehrarbeit34. Wenn der Controller aber aufgmnd seines geringen Prüfniveaus fälschlicherweise das Fehlverhalten des Disponenten als korrekt anerkennt, so generiert dies einen Bonus BD für den Disponenten". Strafzahlungen S treffen den Disponenten, wenn der Controller sein nichtmethodisches Vorgehen aufdeckt36. Andererseits erreicht er einen Mussegewinn L, wenn er sich nicht um die methodische Bestimmung der optimalen Bestellmenge bemüht'". Ist der Mussegewinn L höher als die Strafe S, wird der Disponent weniger Motivation verspüren, sein nicht-methodisches Vorgehen zu ändern und den Vorgaben des Unternehmens anzupassen. Es entsteht ein intrapersoneller Konflikt, sich legitim zu verhalten oder vom Unternehmenskodex abzuweichen. Auch dem Controller droht eine Bestrafung S, sofern dieser anhand der Daten die Problematik nicht optimaler Lose nicht aufdeckt und dies dann durch die Unternehmensführung im Bericht entdeckt wird38 • Der Controller kann nur genau dann bestraft werden, wenn er einen Fehler machtv. In einem lateralen Konflikt führt Selbststeuerung nicht zu unternehmensopti-
malem Verhalten, wenn dem Inspektor keine Bestrafung droht. Beide Akteure
33
M
35
Simons/Biskup (2006) stellen eine Relation zwischen hohem und niedrigem Prüfniveau in der Form einer Abhängigkeit her. Hohes Prüfniveau verursacht Kosten Kp, wohingegen geringes Prüfniveau lediglich einen Teil dieses Wertes ausmacht: a· K p • Hier wird einfach a . K p = 0 gesetzt, so dass die Kosten hier durch K = K p - a . K p = K p gegeben sind. Vgl. Borch (1982), S. 120. Die Modellierung von Borch (1982) ähnelt diesem Modell sehr, jedoch sei noch einmal darauf hingewiesen, dass es sich im Modell von Borch (1982) um einen vertikalen Konflikt handelt. Auch Biermann (2006) beschreibt ein ökonomisches Inspection Game für das Risikomanagement mit einer vertikalen Struktur, in welchem dem Prüfer durch intensive Prüfungen zusätzliche Kosten entstehen. Vgl. Ohta (2008),S. 562.
36
Allgemein wird der Inspizierte bei Entdecken des illegalen Verhaltens durch den Inspektor bestraft. Vgl. u.a. Avenhaus/Kilgour (2004), S. 4.
Y1
Vgl. Bierlein (1969), S. 37.
3B
Vgl. Paefgen (2008), S. H.
39
Vgl. Ohta (2008),S. 562.
Einfluss von Vertrauen in einem Inspektionsspiel
461
können unter diesen Umständen ihre eigenen Ziele verwirklichen, so dass eine Strategienkombination (nm, nh) realisiert werden könnte. Dies gilt es aus Unternehmenssicht zu vermeiden. Die Delegation von Aufgaben bedarf der Koordination, die wiederum eine Kontrolle der Kontrolle mit sich bringen sollte40.
Aufgrund der vorherigen Ausführungen entstehen nun die nachfolgenden Auszahlungen
,.~
bzw. 1fv an den Knoten r des Spielbaums, r=1, ...,5, für den
Disponenten D und den Controller C 41;
rtb = Ph' Pm .(BD ) rtb = (1- Ph)' Pm .(BD ) rt~ =(1- Ph)' Pm ·(0)
rtb = Ph .(1- PmH -S +L)
rtb = pd 1- PmH-K +Bc ) rtt = Pa ·(1- Ph)·(l- Pm)'( -S + L) rt~ = Pa' (1- Ph H1- Pm H -S)
rtb = (1- PaH1- Ph) ·(1- PmHBD + L)
rtb =(1- PaH1- Ph)·(l- PmHO) Da die Wahrscheinlichkeit Pa nicht strategisch von den Akteuren bestimmt werden kann, lassen sich die Knoten 4 und 5 im extensiven Spielbaum zusammenfassen, und die zugehörige Normalform des Spiels wird durch die Abbildung 2 dargestellt.
40
In diesem Kontext spricht Sieber (2008) davon, dass eine Delegation von Entscheidungs-
befugnissen einer Rationalitätssicherung bedarf. Dies wiederum greift Paefgen (2008) auf und diskutiert, wie bereits erläutert, die Kontrolle des Controllers. 41
Somit ist r
= (N, (Si )leN ,( 7l"i )leN)
vollständig beschrieben.
für den Disponenten-Controller-Verlauf für reine Strategien
462
Günter Fandel/jan Trockel
Controller
hohes Kontrollniveau (h)
geringes Kontrollniveau (ob)
Disponent
-K
methodisch bestimmte Bestellmenge (m)
o
Pm
nicht-methodisch bestimmte Bestellmenge (nm)
' ~-K -S+L
Abbildung 2: Bimatrix des Disponenten-Controller-Konfliktes
Nach der Transformation des Spiels in die Normalform kann das NashGleichgewicht des nicht-kooperativen Disponenten-Controller-Konfliktes bestimmt werden. Da eine Lösung in reinen Strategien ex-ante ausgeschlossen wird, müssen die folgenden Bedingungen immer und ohne Ausnahme erfüllt sein:
Analog der Vorgehensweise von Fandel/Trockel (2009) lassen sich die optimalen Wahrscheinlichkeiten bestimmen. In diesem nicht-kooperativen Konflikt wird von den Spielern der gleichge-
wichtige Zustand (p~,P:) realisiert42. Anhand dieses Punktes kann die Reaktionskorrespondenz der beiden Spieler beschrieben werden:
42
VgI. zu diesem gleichgewichtigen Zustand Nash (1951).
Einfluss von Vertrauen in einem Inspektionsspiel (h)
für
P <
BcK+p ,S 0
B c+ Po'S
m
Sc = (h,nh)
(nh)
für für
Pm =
463
BcK+p ,S 0
'
,
B c+ Po'S Bc-K+p ,S P > 0 m Bc+ Po'S '
und
SD
=
(rn)
für
Ps >
(rn,nm)
für
Ph =
(nm)
für
Ph<
L-Po,(S+BD) , S+BD-Po,(S+BD) L-Po,(S+BD) S+BD-Po"(S+BD)
,
L-Po,(S+BD) S+BD - Po '(S+BD)
Graphisch erhält man somit Abbildung 3 für die Reaktionskorrespondenz:
Ph = 1,.-:- - - , - - -------- -------, , , , , , , , , , , ,
___ _ _____ -'---
o
....J
Pm =1
Abbildung 3: Reaktionskorrespondenz im Disponenten-Controller-Konflikt
Hieran wird sehr schön deutlich, dass bei Gültigkeit der obigen Bedingungen lediglich genau ein gleichgewichtiger Zustand realisiert wird, wenn (p~,P:) gelten, Die berechneten Gleichgewichtswahrscheinlichkeiten werden in beiden
Günter Fandel/jan Trockel
464
Fällen durch eine Bestrafung S und die exogene Wahrscheinlichkeit Pa beeinflusst-'.
2.2
Vertrauen im einmaligen Inspektionsspiel
Der Weg von der ökonomischen Interaktion der Individuen über die Verlässlichkeit hin zum Vertrauen ist dadurch charakterisiert, dass die Individuen bereit sind, jenseits vertraglicher Verpflichtungen zu kooperieren, um die Qualität interpersonaler Beziehungen zu erhöhen; dafür werden unter Umständen auch höhere Kosten in Kauf genommen. Zudem verzichtet der vertrauenswürdige Akteur darauf, Chancen opportunistisch wahrzunehmen. In Anlehnung an die Überlegungen von Güth/Kliemt (2007) wird nun die obige Bimatrix um die Bestätigung oder das Ausnutzen von Vertrauen und demzufolge Misstrauen erweitert. Als Bemessungsgrundlage kann dabei das Risiko des Controllers herangezogen werden, wenn der Disponent nicht-methodisch agiert und der Controller mit niedrigem Niveau die Unterlagen und Daten kontrolliert. Dieses Risiko ist für den Controller durch Pa' S gegeben. Es werde nun angenommen, dass dieses Risiko von beiden Akteuren, Vertrauensgeber und -nehmer, mit einem Vertrauensparameter bewertet werde: a.,
i = C,D.
Dadurch kann das Entstehen von Ver- und Misstrauen abgebildet werden, indem im obigen Ansatz a c· Pa'S und a D ' Pa'S integriert werden. Es werden sowohl die gegenseitigen Einflüsse als auch Einflüsse für den jeweiligen Akteur selbst durch die Parameter abgebildet. Güth/Klimt (2007) führen einen Zug der Natur ein, der den Typ Spieler charakterisiert. Dabei unterscheiden die Autoren die Typen "Vertrauen zeigen oder nicht" und/oder "Vertrauen belohnen oder nicht"44. Diese Idee wird auf den obigen Konflikt übertragen, indem ein exogener Zustand über den Typ der Spieler lImit Vertrauen" (v) und "ohne Vertrauen" (nv) entscheidet. Mit Pv wird eine Wahrscheinlichkeit des Vertrauens in das Spiel integriert. Es entste-
43
Vgl. grundlegend Fandel/Trockel (2009) zu den Einflüssen von Kostenabweichungen auf die gleichgewichtige Lösung.
44
Vgl. Güth/Kliemt (2007),5.35 - 39.
Einfluss von Vertrauen in einem Inspektionsspiel
465
hen zwei Teilspiele, die durch die Harsanyi-Transformation in ein gesamtes Spiel und eine Normalform übertragen werden könnerr'", Lediglich bei der Strategienkombination (m, nh) wird zwischen den beiden Akteuren dauerhaft Vertrauen aufgebaut. Zum einen würde bei einem hohen Prüfniveau Misstrauen vorhanden sein, dass der Disponent doch nicht-methodisch vorgehen könnte und die Situation ausnutzt. Zum anderen entsteht kein Vertrauen, wenn der Disponent nicht-methodisch plant. Folglich kann nur im Knoten 2 des Teilspiels Vertrauen vorhanden sein. Da sich die Payoffs der beiden Akteure lediglich in Knoten 2 des Teilspiels mit Vertrauen ändern, wird auf eine ausführliche Darstellung des extensiven Spielbaums und einer Darstellung zweier Matrizen an dieser Stelle verzichtet. Lediglich die Erweiterung um den Zug der Natur wird skizziert.
Bestimmung des Typs durch
einenZug der Natur
(1- Pv)
nv
v
Modell Fandelffrockel (2009)
Modell Fandelffrockel (2009)
erweitertum die Vertrauensbeziehung in Knoten 2
Abbildung 4: Einführung des Zugs der Natur in den Disponenten-Controller-Konflikt
45
Vgl. hierzu die Ausführungen von Harsanyi (1967 und 1968) in seinen drei Beiträgen zur Transfonnation von Spielen mit unvollständiger Infonnation in Spiele mit imperfekter Information.
466
Günter Fandel/jan Trockel
Durch die Harsanyi-Transformation ergibt sich die leicht abgewandelte Bimatrix, die lediglich die in Knoten 2 integrierte Vertrauensvariable beinhaltet. Alle übrigen Einträge bleiben identisch erhalten.
Controller
geringes Kontrollniveau (00)
hohes Kontrollniveau (h)
Disponent
methodisch bestimmte Bestellmenge (m)
Pm
nicht-methodisch bestimmte Besteilmenge (nm)
1r 3
C
_4/5
"C
Abbildung 5: Um Vertrauen erweiterte Matrix des Disponenten-Controller-Konfliktes
Über den Ansatz, dass bei der optimalen Entscheidung des einen Akteurs der andere indifferent in der Wahl seiner Strategie bzw. Aktion gestellt wird, folgt, dass
erfüllt sein müssen. Löst man diese Bedingungen jeweils nach den Wahrscheinlichkeiten Pm und Ph auf, so erhält man:
Einfluss von Vertrauen in einem Inspektionsspiel
467
Es wird deutlich, dass für den Fall, dass kein Vertrauen betrachtet wird (ac =aD =0 respektive Pv =0) das herkömmliche Nash-Gleichgewicht, das be-
reits von Fandel/Trockel (2009) ausführlich diskutiert wurde, eintritt. Hier wird das Problem sichtbar, welches in einem One-Shot-Game für Vertrauen besteht. Der Zug der Natur würde immer und ohne Ausnahme durch Pv = 0 gegeben sein, da ansonsten der Controller durch den Disponenten ausgebeutet würde, da
8p~"
< 0 und 8p~" < 0 gelten. Mit einem höheren a c, a D respektive
der Wahrscheinlichkeit Pv verschiebt sich die generierte Nash-Lösung in Richtung der Strategienkombination (nm, nh). Dies aber besagt, dass Vertrauen durch den Disponenten ausgenutzt würde.
2.3
Wiederholter Disponenten-Controller-Konflikt
In endlich wiederholten Spielen ergibt sich aufgrund der Rückwärtsinduktion immer und ohne Ausnahme das herkömmliche Gleichgewicht des One-ShotGame mit (p:,p;) 46. Von großem Interesse hingegen ist, wie sich ethische Überlegungen auswirken, wenn nicht bekannt ist, wann die letzte Periode vorliegt und somit ein Friedman-Superspiel gegeben ist. Nach Friedman (1971) und in Anlehnung an die Modifikationen von Fandei (1979) wird ein Spiel als Superspiel bezeichnet, wenn ein Entscheidungsproblem nicht ein Mal ansteht, sondern unendlich viele Wiederholungen dieses Spiels vorliegen. Des Weiteren werden in einem Superspiel neue Gleichgewichtsstrategien definiert, die die herkömmliche Nash-Lösung in jeder Runde dominieren. Dabei werden dann die pareto-effizienten Punkte der dominanten Gleichgewichte bestimmt, wobei diejenigen Punkte darunter bestimmt werden, so dass alle Akteure mit
46
Vgl. zu endlichen Spielen und der Rückwärtsinduktion die Ausführungen von Selten (1978),Rosenthal (1981)und Kreps et al. (1982).
468
Günter Fandel/jan Trockel
der gleich geringen Wahrscheinlichkeit davon abweichen könnten", Nun kann anhand dieser Überlegungen der Einfluss von Vertrauen auf den Disponenten-Controller-Konflikt gemessen werden. Dazu wird in drei Schritten vorgegangen. Erst werden alle möglichen Zustände, die das herkömmliche Gleichgewicht dominieren (Schritt I), dargestellt. Anschließend werden die pareto-optimalen Punkte aus allen möglichen Zuständen bestimmt (Schritt 2), bevor dann der Einfluss von Vertrauen untersucht wird (Schritt 3).
Schritt 1:
Hier wird nun der gesamte, mögliche Auszahlungsraum für Vertrauen dargestellt. Anhand der Bimatrix und der zuvor bestimmten nicht-kooperativen Gleichgewichtslösung zwischen Controller und Disponent ergibt sich der Auszahlungsraum
rr für
Vertrauen (dick umrandet) aus Abbildung 6, unter
der Annahme, dass der mögliche Bonus Be des Controllers als Anreiz immer seine zusätzlichen Kosten K der intensiven Prüfung der Unterlagen bzw. Daten des Disponenten überwiegt: Be > K. Hierdurch wird garantiert, dass die Payoff-Komponente in Knoten 3 des Controllers größer als die in Knoten 2 ist: 7r~
< 7r~. Zugleich gelte die Bedingung L < S, die besagt, dass der Disponent
durch nicht-methodisches Vorgehen keinen höheren Mussegewinn erzielen kann als die Strafzahlung, die fällig wird, wenn sein Fehlverhalten durch den Controller aufgedeckt wird.
47
Vgl. Friedmann (1971), S. 6, und Fandel (1979), S. 63 - 64. Vgl. darüber hinaus grundlegend zu unendlich wiederholten Spielen die Ausführungen von Rubinstein (1979), FudenberglMaskin (1986)und Abreu (1988).
Einfluss von Vertrauen in einem Inspektionsspiel
....L.
L..-
469
- - - . 1T:
c
Abbildung 6: Auszahlungsraum des nicht-kooperativen Zweipersonenspiels ohne und mit Vertrauen
Die Auszahlungen im Nash-Gleichgewicht mit Vertrauen lassen sich für die beiden Spieler durch Einsetzen der gleichgewichtigen WahrscheinIichkeiten in die Payoff-Funktionen der beiden Akteure bestimmen, so dass sich die folgenden Werte ergeben:
Liegt ein Spielverlauf vor, in welchem Vertrauen nicht vorhanden ist und somit das klassische Spiel unendlich oft wiederholt wird (Pv =0), so reduzieren sich die Auszahlungen im Gleichgewicht nach Nash ohne Vertrauen auf: gN,oV = (1!N,oV 1lN.oY) = C
,
D
J
- K .Pa ' SB . ( Bc+Pa' S' D
470
Günter Fandel/jan Trockel
Vergleicht man die Auszahlungen mit und ohne Vertrauen miteinander, so folgt, dass
,,~oov <,,~ <,,~
und
"ffooV =,,~ < "ff gilt. Somit sind bei einem Spiel
ohne Vertrauen zwischen Disposition und Controlling die Auszahlungen und
,,2
"B identisch.
Die Menge V X in Abbildung 7 beschreibt nun jene konvexe Menge aller zulässigen Auszahlungskombinationen (n2, ~), so dass
"t >,,~
erfüllt sind. Diese Menge lässt sich mit s = (SI,S2),SI
S\,S2 E S2f durch
V X = {"x
E
und
"E > "ff
stets
Is E S J\"X (s) = ~ ."N +~ ."B +~ ."A, ~,~,~ ~ O,~ +~ +~ =1} c n
beschreiben. Abbildung 6 zeigt auf, dass die Menge aller zulässigen PayoffVektoren des Spiels ohne Vertrauen (gestrichelt umrandet) eine echte Teilmenge von der Menge aller zulässigen Payoff-Vektoren des Spiels mit Vertrauen ist: IIo V c II .
• nN,oV
:
:71:
N
i i
Abbildung 7: Menge aller möglichen zusätzlichen Auszahlungen im Superspiel mit Vertrauen
Ein Spiel ohne Vertrauen kann somit als ein Spezialfall angesehen werden, in welchem die obige Bedingung
,,2 = "B
stets erfüllt ist. Als Drohpunkt kann
darüber hinaus derjenige Auszahlungspunkt erreicht werden, bei dem nach einem Ausbeuten bzw. Ausnutzen der Situation kein Vertrauen mehr vorhanden ist. Es würde dann der Auszahlungspunkt
"NooV
< "N realisiert. Dies aber
Einfluss von Vertrauen in einem Inspektionsspiel
471
würde den Disponenten eindeutig schlechter stellen als die Nash-Lösung in gemischten Strategien des Basisspiels mit Vertrauen.
Schritt2: Unter dem Aspekt der Auszahlungsmaximierung werden die Akteure nur Strategienkombinationen wählen, die die maximal möglichen Auszahlungen erlauben. Diese jedoch werden realisiert, wenn Controller und Disponent derart agieren, dass sie einen Punkt auf der Geraden zwischen den Payoffs und
"B
"A
erreichen. Folglich ist eine pareto-optimale Auszahlungskombination
der Akteure erreicht, die jedoch unter Umständen nicht unternehmensoptimal ist, sofern nicht garantiert werden kann, dass Pm Die Strecke zwischen den Punkten ,,4/5 und
,,2
in Abbildung 6, auf der die
"B liegen, lässt sich durch H(,,) = {"I" = T·,,4/5 +(I-T).,,2,O:O; T:O; I}
Punkte
"A
= 1 gilt.
und
darstellen. Beispielhaft wird für den einen Randpunkt
"A
die Berechnung durchgeführt,
um im letzten Schritt für diesen bzw. für die Menge V X den Einfluss von Vertrauen zu messen. Alternativ könnte auch jeder andere Payoff-Vektor auf H(,,) berechnet werden. Mit
"t = "g erhält man über T =
N
2
~~5 -"e2 die Dispo-
"e
-"e
nenten-Komponente des Punktes "A:
Eingesetzt mit den ursprünglichen Payoffs aus der Bimatrix in Abbildung 5 und dem Auszahlungswert im Nash-Gleichgewicht ergibt sich für den Disponenten: ,,~
=BD+Pv·aD·Pa· S (((Pv ·ac· Pa .S))2 +(Pv ·ac· Pa 'S)'(Pa 'S+K)+ Pa'S .K).(L- Pa ·(S +BD )) (Be + Pa' S +(Pv ·ac· Pa ·S))'((Pv ·ac· Pa 'S)+ Pa ·S)
+-'-----.,..-------------------'-------
Günter Fandel/jan Trockel
472
und für den Controller: g~
=(p,.ac·Pa·S).(Be-K)-K·Pa· S. Be + Pa . S + (Pv . a, . Pa . S)
Die zweite Grenze des pareto-optimalen Bereichs ist durch Punkt kann analog zu
gA
gB
gegeben. Dieser
hergeleitet werden. Auf eine ausführliche Darstel-
lung wird jedoch an dieser Stelle verzichtet48. Da hier aber alle Punkte auf der Payoff-Linie zwischen den Punkten gB
gA
und
neue, zulässige pareto-optimale Gleichgewichtspunkte gegenüber dem
herkömmlichen Nash-Gleichgewicht mit Vertrauen im Punkt n" sind, folgt, dass in einem unendlich wiederholten Spiel auch unendlich viele Gleichgewichtspunkte existieren, die der Bedingung genügen, dass sie auf H(g) liegen. Spieltheoretisch lässt sich keine direkte Aussage vorab darüber treffen, an welchem Punkt des Auszahlungsraums V X sich das neue Gleichgewicht befindet.
Schritt 3:
In diesem Schritt wird analysiert, welchen Einfluss Vertrauen auf die nichtkooperative Interaktion zwischen Disponent und Controller ausübt. Dazu werden die oben bestimmten Lösungen miteinander verglichen und Aussagen über die Payoffs und Wahrscheinlichkeiten getroffen. Legt man die Auszahlungsräume V X bzw. VX.aY der beiden Spiele mit und ohne Vertrauen übereinander, so ergibt sich die Darstellung in Abbildung 8.
48
Im 3. Schritt kann der identische Einfluss von Vertrauen auf 1fA gezeigt werden. Dieser Einfluss gilt aufgrund des linearen, monoton fallenden Verlaufs der Geraden zwischen den Knoten 4/5 und 2 ebenso für den Punkt 1f' .
473
Einfluss von Vertrauen in einem Inspektionsspiel
".
~~ •.. . . . . . . . . . . . y:::.~~
1CN,oV
::>::::.•
~----------+1Cc
Abbildung 8: Vergleich der dominanten Bereiche im Spiel ohne und mit Vertrauen
Ein Vergleich der beiden Mengen zeigt auf, dass durch Vertrauen die Wahrscheinlichkeit der Realisation von Knoten 4/5 als Gleichgewicht und somit der Verwirklichung der Strategienkombination (nm, nh) vermindert wird. Daher kann festgehalten werden, dass einer Ausbeutung der Situation des Vertrauens seitens des Disponenten durch eine unendliche Wiederholung der Konfliktsituation entgegengesteuert werden kann. Gilt in der einmaligen Ausführung des Konfliktes noch
8p;la;,. < 0
und 8p~. < 0, so reduziert sich Pm bei einem
unendlich wiederholten Spiel durch den Aufbau von Vertrauen. Die Menge V x verschiebt sich im Auszahlungsraum nach rechts oben. Das bedeutet, dass
für jeden Auszahlungsvektor trauen, der oberhalb von zahlungsraum V
X
7[N,oV
7[
aus dem Auszahlungsraum
vX,ov
ohne Ver-
liegt, ein Auszahlungsvektor it aus dem Aus-
mit Vertrauen oberhalb von
7[N
existiert, so dass
7[
von it
dominiert wird.
3.
Fazit
Dieser Beitrag behandelte die Analyse des Inspektionsspiels für einen Disponenten-Controller-Konflikt. Dabei wurde zuerst das herkömmliche Nash-
474
Günter Fandel/jan Trockel
Gleichgewicht bestimmt, bevor für den einmaligen Konflikt eine Erweiterung um Vertrauen durchgeführt wurde. Danach wurde die unendliche Wiederholung des diskutierten Spiels betrachtet und ein Vergleich zwischen einem Inspektionsspiel mit und ohne Vertrauen durchgeführt. In diesem Beitrag zur Bildung von Vertrauen in Unternehmen konnte schließlich aufgezeigt werden, dass in einmaligen Konfliktsituationen der Inspizierte Vertrauen ausnutzen kann und wird. Wiederholt sich hingegen die Spielsituation unvorherbestimmt häufig, so ändert sich die Lösung gegenüber dem Basisspiel in der Weise, dass Vertrauen aufgebaut wird und sich eine Lösung realisieren lässt, die für die Akteure und deshalb schließlich auch für das Unternehmen besser ist. Durch die Auswirkungen der Drohung des Controllers, den Disponenten schlechter als die Nash-Lösung bei Vertrauen zu stellen, konnte aufgezeigt werden, wie sehr vertrauensvolles Verhalten die Auszahlungswerte beider Akteure steigert.
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Über die Autoren:
Prof. Dr. rer. pol Dr. h.c Günler FandeI •
geboren 1943 in Köln
•
Studium der Mathematik und Physik in Köln
•
Studium der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in Bonn
•
seit 1976 Inhaber des Lehrstuhls für Betriebswirtschaft, insbesondere Produktions- und Investitionstheorie an der FernUniversität in Hagen
•
Managing Editor der Lecture Notes Series in Economics and Mathematical Systems; Editor-in-Chief der Zeitschrift für Betriebswirtschaft
•
Herausgeber zahlreicher Publikationen in den Bereichen Produktionstheorie, Produktionsplanung und -steuerung, Materialwirtschaft, Entscheidungs- und Spieltheorie sowie Hochschulplanung
•
Ehrenpromotion durch die Universität Freiburg im Jahre 2007
Kontakt: FernUniversität in Hagen, Fakultät für Wirtschaftswissenschaften, Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, insbes. Produktions- und Investitionstheorie, Eugen-Schmalenbach-Gebäude, Universitätsstraße 41, 58084 Hagen,
Jan Trockel •
geboren 1979 in Werl
•
Studium der Wirtschaftswissenschaften in Bielefeld
•
seit 2006 wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl für Betriebswirtschaft, insbesondere Produktions- und Investitionstheorie an der FernUniversität in Hagen
•
Seine Forschungsschwerpunkte sind die Anwendungen der Spieltheorie in der Produktion.
Untemehmerisches Verhalten im Kontext der Europäisierung des Rechts Heinz Kußmaul, Christoph Ruiner und Dennis Weiler
1.
Einleitung
Im Zusammenhang mit der Internationalisierung und speziell der Europäisierung der Wirtschaft und des Rechts zeigen sich notwendigerweise Auswirkungen im unternehmerischen Verhalten und damit im Verhalten der Kaufleute. Im vorliegenden Beitrag wird anhand von zwei Sachverhalten auf Umgehungssachverhalte eingegangen, die sich in der Praxis herauskristallisiert haben. Auf der einen Seite wird die Umgehung des deutschen Insolvenzrechts problematisiert, die ihren Ursprung hat in der internationalen Ausrichtung der Unternehmen und in der Möglichkeit, sich im Rahmen der Europäischen Union entsprechend zu positionieren. Nachdem in der EU auch die EUInsolvenzverordnung verabschiedet wurde, ergab sich für die Unternehmen die Frage, welche Nischen im Vergleich zum deutschen Insolvenzrecht gefunden werden können. In diesem Zusammenhang kristallisierte sich eine Gestaltung mit der Rechtsform in anderen Ländern Europas, speziell mit der britischen Limited, heraus. Die Umgehung des deutschen Bilanzrechts mit dem Typus des ehrbaren Kaufmanns bzw. des ordentlichen Kaufmanns wurde ebenso von den Unternehmen verfolgt, wobei die EU durch die allgemeine Akzeptierung der IFRS die Nischensuche geradezu gefördert hat. Hier ergab sich unter anderem eine Gestaltung mit internationalen Bewertungsmaßstäben im Kontext des Fair Value. Während auf der einen Seite nur die Meinung vertreten wird, der Fair Value habe die internationale Finanzkrise im Sinne eines Brandbeschleunigers T. Nguyen, M ensch und Markt, DOI 10.1007/978-3-8349-6728-2_18, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
482
Heinz KußmauVChristoph Ruiner/Dennis Weiler
gefördert, werden auf der anderen Seite auch Meinungen vertreten, er sei der Hauptauslöser der internationalen Finanzkrise gewesen, werden doch mit Hilfe des Fair Value in Zeiten nach oben gehender Kurse Belohnungen für entsprechend Begünstigte - insbesondere das obere Management - verknüpft.
2.
Die Umgehung des deutschen Insolvenzrechts
2.1
Einführung in die Thematik
Um den strengen Vorschriften des deutschen Insolvenzrechts - insb. die Ausgestaltung zentraler Verfahrensfragen wie z.B. die Rechte der Gläubiger, den Rang ihrer Forderungen oder die Bestellung eines Insolvenzverwalters werden von den Betroffenen als einengend empfunden - zu entfliehen, wird vermehrt strauchelnden deutschen Unternehmen geraten, eine Umwandlung in eine englische Limited anzustreben, um somit das vermeintlich günstigere englische Insolvenzrecht anwenden und ein Sanierungsverfahren nach englischem Recht durchführen zu können.' Hierzu wird entweder eine in England ansässige Holding gegründet, die die Gesellschaftsanteile an dem strauchelnden deutschen Unternehmen übernimmt, oder aber dieses wird ganz auf eine englische Gesellschaft verschmolzen. Zumindest vordergründig wird in diesen Fällen die Geschäftsleitung nach England verlegt;2 da die nach englischem Recht gegründete Limited jedoch ihre Geschäftstätigkeit weiterhin ausschließlich in Deutschland ausübt, entsteht im Ergebnis eine Scheinauslandsgesellschaft (pseudo-foreign corporation). Im Anschluss an die Umwandlung der nach deutschem Recht gegründeten Gesellschaft in eine Limited bestimmen die Geschäftsführer der Limited (directors) einen Insolvenzverwalter (adminstrator)
1
Vgl. BUCHENAU, MARTIN-W.: Schefenacker trickst Insolvenzrecht aus,
www.hande/sb/att.com; FRöNDHOFF, BERT: Insolvenz - Das englische Recht ist für deutsche Finnen attraktiv. Kommen mehr Fälle wie Schefenacker?, Handelsblatt vorn 15.05.2007, Nr. 93, S. 18; PAULUS, CHRIsTOPH G: Notwendige Änderungen im Insolvenzrecht. ZIP 2005, S. 2301 f.; PAULUS, CHRIsTOPH G: Konturen eines modemen Insolvenzrechts. DB 2008, S. 2523. 2
Vgl. ANDRES, DIRK/GRUND, ANDREAS: Die Flucht vor deutschen Insolvenzgerichten nach England, NZI 3/2007, S. 137 f.; VALLENDER, HEINZ: Gefahren für den Insolvenzstandort Deutschland, NZI 2007, S. 130 f.
Unternehmerisches Verhalten im Kontext der Europäisierung
483
und teilen diesen Sachverhalt dem zuständigen englischen Gericht mit (sog.
out-of-court appointmenti» Dieses beruft nach bloßer kursorischer Kontrolle auf Vollständigkeit und ohne jede weitere Prüfung - insb. ohne Zuständigkeitsprüfung - die von den Geschäftsführern der Limited vorgeschlagenen Personen zu Insolvenzverwaltern. Als Vorteil einer solchen Vorgehensweise wird folglich gepriesen, dass nunmehr das britische und nicht das deutsche Insolvenzrecht Anwendung findet und damit die Geschäftsführer der von der Insolvenz bedrohten Limited einen ihnen bzw. den Gesellschaftern genehmen Insolvenzverwalter bestellen können; die von der deutschen InsO geforderte Unabhängigkeit des Insolvenzverwalters - § 56 Abs. 1 InsO fordert, dass eine für den jeweiligen Einzelfall geeignete, insbesondere geschäftskundige und von den Gläubigern und dem Schuldner unabhängige natürliche Person zum Insolvenzverwalter bestimmt wird - kann so umgangen werden.
2.2
Gründe für die Umgehung des deutschen Insolvenzrechts
Die Gründe für solch eine Flucht vor dem deutschen Insolvenzrecht sind mannigfaltig: Zum einen haben die Gläubiger u.U, ein starkes Interesse daran, dass die Bestimmungen zur Insolvenzanfechtung (§§ 129 H. InsO) - deren Ziel es ist, Vermögensverschiebungen, die der Schuldner bei drohender Insolvenz zu seinem persönlichen oder zum Vorteil einzelner Gläubiger vornimmt, rückgängig zu machen - nicht zum Tragen kommen. So soll einzelnen Gläubigern die Möglichkeit genommen werden, ihre Forderungen kurz vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens auf Kosten der Gesamtheit der Gläubiger zu sichern. 4 Der Anfechtungsanspruch richtet sich nach § 143 Abs. 1 S. 1 InsO auf Rückgewähr zur Insolvenzmasse. Damit die Vorschriften der §§ 129 H. InsO greifen, müssen folgenden drei Voraussetzungen erfüllt sein:
3
Vgl. Part H, Chapter 4 Insolvency Rules 1986; SEALY, LEN/WORTHINGTON, SARAH: Cases and Materials in Company Law, 8. Aufl., Oxford 2008, S. 632.
• Insb. soll vermieden werden, dass Gläubiger, die besonderes Wissen über die wirtschaftliche Situation des späteren Schuldners ausnutzen, nicht besser behandelt werden als die restlichen Gläubiger. Vgl. FARR: CARSTEN, Die Besteuerung in der Insolvenz, München 2005, Rn. 173; ZEUNER, MARK: Die Anfechtung in der Insolvenz, 2. Aufl., München 2007, Rn. I.
484
Heinz KußmauVChristoph Ruiner/Dennis Weiler
• Von dem Schuldner oder ihm gegenüber muss vor Insolvenzeröffnung eine wirksame Rechtshandlung - hierunter ist sowohl ein aktives Tun als auch ein bewusstes Unterlassen (§ 129 Abs. 2 InsO) zu subsumieren vorgenommen worden sein, z.B. ein Verfügungs- und Verpflichtungsgeschäft. • Die anteilige Befriedigung der Insolvenzgläubiger muss durch Minderung der Insolvenzmasse beeinträchtigt sein, wobei eine Benachteiligung dann vorliegt, wenn sich die Befriedigungsmöglichkeiten aus der Masse ohne das anfechtbare Verhalten günstiger gestaltet hätten. • Es muss ein Anfechtungstatbestand der §§ 130 ff. InsO erfüllt sein," Zum anderen wird von Gläubigerseite häufig die mangelnde Einflussnahme auf die Auswahl des Insolvenzverwalters als Abwanderungsgrund angeführt, denn die Auswahl der Person des Insolvenzverwalters ist in das pflichtgemäße Ermessen des Insolvenzgerichts gestellt. Gern. § 56 InsO hat das Insolvenzgericht als Insolvenzverwalter eine für den jeweiligen Einzelfall geeignete, insbesondere geschäftskundige und von den Gläubigem und dem Schuldner unabhängige natürliche Person zu bestellen. Der Bestimmung eines geeigneten Insolvenzverwalters kommt im Rahmen eines Insolvenzverfahrens eine beträchtliche Bedeutung zu, da die Qualifikation des Insolvenzverwalters regelmäßig den Lauf des Insolvenzverfahrens entscheidend beeinflusst," Da diese Entscheidung von mit der jeweiligen Materie nicht bzw. nur unzureichend vertrauten Richtern getroffen wird, fürchten Großgläubiger oftmals, dass die Werthaltigkeit ihrer Sicherheiten durch einen von einem Gericht eingesetzten, ungeeigneten Insolvenzverwalter, der nicht in der Lage ist, eine erfolgreiche Sanierung durchzuführen, erheblich vermindert wird."
5
6
7
Vgl. FARR, CARSTEN: Die Besteuerung in der Insolvenz, München 2005, Rn. 174 ff.; ZEuNER, MARK: Die Anfechtung in der Insolvenz, 2. Aufl., München 2007, Rn. 15 ff. Vgl. DELHAES, WOLFGANG: § 56 InsO, Rn. 4, in: Insovlenzordnung (InsO), hrsg. von JÖRG NERLICH und VOLKER RÖMERMANN, 18. Ergänzungslieferung, Stand: Dezember 2009. Vgl. ANDRES, DIRI
Unternehmerisches Verhalten im Kontext der Europäisierung
485
Darüber hinaus haben die Geschäftsleiter und Gesellschafter Angst vor erheblichen Ansprüchen, die aus den deutschen Haftungsvorschriften (§§ 43 GmbHG, 93 AktG sowie 64 GmbHG, 92 Abs. 2 AktG) resultieren können. Zudem wird die in § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO statuierte Nachrangigkeit von Forderungen aus kapitalersetzenden Darlehen, die von einem Gesellschafter selbst gewährt worden sind, als Grund für die Flucht vor dem deutschen Insolvenzrecht angeführt.
2.3
Bestimmung des Insolvenzstatuts
Seit dem 31.05.2002 gilt - mit Ausnahme Dänemarks - europaweit die EUInsolvenzverordnungB, kurz EuInsO. Die EuInsO stellt kein einheitliches europäisches Insolvenzrecht dar, sondern bestimmt vielmehr das auf eine Insolvenz anwendbare Recht zur Durchführung eines Insolvenzverfahrens sowie das jeweils international zuständige Insolvenzgericht,? Die Anwendbarkeit der EuInsO auf eine Limited mit ausschließlicher Geschäftstätigkeit in Deutschland ergibt sich schon allein daraus, dass sich der Ort der Gründung bzw. des Satzungssitzes der Gesellschaft in Großbritannien, der Ort der wirtschaftlichen Leitung bzw. Betätigung aber in Deutschland befindet.t? Somit ist anhand der EuInsO zunächst zu prüfen, welcher Staat die
internationale Zuständigkeit zur Eröffnung eines das gesamte weltweite Vermögen der Gesellschaft umfassende Insolvenzverfahrens (Hauptinsolvenzverfahren) besitzt. Gern. Art. 3 Abs. 1 S. 1 EuInsO ist der Staat international für die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens zuständig, in dem der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen (center of main interests) hat. Ist der Schuldner eine juristische Person, so greift - bis zum Beweis des Gegenteils - die widerlegbare Vermutung, dass sich der Mittelpunkt ihrer haupt-
8
Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über Insolvenzverfahren, ABI. Nr. L 160, S. 1 H.
9
Vgl. TRrEBEL, VOLKER/HASE, KARL VON/MELERSKI, PETER: Die Limited in Deutschland, Frankfurt am Main 2006, S. 279.
10
VgI. hierzu DEDEMANN, SEBASTIAN: Rechtsformwahl unter dem Aspekt der Niederlassungsfreiheit, Diss., Hamburg 2006, S. 124.
486
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sächlichen Interessen an ihrem Satzungssitz befindet (Art. 3 Abs. 1 S. 2 EuInsO), welcher sich im Fall einer britischen Limited regelmäßig in Großbritannien befindet. Nach Erwägungsgrund 13 der EuInsO soll jedoch der Ort, an dem der Schuldner gewöhnlich der Verwaltung seiner Interessen nachgeht, als Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen gelten." dies ist der Ort der werbenden Tätigkeit des Unternehmens. Der Ort der werbenden Tätigkeit wird anhand der nach außen erkennbaren Handlungen und Vermögenswerte des Schuldners bestimmt, wobei insb. auf Merkmale wie das Betriebsgrundstück, die Büroräume, die Mitarbeiter, das Geschäftskonto des Schuldners, von dem aus der Zahlungsverkehr mit den Gläubigem erfolgt, die Kundenbeziehungen und den Geschäftszweck abgestellt wird.P Die Vermutung des Art. 3 Abs. 1 S. 2 EuInsO wird daher LA. für eine britische
Limited mit ausschließlicher Geschäftstätigkeit in der Bundesrepublik Deutschland widerlegbar sein.> Für solche Gesellschaften muss in Anwendung des Erwägungsgrundes 13 der EulnsO das Insolvenzverfahren in Deutschland eröffnet werden. Wird dennoch das Hauptinsolvenzverfahren in Großbritannien und nicht in Deutschland eröffnet, so haben die deutschen Gerichte dieses gern. Art. 16 EuInsO grundsätzlich ohne Weiteres, d.h. ohne Zuständigkeitsprüfung, anzuerkennen, denn gern. der Entscheidung des EuGH in der Rs. Eurofood sind die Gerichte der anderen EU-Mitgliedstaaten verpflichtet, die
Eröffnungsentscheidung eines Gerichts eines EU-Mitgliedstaats anzuerkennen, auch wenn dieses seine Zuständigkeit vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht überprüft hat bzw. ein Gericht eines anderen EUMitgliedstaates der Auffassung sind, dass das eröffnende Gericht nicht zuständig ist. Diesbezüglich verweist der EuGH darauf, dass einem Beteiligten,
11
Dies bedeutet, dass der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen sich regelmäßig an dem Ort befindet, an dem er objektiv erkennbar und für Dritte feststellbar ist. Vgl. hierzu ausführlich Fn. 36.
12
Vgl. KAMMEL, VOLKER: Die Bestimmung der zuständigen Gerichte bei grenzüberschreitenden Konzerninsolvenzen, NZI 2006, S. 336.
13
Vgl. Entscheidung des AG Hamburg vom 14. Mai 2003, GmbHR 2003, S. 958; MINCKE, WOLFGANG: 1. Insolvenz, in: Private Limited Company in Deutschland, hrsg. von VOLKER RÖMERMANN, Bonn/Berlin 2006, S. 216; SCHUMANN, ALEXANDER: Limited: Buchführung, Rechnungslegung und Strafbarkeit, ZIP 25-26/2007, S. 1195.
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der der Auffassung ist, dass das eröffnende Gericht international nicht zuständig ist, regelmäßig Rechtsbehelfe nach dem nationalen Recht dieses EUMitgliedstaats gegen die Eröffnungsentscheidung zustehen.t! Lediglich in den Fällen, in denen die Grundsätze des ordre public, insb. das rechtliche Gehör, verletzt werden, ist es gern. Art. 26 EuInsO möglich, dass das Gericht eines EU-Mitgliedstaates die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens durch ein Gericht eines anderen EU-Mitgliedstaates nicht anerkennt." Da eine ausschließlich in Deutschland tätige Limited regelmäßig eine Niederlassung in Deutschland unterhält, kann in Deutschland in den Fällen, in denen das Hauptinsolvenzverfahren in England eingeleitet wurde und dieses nicht gegen die Grundsätze des ordre public verstößt, ein Partikular- bzw. Sekundärinsolvenzverfahren gern. Art. 27 EuInsO über das inländische Vermögen der Limited eröffnet werden (Art. 3 Abs. 2 EuInsO).
§ 3 Abs. 1 i,V.m. § 2 Abs. 1 InsO statuiert, dass bei der internationalen Zuständigkeit deutscher Gerichte die Zuständigkeit für die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens bei dem Amtsgericht am Sitz des Landgerichts liegt, in dessen Bezirk die Limited den Mittelpunkt ihrer wirtschaftlichen Betätigung hat. Sowohl das Insolvenzverfahren als auch dessen Wirkungen bestimmen sich nach dem lexfori concursis; es ist das Recht des Staates anzuwenden, in dem
das InsoIvenzverfahren eröffnet wurde (Art. 4 Abs. 1 EuInsO). Da gern. der jüngeren EuGH-Rechtsprechung16 auf eine Limited mit ausschließlicher Geschäftstätigkeit in Deutschland das Recht des Niederlassungsstaates, d.h. deutsches Recht, nur für insolvenzrechtlich zu qualifizierende Fragestellungen, nicht aber für Fragestellungen, die als gesellschaftsrechtlich zu qualifizieren sind - gesellschaftsrechtliche Fragestellungen sind nach dem Recht des Staates, in dem die Gesellschaft gegründet wurde, in diesem Fall nach briti-
14
Vgl. Urteil des EuGH vom 02. Mai 2006 - C-341/04, NZI 2006, S. 361. Vgl. hierzu auch ausführlich KAMMEL, VOLKER: Die Bestimmung der zuständigen Gerichte bei grenzüberschreitenden Konzerninsolvenzen, NZI 2006, S. 336 f.
15
Vgl. Urteil des EuGH vom 02. Mai 2006 - C-341/04, NZI 2006, S. 361.
16
Vgl. EuGH-Urteil vom 09. März 1999 - Rs. C-212/97, GmbHR 1999, S. 474; EuGH-Urteil vom 05. November 2002 - Rs, C-208/00, GmbHR 2002, S. 1137; EuGH-Urteil vom 30. September 2003 - Rs. C-167/01, GmbHR 2003, S. 1260.
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schem Recht, zu beurteilen'? -, anzuwenden ist, benennt Art. 4 Abs. 2 EuinsO zur KlarsteIlung und zur Vermeidung von Abgrenzungsproblemen zwischen Gesellschafts- und Insolvenzrecht zum Insolvenzrecht gehörende insolvenztypische Tatbestände;" • Regelungen zur Insolvenzfähigkeit des Schuldners; • Zugehörigkeit von Vermögensgegenständen zur Insolvenzmasse; • Behandlung von Forderungen als Insolvenzforderungen; • Anmeldung, Prüfung und Feststellung von Forderungen; • Befriedigung der Gläubiger und Verteilung des Erlöses; • Kosten des Insolvenzverfahrens; • Befugnisse von Schuldner und (Insolvenz-)Verwalter; • Auswirkungen auf laufende Verträge; • Vollstreckungsmaßnahmen von Gläubigem; • Anfechtbarkeit und Unwirksamkeit von Rechtshandlungen; • Voraussetzungen und Wirkungen der Beendigung des Insolvenzverfahrens sowie die Gläubigerrechte nach Beendigung.v Da deutsche Gerichte die Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens in Großbritannien gern. Art. 16 EuInsO grundsätzlich ohne Weiteres akzeptieren müssen, stellt die von Insolvenzberatern empfohlene Umwandlung der strauchelnden deutschen Gesellschaft in eine englische Limited und die nachfolgende Eröffnung eines Insolvenzverfahrens nach britischem Recht im Wege eines out-oj-court appointments aufgrund der lediglich kursorischen Kontrolle auf Vollständigkeit und ohne jede weitere Prüfung durch das zuständige bri-
17
Vgl. EuGH-Urteil vom 09. März 1999 - C-212/97, GmbHR 1999, S. 474-477; EuGH-Urteil vom OS. November 2002 - C-208/00, GmbHR 2002, S. 1137-1145; EuCH-Urteil vom 30. September 2003 - C-167/0l, GmbHR 2003, S. 1260-1271.
18
Vgl. VOLB, HELMUT: Die Limited, Heme/Berlin 2007, S. 145.
19
Vgl. MINCKE, WOLFGANG: 1. Insolvenz, in: Private Limited Company in Deutschland, hrsg. von VOLKER RÖMERMANN, Bonn/Berlin 2006, S. 218; VOLB, HELMUT: Die Limited, Heme/Berlin 2007, S. 145 f.
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tische Gericht grundsätzlich eine relativ einfach umzusetzende Strategie zur Vermeidung der Anwendung des deutschen Insolvenzrechts dar. Im Ergebnis wird durch das Zusammenspiel von EuInsO und britischem Recht den Geschäftsführern bzw. den Gesellschaftern einer strauchelnden deutschen Gesellschaft durch Umwandlung in eine Limited grundsätzlich die Möglichkeit eröffnet, ihr eigenes Fehlverhalten - das u.u. Grund für die Insolvenz der Gesellschaft ist - zu verschleiern bzw. sich gegenüber den Gläubigern einen ungerechtfertigen Vorteil zu verschaffen. Betrügereien wird damit Tür und Tor geöffnet." Während oben geschilderte Vorgehensweise im Rahmen der Insolvenzen der DEUTSCHE NICKEL AG sowie der SCHEFENACKER AG zielführend war - es gelangte das britische Insolvenzrecht zu Anwendung - , zeigte der Fall des Rohrund Anlagenbauers HANS BROCHIER GmbH & Co. KG, dass für die Anwendung des englischen Insolvenzrechts mehr nötig ist als die bloße Umwandlung der deutschen Gesellschaft in eine Limited; aufgrund der speziellen Sachverhaltskonstellation war es vielmehr von Bedeutung, dass der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen, mithin der Mittelpunkt der operativen Tätigkeit oder des tatsächlichen Verwaltungssitzes, nicht - wie von Art. 3 EuInsO LV.rn. Erwägungsgrund 13 gefordert - in England lag. 21
2.4
Der Fall Hans Brochier
2.4.1 Die Geschichte des Unternehmens Hans Brochier Am 08.03.1873 gründete PAUL BROCHIER in Nürnberg ein Installationsgeschäft. Für mehr als 100 Jahre befand sich das Unternehmen in Familienbesitz, bevor im Frühjahr 1991 die französische Unternehmensgruppe LYONNAISE DES EAUX-
DUMEZ als neuer Teilgesellschafter eintrat. In den Folgejahren verschlechterte sich die wirtschaftliche Situation des Unternehmens jedoch zusehends; die 20
21
Vgl. hierzu auch PAULUS, OIRISTOPH G: Konturen eines modemen Insolvenzrechts. DB 2008, S. 2524. Vgl. O.V.: London stoppt Flucht vor deutschem Insolvenzrecht. Status Recht (Beilage zu DB 4/2007), S. 46; PAULUS, CHRISTOPH G: Notwendige Änderungen im Insolvenzrecht. ZIP 2005, S. 2301.
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HANS BROCHIER GmbH & Co. KG rutschte tief in die roten Zahlen." Im Jahr 1999 übernahm die kommunale nordrhein-westfälische ABFALLENTSORGUNGSGESELLSCHAFT RUHRGEBIET mbH (AGR) das Unternehmen. Trotz zahlreicher Versuche seitens der AGR, das Traditionsunternehmen in ruhigere Gewässer zu führen, erwirtschaftete die HANS BROCHIER GmbH & Co. KG weiterhin große Verluste und drohte sogar die AGR selbst zu gefährden.v Aus dieser Not heraus suchte die AGR dringend einen Käufer für das defizitäre Unternehmen, den sie im Dezember 2004 auch fand: Die AUBACH CAPITAL, einen angelsächsischen Finanzinvestor. Die AUBACH CAPITAL, die auf den British Virgin Islands registriert ist und nach eigenem Bekunden im Jahre 2003
zum Zwecke des langfristigen Erwerbs von u.a. deutschen Industrieunternehmen gegründet worden war, wurde durch den jungen britischen Adligen RHODRI PHILIPPS vertreten. Nicht bekannt war zu diesem Zeitpunkt allerdings, dass PHILIPPS bereits am 17.06.2002 in Großbritannien Privatinsolvenz anmelden musste.v Am 01.01.2005 veräußerte die AGR 100 % ihrer Kommanditanteile an der HANS BROCHIER GmbH & Co. KG sowie 100 % der Anteile an der Komplementär-GmbH für den symbolischen Betrag von einem Euro an eine neu gegründete englische Limited mit Sitz in London, die HANS BROCHIER HOLDINGS Ud. Die Gründung der HANs BROCHIER HOLDINGS Ud. diente ausschließlich dem Erwerb der HANs BROCHIER GmbH & Co. KG. Die HANs BROCHIER HOLDINGS Ud. unterhielt trotz entsprechender Eintragung in das Companies House (englisches Gesellschaftsregister) kein eigenes Büro in England; die zur Eintragung in das Companies House angemeldete Adresse war die einer beauftragten Anwaltskanzlei. Zudem verfügte die HANS BROCHIER HOLDINGS Ud. über keinen eigenen Geschäftsbetrieb." Der Kauf der Anteile an der HANS BRO-
22
Zwischen 1994 und 2006 häufte die HANs BROCHIER GmbH & Co. KG insgesamt 250 Millionen Euro Verlust an. Vgl. SCHMlTI,JÖRG: Adel vernichtet, Der Spiegel vorn 19.03.2007, Nr. 12, S. 98.
23
Vgl. SCHMlTI,JÖRG: Adel vernichtet, Der Spiegel vorn 19.03.2007, Nr. 12, S. 98.
24
Vgl. RrrZER,UWE/HEIMS, HANS-JÖRG: Ein blendender Aristokrat, www.sueddeutsche.de.
25
Vgl. BALLMANN, ALEXANDER: Der High Court of [ustice erschwert die Flucht deutscher Unternehmen ins englische Insolvenzrecht, BB 21/2007, S. 1121.
Unternehmerisches Verhalten im Kontext der Europäisierung
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CHIER GmbH & Co. KG wurde über zwei Tochterunternehmen der AUBACH CAPITAL - die BROMELY CONSULTING mit Sitz in London und die OPTIONAL SYSTEMS mit Sitz auf den Seychellen - abgewickelt, die auch als Eigentümer in das britische Handelsregister eingetragen wurden." Offenbar Teil der Kaufbedingungen war ferner ein Kredit über 11 Millionen Euro bei der DRESDNER BANK, der von der AGR gesichert wurde und zur Fortführung des laufenden Betriebs der HANSBROCHIER GmbH & Co. KG dienen sollte. Doch nur wenige Wochen nach Zufluss der Mittel wurden die besagten Millionen aus dem Unternehmen abgezogen und versickerten in unbekannten Kanälen.v Im Laufe des Jahres 2005 verschlechterte sich die Lage des Unternehmens HANS BROCHIER GmbH & Co. KG weiter, bis eine drohende Insolvenz kaum mehr abwendbar schien. Als die Geschäftsführer der HANS BROCHIER GmbH & Co. KG den Gesellschaftern ihre Absicht mitteilten, einen Insolvenzantrag
zu stellen, wurden sie umgehend ihrer Posten entbunden. Stattdessen beschlossen die Gesellschafter - zusammen mit der neuen Geschäftsführung -, eine Anwachsung des Vermögens der HANS BROCHIER GmbH & Co. KG auf die HANS BROCHIER HOLDINGS Ud. durch den Austritt der übrigen Gesellschafter herbeizuführen (§ 738 Abs. 1 S. 1 BGB). Am 22.12.2005 wurde die Auflösung der HANSBROCHIER GmbH & Co. KG in das Handelsregister eingetragen. Trotz der Löschung aus dem Handelsregister wurde der Geschäftsbetrieb von der ursprünglichen Zentrale der HANs BROCHIER GmbH & Co. KG in Nürnberg ohne größere Änderungen fortgeführt.s' Die finanzielle Lage wurde aber auch durch die Anwachsung keinesfalls besser, sondern verschlechterte sich stetig weiter. Am 28.07.2006 war es der HANS BROCHIER HOLDINGS Ud. nicht mehr möglich, die Gehälter ihrer Angestellten in Nürnberg zu bezahlen.P Nachdem die Angestellten mit der Stellung eines Insolvenzantrages in Deutschland gedroht hatten, stellte die Geschäftsführung 26
Vgl. SCHMlTI,JÖRG: Adel vernichtet, Der Spiegel vom 19.03.2007, Nr. 12, S. 98.
zr Vgl. R1TZER, UWE/HEIMS, HANS-JÖRG: Ein blendender Aristokrat, www.sueddeutsche.de. 28 Vgl. 6ALLMANN, ALEXANDER: Der High Court of [ustice erschwert die Flucht deutscher Unternehmen ins englische Insolvenzrecht, 66 21/2007, S. 1121. 29
Vgl. Urteil des High Court of [ustice vom 15. August 2006, 5618/06, Rn. 6, www.status-
recht.de/links.
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der HANS BRoo-IIER HOLDINGS Ud. am 04.08.2006 um 12:34 Uhr englischer Zeit (13:34 Uhr deutscher Zeit) im Wege eines sog. out-of-court appointments einen Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens beim zuständigen Gericht in London. Das out-of-court appointment erlaubt es den Geschäftsführern der von der Insolvenz bedrohten Gesellschaft, ein förmliches Insolvenzverfahren zu eröffnen und selbst Insolvenzverwalter zu bestimmen.v Das englische Gericht bestellte die von der Geschäftsführung der HANs BROCHIER HOLDINGS Ud. vorgeschlagenen WILLIAM DAVID JOSEPH und !ANJOHN ALLEN zu gemeinsamen Insolvenzverwaltern (joint administrators). Nichts wissend von diesem Antrag eröffnete das Amtsgericht Nürnberg auf Antrag der Arbeitnehmer der HANS BROCHIER HOLDINGS Ud. um 14:30 Uhr deutscher Zeit ein vorläufiges Insolvenzverfahren nach deutschem Recht." Bedingt durch den Umstand, dass für die HANS BROCHIER HOLDINGS Ud. nahezu zeitgleich sowohl in Großbritannien als auch in Deutschland ein Insolvenzantrag gestellt wurde, konnte Art. 16 EuinsO nicht greifen. Daher mussten nunmehr die Gerichte entscheiden, in welchem Staat und damit nach welchem Recht das Hauptinsolvenzverfahren durchzuführen ist. Insoweit kam es auch zu einer gerichtlichen Klärung, welches Insolvenzrecht - das britische oder das deutsche - auf eine ausschließlich in Deutschland tätige englische
Limited anzuwenden ist.
30
Vgl. BALLMANN, ALEXANDER: Der High Court of [ustice erschwert die Flucht deutscher Unternehmen ins englische Insolvenzrecht, BB 21/2007, S. 1123.
31
Vgl. SCHMlTT, JÖRG: Adel vernichtet, Der Spiegel Nr. 12 vom 19.03.2007,S. 98.
Unternehmerisches Verhalten im Kontext der Europäisierung
493
2.4.2 Die Bestimmung der internationalen Zuständigkeit zur Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahren Bedingt durch die Tatsache, dass sowohl in Großbritannien als auch in Deutschland ein Insolvenzantrag gestellt wurde, musste entschieden werden, in welchem Land das Hauptinsolvenzverfahren durchgeführt werden sollte. Dazu musste - wie von der EuInsO gefordert - in einem ersten Schritt geklärt werden, wo sich der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen (center of main
interests) der HANS BROClllER HOLDINGS Ud. befand. Die britischen Insolvenzverwalter stellten nach ausführlichen Diskussionen mit JOACHIM EXNER, dem vom Amtsgericht Nürnberg eingesetzten, vorläufigen Insolvenzverwalter, am 15.08.2006beim High Court of [usiice einen Antrag auf Feststellung, dass der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen der HANS BROCHIER HOLDINGS Ud. in Deutschland und nicht - wie sie noch am 04.08.2006 angegeben hatten - in Großbritannien lag.32 In seiner Aussage vor Gericht gab einer der beiden britischen Insolvenzverwalter, WILLIAM DAVID JOSEPH, an, dass er vor seiner Bestellung zum Insolvenzverwalter von den Geschäftsführern (directors) der HANS BROCHIER HOLDINGS Ud. am Freitag, den 04.08.2006, dem Tag, an dem der Insolvenzantrag vor dem High Courtof[ustice gestellt wurde, darüber informiert wurde, dass die Kreditgeber der Gesellschaft wussten, dass es sich um eine britische Gesellschaft handele, dass die HANS BROCHIER HOLDINGS Ud. ein britisches Bankkonto besaß und die Jahresabschlüsse der Gesellschaft in England erstellt würden. WILLIAM DAVID JOSEPH nahm daraufhin die Bitte, als einer der beiden Insolvenzverwalter zu agieren, an, da er davon ausging, dass sich der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen der HANs BROCHIER HOLDINGS Ud. in Großbritannien befand.P Erst am darauf folgenden Montag, während eines Besuches des Fir-
mengeländes in Nürnberg, erfuhr WILLIAM DAVID JOSEPH, dass die Jahresabschlüsse der HANS BROCHIER HOLDINGS Ud. nicht nur in England, sondern
32
33
Vgl. 6ALLMANN, ALEXANDER: Der High Court of [ustice erschwert die Flucht deutscher Unternehmen ins englische Insolvenzrecht, 66 21/2007, S. 1122. Vgl. Urteil des High Court of [ustice vom 15. August 2006 - 5618/06, Rn. 9, www.statusrecht.de/links.
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auch in Deutschland erstellt wurden, dass die Firma zudem über deutsche Bankkonten verfügte, über die sie die weit überwiegende Anzahl ihrer Transaktionen abwickelte, und dass die täglichen Geschäfte der HANS BROCHIER HOLDINGS Ud. weitgehend von Deutschland aus geführt wurden. WILLIAM DAVID JOSEPH folgerte hieraus, dass sich der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen in Deutschland befand,» Vor Gericht gab der deutsche vorläufige Insolvenzverwalter an, dass der Hauptgläubiger der HANS BROCHIER HOLDINGS Ltd., die AGR, davon ausging, dass die HANS BROCHIER HOLDINGS Ud. eine von Deutschland aus operierende Firma war und dass die Korrespondenz zwischen beiden Firmen immer über die Nürnberger Adresse der HANS BROCHIER HOLDINGS Ud. lief. Des Weiteren seien die Arbeitsverträge der Angestellten nach deutschem Recht geschlossen worden." Das Gericht schloss sich der Auffassung an, dass der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen der HANS BROCHIER HOLDINGS Ud. in Deutschland lag. 36 Als Gründe gab es u.a. an, dass die weit überwiegende Mehrzahl der Angestellten der HANS BROCHIER HOLDINGS Ud. in Deutschland beschäftigt sei, das gesamte operative Geschäft von Nürnberg aus geleitet werde, eine Mehrzahl
34
35
36
Vgl. Urteil des High Courtof Justice vom 15. August 2006 - 5618/06, Rn. 23 f., unmo.siatusrecht.de/links. Vgl. Urteil des High Court of [ustice vom 15. August 2006, 5618/06, Rn. 26, umno.staiusrecht.de/links. Die Entscheidung des Gerichts steht in Übereinstimmung mit dem Urteil des EuGH vom 02. Mai 2006 - C-341/04, NZI2006, S. 361. Als Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen LS.v. Art. 3 Abs. 1 S. 1 EuInsO ist der Ort anzusehen, an dem ein mit der Gesellschaft interagierender Dritter aufgrund objektiv feststellbarer und für den Dritten erkennbarer Merkmale (externe Erkennbarkeit) annimmt, dass sie dort ihren Sitz hat. Die Bestimmung des Mittelpunktes der hauptsächlichen Interessen ist deshalb nach Kriterien vorzunehmen, die für Dritte feststellbar sind. Hierdurch wird Ld.R. gesichert, dass das Hauptverfahren an dem Ort eröffnet wird, an dem sich ein Großteil der Vermögenswerte und Gläubiger des Schuldners befinden. Vgl. DUURSMA-KEPPUNGER, HENRIE'ITE-C.: Aktuelle Entwicklungen zur internationalen Zuständigkeit für Hauptinsolvenzverfahren, ZIP 19/2007, S. 898; MANKoWSKI PETER: Klärung von Grundfragen des europäischen Internationalen Insolvenzrechts durch die Eurofood-Entscheidung? BB33/2006,S. 1754.
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der Schriftstücke der Firma in deutscher Sprache abgefasst sei und die meisten Verträge der Gesellschaft nach deutschem Recht geschlossen wurden.'? Das Amtsgericht Nürnberg führte in seinem Beschluss vom 15.08.2006 aus, dass die Geschäftsführer der HANS BROCHIER HOLDINGS Ud. im Rahmen der Stellung des Antrags auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens und der Bestellung der Insolvenzverwalter die tatsächlichen Umstände nicht offen gelegt haben, sondern tatsachenwidrig ohne weitere Substanziierung oder Begründung behauptet haben, der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen der HANS BROCHIER HOLDINGS Ud. sei in England." Ohne Anhörung und ohne jegliche Prüfung eröffnete daraufhin das zuständige britische Gericht, der
High Courtof[usiice in London, ein Insolvenzverfahren. Dem vom Amtsgericht Nürnberg - in Unkenntnis der Eröffnung des Insolvenzverfahrens in England - eröffneten vorläufigen Insolvenzverfahren über das Vermögen der HANS BROCHIER HOLDINGS Ud. ging demgegenüber eine intensive Prüfung des Mittelpunktes der hauptsächlichen Interessen der Gesellschaft voraus.e? Das Amtsgericht Nürnberg stellte fest, dass sich in Nürnberg alle für eine Unternehmung notwendigen Verwaltungsteile, wie die Finanz- und Personalverwaltung, befanden, alle Verbindungen mit Kunden und Lieferanten von Nürnberg aus koordiniert und abgewickelt wurden und der Internetauftritt der HANS BROCHIER HOLDINGS Ud. auf den Sitz der Gesellschaft mit Hauptverwaltung in Nürnberg hinwies.w Das Gericht musste folglich davon ausgehen/ dass der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen i.S.d. Erwägungsgrundes 13 der EuInsO nur in Nürnberg liegen konnte. Aufgrund der oben angeführten Gründe beschloss das Amtsgericht Nürnberg, die Eröffnung des Insolvenzverfahrens durch den High Court of [usiice in An-
'57
Vgl. Urteil des High Courtof [ustice vom 15. August 2006 - 5618/06/ Rn. 28 ff., unouisiaius-
recht.de/links. 38
39
40
Vgl. Beschluss des Amtsgerichts Nürnberg vom 15. August 2006 - 8004 IN 1326 -1331/06/ ZIP 2007/ S. 82. Vgl. DUURSMA-KEPPLINGER, HENRIEITE-C.: Kurzkommentar zum Beschluss des AG Nürnberg vom 15. August 2006/ EWiR 3/2007/ S. 81. Vgl. Beschluss des Amtsgerichts Nümberg vom 15. August 2006 - 8004 IN 1326 -1331/06/ ZIP 2/2007/ S. 82.
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wendung des Art. 26 EuInsO nicht anzuerkennen, da diese gegen den deutschen ordre public verstoße.v Anstatt seine Zuständigkeit eigenständig zu prüfen, habe das englische Gericht sich ausschließlich auf die unsubstanziierten und auf eine bewusste Täuschung ausgerichteten Aussagen der directors der HANS BROCHIER HOLDINGS Ud. verlassen, was eine Verletzung wesentlicher Grundprinzipien der deutschen Rechtsordnung bedeute.v Das Gericht führte weiter aus, dass dem im deutschen Recht wesentlichen Verfahrensgrundsatz der Unabhängigkeit der Insolvenzverwalter von den Insolvenzschuldnern und -gläubigern - einem allgemein anerkannten wesentlichen Verfahrensgrundsatz in Insolvenzverfahren - nicht entsprochen wurde; die auf Antrag der Geschäftsführer der HANS BROCHIER HOLDINGS Ud. eingesetzten Insolvenzverwalter wurden von den langjährigen Rechtsberatern der Eigentümer der HANS BROCHIER HOLDINGS Ud. beraten.P Entsprechend Art. 3 EuInsO LV.m. mit den Erwägungsgründen 12 bis 14 EuInsO eröffnete das Amtsgericht Nürnberg am 01.10.2006 ein Hauptinsolvenzverfahren gern. §§ 2, 3,11,17 ff. InsO über das Vermögen der HANs BRoo-IIER HOLDINGS Ltd., da die Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung der Gesellschaft nach Feststellung des Gerichtes gegeben war. 44 Das Gericht bekräftigtegestützt auf das Ergebnis der amtlichen Ermittlungen und die sachkundigen Feststellungen des vom Gericht bestellten Gutachters - seine Auffassung, dass
41
42
43
Diese Entscheidung wurde in der Literatur kontrovers diskutiert. Während KEBEKUS die Meinung des Gerichts teilt, stimmen ANDRES/GRUND der Entscheidung nicht zu. Vgl. ANDRES, DIRK/GRUND, ANDREAS: Die Flucht vor deutschen Insolvenzgerichten nach England, NZI 3/2007, S. 141; KEBEKUS, FRANK: Anmerkungen zu den Beschlüssen des AG Nürnberg vom 15. August 2006 und 01. Oktober 2006, ZIP 2/2007, S. 84. Nach Abwägung aller Argumente ist u.E. der Entscheidung des AG Nümberg zuzustimmen. Vgl. O.V.: London stoppt Flucht vor deutschem Insolvenzrecht. Status Recht (Beilage zu DB 4/2007), S. 46 f. Vgl. Beschluss des Amtsgerichts Nümberg vom 15. August 2006 - 8004 IN 1326 -1331/06, ZIP 2/2007, S. 82.
.. Vgl. Beschluss des Amtsgerichts Nümberg vom 15. August 2006 - 8004 IN 1326 -1331/06, ZIP 2/2007, S. 83.
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der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen der Gesellschaft in Deutschland lag. 45
Am 30.08.2006stellten die Geschäftsführer der HANs BROCHIER HOLDINGS Ud. - wiederum im Wege eines sog. out-of-court appointments - den Antrag auf Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens über die englische Niederlassung der HANs BROCHIER HOLDINGS Ltd.; dem Antrag wurde stattgegeben. Der
High Court of [usiice entschied am 08.12.2006, dass das auf Antrag der Geschäftsführer der HANS BROOfIER HOLDINGS Ud. am 30.08.2006 eröffnete Sekundärinsolvenzverfahren und die Einsetzung von Sekundärinsolvenzverwaltern mangels ausreichender Geschäftstätigkeit der Gesellschaft in England die HANS BROCHIER HOLDINGS Ud. verfügte nach Ansicht des Gerichts als Briefkastengesellschaft in England nicht über eine Niederlassung i.S.v. Art. 2 Buchst. h EuInsO - von Beginn an nichtig war. 46 Im Ergebnis ist damit festzustellen, dass auf eine ausschließlich in Deutschland tätige englische Limited das deutsche Insolvenzrecht anzuwenden ist. Dies leiteten die Gerichte aus Art. 3 Abs. 1 S. 1 EuInsO ab, nach welchem der Staat international für die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens zuständig ist, in dem der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen (cen-
ter of main interests) hat; dies ist bei Scheinauslandsgesellschaften regelmäßig Deutschland. Damit das britische Insolvenzrecht zur Anwendung gelangen kann, bedarf es somit nicht nur einer Umwandlung der strauchelnden deutschen Gesellschaft in eine britische Limited. Vielmehr muss auch der Ort, an dem die Gesellschaft gewöhnlich der Verwaltung ihrer Interessen nachgehtdies ist der Ort der werbenden Tätigkeit des Unternehmens - nach Großbritannien verlagert werdercv insb. müssen die Geschäftsführer die unternehmensrelevanten Tätigkeiten ausschließlich von Großbritannien aus verrichte-
45
Vgl. Beschluss des Amtsgerichts Nürnberg vom 15. August 2006 - 8004 IN 1326 -1331/06, ZIP 2/2007, S. 83.
46
Vgl. BALLMANN, ALEXANDER: Der High Court of [ustice erschwert die Flucht deutscher Unternehmen ins englische Insolvenzrecht. BB 21/2007, S. 1123; O.V.: London stoppt Flucht vor deutschem Insolvenzrecht. Status Recht (Beilage zu DB 4/2007), S. 46.
47
Vgl. hierzu auch KAMMEL, VOLKER: Die Bestimmung der zuständigen Gerichte bei grenzüberschreitenden Konzerninsolvenzen, NZI 2006, S. 336.
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ten. Dort sollten sich auch alle maßgeblichen sachlichen Unterlagen aufgewahrt werden.
2.5
Ergebnis
Das Versprechen von Insolvenzberatern, durch die bloße Umwandlung der strauchelnden deutschen Gesellschaft in eine britische Limited der Anwendung des deutschen Insolvenzrechts zu entgehen, erweist sich als trügerisch. Grundsätzlich ist es zwar möglich, nach einer Umwandlung der deutschen Gesellschaft in eine Limited im Rahmen eines out-of-court appointment - das zuständige englische Registergericht eröffnet in diesen Fällen nach bloßer kursorischer Kontrolle auf Vollständigkeit und ohne jede weitere Prüfung ein Insolvenzverfahren - ein Insolvenzverfahren nach britischem Recht zu eröffnen und insb. den Gesellschaftern bzw. den Geschäftsführern genehme Insolvenzverwalter zu bestimmen, denn die Eröffnung eines solchen Insolvenzverfahrens muss von deutschen Gerichten grundsätzlich anerkannt werden. Jedoch schränkt die durch den EuGH geforderte Bestimmung des Mittelpunktes der hauptsächlichen Interessen nach objektiven und zugleich für Dritte feststellbaren Kriterien die Möglichkeit der Flucht vor dem deutschen Insolvenzrecht deutlich ein. Es reicht nicht aus, dass die flüchtende Gesellschaft ihren satzungsmäßigen Sitz nach England verlegt, dort aber keiner wirtschaftlichen Tätigkeit nachgeht (sog. Briefkastengesellschaft). Vielmehr muss die Gesellschaft zumindest einen Teil ihrer betrieblichen Funktionen von England aus führen und zwar dergestalt, dass dies für einen mit der Gesellschaft interagierenden Dritten erkennbar ist, bspw. durch Abwicklung des Zahlungsverkehrs über ein britisches Bankkonto. Andernfalls können Gläubiger bzw. Arbeitnehmer der Gesellschaft Rechtsmittel gegen die Entscheidung des britischen Gerichts zur Eröffnung eines Insolvenzverfahrens nach britischem Recht einlegen. In solch einem Fall wird das britische Gericht prüfen müssen, ob sich der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen in England befindet, was regelmäßig zu verneinen sein wird. Hieraus folgt, dass britische Gerichte nicht zur Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens befugt sind.
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Gern. der Devise "Wer nicht wagt, der nicht gewinnt" erscheint im Ergebnis jedoch die Verlockung im Wege eines out-of-court appointment ein Insolvenzverfahren nach britischem Recht zu eröffnen und dann abzuwarten, ob die in Deutschland beschäftigten Arbeitnehmer oder die deutschen Gläubiger der Gesellschaft die Insolvenzeröffnung in England anfechten bzw. vor einem deutschen Gericht eine Nichtanerkennung des englischen Insolvenzverfahrens aufgrund eines Verstoßes gegen den deutschen ordre public beantragen, einfach zu groß.
3.
Fair Value-Bewertung
3.1
Bisherige Entwicklungen in der deutschen Rechnungslegung
Auf Grundlage des Vertrags zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft gibt es in der EG (seit 7. Februar 1992 EU) Bestrebungen, die externe Rechnungslegung der EU-Mitgliedstaaten zu harmonisieren. Diese Harmonisierung sollte zunächst primär durch Rechtsangleichung erfolgen, indem EG-Richtlinien erlassen wurden, die zwingend bei den Mitgliedstaaten in nationale Gesetze zu transformieren waren, damit sie bei diesen ihre Rechtswirkung entfalteten.s" Bedeutend für die Rechnungslegung sind insbesondere die in den 1970er und 1980er Jahren ergangenen 4. EG-Richtlinie (Bilanzrichtlinie 49) und 7. EG-Richtlinie (Konzernbilanzrichtliniev), die eine europaweite Angleichung der Rechnungslegung von Kapitalgesellschaften und verbundenen Unternehmen zum Ziel hatten. Die Transformation in deutsches Recht erfolgte 1985 im Rahmen des sog. Bilanzrichtliniengesetzes." Die angesproche-
48
Vgl. KÜTING, KARLHEINZ/WEBER, CLAUS-PETER: Der Konzemabschluss, Stuttgart 2008, S. 2.
4. Vgl. Richtlinie 78/660fEWG v. 25.7.1978, ABlEG Nr. L 222 v. 14.8.1978, S. 11. 50
Vgl. Richtlinie 83/349fEWG v. 13.6.1983, ABlEG Nr. L 193 v. 18.7.1983, S. 1.
51
Vgl. Bilanzrichtlinien-Gesetz vom 19.12.1985, BGBl. I 1985, S. 2355 ff.
500
Heinz KußmauVChristoph Ruiner/Dennis Weiler
nen Richtlinien bilden seit ihrer Übernahme in deutsches Recht die Grundlage der Bilanzierung in Deutschland.v Ein weiteres Etappenziel auf dem Weg zur europaweiten Harmonisierung der Rechnungslegung wurde mit der EG-Verordnung über die Anwendung internationaler Rechnungslegungsstandards vom 19.7.2002 erreicht.P Diese verpflichtet alle Mutterunternehmen, deren Wertpapiere am jeweiligen Bilanzstichtag in einem beliebigen Mitgliedstaat der EU zum Handel an einem geregelten Markt zugelassen sind (kapitalmarktorientierte Unternehmen) und die einen Konzemabschlusses nach nationalen Normen aufstellen müssen, für Geschäftsjahre, die nach dem 1.1.2005 beginnen, die IFRS für Zwecke des Konzemabschlusses anzuwenden.S In ihrer Eigenschaft als Rechtsverordnung gilt sie - im Gegensatz zu EU-Richtlinien - für alle Mitgliedstaaten unmittelbar." Insofern war zur Entfaltung ihrer Wirkung keine Transformation in nationales Recht nötig. Da die Verordnung aber auch Mitgliedstaatenwahlrechte enthielt - z.B. räumte sie den Mitgliedstaaten die Möglichkeit ein, die IFRS auch für den Einzelabschluss kapitalmarktorientierter Unternehmen und den Konzernoder Einzelabschluss nicht kapitalmarktorientierter Unternehmen vorzuschreiben oder zuzulassen - wurde § 315a HGB in das Gesetz aufgenommen, welcher in Abs. 1 die Verbindung des HGB zur EG-Verordnung herstellte und kapita1marktorientierte Unternehmen, die nach § 290 HGB bzw. § 11 PublG zur Konzernrechnungslegung verpflichtet und die nicht nach den §§ 291-293 HGB bzw. § 11 Abs. 3 PublG davon befreit sind, zur Konzernrechnungslegung nach den - im sog. Komitologieverfahrenw - anerkannten IFRS verpflichtet.?
52
Vgl. KUßMAUL, HEINZ/TCHERVENIACHKI, VASSIL: Entwicklung der Rechnungslegung mittelständischer Unternehmen im Kontext der Internationalisierung der Bilanzierungspraxis, DStR 2005, S. 616.
53
Vgl. Verordnung 2002/1606/EG v. 19.7.2002, ABlEG Nr. L 243 v. 11.9.2002, S. 1.
54
55 56
Vgl. BIEG, HARlMUT/HOSSFELD, CHRISTOPHER/KUßMAUL, HEINZ/WASCHBUSCH, GERD: Handbuch der Rechnungslegung nach IFRS, 2. Aufl., Düsseldorf 2009, S. 2. Vgl. Art. 249 EGV. Im Komitologieverfahren wurden die vom IASB "privat" verabschiedeten Rechnungslegungsstandards durch die Annahmeentscheidung der EU-Kommission in geltendes Recht umgesetzt; vgl. ERNST, CHRISTOPH: EU-Verordnungsentwurf zur Anwendung von lAS: Europäisches Bilanzrecht vor weitreichenden Änderungen, BB2001, S. 824.
Unternehmerisches Verhalten im Kontext der Europäisierung
501
Nach § 315a Abs. 2 HGB und § 11 Abs. 6 Nr. 2 PublG sind auch solche Unternehmen zur Anwendung der IFRS bei der Konzernabschlusserstellung verpflichtet, die zum betreffenden Bilanzstichtag die Zulassung eines Wertpapiers i.S.v. § 2 Abs. 1 S. 1 WpHG zum Handel an einem inländischen organisierten Markt i.S.v. § 2 Abs. 5 WpHG erst beantragt haben. Allen übrigen Mutterunternehmen eröffnete der Gesetzgeber in Ausübung des Mitgliedstaatenwahlrechts mit § 315a Abs. 3 HGB die Möglichkeit zur freiwilligen Anwendung der durch die EU anerkannten IFRS.5s Festzustellen ist, dass mit der EG-Verordnung das Ende der HGBKonzernbilanzierung für Kapitalmarktzwecke eingeläutet wurde. Zu konstatieren ist aber auch, dass in Deutschland zum aktuellen Zeitpunkt lediglich die Konzernrechnungslegung durch die internationale Rechnungslegung geprägt ist; einen Einzelabschluss nach IFRS können Unternehmen - unabhängig davon, ob sie kapitalmarktorientiert sind oder nicht - zwar aufstellen; entbunden von der Pflicht, einen Jahresabschluss nach nationalen Normen aufzustellen, sind sie dadurch aber nicht. 59 Für die Ermittlung eines ausschüttungsfähigen Gewinns und die Besteuerung (Grundsatz der Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die steuerliche Gewinnermittlung) ist ein HGB-Abschluss bislang unverzichtbar.60
57
Im Folgenden wird vereinfachungshalber von den IFRS gesprochen, wobei damit die von
58
Vgl. zu diesem Abschnitt KÜTING, KARLHEINZ/WEBER, CLAUS-PETER: Der Konzernabschluss, Stuttgart 2008, 5.2 f. u. 91 f. Vgl. auch KUßMAUL, HEINZ/TCHERVENIACHKI, VA5SIL: Entwicklung der Rechnungslegung mittelständischer Unternehmen im Kontext der Internationalisierung der Bilanzierungspraxis, DStR 20OS, S. 616-618.
der EU anerkannten IFRS gemeint sind.
59
60
Gern. § 325 Abs. 2 HGB ist es großen, zur Bundesanzeigerpublizität verpflichteten Kapitalgesellschaften gestattet, einen IFRS-Einzelabschluss anstelle eines HGB-Einzelabschlusses im Bundesanzeiger zu veröffentlichen. Trotz allem muss ein HGB-Einzelabschluss beim Handelsregister eingereicht werden.; vgl. KUßMAUL, HEINZ/ TCHERVENIACHKI, VASSIL: Entwicklung der Rechnungslegung mittelständischer Unternehmen im Kontext der Internationalisierung der Bilanzierungspraxis, DStR 20OS, S. 618. Dies hat der Gesetzgeber betont; vgl. BR-Drucksache 326/04, S. 40.
502
Heinz KußmauVChristoph Ruiner/Dennis Weiler
Mit dem Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz (BilMoG)61 intendierte der deutsche Gesetzgeber die Schaffung einer mit den IFRS vergleichbaren aber kostengünstigeren Altemative.S Das Ziel sollte durch eine stärkere Konvergenz des HGB mit den IFRS erreicht werden, indem man die mit den internationalen Rechnungslegungsnormen verkörperte Informationsfunktion (decision
usefulness) in das primär dem Gläubigerschutzgedanken geschuldete HGB transportieren wollte. Als Hauptinstrument der Informationsfunktion nach IFRS fungiert vor allem die Bewertung zum Fair Value. So sollte nach dem Regierungsentwurf zum BilMoG eine generelle Fair Value-Bewertung für Finanzinstrumente eingeführt werden (§ 253 Abs. 1 S. 3 HGB-E)63, welche jedoch aufgrund reger Kritik seitens der FachweltM am Ende nur partiell den Weg in das HGB fand. 65 Dies ereignete sich im Laufe der Finanz- und Wirtschaftskrise, infolge derer der Bewertungsmaßstab Fair Value als möglicher Verursacher66, zumindest aber als "Brandbeschleuniger"67 der Krise identifiziert wor-
61
Vgl. Gesetz zur Modernisierung des Bilanzrechts (Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz BilMoG), BGBl.I 2009, S. 1102.
62
Vgl. BT-Drucksache 16/10067,S. 1.
63
Vgl. BT-Drucksache 16/10067,S. 6.
64
Vgl. bspw. die "Saarbrücker Initiative gegen den Fair Value" in BIEG, HARlMUT u.a.: Die Saarbrücker Initiative gegen den Fair Value, DB 2008, S. 2549 ff. und BIEG, HARlMUT u.a.: Die Saarbrücker Initiative gegen den Fair Value - Replik der Saarbrücker Initiative gegen den Fair Value, DB 2009, S. 188.
65
Für Kreditinstitute wurden die Pläne zur Fair Value-Bewertung umgesetzt. In deren Bilanzen sind Finanzinstrumente des Handelsbestands mit dem Fair Value abzüglich eines Risikoabschlags zu bewerten. Außerdem fand die Fair Value-Konzeption im Rahmen eines "Aktiven Unterschiedsbetrags aus der Vermögensrechnung" den Weg in das Gesetz. Gern. § 246 Abs. 2 Satz 2 HGB sind Vermögensgegenstände, die dem Zugriff aller Gläubiger entzogen sind und ausschließlich der Erfüllung von Schulden aus Altersversorgungsverpflichtungen oder vergleichbaren langfristig fälligen Verpflichtungen dienen, mit diesen Schulden zu verrechnen, wobei die Vermögensgegenstände gern. § 253 Abs. 1 Satz 4 HGB mit dem beizulegenden Zeitwert (Fair Value) zu bewerten sind und eine sich hierbei ergebende Differenz aus dem Zeitwert der Vermögensgegenstände und den Schulden gern. § 246 Abs. 2 Satz 3 HGB zu aktivieren ist. Außerdem müssen Banken gern. § 340e Abs. 3 HGB Finanzinstrumente des Handelsbestands mit dem Fair Value abzüglich eines Risikoabschlags bewerten.
66
Vgl. SCHILDBACH, THOMAS: Fair Value - Leitstem für Wege ins Abseits, DStR 2010, S. 73 f.
67
JOCHEN SANIo zitiert bei DROST, FRANK M/KöHLER, PETER: Modifizierte Bilanzregeln entlasten, Handelsblatt vom 14.10.2008, S. 24.
Unternehmerisches Verhalten im Kontext der Europäisierung
503
den war. 68 Im Gefolge setzte der IASB auf politischen Druck hin Ausnahmevorschriften in Kraft, die es Unternehmen ermöglichten, eine Umgliederung in der Bilanz derartig vorzunehmen, dass die Bewertung bestimmter Vermögenswerte mit den fortgeführten Anschaffungskosten und nicht mit dem Fair Value erfolgen konnte." Auch nach der Krise steht der IASB zum Bewertungsstandard Fair Value innerhalb des sog. mixed model, favorisiert eine partielle Bewertung bestimmter Vermögenswerte und Schulden zum Fair Value und strebt langfristig einfull
fair value accounting an. 70 In den nächsten Jahren wird der Standard "IAS 39" zur Bilanzierung von Finanzinstrumenten durch einen neuen Standard "IFRS 9 - Financial Instruments (replacement of lAS 39)" abgelöst, welcher sich derzeit noch in der Entwurfsphase befindet." Auch nach diesem neuen Standard wird der Bewertungsmaßstab Fair Value eine herausragende Rolle spielen." In der Entwurfsphase existiert weiterhin ein Standard, welcher eine einheitliche Regelung des Begriffes Fair Value vornehmen soll, womit die bisherige standardweise vorzufindenden Regelungen abgelöst werden könnten, was den IFRS insgesamt zu mehr Konsistenz verhelfen soll."
68
69
70
71
72
73
Vgl. KÜTING, KARLHEINZ/KAISER, THOMAS: Fair Value-Accounting - Zu komplex für den Kapitalmarkt?, CFbiz 2010, S. 375. Vgl. BERNDT,THOMAS/EBERU, PETER: Die Fair-Value-Konzeption des lASB - Aktueller Stand und künftige Entwicklung, ST 2009, S. 895; WENI<, MARe 0.: IFRS 9 - Verbesserung des ,,/rue and fair view" durch den neuen Standard für Finanzinstrumente?, IRZ 2010, S. 205. Vgl. KÜTING, KARLHEINZ/KAISER, THOMAS: Fair Value-Accounting - Zu komplex für den Kapitalmarkt?, CFbiz 2010, S. 376. Vgl. auch HERZ, RoBERT: Remarks - Financial Executives International Current Financial Reporting Issues Conference, New York, November 2002, abrufbar unter http://www.iasplus.com. Der dreiteilige Exposure Draft zu IFRS 9 - Financial Instruments (replacement of lAS 39) ist abrufbar unter http://www.iasb.org. Vgl. BERNDT,THOMAS/EBERU, PETER: Die Fair-Value-Konzeption des IASB - Aktueller Stand und künftige Entwicklung, ST 2009, S. 879. Vgl. ED/2009/5 - Fair Value Measurement, abrufbar unter http://www.iasb.org.
504
3.2
Heinz KußmauVChristoph Ruiner/Dennis Weiler
Rechnungslegungszwecke nach HGB und IFRS
3.2.1 Gläubigerschutzfunktion nach HGB Mit einer Fair Value-Bewertung über den fortgeführten Anschaffungskosten in IFRS-Abschlüssen ist ein Ausweis unrealisierter Buchgewinne verbunden, da sich eine Höherbewertung von Aktiva zum beizulegenden Zeitwert in einer Erhöhung des Eigenkapitals niederschlägt." Diese Problematik ist den nationalen, vorsichtsgeprägten Normen des HGB - sofern man von den besonderen Vorschriften für Kreditinstitute und den Regelungen zur Vermögensverrechnung absieht - bisher fremd gewesen. Die historisch gewachsenen und in Abstimmung mit der Steuerbilanz entwickelten Normen des HGB sind vom Vorsichtsprinzip geprägt, dessen Ausflüsse das Realisations- und das Imparitätsprinzip darstellen." Eine periodengerechte Gewinnermittlung, die erforderlich ist, um ein den tatsächlichen Verhältnissen des Unternehmens entsprechendes Bild zu zeichnen.ö erfährt ihre Sicherstellung dadurch, dass es eben zu keinem Ausweis unrealisierter Gewinne kommen soll." Erträge werden erst dann erfasst, wenn sie den "Sprung zum Absatzmarkt" geschafft haben (Realisationsprinzip; § 252 Abs.l Nr.4 2. Halbsatz).78 Erst bei Veräußerung
7. Vg1.S. 22 ff. 75
Vg1. SCHILDBACH, THOMAS: Fair Value - Wunsch und Wirklichkeit, in: Internationale Rechnungslegung: Standortbestirnmung und Zukunftsperspektiven, hrsg, von KARLHEINZ KÜTING, NORBERT PFITZER und CLAus-PETER WEBER, Stuttgart 2006, S. 8; HAYN, MARe: Bilanzierung auf dem Weg zur Bewertung, in: Internationale Rechnungslegung: Standortbestimmung und Zukunftsperspektiven, hrsg. von KARLHEINZ KÜTING, NORBERT PFrrzER und CLAUS-PETER WEBER, Stuttgart 2006, S. 226 f. Vg1. grundlegend zu diesen Prinzipien BIEG, HARTMUT/KUßMAUL, HEINZ: Externes Rechnungswesen, München 2009, 5.37 ff.
76
Vg1. BAETGE, JÖRG/ZÜLCH, HENNING/MATENA, SüNJA: Fair Value-Accounting - ein Paradigmenwechsel auch in der kontinentaleuropäischen Rechnungslegung? (Teil A) -, StuB 2002, S. 366.
77
"Wer den Gewinn richtig ermitteln will, muss das Vermögen falsch ermitteln"; vg1. MoxTER, ADOLF: Bilanzlehre, 1984, S. 6.
78
Vg1. BAETGE, JÖRG/ZÜLCH, HENNING/MATENA, SüNJA: Fair Value-Accounting - ein Paradigmenwechsel auch in der kontinentaleuropäischen Rechnungslegung? ( Teil A) -, StuB 2002, S. 367; HAYN, MARe: Bilanzierung auf dem Weg zur Bewertung, in: Internationale Rechnungslegung: Standortbestirnmung und Zukunftsperspektiven, hrsg. von KARLHEINZ KÜTING, NORBERT PFiTZER und CLAus-PETER WEBER, Stuttgart 2006, S. 226 f.
Unternehmerisches Verhalten im Kontext der Europäisierung
505
wird der tatsächlich realisierte Absatzpreis anstelle der Anschaffungs- und Herstellungskosten relevant. Das Realisationsprinzip wird ergänzt durch den sog. "Grundsatz der Abgrenzung der Sache nach", wonach den realisierten Erträgen die nach dem Finalprinzip zurechenbaren Aufwendungen zugeordnet werden; der "Grundsatz der Abgrenzung der Zeit nach" stellt die richtige zeitraumbezogene Erfassung von Aufwendungen und Erträgen sicher." Das Imparitätsprinzip gebietet eine möglichst frühe Verlustantizipation.w Zu erwartende, aber noch unrealisierte negative Erfolgsbeiträge müssen in der Gewinn- und Verlustrechnung erfasst werden." Somit ist die vermittelte Information eines HGB-Abschlusses bezüglich der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage asymmetrisch, Gewinne werden später, Verluste schon früher erfasst. B2 Mit dieser Konzeption soll vor allem den Gläubigern einer Gesellschaft entgegengekommen werden, in deren Interesse es steht, einen möglichst geringen Gewinn auszuweisen, da dieser an die Antei1seigner in Form von Dividenden abfließen und das Schuldendeckungspotential der Gesellschaft schmälern könnte (Gläubigerschutzfunktion).83
3.2.2 Informationsfunktion nach IFRS Dem Vorsichtsprinzip des HGB steht in der internationalen Rechnungslegung gewissermaßen ein "Unvorsichtsprinzip" gegenüber.s Eine Bewertung zu Fair Values kann zur Aufdeckung unrealisierter Gewinne (Buchgewinne) führen, in einigen Fällen - dies hängt vom jeweiligen Bewertungsgegenstand ab -
79
Vgl. BAETGE, JÖRG/ZÜLCH, HENNING/MATENA, SONJA: Fair Value-Accounting - ein Paradigmenwechsel auch in der kontinentaleuropäischen Rechnungslegung? (Teil A) -, StuB 2002, S. 367.
80
Vgl. zum Imparitätsprinzip BIEG, HARTMUTjKUßMAUL, HEINZ: Externes Rechnungswesen, München 2009, S. 42 ff.
BI
Vgl. BIEG, HARTMUTjKUßMAUL, HEINZ: Externes Rechnungswesen, München 2009, S. 42.
82
Vgl. HAYN, MARe: Bilanzierung auf dem Weg zur Bewertung, in: Internationale Rechnungslegung: Standortbestimmung und Zukunftsperspektiven, hrsg. von KARLHEINZ KüTING, NORBERT PFITzER und CLAus-PETER WEBER, Stuttgart 2006, S. 226 f.
83
Vgl. BIEG, HARTMUTjKUßMAUL, HEINZ: Externes Rechnungswesen, München 2009, S. 64.
84
Vgl. WAGENHOFER, ALFRED: Fair Value-Bewertung: Führt sie zu einer nützlicheren Finanzberichterstattung?, zfbf 2008, S. 187.
506
Heinz KußmauVChristoph Ruiner/Dennis Weiler
findet eine Zeitbewertung ihren Niederschlag in der Gewinn- und Verlustrechnung und folglich im Periodengewinn." und kann zur Ausschüttung an die Aktionäre qualifiziert sein. Wie bereits in der Literatur aufgezeigt wurde, richten sich außerhalb der Ausschüttung aber noch weitere materielle Konsequenzen an den Erfolgsausweis, wie beispielsweise die erfolgsabhängige Ma-
nagementvergütung.w Oftmals werden Erfolgskennzahlen des Konzerns als Messlatte für die variable Vergütungskomponente herangezogen.ß7 In der Folge hat das Management einen Anreiz, die Beurteilungsmaßstäbe der Vergütung - dies sind i.d.R. Gewinn und Eigenkapital - zu beeinflussen, allerdings nicht auf lange Sicht sondern nur kurz- und mittelfristig." Nach SCHILDBACH/GROTIKE bieten die Anreizstrukturen dem Management "ganz persönlich ein vitales Interesse an früheren Gewinnen und großen Gewinnchancen, ohne die Risiken wirklich zu fürchten, die mit einem solchen Gewinnstreben verbunden sind"89. Rechnungslegungszweck der IFRS ist laut lAS 1.7 sowie F. 12 des Frameworks, "Informationen über die Vermögens-, Finanz- und Ertragslage sowie Veränderungen in der Vermögens- und Finanzlage eines Unternehmens zu geben", die dem in F. 9 näher spezifizierten Adressatenkreis "bei dessen wirtschaftlichen Entscheidungen nützlich" sein sollen (decision usefuJness).90 Die Bilanzadressaten sollen die Möglichkeit erhalten, anhand des IFRS-JahresabB5
Eine erfolgswirksame Fair Value-Bewertung sehen u.a. die Standards zur Bewertung von bestimmten Finanzinstrumenten (lAS 39), von Renditeliegenschaften (lAS 40) und von biologischen Vermögenswerten (lAS 41) vor. Vgl. auch S. 22 H.
B6
Vgl. PELLENS, BERNHARD/CRAssELT, Nn.s/SELLHORN, THORSTEN: Corporate Governance und Rechnungslegung, ZfbF 2009, S. 102; zusammenfassend KÜTING, KARLHEINZ/LAUER, PETER: Der Fair Value in der Krise, BFuP 2009, S. 550.
fY
Vgl. KÜTING, KARLHEINZ/LAUER, PETER: Der Fair Value in der Krise, BFuP 2009, S. 550.
88
Vgl. KÜTING, KARLHEINZ/LAUER, PETER: Der Fair Value in der Krise, BFuP 2009, S. 550 f. m.w.N.
89
SCHILDBACH, THOMAS/GROTTKE, MARKus: Lehren aus der Subprime-Krise für Rechnungslegung und Corporate Governance, in: Rechnungslegung und Unternehmensführung in turbulenten Zeiten, Festschrift für Gerhard Seicht, hrsg. von HERBERT R HAESELER und PRANZ HÖRMANN, Münster 2009, S. 110.
90
Vgl. F. 12; lAS 1.7; BAETGE, JÖRG/ZÜLCH, HENNING/MATENA, SoNJA: Fair ValueAccounting - ein Paradigmenwechsel auch in der kontinentaleuropäischen Rechnungslegung? ( Teil A) -, StuB 2002, S. 367 f.
Unternehmerisches Verhalten im Kontext der Europäisierung
507
schlusses eine Einschätzung über die Vorteilhaftigkeit eines zukünftigen oder weiteren Engagements vorzunehmen, indem sie aus diesem die künftig nachhaltig zu erwartenden Zahlungen schließen." Allerdings ist festzuhalten, dass unterschiedliche Adressaten auch unterschiedliche Informationsbedürfnisse haben; im Besonderen sind die Fremdkapitalgeber zu nennen, die eine vorsichtsgeprägte Rechnungslegung bevorzugen.v Ohne weitere Begründung geht der Standardsetter jedoch davon aus, dass die Informationsbedürfnisse der Investoren, die dem Unternehmen Risikokapital zur Verfügung stellen, als repräsentativ für die Bedürfnisse der meisten übrigen Adressaten anzusehen seien (F.lO).93 In ihrem Entscheidungsprozess benötigen die Investoren aktuelle und zeitnahe Informationen, die es ihnen ermöglichen, künftige dem Unternehmen zufließende Cashflows besser abzuschätzen,» welche theoretisch - nach Mei-
nung des Standardsetters - der Bewertungsmaßstab des Fair Value, der sich durch eine zeitnahe Bewertung mit Marktwerten auszeichnet, konzeptionell besser liefern kann als historische Anschaffungswerte." Dahinter steckt die Idee, den Wert eines Unternehmens synthetisch aus den mit Markpreisen bewerteten Vermögenswerten und Schulden zusammenzusetzen; aus dem Wert des Unternehmens ließe sich auf die Ertragskraft des
91
Vgl. BALLWIESER, WOLFGANG/KÜTING, KARLHEINZ/SCHILDBACH, THOMAS: Fair value erstrebenswerter Wertansatz im Rahmen einer Reform der handelsrechtlichen Rechnungslegung?, BFuP 2004, S. 529.
92
Vgl. KUßMAUL, HEINZ/WEILER, DENNIS: Fair Value-Bewertung im Licht aktueller Entwicklungen (Teil 1), KoR 2009, S. 166 f.
93
Vgl. auch KÜTING, KARLHEINZ/KAISER, THOMAS: Fair Value-Accounting - Zu komplex für den Kapitalmarkt?, CFbiz 2010, S. 375.
94
Vgl. S1REIM, HANNES/BIEKER, MARCUS/ESSER, MAIK: Vermittlung entscheidungsnützlicher Informationen durch Fair Values - Sackgasse oder Licht am Horizont?, BFuP 2003, S. 458.
95
Vgl. WAGENHOFER, ALFRED: Fair Value-Bewertung: Führt sie zu einer nützlicheren Finanzberichterstattung?, zfbf 2008, S. 187. Vgl. auch KÜTING, KARLHEINZ/ZWIRNER, CHRISTIAN/REUTER, MICHAEL: Zur Bedeutung der fair value-Bewertung in der deutschen Bilanzierungspraxis - Empirische Analyse von IFRS-Konzemabschlüssen, DStR 2007, S. 500.
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Heinz KußmauVChristoph Ruiner/Dennis Weiler
Unternehmens schließen," Doch es besteht die Problematik, dass sich der Wert eines Unternehmens aus der Synergie der einzelnen Vermögensgegenstände ergibt, die Summe der Vermögenswerte und Schulden und dem originären Geschäfts- oder Firmenwert.i" Die Summe aller mit Marktpreisen bewerteten Vermögenswerte und Schulden eines Unternehmens spiegelt dagegen den Preis wieder, den ein Dritter aufwenden müsste, um das Unternehmen "auf der grünen Wiese" zu errichten. Dabei sind beispielsweise die Kundenbeziehungen, Standortvorteile, Marktstellung, Markenname oder Mitarbeiter-Know-How nicht berücksichtigt. Außerdem umfasst der Unternehmenswert weiterhin Kapitalisierungsmehrwerte, die in den bilanziell erfassten Vermögenswerten enthalten sind. KÜTING/KAISER kommen zu den Schluss, dass "eine im Jahresabschluss ausgewiesene Gewinngröße Veränderungen des Shareholder Value bestenfalls partiell erklären" kann." Nicht für alle Vermögenswerte und Schulden existiert ein Marktpreis, weswegen ein full fair value
accounting von Grund auf nicht möglich sein kann, sondern lediglich - wie auch vom IASB derzeit angestrebt - ein mixed model realisierbar ist, welches erst recht nicht dazu in der Lage sein kann, den Wert eines Unternehmens und daraus folgernd die künftigen Zahlungserwartungen darzustellen.
3.3
Entscheidungsnützlichkeit und Fair Value-Bewertung
3.3.1 Anwendungsfälle der Fair VaIue-Bewertung Derzeit sehen die IFRS keine grundsätzliche Bewertung aller Vermögenswerte und Schulden mit dem beizulegenden Zeitwert vor. Eine Fair Value-
96
Vgl. KÜTING, KARLHEINZ/KAISER, THOMAS: Fair Value-Accounting - Zu komplex für den KapitalmarkI?, CFbiz 2010, S. 381; SCHILDBAGI, THOMAS: Fair Value - Leitstem für Wege ins Abseits, DStR 2010, S. 70.
'Tl
Vgl. KÜTING, KARLHEINZ/KAISER, THOMAS: Fair Value-Accounting - Zu komplex für den KapitalmarkI?, CFbiz 2010, S. 381.
98
KÜTING,KARLHEINZ/KAISER, 1"HOMAS: Fair Value-Accounting - Zu komplex für den Kapitalmarkt?, CFbiz 2010, S. 382.
Unternehmerisches Verhalten im Kontext der Europäisierung
509
Bewertung erfolgt vielmehr selektiv (sog. mixed model).99 Jedoch ist ein Trend zu beobachten, wonach der Standardsetter die Fair Value-Bewertung sukzessive ausbaut.'w die Vermutung liegt nahe, dass er sich auf dem Weg zu einem
Jullfair valueaccounting befindet.l?' demzufolge er eine reine Vermögensbilanz anstrebt, die die Zeitwerte aller Vermögenswerte und Schulden wiedergibt.wBislang wird die Fair Value-Bewertung in manchen Standards verpflichtend vorgeschrieben, in anderen ist sie nur optional; sie erstreckt sich sowohl auf die Erstbewertung eines Bilanzierungsobjektes (Zugangsbewertung) als auch auf die Folgebewertung. Die wesentlichen Anwendungsfälle der Fair ValueBewertung seien im Folgenden skizziert. Als zwingender Zugangswert dient der Fair Value bei: • Vermögenswerten, Schulden und Eventualschulden aus Unternehmenszusammenschlüssen (IFRS 3.18), • Finanzinstrumenten (lAS 39.43) und • biologischen Vermögenswerten und landwirtschaftlichen Erzeugnissen (lAS 41.12). Eine zwingende Folgebewertung zum Fair Value sieht der Standardsetter bei biologischen Vermögenswerten (lAS 41.12) und bestimmten Finanzinstrumen-
99
Vgl. SCHILDBACH, THOMAS: Fair Value - Wunsch und Wirklichkeit, in: Internationale Rechnungslegung: Standortbestimmung und Zukunftsperspektiven, hrsg. von KARLHEINZ KÜTING, NORBERT PFITZER und CLAUS-PETER WEBER, Stuttgart 2006, S. 9.
100
Vgl. KUßMAUL, HEINz: Fair Value-Bewertung und Maßgeblichkeit, in: Internationale Rechnungslegung: Standortbestimmung und Zukunftsperspektiven, hrsg. von KARLHEINZ KÜTING, NORBERT PFITZER und CLAus-PETER WEBER, Stuttgart 2006, S. 184 m.w.N.
101
Vgl. BALLWIESER, WOLFGANG/KÜTING, KARLHEINZ/SCHILDBACH, THOMAS: Fair value erstrebenswerter Wertansatz im Ralunen einer Reform der handelsrechtlichen Rechnungslegung?, BFuP 2004, S. 529; LoRSON,PETER: Der Fair Value im System der Wertbegriffe nach IAS/IFRS und U5-CAAP, in: Fair Value - Bewertung in Rechnungswesen, Controlling und Finanzwirtschaft, hrsg, von HARTMUT BIEG und REINHARD HEYD, S. 19; SCHILDBACH, THOMAS: Fair Value - Wunsch und Wirklichkeit, in: Internationale Rechnungslegung: Standortbestimmung und Zukunftsperspektiven, hrsg. von KARLHEINZ KüTING, NORBERT PATZER und CLAus-PETER WEBER, Stuttgart 2006 S. 8.
IlYl
Vgl. SCHILDBACH, THoMAS: Fair Value - Wunsch und Wirklichkeit, in: Internationale Rechnungslegung: Standortbestimmung und Zukunftsperspektiven, hrsg, von KARLHEINZ KÜTING, NORBERT PFITZER und CLAUS-PETER WEBER, Stuttgart 2006, S. 8.
510
Heinz KußmauVChristoph Ruiner/Dennis Weiler
ten vor. Finanzinstrumente werden in vier unterschiedliche Bewertungskategorien unterteilt (IAS 39.9): • erfolgswirksam zum beizulegenden Zeitwert bewertete finanzielle Vermögenswerte bzw. finanzielle Verbindlichkeiten ifinancial assets or financi-
alliabilities atfair valuethrough profit or loss), • bis zur Endfälligkeit gehaltene Finanzinvestitionen (held-to-maturity in-
vestments), • Kredite und Forderungen (loans and receivables) und • zur Veräußerung verfügbare finanzielle Vermögenswerte (available-for-
sale financial assets). Für diejenigen finanziellen Vermögenswerte und Schulden, die unter die Kategorie at fair value through profit or loss fallen (z.B. Derivate), sowie für die Vermögenswerte, die der Kategorie auailable-jor-sale zugerechnet werden (z.B. Wertpapiere), ist die Folgebewertung gern. lAS 39.46 zum Fair Value zwingend durchzuführen. Die Möglichkeit zur wahlweisen Folgebewertung mit dem beizulegenden Zeitwert wird dem IFRS-Bilanzierer eröffnet bei: • Sachanlagen (Neubewertungsmodell; lAS 16.31), • langfristigen immateriellen Vermögenswerten (Neubewertungsmodell; IAS 38.75) und • als Finanzinvestition gehaltenen Immobilien (sog. Renditeliegenschaften) (Fair Value-Modell; lAS 40.33).1 03 Daneben findet der Fair Value auch Anwendung beim Werthaltigkeitstest nach IAS 36, allerdings dient er hierbei nur zur Ermittlung einer Wertminderung und nicht zur Zeitbewertung über die Anschaffungs- und Herstellungskosten hinaus.
103
Für Renditeliegenschaften wird dieses Wahlrecht jedoch insofern eingeschränkt, als eine Anhangangabe über die aktuellen Zeitwerte in all denjenigen Fällen erfolgen muss, in denen der bilanzielle Ansatz zum Fair Value ausbleibt; vgl. IAS 40.79.
Unternehmerisches Verhalten im Kontext der Europäisierung
511
Der Vollständigkeit halber sei der Fair Value als ein relevanter Maßstab für die Bewertung von Leasingobjekten (lAS 17) und von wertvollen börsengehandelten Metallen (lAS 2.3b), für die Bewertung der Erlöse (lAS 18), die Bemessung bestimmter Pensionsrückstellungen (lAS 19), die Bewertung von Zuwendungen der öffentlichen Hand (lAS 20), sowie für aktienbasierte Vergütungen (IFRS 2) und zur Veräußerung gehaltene langfristige Vermögenswerte und aufgegebene Geschäftsbereiche (IFRS5) erwähnt.
3.3.2 Fair Value als Wertkonglomerat Ein gesonderter Standard, in dem eine einheitliche, übergreifende Erfassung der Wertkonzeption Fair Value im Sinne einer alle Standards übergreifenden Ermittlungsvorschrift vornimmt, existiert in den IFRS (noch) nicht. Wie es für das angelsächsische, kasuistisch geprägte Rechtsverständnis typisch ist, finden die Ermittlungsvorschriften ihre Erwähnung in den jeweilig relevanten Standards. Die dort gesondert aufgeführten Definitionen des Fair Value sind aber grundsätzlich deckungsgleichJ04 Danach ist der Fair Value jener Betrag, zu dem zwischen sachverständigen, vertragswilligen und voneinander unabhängigen Geschäftspartnern ein Vermögenswert getauscht oder eine Schuld abgelöst bzw. übertragen werden könnteJ05 Der Fair Value ist damit als ein Marktwert oder Verkehrswert zu verstehen, der sich im Rahmen einer marktüblichen aber hypothetischen Transaktion zwischen voneinander unabhängigen und dabei sachverständigen Marktpartnern einstellt.P' Die Existenz eines unternehmensunabhängigen Marktpreises für die zugrunde liegenden Bewertungsgegenstände, der sich auf einem vollkommenen und abgeschlossenen Markt unter homogenen Erwartungen der Marktteilnehmer einstellt, ist 104
Vgl. LORSON, PETER: Der Fair Value im System der Wertbegriffe nach IASjIFRS und USGAAP, in: Fair Value - Bewertung in Rechnungswesen, Controlling und Finanzwirtschaft, hrsg. von HARTMUT BIEG und REINHARD HEYD, S. 16.
105
Vgl. lAS 16.6; lAS 18.7; lAS 21.8; lAS 32.11; lAS 38.8; lAS 39.9; lAS 40.5; lAS 41.8. IFRS 2 erweitert diese Definition um einen Bezug zu Eigenkapitalinstrumenten, indem er hinzufügt: ,,[... ] oder ein gewährtes Eigenkapitalinstrument getauscht werden könnte"; vgl. IFRS 2 Appendix A; vgl. auch IFRS 2 BC85.
106
Vgl. S1REIM, HANNES/BIEKER, MARCUS/ESSER, MAIK: Vermittlung entscheidungsnützlicher Informationen durch Fair Values - Sackgasse oder Licht am Horizont?, BFuP 2003, 459 f.
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Utopie.l'" Zur Anpassung dieses theoretischen Ideals an die Widrigkeiten der Realität wird der Fair Value deshalb auf die individuellen Gegebenheiten der einzelnen Bewertungsgegenstände (bisher noch) in den jeweiligen Standards abgestimmt konkretisiert; damit einhergehend werden die sachlichen Anwendungsbereiche und Informationsgrundlagen, die der Wertermittlung zugrunde liegen, fallweise spezifiziert. lOB Die Rechnungslegungsstandards zielen zur Ermittlung des Fair Values in erster Linie auf eine marktbasierte Begutachtung auf einem aktiven Markt. Da in der Bilanzierungspraxis in den meisten Fällen eine Marktbewertung nicht möglich ist,t09 gestatten die Standards zweitbeste
und gegebenenfalls weitere Hilfslösungen, die sich durch auf Basis von Marktdaten geschätzte Werte llO , Barwerteü', Ertragswertet's, oder fortgeführte Wiederbeschaffungskosten1l3 artikulieren.u- Diese Duldung von zweit- und
107
Vgl. BALLWIESER, WOLFGANG/KÜTING, KARLHEINZ/SCHILDBACH, THOMAS: Fair value erstrebenswerter Wertansatz im Rahmen einer Reform der handelsrechtlichen Rechnungslegung?, BFuP 2004, S. 530 f.; HERING, THOMAS/OLBRICH, MICHAEL/ROLLBERG, ROLAND: Zur Angelsächsischen Bewertungstheorie als Mitursache der Finanzkrise, in: Corparate Govemance, Risk Management und Compliance - Innovative Konzepte und Strategien, hrsg. von FRANK KEUPER und FRITZ NEUMANN, Wiesbaden 2010, S. 35 f.
108
Vgl. BALLWIESER, WOLFGANG/KÜTING, KARLHEINZ/SCHILDBACH, THOMAS: Fair value erstrebenswerter Wertansatz im Rahmen einer Reform der handelsrechtlichen Rechnungslegung?, BFuP 2004, S. 531; KUßMAUL, HEINZ: Fair Value-Bewertung und Maßgeblichkeit, in: Fair Value - Bewertung in Rechnungswesen, Controlling und Finanzwirtschaft, hrsg. von HAR1MUT BIEG und REINHARD HEYD, S. 186 f.
109
Vgl. KÜTING, KARLHEINZ: Auf dem Weg zu einer Entobjektivierung der Bilanz, in: Internationale Rechnungslegung: Standortbestimmung und Zukunftsperspektiven, hrsg. von KARLHEINZ KÜTING, NORBERT PFlTZER und CLAUS-PETER WEBER, Stuttgart 2006, S. 3.
110
Vgl. lAS 39.AG72; lAS 40.46.
111
Vgl. lAS 39.AG74; lAS 40.46 (c) LV.m. IASB-Framework, Rn. 100 (d); STREIM, HANNES/BIEKER, MARCUS/ESSER, MAIK: Vermittlung entscheidungsnützlicher Informationen durch Fair Values - Sackgasse oder Licht am Horizont?, BFuP 2003, S. 460.
112
Vgl. lAS 16.33.
11J
Vgl. lAS 16.33 LV.m. IASB-Framework, Rn. 100 (b).
114
Vgl. KÜTING, KARLHEINZ/ZWIRNER, CHRISTIAN/REUTER, MICHAEL: Zur Bedeutung der fair value-Bewertung in der deutschen Bilanzierungspraxis - Empirische Analyse von IFRSKonzernabschlüssen, DStR 2007, S. 500. Vgl. auch KUßMAUL, HEINZ: Fair ValueBewertung und Maßgeblichkeit, in: Fair Value - Bewertung in Rechnungswesen, Controlling und Finanzwirtschaft, hrsg. von HAR1MUT BIEG und REINHARD HEYD, S. 186 ff.; STREIM, HANNES/BIEKER, MARcuS/ESSER, MAIK: Vermittlung entscheidungsnützlicher Informationen durch Fair Values - Sackgasse oder Licht am Horizont?, BFuP 2003, S. 460.
Unternehmerisches Verhalten im Kontext der Europäisierung
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drittbesten Näherungslösungen des Fair Value bezeichnet man auch als "Fair Value-Hierarchie des IFRS-Systems".115
Die Wertermittlungsvorschriften des Fair Value hängen von dem zu Grunde liegenden Bewertungsobjekt ab. Eine allgemeine Hierarchie gibt es nicht, allerdings kann eine gewisse Grundordnung ausgemacht werderu!" 1. Auf erster Stufe der Preis, der sich auf einem aktiven Markt einstellt (mark
to market); 2. Auf zweiter Stufe der Preis von ähnlichen und vergleichbaren Gütern
(mark to matrix); 3. Auf dritter Stufe mittels anerkannten Bewertungsverfahren fingierte Marktpreise (mark to model), wobei v.a. Discounted Cashflow-Verfahren zum Einsatz kommen. Fortgeführte Anschaffungs- oder Herstellungskosten, soweit auf den Stufen 1 bis 3 kein Wert ermittelt werden konnte.
115
Vgl. BALLWIESER, WOLFGANG/KÜTING, KARLHEINZ/SCHILDBACH, THOMAS: Fair value erstrebenswerter Wertansatz im Rahmen einer Reform der handelsrechtlichen Rechnungslegung?, BFuP 2004, S. 532.
116
Vgl. IDW: Entwurf einer Stellungnahme zur Rechnungslegung: Bewertungen bei der Abbildung von Unternehmenserwerben und bei Werthaltigkeitsprüfungen nach IFRS (IDW ERS HFA 16), WPg 2004, S.1486. Vgl. zur folgenden Gliederung auch KÜTING, KARLHEINZ/KAISER, THOMAS: Fair Value-Accounting - Zu komplex für den Kapitalmarkt?, CFbiz 2010, S. 377.
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Fair Value-Ausprägungen
1) Preis auf Basis marktbasierter Begutachtung 2) Ertragswertverfahren oder fortgefllhrte Wiederbeschaffungskosten
1) Preis aus bindendem Kaufvertrag 2) Preis am aktiven Markt 3) Schätzung aufgrund des letzten vorliegenden Preises am aktiven Markt 4) Schätzung anband anderer Iuformationen
1) Wert unter Bezugnahme auf einen aktiven Markt 2) Ansonsten sind die fortgefiihrten Anschaffungsoder Herstellungskosten anzusetzen
1) Preis am aktiven Markt 2) Schätzung aufgrund des letzten vorliegenden Preises am aktiven Markt 3) Anwendung anerkannter Bewertungsverfahren
I) Preis am aktiven Markt 2) Verlässlichste Schätzung aus: Markt für abweichende Immobilien, auf einem weniger aktiven Markt erzielte Preise nach Adjustierung oder diskontierte Cash-FlowPrognosen
Abbildung 1: Fair Value-Ausprägungen und Fair Yalue-Hierarchiev?
Zusammenfassend lässt sich zunächst feststellen, dass der Fair Value kein eigenständiger Wertbegriff ist, sondern vielmehr als vager Oberbegriff für mehrere am Marktwert orientierte Bewertungskonzeptionen verstanden werden kann, deren Ermittlungsarten konzeptionell eine gewisse Nähe zueinander aufweisen.!"
117
Leicht modifiziert entnommen aus KÜTING, KARLHEINZ/KAISER, THOMAS: Fair ValueAccounting - Zu komplex für den Kapitalmarkt?, CFbiz 2010, S. 377.
118
Vgl. LORSON, PETER: Der Fair Value im System der Wertbegriffe nach IAS/IFRS und USGAAP, in: Fair Value - Bewertung in Rechnungswesen, Controlling und Finanzwirtschaft, hrsg. von HAR1MUT BIEG und REINHARD HEYD, S. 16.
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3.3.3 Kritische Würdigung der Fair Value Konzeption a)
Relevanz und Verlässlichkeit
Der Zuwachs an entscheidungsnützlichen Informationen durch eine Bewertung mit dem Fair Value, lässt sich anhand der - im Framework niedergelegten - Prüfkriterien der "Relevanz" und der "Verlässlichkeit" beurteilen.t'? Relevanz und Verlässlichkeit gehören zu den im Framework hinterlegten qualitativen Anforderungen, die ein lFRS-Absch1uss erfüllen muss (F. 24 ff.). Nach F. 26 des Frameworks gelten Informationen als relevant, wenn sie "die wirtschaftlichen Entscheidungen der Adressaten beeinflussen, indem sie ihnen bei der Beurteilung vergangener, derzeitiger oder zukünftiger Ereignisse helfen oder ihre Beurteilungen aus der Vergangenheit bestätigen oder korrigieren"PO Bezogen auf die Fair Value-Bewertung bedeutet dies, dass die durch sie bereitgestellten Informationen dann relevant sind, wenn sie zur Abschätzung geeignet sind, inwieweit ein Unternehmen künftig in der Lage sein wird, Einzahlungsüberschüsse zu erwirtschaften, die zur Innenfinanzierung oder für Ausschüttungen an die Anteilseigner zur Verfügung stehen. Neben dem Kriterium der Relevanz muss ein lFRS-Absch1uss außerdem dem Kriterium der "Verlässlichkeit" genügen, wonach die vermittelten Informationen frei von Fehlern und verzerrenden Einflüssen sein müssen (F. 31). Diese Eigenschaften erfüllen sie, wenn sie erstens weitgehend objektiv und zweitens möglichst (treff-)genau sind. Die Informationsgewinnung muss, um dem Kriterium der Objektivität zu genügen, eindeutig formuliert sein, so dass unterschiedliche Anwender zum selben Ergebnis kommen. Objektive Rechnungslegungsregeln kennen deshalb keine oder nur geringe Ermessensspielräume und bieten keinen Anreiz zu zweckorientierter Gestaltung. Das Kriterium der (Treff-)Genauigkeit fordert von einer Information, dass sie nicht systematisch 119
Vgl. STREIM, HANNES/BIEKER, MARCUS/ESSER, MAIK: Vermittlung entscheidungsnützlicher Informationen durch Fair Values - Sackgasse oder Licht am Horizont?, BFuP 2003, S. 469 f.; LORSON, PETER: Der Fair Value im System der Wertbegriffe nach IAS/IFRS und USGAAP, in: Internationale Rechnungslegung: Standortbestimmung und Zukunftsperspektiven, hrsg. von KARLHEINZ KÜTING, NORBERT PFiTZER und CLAUS-PETER WEBER, Stuttgart 2006, S. 11 ff.
120
F.26.
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verzerrt ist. Die nach vorgegebenen Regelungen ermittelten Werte (in diesem Fall die Fair Values) dürfen nicht tendenziell in positiver oder negativer Richtung von den tatsächlichen Werten abweichen.F' Eine zu Zeitwerten aufgestellte Bilanz stellt entscheidungsrelevante Informationen zur Verfügung, die solange verlässlich sind, wie die Wertermittlung auf Basis von objektiven Marktdaten möglich ist. Ob für einen bestimmten Bewertungsgegenstand überhaupt ein (aktiver) Markt vorliegt, ist stark von der Beurteilung des Bilanzierenden abhängig.122 Mitunter muss entschieden werden, welchem Markt der Vorzug gegeben werden soll, sofern mehrere existieren; zudem steht der Bilanzierende oftmals vor der Frage, ob ein Markt aufgrund mangelnder Größe und Liquidität überhaupt noch als Deduktionsbasis für eine objektive Bewertung geeignet ist, oder ob die Zuhilfenahme eines Näherungsverfahrens der folgenden Hierarchieebenen nicht eine verlässlichere Information liefern würde.F" Zudem darf nicht vergessen werden, dass auch Marktpreise manipulierbar sind. Der Fall ENRON zeigte, dass Unternehmen ihre Marktmacht missbrauchen können und gezielt Einfluss auf den Verlauf bestimmter Marktpreise nehmen können, womit selbst eine scheinbar objekti-
121
Vgl. zu diesem Abschnitt LORSON, PETER: Der Fair Value im System der Wertbegriffe nach IAS/IFRS und US-GAAP, in: Fair Value - Bewertung in Rechnungswesen, Controlling und Finanzwirtschaft, hrsg, von HARIMUT BIEG und REINHARD HEYD, S. 11 f.; STREJM, HANNES/BIEKER, MARCUS/ESSER, MAII<: Vermittlung entscheidungsnützlicher Informationen durch Fair Values - Sackgasse oder Licht am Horizont?, BFuP 2003, S. 473.
122
Vgl. hierzu BALLWIESER, WOLFGANG/KÜTING, KARlliEINZ/SCHILDBACH, THOMAS: Fair value - erstrebenswerter Wertansatz im Rahmen einer Reform der handelsrechtlichen Rechnungslegung?, BFuP 2004, S. 535 ff.; SCHILDBACH, THOMAS: Fair Value - Wunsch und Wirklichkeit, in: Internationale Rechnungslegung: Standortbestimmung und Zukunftsperspektiven, hrsg. von KARLHEINZ KÜTING, NORBERT PFITzER und CLAUS-PETER WEBER, Stuttgart 2006, S. 16 ff.
123
Vgl. BALLWIESER, WOLFGANG/KÜTING, KARLHEINZ/SCHILDBACH, THOMAS: Fair value erstrebenswerter Wertansatz im Rahmen einer Reform der handelsrechtlichen Rechnungslegung?, BFuP 2004, S. 534; SCHILDBACH, THOMAS: Fair Value - Wunsch und Wirklichkeit, in: Internationale Rechnungslegung: Standortbestimmung und Zukunftsperspektiven, hrsg. von KARlliEINZ KÜTING, NORBERT PFITzER und CLAUS-PETER WEBER, Stuttgart 2006, S. 16 ff.
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ve marktpreisgebundene Bewertung der Willkür des bewertenden Unternehmens ausgeliefert sein kann. 124 Literaturseitig wird vorgebracht, dass die oben skizzierte Fair ValueBewertungskonzeption sehr komplex ist. Sofern sich der Verdacht erhärtet, dass die Komplexität der Vermittlung entscheidungsnützlicher Informationen entgegensteht, verlöre der Fair Value insgesamt seinen Daseinsanspruch. KÜTING/KAISER sprechen der bisherigen Fair Value-Konzeption nach IFRS einen Entscheidungsnutzen ab. Dies stützen Sie zum einen auf die Tatsache, dass eine zu Fair Values bewertete Bilanz - und dies gilt erst Recht für eine nur partiell mit Fair Values bewertete Bilanz -den Unternehmenswert nicht hinreichend ermitteln kann. Zum anderen beziehen sie sich auf die gewaltigen Gestaltungsspielräume, welche sich beim Ausweichen auf die Bewertungshierarchie bei fehlenden Marktpreisen, was zu 95 % der Fall ist, ergeben.l 25 Gemäß des Leitsatzes "Wer Fair Values modellgestützt ermittelt, nutzt die Freiheitsgrade, die sich ihm dabei bieten"126 ist davon auszugehen, dass die Bilanzersteller versucht sind, die sich ihnen bietenden Stellschrauben gestaltend zu nutzen. Dies bestätigt auch die von KÜTING/KAISER zitierte Studie, wonach ,,78
% der befragten CFOs grundsätzlich bereit wären, zugunsten geglätteter oder im Rahmen der Markterwartungen liegender Ergebniszahlen wertvernichtende Maßnahmen in Kauf zu nehmen" bereit seien und ,,55 % der Befragten [... ] sogar Projekte mit hohen Aussichten auf substanzielle Wertbeiträge (Shareholder Value) nicht initiieren [würden; d.Verf.], wenn dadurch die anstehenden Quartalsergebnisse gefährdet würden"127.128
124
Vgl. BALLWIESER, WOLFGANG/KÜTING, KARLHEINZ/SCHILDBACH, THOMAS: Fair value erstrebenswerter Wertansatz im Rahmen einer Reform der handelsrechtlichen Rechnungslegung?, BFuP 2004, S. 535 f.; LÜDENBACH, NORBERTjHOFFMANN, WOLF-DIETER: Enron und die Umkehrung der Kausalität bei der Rechnungslegung, DB 2002, S. 1172 ff.
125
Vgl. dazu KÜTING, KARLHEINZ/KAISER, THOMAS: Fair Value-Accounting - Zu komplex für den Kapitalmarkt?, CFbiz 2010, S. 377 u. 382 f.; MEYER, HERBERT/BRAUN, ROBERT: Fair Value als Treiber der Komplexität von IFRS, BB 2010, S. 1780.
126
KÜTING, KARLHEINZ/KAISER, THOMAS: Fair Value-Accounting - Zu komplex für den Kapitalmarkt?, CFbiz 2010, S. 383.
127
KÜTING, KARLHEINZ/KAISER, THOMAS: Fair Value-Accounting - Zu komplex für den Kapitalmarkt?, CFbiz 2010, S. 383.
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Verlässlichkeitsdefizite bei der Fair Value-Bewertung werden auch bei MEYER/BRAUN bestätigt. In den bisherigen Ergebnissen des EnforcementVerfahrens der DPR e.V. zeigt sich eine hohe Fehlerquote in IFRSAbschlüssen, wobei die große Mehrzahl auf Fehler bei der Fair ValueBewertung, genauer bei der Ermittlung von Fair Values durch Diskontierung von Cashflows, zurückzuführen sind. Die Fair Value-Bewertung ist äußerst komplex und aufwendig umzusetzen, so dass der Abschlussersteller dazu geneigt sein kann, zur Ermittlung der Cashflows auf Daten der internen Unternehmensplanung zurückzugreifen, was im Ergebnis nicht zu einem die Erwartungen aller Marktteilnehmer widerspiegelnden Preis führt, sondern einen subjektiv geprägten value in use generiert. Die Autoren verweisen auf den Zielkonflikt, der zwischen der für die Bilanzierungsentscheidung verantwortlichen Geschäftsleitung und dem Investor besteht.w Danach überschätzen die Bilanzersteller die Marktgängigkeit der zu bewertenden Vermögenswerte tendenziell, "da aufgrund der Individualität in vielen Fällen keine ausreichenden Informationen verfügbar sind, die unabhängige Dritte veranlassen könnten eine Preisindikation für Vermögenswerte ohne Marktbezug abzugeben". Der Nachvollzug der Bewertung wird dem Bilanzadressaten erschwert, da eine Beschreibung der wesentlichen Werttreiber, die letztendlich zu einer bestimmten Bewertung geführt haben, im Anhang oftmals keine Erwähnung fänden.P" Wie die Ungenauigkeiten auch immer zustande kommen, sei es durch bewusste Manipulationen eines unverantwortlich wirtschaftenden, an kurzfristigen Erfolgskennzahlen sich orientierenden oder durch unbewusste Fehler eines mit der Komplexität der Regeln überforderten Managements, die Kon-
128
12.
Vgl. GRAHAM, JOHN R./HARVEY, CAMPBELL R./RAJGOPAL, SHIVARAM: Value Destruction and Finaneial Reporting Decisions 2006, abrufbar unter: http://papers.ssm.com/sol3/papers.cfm?abstracUd=871215, S. 10 ff. Vgl. MEYER, HERBERT/BRAUN, ROBERT: Fair Value als Treiber der Komplexität von IFRS, BB 2010, 5.1780 m.w.N. bezüglich der grundlegenden Principal-Agent Problematik bei
Hartmann-Wendels, Rechnungslegung der Unternehmen und Kapitalmarkt aus informationsökonomischer Sicht, 1991, 5.11-14. 130
Vgl. zu diesem Abschnitt MEYER, HERBERT/BRAUN, RoBERT: Fair Value als Treiber der Komplexität von IFRS, BB 2010, S. 1780 f.
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sequenz ist ein Investoren-seitig empfundener Mangelzustand an "glaubwürdigen und nachprüfbaren, also verlässlichen Informationen'<". Nach KÜTING/KAISER zieht für Zwecke von Investitionsentscheidungen nur ein geringer Teil aus der sehr heterogenen Gruppe der Bilanzadressaten Jahresabschlüsse zu Rate; gern. einer von den vorgenannten Autoren zitierten Umfrage schätzen Privatanleger Geschäftsberichte als "nicht sehr vertrauenswürdig und verständlich"132 ein. l 33 Zum gleichen Ergebnis kommen auch MEYER/BRAUN, wenn sie schreiben, dass der Kapitalmarkt die approximierten Fair Values als nicht werthaltig einstuft und folglich nicht in das Entscheidungskalkül mit aufnimmt.w Der Stellenwert einer Bilanz im Rahmen der Jahresabschlussanalyse durch institutionelle Investoren sowie Informationsmediäre (Analysten) sowie deren Kenntnisse betreffend die Bewertungskonzeptionen sind darüber hinaus niedriger als gemeinhin angenommen.w Im Ergebnis ergibt sich eine Situation, wonach einer zu Fair Values bewerteten Bilanz generell Verlässlichkeitsdefizite unterstellt werden136 und (möglicherweise auch in der Folge) eine Bilanz nur an nachgeordneter Stelle Beachtung findet, sofern Geschäftsberichte überhaupt konsultiert werden. Sofern sich Bilanzadressaten stattdessen auf andere durch das Unternehmen bereitgestellten Informationen und Zahlen beziehen (bspw. von Unternehmen selbst definierte
131
KÜTING,KARLHEINZ/KAISER, THOMAS: Fair Value-Accounting - Zu komplex für den Kapitalmarkt?, CFbiz 2010, S. 382.
132
KÜTING, KARLHEINZ/KAISER, THOMAS: Fair Value-Accounting - Zu komplex für den Kapitalmarkt?, CFbiz 2010, S. 379.
133
Vgl. ERNST, EDGAR/GAssEN, JOACHIM/PELLENS, BERNHARD: Verhalten und Präferenzen deutscher Aktionäre: Eine Befragung privater und institutioneller Anleger zu Informationsverhalten, Dividendenpräferenz und Wahrnehmung von Stimmrechten, Frankfurt am Main 20OS,abrufbar unter: http://www.dai.de.
134
Vgl. MEYER, HERBERT/BRAUN, RoBERT: Fair Value als Treiber der Komplexität von IFRS, BB 2010, S. 1782.
135
Vgl. KÜTING, KARLHEINZ/KAISER, THOMAS: Fair Value-Accounting - Zu komplex für den Kapitalmarkt?, CFbiz 2010, S. 379 f..
136
Vgl. auch BERNDT,THOMAS/EBERLI, PETER: Die Fair-Value-Konzeption des IASB - Aktueller Stand und künftige Entwicklung, ST 2009, S. 896; MEYER, HERBERT/BRAUN, ROBERT: Fair Value als Treiber der Komplexität von IFRS, BB 2010, S. 1782.
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Pro-Porma-Kennziffernw wie Net Income, EBITDA, EBIT, Cashflow, Net Debt, etc. und wertorientierte Performance-Kennzahlen, deren Eingangsgrößen nicht zugänglich sind) möglicherweise auch direkte Gespräche mit dem Management führen, ist damit die Gefahr einer bewussten Fehlinformation durch das Management verbunden (sog. management guidance).l38 Bspw. erschließt sich dem Bilanzadressaten dann möglicherweise nicht, ob in der Erfolgsgröße "EBIT" lediglich realisierte Gewinne oder auch unrealisierte GuVwirksame Gewinne enthalten sind. b)
Die Rolle des Fair Value in der Krise
Die den IFRS immanente Ergebnis- und Eigenkapitalvolatilität ist in der Literatur unumstritten.P? Nach KÜTING/LAUER kann diese Volatilität einen Einfluss auf die gesamtwirtschaftliche Grundstimmung ausüben in dem Sinne, dass in Boom-Zeiten die positive Stimmung "zu illusorischem Wunschdenken führen" kann, so dass auch die Einschätzung über Preise und zukünftige Entwicklungen zu hoch ausfallen kann. Beim Abschwung hätten die aufgrund der vorherigen Höherbewertung von Aktiva nun höheren Buchverluste eine zu pessimistische Ergebniserwartung zur Folge.140 Diesbezüglich wird bei SCHILDBACH und KÜTING/LAUER auf das Entstehen und Platzen der Immobilienmarktblase in den USA verwiesen.w HERlNG/OLBRICH/ROLLBERG beschreiben die in der Hausse entstehenden Buchgewinne für Banken als einen Anreiz, zusätzliche Geschäfte und damit zusätzliche Risiken einzugehen, da die Eigenkapitalunterdeckung künstlich
137
Vgl. zu dieser Thematik HEIDEN, MATTHIAS: Pro-Forma-Berichterstattung - Reporting zwischen Information und Täuschung, Berlin 2006.
138
Vgl. KÜTING, KARLHEINZ/KAISER, THOMAS: Fair Value-Accounting - Zu komplex für den Kapitalmarkt?, CFbiz 2010, S. 380 f.
139
140
141
Vgl. KUßMAUL, HEINZ/WEILER, DENNIS: Fair Value-Bewertung im Licht aktueller Entwicklungen (Teil 2), KoR 2009, S. 209 ff.; HERING, THOMAS/OLBRIOf, MIOfAEL/ROLLBERG, RoLAND: Zur Angelsächsischen Bewertungstheorie als Mitursache der Finanzkrise, in: Corporate Govemance, Risk Management und Compliance - Innovative Konzepte und Strategien, hrsg. von FRANK KEUPER und FRITZ NEUMANN, Wiesbaden 2010, S. 36. Vgl. KÜTING, KARLHEINZ/LAUER, PETER: Der Fair Value in der Krise, BFuP 2009, S. 561 f. Vgl. SCHILDBACH, THOMAS: Fair Value - Leitstem für Wege ins Abseits, DStR 2010, S. 69; KÜTING, KARLHEINZ/LAUER, PETER: Der Fair Value in der Krise, BFuP 2009, S. 557.
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aufgebläht wird. Fallende Preise in der Baisse ziehen drei Effekte nach sich:142 Zunächst erfolgt eine Abschreibung auf den niedrigeren Zeitwert, die höher ist als eine Abschreibung, welcher unter der Ägide des Anschaffungskostenprinzips vorzunehmen wäre. Zum zweiten zwingt der sich verringernde Eigenkapitalbestand ein Unternehmen dazu, Vermögenspositionen zu veräußern, was zu einer Abwärtsspirale mit immer weiter fallenden Marktpreisen und damit zu einem weiteren Sinken des Eigenkapitalbestands führt.t 43 Drittens kann dies zu einem Austrocknen vormals aktiver Märkte führen, was das Abstellen auf Fair Value-Surrogate notwendig macht, deren Problematik hinsichtlich einer verlässlichen Ermittlung bereits an anderer Stelle dieses Beitrags thematisiert wurde. c)
Reaktion des IASB auf die Krise
"Die Finanzmarktkrise hat mit den prozyklischen Effekten der Fair ValueBewertung eine Schwäche der Bewertungsregel aufgedeckt. Das IASB und die EU haben sich jedoch handlungsfähig gezeigt und die Wirkungskette unterbrochen".144 Jene euphemistische Beschreibung der partiellen Aufhebung der Fair Value-Bewertung durch den IASB in Folge der Finanzmarktkrise übersieht, dass das Eingreifen einer Bankrotterklärung der Fair ValueBewertung gleichkommt. Auf Drängen der Politik hat der IASB mehrere Veröffentlichungen herausgegeben, v.a. zur Bewertung bei Vorliegen nicht aktiver Märkte und zur Umgliederung bestimmter Finanzinstrumente mit der Folge einer Bewertung dieser Finanzinstrumente zu fortgeführten Anschaffungskos-
142
Vgl. hierzu und zum Folgenden HERING, THOMAS/OLBRICH, MrCHAEL/ROLLBERG, ROLAND: Zur Angelsächsischen Bewertungstheorie als MituIsache der Finanzkrise, in: Corparate Govemance, Risk Management und Compliance - Innovative Konzepte und Strategien, hrsg. von FRANK KEUPER und FRITZ NEUMANN, Wiesbaden 2010, S. 37.
143
Vgl. auch KÜTING, KARLHEINZ/LAUER, PETER: Der Fair Value in der Krise, BFuP 2009, S. 557; SCHWEITZER, MARCELL: Wirtschaftsunruhe und Rechnungsrisiken, in: Rechnungslegung und Unternehmensführung in turbulenten Zeiten, Festschrift für Gerhard Seicht, hrsg. von HERBERT R HAESELER und FRANZ HÖRMANN, Münster 2009, S. 145; DROST, FRANK M./KÖHLER, PETER: Modifizierte Bilanzregeln entlasten, Handelsblatt vom 14.10.2008, S. 24.
144
GELEN, PAULUS: Die fair value-Bilanzierung von Finanzinstrumenten in der Finanzmarktkrise, PiR 2010, S. 194.
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ten anstelle des Fair Value.l 45 Nur diese Maßnahme vermochte die oben skizzierte Abwärtsspirale zu bremsen, waren doch die Unternehmen mit der immer häufiger anzustellenden Approximation von Marktwerten mittels Bewertungsverfahren überfordert. KÜTING/LAUER werten die Maßnahme des IASB als "Eingeständnis der Verantwortlichen [... ], dass die Zeitwertbewertung
spätestens im Zuge einer Krise deutlich an ihre Grenzen stÖßt"146. Nach dem geplanten IFRS 9 soll die Bilanzierung von Finanzinstrumenten vereinfacht werden, grundsätzlich wird es nach wie vor bei der Fair Value Bewertung bleiben.w Die nächste Finanzkrise wird zeigen, ob die Fair ValueBewertung in dieser wenig veränderten Form krisensicherer ist. Sofern an der Fair Value-Hierarchie keine Veränderungen vorgenommen werden, werden Unternehmen auch in Zukunft mit der krisenbedingten Flut von Bewertungssurrogaten überfordert sein und erneut eine Bilanzierung zu Anschaffungskosten verlangen. Sofern dieses Spiel zur Regel wird, könnte sich daraus das Bild der "faktischen Fair Value-Bewertungshierarchie" ergeben. Die Bewertungskonzeption stellt sich schließlich so dar, dass Veränderungen über die Anschaffungskosten in der Hausse regelmäßig in Bilanz und GuV dargestellt werden, negative Abweichungen von den Anschaffungskosten dagegen aufgrund des dann greifenden Anschaffungskostenprinzips greifen. Dies käme der Umkehrung des Imparitätsprinzips deutschen Verständnisses gleich.
3.4
Ergebnis und Ausblick
Die internationale Rechnungslegung hegt den Anspruch, entscheidungsnützliche Informationen bereitzustellen, die Investoren in die Lage versetzen, ih-
145
Vgl. hierzu IASB: Using Judgement to measure the Fair Value of Financial Instruments when Markets are no longer active - an IASB staff Summary, abrufbar unter http://www.iasb.org; IASB:Reclassification of Financial Assets - Ammendments to IAS 39 Financial Instruments: Recognition and Measurement and IFRS 7 Financial Instruments: Disclosure, abrufbar unter http://www.iasb.org.
146
KÜTING,
147
Vgl. BERNDT,THOMAS/EBERLI, PETER: Die Fair-Value-Konzeption des IASB - Aktueller Stand und künftige Entwicklung, ST 2009, S. 897; GELEN, PAULUS: Die fair valueBilanzierung von Finanzinstrumenten in der Finanzmarktkrise, PiR 2010, S. 194.
KARLHEINZ/LAUER, PETER: Der Fair Value in der Krise, BFuP 2009, S. 560.
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nen zukünftig zufließende Cashflows besser abschätzen zu können. Zu diesem Zweck sieht sie eine auch nach den Erfahrungen durch die Finanzkrise eine (zunehmende) marktwertorientierte Zeitbewertung für Vermögenswerte und Schulden vor, denen im Vergleich zu historischen Anschaffungs- und Herstellungskosten eine höhere Entscheidungsrelevanz attestiert wird. Selbst das dabei avisierte Ideal eines Juli fair value accountings kann allerdings nicht die gewünschten Informationen bieten: Eine Bilanz zu Zerschlagungswerten und das daraus gebildete comprehensive income sowie dessen Veränderung im Zeitablauf können nicht den Unternehmenswert und dessen Entwicklung im Zeitablauf widerspiegeln. So kann weder in Bezug auf die Vermögenslage noch in Bezug auf die Ertragslage von relevanten Informationen die Rede sein. Eine nur teilweise Bewertung bestimmter Vermögenswerte und Schulden (mixed model) liefert die gewünschten Informationen erst recht nicht. Da für den Großteil der Vermögenswerte und Schulden eine marktorientierte Bewertung nicht möglich ist, erfolgt die Ermittlung des Fair Value über Surrogate, welche dem Bilanzierenden weite Ermessensspielräume eröffnen. Die so ermittelten Fair Values sind wenig verlässlich und konterkarieren das Postulat der internationalen Rechnungslegungsnormen einer Entscheidungsnützlichkeit für diejenigen Bilanzierungsfelder, denen keine marktbasierte Bewertung zugrunde liegt. Dies führt dazu, dass Bilanzadressaten die aus ihrer Sicht wenig verlässlichen Informationen nicht in ihre Entscheidungsgrundlage mithineinbeziehen. Stattdessen greifen sie auf andere Informationskanäle zu, wobei ihnen dabei eine objektive Beurteilung der Unternehmenslage erschwert wird, da die jeweiligen Informationen durch das Management manipuliert sein könnten. So wird von mancher Seite ein partielles fair value accounting favorisiert, ausschließlich für jene Vermögenswerte und Schulden, denen ein verlässlich zu ermittelnder Marktpreis zu Grunde liegt. Wie bereits festgestellt, erlaubt ein partielles fair value accounting keine Rückschlüsse auf den Wert eines Unternehmens. Dem daraus gewonnenen Informationsnutzen bzgl. der Vermögenslage steht die Ergebnisvolatilität und der damit verbundene Ausweis unrealisierter Gewinne gegenüber.
Heinz KußmauVChristoph Ruiner/Dennis Weiler
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Sofern verlässlich bestimmbare Zeitwerte gewünscht sind, könnte deren Bereitstellung im Anhang dem Informationsbedürfnis verschiedener Investoren genügen. Diese Vorgehensweise hielt das Ergebnis von unrealisierten Gewinnen rein, schaffte mehr Verlässlichkeit der Bilanz- und GuV-Zahlen durch eine geringere Manipulationsanfälligkeit und informierte Bilanzadressaten in gleicher Weise über die Vermögenslage.
4.
Fazit
Im vorliegenden Beitrag wurden die Konsequenzen der Globalisierung und Europäisierung an den Tatbeständen des europäischen Insolvenzrechts und des europäischen Bilanzrechts aufgezeigt. In beiden Fällen ergibt sich eine Komplexitätssteigerung des Rechts insgesamt, was automatisch auch Gestaltungen im immer komplexer werdenden Recht nach sich zieht. Wenn dabei noch der Verlust traditioneller Werte quasi automatisch realisiert wird, wie man insbesondere beim Übergang auf den Fair Value und dem damit verbundenen Verlust des Typus des ehrbaren bzw. ordentlichen Kaufmanns sieht, dann stellt sich die Frage, ob unternehmerisches Verhalten sich im Sinne von Ethik und damit von Anstand automatisch ergibt, oder ob nicht die rechtlichen Regelungen in dem Sinne gestaltet werden müssen, dass ethisches Verhalten gefördert und zurecht auch gefordert wird. Gerade im Zusammenhang mit dem Zusammenwachsen Europas zeigt sich eine klare Folge dergestalt, dass nicht alle Vereinheitlichungen förderlich sind. Zu Recht weist LUTIERMANN darauf hin, dass die Bilanzrechtsreform "eine Operation am Rückgrat der Unternehmen" ist, und dass speziell die IFRS (for SMEs) geradezu verheerende Wirkungen nach sich ziehen.l 48 Sein Hinweis darauf, dass Rechnungslegung ein Rechtsakt und keine Marketingshow sei, kann nur nachhaltig unterstützt werden. Wenn man ethisches Verhalten fördern will, kann man nicht den immerwährenden kaufmännischen Anstand ohne eine entsprechende rechtliche Fundierung zugrunde legen. Das Recht
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LUTIERMANN, CLAUS: Europäisches Bilanzrecht für mittelständische Gesellschaften: IFRS
(for SMEs) als Reformkonzept?, RIW 2010, S. 424.
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seinerseits muss allerdings auch Traditionen beachten, die es dem Betroffenen gestatten, sich auf dessen Grundlage mit allem ihm inhärenten Anstand zu berufen.
Über die Autoren:
Univ.-Professor Dr. Heinz Kußmaul ist Direktor des BLI (Betriebswirtschaftliches Institut für Steuerlehre und Entrepreneurship, Lehrstuhl für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, insb. Betriebswirtschaftliehe Steuerlehre, Institut für Existenzgründung/Mittelstand) an der Universität des Saarlandes. Er war bis 1987 wissenschaftlicher Assistent bei Professor Dr. Dr. h. c, mult. Günter Wöhe an der Universität des Saarlandes (dort Promotion im Jahr 1983 und Habilitation im Jahr 1987). Von 1987 bis 1989 hatte Prof. Kußmaul den Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Betriebliche Steuerlehre an der Universität Bielefeld inne. In den Jahren 1989 bis 1993 war er Inhaber des Lehrstuhls für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Finanzierung und Investition/ Betriebswirtschaftliehe Steuerlehre, an der Universität Kaiserslautern. Er nahm 1993 den Ruf auf den Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Betriebswirtschaftliche Steuerlehre an der Universität des Saarlandes an. Im Rahmen seiner Arbeit war Prof. Kußmaul unter anderem als Prodekan der
Fachrichtung Wirtschaftswissenschaft der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät (1996 bis 1998) und als Vizepräsident für Planung und Strategie (2003 bis 2005) tätig. Er ist außerdem Leiter der Wirtschaftswissenschaftlichen Seminarbibliothek und Vorstandsvorsitzender des Studentenwerks des Saarlandes.
Dipl.-Kfm. Christoph Ruiner und Dipl.-Kfm. Dennis Weiler sind wissenschaftliche Mitarbeiter am Lehrstuhl für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, insb. Betriebswirtschaftliche Steuerlehre der Universität des Saarlandes.