Terra Astra 53 / 620
H. K. Bulmer
Die andere Dimension
Erster Roman aus dem Dimensions – Zyklus
1. Sein Leben lang...
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Terra Astra 53 / 620
H. K. Bulmer
Die andere Dimension
Erster Roman aus dem Dimensions – Zyklus
1. Sein Leben lang war es ihm ganz vage bewußt, daß von seinen Sachen immer grundlos etwas verschwand. Man erzählte sich lachend, bei seiner Taufe sei das Taufwasser aus dem Becken verschwunden. „Einfach in der Hitze vertrocknet, mein Lieber!“ Das war die offizielle Erklärung, aber trotzdem war die Sache recht merkwürdig. In der Schule konnten es seine Lehrer niemals verstehen, daß Prestins Bücher, Lineale, Bleistifte und andere Utensilien einfach nicht da waren, oder warum die Klassenzimmer, in denen er unterrichtet wurde, immer recht knapp an Lehrmaterial waren. Da er die eine Hälfte seiner Schulzeit in den Vereinigten Staaten, die andere in England verbrachte, erwarb er sich sein Wissen eher durch Erfahrung als durch akademische Methoden und Regelmäßigkeit. Jetzt war er ein erwachsener Mann, ging auf dem Flugplatz von London zu einem wartenden Jet hinaus und hatte einen Job, nach dem er eigentlich nie verlangt hatte. Schon als kleiner Junge hatte er gewußt, was er werden wollte. Pilot, wie sein Vater. Sein Name, Robert Infamy Prestin, war natürlich eine erbarmungslose Gemeinheit gewesen. Was man mit seinen Initialen alles anstellte! Sie waren ja auch wirklich verlockend, und deshalb hatte er sie - R.I.P - auch auf der Innenseite des Kofferdeckels anbringen lassen. Für einen Piloten wären sie natürlich besonders verführerisch gewesen, ja, von einem recht makabren Humor. Doch darüber hatte er sich eigentlich auch nie Gedanken gemacht. Jeder seiner wachen Gedanken nahm Schwingen an, trug ihn in den blauen Himmel hinauf, kurvte mit ihm durch die unendlichen Weiten und machte ihn glücklich. Sonst war ihm alles ziemlich gleichgültig. Mädchen hatten ihn zum Beispiel nie sonderlich interessiert. Und als das dunkelhaarige Mädchen mit den endlos langen Beinen unter dem Minirock daherkam, um an Bord zu gehen, war er der einzige Mann, der das unübersehbare hübsche Ding übersah. Ihm war der schlanke Rumpf der Trident mit dem lang ausgezogenen Schwanz viel wichtiger. Ehe Prestin sich setzte, zählte er noch einmal sein Handgepäck nach. Das war eigentlich eine Zeitverschwendung, wenn sie ihm auch nicht zu Bewußtsein kam. Er zeigte weder Erstaunen noch das Gegenteil, weil seine Sachen noch vollzählig waren - die Reiseschreibmaschine, das Diplomatenkofferchen, das Tonbandgerät, die Illustrierten. Möglich, daß ihm die eine oder andere Zeitschrift fehlte, doch das war unwichtig Sein Interesse galt der Ausstellung in Rom. Italien wärmte ihn immer körperlich, seelisch und - das aber nur ganz vorsichtig zugegeben - geistig Als Journalist mit dem Fachgebiet Luftfahrt hatte er in der fliegenden Welt einen Platz gefunden, da er nicht besonders gut sah, -wäre sie ihm sonst verschlossen geblieben Niemals würde er den Schrecken seiner ersten
Zurückweisung vergessen! Die RAF, sagte man ihm in aller Freundlichkeit, aber unmißverständlich, brauche junge Männer mit tadellosen Sehvermögen Und dabei hatte er alle anderen Tests vorzüglich und mit Leichtigkeit bestanden. Nun hatte er eine randlose Brille auf der Nase und suchte aus seinem Zeitschriftenpack die Flying Review heraus Lesen wollte er sie später Im Moment brauchte er sie nur zur Tarnung seiner körperlichen Reaktionen, als der Jet unter ihm lebendig wurde Jemand setzte sich auf den Platz neben ihm, und automatisch ruckte er zur Seite, obwohl das bei dem Luxus der Trident gar nicht nötig gewesen wäre Ah, Rom muß jetzt herrlich sein1 Noch nicht zu heiß, obwohl er sich in der Hitze aalte und noch lange Pullover trug, wenn seine mehr der Zeit angepaßten amerikanischen Freunde schon längst ihre superleichten Anzüge hervorgeholt hatten, die die Hitzewellen New Yorks erträglicher gestalteten Die Kälte machte ihm aber, wenn er auch die Hitze bevorzugte, ebensowenig aus, und er ging noch immer im sommerlichen Regenmantel aus dem Haus, wenn seine Freunde schon langst in schwere Wintermäntel und dicke Schals gehüllt waren Leider hatte ihm seine klimatische Duldsamkeit auch bei der U S A F nichts genutzt Dort wollten sie - wie bei der RAF - Männer, die auch sahen, wohin sie flogen Prestin hatte sich allmählich mit der doppelten Zurückweisung und der zweifachen Enttäuschung abgefunden Er konnte schreiben, verfaßte interessante Sachen über die Fliegerei und flog eben als Passagier, wenn sich die Gelegenheit dazu bot. Richtig und selbst geflogen war er dagegen nie, denn die paar flachen Hopser in einer Tiqermotte konnte man nicht als Fliegen bezeichnen, auch wenn man das Diplömchen in der Tasche hatte, das einem einen Alleinflug bescheinigte. Alte Hasen, die es wissen mußten, schwärmten aber immer davon, daß einem ein Tigermottchen ein ganz anderes Fluggefühl bescherte als eine Lightning oder Phantom Er konnte da nicht mitreden, denn ihm fehlte die Vergleichsmöglichkeit Eines seiner dicken Magazine plumpste auf den weichen Teppich Er bückte sich, um es aufzuheben, und wurde sich vage weißer Netzstrumpfe bewußt, m denen lange, schlanke Beine steckten, die überhaupt nicht mehr aufzuhören schienen Er schaute nach oben, lief rot an und sah, daß dunkelbraune Augen und ein rundes, keckes Gesicht zu ihm herunterlachten Er war unendlich verlegen und kam sich vor wie ein Schüler „Das ist eben der Arger mit diesen verdammten Röcken , sagte sie und zupfte an dem quantitativ nicht erwäh nenswerten Ding herum, wenn es auch nichts nutzte Dabei ließ sie ihre Handtasche los, die auf Prestin fiel, so daß er sie auch noch auffangen mußte „Oh, vielen Dank1 Würden Sie nicht doch besser wieder aufstehen? Ich furchte, sie könnten sich das Rückgrat verbiegen, wenn Sie sich lange so zusammenkauern „ Wie eine Marionette richtete er sich auf Diesmal fiel ein anderes Magazin herunter, aber das ließ er liegen Oh ah Entschuldigen Sie „, begann er, wußte aber nicht, was er sonst noch sagen sollte „Alf, lassen Sie's. Das Leben ist viel zu kurz, um dauernd Entschuldigungen zu murmeln“ Die Trident bellte etwas, rumpelte ein paar Momente lang, hob die Nase und katapultierte sich in die Luft Alles in der Luxuskabine lehnte sich entspannt zurück. Bob Prestin begann allmählich über das neben ihm sitzende Madchen nachzudenken Er konnte sich nicht vorstellen, was sie sein konnte denn von Modellen, Sekretärinnen, Filmstars und Assistentinnen von berühmten Fotografen hatte er nur recht nebelhafte Vorstellungen Sie schien ein bißchen mehr zu sein Das war jedenfalls reizend und lenkte ihn vom Flugzeug ab Daß er sich nicht mit Mädchen befaßte, hieß noch lange nicht, daß er nicht wußte, wofür sie da sind Sie standen nur auf seiner Prioritätenliste ziemlich weit unten Ganz verstohlen musterte er das Madchen und beschloß, dieses eine auf jener Liste ein paar Nummern höher zu setzen Das schien ihm angebracht zu sein Schließlich hatte ein Mann von kaum Dreißig gewisse Privilegien Die Trident schoß fröhlich vor sich hin Pfeifend die Luftstraße entlang, die London verließ, tat einen leichtfüßigen Sprung über den Kanal, prustete ein bißchen m den europäischen Festlandswind und freute sich auf Rom, die erste Zwischenstation Was hatte sie damit gemeint, daß sie ihn Alf nannte1? Damit konnte Prestin gar nichts anfangen In London besuchte er die Modekneipen, er kannte sich mit der Schickeria ziemlich aus und lieferte ihr ein Brust-an-Brust-Rennen, er zog sich gut an, wenn auch vielleicht eine Spur weniger bunt als viele seiner Freunde, er tat eigentlich überall mit, aber der Name war ihm noch nicht untergekommen Alf. Beliebt war doch eigentlich Fred. Aber Alf? Nie! Die Stewardessen bemühten sich außerordentlich, höflich zu ihm zu sein, doch unüblich war das nicht Es pas sierte ihm recht oft daß sie ihn, die eins-fünfundachtzig Muskeln und Sehnen, wie einen kleinen Jungen bemutterten, der sich verlaufen hat Ja, genau so Und schon bei dem Gedanken daran wand er sich vor Unbehagen Wenn das Vogelchen neben ihm auch den Ehrgeiz haben sollte, ihn zu bemuttern, dann mußte er ihm ganz entschieden dieses Zahnchen sofort ziehen „Waren Sie schon mal in Rom? fragte sie und blinzelte ihn unter langen, dichten, violetten Kunstwimpern an, die recht gut angeklebt zu sein schienen Ihr Gesicht war mit äußerster Sorgfalt nach den derzeitigen Modevorschriften zurechtgemacht - stark betonte Augen, ungepuderte Nase, lackschimmernde Lippen „Ja“, antwortete er und wendete ruckartig seinen Blick von ihrem Gesicht ab. Armes Ding, dachte er mitleidig Wäre so nett, und wie mißhandelt sie ihr Gesicht „Oh, natürlich war ich schon öfter in Rom“.
, Es ist meine erste Reise Wie ich mich freue! Ah, Sie ahnen nicht, wie ich mich freue“. „Wirklich?“ meinte er höflich. Ihre frische Offenheit amüsierte ihn. Ihre Stimme war hoch und klar Sie trug eine kurze, dunkelbraune Lederjacke und rutschte nun herum, um sie auszuziehen. Zum Vorschein kam ein meergrünes, silbernes und staubrosa schimmerndes Kleid, das Prestin sofort gefiel. Er half ihr, die Jacke auszuziehen, und wartete, bis seine Nachbarin sich wieder gemütlich zurückgelehnt hatte. Warum hatte sie sich ausgerechnet neben ihn gesetzt? Auf der anderen Seite des Mittelganges entdeckte er noch ein blondes, ziemlich hübsches Mädchen mit dem gleichen uniformen Make-up. Sie hatte als Nachbarn einen dunkelhaarigen Mann in unverdächtigem, geschäftsmäßigem Grau mit einer dicken, horngefaßten Brille auf der dünnen, verkniffen wirkenden Nase. Prestin hatte sich nie mit den Kinkerlitzchen der modernen Welt belastet, wenn sie nicht zu ihm paßten. Die Idee, sich das Gesicht mit einer schweren Brille zu beladen, weil man damit eindrucksvoller und tüchtiger aussähe, amüsierte ihn. Uniformen gehörten zu uniformierten Geistern. Er trug seinen dunkelgrauen Reiseanzug, weil er ihn gern hatte, weil er bequem war. Seine Nachbarin suchte in ihrer Handtasche herum und brachte schließlich ein Päckchen Zigaretten und ein kleines edelsteinbesetztes Feuerzeug zum Vorschein. Sie bot Prestin eine Zigarette an, „Nein, danke“, sagte er. „Ich habe das Rauchen aufgegeben.“ „Aha“, meinte sie, „das erklärt einiges.“ „Einiges was?“ „Ich hielt Sie für einen Amerikaner, dann aber für einen Engländer. Sie ...“ Es amüsierte ihn, daß das Mädchen diese Zweigleisigkeit bemerkt hatte, und er antwortete schnell, er sei beides. „Da haben Sie aber Glück“, bemerkte sie und schnippte mit dem Feuerzeug. „Ja“, pflichtete ihr Prestin ehrlich bei, „Ich bin Fritzi Upjohn.“ Das war als förmliche Vorstellung gedacht. „Robert Prestin“, erwiderte er im gleichen Ton. Mühelos trugen die Triebwerke der Trident das große Flugzeug in die oberen Luftschichten hinauf. Der behagli che Luxus der Kabine ließ einen Vergleich mit den propellergetriebenen Maschinen der Vergangenheit ange bracht erscheinen. Sein Vater hatte ihm oft von jenen Zeiten erzählt. „Die Luftfahrt entwickelte sich fast allzu schnell, Bob. Zum Glück gab es immer weitblickende, vernünftige Leute, und so wurstelten wir uns gerade noch durch. In Zukunft werdet ihr nicht mehr viel Gelegenheit zum Durchwursteln haben. Ein einziges Fehlerchen, und boing! ist der ganze Planet im Eimer.“ Selbst der junge Prestin hatte schon gewußt, daß er nie aus Angst oder Unvernunft den Realitäten gegenüber die Augen schließen würde. Er hatte die Ablehnung der R.A.F. hingenommen und war gleichmütig geblieben. Aber jetzt dieses Mädchen Fritzi Upjohn, das lange Beine hatte und ein von Make-up verunstaltetes hübsches Gesicht... Fritzi Upjohn repräsentierte ein Lebensgebiet, dem er sich bisher nicht gestellt hatte. Die Reise ging weiter, und er unterhielt sich auf seine etwas steife, förmliche Art mit dem Mädchen. Sie erzählte, sie sei Modell, und ihr Job sei alt und vorbei, eine Legende und so weiter. Jung, wie sie war - älter als zwanzig konnte sie gar nicht sein -, blubberte sie fast vor Lebhaftigkeit, Selbstvertrauen und quirliger Beobachtungsfreude. Prestin fand, daß sich in seine Gedanken fast so etwas wie Ehrfurcht stahl. Sie nahm sich nicht die Zeit, nach seiner Beschäftigung zu fragen; die Magazine hatten ihr da vielleicht schon einen Tip gegeben. „Ich sage immer, drei Maschinen sind besser als nur zwei, und vier sind sicherer als drei“, bemerkte sie. „Aber ich bin ja nur ein zahlender Fluggast, und meine Ansichten zählen in der Welt der Technik nicht.“ Prestin lächelte. „Ich bin auch nur ein zahlender Fluggast. Oder, um genau zu sein, ich bin ein Fluggast, dessen Ticket bezahlt ist. Ich ziehe auch mehr als ein Triebwerk vor. Aber wenn uns die Jungen von Technik und Wissenschaft sagen, daß zwei genügen, dann müssen wir's wohl glauben.“ „Mir läuft dabei ein Schauer über den Rücken.“ Das demonstrierte sie auf eine Art, die Prestin sehr interessant fand. „Denken Sie nur mal“, sagte sie seufzend und machte eine dramatische Handbewegung dazu. „Vier- oder fünfhundert Menschen wie im Oberstock eines Busses zusammengepfercht, und eine von diesen großen Maschinen bleibt plötzlich stehen oder so. Nun, das Flugzeug würde doch ...“ „Sich umdrehen?“ .Kerasch-bumm würde es machen, Alf, und spaßig fände ich das gar nicht.“ „Ich auch nicht. Aber sie garantieren für die Triebwerke.“ „Ja, das glaube ich schon, und ich mag schon gar nicht mehr über Flugzeuge reden. Sprechen wir lieber von Ihnen oder von mir oder von gar nichts.“ Sie lehnte sich zurück und schloß die Augen; dabei führten die Wimpern mit winzigen Flatterbewegungen ein interessantes Eigenleben. Sie sah sehr jung und hilflos aus und konnte noch nicht lange flügge sein, obwohl Prestin zu wissen glaubte, daß sie die Krallen nur vorübergehend eingezogen hatte. Fast immer genoß Prestin das Fliegen, wenn die Stewardessen mit ihren Essenstabletten kamen, dann verzehrte er seine ausgezeichnete Bordmahlzeit meistens mit sehr viel Appetit. Er war froh, als Fritzi die Augen aufmachte und ihr Tablett in Empfang nahm. Er wußte, daß sie wirklich geschlafen hatte, aber wenn sie Schlafen nur gespielt hätte, wäre er ihr auch nicht allzu böse gewesen. Er aß diesmal, ohne genau zu wissen, was er aß, denn das Mädchen interessierte ihn ungemein. Sie war ein wenig verschlafen und ein bißchen erregt und speiste mit großem Appetit. Anscheinend hatte sie keine Ahnung
von dem, was er dachte. Warum auch? Auf einem Luxus-Direktflug nach Rom, der gutes Essen und Trinken bot
und an dessen Ende allerhand angenehme Abenteuer ihrer warten mochten, war es verständlich, daß sie nur mit
sich selbst beschäftigt war.
Jetzt hatte sie noch keine Zeit für ihn. Nein, jetzt noch nicht. Vielleicht später, wenn sie Ciampino-West hinter
sich hatten und sich durch Rom treiben ließen; neue Köstlichkeiten genoß man wohl am besten mit einem
Gefährten. Robert Infamy Prestin sah voll sardonischem Vergnügen, welche Wege sie einschlagen würde, aber
er konnte sie nicht davon abhalten.
Bald würden sie in das Luftkarussell über Ciampino-West einschwenken und dann zu einer samtweichen,
narrensicheren Trident-Landung ansetzen. Worüber sollte er sich nur mit einem jungen Mädchen unterhalten,
das er vor wenigen Stunden noch nicht einmal gekannt hatte? Verdammt, wenn man auf diesem Gebiet keinerlei
praktische Erfahrung hatte! Er mußte sich etwas einfallen lassen; vielleicht konnte er mit ihr über die Trident-
Landung reden, die mit automatischer, unfehlbarer Präzision ablaufen würde. Als er noch darüber nachdachte,
verließ Fritzi ihren Sitz und ging, um ihre Nase zu pudern. Er lachte vor sich hin, weil ihre Nase ungepudert war,
und er freute sich darauf, daß seine Nachbarin bald zurückkäme.
Das blonde Mädchen lehnte sich ein wenig in den Mittelgang, schaute nach hinten und lachte Prestin an.
„Ich habe gar nicht gesehen, daß Fritzi aufstand'', sagte sie mit ein wenig heiserer Stimme. „Ich hörte Sie beide
reden, aber wir müssen uns doch bald anschnallen, nicht wahr?“
„Keine Angst, Sibyl“, brummte der mit der dicken Hornbrille. „Du kennst Fritzi doch. Verrückter als ein
Märzhase. Die Stewardeß wird's ihr schon beibringen.“
„Das hoffe ich wenigstens“, antwortete Sibyl. Sie ließ sich in ihren Sitz zurückfallen und streckte kurze,
stämmige Beinchen aus, die in den Netznylonstrümpfen und unter dem superkurzen Minirock eine zum Lachen
reizende Parodie auf Fritzis lange, elegante Beine waren. Aber diese Sibyl schien sonst ein netter Käfer zu sein
und Fritzi gern zuhaben. Seine Theorie, daß sie allein reise und er daher gewisse Pläne schmieden könne, fiel in
sich zusammen wie ein Hefeteig unter einem Kälteschock.
Er beugte sich ein wenig vor und sah an Sibyl vorbei zu dem Mann mit der Hornbrille hinüber. Er sah aus wie
ein durchaus unerfreulicher Zeitgenosse, und das Wort stimmte haargenau. Aufgeblasen. Ein Luftikus. Mit
seiner hohen Stirn, dem dünnen blonden Haar und der fast obszön wirkenden großen Nase sah er wirklich richtig
aufgeblasen aus. Seine Haut war mit winzigen dunkelschattierten Löchern durchsetzt und wirkte wie eine
Orangenschale. Auch das Gesicht hatte fast eine orangene Schattierung. Sonst fiel es Prestin nicht im Traum ein,
sich über die Hautfarbe eines Mannes Gedanken zu machen,
aber die hier war doch allzu komisch und deutete auf Dinge hin, über die er sich noch nicht klar geworden war;
jedenfalls unangenehme Dinge, die seine Abneigung erklärten.
Fritzi kam nicht wieder zurück.
„Wo kann sie denn nur sein?“ fragte Sibyl besorgt.
Prestin fand es merkwürdig. Jeden Augenblick mußte die Maschine in die Wartezone vorstoßen, und dann
mußten sie sich anschnallen. Fritzi war ja sicher ein sehr unkonventionelles Mädchen, vielleicht sogar ziemlich
ausgelassen, worauf schon das ultrakurze Röckchen hindeutete; da mußte man sich auf allerhand gefaßt machen.
Aber das hier war nun doch wirklich eine ernste Angelegenheit. Die Stewardeß ging vorbei, warf einen Blick auf
den leeren Platz, legte die Stirn in Falten und sah Sibyl fragend an.
„Nein, ich glaube nicht“, sagte Sibyl
„Ich werde nachsehen“, versprach du Stewardeß in ihrer tüchtigen Art und ging ein wenig schwankend den
Mittel gang entlang.
Ein paar Augenblicke später kehrte sie zurück und schüttelte den Kopf „Dort ist sie nicht. Seltsam, sehr seltsam.
Ich habe alles durchsucht. Wo könnte sie nur sein?“ Die tüchtige, praktische Stewardeß fand das äußerst
bestürzend. „Ich muß es dem Kapitän melden. Er wird wissen, was da zu tun ist.“
Das Flugzeug befand sich schon fast über Ciampino, aber der Kapitän kam trotzdem. Er war mittleren Alters,
hatte ein gefurchtes Gesicht und wurde in der Taille schon etwas füllig. Sein Gesicht war rund, ernsthaft und
zeugte von Hingabe an seine Arbeit. Er unterhielt sich mit der Stewardeß über alle Orte, die in Frage kamen. Ein
paar Leute drehten sich nach ihnen um. Die Unterhaltungen nahmen vertraulichen bis verschwörerischen
Charakter an. Die Trident pfiff weiterhin fröhlich vor sich hin, und der Kapitän gab immer kürzere Antworten.
„Nein, die Luke wurde nicht geöffnet. Die Türen sind alle fest verriegelt. Wir müßten es ja bemerkt haben. Der
Luftdruck ist absolut normal.“
„Sie muß doch irgendwo ...“
Eine Angst, die Prestin einen kalten Schauer über den Rücken jagte, griff nach ihm. „Sie meinen also“, fragte er
scharf, „daß sie irgendwo verloren gegangen sein müßte?“
„Nun ja“, meinte dazu die Stewardeß, die Prestin für einen Wahnsinnigen hielt. „Nun ja, natürlich, Sir.“
„Fritzi würde nie aus einem Flugzeug springen!“ Sibyl schien diesen Gedanken als persönliche Beleidigung
aufzufassen. „Natürlich würde sie niemals ...“
„Sie könnte auch gar nicht.“ Der Kapitän hatte es satt, davon zu hören, daß einer seiner Fluggäste aus der
Maschine springen könnte. „Sie ist irgendwo an Bord. Und wenn sie uns einen Streich spielt und ich finde sie,
dann... dann...“
„Falls“, sagte Prestin leise. „Falls sie noch an Bord ist.“
Von diesem Augenblick an wurde die Trident immer wieder bis in den allerhintersten Winkel durchsucht, bis sie
zu einer ihrer berühmten samtweichen Landungen ansetzte und ausrollte. Man suchte noch immer, als die
Fluggäste schon von Bord gegangen waren.
Keine Fritzi.
Weg.
Verschwunden.
Nicht mehr auf der Liste der Fluggäste
„Aber sie kann sich doch nicht spurlos in Luft aufgelöst haben“, murmelte eine Sibyl.
„Das kann sie natürlich nicht“, antwortete Prestin. „Doch das hat sie.“
2. Irgendwann schlossen die Polizisten ihre Erhebungen ab.
Irgendwann später verschwanden auch die Reporter.
Und irgendwann noch später sagte man den Fluggästen ein wenig widerstrebend, sie könnten jetzt gehen.
Und noch sehr, sehr viel später und nach einer sehr anstrengenden, harten Zeit konnte Prestin endlich daran den
ken, den versäumten Schlaf nachzuholen.
Niemand wußte, wo Fritzi Upjohn war. Alle stimmten darin überein, daß man das wohl nie herausbekommen
würde. Suchgruppen durchfilzten das ganze letzte Stück der Flugschneise. Man gab ihnen keine
Erfolgsaussichten. Ein einzelner, zerbrechlicher, langbeiniger Körper, der aus beträchtlicher Höhe vom Himmel
herunterfällt, läßt kaum mehr eine Identifizierung zu. Aber irgend etwas konnte man doch vielleicht finden.
Unermüdlich wurde weitergemacht. Und Robert Infamy Prestin legte sich schlafen.
Er versuchte es wenigstens. Schließlich gab er auf. Es war alles umsonst. Statt dessen ließ er sich von einem ver
schlafenen Hotelportier eine große Kanne Kaffee besorgen. Ja, so ging es - kleine Morgenstunden, kleine
Gefühle, große Probleme. Hätte er nur nicht das Rauchen aufgegeben!
Am Morgen nach einer Nacht, die nur noch ein kleines Endchen davon war, mußte er sich aufraffen, um zur
Ausstellung zu gehen, wo er klug über Entlastungsjets, Leistungsquoten, V.G. S.T.O.L. und alle möglichen
anderen Stenoworte seiner Branche zu reden hatte. Er ließ sich in einen Armsessel zurückfallen und sah sich
mißmutig in seinem bequemen Hotelzimmer um. Er fühlte sich sehr bedrückt. Fritzi war in sein Leben geplatzt,
hatte die Andeutung eines Versprechens mitgebracht, daß vielleicht doch noch ... Und jetzt war sie weg. Weg.
Ganz einfach weg.
Aber wo war sie?
Es ist doch nicht möglich, daß Leute ganz einfach aus Flugzeugen verschwinden. Sie müssen doch wenigstens
die Andeutung einer Spur hinterlassen, wie und wohin sie verschwunden sind.
Hundertmal mindestens hatte man ihn gefragt, ob er gesehen habe, wie sie aufstand. NEIN ER HATTE ES GAR
NICHT BEMERKT DASS SIE AUFGESTANDEN WAR! Ja, daran konnte er sich erinnern, daß sie etwas
gesagt hatte, etwas Unverbindliches, und er hatte ebenso unverbindlich darauf geantwortet. Aber beide hatten um
die Zeit ein wenig vor sich hingedöst und sich damit von der Außenwelt abgeschlossen. Nein, er hatte es nicht
bemerkt, wie sie verschwunden war.
Er hatte das Gefühl, daß er etwas hätte tun müssen. Was? Alles war sein Fehler. Er fühlte sich - R.I.P. - schuldig,
verdammt noch mal.
Das Telefon läutete.
„Pronto!“ antwortete er, ehe er noch daran denken konnte, daß er ja eigentlich im Bett liegen und schlafen sollte.
„Mr. Prestin?“ Die Stimme war fest, doch irgendwie blaß, ungefähr so wie bei einem großen Sänger, der ein paar
Stimmbänder eingebüßt und deshalb nur noch ein halbes Timbre hat.
„Ah. Ja. Wer ist dort?“
„Sie kennen mich nicht, Mr. Prestin. Meine Name ist Macklin. David Macklin. Ich muß Sie sofort sehen.“
„Tut mir leid, aber das kommt gar nicht in Fra ...“
„Es handelt sich um - äh - das Verschwinden der jungen Dame.“
„Möglich, Mr. Macklin. Davon habe ich für heute genug, tut mir leid. Rufen Sie mich morgen an.“
Er legte auf, aber sofort läutete das Telefon wieder.
Er kochte, riß den Hörer von der Gabel und schrie: „Jetzt hören Sie aber mal, ich bin hundemüde, habe einen
Schock erlitten und möchte jetzt endlich schlafen. Verschwinden Sie!“
Die Stimme, die er nun hörte, war eine Spur heiser, ein bißchen kehlig, spritzig wie Sekt und zahm wie ein
Leopard. „Reden Sie mit mir?“
„Ah.“ Prestin räusperte sich. „Äh. Entschuldigen Sie. Ich dachte ...“
„Macht nichts, wenn und was Sie dachten, Bob. Ich darf Sie doch Bob nennen? Diesmal lasse ich's Ihnen noch
hingehen.“
Er fühlte sich wie ein Idiot und sagte „danke“.
„Ich weiß, was Sie gelitten haben, armer Junge. Ich dachte, ich sollte Sie anrufen und Ihnen sagen, wie unendlich
Leid es mir tut. Es muß schrecklich gewesen sein!“
„Ja. Hm. Äh, mit wem spreche ich überhaupt?“
Sie legte ein zauberhaftes Lächeln in ihre kehlige Stimme. „Ich bin die Contessa Perdita Francesca Cammachia
di Montevarchi. Sie, lieber Junge, dürfen mich Perdita nennen.“
„Ah, ich verstehe. Sie kennen Miß Upjohn?“
„Natürlich! Eine sehr, sehr liebe Freundin. Ich bin außerordentlich schockiert.“ Er hörte einen dramatisch
gedämpften, schluchzenden Seufzer. „Bob, ich muß Sie unbedingt sehen! Ich kann doch ganz schnell mal
vorbeikommen, Bob?“
„Was meinen sie? Jetzt vielleicht?“
„Selbstverständlich! Verzeihen Sie, Bob, es hört sich ganz so an, als seien Sie Amerikaner.“
„Halb.“
„Ah, das ist die Erklärung. Aber hier in Rom ...“
„Ich weiß.“ Er wußte aber nicht, sollte er jetzt lachen, wütend werden oder ganz einfach auflegen. Letzteres, das
wußte er, würde er nicht tun. „Ich war schon früher öfter in Rom.“
„Ah!“ Das war seufzende Begeisterung. „Wie jammerschade, daß ich Sie damals noch nicht kennengelernt
habe.“
Ihr Englisch war bemerkenswert gut, und der kleine ab und zu anklingende Akzent machte den Charme der Per
sönlichkeit aus. So ähnlich argumentierte Prestin vor sich selbst.
„Ich lasse die Tür offen. Zimmer sieben-sieben-sieben.“
„Ah!“ machte sie wieder, diesmal entzückt. „Ah, eine ganz bemerkenswerte Zimmernummer, mein Junge. Ich
werde Sie nicht warten lassen, Bob.“
Das Telefon klickte, ehe er noch etwas sagen konnte.
Schön.
Die technische Bezeichnung für seine Lage war „der Knoten schürzt sich“.
Und doch ...
Er ging ins Badezimmer, rieb sich mit dem Handrücken über das leicht stoppelige Kinn und starrte in den
Spiegel. Dann packte er seinen Rasierapparat und die Rasierseife aus. Elektrorasierer mochte er nicht. In
mancher Beziehung war er von fast peinlicher Pedanterie, vielleicht auch in anderer, oder immer.
Ein komischer Gedanke schoß ihm durch den Kopf. Fritzi hatte gesagt, es sei ihr erster Besuch in Rom. Oder er
wäre. es um genau zu sein, gewesen. Die verführerische Contessa di Montevarchi mußte sie also anderswo
getroffen haben, interessant. Er hatte sich also nur vorgestellt, daß Fritzi eben erst aus dem Nest geflattert war,
obwohl sie doch Modell und so...
Als er sich rasierte, wartete er immer auf das nächste Telefongeklingel.
Er war ganz aufgeregt. Schließlich hatte er zum erstenmal im Leben in den frühen Morgenstunden mit einer
richtigen, lebendigen Contessa geredet. Natürlich wußte er genau, daß der Grund dafür nur ihre und seine
Freundschaft mit Fritzi war. Wäre alles normal verlaufen, dann hätte ihm diese gewissermaßen europäische
Überspanntheit gar nichts bedeutet. Überspanntheiten mochte er sonst nicht. Seine kurze Zuneigung für Fritzi
war sogar ein wenig von Mitleid gezeichnet, weil sie versucht hatte, die Überspannte zu mimen.
Die Tür öffnete sich leise, als er gerade in eine leichte graue Jacke schlüpfte. Er sah, wie die Tür nach innen
schwang, sah die marmorierte Tapete vom Korridor und einen sich davor bewegenden Schatten. Dann tat er ein
paar ärgerliche Schritte vorwärts und wedelte mit den Armen, als verscheuche er Schafe. „Was wollen Sie?
Einfach in mein Zimmer stürmen? Hinaus mit Ihnen!“
Er war über seine Heftigkeit selbst sehr erstaunt.
Der Mann an der Tür griff vom Türknopf außen zum Türknopf innen. Dann schloß er mit der Vorsicht eines
makellos geschulten Butlers die Tür und schob den Riegel vor.
Entrüstet und sprachlos vor Zorn sah Prestin zu.
Der Mann nahm einen etwas formlosen schwarzen Filzhut ab und warf ihn achtlos auf einen Stuhl. Dabei
lächelte er Prestin charmant an. Über den Kleidern trug er ein schwarzes Cape; sein Anzug war ein grelles,
senffarbenes, pfeffer-gesprenkeltes, enges Jackett mit sehr weiten, unmodernen Golfhosen.
Prestin blinzelte Der Mann hatte einen dicken, solide wirkenden Stock mit Silberknauf dabei, Prestin hatte den
Eindruck, er sei geradewegs aus dem Jahr 1890 gekommen
„Es tut mir unendlich leid, Sie auf diese Art stören zu müssen, Mr. Prestin“, sagte sein Besucher
Die Stimme kannte Prestin
„Sie sind ja verdammt frech, Macklin Sie sind doch David Macklin, oder? Sie haben mich doch gerade
angerufen, was?“
„Und Sie empfahlen mir, mich zum Teufel zu scheren Ja, das stimmt“ Macklins Lachen blubberte fröhlich Sein
Haar schien im Licht pergamentweiß Sein mageres Gesicht, das fröhliche, rote Wangen hatte, sprach von Humor
und hatte als Vorlage für einen Nikolaus dienen können, der gerade eine Abmagerungskur machte. Auf den Bei
nen schien er trotz seines Alters noch ganz gut zu sein Er war von gewandter Bestimmtheit, und die Gesten
seiner schlanken, gelblichen Hände, eine stolze Kopfbewegung und die ruhige Redeweise rundeten das Bild eines alten Herrn vorzüglich ab, der es verstand, sich immer und überall eindrucksvoll zu bewegen „Ich erwarte einen Besuch“, sagte Prestin mit einer - wie er hoffte - Endgültigkeit, die er zu seinem Pech schon nicht mehr aufbrachte Dieser Mann Macklin hatte eine ganz bestimmte Aura Sie strahlte ihm aus seinen Augen entgegen und hypnotisierte Prestin so sehr, daß dieser der Auffassung war, keinen gewöhnlichen Menschen vor sich zu haben Das paßte ihm aber ganz und gar nicht „Einen Besuch, Prestin, eh? Und ein Pfund gegen eine Prise Mondstaub, daß es die Montevarchi ist“ „Wie, zum Teufel...?“ „Seien Sie nicht gar so ungehalten Jungchen Beruhigen Sie sich wieder. Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich meine alten Gebeine ein wenig...?“ Er setzte sich mit einer raschen, bestimmten Bewegung und musterte Prestin eindringlich „Nein, mein Jungchen Wenn wir zusammenarbeiten wollen, wende ich die alten Falstaff-Tricks na türlich nicht an. Sie verdienen Besseres von mir als das.“ „Es ist eine große Ehre für mich“ Prestin verschränkte die Hände hinter dem Rucken „Aber wenn es Ihnen nichts ausmacht, dann wäre mir lieber, Sie gingen jetzt“ „Ich sagte Ihnen doch, Prestin, daß wir zusammenarbeiten müssen Ich bin ein alter Mann, aber noch ziemlich kräftig, und trotzdem brauche ich jetzt einen Jüngeren, der mir hilft.“ Prestin zog eine Grimasse „Sie sagten doch, Sie wurden diese alten Falstaff-Tricks nicht anwenden Sie beeindrucken mich ganz und gar nicht Ich läute jetzt nach dem Direktor und bitte Sie, mich zu verlassen“ Prestin ging zum Telefon und streckte die Hand aus. Er horte nicht, daß Macklin sich bewegte Seine Hand blieb eine Handbreit vom Hörer entfernt in der Luft hangen und bewegte sich ganz langsam weiter, um Macklin, wie er dachte die Zeit zu geben, sich höflich, und wie es sich gehörte, zurückzuziehen Da krachte der schwarze Stock auf den Tisch, auf dem das Telefon stand, und streifte sogar noch seine Finger Tinnnnnggg, machte das Telefon und hüpfte ein wenig. Prestin riß seine Hand zurück „Jetzt hören Sie aber mal!' Sind Sie wahnsinnig? Hier...“ Ei drehte sich um und machte Anstalten, dem alten Herrn den Stock wegzunehmen Macklin stand da schwankte ein wenig, hatte den Stock halb erhoben und musterte Prestin voll überlegener Frechheit „Vermutlich“, sagte Macklin überheblich, „hat Ihnen die Montevarchi erzahlt, sie sei eine Busenfreundin dieser armen Miß Upjohn gewesen, nicht wahr? Ja, das hat sie natürlich getan“ Er nickte „Ich persönlich bin Miß Up john nie begegnet Bis sie - ah - von der Trident verschwand, habe ich weder von ihr noch von Ihnen je etwas gehört Die Contessa aber ebensowenig!“ „Und sie sagte „ „Mein Jungchen, seien Sie nicht kindisch, sondern denken Sie! Benutzen Sie das Gehirn, das Ihnen der liebe Gott gegeben hat1“ „Nun „Jawohl Sie werden noch entdecken, daß Sie in dieser Sache nichts so nehmen dürfen, wie es aussieht Nicht einmal mich“ Er kicherte boshaft „Besonders mich nicht“ „Welche Sache? Wovon sprechen Sie denn überhaupt?“ Prestin fühlte sich allmählich ziemlich unbehaglich, denn er hatte den Eindruck, etwas gehe hier vor sich, von dem er nicht die leiseste Ahnung habe, aber man habe ihn praktisch in einem Einbaum und ohne Paddel auf einem weiten Meer ausgesetzt »Wenn Sie mir jetzt vielleicht Schauermärchen von Spionen und Geheimagenten und dergleichen Zeug erzählen wollen, dann sparen Sie sich lieber Ihren Atem „ Macklin warf ihm unter buschigen Augenbrauen einen scharfen Blick zu »Was meinen Sie damit?“ „Ich hatte mal mit einem blöden Spion zu tun. In der Luftfahrt wimmelt es davon Der Narr hat sich selbst erschossen. Damals gelang es mir, meinen Namen aus der Geschichte herauszuhalten. Wenn Sie vielleicht mit der alten Sache etwas zu tun haben sollten, dann werde ich mich bei Colonel Black beschweren Er versprach mir seinerzeit...“ „Jungchen, ich habe nichts zu tun mit Ihrer ausschweifenden Vergangenheit - außer in einer ganz bestimmten Beziehung. „ „In welcher?“ Macklin lachte, setzte sich wieder und legte den Stock quer über seine Knie. „Sie sind offen. Gut. Seit Sie in Rom sind, habe ich eine Menge über Sie herausgefunden Ich weiß natürlich, daß die Contessa ebenfalls nicht untätig war. Ihre Organisation ist fast genauso tüchtig wie die meine.“ Prestin wünschte wieder einmal, er hatte das Rauchen doch nicht aufgegeben Er war verwirrt, und das paßte ihm nicht. Colonel Black hatte ihm doch versprochen, keine Namen zu nennen. Der Spion wurde erschossen, die Ge heimnisse blieben gewahrt Und Prestin hatte sich ganz diskret zurückgezogen Und jetzt das! Konnte Fritzi eine Spionin gewesen sein? Jungchen, seien Sie nicht kindisch „Wieso finden wir Fritzi, wenn Sie etwas über mich herausbekommen?“
Macklins harte Spatzenaugen ließen Prestin nicht los „Wenn die Montevarchi Sie besuchen will, dann wird sie bald hier sein Mein Freund m London kannte Sie recht gut Auch er hat in der Welt der Fliegerei viele Verbindungen, ebenso auch in anderen, weniger phantastischen Welten.“ Prestin begriff diese Bemerkung nicht ganz und mußte daher fragen „Was soll denn am Flugjournalismus Phantastisches sein?“ „Nicht so sehr der Journalismus, mein Jungchen. Aber Ihr Leute lebt in den Wolken. Ihr jungen Aviatoren wißt nicht, was in der realen Welt vor sich geht. Jeder kluge junge Mann in jeder Luftwaffe atmet eine von seinem Dienst geschaffene Atmosphäre, die ihn betrunken macht. Stolz, Eleganz der Uniform und die Tüchtigkeit von Mann und Maschine - mein Gott! Ihr Kinder spielt mit Spielzeug, das die ganze Welt in Trümmer legen kann!“ „Glauben Sie nicht, daß man das selbst gut genug weiß?“ „Ja, natürlich wissen sie's, aber doch nur im Kopf. Fühlen sie denn auch, was sie zerschlagen? Was wissen sie vom Leben eines Zivilisten mit seiner Arbeitslosigkeit, der Unterdrückung durch die Unternehmer, der Krankheit ohne ausreichende Krankenhäuser? Das sind so die kleinen Sorgen, über denen einem Zivilisten die Haare ausgehen, und ihr ordengeschmückten Aviatoren habt keine Ahnung davon!“ Prestin stand auf und ging zu Macklin hinüber. Zum erstenmal sah er nun diese zerbrechliche Menschlichkeit, und er beschloß, sich dagegen zu behaupten. Trotzdem sprach er mit sanfter Stimme: „Nun, nun, David Macklin. Sie sind erregt und...“ Mehr konnte er nicht sagen. „Erregt? Natürlich bin ich erregt! Nicht umsonst war ich fünfundzwanzig Jahre lang Flieger, und ich soll mich hinauswerfen lassen, ohne mich aufregen zu dürfen? Verdammt noch mal!“ „Mein Vater war noch viel länger Flieger, und man hat ihn nicht hinausgeworfen. Er würde Ihnen nicht beipflichten, Macklin.“ „Von Ihrem Vater habe ich gehört, Jungchen. R.A.F. Ein hohes, mächtiges Tier. Marschall, nicht wahr? Aber ist das nicht ein Mißerfolg? Wenn er nicht Oberster Luftwaffenchef wurde, dann war es doch ein Mißerfolg, oder?“ „Niemand ist der Meinung. Macklin, Sie gehen jetzt besser. Ich bin viel zu müde, als daß ich Lust hätte, mit Ihnen über mich zu streiten. Und wenn Sie jetzt auch noch damit anfangen, meinen Vater zu beleidigen, dann breche ich Ihren Stock an einem ihrer Körperteile ab, an dem es besonders wirksam ist.“ Macklins mageres, gemütliches Gesicht zeigte ein charmantes Lächeln. Seine dunklen Augen glitzerten im Licht. „Worüber, zum Teufel, streiten wir eigentlich, Bob? Verdammt, wir sind doch Verbündete! Freunde! Wir kämp fen doch auf derselben Seite, oder nicht?“ „Sie haben vielleicht Nerven! Ich kämpfe auf gar keiner Seite, solange ich nicht weiß, was gespielt wird. Guter Gott! Sie platzen mitten in der Nacht in mein Hotelzimmer, reden über dies und jenes, erzählen mir gar nichts, und dann wollen Sie nicht begreifen, daß und warum ich Sie zu gehen bitte? Ich bestehe darauf, daß Sie gehen! Macklin, verschwinden Sie endlich!“ Prestin wußte genau, daß die Unmöglichkeit dieser nächtlichen Unterhaltung ihn vielleicht zu Taten reizen könnte, die er später bedauern würde. David Macklin sah trotz seines dicken Stockes eigentlich gar nicht gefährlich aus. Aber was wollte der Mann überhaupt? Und wenn es schon um diese Frage ging - was wollte die Contessa Montevarchi von ihm? Was immer es auch war und es bedeuten sollte, daß Fritzi zurückkehrte, dann wollte er es jedenfalls wissen. Wenn er Macklin anschrie, er solle sich verziehen, dann war das mehr oder weniger eine jugendliche Reaktion auf ein unerwartetes Stimulans. „Nein, Macklin, gehen Sie nicht“, sagte er. „Jedenfalls jetzt noch nicht. Ich möchte nämlich wissen, was Sie wollen und ob es Miß Upjohn nützt.“ „So ist's schon besser, mein Jungchen. Viel besser! Wissen Sie, ich werde leicht zornig, und dann geht mein Temperament mit mir durch. Aber Sie werden sich daran gewöhnen. Ganz sicher.“ „Möglich. Was wissen Sie von Fritzis Verschwinden?“ „Vielleicht, und wenn ich recht habe, eine ganze Menge. Und wenn nicht - nun, dann weiß ich auch nicht mehr als Sie, die Polizei oder sonst einer.“ Macklin stand auf und zupfte seinen Mantel in hübsche Falten. „Aber wir können hier nicht bleiben, bis die Montevarchi kommt. Sie wird nicht allein sein, das ist gewiß.“ „Wieso nicht allein?“ „Sie sind ein bißchen einfältig, wie? Die Contessa weiß ebenso wie ich, welche Gabe Sie besitzen.“ Prestin hob eine abwehrende Hand, und um seine Lippen spielte ein ungläubiges Lächeln. „Gabe? Über welche Sache reden Sie jetzt nun wieder?“ „Ich dachte, das wüßten Sie! Wirklich nicht? Mein Freund in London berichtete mir, alle Ihre Bekannten wüßten, daß Sie ständig Gegenstände verlören und daß Sie das auch schon von jeher getan haben. Und da wußten Sie nicht...? Ach, hätte ich Sie nur vor Jahren getroffen ...“ Die entsetzliche Andeutung war nun doch zu Prestin vorgedrungen. Er ließ sich auf einen Stuhl fallen, und ihm war hundeelend. Er leckte sich die Lippen. »Ich? Ich?“ Er schüttelte den Kopf. »Nein! Sie irren sich. Ich war es nicht!“ »Welche Erklärung haben Sie sonst?“ Prestin funkelte den alten Mann wütend an und sehnte sich danach, von dieser Schuld freigesprochen zu werden. »Das ist doch gar nicht möglich! Fritzi ist doch schließlich kein Ding, kein Buch, kein Bleistift oder Blatt Papier.
Sie ist ein Mädchen ...“
„Und Sie haben sie verschwinden lassen!“
Jemand klopfte leise an die Tür, und eine etwas heisere Stimme rief: „Bob, Ich bin es, Perdita. Machen Sie doch
die Tür auf!“
3. „Wir müssen sofort verschwinden!“ Macklin griff nach Prestins Arm und zog ihn in Richtung Fenster.
Prestin schüttelte die Hand ab. Die schreckliche Andeutung Macklins hatte ihn noch nachdenklicher gemacht als
dessen ängstliche Abneigung, die er der Contessa entgegenbrachte.
„Warum?“ wollte Prestin wissen.
„Weil eine verschlossene Tür für sie und ihre Trugs kein Hindernis ist! Die werden hereinkommen und Sie
einfangen wie einen Kapaun für die Bratröhre. Kommen Sie schon, Jungchen!“
„Das meinte ich doch nicht! Warum sollte Fritzis Verschwinden mein Fehler sein?“
„Sie wissen es doch, Prestin! Jawohl, Sie wissen es! Und die Contessa wird Sie manipulieren, um ihren eigenen
trüben Zielen zu dienen. Kommen Sie, Jungchen. Gegen sie haben Sie keine Chance!“
Sturheit, Zorn und Erbitterung kämpften in Prestin miteinander. Am liebsten hätte er jetzt ausgeholt und
zugeschlagen, um seine eigene Schuld abzuzahlen.
„Bob!“ Die Stimme der Contessa schnurrte hinter der geschlossenen Tür, der Türknopf drehte sich und schnalzte
geräuschvoll zurück. „Bob, Sie sagten, Sie ließen die Tür offen! Machen Sie auf, Bob. Seien Sie doch ein lieber
Kerl, Bob!“
Alle redeten ihn dauernd mit „Jungchen“ und „Bob“ an, und das mochte Prestin absolut nicht. Es war zwar un
wichtig, aber es benagte ihm nun einmal nicht. Es war ein nur allzu deutlicher Beweis, wofür ihn diese beiden
Leute hielten - für eine Geisel in ihren komischen Spielen.
„Die Tür bleibt zugesperrt“, erklärte er Macklin. „Und Sie gehen durch das Fenster hinaus. Ich gehe schlafen.“
„Sie Narr!“ Macklin hob seinen Stock. Seine dunklen Augen schossen Blitze zur Tür. An ihr wurde nun so
gerüttelt, daß es nicht mehr der Contessa zarte Schmetterlingshändchen sein konnten. Hinter dem Rütteln stand
offensichtlich einiges Gewicht.
„Hören Sie doch endlich auf mich!“ fauchte Macklin. „Wenn die Trugs Sie fassen, werden Sie ...“
„Trugs“, sagte Prestin höhnisch. „Trugs! Können Sie nicht endlich mit dem Unsinn aufhören?“
„Können schon, aber sie werden jeden Moment selbst hier sein.“
Noch widerstanden Schloß und Angeln dem heftigen Rütteln. Die Contessa hatte kein Wort mehr gesprochen.
Natürlich wußte sie jetzt, daß er sie ausgesperrt hatte, und so sprach die Kraft, die hinter dem Rütteln an der Tür
steckte, lauter als Worte.
Plötzlich hatte er Angst.
Trugs?
Er sah Macklin an, der sich stehend auf seinen Stock stützte und ihn, Prestin, düster musterte.
„Nun, Bob? Ich stehe hier nicht herum, um diese Monstren willkommen zu heißen, die die Montevarchi als
Haustierchen hält! Wenn Sie nicht mitkommen wollen, dann muß ich dafür sorgen, daß Sie auch der Opposition
nicht von Nutzen sein können.“
Prestin lachte ein wenig gequält. „Sie meinen damit wohl, Sie wollen mich - töten? Na, Macklin, überlegen Sie
doch mal...“
„Nein, töten werde ich Sie nicht, Jungchen. Sie sind viel zu wertvoll. Ich werde nur ein Stück Ihres
Gehirns einfrieren. Ihren Denkapparat denaturieren Das ist ein hübscher Trick ...“
„Moment!“ Prestin hielt eine abwehrende Hand hoch. „Das geht alles ein bißchen zu schnell. Sie sagen mir
dieses und jenes. Ich will Fritzi finden, und Sie machen die grauenhafte Andeutung, es sei meine Schuld, daß sie
verschwunden ist. Sie behaupten, ich hätte eine bestimmte Gabe und daß Sie und die Contessa darum und um
mich kämpfen. Warum, zum Teufel, erwarten Sie von mir, daß ich mich zu allem innerhalb weniger Sekunden
aufraffen muß?“
„Ich dachte doch, es sei alles absolut einfach und klar. Wenn Sie am Leben und ein funktionierendes Mitglied
dieser Welt bleiben wollen, Bob, dann müssen Sie jetzt blitzschnell denken. Natürlich haben sie die Gabe, Dinge
verschwinden zu lassen. Die hatten Sie ja Ihr Leben lang.“
Die Tür zitterte in allen Fugen, und der Türknopf schnalzte.
„In einer Minute haben sie die Tür eingeschlagen. Diese Trugs sind sehr stark und sehr bösartig.“
„Diese Macht...?“
„Oh, natürlich. Sie wissen es selbst. Mein Freund .erzählte mir genug über sie, um Sie sofort als Porteur zu
erkennen. Wohin, glauben Sie, sind all Ihre Zettel, Ihre Gummischnürchen, Bleistifte und dergleichen
verschwunden, die Sie dauernd verlieren?“
„Was meinen Sie damit - wohin? Ich verliere es eben. Das ist aber auch alles.“
„Oh, nein, Bob, keineswegs! Sie gehen doch irgendwohin. Und jetzt müssen Sie gerade rechtzeitig durch einen
Nodalpunkt gegangen sein, und da haben Sie Miß Upjohn hinübergeschickt. Jawohl, Bob, Sie haben sie portiert.
Ich bin bereit, Ihnen zu helfen, sie zurückzuholen, aber nur dann, wenn Sie nicht hier herumstehen, vor der
Montevarchi herumwedeln und mit ihren Trugs verhandeln. Nein, dann denaturiere ich Sie lieber vorher.“
Prestins erster Eindruck von David Macklin festigte sich wieder mit dessen hypnotischem Augengefunkel und
der strahlend guten Laune. Macklin schien alles zu genießen, was er sich einmal zu tun vorgenommen hatte. Das
hätte Prestin genügen müssen, denn Macklin sah nicht so aus, als würde er Handlungen genießen, die einem
anderen schaden wurden. Das war es dann, was Prestin ernstlich Sorgen machte und was er sich, todmüde wie er
war, selbst klarzumachen versuchte.
„Nun ja, schon ...“, sagte er und suchte nach ein paar zusammenhängenden Gedanken.
Ein Krachen und Splittern war von der Tür her zu vernehmen. Beide Männer wirbelten herum. Durch die Türfül
lung grinste ihnen die schimmernde Schneide einer Axt entgegen, die zurückgezogen wurde und dann erneut
durch splitterndes Holz krachte.
„Kommen Contessas immer nachts zu Besuch und öffnen die Türen mit einer Axt?“ fragte David Macklin leise. ,
„Sie müssen recht haben“, antwortete Prestin müde. Jetzt spürte er erst die Erschöpfung des anstrengenden
Tages, die ihn mit Angst und Entschlossenheit belastete. „Na, schon. Ich komme mit Ihnen. Aber ich will erst...“
„Sicher, Jungchen, sicher. Sie wollen alles wissen, und ich werde Ihnen alles Erzählen. Aber jetzt, Jungchen,
jetzt verschwinden wir!“
Macklin schob die Fensterblende hinauf und stieß den Fensterflügel auf. Mit äußerster Geschicklichkeit hupfte er
auf das Fensterbrett und drehte sich lächelnd zu Prestin um. „Kommen Sie, die Leiter steht da.“
Bis zu diesem Augenblick hatte sich Prestin gar nicht überlegt, wie Macklin durch das Fenster entkommen
wollte. Hinter ihm sauste wieder einmal die Axt in die Tür, und so streckte er den Kopf durch das Fenster und
sah die lange Leiter, die von einem Balkon drei Stockwerke tiefer bis herauf reichte. Unten stand eine dunkle
Gestalt, und Prestin erkannte den weißen Keil eines nach oben starrenden Gesichts, Macklin begann die Leiter
nach unten zu steigen, und sein Mantel blähte sich im Nachtwind.
„Kommen Sie schon, Bob, kommen Sie! Die Trugs sind gleich durch“
Er stellte also gehorsam einen Fuß auf die oberste Sprosse und schaute noch einmal ins Zimmer zurück. Das
Stück Türfüllung neben dem Kopf war schon ganz zerhackt, und ein Loch gähnte.
Und dann griff eine Hand nach innen. Die Hand hatte grüne und gelbe glänzende Schuppen, zwei Finger und
einen Stummeldaumen mit langen blutroten Krallen.
Wie versteinert und mit offenem Mund starrte Prestin dorthin.
Diese scheußliche Hand griff also herein und tastete nach dem Riegel. Dabei fing sich das Licht in den Schup
pen, die plötzlich violett leuchteten, als gehe von jeder Kralle eine Ultraviolettstrahlung aus. Die beiden Finger
schnalzten gegen den Daumen, als die Hand nach dem Riegel griff.
Prestin wurde es übel. Macklins Hand tastete nach seinem Fußknöchel. „Kommen Sie doch endlich, Bob!
Schnell! Sonst werfen sie uns von der Leiter hinunter!“
Prestin klappte den Mund zu und schluckte heftig. Nur allzugern hätte er gesehen, was durch die Tür kam, aber
Macklin schien eindeutig recht zu haben. Steifbeinig und mit einem Flattergefühl im Magen kletterte er Sprosse
für Sprosse nach unten. Der Wind zerrte an ihm. Er mußte sich an die Holme klammern, um seinen Weg nach
unten mit den Füßen ertasten zu können. Endlich griff jemand nach seinem Fuß und setzte ihn auf die unterste
Sprosse. Dann stand er auf dem Steinboden des Balkons. Er schaute nach oben, atmete keuchend und erwartete -
was? - zu sehen.
„Jungchen, nicht einschlafen, herein mit Ihnen!“
Macklin und der andere Mann, der bisher von Prestin noch nicht bewußt zur Kenntnis genommen worden war,
zerrten ihn durch das Fenster. Eine Hand riß so heftig an ihm, daß er nach innen fiel. Da hörte er ein lautes,
befehlendes Krächzen oder Krachen. Es klang fast so, als sprenge der Frost einen gefrorenen Ast, oder als pfeife
eine Peitsche über einen nackten Rücken.
„Gott sei Dank, gerade noch rechtzeitig!“ sagte Macklin.
„Ich dachte schon, du würdest es nicht mehr schaffen, Dave“, bemerkte der andere Mann mit fester Stimme.
Macklin richtete sich lächelnd auf und half Prestin auf die Füße. Sie waren wieder in einem Hotelschlafzimmer,
und der einzige Gegenstand, der Prestin genauer hinzuschauen veranlaßte, war eine Flinte mit abgesägtem Lauf,
die auf dem Bett lag.
Er sah den Fremden an. „Sie können natürlich lachen“, sagte der Mann. „Sie wissen ja nicht, gegen wen wir
stehen.“
„Das ist Alec“, erklärte ihm Macklin. „Weitere Vorstellungen folgen später. Wir müssen jetzt auf Tauchstation
gehen. Jetzt werden sie schon den Aufzug besetzt haben.“
„Ich habe eine Hand mit Klauen gesehen“, bemerkte Prestin.
Die anderen beiden nickten.
„Na, jetzt haben Sie ungefähr eine Ahnung. Gehen wir.“
Sie gingen schnell durch die Tür, und Alec schob die Flinte unter seine ganz gewöhnliche Arbeitsjacke. Er
schien Macklins Muskelmann zu sein. Das Liftlicht zeigte an, daß die Kabine auf dem Weg nach unten war.
„Das sind sie, die schwarze Teufelsbrut“, knurrte Alec.
„Wir können ja den anderen Lift nehmen. Dann werden wir fünfzehn Sekunden vor ihnen die Vordertür schaffen - falls wir Glück haben.“
Macklin schob die Lifttür zu und drückte auf den Knopf. Die Kabine fiel. Prestin schluckte heftig. Merkwürdige
Contessas, Männer, die erregt von unmöglichen Dingen redeten, eine Kletterpartie aus einem Hotelfenster über
eine Leiter, die drei Stockwerke nach unten reichte - das alles käme ihm selbst außerordentlich verrückt vor,
hätte er nicht diese Schuppenhand mit den zwei rotkralligen Fingern und dem Stummeldaumen gesehen.
Die Kabine hielt an, und die Tür öffnete sich. Alec schob seinen bulligen Körper in die schwach erhellte Halle
hinaus. „Alles klar“, murmelte er und warf einen Blick auf den zweiten Liftanzeiger. „Sie werden gleich dasein.“
„Wir müssen rennen!“ sagte Macklin drängend und spurtete zu den Schwingtüren.
Alec folgte ihm, und Prestin, den sie allmählich als Schlußlicht anzusehen schienen, bildete die Nachhut.
Prestin mußte sich direkt Zwang antun, die Sache trotz allem, was laufend geschah, ernst zu nehmen. Am
liebsten hätte er schallend gelacht. Diese Schuppenklaue konnte ja durchaus ein Plastikmodell aus einem Laden
für Scherzartikel sein, und er hatte sich in seiner Müdigkeit, die sein Denkvermögen trübte, wie ein Narr
hineinziehen lassen.
Er blieb mitten auf der Straße stehen. Rom atmete um ihn herum; die Luft war kühl, aber nicht kalt, und der
Wind war nur eine sanft fächelnde Brise. Prestin griff nach Macklins Ellbogen und zwang den alten Herrn zum
Stehenbleiben.“
„Jetzt hören Sie mir mal zu, Macklin. Ich...“
Er redete nicht weiter, denn eine dunkle Gestalt erschien hinter ihnen im Hoteleingang. Er konnte sie nicht klar
erkennen, denn sie war in einen sehr langen, weiten Regenmantel gewickelt und hatte einen breitkrempigen Hut
tief ins Gesicht gezogen. Alec schaute zurück und schrie: „Dave! Geh aus dem Weg, Dave! Das ist ein Trug!“
Alec riß seine Jacke auf und zog die Flinte heraus. Ehe Prestin sich bewegen konnte, hatte Alec schon die Flinte
mit dem abgesägten Lauf angelegt, gezielt und abgedrückt. Es gab einen Knall, als stürze ein ganzes Haus ein.
Der Schuß traf die dunkle Gestalt. Entgeistert sah Prestin zu, wie grünes Blutwasser aus der gefallenen Gestalt
Quoll; er sah die ausgebreiteten grün- und gelbschuppigen Hände und das blutrote Glitzern an jener Stelle, wo
man Augen vermutet hätte. Das Gesicht des Wesens sah er nicht, denn das Ding tag bäuchlings auf dem Pflaster.
Und dann rannte Prestin. Klapp-klapp-klapp-klapp knallten seine Absätze auf das Pflaster; er reckte den Kopf
hoch in die Luft und atmete keuchend. Er hörte wie Macklin und Alec neben ihm rannten, und deren Schritte
waren das Echo seiner eigenen. Sie liefen, was die Beine und Lungen hergaben.
Sehr viel später, als sie wieder gemäßigten Schrittes nebeneinander hergingen, hatte er genug Atem, um zu
sagen: „Das war Mord!“
„Klar“, entgegnete Alec. „Aber die Opfer wären wir gewesen, hätte ich nicht zuerst geschossen.“
„Was ...“, Prestin schluckte heftig. „Was werden die Leute sagen, wenn sie das ... Ding finden, aus dem grünes
Blut über das ganze Pflaster läuft?“
„Das Ding finden Sie nicht. Dafür sorgt die Montevarchi schon.“
„Sehen Sie, Bob“, warf Macklin ein, der nach dem anstrengenden Lauf kaum eine Spur schneller atmete.
„Keiner von uns will, daß etwas über Irunium durchsickert.“
„Das scheint ja ganz in Ordnung ...“, begann Prestin. „Irunium?“ fragte er erstaunt.
„Ja. Irunium. Das ist nämlich der Name. Vielleicht ist Fritzi dorthin gegangen.“
Sie hatten die Ecke der Via Due Macelli und Via del Tritone erreicht. Hier war es nach dem Trubel des Tages
jetzt sehr still. Bald würden der Krach und das lebhafte Treiben wieder beginnen, und die Läden würden geöffnet
werden. Prestin schüttelte den Kopf. Die Müdigkeit saugte wie Löschpapier seine Energien auf. „Irunium. Na,
und was sonst?“
„Später erzähle ich Ihnen alles, was Sie wissen müssen, aber nicht jetzt und nicht hier. Sie können jetzt auch
nicht zum Hotel zurückkehren ...“
„Warum nicht? Ich muß. Meine ganzen Sachen sind dort.“
„Ich sorge schon dafür, daß Sie Ihr Gepäck bekommen Die Montevarchi liebt zufällig kleine Jungen wie Sie
einer sind, und hofft, daß Sie schnurstracks m ihr Netz laufen „
Na schon Gut“ Prestin dachte an die Trugs, und er hatte absolut kein Verlangen, wieder in ihre Nahe zu kommen
,Und wohin gehen wir von hier aus?“ wollte er wissen Alec?“
Der große, bärenstarke Mann lächelte, und sein breites Gesicht zeigte deutlich sein Entzücken darüber, daß er
Macklin einen Dienst erweisen konnte
„Aus Rom hinaus, das ist einmal ganz sicher. Margie hat einen Wagen, und wir können die Autostrada del Sol
nehmen. Später können wir dann nach Foggia hinüberfahren, wenn wir mit ihnen abgerechnet haben.“
Alec sagte aber nicht Foggia, sondern Fodsch, und Prestin erinnerte sich daran, daß es sein Vater ebenso
ausgesprochen hatte
„Moment mal', sagte er und marschierte flott neben den beiden her „Ich habe morgen eine Ausstellung Das
heißt, eigentlich heute. Die darf ich nicht versäumen.“
, Und warum nicht'„ Macklin schien sehr amüsiert zu sein
„Warum nicht? Zum Teufel, Mensch, davon lebe ich doch1“
Wenn Sie nicht hingehen, werden sie auch nicht gleich verhungern Im Gegenteil aber - wenn Sie hingehen, ist's
Ihr Tod.“
Alec lachte in einem rumpelnden Baß „Und wenn Sie können, halten Sie sich daran.“ „Wenn ich jetzt eine Kreissäge und einen Stock hatte, wurde ich euch beiden was vortingeln“, fauchte Prestin Er fühlte sich genauso ohnmächtig wie ein Blatt im Wind „Wenn alles so brandeilig und schrecklich wichtig ist, dann verstehe ich nicht worüber ihr zwei zu lachen habt' Was ist da so spaßig dran?“ „Sie“ Er blieb abrupt stehen und kam sich wie ein Dummkopf vor. Und er ärgerte sich entsetzlich Und unerträglich müde war er. „Vielen Dank,“ schniefte er „Das ist ja reizend“ „Na Bob, beruhigen Sie sich mal wieder Ich erkläre Ihnen alles Wirklich. Im Moment brauchen Sie eine große Tasse schwarzen Kaffee und Alec und ich auch.“ „Ich schließe mich der Kaffeebewegung an, Nem Con“, sagte Alec „Ihr beide seid richtige Clowns. Aber wirklich, ein Kaffee wurde mir jetzt ganz guttun, falls es keinen Tee gibt Und einen Stuhl brauche ich. Meine Beine fangen allmählich zu zittern an.“ Sofort nahm Macklin seinen Arm. „Aushalten, Bob! Wir sind gleich dort“ Das Haus, zu dem Macklin ihn führte, sah auch nicht anders aus als all die hohen, schmalen rotgoldenen Ziegel häuser der Straße Die Tür öffnete sich auf einen Fingerdruck, und dann standen sie im Lichtkreis einer gelben Lampe hinter der sich der Bodengang zu einem Innenhof befand. Ein Baum rauschte, und ein Brunnen plätscherte. Eine hauchzarte Andeutung von Violett, Rosa und Grün malte die Ahnung einer nahen Dämmerung an den Himmel Die Müdigkeit seiner Muskeln zog Prestin allmählich zu Boden Eine alte Frau, die einen unförmigen Schal um die Schultern gewunden hatte schlurfte in zerfledderten Pantoffeln herbei Das Oval eines gelben Taschenlampenstrahls tanzte vor ihr auf dem Boden Sie führte die Männer in einen Durchgang, hüstelte ein wenig und sagte „Aspet“ dann noch einmal „Aspet? Sie warteten. Plötzlich war von draußen ein leichter, rascher Schritt zu vernehmen, die Tür ging auf, und ein Mädchen in einem langen smaragdfarbenen Mantel stürmte herein. Prestin hatte den lebhaften Eindruck von Ungeduld und Lachen, von strahlenden Augen und einem vollen Mund Sie trug eine silberglitzernde Handtasche am Arm, die ziemlich schwer zu sein schien. Jede ihrer Bewegungen zeugte von überschäumender Lebhaftigkeit. , Fertig, Dave? Hi, Alec. Also das ist der Porteur.“ Ja, das ist Bob Prestin, Bob, das ist Margie Lipton „ , Freut mich“, begann Prestin „Wie war's mit einem Täßchen Java, Margie?“ fragte Alec Gern, aber wenn ihr bei Einbruch der Dämmerung die Stadt verlassen haben wollt, müßt ihr's kurz machen „ Macklin sah auf die Uhr „Geht leider nicht, Margie. Tut mir schrecklich leid, daß ich dich von deiner Party wegholen mußte, aber die Zeit wird für uns allmählich knapp. Wenn's dir nichts ausmacht, dann fahren wir lieber jetzt gleich und halten mal irgendwo an der Straße an. Bob kann im Wagen schlafen.“ Ohne noch weiter darüber zu reden, schwang sie die Tür auf, und alle folgten ihr. Draußen stand ein Jensen Interceptor F. Prestin hielt den Atem an und pfiff anerkennend, als er das Auto sah Margie warf ihm über die Schulter einen lächelnden Blick zu „Ja“, meinte sie mit ihrer leichten, sicheren Stimme „Ja, das ist schon ein Wägelchen.“ Und das Wägelchen war so behaglich, daß Prestin sofort hätte einschlafen können. Aber er zwang sich dazu, noch ein wenig wach zu bleiben, als sie leise durch schmale Straßen schnurrte, die auf und ab und rechts und links gingen, die breiten Reifen ließen das holprige Kopfsteinpflaster vergessen Alec saß mit Prestin im Fond, wahrend Macklin, der ebenfalls furchtbar müde sein mußte, vorne neben Margie Platz genommen hatte „Margie, hast du dir nicht einen weißen Wagen zugelegt?“ fragte Alec eifrig „Weiße Kabrioletts sind doch der letzte Schrei“ Sie lachte herzlich „Ich weiß schon, Alec. Aber ich mag nun mal diese Primelfarbe Den ehemals weißen habe ich umspritzen lassen, Alf Und ein Kabriolett ist ungefähr so elegant wie eine vierspännige Kutsche.“ Schon wieder hatte jetzt Prestin dieses komische „Alf“ gehört. Er wußte auch ungefähr, was die Aristokratie von vier Pferden vor der Kutsche hielt Dieses Madchen Margie Lipton schien eine Wucht zu sein „Mir gefällt er“, sagte Prestin Der Wagen fuhr durch die Vorstadt von Rom und dann in südlicher Richtung Vor ihnen lag das weiße, vielversprechende Band der Autostraße, die durch ein duftendes Land nach Süden führte. Sie war ein Versprechen auf Sonne, die soeben links über den hügeligen Horizont brach und mit goldenem Schimmer das Land verzauberte. Margie drehte den Jensen ordentlich auf, und sie begannen die Meilen zu fressen. Anfangs unterhielt man sich noch ab und zu, aber bald sank Prestins Kopf immer tiefer auf seine Brust. Einmal riß es ihn wieder in die Höhe, und er war fest entschlossen, nicht einzuschlafen, ehe ihm diese rätselhaften Leute ein paar Fragen beantwortet hatten Und dann prallte die Sonne hart und glühend von vorne auf sie herunter. Immer noch schnurrte der Wagen wie eine zufriedene Katze durch das süditalienische Land. Andere Wagen schossen wie Blitze an ihnen vorbei und in nördlicher Richtung davon. Keiner, der nach Süden fuhr, überholte sie. Margie hielt einen tapferen Durchschnitt von hundertzwanzig. Vernünftiges Mädchen. Prestin sah auf die Uhr und wußte, woher das hohle Gefühl in seinem Magen kam - es war elf.
Unmöglich! „Haben Sie gut geschlafen, Bob?“ erkundigte sich Macklin lächelnd. „Das ist fein.“ Sein Rücken fühlte sich steif an, und Prestin streckte sich. „Paß ein bißchen auf mich auf“, warnte ihn Alec und bewegte sich wie ein dicker Bär, der in seiner Käfigecke lauerte, weil man ihn mit einem langen Stock gekitzelt hatte. „Entschuldigen Sie.“ Prestin hatte ungeheuren Respekt vor den zerstörerischen Kräften dieses Riesen. Nicht, daß Prestin annahm, Alec würde ihn auch in zwei Teile schießen, aber vor einem Mann, der so etwas mit der linken Hand erledigte, sah man sich besser ein wenig vor. „Ich glaube, wir legen bald einmal eine Pause ein.“ Macklins Lächeln zeigte eine Spur von versteckter Ironie, die Prestin verwirrte. „Wir hätten's ja schon früher tun sollen, Bob, aber wir wollten Sie nicht aufwecken.“ „Ah, vielen Dank.“ Er dachte an Fritzi. „Die ganze Zeit werde ich schon von Ihnen herumgeschubst. Ich glaube deshalb, Sie schulden mir einige Erklärungen. Sie sagten, Sie könnten mir helfen, Fritzi aus Irun... Wie hieß doch das Ding? ... zurückzuholen.“ „Irunium. Ja, das können wir. Aber es ist gar nicht gut, jetzt loszugehen wie ein Bulle auf den Zaun. Lehnen Sie sich zurück, entspannen Sie sich und genießen Sie die Landschaft. Sie rasen die Autobahn in einem vierpferdigen, primelgelben, sündteueren und äußerst luxuriösen Wagen entlang, eilen der Sonne und dem Wein entgegen. Leben Sie doch ein bißchen!“ Prestin schluckte ein paar handfeste Ausdrücke hinunter und ließ seine Fäuste sinken, weil Margie Lipton mit eleganter Lässigkeit den Wagen steuerte - aus keinem anderen Grund. „Bei Gott, Macklin, Sie würden sich besser eine ausgezeichnete Erklärung zurechtlegen, oder ich verlagere Ihre Zähne in Ihre Kehle hinunter!“ „Das ist schon besser, Bob.“ Macklin war nicht im geringsten gekränkt. „Steigern Sie Ihre Adrenalinproduktion. Sie werden einen gewissen Vorrat nötig haben.“ „Da wäre ein Platz“, sagte Margie. Er kochte noch vor Wut, als er zum Wagenfenster hinaussah, und hätte am liebsten viele unschöne, harte Worte von sich gegeben. Aber dann entdeckte er das weiße, grün abgesetzte Straßenrestaurant, ein modernes Haus, das auf Touristen eingerichtet war, die sonnenhungrig nach Süden fuhren. Er ließ sich in die Polster zurückfallen. Sein ganzer Zorn hatte schließlich nur eins zu bedeuten - nämlich daß er seine Schuld fühlte. Wenn es wirklich stimmte, daß er Dinge verschwinden lassen konnte, statt sie nur zu verlegen oder zu verlieren, wie er immer angenommen hatte, dann wäre das doch eine Erklärung für Fritzis Verschwinden. Oder vielleicht nicht? Verrückt, verrückt. Man kann doch nicht einfach Menschen verschwinden lassen... Aber Fritzi war verschwunden oder irgendwohin gegangen, und Macklin hatte gesagt, dieser Platz heiße Irunium. Dann tat der Wagen einen plötzlichen Satz nach vorne und drückte ihn damit nur noch tiefer in die Polster. Mühsam kam er wieder hoch. Margie raste wie eine Irre die Straße entlang, und Alec neben ihm griff zu einem langen Behälter unter seinen Füßen und zog ein Schnellfeuergewehr heraus. „Was ist denn das?“ wollte Prestin wissen. Macklin hatte sich umgedreht und lehnte sich mit ernstem Gesicht über die Polster nach rückwärts. „Wir haben ein .schußsicheres Rückfenster, und die Sitze sind in den Lehnen mit Panzerplatten armiert. Natürlich können sie immer die Reifen erwischen, auch wenn die Klappen heruntergelassen sind.“ „Klappen herunterlassen“, meldete Margie und zog an einem Hebel am Armaturenbrett. „Was ist denn?“ schrie Prestin und schaute nach hinten. Aber er sah nur eine lange weiße Straße und einen an deren Wagen, einen blutroten Lancia, der etwa fünfhundert Meter hinter ihnen lag. „Sehen Sie den Lancia? Das ist die Contessa di Montevarchi, und sie hat ihre Trugs bei sich. Die wollen uns fas sen.“
4. Die Chrysler V-8 Maschine begann unter der Haube ein wenig zu heulen. Prestin bemerkte, daß Margie statt einer Automatik ein vollsynchronisiertes Vierganggetriebe hatte, und damit war er voll einverstanden. „Die Maschine habe ich nach allen Regeln der Kunst frisieren lassen, und die Jungen von Chrysler würden sie jetzt nicht mehr erkennen“, erklärte sie leichthin. „Laß nur den Lancia schön weit zurück, Mädchen“, sagte Macklin. Besorgt schien er nicht zu sein. Prestin dagegen schwitzte. Alec begann mit dem Zusammenbau seines Schnellfeuergewehres, das vermutlich ebenso frisiert war wie Margies Wagen. Methodisch schraubte er die blauen Stahlteile zusammen, und er schien es mit Genuß zu tun. Prestin schluckte. Mit dem Taschentuch trocknete er sich die schweißnasse Stirn ab. Immer wieder warf er einen vorsichtigen Blick durch das Rückfenster. Der Lancia fiel um keine Spur zurück, ganz im Gegenteil. Er schien ein paar Meter aufzuholen, eine Kleinigkeit
größer zu werden.
„Perdita hat doch jetzt einen Lancia Flavia, nicht wahr?“ erkundigte sich Margie ganz beiläufig. „Seltsamer Ge
schmack für jemanden, der so angibt mit seiner Kultur und seinem Qualitätsbewußtsein.“
Prestin kannte die Symptome - der Vorname der Contessa, der Vergleich der beiden Wagen und so weiter.
„Hatte der alte Flavia nicht eine Kugelfischer-Einspritzpumpe, um die Leistung zu steigern? Mit Autos kenne ich
mich ja nicht ganz so gut aus, denn mein Fach sind die Flugzeuge.“
„Ja“, erwiderte Margie kurz. „Aber die hat mit ihrem Lancia ebenso herumgepfuscht wie ich mit meinem Jensen.
Diese Katze!“ Und als Dreingabe folgte ein rascher Fuchsblick.
Macklin lachte meckernd. „Du wirst es schon schaffen, Margie.“
„Hat jemand schon mal einen Blick auf die Landkarte geworfen?“ wollte Alec wissen. „Wir wollen doch keinen
Pfusch machen. Die Contessa fällt doch nicht auf den uralten Gag mit dem Öl auf der Straße herein.“
Allmählich vertiefte sich die Verschwörerstimme im Wagen. Macklin griff in das Handschuhfach und nahm eine
Straßenkarte heraus, die so gefaltet war, daß sie eine schnurgerade nach Süden weisende Straße zeigte. „Hm“,
machte er nachdenklich. Er zog mit dem Finger eine Linie über die Karte, und Prestin spähte ihm über die
Schulter. „Da sind wir, Leute. Irgendwelche Vorschläge?“
„Die nächste, Dave“, antwortete Margie kurz. Zum erstenmal sah Prestin ihr Gesicht ganz. Es war gebräunt und
jung, fast entzückend zu nennen. Sie hatte langes, braungoldenes Haar mit einem gesunden Schimmer. Unter
dem smaragdgrünen Mantel trug sie ein Abendkleid aus weißer Wolle. Über ihrem kurzen Autohandschuh
glitzerte ein Brillantarmband.
Als er sie ansah, fiel ihm wieder Fritzi ein. Vielleicht würde Fritzi eines Tages die klare, göttlich-schöne Reife
Margies erreichen.
„Sie holen auf“, meldete Alec. Er lehnte sich vorwärts und hatte das Gewehr zwischen den Knien. „Kannst du
aus deiner lahmen Ente nicht noch ein paar Kilometerchen herauskitzeln, Margie?“ fragte er.
„Du Affenkragen, aber in einem Stück willst du doch wohl bleiben, was?“ Margie fuhr den Wagen erstaunlich
sicher, und die Geschwindigkeit kam einem nur dann zu Bewußtsein, wenn man die Bäume und Häuser an der
Straße oder die in Gegenrichtung vorbeiflitzenden Wagen beobachtete. ,,Ich muß ein bißchen Reserve für die
Kurve haben.“
„Braves Mädchen.“ Macklin stippte seinen Finger auf die Landkartenstraße. „Da ist es. Noch gute sechs
Kilometer, Margie.“ Er kicherte. „Das ist eine schöne, scharfe Kurve.“
„Aufpassen!“
Alec lehnte sich zurück, aber Prestin schaute noch immer auf die Straßenkarte. In weiten Abständen waren sau
bere rote Kreuzchen mit Tinte eingezeichnet.
„Was bedeuten die?“ fragte er.
„Die Kreuze? Ah, die Das sind alle uns bekannten Nodalpunkte. Da ist der, an dem Fritzi durchging ...“
Er wies auf ein rotes Kreuz scharf nordwestlich von Rom. „Waren Sie da nicht gerade ungefähr zehntausend
hoch?“
„Nein, nicht mehr ganz. Da gingen wir schon runter. Ich weiß nicht genau, aber das könnte ich schon
rauskriegen. Meinen Sie wirklich, daß bei all diesen roten Kreuzen Leute verschwunden sind?“
Macklin lachte säuerlich. „Nein, natürlich nicht. Ein paar davon haben nicht lange genug vorgehalten. Aber jeder
Porteur kann durchschicken, was der Nodalpunkt zuläßt. Ich glaube, Sie könnten an jedem Nodalpunkt viel mehr
durchschicken als die meisten.“
Ein spukhafter Schauer rann Prestin trotz der heißen Sonne über den Rücken. „Angenommen“, begann er und
schluckte heftig. „Angenommen, wir treffen jetzt im Moment auf einen Nodalpunkt?“
Margie lachte.
„Mensch, dann halte ich mich an mein Schießeisen“, sagte Alec.
„Tun wir das, Bob, dann wird derjenige, den Sie vielleicht ausgewählt haben, nach Irunium portiert“, antwortete
Macklin.
„Oh, nein!“
Etwas Hartes, Scharfes machte pinnnnnggg! am Wagenheck. Alec grunzte und hob ein wenig sein Gewehr an.
„Spare dir's, Alec.“ Macklin sah durch die Windschutzscheibe nach vorne. „Wenn sie normale Kugeln benützen,
dann tun sie uns auf die Entfernung nichts, es sei denn, eine Kugel saust unter die Klappe und trifft einen Rei
fen.“
„Vor uns liegt eine Kurve.“ Margie schien ganz kühl und ruhig zu sein.
„So, Margie, jetzt kommt dein Spielchen!“
Prestin riß seine Gedanken mit Gewalt von den rotkreuzigen Nodalpunkten los. Wir war Macklin eigentlich zu
diesen Informationen gekommen?' Lieber wollte er sich auf die vor ihm liegende Aktion konzentrieren. Der
Jensen beschleunigte samtweich und tauchte mit Höchstgeschwindigkeit in die Kurve.
„Das ist viel zu schnell!“ wandte Prestin verängstigt ein.
„Ruhig. Jungchen, nur ruhig!“
„Festhalten, Truppen!“ Margie sprach mit trügerischer Leichtigkeit. Prestin hielt sich an der Türschlaufe fest.
Aus dem Augenwinkel heraus sah er Alec, der sich auf den Boden kauerte und das Gewehr anhob. Seine Hand
drückte einen Hebel unter der Armstütze, und ganz plötzlich erschien zwischen der Stutze und der seitlichen
Wagenwand ein Loch. Durch dieses Loch schob Alec den Gewehrlauf und spähte durch das Teleskop.
„Alles fertig, Margie“, sagte er.
Margie warf die Anker aus.
Es war ein Chaos von durcheinandergewürfelten Empfindungen. Prestin wurde abrupt nach vorne geworfen und
verbog sich dabei den Arm. Er sah Macklin, der sich in die Sicherheitsgurte des Vordersitzes eingesponnen
hatte. Margie fuhr mit steif gestreckten Armen wie ein Grand-Prix-Fahrer. Alec drückte immer wieder den
Abzug seines Schnellfeuergewehrs, und zwischen den Zähnen zischte er etwas, sobald seine Waffe hustete.
Als der Wagen um die Kurve fegte, warf er einen Blick zurück. Ehe die Straßenböschung zwischen ihn und die
Landschaft raste, sah er den blutroten Lancia wie einen Renngaul nach vorne schießen; dann, als die Kurve sie
aufnahm, beobachtete er die zersplitternden Seitenfenster, die Reifen, die zerfetzt wurden, sah den Wagen, der
bockte und schlitterte, von einer Spur in die andere schoß und schließlich auf der Gegenfahrbahn landete. Und
dann stieg dicker Rauch aus der Maschine.
„Das hat sie fertiggemacht“, stellte Alec voll tiefster Befriedigung fest.
„Aber sie wird lebend rauskommen, die Katze. Sie hat neunmal neun Leben.“ Das sagte Margie.
Eine ganze Wagengruppe raste in nördlicher Richtung vorbei.
„Wenn diese Wagen ...“, begann Prestin.
„Sie sehen sie schon rechtzeitig, falls sie noch auf der Straße ist.“ Macklin lachte meckernd. „Wahrscheinlich ist
sie drüben im anderen Straßengraben gelandet.“
„Ho, Junge!“ sagte Alec, als rede er vom Fußballspiel des letzten Sonntags. „Habt ihr gesehen, wie sie sich um
sich selbst gedreht hat? Und gebraucht hat sie auch ganz schön. Mit ein bißchen Gluck ist der Lancia
schrottreif.“
„Nächstens läßt sie sich an ihrem neuen Wagen die Seite mit Panzerplatten verstärken.“ Margie lachte kurz, und
das klang sehr ironisch.
„Aber diesmal hat der alte Kurventrick wieder wunderbar gewirkt“, bemerkte Alec und nahm sein Schnell
feuergewehr auseinander. Er säuberte es mit der Sorgfalt einer Mutter, die ihr Baby trockenlegt. Sein kräftiges
Gesicht zeigte die ausgeprägten Linien größten Vergnügens. Das war ein Mann, der sich, wenn es nötig wurde,
restlos auf etwas einstellen konnte; ein Mann also, der sehr nützlich war, hatte man ihn in der Nähe.
Margie zog die Klappen über den Hinterreifen ein, lehnte sich zurück und fuhr gemütlich weiter. „Ich bin immer
noch ziemlich durstig und hungrig.“
„Ja, Margie. Aber der Sicherheit halber fahren wir noch ein Stückchen weiter. Dann können wir uns wirklich
entspannen.“ Macklin machte sich eigentlich recht gut als Befehlshaber. „Mehr als eine Stunde gebe ich der
Contessa nicht. Dann ist sie wieder hinter uns her. Sie muß doch glatt die aus Rom hinausführenden Straßen
unter Überwachung gehalten haben.“
„Ich habe aber keine Zeichen dafür gesehen“, bemerkte Margie.
„Ich auch nicht. Aber sie können vielleicht meinen Funkruf an dich aufgefangen haben. Ja, das wäre möglich.
War die Party nett?“ erkundigte er sich fast nebenbei.
„Na, so-so.“ Margie zuckte die Achseln, und der smaragdgrüne Mantel rutschte ein wenig herunter. „Fabrizi war
auch da. Ein schrecklich langweiliger Bursche.“
„Moment mal!“ fuhr Prestin fort. Er hatte sich noch immer nicht beruhigt. Man hätte ja in einer solchen Situation
ein gekochter Stockfisch auf einer Anrichteplatte sein müssen, um sich nicht aufzuregen. Früher hatte er sich ja
auch manchmal in einem Schlamassel befunden, und immer hatte er sich überlegt, ruhig und durchaus in der
Lage gezeigt, seine nächsten Schritte zu planen. Aber diesmal hatte sich sein Schicksal überschlagen wie ein
Auto, das über einen steilen Berghang kollert. Trotzdem hatte er versucht, da und dort ein Stückchen
Wirklichkeit und den Bruchteil vernünftiger Normalität festzuhalten. Mit Nodalpunkten, die sich über ein ganzes
Land verteilten, konnte man doch nicht verhindern, daß irgend jemand irgendwo und irgendwie plötzlich
verschwand, oder? Er konnte es jedenfalls nicht.
„Ich dachte doch, daß wir dort an der Kurve an einem Nodalpunkt gewesen wären“, sagte er. „Und ich glaubte,
das hättet ihr gemeint.“
„Nein, Jungchen, so verzweifelt sind wir noch nicht.“
„Aber ich bin's, ich bin's! Sie sitzen ruhig hier, reden von Partys, und ich, ich...“
Margie lachte. „Er weiß wirklich gar nichts, Dave, oder?“
„Nicht viel.“ Macklin lachte auch, und das klang nach freundlichem Spott. „Die Geschichte ist doch recht
einfach, Bob, nur bringt die Montevarchi dauernd dicke Hunde hinein.“
„Diese Katze!' fauchte Margie Lipton.
„Sie und wir - wir wollen doch dasselbe.“
„Ah, natürlich“, antwortete Prestin ziemlich ungehalten. „Das habe ich auch schon mitbekommen. Sie haben
mich ja gewarnt.“
Alec ließ etwas an der Waffe einschnappen und lachte. „Na, beruhige dich wieder, mein Sohn.“
„So?“ Eigentlich müßte er sich über diese Behandlung äußerst entrüstet zeigen. Schließlich war er ja keine
geräucherte Speckseite, mit der man nach Belieben verfahren konnte. „Und wenn ich ganz einfach nicht mittun
will?“
„Dann vergiß aber die Trugs nicht“, riet ihm Alec und ölte weiter an seinem Schießeisen herum.
Der Wagen schnurrte die Straße entlang. Die Sonne schien, die Klimaanlage versorgte das Wageninnere mit gekühlter Frischluft und saugte den letzten Pulverrauch ab. Macklin fand eine Rolle Pfefferminz und reichte sie herum. Alle lutschten düster vor sich hin. Schließlich ertrug es Prestin nicht mehr länger. „Wenn ihr mir jetzt nicht endlich erzählt...“ „Da gibt es nicht viel zu erzählen. Irunium existiert.“ Macklins Gesicht verlor jetzt mit einem Mal alle Lachfalten; es wurde ernst und ein bißchen abwesend. „Ich war noch nie dort. Es ist ein wundervolles Land wundervoll und schrecklich. Es ist sehr reich, und die alten Geschichten von den goldenen Töpfen am Ende des Regenbogens würden sich doch millionenfach bewahrheiten.“ „Märchen, ha!“ „Sie sind doch mit der Theorie der Dimensionen vertraut? Und Sie wissen doch, daß parallel zu unserer Dimension eine unendliche Anzahl weiterer Dimensionen verläuft? Andere Universen, die alle gleichzeitig mit dem unseren existieren, in die man auch eindringen kann, wenn man den richtigen Schlüssel hat, Das ist jetzt schon eine alte Theorie, eine, die in der Vorstellungswelt des Menschen existiert, seit sich die Möglichkeiten dimensionaler Reisen in die Wirklichkeit...“ „Ha!“ „Alles wurde natürlich äußerst geheimgehalten, wie Sie sich denken können. Wir auf der Erde stehen in direkter Verbindung mit anderen Welten, die uns in Ideologie, Kultur, Wissenschaft und Technik und in vielen anderen für uns selbstverständlichen alltäglichen Dingen nicht gleichen.“ „Und was soll das alles heißen?“ fragte Prestin. Natürlich hatte er von der Theorie der Dimensionen schon gehört, denn das war für einen literarisch Interessierten selbstverständlich. Vor Jahren hatte man sogar in den Zeitungen viel darüber gelesen, daß man auf der Treppe einer U-Bahn-Station in London eine ganze Bande Witzbolde verhaftet hatte, die für eine Safari ausgerüstet war. Aber herausgekommen war dabei nichts. Erst hatten sie gesagt, sie wollten in eine andere Dimension reisen, und dann hatte sich herausgestellt, daß sie ein wenig zu voll des süßen Weins waren, und man hatte sie in eine Ausnüchterungszelle gesperrt. Damals hatte er sich gedacht, es wäre doch ein heilloser Spaß, könnte man wirklich.... „Es ist so“, fuhr Macklin fort. „Wenn Dimensionen in unserer allernächsten Nachbarschaft mit Völkern oder Rassen besiedelt sind, die aus irgendwelchen Gründen nichts mit uns zu tun haben wollen, dann können wir durch die Nodalpunkte in andere Welten gehen. Im Moment ist Irunium die nächste Welt.“ „Wieso im Moment?“ „Das wechselt, mein Jungchen. Wir hören von anderen Rassen und Völkern erzählen, die herüberkommen und es tatsächlich auch tun. Wir verstehen auch, uns mit anderen Dimensionen in Verbindung zu setzen. Aber die Contessa braucht Geld und Juwelen, und das ist in Irunium zu finden. Daher braucht sie Porteure, die für sie arbeiten.“ „Ich soll also Sklavenarbeit für sie tun?“ „Nun ja, Sklavenarbeit könnte man es ja gerade nicht nennen. Aber daß die Arbeit Ihnen nicht passen würde, dafür garantiere ich.“ „Sie ist eine Katze, deren Eltern nichts als nur Nodalbekanntschaften waren“, stellte Margie fest. „Wir ziehen uns ins nächste Cafe zurück, denn ein Kaffee tut uns allen sicher recht gut“, schlug Macklin vor. Prestin versuchte ruhig zu bleiben. Wäre Fritzi nicht verschwunden und hätte er nicht mit eigenen Augen einen Trug gesehen, dann hätte er von dem ganzen Dimensionen- und Schatzunsinn keine Silbe geglaubt. Aber die anderen nahmen alles so beiläufig hin, so ganz ohne Drama, ohne Heroismus und Hysterie. Diese drei Leute führten einen Job aus und machten kein Aufhebens davon. „Und wie kamen Sie in die ganze Geschichte hinein?“ fragte Prestin schließlich „Erst dachten wir, die Montevarchi sei eine ganz normale Person, aber das ist sie nicht. Uns hat sie auch lange getäuscht Dann entdeckten wir, was mit ihr los war und was sie getan hat“ Macklin lehnte sich mit verbissenem Gesicht zurück „W-Was?“ „Momentchen, Bob“, warf Margie ein „Margie, du alte Angstliese, mir geht’s ganz gut“, sagte Macklin „Der junge Mike´... Ach, zum Teufel, Mädchen, du und er „ „Wir finden ihn“, erklärte sie „Und da ist ein Cafe oder so was Du brauchst jetzt einen Schluck, Dave. Das ist sicher „ ,Hören Sie, Bob“, Macklin legte eine Hand auf Prestins Arm und lehnte sich weit über den Sitzrücken , Mike ist mein Sohn Er war, kurz gesagt, der feinste, ehrlichste und beste Bursche, und die Montevarchi hat ihn. Er muß mit anderen in Irunium für sie Fronarbeit leisten. Jawohl, richtige Sklavenarbeit Auf die Art bleibt sie reich und kann das Geld mit vollen Händen hinauswerfen Und Mike und die anderen schaffen immer größere Reichtümer herbei“ „Kaffee!“ sang Margie laut und fröhlich und fuhr den Jensen von der Straße herunter auf einen Parkplatz. Prestin hatte gar kein Interesse mehr dafür. Sagen Sie mir“, bat er, als Margie den Motor abstellte, „warum fahren wir nach Foggia? Ich meine, wir wollen zwar dem entkommen, was in Rom war, aber warum ausgerechnet Foggia?“ „Dort kenne ich einen gewissen Gerstein, der eine Menge über Dimensionen weiß. Er hat im Krieg seinen Sohn verloren, und wir arbeiten zusammen Wenn er hört, daß Sie Fritzi durchgesch... „Das ist nicht fair! Sie wissen gar nicht, daß ich sie hinübergeschickt habe'„
„Wie soll sie dann verschwunden Sein?“ Macklin öffnete die Wagentür und sah Prestin zornig an „Wir hören immer wieder Geschichten von anderen Leuten, welche die Schlüssel zu anderen Dimensionen finden. Einer, ein Engländer namens Crane, hat eine Karte, aber er will und will nicht darüber reden.“ „Sie sagen mir, es wäre möglich Dann muß es doch andere...“ „Klar Ein gewisser Alan Watkins hat Formeln für das Überwechseln in andere Dimensionen aufgestellt. Leider stellte sich heraus, daß für jede Dimension eine andere Formel nötig ist Ein gewisser Phil Brandon hat mir das gesagt, aber er durfte keine weiteren Informationen herausgeben. Nein, Bob Wir sind auf uns allein gestellt.“ Vier in einer Tragikomödie verbundene Personen die zwischen verschiedenen Welten hingen, gingen ins Cafe. Einer glaubte nicht, doch er hatte den Beweis seiner Wahrnehmungen „All diese roten Kreuze“, sagte Prestin „Woher wissen Sie, daß es lauter Nodalpunkte sind? Es muß doch noch ein anderes System geben.“ „Vielleicht. Eines, was dieser Brandon zu mir sagte, habe ich nicht vergessen. Halte nach diesen Porvone Ausschau, Porvone. So, wie er es sagte, sind die Porvone noch eine ganze Menge schlimmer als die Trugs.“ Sie nahmen an einem Tisch Platz, und Alec leckte sich die Lippen nach einem ausgiebigen Menü mit vielen Zwischengängen „Ich bin fast verhungert“, stellte er fest. Das war auch Prestin. Margie bat den fetten, lächelnden Patrone um Risotto mit Pilzen und Safran, und Prestin folgte ihrer Anregung. Alec wählte eine sehr bunte, gewürzte Pasta, und Macklin beschied sich mit einem Weißfisch, Blumenkohl und Genueser Fischsoße Und bald fühlten sich alle um die Leibesmitte herum wohler. „Wenn du magst, Margie, dann fahre ich jetzt“, bot sich Alec an und schob das Glas weg als Macklin lächelnd mit dem ausgezeichneten Vesuv-Landwein auffüllen wollte „Ich bin gar nicht müde und fahre meinen Wagen lieber selbst“, erklärte Margie „Und ich bin nicht... „Du hast dich deutlich ausgedrückt“, wurde sie von Alec unterbrochen Die dicke, lächelnde Frau des dicken, lächelnden Patrone brachte ausgezeichneten Filterkaffee mit einem leckeren Sahnehaubchen darauf. Prestin hatte fast das Gefühl, nichts Katastrophales habe sich in den letzten vierundzwanzig Stunden ereignet. Es war so friedlich hier in diesem ländlichen Straßengasthaus, und wenn man eine Mahlzeit, Wein und Kaffee im Magen hat und sich gemütlich im Stuhl zurücklehnt, dann ist die Welt immer heiter und angenehm. Vor den Fenstern stand ein blauer, wolkenloser Himmel, und die Luft flimmerte vor Hitze Während der Mahlzeit hatten sie sich nur leise und in vagen Andeutungen über die Dimensionen unterhalten denn der Wirt verstand ein bißchen Englisch. Alec schaute zum Fenster hinaus „Ich glaube, wir müssen wieder weiter“, sagte er, Die Montevarchi könnte einen anderen Wagen gefunden haben.“ Alec stand auf und lauschte „Helikopter“, stellte er fest Prestin griff instinktiv nach seiner Brieftasche, doch Macklin bezahlte. Die vier gingen hinaus. Die Sonne war herrlich, der Himmel glänzte in einem kitschigen Blau, und über der Straße tanzte flirrende Hitze Der Helikopter flog seine Runden. Margie legte eine Hand auf ihren Mund. ,Könnte sein“, meinte Alec, blinzelte m den Himmel hinauf und steckte seine Hand in die Jackentasche. Prestin hatte den Eindruck, sie sei ziemlich ausgebeult Auch er schaute nun in den Himmel Die Sonne fing sich in den Rotoren und in der Haube aus Plexiglas „Das ist eine Agust 105“, stellte er fest „Wahrscheinlich die viersitzige B. Nettes kleines Ding.“ , Ihr habt zweifellos recht“, sagte Macklin „Also rennt'„ Er lief zum Jensen, als sei sein Hosenboden in Brand geraten. Die anderen folgten. Prestin spürte Angst, einen sauren Geschmack im Mund und ein mahlendes Gefühl im Magen, das er nun schon recht gut kannte Und deshalb rannte er, als sei die ganze Hölle hinter ihm her. Der Helikopter kehrte zurück. Tschopp-tschopp-tschopp machte das Ding ein bißchen weinerlich, und dann wurde das Geräusch von einem brutaleren Wiccwiccwick überlagert Die Kugeln des Schnellfeuergewehres pfiffen über das Pflaster Alec riß einen Arm in die Hohe und schoß das ganze Magazin seiner Luger leer Und natürlich sah Prestin, daß die Kugeln nirgendwohin flogen Und der Helikopter zog eine Runde nach der anderen Margie fummelte an ihrem Täschchen herum und fand endlich die Wagenschlüssel „Schnell, Margie!“ schrie Alec Prestin sah den schwarzen Geisterschatten über das Restaurant fliegen Der Patrone und seine Frau waren hin eingerannt und hatten die Türen verrammelt, denn andere Gaste waren nicht da. Der Kopter kam immer näher, immer tiefer herunter. Prestin sah ganz deutlich die lange Schnauze eines Maschinengewehrs im offenen Fenster hinter dem Pilotensitz. „Ist das die Contessa?“ wollte er wissen, und im Magen hatte er ein flaues Gefühl. „Einer ihrer Helfershelfer. Kein Trug, sondern ein Erdenmann.“ Macklin stand schon neben dem Wagen, als Margie die Tür aufriß. Alec tauchte sofort hinein. Prestin fand es erstaunlich, wie schnell er sein Schnellfeuergewehr zusammengebaut hatte. Und dann saßen sie auch schon alle im Fahrzeug. „Margie hat sich die kugelfeste Ausstattung fast fünftausend Pfund kosten lassen“, erklärte Macklin, und das klang so, als halte er es für einen guten Witz, den Prestin aber leider nicht verstand. Die Automatik von oben spuckte wie ein Lama. Alec ließ eine Sechserrunde rattern. Am Helikopter konnte Prestin keine Beschädigung entdecken. Er horte nur immer, wenn die Kugeln auf das Blech des Wagens prallten. Dann schoß Alec wieder, und diesmal sah Prestin, daß die Plexiglasscheibe in
Scherben herunterfiel. Der Pilot krümmte sich und sackte zusammen, und der Helikopter blieb einen Augenblick in der Luft stehen. „Er fällt uns noch tatsächlich auf die Köpfe!“ schrie Margie. ..Aus dem Weg!“ brüllte Macklin. Prestin sprang auf, ergriff Margies Arm und zog sie in die Höhe. Er fühlte um den Kopf ein massives Metallband, das ihm den Schädel zusammenschnürte und sein Gehirn herauszupressen drohte. Er rannte, aber Margies Gewicht hing an ihm; vor ihm waren Macklins staubige Schuhe; Alec schoß, und der schwarze Schatten über ihnen kam erbarmungslos tiefer. Er rannte, was seine Beine hergaben. Er rannte, bis der Beton zu Ende war und er sich durch gelbliches, dorniges Gebüsch und dunkelgrüne Unkraut flecken kämpfte. Die Füße taten ihm weh. Der Sand kochte vor Hitze, und seine echt englischen, handgenähten Lederschuhe fühlten sich an, als stünden sie auf einem angeheizten Grill. Den Helikopter hörte er nicht mehr. Er horte auch nicht mehr Alecs Schießen, Macklins Schreien, und auch Margie hörte er nicht. Seltsam, er spürte auch ihren Arm nicht mehr. Seine Finger schlossen sich um leere Luft. Und dann begriff er.
5. Also hatten sie ihm doch keine Märchen erzählt. Und er war in Irumum. Großartig. Aber wie sollte er nun wieder zurückkehren? Ihm war nur noch wichtig gewesen, von dem abstürzenden Helikopter wegzukommen und Margie in Sicherheit zu bringen. Er hatte Kopfschmerzen, doch er konnte noch ein wenig denken. Er mußte sich selbst aus Feigheit an diesen Platz katapultiert haben. Die Sonne schien noch immer, und der Sand knirschte unter seinen Sohlen. Der Himmel war blauer, und das Gras, das in der Nahe in dicken Polstern wuchs, war grüner. Ein Gehölz orangefarbener Bäume, die wie Kegel aussahen, kam direkt aus dem Gras, und als er sich umsah, bemerkte er viele solcher kleiner Grasklumpen und Kegelbaumwäldchen. Einige Klumpen waren ockerfarben und hatten jadefarbene Bäume. Ein Vogel schwebte einer niedrigen, verwaschenen Wolkenbank entgegen, doch Prestin wußte nicht genau, ob es wirklich ein Vogel war. Nach dem Stand der Sonne stand die Wolkenbank im Norden über dem Horizont. Aber auch das wußte er nicht genau. So weit er sehen konnte, wechselte die Landschaft von roten Sanddünen zu goldgelben, von blaugrünen, üppigen Grasflecken zu hellgrünen, die mit zahllosen mohnroten Bluten durchsetzt waren. Wind schien es nicht zu geben; wenigstens spürte er keinen, und das Gras bewegte sich nicht. Es mußte aber doch Wind geben, obwohl er nicht wußte, weshalb. Ich bin hier Mensch, ich bin hier! Also muß ich zurück Aber wie? Vermutlich gab es hier einen Nodalpunkt, durch den er, statt nur die anderen durchzuschieben, selbst gekommen war. Ohne Absicht, ganz gewiß Wenn er den gleichen Punkt wiederfinden könnte, dann könnte er – was? Er hatte sich höchstens zwei, drei Schritte weit entfernt. Wie konnte er auf die ihm vertraute Welt zurückkehren? Mußte er Abrakadabra oder mumbo-jumbo sagen? Oder was sollte er sonst tun? Er wußte, zurückkehren konnte er nur dann, wenn er scharf nachdachte und die Hoffnung nicht aufgab. Und Durst hatte er... Die Hitze des Sandes wurde schließlich unerträglich, und er ging weiter zu einem Grasfleck. Irgendwie hatte er das Gefühl, ihn zu entweihen, aber das war ihm gleichgültig Und Angst hatte er, verdammte, elende, hundsgemeine Angst Eine vage Ahnung sagte ihm, daß diese Angst in Zukunft nicht nachlassen, sondern sich eher noch verdichten wurde Trotzdem mußte er sich seine neue Umgebung ein wenig ansehen Wenn er wieder nach Italien zurückkehren wollte, dann hatte er ein Problem zu lösen. Dastehen und bekümmert sein - damit kam er nicht weiter. Und hier gab es keinen, der für ihn Probleme löste. Seine Kehle war trocken. Was tun? Er drehte sich um und schaute um sich. Er sah nur die Landschaft, die ganz anders war als jene, die er eben verlassen hatte. Er sah die flaschenförmigen Bäume, das hohe Gras, den Sand, die seltsame Leere, die quälende Dunkelheit am nördlichen Horizont Vielleicht waren es Berge und keine Wolken Immerhin möglich. Also Berge. Wenn er nicht nach Italien zurückfand, mußte er hierbleiben, sich Nahrung, Unterkunft und vor allem Wasser suchen. Am Fuß der Berge mußte es Wasser geben, vielleicht etwas zu essen, vielleicht eine Hohle als Unterschlupf. Oder sollte er sich
lieber in den Wahnsinn flüchten? Er machte sich auf den Weg. Er wußte nicht, wie lange er schon gegangen war, als er den dunklen Punkt sah, der vor ihm über den Boden huschte. Er blieb stehen, wischte sich den Schweiß von der Stirn und kniff die Augen zusammen. Dann nahm er seine Brille ab und wischte sie klar und trocken. Als er sie wieder aufsetzte, war der Punkt zu einem Tier geworden. Das riß Prestin aus seiner Lethargie. Der Körper dieses Wesens rundete sich zu einem zwiebel- und vogelähnlichen Ding von einem guten halben Meter Durchmesser und metallischem Blau. Aus der Zwiebel ragte ein gelber Hals heraus, der etwa einen Meter lang war und an dessen Ende ein kleiner Katzenkopf saß, der in seiner pelzigen Bärtigkeit seltsamerweise intelligent und weise wirkte. Was Prestin jedoch erschütterte, so daß er wie angewurzelt stehenblieb, waren die Beine des Wesens. Es waren zwei lange Libellenbeine mit Gelenken, und ein weiteres Paar ragte hinten heraus und war zusammengeklappt. Davor wedelten zwei weitere Paare wie Pseudoarme, und jeder Arm endete in einer Klaue mit langen Krallen. Die zählte Prestin in seinem Schock und fand zu seiner Erleichterung, daß das Ding vier Krallen und nicht nur drei wie die Trugs hatte. Und das Ding kreischte fürchterlich, als es sich näherte. Die Gefahr riß Prestin aus seiner Lethargie. Aber ehe er noch rennen konnte, hieb eine Klaue nach ihm und schickte ihn in den Sand. Dann schloß sich eine zweite Klaue um seinen Nacken. Er fühlte, wie ein Knochen scharrte, und dann hörte er den pfeifenden Atem durch die flache Katzennase, und er roch die ranzigen Federn. Verzweifelt schob er die Hand in die Tasche und suchte sein Taschenmesser, das er gewöhnlich bei sich hatte. Er fand es, mußte aber sein Gesicht tief in den Sand graben, weil ihn die Klaue bedrohlich am Hals festhielt. Was tat das Ding sonst? Eigentlich nichts. Er öffnete also sein Messer und stieß blindlings nach oben. Die Klaue rührte sich ein wenig, so daß er aufspringen konnte. Dann stand er vor dem Ding. Dessen Kopf pendelte wie ein Schlangenkopf hin und her, das Maul war aufgerissen und spuckte, fauchte und knurrte. Die Klauen holten aus, und Prestin sprang seitlich weg. Aus dem dunkelblauen Körper quoll grünliches Blut, wo sein Messer getroffen hatte. Das Ding war die verkörperte Drohung. Erst hatte es ihn nur festhalten wollen, aber er hatte zurückgeschlagen. Jetzt versuchte es ihn zu töten. Wieder holten die Klauen aus, aber Prestin tat wieder einen seitlichen Satz und stieß mit dem Messer zu. Die Klinge schnitt eine lange Kralle halb durch, und das Ding tat einen schrillen, quietschenden Schrei. „He, das paßt dir wohl nicht?“ fragte Prestin keuchend und voll Angst, erwartete aber keine Antwort. Davonrennen konnte er nicht, denn sein Gegner war offensichtlich viel schneller als er. Und außerdem hatte er ihn lieber vor sich, wo er ihn sehen konnte. Er holte also erneut mit dem Messer aus, und das Ding pfiff. Der Schlangenhals schoß nach vorne, und der kleine Katzenkopf saß ihm an der Kehle. Die Fänge waren weiß und nadelscharf, die Lippen dunkelgrün, die Kehle gelbgrün. Prestin wich seitlich aus, taumelte, warf einen Arm in die Höhe und spürte die spitzigen Fänge in seinem Fleisch. Er holte wieder aus, stach diesmal aber in die leere Luft. Dann stieß der kleine Kopf erneut zu. Keuchend, krei schend und voll Angst wirbelte er herum und fühlte die Fänge nun in seiner Schulter. Er fiel auf die Knie, aber dann bekam er den Kopf zu fassen und hielt ihn fest wie ein ungezähmtes Pferd. Er brauchte Kraft dazu. Das Ding kreischte, knurrte und fauchte. Prestin ließ sein Messer fallen und griff nun mit beiden Händen zu. Die Klauen versuchten sich festzukrallen, aber Prestin schlug dem Ding mit aller Wucht seine echt englischen, handgenähten Schuhe in die blauen Federn. Und dann hörte er - oder glaubte es wenigstens - einen scharfen Knack. Der Hals wurde schlaff, der Kopf pendelte hin und her. Eine grünliche Flüssigkeit quoll aus dem Maul und rann ihm über die Fäuste. Angewidert warf er das Ding von sich. Jetzt erst sah Prestin einen hölzernen Pfeil aus dem blauen Körper ragen, dessen schwerer, keilförmiger Kopf halb im blauen Fleisch steckte. Er sprang auf und drehte sich um. Der Mann hinter ihm lachte. Er hatte ein bronzefarbenes, bärtiges Gesicht, blaue Augen und lockiges Haar. Er winkte. „Molte buono! Ecco - Andate!“ Das Italienisch hatte einen starken Akzent, war aber zu erkennen.
„Was und wer sind Sie?“ fragte Prestin und bediente sich auch des Italienischen.
„Egal! Bring mir lieber den Pfeil. Ich brauche ihn. Und schnell!“
Prestin riß ihn ein bißchen widerstrebend heraus. Seine Knie zitterten ein wenig, aber er drückte sie durch. Keine
Zeit für Reaktionen der Schwäche ... Oh, verdammt, das war aber knapp gewesen.
Er rannte dem dunkelbärtigen Fremden entgegen. Der Mann trug ziemlich saubere, grüne, hautenge Jägerhosen
und eine grüne, kurze Jacke darüber. Über der Schulter hing ihm ein ganzer Köcher mit Pfeilen, und an der
linken Hüfte hatte er ein Schwert hängen. Hut trug er keinen, und Prestin fühlte sich fast betrogen. Der Kerl hätte
doch, um stilecht, zu wirken, einen etwas zerknautschten Hut mit einer Feder auf dem Kopf haben müssen.
„Wer bist du?“ fragte der Mann. Seine Stimme klang ein bißchen brummig, aber nicht unfreundlich.
„Ich heiße Prestin. Und du?“
„So. Nur Prestin. Die Andersweltler scheinen keinen Begriff zu haben, was sich mit Namen gehört. Ich bin
Dalreay von Dargai, Todor Dalreay von der Burg und den Landen von Dargai, edler Geburt und - Flüchtling.“
Das klang anfangs sehr stolz, wodurch sein Italienisch echter wirkte, später aber beißend bitter.
„Na, dann sind wir ja zwei“, antwortete Prestin in aller Ruhe.
„Wieso?“ Dalreay schien den gleichen wechselnden Stimmungen zu unterliegen wie Prestin. Seine dunkelblauen
Augen zeugten von einer sehr großen Entschlossenheit, mit seinen jetzigen Problemen aufzuräumen, und Prestin
teilte diese Gefühle.
„Du hat doch gesehen, daß dieses Ding mich töten wollte.“
„Der Ulloa? Glaube ich nicht. Die jagen die Valcini.“
„Die Val-valcini?“
„Wenn du hier am Leben bleiben willst, hast du noch eine ganze Menge zu lernen, mein Lieber. Erstens Schnel
ligkeit. Die Valcini folgen nämlich diesem Ulloa, oder dem Scheusal folgt seine ganze Horde. Wir müssen sofort
von hier verschwinden. Als Flüchtling bin ich daran ja gewöhnt.“ Sein Mund verzog sich zu einer bitteren Linie.
Er lief auf einen Klumpen dieser Flaschenbäume zu, und Prestin folgte ihm. Am Fuß eines jadegrünen
Exemplars bückte sich Dalreay und rupfte an dem kräftigen Gras. Statt nun dieses Gras mit den Wurzeln
auszureißen, hob er ein ganzes Polster davon auf. Es öffnete sich wie eine Falltür, und in die Erde geschnittene
Stufen führten in eine schwarze Dunkelheit hinunter.
„Ich gehe voran, Prestin. Aber um Amras willen, falle nicht über mich! Es geht tief hinunter.“
Auf der obersten Stufe lag eine dicke, braune Segeltuchtasche, die Dalreay aufhob und an einem Lederriemen
über die Schulter hängte. Prestin bemerkte, daß Dalreays Kleider, die Pfeile, die Tasche und alles übrige ihm ein
Bild vom kulturellen und technologischen Niveau dieser Welt geben könnte. Vorerst tappte sich Prestin aber
vorsichtig und mit den Fingern in der krümeligen Erde haltsuchend durch die Dunkelheit nach unten.
Fragen stellte er nicht. Er hatte nur das Gefühl, daß unter diesen Boden ein sicherer Hafen liegen könnte, der mit
einiger Bestimmtheit an der Oberfläche dieser gräßlichen Welt nicht existierte.
Er zählte die Stufen, denn sein wissenschaftlich geschulter Geist forderte Bestätigung. Bei 365 hörte er auf.
Kurze Zeit später blieb Dalreay stehen. „Wir sind gleich da. Jetzt paß mal auf. Du bist ein Außenweltler und
daher leicht zu erlegen. Du tust also genau das, was man dir sagt und stellst den anderen nicht zu viele Fragen.“
Er schnickte ein wenig, als habe er einen Schluckauf. „Ich bin Dalreay von Dargai, und ich kenne mich aus.
Komm jetzt.“
Ein wenig verwirrt, aber trotzdem erstaunlich vertrauensselig ging Prestin mit. Irgendwie hatte er das Gefühl, er
könne diesem dunkelbärtigen, bitteren Mann ebenso vertrauen wie David Macklin.
„Von jetzt an hältst du den Mund.“ Dalreays Hand deutete auf einen vagen, rosafarbenen Schimmer weiter
unten. Prestin stellte keine Fragen, sondern ergab sich Dalreays Befehl.
Schweigend setzten die beiden ihren Weg fort. Ihre Hände stützten sich lautlos an den Wänden ab. Prestin
erkannte nun Myriaden von glitzernden Facetten, winzige Edelsteine, die in der Wand funkelten. Das
rosafarbene Schimmern wurde kräftiger, die Juwelchen wurden zahlreicher. Als die beiden Männer schließlich
auf einem Steinboden standen, funkelten um sie herum in allen Farben die großartigsten Edelsteine.
Am liebsten hätte Prestin vor Staunen geschrieen, doch Dalreay griff nach seinem Arm und sah ihn tadelnd an.
Schnell und schweigend gingen sie weiter durch einen Tunnel, der aus Edelstein geschnitten war.
Dieser Todor Dalreay schien Jäger, Kämpfer und ein unerschrockener Volksheld zu sein. Er schien es zu sein,
denn die Verbitterung und Resignation, mit der dieser starke Mann von seinem Flüchtlingsschicksal sprach, hatte
einen tragischen, verzweifelten Unterton.
Dalreay wog nun einen Pfeil leicht in der rechten Hand; seine Linke schloß sich fest um seine Segeltuchtasche,
die ihm von der Schulter hing.
Der Tunnel wurde breiter und höher, und die Wände waren geglättet und fast geschliffen. Prestin hatte das
Gefühl, in einer italienischen Basilika einer anderen Dimension zu stehen, so hoch und breit wurde der Tunnel.
Im Boden bemerkte er tiefe Spuren, die Prestin intuitiv als Fahrspuren jener Wagen erkannte, welche die
Juwelen aus den Felsen schnitten.
Wieder mahnte Dalreay Prestin zum Schweigen. Er drückte sich eng an eine Tunnelseite, die sich ein wenig nach
außen bog und daher alles verbarg, was weiter vorne lag. Jetzt ging er viel vorsichtiger weiter. Prestin kniff die
Augen zusammen vor dem harten, schillernden Glanz des Edelsteintunnels. Er wischte ein paar Tränen ab und
dachte flüchtig daran, daß dieses grelle Licht ihm die Augen ruinierte. Er stemmte sich mit beiden Händen gegen
die Wand, schloß die Augen und tappte so hinter Todor Dalreay her. Plötzlich prallte er auf den grünen
Jägersmann, und da riß er wieder die Augen auf.
Dalreay stieß ihm einen harten Ellbogen in die Rippen, so daß Prestin zurücktaumelte und fast in einer Wand
nische landete. Hier waren frische Meißelspuren zu erkennen, und auf dem Boden lagen verstreute Juwelen. Von
der Biegung her waren nun plötzlich Geräusche zu vernehmen - hallende Schritte, das Klirren von Metall, arro
gante Stimmen, Lachen und sorglose, befehlende Rufe.
Dalreay schob sein bärtiges Gesicht an Prestins Ohr.
„Das sind die verdammten Bälger der Honschi-Garden! Um Amras willen, laß keinen von ihnen entkommen,
falls es mehr sind als zwei. Komm jetzt. Nimm das.“ Damit drückte er einen Speer in Prestins Hand.
Prestin gefiel das alles nicht. Er hatte den Eindruck, es sei ein sehr schwerer Fehler, überhaupt hierzusein. Die Schritte näherten sich. Die Stimmen und das metallische Klirren vereinten sich zu Orgeltönen. Wenn es mehr als drei wären ... Prestin schluckte heftig. Dalreay nahm seine Segeltuchtasche herunter und schob sie weiter in die Nische hinein. Sein ganzer Körper war gespannt und auf ein Objekt konzentriert. Diese Honschi-Garden - egal, was sie waren - würden schon ihre Prügel von Dalreay bekommen. Wieder schluckte Prestin und versuchte zu vergessen, daß er ein kultivierter Mann des zwanzigsten englischen und amerikanischen Jahrhunderts war und nicht ein blutrünstiger Wilder, der nach der Manier paläolithischer Zeiten recht anachronistisch mit einem stahlbewehrten Pfeil ausgestattet war. Drei Gardisten bogen um die Kurve. Dalreay flüsterte nur ein einziges Wort: „Pardushkaloth“ Das klang wundervoll unanständig, und so sahen die Männer auch aus. Ihre Köpfe hatten breite, grinsende Froschgesichter mit großen, weitgesetzten Augen, flachen, grau und gelb gesprenkelten keilförmigen Wangen und einer blauen Maulumrandung. Sie waren etwa einsfünfundsiebzig groß und watschelten auf kurzen OBeinen daher. Sie sahen zäh, unflätig und abstoßend aus. Sie trugen eine Metallrüstung, die Prestin eher für Kupfer als Bronze hielt, und auf den Köpfen hatten sie hohe, konische Helme, die mit roten und schwarzen Streifen abgesetzt waren. Aus der Helmspitze hing ein Haarschopf an geschrumpfter Haut. Für Skalps sahen die Dinger zu klein aus. „Hieyea!“ brüllte Dalreay und tat einen Satz auf sie zu. Sein Pfeil durchschlug glatt das Brustplattenseitenstück des ersten Gardisten. Das Todesurteil dieses Honschis wurde mit einem Schwall grünen Blutes geschrieben, der auf das Jägers Hand sprudelte. Die Honschi hatten Schwerter, die dem glichen, das Dalreay nun aus der Scheide riß - kurz, breit und blattförmig wie keltische oder griechische Schwerter. Zum Stoßen und Schwingen waren sie bestens geeignet, sogar für einen kurzen, kräftigen Schlag auf den Nacken, weniger gut allerdings für einen Angriff auf einen gepanzerten Mann. Da sie breiter waren als das klassische Keltenschwert, waren sie auch ein bißchen schwerfälliger. Prestin warf sich auf den zweiten Honschi und hielt dabei seinen Pfeil wie einen Karabiner mit aufgepflanztem Bajonett. Der Honschi gab kehlige, tiefe Gurrlaute von sich. Prestin setzte seinen Ausfall fort; sein Pfeil traf Metall, durchdrang es und bog sich. Die Wucht seines Ausfalls schnellte ihn weiter vorwärts, so daß er auf den Honschi prallte. Aus dem Augenwinkel heraus sah er Dalreays Schwert blitzen, worauf der dritte Gardist nur noch eine grünblutige Masse war. Es konnte aber immer noch passieren, daß der zweite - sein - Gardist entkam. Also zog Prestin das Knie scharf an und den Kopf ein und stieß hart seitlich zu Miteinander landeten sie auf dem Boden. Dann hatte er aber endlich den Schwertarm seines Gegners Der Honschi leistete Widerstand. Einmal war der eine oben, dann wieder der andere, und das Froschgesicht atmete dazu in keuchenden, übelriechenden Stoßen, die die Luft mit einem entsetzlichen Gestank erfüllte. „Prestin, halte doch wenigstens einmal einen Augenblick still!“ hörte er von irgendwoher Dalreay sagen „Ah.“ In dem Augenblick lag er gerade unten, und dann brach mit einem häßlichen „Twack“ das Ding über ihm zusam men. Prestin kämpfte sich nach oben durch; ihm grauste vor dem grünen Blut. „Ich hatte ihn doch, Todor“, beklagte er sich. „Klar hattest du ihn „ Dalreay lachte und sah recht zufrieden drein Er versetzte dem Toten einen Fußtritt „Selbstverständlich. Du hast ihn gehabt, Prestin. Ich habe ihn nur auf den Weg geschickt“ Prestin zupfte seine Jacke zurecht und versuchte etwas von dem unappetitlichen Zeug in seinem Gesicht abzuwi schen Dalreay begann inzwischen die drei Honschi nach Waffen abzusuchen Er nahm ihnen alle ab, ließ ihnen jedoch die Rüstung Prestin bückte sich nach einem Helm und deutete auf das Haar. „Was ist das? Ein Skalp?“ „Skalp?“ Dalreay sah ihn verwirrt an „Ich habe die Sprache der anderen Welt gelernt, Eytahemsch, aber dieses Wort verstehe ich nicht“ Prestin erklärte es ihm, und Dalreay lachte dazu wie zum besten Witz seines Lebens „Die Idee ist die gleiche, aber Haar vom Kopf ist es nicht Hahaha! Das ist pubisches Haar Die Honschi haben einen Sinn für Humor, den ihr Rothäute nicht versteht“ Für so spaßig hielt das Prestin nicht, und er ließ den Helm fallen, der scheppernd über den Boden rollte „Hier in Irunium muß ein Mann ein richtiger Mann sein, Freund Prestin“, neckte ihn Dalreay „Hier haben wir keine Wohlfahrtsorganisationen, mein Lieber.'„ Er schmückte Prestin mit etlichen Waffen und zog seine Segeltuchtasche aus der Nische; die stopfte er fest in die Ecke von Boden und Wand und legte die drei Toten darüber. Diese Arbeit schien er mit einigem Vergnügen zu tun „Weiter können wir jetzt doch nicht gehen“, erklärte er anschließend „Drum können wir's gleich hier tun Die Tunnels sind nicht vermint, aber recht gut bewacht“ „Was tun wir hier?“ fragte Prestin, doch er verstand sofort. Dalreay nahm aus seiner Gürteltasche ein Stuck Schnur und ein Päckchen irdischer Küchenzündholzer, schob die Lunte in die Segeltuchtasche, ging ein Stuck zurück und ließ die Schnur ablaufen. Prestin sorgte dafür, daß nichts zurückblieb. Dann zündete Dalreay die Lunte an, aber nun mußten sie wie gehetzte Hasen durch den edelsteinflimmernden Tunnel rennen Die Schwerter klirrten, aber Dalreay führte, und Prestin dachte nicht mehr an das Klirren, sondern rannte hinter Dalreay her wie ein Irrer. Sie standen schon fast am Fuß der Erdtreppe, als
der ohrenbetäubende Donner der Explosion den Tunnel füllte. Vom Luftdruck wurde Prestin gegen die Wand geschleudert. Dalreay hatte einen Fuß auf der untersten Stufe, schaute nach oben und schrie, denn ein Felsblock kam rumpelnd herunter und drohte sie bei lebendigem Leib zu begraben. Dalreay zerrte Prestin mit sich zu einer schmalen Nische im Juwelenfels Die stürzenden Edelsteine klirrten und klingelten, und der Explosionsstaub verklebte ihnen die Augen Prestin schützte sie mit den Händen und kauerte sich in namenloser Angst zusammen , Das habe ich nicht erwartet1“ keuchte Dalreay „Wieviel Pulver hast du genommen?“ Prestins Widerwille besiegte für einen Augenblick seine Angst „Hast du denn gar keine Ahnung?“ „Natürlich weiß ich's nicht1“ fauchte Dalreay und spuckte Staub und Steinchen aus Der Staub trieb in dicken Wolken über ihren Köpfen dahin, weil da und dort wieder ein Stück der Tunneldecke einstürzte Eine glitzernde graue Stein- und Schuttmasse kollerte die Treppe herunter Prestin druckte sich immer tiefer in die Nische „Wenn Nodger hier wäre, dann wurde ich jetzt seinen Kopf unter den Bergrutsch halten“, sagte Dalreay wütend, Er hat mir gesagt, alles ginge ganz gut, und das wäre wieder mal ein Schlag für unsere Freiheit Ja, das hat er gesagt Hat sich was1“ „Wer ist Nodger?“ ,Der! Der hirnloseste unnützeste, sündigste Kerl auf dieser Seite des Kohlfleckens.“ Dalreay wischte sich mit schmutzigen Fingern über das schweiß und staubbedeckte Gesicht „Jetzt hört's auf“, meinte Prestin „Bei Amra, wenn's nicht aufhört, dann kommt noch das restliche Dach runter Und dann sind wir lebendig begraben!“ „Ich dachte, das waren wir schon“, sagte Prestin und schluckte eine schöne Portion Staub. »Vielleicht, aber das wissen wir jetzt noch nicht Und dann werden bald die Honschi, die Trugs, sonstiges Kroppzeug und vielleicht sogar ein paar Valcini dasein „ Er stand auf und klopfte sich zornig den Staub aus den Kleidern „Wir müssen einen Ausweg finden, bevor sie uns fassen „ Ein einziger Blick zur Treppe unterrichtete Prestin davon, daß hier niemals mehr jemand aus- oder eingehen konnte, solange nicht eine Million Arbeitsstunden mit Hacke und Schaufel geleistet wurden Das war keine erhebende Aussicht. Gehorsam folgte er Dalreay über die heruntergestürzten Felstrümmer. Seine Augen schmerzten, seine Füße schmerzten, und sein Hals war trocken und staubig. „Todor, hast du nicht vielleicht zufällig etwas zu trinken dabei?“ ,Nein. Und wer hat dir erlaubt, mich mit meinem Vornamen anzureden9“ „Ah... Ich dachte, das sei so was wie ein Titel“ „Todor ist mein Eigenname Deinen kenne ich nicht“ „Robert. Robert Infamy Prestin „ „Also Roberto „ „Bob.“ „Bob, wir haben kein Wasser. Wir werden so lange gehen, bis wir einen Weg hinaus finden. Wenn wir noch ein paar Garden töten müssen, Honschi oder Trugs, dann tun wir's Wir können es uns jetzt nicht leisten, wegen einer fleischlichen Schwache zu verlieren, Si?“ „Si“, antwortete Prestin und schlurfte hinter seinem Führer her. Sie erreichten jene Stelle, an der Dalreay die Explosion ausgelöst hatte Was würde er jetzt wohl tun? Weiter voran kamen sie hier doch offensichtlich nicht. Der Staub trieb immer noch dick m der Luft, die Edelsteine funkelten spukhaft, und Prestins Augen schmerzten. „Hier durch“, sagte Dalreay und führte ihn zur Wand. Da hatte sich eine Spalte aufgetan, die nicht breiter war als einen halben Meter. Dalreay kam leicht durch; Prestin tat sich ein bißchen schwerer, aber er gab nicht auf. Dalreay wußte schließlich, was er tat. Der donnernde Lärm hatte schon lange aufgehört. Der staubdurchsetzte Schweiß biß sich in seine Haut. Keuchend holte Prestin Luft. Seine Arme und Beine schmerzten unerträglich, aber er hielt sich wacker hinter Dalreay, denn er hatte viel zuviel Angst, wegen eines einzigen Atemzugs zurückzubleiben. Er wußte nicht, wie lange sie so dahinmarschierten. Seine Uhr wollte er nicht zu Rate ziehen, denn er hatte das Gefühl, in einer verrückten Welt gälten andere Zeitbegriffe. Dalreay blieb plötzlich stehen und machte „scht“. Ein Stück weiter vorn verbreiterte sich die Spalte, aber dann wurde es stockdunkel. Nur die Edelsteine glühten. Hinter der Dunkelheit näherte sich Lärm - gedämpfte Stimmen, Lachen, ein geträllerter Liedfetzen, Saitenklänge einer Gitarre. „Garden und ihre Frauen“, erklärte Dalreay. „Wir müssen das Hauptwerk umgangen haben, das parallel zur Zen tralpassage verläuft. Hier gibt es überal1 Tunnels, Laufgänge und Spalten, die kreuz und quer führen. Das ist immer so in Edelsteinwerken.“ „Ich verstehe davon nichts“, meinte Prestin nachdrücklich.
„Wir müssen weitergehen. Einen Weg zurück gibt es nicht.“
Sie tasteten sich durch die Dunkelheit, das Glitzern der Juwelen hatte aufgehört. Plötzlich wurde ihr Weg von
einer Holztür blockiert, die kräftig mit Bronze verstärkt war.
„Schaut ganz so aus, als hatten die Garden hier eine Hintertür.“ Prestin tastete das Holz ab. „Da kommen sie
wahrscheinlich durch.“
„Und das heißt, daß der Seitentunnel sie in die Sicherheit führt.“ Dalreay lachte leise. „Jetzt gehen wir den
Weg.“
In der Dunkelheit kamen sie natürlich viel langsamer vorwärts, aber die Hoffnung trieb sie an, daß sie diesen
Rattenbau doch noch lebend entkommen könnten. Bald zeigte sich weit vorne ein grauer Schimmer. Dalreay
schob schließlich seinen Kopf durch und drückte sich hinaus.
„Alles klar“, sagte er. „Komm weiter, Bob.“
Nun standen sie in einer riesigen Höhle. Prestin nahm an, daß sie aber nicht ganz so groß war, wie sie aussah.
Von einer Spalte in der hohen Decke sickerte ein wenig Licht herein. Die Höhle roch nach verwesendem Fisch.
„Das sind die Lancarno-Höhlen“, erklärte Dalreay fröhlich. „Haben doch diese Valcini-Minen eine Hintertür,
und wir wußten nichts davon!“
„Jetzt weißt du's“, brummte Prestin, dessen Durst immer unerträglicher wurde.
Vorsichtig stiegen sie über Geröll hinweg. Überall waren groteske Felsformationen zu erkennen, aber im trüben
Licht vermißte Prestin das Blitzen der Juwelen. Seinen Augen tat es gut. Als er dann das lustige Plätschern von
Wasser auf Fels hörte, fing er zu rennen an und warf sich hin, um das Wasser in seinen Mund zu schöpfen. Er
schmatzte und schlabberte und fühlte, wie das Wasser durch seine staubige Kehle rann.
Dalreay tat nicht ganz so gierig, aber Prestin war jetzt alles egal. Unbekümmert wischte er sich mit dem
Handrücken über den feuchten Mund, daß die Tropfen flogen.
Jetzt kamen sie wieder schneller voran, aber die scharfkantigen Bruchsteine taten ihren Schuhen nicht gerade
gut. Endlich erreichten sie eine niedrige Öffnung, hinter der sie Himmel, Wolken und einen großen Vogel sahen,
der weitgezogene Kreise flog.
„Bob, jetzt müssen wir sehr vorsichtig sein. Da könnte es Ulloas geben.“
Prestin zog eine Grimasse und hob sein Schwert. Jetzt, da er seinen Durst gestillt hatte, fühlte er sich hungrig.
Als sie die Höhle verlassen hatten, sah Prestin, daß sich der Eingang ganz unverdächtig in die Umgebung
einfügte und mit der scharfen Kante eines Felsens abschloß. Also die Lancarno-Höhlen. Schön. Den Namen
durfte man nicht vergessen. Dalreay schirmte seine Augen gegen die untergehende Sonne ab und schnüffelte in
den leichten Wind. Sein Gesicht sah verschlossen und konzentriert aus.
Etwas später sagte Dalreay: „Sie warten schon. Wir müssen uns aber beeilen, weil wir weit von der direkten
Route entfernt sind, und meine Leute haben es sehr eilig, wenn sie unterwegs sind.“
Mit einem Tempo, das Prestin für Angabe hielt, hetzte Dalreay über die unkrautbedeckte Wüste und durch das
Gras mit den roten Mohnblumen. Es wurde Nacht, ehe sie das Ende des Trecks erreichten.
In einem kontinentalen Klima kann man damit rechnen, daß die Temperatur mit Einbruch der Dunkelheit sinkt.
Als die Sonne schnell hinter dem westlichen Horizont verschwand - wenigstens hatten sie hier ein anständiges
Sonnensystem -, sagte Dalreay: „Sobald wir meine Leute gefunden haben, kannst du ausruhen, Bob. Es könnte
schlecht ausgehen, wenn man hier ohne entsprechendes Dach über dem Kopf schlafen wollte. Du mußt immer
marschieren und dich an mich halten. Warten kann ich nicht auf dich. Wenn ich weg bin, dann bin ich weg.
Wenn du glaubst, du würdest mich dann noch einmal sehen, dann sei lieber überzeugt, daß du einen Geist
siehst.“
„Ich weiß“, antwortete Prestin. „Und ich bin nur ein Echo.“
Dalreay hörte gar nicht mehr hin, sondern lief mit langen, ausholenden Schritten weiter. Prestin war erstaunt, daß
er noch mithalten konnte, aber blieb unmittelbar hinter seinem Führer. Was sollte er sonst tun?
Nach etwa drei Stunden hörte er einen merkwürdigen, schlurfenden, tappenden und keuchenden Laut. Müde sah
er auf. Dalreay hetzte immer noch weiter. Im Licht der Sterne erkannte Prestin riesige, unförmige Schatten, die
wie beschwipst dahinschwankten. Er schrie und versuchte Dalreay wieder einzuholen, aber da gaben seine Beine
nach und dann sein ganzer Körper. Prestin fiel der Länge nach zu Boden. Da lag er nun und hatte das Gesicht in
ein feuchtes Grasbüschel gedrückt, das sich eiskalt an seiner Wange anfühlte. Er wußte, daß er jetzt keinen
Schritt mehr weitergehen konnte.
Rauhe Hände packten ihn und zogen ihn in die Höhe. Gelbes Licht fiel auf sein Gesicht. Er hörte Dalreay
sprechen und eine heisere, brummige Stimme antworten. „Bring ihn um, dann haben wir ihn los.“
„Nein!“ Dalreays Stimme klang fest. „Er weiß nichts. Er kam wie ein Zappelfisch durch die Barriere. Aber er
könnte uns nützlich werden. Er ist ein Schwächling, aber er hat mich ...“
„Na, schön, dann behalte ihn eben.
Aber wenn er uns Ärger macht, dann stehst du. Todor Dalreay, dafür gerade, nötigenfalls mit deinem Leben!“
„Und das werde ich auch, so wahr ich Todor Dalreay von Dargai bin!“
Prestin versuchte zu sprechen. ..Du Narr“, flüsterte er. „Todor, du bist ein Narr. Nur dein blinder Stolz verführt
dich zu solchen Zugeständnissen einem Fremden gegenüber ...“
Aber er fand die richtigen Worte dann doch nicht und fiel in eine tiefe Bewußtlosigkeit, während sie ihn in eine Decke hüllten und an ein Moosbett schnallten, das wie ein Schiffsbehälter hochgehoben wurde. Seine Träume kreisten nebelhaft um seine alte Gabe, Dinge zu verlieren und tägliche Gebrauchsgegenstände zu verlegen. Er träumte, Margie habe ihr Brillantarmband verlegt. Fritzi habe ihre Augenwimpern, ihr Make-up und ihren Minirock verloren. Und dann träumte er, daß er Alec angelacht habe, und dann habe der arme Mann plötzlich sein Schnellfeuergewehr nicht mehr gehabt. Sein Leben lang hatte er diese Gabe besessen und nichts davon geahnt. Welch andere Kräfte könnten normale Leute haben, ohne sie zu kennen? Diese Leute zum Beispiel, unter die er nun geraten war. Dieser stolze Mann Todor Dalreay! Mit welcher Selbstverständlichkeit hatte er ihm, Prestin, geholfen. Bei zivilisierten Leuten wäre so etwas kaum mehr als eine vage und kaum ausgeübte Pflicht. Diese Welt Irunium war eine richtige, eine wirkliche Welt mit einer eigenen Ökologie und eigenen Gesetzen. Besonders entgegenkommend würde sie sich einem Mann von einer anderen Welt gewiß nicht zeigen. Aber als Prestin sich einmal im Schlaf umdrehte und wußte, daß er nun nicht mehr träumte, entschloß er sich zum Überleben und zur Rückkehr in seine eigene Welt. Ja, Robert Infamy Prestin würde... Da öffnete er die Augen. Das leichte Schaukeln, bei dem er die ganze Nacht hindurch geschlafen hatte, hörte auch jetzt nicht auf. Nun sah er erst, daß seine Decken und sein Moosbett an die Flanke eines riesigen Biestes geschnallt waren. Er sah eine ganze Karawane dieser Tiere, die methodisch über Sand und Gras stampften. Sie sahen fast aus wie die plumpen Seifenelefanten, die kleine Kinder zu Weihnachten geschenkt bekommen, damit sie sich lieber waschen. Männer in Rüstungen mit Schwertern und Speeren marschierten neben den Tieren her. Frauen und Kinder hockten in Körben oder gingen im Gleichschritt mit ihren Männern. Die Kleider und Halstücher waren bunt und hell und flatterten lustig in der Morgensonne, aber sonst umgab die Karawane eine Aura verzweifelter Niederlage. Dalreay trottete herbei, schaute hinauf, sah, daß Prestin die Augen offen hatte und lachte. Hatte denn der Mann gar nicht geschlafen, oder bestand er nur aus Sehnen und Muskeln? „He, Bob, buon' giorno! Wie geht es dir?“ „Fein, vielen Dank! Und dir?“ „Ich kann ewig so weiterlaufen, Bob. Auf Irunium ist man ununterbrochen unterwegs. Wenn ich dich jetzt abschneide, Bob, kannst du dann laufen? Frühstück gibt es in einer halben Stunde.“ Prestin blinzelte, „Aber die Karawane ist doch noch immer unterwegs!“ „Natürlich.“ Geschickt schwang sich Dalreay nach oben und schnitt die Seile von Prestins Hängebett durch. „Natürlich. Die Frauen kochen immer auf dem Rücken der Galumphers, wenn wir marschieren. Sie haben Kochkessel aus Schiefer, und die Tiere spüren nichts vom Feuer ... Aber warum lachst du?“ „Galumphers“, sagte Prestin. „Nicht zu glauben. Triumphtiere.“ „Ja, so heißen sie. Ich habe, als ich's erfuhr, nicht gefragt, warum sie so heißen. Sie kamen vom Norden herunter und wurden von König Clinton am Kohlfleck vorbei heruntergetrieben.“ Er machte, als er den Namen aussprach, ein Zeichen mit den Fingern. „Das ist jetzt schon ziemlich lange her. Für unsere Wirtschaft sind sie lebensnotwendig. Der größte Teil ihrer Körper besteht aus Wasser.“ Prestin griff nach den Seilen und zog sich daran aus den Decken. Der Wind war scharf und ungemütlich. „Verliere aber kein Moos, Bob. Die Viecher fressen es gern, und wir wollen keine Spuren hinterlassen.“ „In Ordnung“, sagte Prestin und faltete sorgfältig die Decken zusammen. Er starrte das Etikett Whitney an. „Was? Das ist ja eine englische Decke?“ „Ich weiß.“ Dalreay tätschelte das Hängebett. „Beste Sorte, die zu kriegen war. Sie kommen allmählich in Mode.“ Prestin sprang auf den Boden hinunter und ging neben Dalreay her. Er mußte sich zu einer etwas langsameren Gangart als gewöhnlich zwingen, denn die Galumphers trotteten sehr träge dahin. „Und was meinst du mit Spuren? Diese Biester trampeln doch Spuren, die ein Blinder sehen muß.“ „Nein, absolut nicht, Bob. Der Wind hier glättet alle diese Spuren. Die Ulloas folgen Gerüchen, und die sind unsere größte Schwäche. Aber sie taugen nicht viel als Spurensucher. Sie sind schließlich nicht Dargan von Dargai“, fügte er voll Stolz hinzu. Dargan von Dargai. Ein Stammesname offensichtlich. Prestin wußte genau, daß er hier ein ganzes Leben verbringen müßte, um die Stammessitten kennenzulernen. Auf der Erde gab es auch genug Leute, die ihr Leben lang unter wilden Völkern und Stämmen verbrachten. Aber soviel Zeit hatte er nicht. Eine Bemerkung Dalreays hatte allerdings seine Neugier geweckt. „Du hast gesagt, die Galumphers seien von König Clinton vor kurzem am Kohlfleck vorbei aus dem Norden ge bracht worden.“ Er lächelte, denn er mochte diesen Dalreay allmählich. „Du kannst dir sicher denken, Todor, das ich allerhand wissen möchte.“ „Natürlich. Aber du mußt inzwischen schon herausbekommen haben, daß ich normalerweise kein Nomade bin. Die Dargan von Dargai sollten von Rechts wegen in Dargai leben, aber wir wurden vertrieben. Ich dachte, das würdest du selbst aus meinen grünen Kleidern schließen. Ist denn eine grüne Bekleidung in einer braungoldenen Wüste eine Tarnung? Nein! Das Grün ist eine Farbe der Ehre!“ „Das hätte ich mir eigentlich denken sollen. Aber Todor, was ist denn der Kohlfleck?“
„Nun, König Clinton mußte natürlich um ihn herumgehen, obwohl die Galumphers sehr stark sind. Trotzdem
hätten nicht einmal sie ihren Weg durch den Wuchs erzwingen können.“
„Fangen wir mal anders an. Wer war dieser König Clinton?“
„Ach, der war auch ein Außenweltler, aber von ganz besonderer Art.“ Dalreay lächelte dazu und machte wieder
jenes Fingerzeichen. „Ja, ein ganz Besonderer war er.“
„Vor vielen Jahren, sagtest du, aber eure Kultur hat diese Galumphers noch nicht lange. Wie viele Jahre?“
Dabei dachte er an Mike Macklin.
„Oh, in unseren Jahren gerechnet, die sich von den euren nicht viel unterscheiden, zehn. Ungefähr. Wir sind sehr
lange gewandert.“
„Und König Clinton ist jetzt tot? Ich hoffte...“
„Tot? Der König? Nein, hoffentlich nicht' Aber er mußte weg. Weißt du, das Geschick ist eine harte Geliebte „
Das klang sehr geheimnisvoll, und Prestin fragte auch nicht weiter, da ja der mythische König Clinton nicht für
einen Schwatz zur Verfügung stand. Ehe er seinen Weg zurück zur Erde fand, mußte er noch viel erfahren
Diese Leute schienen jedenfalls Handel zu treiben. Daß sie es auf andere als die gewohnte Art taten, besagte gar
nichts „Clinton“, sagte Prestin „Das ist aber kein italienischer Name.“
„Warum denn auch?“ Dalreay studierte den Horizont, der nur aus etlichen Gehölzen mit Flaschenbäumen
bestand. „Nein, Italiener war er nicht“
„Sprichst du eigentlich ein paar Worte englisch?“ fragte Prestin auf Englisch. Aber er wußte schon die Antwort
auf diese Frage, denn ihm fiel die kurze Unterhaltung vom Abend vorher ein, als Todor Dalreay die
Verantwortung für ihn übernahm Der Mann mit der unwirschen Stimme hatte klar und deutlich englisch
gesprochen.
„Ja, klar'„ rief Dalreay begeistert „Soll das heißen, daß wir beide uns die ganze Zeit über völlig überflüssig mit
Italienisch abplagen?“ Er sprach wirklich ausgezeichnet englisch „Oh, heiliger Jehosaphat'„
,Amen“, antwortete Prestin Die nächste Frage war für ihn sehr wichtig Er mochte Dalreay gern, und vielleicht,
so stellte er sich vor, konnte er sich sogar an dieses Leben hier gewöhnen. Trotzdem mußte und wollte er zur
Erde zurück „Sag mir doch, Todor, wohin gehen wir jetzt? Kann ich jemals wieder in meine eigene Dimension
zurückkehren?“
„Was die zweite Frage betrifft – die kann ich nicht beantworten, Bob Nur die Valcini haben Zugang zur
Contessa, und verdammt seien ihre schwarzen Seelen.“
„Die Montevarchi1“
Dalreay blieb stehen, drehte sich mit der Schnelligkeit eines Panthers her um und schob sein Gesicht ganz nahe
an das Prestins.
„Du kennst doch diese Katze?“ flüsterte er „Diesen Teufelsbraten1 Sprich, Außenweltler Prestin, sprich schnell,
oder du stirbst langsam'„
„Aber, was zum...“ Prestin sah, daß für sprachliche Feinheiten und Umschreibungen nicht die richtige Zeit war
„Ich kenne sie nicht'„ schrie er „Ich habe von ihr gehört, daß sie ein ganz schlechtes, niederträchtiges Weib sei,
aber gesehen habe ich sie nie. Sie hat sogar versucht, mich umzubringen. Ich entwischte ihr gerade, als ich auf
diese Welt portiert wurde.“
Dalreays Blick bohrte sich in Prestins Augen Was er sah, überzeugte ihn Er entließ also Prestins Handgelenke
aus seinem Klammergriff, und dieser rieb sie verlegen und ein wenig mißmutig.
„Schau mal, Todor“, begann er mit jener Stimme, mit der er immer um seine Schlagzeilen kämpfte, „Meine
Freunde auf der anderen Seite wurden von Trugs und der Montevarchi gehetzt. Man schoß auf uns, und wir
waren in einer sehr schwierigen Lage Ein Helikopter, eine Maschine, die fliegen kann, fiel gerade auf uns
herunter, als ich durchkam, ohne es zu wissen. Ich glaubte, alle meine Freunde kamen dabei um...“
„Dann bist du also nicht nur ein Unglücklicher, der durch einen Nodalpunkt auf unsere Welt gefallen ist. Du
weißt auch einiges, wie ich sehe Und du sagst du würdest gegen die Contessa kämpfen?“
„Ja. Aber ich weiß kaum etwas von all dem „ Er schluckte „Kennst du einen Mann namens Macklin?“
„Macklin? Nein Der Name sagt mir gar nichts.“
„Pech Aber du hast mir noch nicht gesagt, wohin wir gehen. Ich war nach dem Norden unterwegs, als du mich
fandest.“
„Norden. Ja, zum Großen Grün Mensch, das hatte dir aber leid getan, wärst du dorthin gekommen „ Er lachte
bellend. „Komm, Freund Bob. Das Frühstück ist fertig Ich habe Hunger.“
Prestin überlegte, ob er die Frage besser ruhen lassen sollte. Natürlich mußte Dalreay jedem gegenüber
mißtrauisch sein, der hier seine Feinde kannte, besonders dann, wenn ein hilfloser Außenweltler dahergetaumelt
käme - wie Fritzi
Sie gingen zusammen zum Küchen-galumpher, und Prestin raffte sich schließlich zur Frage auf „Sag mir, Todor,
hast du von einem Mädchen namens Fritzi Upjohn gehört9“
Er wußte nicht genau, was er hören wollte - ja oder nein. Schließlich konnte ihm das, was er zu hören bekäme,
ordentlich zusetzen und ihn möglicherweise zum Wahnsinn treiben.
„Nein“ Dalreay musterte Prestin wieder einmal mißtrauisch „Ist sie wichtig für dich?“
„Nein“, hatte Prestins Antwort eigentlich lauten müssen, aber er sagte langsam und bedächtig „Sie könnte einmal
wichtig sein, Todor. Deshalb, weil ich mich für sie verantwortlich fühle „ „Jetzt komm lieber und iß. Du fühlst dich dann wieder ein ganzes Stück wohler“ Er klatschte Prestin auf den Rücken und kletterte an einer Strickleiter auf einen Galumpherrücken hinauf. Von oben kam ein verheißungsvoller Duft heruntergeweht. Prestin kletterte eiligst hinterher Für Fritzi konnte er ja doch nichts tun, solange er nicht jenen Punkt nördlich von Rom erreichte, durch den sie transferiert worden war Und in nördlicher Richtung würde er gehen, obwohl eigentlich Dalreays Warnung ziemlich unmißverständlich gewesen war. Der breite, flache Galumpherrücken beherbergte einen ganzen Ring alter Weiber, die sich in Schals gewickelt hatten, eine unbestimmte Anzahl halbnackter Kinder, die quiekend miteinander rauften, und ein paar Männer, die in Grün steckten wie Dalreay Ein einäugiger Mann mit grauem Bart und dünnem, grauem Haar funkelte Dalreay an, und sein gewölbter Bauch gluckerte vom Inhalt eines irdenen Kruges, der an seiner Seite schaukelte Der Mann trug Dunkelbraun mit Gelb, und sein graues Haar war halb von einem schief angesetzten Helm verdeckt „He, Todor1 Ich habe gehört, du hast großartige Arbeit geleistet1“ sagte er in gutem Englisch, das von ein paar behaglichen Rülpsern unterbrochen war „Man muß dir ja gratulieren'„ Die Frauen stocherten in einem Topf über dem Feuer, das auf einer Schieferplatte brannte Sie fischten gebratene Fleischstucke heraus, die sie auf irdene Teller verteilten. Prestin nahm dankbar einen entgegen und griff auch nach einem Stuck Brot, das von einer langen Stange gebrochen wurde Eine Kürbisschale voll Wasser stand daneben. Dalreay sagte etwas zu dem alten Mann mit dem dicken Bauch, das Prestin aber nicht verstand. Der Dicke richtete sich ein wenig auf, prustete, und die Frauen lachten schrill, wahrend die anderen Männer wieherten, dabei aber nicht vergaßen, mit starken, weißen Zahnen in ihr Fleisch zu beißen. „Ich habe dir genug dafür gegeben Wenn du was verpatzt hast...“ „Nein, Nodger, ich habe nichts verpatzt Du hast mir genug Pulver gegeben, um den halben Daneberg zu spren gen“ „Ich bin der Feuermeister der Karawane! Und ich messe auch das Pulver!“ „Das nächste Mal, Nodger, schaust du nicht so tief in deinen Krug, wenn du mir Pulver zumißt. Oder ich weigere mich, um Wem zu handeln, sobald wir wieder nach dem Süden gehen.“ „Todor, das kannst du nicht tun! Nein, einem alten Mann, der nur seinen Wem und sein Schießpulver hat, kannst du das nicht antun Ich habe doch keine Familie mehr! Denk doch mal, Todor, was dein armer Vater gesagt hätte....“ „Jetzt reicht es aber!“ Dalreay wurde rot, verschluckte sich, spuckte einen Knochen aus und starrte den alten Nodger an. „Meine Eltern sind tot, erschlagen von den Honschi-Garden der Valcini. Nodger, kein Wort mehr davon, wenn dir deine Haut lieb ist!“ Der Alte widmete sich wieder seinem Fleisch und Brot und nippte dabei häufig an seinem Wein. Prestin mußte lachen, als er an das dachte, was David Macklin ihm gesagt hatte, als sie einander kennenlernte Also hat doch jede Dimension ihren eigenen Falstaff, und das war auch richtig so. „Bei Amra'„ rief einer der anderen Männer mit vollem Mund „Ich habe gehört, du hast die verfluchten Edel steinminen in die Luft gejagt.“ „Ich“, bemerkte Dalreay, „hatte leider keine Gelegenheit, es zu sehen.“ Nodger spuckte, trank wieder Wein und wich Dalreays eisigem Blick aus. Prestin amüsierte dieses Zwischenspiel. Diese Dargan von Dargai schienen Leute zu sein, die sich den ValciniAgenten der Contessa durchaus nicht unterwarfen Sie hatten zurückgeschlagen und dabei die Juwelenminen gesprengt Oder eine wenigstens. Kein Zweifel - hier fand ein ziemlich blutiger Krieg statt. Aber er wollte nicht nur mehr über die Dargan erfahren, sondern er mußte Fritzi finden. Allein diese Aufgabe war ein gewisser Trost dafür, daß er hier sein mußte. Sein Becher war leer, und er bat Dalreay höflich um Wasser Dieser bot ihm Wein, den er aber ablehnte „Na, komm, du kleiner Teufel!“ rief er und warf den Becher einem kleinen Jungen an den Kopf, der ihn auffing und dazu wölfisch grinste. Prestin sah ihm zu, wie er zu einem Holzrohr ging, das aus dem Rücken des Galumphers ragte, und dort einen Hahn aufdrehte. Klares Wasser lief heraus, und es sah sauber und kühl aus „Ist das...?“ „Sicher „ Dalreay lachte herzlich „Die Galumphers schleppen einen dritten Magen mit riesigen Wassermengen mit sich herum. Das Wasser kühlen sie mit ihrer Körperwärme. Sie sind technisch gesehen viel besser als eure irdischen Kamele, und Amra sei Dank, sie schleppen auch viel mehr Wasser mit sich.“ „Und ihr treibt da nur ein Rohr hinein und zapft es ab?“ „Die Dargan von Dargai sind Jäger. Wir kennen uns mit Tieren aus.“ „Aber ihr mußtet doch auch erst eure Erfahrungen mit den Galumphers machen, oder nicht? Und wie war Dargai?“ „Ah'„ ging ein stöhnender Aufschrei durch die Runde „Ah' Dargai „ Es war der heimwehkranke Schrei der Wanderer, die zu ewigem Umherschweifen verdammt waren und nie zurückkehren würden. „Die Antwort auf diese Frage erfordert einen Dichter“, antwortete ihm Dalreay. Seine Augen strahlten, und sein Bart stand nach allen Seiten weg. „Ah! Warme, Weiber und Wein, wundervoll!“ schwärmte Nodger und goß sich melancholisch einen
Becherinhalt in die Kehle. Die Kinder aßen, tranken und schwatzten weiter. Für sie war Dargai lediglich ein Name, den die Eltern nur seufzend und flüsternd aussprachen. Sie würden niemals die Hoffnungslosigkeit der Heimatlosigkeit kennenlernen, denn sie wurden schon als Wanderer geboren. Die Galumphers trotteten weiter. Da und dort hüpften Jungtiere zwischen den Beinen der Mütter herum, und das taten sie so langsam, wie die Alttiere dahintrotteten. Staub flog auf unter ihren breiten, flachen Hufen. Ein paar Männer schritten vor der Karawane her, aber Prestin vermutete, das war mehr Taktik als die begründete Hoffnung, angreifende Ulloas abwehren zu können Diese katzengesichtigen Vögel mit den schwingenlosen Körpern und Libellenbeinen übertrafen die Geschwindigkeit der Galumphers um das Zehnfache. Prestin, der sich von dem Schaukelgang der Tiere halb einschläfern ließ, fühlte den zeitlosen Schritt des Lebens der wandernden Dargai. Dieses Leben würde einmal Menschen hervorbringen, die sich von dem Mann Dalreay unterschieden. Die Alten würden natürlich einen Konzern bilden. Prestin konnte es sich genau vorstellen. Ein Mädchen ging unten vorbei. Ihre schlanken, bronzefarbenen Beine trugen sie geschwind an dem Galumpher entlang. Sie hatte einen gelben Schal um einen Kittel geschlungen. Wenn sie den Kopf schüttelte, flog ihr offenes dunkles Haar, aber sie schien zu wissen, daß ihr Dalreay zusah. Er lächelte, und auch Prestin lächelte, aber Dalreay beeilte sich mit seinem Fleisch und Brot und sprang dann leichtfüßig herunter. Was sie dann sprachen, verstand Prestin nicht, aber er horte, daß Dalreay das Mädchen Darna nannte Und dann steckten sie die dunklen Köpfe zusammen. Eine Trompete blies in den goldenen Morgen, und Prestin riß es in die Höhe. Alle rannten herum und schienen bestimmte Aufgaben zu haben. Die Kinder duckten sich in der Mitte der Galumpherrücken zusammen Die Frauen löschten die Kochfeuer und bauten die Dreifüße ab. Dann stellten sie aus sämtlichen Ballen und Betten Brustwehren auf, und dabei halfen ihnen auch die größeren Kinder. Die Arbeit ging sehr schnell vonstatten. Die Männer drängten sich um die Beine der Galumphers, und jeder war bewaffnet „Was ist denn los?“ fragte Prestin, als die Trompete wieder ertönte. Nodgers fettes Gesicht zitterte, als er einen Packen Pelze zu einem Unterstand umfunktionierte. „Das ist eine Warnung, Außenweltler! Jemand greift uns an. Bete zu Amra, daß es nur ein paar elende, feige Ulloas sind.“ Auf Galumpher drei befand sich ein Ausguck. Die Trompete blies wieder, und der Ausguck schrie und wedelte mit den Armen. Prestin stand auf und schaute zum Horizont, von dem sich schnell ein paar schwarze Punkte nä herten. Sie formten sich rasch zu einem Keil. Von diesen schwarzen Punkten ging eine ernsthafte Drohung aus. Der Ausguck trieb die Karawane zur Eile an, aber diese Punkte waren viel schneller als Ulloas, schneller sogar als die schnellsten irdischen Tiere „Valcini“ schrie der Ausguck „Valcini!“ Dalreay schwang sich an der Strickleiter halb auf das Tier „Bob! Die Waffen von den Garden sind noch in deinem Bett! Bewaffne dich! Angriff der Valcini, und wir müssen kämpfen!“ Prestin schluckte heftig, schwankte zum Bett, griff hinein und zog vorsichtig das noch warme Metallzeug heraus. Er hatte zwei Schwerter. Was, zum Teufel, sollte er mit denen tun? Vielleicht „Banzai!“ „'runter!“ rief Dalreay. Prestin hüpfte in den Sand und lief, ein Schwert in jeder Hand, neben der Karawane her. „Die Frauen werfen Pfeile“, erklärte ihm Dalreay. Er sah besorgt drein. „Wir kämpfen wie Männer und Jäger von Dargai!“ Prestin war überzeugt, daß Dalreay und seine Sippenangehörigen mit diesen Schwertern tödliche Kämpfer waren. Er ahnte auch, daß sie ihre ganzen Waffen von den Honschi-Garden bezogen. Für Nomaden war es doch fast unmöglich, Eisen zu schmelzen und Stahl zu schmieden. Praktisch alle Nomadenkulturen hatten sich dieser Erwerbsmethoden bedient. Dalreay sah die lange Reihe der sich zusammendrängenden Männer an, die nun bereit waren, zu jedem bedrohten Punkt der Karawane zu eilen. Prestin war ziemlich gespannt, aber nicht besonders ängstlich. Er hatte ja genug Kämpfer um sich herum. Die heranrasenden Punkte waren keine Ulloas. Plötzlich hörten sie mit der Vorwärtsbewegung völlig auf. Das alarmierte Prestin. Er blinzelte, als sich jeder Punkt aufzupumpen schien. Und dann verstand er. Sie hatten sich nach innen gedreht und griffen an. Dalreay tat einen lauten Schrei. „Die Valcini greifen an! Panzerwagen! Rückstoßfreie Gewehre und Maschinenpistolen! Seid standhaft, Leute! Das ist unser Jüngster Tag!“
7. Prestin rieb sich mit zitternder Hand über sein unrasiertes Kinn. Wohl wußte er mit irdischen Waffen recht gut
Bescheid, aber hier fühlte er sich nun ein wenig ratlos. Wäre nur Alec da...
Ob er sich wohl, ehe diese Panzerwagen mit ihren Kanonenschnauzen anrasten, in seine eigene Welt portieren
konnte?
Er hatte es noch niemals getan und zweifelte daran, jetzt dazu in der Lage zu sein. Das fand er über alle Maßen
unfair. Die Montevarchi raubte dieser Welt eine Menge Juwelen und zweifellos auch noch andere Schätze. Als
Gegenleistung portierte sie Waffen durch, um ihre Killerjungen und Honschi-Kohorten auszustatten, damit sie
Sklaven für ihre Edelsteinminen machen konnte. Auf dem Papier sah ein solches Tauschsystem großartig aus.
Aus dem führenden Wagen schoß ein Blitz, und Galumpher Nummer vier legte sich auf die Seite wie ein von
einem Zyklon getroffener Schoner. Rote Fleischfetzen flogen, und es regnete rotes Blut. Das Galumpher tat wie
eine Alarmsirene der Queen Elizabeth, eine 90-mm-Kanone feuerte und traf Galumpher Nummer sowieso,
Frauen kreischten und Kinder heulten, ein Maschinengewehr machte ratatatat und bestrich damit die ganze
Karawane.
Dalreay war kreidebleich und rannte mit anderen Männern den Panzerwagen entgegen. Prestin stellte fest, daß er
Dalreay nachlief, rechnete aber jeden Augenblick damit, von einer Kugel getroffen zu werden. Der Krach
beleidigte sogar die Ohren eines an Lärm gewöhnten Großstädters. Seine Brille beschlug, aber er rannte weiter
und wedelte mit seinen beiden blödsinnigen Schwertern in der Luft.
Es war ein Tollhaus. Die Panzerwagen rasten heran, und ihre Reifen sprühten Sand wie Bugwellen. Er wußte
nicht genau, ob die Panzerwagen ein Fabrikat von Hispano-Suiza waren. Dann spuckten sie und mähten eine
Reihe anstürmender Männer nieder. Schwerter und Pfeile flogen durch die Luft, als die Schlaffen Finger sie
nicht mehr halten konnten. Prestin fühlte, daß ihn etwas verdammt Hartes gegen die Brust schlug. Er schrie, ließ
beide Schwerter' fallen, ihm wurde übel, und er merkte noch, wie sich die Erde unter ihm aufbäumte und drehte.
Dann spürte er nichts mehr als eine eisige Kälte, die vom Schmerzzentrum in der Brust ausging.
Danach folgte das Nichts.
Als er die Augen wieder aufschlug, fühlte er eine Taubheit in der Brust. Seine Hände und Füße waren ebenfalls
gefühllos. Er stöhnte.
Jemand neben ihm stöhnte ebenfalls.
„Wo, bei sämtlichen Höllenteufeln, sind wir?“ fragte ein wütender Todor Dalreay.
„Wir sind tot, begraben und in der Hölle, nach dem, was diese Kanonen mit uns angestellt haben“, krächzte
Prestin.
„Nein!“ Dalreay schob sich ein wenig näher an Prestin heran. „Nein. Ich hab's eben herausgekriegt. Die Honschi
haben mich nicht gepubickt, dich vermutlich auch nicht.“
„Was... Gepubickt?“ Und dann erinnerte sich Prestin und überzeugte sich selbst davon. „Nein, mich auch nicht.
Amra sei Dank!“
„Amra sei gepriesen“, stöhnte Dalreay erleichtert.
Jetzt sah auch Prestin, daß sie in einem weißgetünchten Raum auf dem Boden lagen. Hoch oben gab es zwei
vergitterte Fenster. Der Boden bestand aus festgestampftem Kompost. der flüchtig mit einer Zeltbahn abgedeckt
war. Die Tür bestand aus Sperrholz und war mit Bronze beschlagen. Ein kleines Guckloch war mit einem
Bronzeplättchen verschlossen.
„Bronze“, sagte Dalreay. „Honschi.“
„Aber...“
„Eisen benützen sie für Waffen, Bronze und Kupfer zur Panzerung. Die Valcini richten sie nach ihrer eigenen
Technologie aus. Das muß einen bestimmten Grund haben.“
„Ja“, antwortete Prestin, denn er verstand den Grund und die Überlegungen der Contessa nur allzugut.
Die Bronzeplatte hob sich über dem Guckloch, und ein Honschi spähte mit einem runden Auge herein.
„Hau ab!“ rief Dalreay.
Der Posten zischte etwas. Prestin ahnte nicht, ob das Ding die englische Sprache beherrschte oder ob es über
haupt sprechen konnte. Dalreay stützte sich auf die Hände. Die Oberkleider waren ihm zum Teil ebenso
abgerissen worden wie Prestin; dieser sah an sich hinunter und entdeckte an der sich taub anfühlenden Stelle ein
Pflaster. Jetzt begriff er.
„Die Lumpenhunde haben uns mit einer Nadelkugel mit Sandmännchentropfen außer Gefecht gesetzt, Todor!
Sie wollten uns gar nicht erschießen, sondern uns gefangennehmen, als seien wir wilde Tiere!“
Dalreay lachte zornig. „Das sind wir auch - für sie.“
Prestin schämte sieh, daß man ihn als Mann so degradierte.
Kreischend öffnete sich die Tür, und Honschi-Garden mit aufgepflanzten Schwertern staksten herein. An ihren
Helmspitzen wehte Haar. Sie bewegten sich aber vorsichtig.
Dalreay lachte theatralisch, und die Honschi versteiften sich, traten dann aber einen Schritt zurück. Prestin freute
sich, daß Dalreay so tiefen Eindruck machte, wenn dies auch nichts nützte.
„Wir sind ganz besondere Gefangene, Freund Bob“, sagte er. „Nur wir zwei in einer Zelle. Natürlich wollen die
Valcini mit uns ihr Vergnügen haben, ehe sie uns umbringen.“
Prestin erblaßte. „Ich dachte, sie wollten uns als Sklaven!“
„Von Zeit zu Zeit gibt die Contessa den Valcini ein paar Sklaven, mit denen sie spielen können. Das haben wir
wenigstens gehört.“
Die Honschi-Garden traten nun wieder näher und drückten ihre Schwerter gegen Prestin und Dalreay. Das hieß,
daß sie aufstehen sollten. Die Honschi führten die beiden Gefangenen in den Korridor hinaus und sagten dazu
„Ho-schoo! Hoschoo!“ Es klang drohend, doch Prestin und Dalreay wußten nicht, was es bedeuten sollte. Sie stolperten einen Korridor entlang, an dem viele Zellen lagen. Die Posten schienen die beiden zu fürchten. „Laß dich nicht unterkriegen, Bob“, flüsterte ihm Dalreay zu. „Die haben Angst. Aber ihr habt Ratten auf der Erde. König Clinton hat das immer gesagt.“ Immer wenn er von König Clinton sprach, machte er ein winziges Zeichen mit den Fingern. „Er sagte, die Honschi kämpften wie in die Ecke gedrängte Ratten. Sie sind gefährlich.“ „Und was ist mit den Trugs?“ „Mein lieber Freund, da kannst du nur beten, daß du keinem in einem Handgemenge gegenüberstehen mußt. Ich wüßte nicht, wie der Kampf ausginge.“ Am Ende des Zellenblocks schien grünes Licht durch ein Fenster. Die Honschi stießen die beiden immer mit ihren Schwertern weiter. Prestin fühlte Wut in sich aufsteigen. Am liebsten hätte er seine Peiniger umgebracht. „Lieber nicht anfassen“, mahnte Dalreay jedoch. Prestin sah ein, daß sein Kampfgefährte recht hatte. Auf Irunium hatte er gelernt, einiges zu ertragen. Irunium war eine unbarmherzige Welt, die das Selbstbewußtsein der Außenweltler systematisch untergrub. Die Moral und die zivilisatorischen Errungenschaften der Heimatwelt machten einen Außenweltler natürlich für ein kämpferisches Leben auf Irunium ungeeignet, um genau zu sein, für ein Leben irgendwo außerhalb seiner eigenen Welt. Hier brauchte er größere physische Starke. mehr Zähigkeit und vielleicht mehr Schläue. All das hatte er nicht; so mußte sich also Prestin der nächsten Prüfung stellen und sie ertragen. Als er durch das Fenster schaute, sah er nur eine grüne Unendlichkeit. Auch Dalreay schaute hinaus und wurde aschfahl. „Was ist denn, Todor?“ erkundigte sich Prestin. „Ah! Wir sind direkt im Kohlfleck!“ stöhnte er. „Dann sind wir jetzt also im Norden“, stellte Prestin ungerührt fest. „Du hast ja keine Ahnung, was das Große Grün ist!“ Die Wächter scheuchten sie wieder weiter, und dann riß einer der Honschi mit einer Klauenhand eine Tür auf. Sie standen vor einem weiten Amphitheater mit zahlreichen Sitzreihen. Männer und Frauen, ganz normal aussehende Männer und Frauen, lehnten sich in die Lederpolster zurück. Sie trugen helle, bunte, lose Gewänder aus purem Gold oder in scharlachroten, smaragdenen oder elektrischblauen Tönen und waren alle reich mit Juwelen besetzt. In den hoch aufgetürmten Haaren blitzten kostbare Schmuckstucke. Nackte, weiße Hälse reckten sich, und lachende, rote, geschminkte Gesichter starrten den beiden zerlumpten, blutenden Männern entgegen, und alle schwiegen. „Bringt die Ranken“, befahl eine Stimme aus einer etwas erhöhten Kabine. Dort saßen ein Mann und eine Frau, die verächtlich lächelten und Schokolade in ihre gemalten Münder schoben. Die Ringe an ihren Fingern blitzten und funkelten. Der Mann gab sich wie ein aufgemöbelter Sechziger, aber die schweren Tränensäcke und zahlreichen Doppelkinne sabotierten den Eindruck. Er sah aus wie eine fette, ekelhafte, gefährliche Giftschlange. Die Frau war um kein Haar besser. „Das sind Meluone und seine Hure“, erklärte Dalreay. „Die führen die Valcini für die Contessa. Dreck!“ Die Zuschauer schwatzten und lachten, rauchten und klatschten wieder. Sie warteten auf die Ranken. „Was ist eine Ranke, Todor?“ fragte Prestin leise. „Das siehst du schon noch. Aber paß mal auf. Wenn wir sterben, dann sterben wir tapfer im Angesicht unserer Feinde. Verstanden? Ich sterbe wie ein Dargan von Dargai!“ Prestin sah nach oben. Das Dach war durchsichtig, und draußen schienen hohe Bäume dicke Schatten zu werfen, denn über die Kuppel zogen sich dunkle Linien. Der Boden bestand nicht aus Sand, sondern aus Beton. Eine Arena ohne Sand für die Blutenden war eigentlich eine Gemeinheit. Bekümmert stellte Prestin fest, wenn er schon hier und Jetzt sterben müsse, dann sollte man wenigstens dafür sorgen, daß dies auch einigermaßen würdig vor sich gehe. Angst hatte er keine mehr. Dieses Stadium hatte er hinter sich. Nun wurde ein kleiner elektrischer Handkarren hereingefahren. „Pech, meine Freunde“, sagte der kleine, verschüchterte Kerl in den fleckigen Hosen in verständlichem Italienisch. „Ich habe aber keine Schuld. Ich arbeite ja nur hier.“ Auf dem Wägelchen stand ein überdimensionaler Blumentopf aus Plastik, und darin wuchs ein grüner Schößling von etwa einem Meter Höhe. Dalreay starrte das Gewächs fasziniert an. „Gehört zum Großen Grün“, erklärte er und schluckte. Der Mann in den fleckigen Hosen stemmte den Blumentopf vom Karren und ging damit um, als sei es Nitrogly zerin. Dann wischte er sich die Stirn, trompetete in ein großes Taschentuch und fuhr mit seinem Karren wieder hinaus. Prestin wußte, daß er nur deshalb so ruhig war, weil er nichts begriff und daß Dalreay so entmutigt, so klein und verschrumpelt dreinsah, weil er etwas entsetzlich fürchtete; wahrscheinlich hatte er sich jetzt sämtlichen Nachtmahren seines Lebens, allen seinen geheimsten Ängsten und allem zu stellen, was Angst und Schrecken bedeutete. Er, Todor Dalreay, hatte sich dem Großen Grün, dem Kohlfleck zu stellen. Allein. Etliche Honschi-Garden näherten sich hinter ovalen Bronzeschildern. Andere schwangen Speere. Zwei gingen sehr behutsam mit ihren Schwertern um und hielten sie am Griff von sich weg. Prestin nahm jenes Schwert, das ihm angeboten wurde, und der Honschi tat sofort einen Satz rückwärts. Dazu schrie er: „Hoschoo!“ Es klang, als habe man einen unter Druck stehenden Dampfkessel angebohrt.
Auch Dalreay nahm sein Schwert entgegen, doch er probierte weder seinen Schwung, noch seine Balance aus. Er hielt die Waffe nur in der Hand und sah grün aus. Als Prestin seinen Kameraden Dalreay anblickte und dessen grünes Gesicht bemerkte, wurde ihm selbst ganz flau zumute. Wenn schon Dalreay, dieser unerschrockene Jäger und Nomade... Am Ende eines Kranbalkens schwang ein Haken über ihre Köpfe. Dieser Kranbalken wurde von dem mickrigen Burschen in den fleckigen Hosen manipuliert. Jetzt verließen die Honschi in Windeseile die Arena und stellten sich am Eingangstunnel auf, wo sie durch die schweren Plastikvorhänge gerade noch sichtbar waren. Nun befanden sich Prestin und Dalreay allein in der Arena. Aus Schlitzen vor der ersten Sitzreihe schoben sich große Plastiktrennwände heraus und formten eine runde Barriere. Der Blumentopf stand genau im Mittelpunkt der Arena. „Zurück!“ rief Dalreay Prestin zu. Dann straffte er die Schultern. „Nein!“ Er legte seine linke Hand auf das rechte Handgelenk, damit es nicht so zitterte. „Nein, Freund Bob. Ich werde im allerersten Moment angreifen. Da haben wir eine Chance. Ich werde sofort losgehen. Du mußt tun, was du kannst.“ „Schön.“ Prestin verstand gar nichts; da er aber ahnte, daß Dalreay das, was nun kommen würde, nicht erklären wollte, hatte er auch keine Lust, darüber nachzudenken. Melnone lachte schallend, tätschelte seine Geliebte und schrie schließlich laut: „Tony! Heb den Deckel ab!“ Sein Lachen klang gemein. „Und jetzt auf ins Vergnügen!“ Die Zuschauer wurden von einer allgemeinen Erregung gepackt. Wetten wurden abgeschlossen, sowohl auf den Jäger als auch auf den anderen, und Prestin hatte sich nun schon daran gewöhnt, immer „der andere“ zu sein. Er fühlte sich ein wenig benommen und schüttelte den Kopf. Der Haken griff zu und hob den Blumentopf vom Boden. Die Leute kreischten. Dalreay tat einen Satz vorwärts und hob sein Schwert. Dann bewegte sich die Pflanze wie ein Tentakel. Sie wich Dalreays Hieb aus. Der Jäger grunzte enttäuscht. Die Pflanze holte aus und schlug wie eine Peitsche zu. Sie war um ein ganzes Stück gewachsen und hatte schon Zweige angesetzt. Prestin sah entsetzt zu, wie das Ding mit Windeseile wuchs, immer neue Zweige ansetzte, wieder wuchs, sich unaufhörlich teilte und verzweigte. Die Pflanze holte aus und schlug nach Dalreay. Prestin hieb mit seinem Schwert danach und schlug drei Lianen ab, die sich um Dalreays Arm gewunden hatten. Dalreay zielte auf Prestins Kopf und hackte einen Trieb ab, der sich um Prestins Hals wand; es war aber sehr knapp gewesen. „Danke, Bob“, stöhnte Dalreay. „Jetzt aber zurück!“ Auf Händen und Knien krochen sie davon, aber die pflanzlichen Tentakel schnellten hinter ihnen her. Prestin keuchte und war am ganzen Körper schweißnaß. „Das verdammte Ding bewegt sich ja!“ „Nein, es wächst nur so schnell. Es ist eine kleine Lombokliane und gehört zum Großen Grün.“ Die beiden Männer wichen zum entgegengesetzten Ende der Arena aus und beobachteten die Pflanze, die sich über den Betonboden schlängelte und nach ihnen suchte. „Aber, das ist doch nicht möglich! Die Zellteilung in der Pflanze und die Nährstoffe im Topf...“ „Die Valcinis kennen sich im Kohlfleck genau aus, Bob. Sie komprimieren die Nährstoffe und schütten einfach etwas nach, wenn sie die ersten Schwächeanzeichen bemerken. Dumm sind sie nicht, Bob.“ „Was können wir denn tun?“ „Manchmal kann man die Liane zerhacken, solange sie noch ganz jung ist. Das ist mir leider nicht gelungen. Ich wollte sie eigentlich aus dem Topf herausholen. Aber du hast ja die Zähigkeit der Triebe selbst gespürt. Unsere Schwerter werden höchstens mit den kleineren fertig, die großen.. Dalreay schüttelte den Kopf. „König Clinton hat die Narwhalliane erledigt“, fuhr er dann fort. „Die ist fünfmal so groß und gefährlich wie die Lombok. Das lernen wir schon im Unterricht, und die Kinder sind ganz wild darauf. Aber wir sind ja leider nicht König Clinton“, bemerkte er deprimiert. Der Topf verschwand schon fast hinter einem Urwald wachsender und sich ständig verzweigender Lianen, die ihnen nach dem Leben trachteten. Prestin wußte jetzt, daß diese Liane ein Mörder war. „König Clinton hat uns auch die Parasiten und Ranken eurer Erde erklärt“, fuhr Dalreay fort und redete nur des halb, weil er sich beschäftigen wollte, um nicht laut herauszubrüllen. „Diese hier ist ungefähr so wie die gemeine Nepenthes, die zur Verbesserung armen Bodens dient. Aber sie hat Gräten, während die Muskelkraft der Lom bok ...“ „Wenn wir zu nahe hinkommen, dann schnappt das Ding zu.“ „Ja, genau.“ Prestin packte sein Schwert fester, denn die nächste Liane kroch einen Meter von ihm entfernt über den Beton. Die Leute kreischten, pfiffen, heulten, miauten und schrieen ihnen zu, sie seien Feiglinge und sollten die Lianen angreifen. „Wir haben keine Wahl, Dalreay“, meinte Prestin und bewegte sich langsam um das Rund der Arena. Hast du Lust, ein Risiko einzugehen?“ „Jedes Risiko, Bob.“ „Dann springen wir diesen fetten Mops, diesen Melnone an. Wenn sie ihn lebend haben wollen, stellen wir unsere Bedingungen.“ „Aber die Barriere, Bob!“ „Ich klettere an deinem Rücken hinauf, dann schaffe ich sie. Ich ziehe dich an meinem Gürtel hinüber, und dann
haben wir ihn vor unseren Schwertern, Die Leute mögen ihn vielleicht nicht, aber er ist der Boß, und da werden
sie wohl...“
„Bob, ich gehe hinüber. Ich bin der Jäger.“
Prestin antwortete darauf nicht -vernünftigerweise, aber sie hieben immer wieder die kriechenden, züngelnden
Lianen ab. Nun standen sie der Loge von Melnone gegenüber.
„Hat keinen Sinn, davonzurennen, ihr feigen Burschen!“ Sein Italienisch war scheußlich. „Warum kämpft ihr
nicht wie Männer?“ Dazu gurgelte er heiser und genoß seinen Witz.
Prestin bückte sich. Dalreay faßte das Schwert mit den Zähnen, stieg auf Prestins Rücken und über die Barriere
wie ein olympischer Hürdenläufer. Prestin fing den ihm zugeworfenen Gürtel und hangelte sich daran hinauf.
Die ganze Arena wurde zu einem Höllenkonzert. Dalreay sprang hinunter, erledigte zwei sich duckende Valcini,
versetzte der Frau einen Fußtritt, so daß sie davongeschleudert wurde, und hatte im nächsten Moment schon
Melnone an seinem fetten Hals. Das war alles blitzschnell gegangen, und nun war seine Schwertspitze
dramatisch auf Melnones Ohr gerichtet.
Prestin sprang nach ihm ab, trat einem Mann in den Magen und duckte sich, als ein anderer nach ihm ausholte.
„Sag's ihnen“, forderte Dalreay Prestin auf.
Und Prestin schrie: „Wenn ihr an einen von uns beiden tippt, dann stirbt Melnone!“
Eine Ranke schob sich über die Barriere, und ein entgeisterter Honschi stand wie versteinert daneben. Prestin
lachte und kappte sie mit seinem Schwert. Die Spitze fiel zwischen die Sitze. Der Honschi stürzte davon.
„Du Narr! Da kannst du's doch nicht liegenlassen! Wirf es auf den Beton zurück!“ schrie Melnone.
Und dann sprang eine Ranke aus dem Sitz. „Die Lembokranke ist frei!“ brüllte ein Mann, und Frauen rannten in
Todesangst davon. Und das Ding wuchs. Die Ranke in der Arena war im Wachstum durch den Blumentopf
gehemmt, aber die hier ... Es war unglaublich, wie sich die abgeschlagene Spitze teilte, neue Zweige ansetzte, in
die Höhe schoß. Sie nährte sich aus dem Beton und wand sich um alles, was ihr in den Weg kam. Ein Honschi,
der nicht schnell genug rannte, wurde von der Pflanze am Hals gepackt und unter die Sitze gezogen. Er schrie,
bis sein Kreischen im mahlenden, schmatzenden Kauen der Pflanze unterging.
„Verschwindet!“ schrie Melnone.
„Todor, wir gehen jetzt. Nimm Melnone mit. Er ist unsere Geisel.“
Sie zerrten Melnone mit sich und rannten. Die Ranke rannte hinter ihnen her und schickte an verschiedenen Stel
len neue Triebe über die Barriere. Bald würde die ganze Arena mit dem großen Kuppeldach nur noch ein
unentwirrbarer Lianenurwald sein.
Natürlich wußte Prestin nicht, wohin sie sich wenden mußten, aber er sah auch nur einen Ausgang, um den die
Valcini kämpften. Niemand paßte auf sie auf, als sie sich schließlich durchpreßten. Die Ranken züngelten nach
ihren Absätzen. Niemand blieb stehen, um die Tür zu schließen.
„Wir behalten diesen Fettwanst. Wenn sie vernünftig werden, können wir verhandeln.“
„Ja.“
Dann lachte Melnone auf einmal schallend. Aus einem Seitengang kamen sechs bewaffnete Männer. Jeder hatte
eine Automatik; belgisches Fabrikat, stellte Prestin fest. Der Anführer schwang eine Mauser-Automatik 9 mm.
Er schien die Waffe sehr zu lieben, und er selbst sah aus wie ein dekadenter, gefährlicher Bursche. Seine etwas
zu eleganten hellbraunen Hosen, die um eine Schattierung dunklere Jacke, das magere Gesicht und das dünne
schwarze Haar, der nadelspitz ausgezogene Schnurrbart und die strichdünnen Lippen - ein Ausbund an
Widerlichkeit, und Prestin fand ihn abstoßend.
„Bitte“, sagte Melnone. „Bitte, redet.“ Er zupfte drängend an Dalreays Arm. „Bitte, Cino. Rede doch!“
„Sind Sie Robert Infamy Prestin?“ fragte Cino.
„Ja. Warum?“ Prestin staunte über gar nichts mehr.
„Sie brauchen Ihre Geisel nicht, Prestin. Sie sind ein wichtiger Mann.“ Cino hob die Mauser. Melnone kreischte.
Dalreay stieß ihn verblüfft weg.
Cino schoß Melnone in den Kopf.
„Kommen Sie, Prestin. Und ihren Freund nehmen Sie auch mit.“
Die Mauser winkte einen Befehl, dem Prestin nichts entgegenzusetzen hatte.
Umgeben von Cino und seinen Bullen hasteten Dalreay und Prestin den Korridor entlang und betraten eine
kleine, zylindrische Kammer. Die Tür glitt zu. Der Boden hob sich sehr schnell. Dalreay hielt sich an Prestin fest
und sah verblüfft drein.
„Elevator“, erklärte Prestin. „Wir fahren nach oben.“
„Diese Jäger haben doch eine Todesangst vor Wissenschaft und Technik“, sagte Cino. „Wir fahren in einem
Sorbabaum hinauf. Es sind fast die größten Bäume des Regenwaldes.“
„Regenwald“, sagte Prestin. „Das Große Grün, der Kohlfleck. Ah, ich verstehe.“
„Wir sind in dessen Mitte.“ Cinos Gesicht sah grün aus. Prestin rückte ein wenig von Cino ab. Der Gegensatz
zwischen ihm und Dalreay war zu gravierend.
Für das Innere eines Baumes war die Fahrt sehr lang.
Als der Lift hielt, stiegen sie aus, und Cino ging ein bißchen schwankend voran. Dalreay fühlte sich recht
unbehaglich, weil Prestin ihm nun einen deutlichen Schritt voraus war. Vor ihnen schwankte eine riesige Plattform mit hohen Fenstern. Prestin vermutete, sie müsse an einen Baumstamm geklebt sein wie ein Lutscher um einen Stengel. Zu den Fenstern sah er lieber nicht hinaus. Aber seine Vermutung stimmte: Er befand sich im obersten Stockwerk des Regenwaldes. Die Höhe der Bäume konnte er höchstens ahnen. Wenn er nämlich durch Sehschlitze hinauslugte, dann sah er unter sich so etwas wie ein anderes Stockwerk, doch er konnte nicht erraten, das wievielte es vom Boden aus gerechnet war. Wenigstens fiel durch den Spalt ein kleiner Strahl Sonnenlicht herein. In welcher Höhe mochten sie sich wohl befinden? Vögel und andere bunte fliegende Tiere flitzten zwischen den Bäumen herum. Die Sorbabäume mußten die mit den Golfballwipfeln sein. Sie ragten über die undurchdringliche grüne Wirrnis hinaus und bildeten selbst wieder eine so dicht ineinander verflochtene Wirrnis, daß man mühelos darüber gehen konnte. Prestin wußte, daß irdische Urwälder eine Baumhöhe von annähernd fünf Stockwerken erreichen konnten. Das hier war aber wesentlich mehr. Er machte sich nicht die Mühe, die Stockwerke zu zählen, die er unter sich aus machen konnte. Hier gab es Wasser und Sonnenlicht im Überfluß, und alles Übrige konnte man der Natur überlassen - auf Irunium ebenso wie auf der Erde. „Merkwürdig, was?“ fragte Cino und lächelte gönnerhaft. „Und wo der Wald schlagartig aufhört, beginnt die Savanne. Diese Trennlinie ist selbstverständlich von edelsteinführenden Felsen bestimmt. Wir leben im Großen Grün, weil es für uns sicherer ist. Aber unsere Bergwerke befinden sich in der Savanne. So ist es für uns viel netter.“ „Diese Lombokranke“, sagte Prestin und wurde nun doch blaß. „Wächst die auch hier?“ Cino schniefte. „Das war doch nur eine Babyranke. Im Großen Grün gibt es wirklich große Lomboks und Narwhals. Aber wir beaufsichtigen unsere Bäume. Die Würgerfeige entwickelt sich zum Beispiel aus einem winzigen Samenkorn, läßt sich von ganz oben in einem Baum auf den Boden fallen und windet sich am Stamm hinauf, dem Sonnenschein entgegen. So erwürgt sie den Baum. Natürlich passen wir auf, daß das nicht den Bäumen passiert, die wir bewohnen.“ „Und hier lebt man also sicherer als draußen im offenen Land?“ „Wir schon, weil wir die Technologie haben, die mit diesen hirnlosen Pflanzen fertig wird.“ Bald kamen sie an ein nach oben führendes Treppenhaus. Die Plattform hatte also auch noch mehrere Stock werke. Cino ließ Prestin vorangehen, hielt aber Dalreay zurück, und Prestin überlegte sich, was wohl jetzt wieder seiner wartete. Es war ein kleiner, nichtssagender Vorraum mit einer Doppeltür, die er aufschob. Er hörte Wasser plätschern und eine weiche Stimme rufen: „Hier herein, Bob!“ Hm, das könnte ja interessant werden, überlegte Bob humorig. Er trat ein und vergaß seine Leichtfertigkeit. Die Szene blendete ihn so sehr, daß er auf der Schwelle stehenblieb. Hier hatte man ohne Zweifel eine Bühne aufgebaut. Antike griechische und römische Statuen aus weißem Mar mor standen auf einem weißen Marmorboden. Ein feiner Nebel duftender Dämpfe stieg aus einem Becken auf, in dem - nach ebenfalls antikem Vorbild - ein Mädchen halb in parfümiertem Wasser lag. Ihre Haut strahlte vor Ge sundheit, ihre Zehennägel blitzten, jedoch vom Nagellack. In ihrem dunklen Haar funkelten Edelsteine. Drei kupferhäutige Mädchen, die fast ebenso nackt waren wie die Badende, wuschen, salbten und massierten sie. Alle lachten leise und girrend, und er stand wie ein Narr da. Sanfte, betörende Musik aus unsichtbaren Quellen rieselte durch den duftenden Nebel. „Du kommst ein wenig früh, Bob. Es macht dir aber sicher nichts aus, wenn ich dich ein bißchen warten lasse, nicht wahr?“ Ihre Stimme klang verführerisch, und als er das Mädchen ansah, bemerkte er, daß es sich an seinem Unbehagen weidete. Oh, sie war es wert, daß man sie anschaute! Zu ihrem dunklen Haar hatte sie violette Augen, ihr Mund war allerdings für seinen Geschmack ein wenig zu voll und reif und machte außerdem ein Schnütchen. „Wa-was soll das alles?“ fragte er. „Ich will wissen ...“ „Sicher, Bob. Deshalb bat ich ja, dich heraufzubringen. Hat Cino dich auch richtig gefunden?“ „Natürlich. Und er fand auch einen Wurm, der sich kringelte, einen Kerl namens Melnone.“ „Ach, das war doch ein Narr!“ Dazu plätscherte sie im Wasser; Schaum wallte auf, und rote Zehennägel verschwanden, dafür erschienen wohlgerundete Knie. „Er hat nichts mehr genützt. Die Valcini denken an nichts anderes als an ihren schrecklichen Sport.“ „Du bist also keine Valcini?“ „Bob!“ „Nein, vermutlich nicht.“ Er ging einen Schritt weiter hinein und stand auf kostbaren Teppichen. „So. Du brauchtest also diesen Melnone nicht mehr, und deshalb hast du ihn abgeschafft.“ Er lachte leise. „Und ich kam gerade vorbei.“ Sicher war sie eine großartige Person. Der Badeschaum hinderte ihn zwar daran, viel zu sehen, aber ihre Augen sprachen von Temperament, und ihre Hände waren so schön, daß sie ihm als die Frau aller Frauen erschien. Prestin registrierte den Eindruck, den sie auf ihn machte. Ein kupferhäutiges, schlankes, biegsames Mädchen brachte ein hauchdünnes Schleiergewand. Das Mädchen erhob sich langsam aus dem Wasser, und Prestin konnte nicht umhin, gebannt zu schauen. Natürlich sah er ab solut nichts. In solchen Situationen sieht ein anständiger Mann niemals etwas. In Schleier und Handtücher gehüllt schwebte das herrliche Wesen in eine Warmluftdusche aus durchscheinen dem Glas.
„Du hast mir deinen Namen noch nicht gesagt“, mahnte Prestin.
„Oh, Bob!“ Die Schleier fielen, und zarte Hände hoben sich über den Glasrand. Die ein wenig verschwommenen
Umrisse der Finger bezauberten Prestin.
„Was meinst du mit -, oh, Bob?' Du weißt, wer ich bin. Du hast mich herbringen lassen. Du hast Melnone er
schießen lassen. Du willst doch etwas von mir. Cino ist mit seinen Bullen und seiner Mauser drunten. Was hält
dich noch auf?“
Mit einem leichten, fast schwebenden Schritt kam das göttliche Wesen, in ein flammenfarbenes Neglige gehüllt,
auf ihn zu. Die Bänder ihrer Gürtelschleife flatterten. Ihr Gesicht war kunstvoll bemalt. Es hielt vor seiner
Schulter an.
„Oh, Bob, du weißt doch sicher, wer ich bin?“
Er hatte keine Ahnung. Schließlich hatte er ja Fritzi zu finden gehofft, die vielleicht, als sie durch den
Nodalpunkt kam, in den Bäumen gelandet war und sofort von den Lomboks ... Er schloß vor Schmerz und
Entsetzen die Augen.
Er fühlte den Atem des Mädchens an seiner Wange, und ihr süßer, warmer Badegeruch war hinreißend. Sie
stellte sich auf die Zehen und drückte ihren Körper an seine Männerbrust. „Oh, Bob! Ich habe so lange auf dich
gewartet! Natürlich weißt du, wer ich bin. Ich bin Perdita! Das wußtest du doch, mein Liebling, nicht wahr?“
„Perdita? Die Contessa? Die Montevarchi?“ Prestin lachte. Er griff nach ihren Oberarmen und schob sie von
sich. ihr Gesicht war süß, lieblich und ein wenig undurchdringlich. „Du, die Contessa?“ Er schüttelte sie sanft.
„Ich habe mit der Contessa telefoniert. Die Stimme würde ich sofort wiedererkennen. Tut mir Leid, Baby, da
mußt du dir schon einen Dümmeren suchen.“
„Du bist ein Narr, Bob!“ Sie riß sich los, stürmte durch die Luxuswohnung und bebte vor Bitterkeit. „Was weißt
du schon von Dimensionen? Ihr Erdentölpel seid überzeugt, die Herren der Schöpfung zu sein! Aber ihr seid es
nicht! Nein, ihr seid es nicht!“
„Und du bist es wohl?“
Das saß. Sie schnellte den Kopf herum wie eine Schlange, und auch ihre Zunge schoß schlangengleich aus ihrem
Mund. „Wir sind von den Dimensionen, und ich bin die Montevarchi. Das ist der Name, unter dem ich auf dieser
und deiner Welt bekannt sein will. Das ist der Körper von Perdita, und ich denke mit ihrem Gehirn, sehe mit
ihren Augen, berühre dich mit meinen Händen und ...“ - sie kam ein paar Schritte auf ihn zugeschwebt - „küsse
dich mit ihren Lippen.“
Prestin schob sie von sich. Die Kupferhautmädchen standen neben der Tür und wußten noch nicht recht, ob sie
davonrennen sollten. „Ich will deine Küsse nicht, Contessa. Ich weiß auch nicht, was du mit dem Körper einer
anderen ...“
„Der Körper gehört jetzt mir, ich bediene mich seiner und ...“
„Schon gut, schon gut. Jetzt hast du deinen Spaß gehabt, Mädchen, und ich möchte jetzt auch den meinen haben
und auf meine Welt zurückkehren.“
„Du stößt mich also zurück?“
„Jawohl. Ich will dich nicht. Dich will ich nicht, das nicht, was du darstellst, ich hasse die Valcini, deine
Gefolgsleute, und will jetzt nach Hause. Und mein Freund...“
„Todor Dalreay von Dargai? Mach dir um den keine Gedanken. Der ist schon zwischen meinen Minensklaven
angekettet.“
„Du Katze!“ Er wirbelte herum. Gedanken an Ausbrechen spukten in seinem Kopf; vorbei an Cino und seiner
Mauser. Aber diese Mauser war ungefähr dasselbe wie ein verbarrikadiertes Eisentor.
„Cino, er spielt nicht mit. Du weißt schon, was du mit ihm zu tun hast!“
„Jawohl, Contessa.“ Cino richtete die Mauser auf Prestin. „Und du kommst jetzt mit mir.“
„Die da ist nicht die Montevarchi“, sagte Prestin.
„Im Augenblick schon“, entgegnete Cino. Seine Lippen waren dünn. „So, mein Freund, finde dich damit ab.“
„Was wollt ihr denn überhaupt von mir?“ Noch vor wenigen Tagen wäre Prestin heillos verwirrt gewesen. „Seit
Fritzi verschwunden ist, seid ihr dauernd hinter mir her.“
„Um die Upjohn mach dir lieber keine Gedanken. Sie ... arbeitet für ihren Lebensunterhalt.“
Prestin tat einen Satz nach vorn und griff nach dem Madchen. „Fritzi lebt! Geht es ihr gut?“
Cino schlug ihm mit dem Kolben der Waffe über den Kopf und zog ihn von dem Mädchen weg. Der Schädel
brummte ihm. „Cino, bring ihn weg!“ befahl die falsche Contessa und strich indigniert die Falten ihres Negliges
glatt.
Man brachte ihn im Sorbabaumlift nach unten. Wenn das wirklich die Contessa war, dann hatte er sich ja wie ein
Tölpel benommen. Sie hatte sich ihm ja direkt angeboten im Austausch für irgend etwas. Und jetzt wußte
Prestin, daß er das tun würde, was die Montevarchi wollte - umsonst sogar.
Fritzi lebte! Und sie mußte irgendwo in der Nähe sein, wenn das stimmte, was die Contessa angedeutet hatte.
Unten sah Prestin eine ganze Menge Honschi-Garden und gewöhnliche Wachen in feschen Uniformen mit
Helmen, Maschinenpistolen und Schlagstöcken, die für Ordnung sorgten. Cino kicherte. „Jetzt haben sie über die
Lombok die Säure ausgegossen. Die schrumpft jetzt zusammen, als hätte der Teufel sie angepustet. Schade, daß
ich's nicht gesehen habe.“
Das konnte sich Prestin vorstellen, aber er selbst hätte nicht die geringste Lust gehabt, diese schleichenden Ran
ken zu sehen und dann die Säuredämpfe zu riechen, die für Freund Cino so interessant waren.
Die Siedlung, oder wie immer man in dieser Kulturdimension so etwas nannte, reichte ein Stück über den
Waldrand hinaus. Beton hatte man dazu recht großzügig verwendet, und links und rechts an den Betonstraßen
lagen käfigartige Wohnungen aus Beton. Ganze Arbeiterbataillone gossen Sprünge aus oder schütteten kochende
Säuren in Ritzen. Er wußte, daß die Valcini freiwillig hier wohnten, obwohl ihnen die Contessa natürlich auch
gewisse Dinge aufzwang.
Die Sklaven beuteten die Edelsteinminen aus. Dort schien für die Valcini das Leben lange nicht so sicher zu sein
wie hier im Wald.
„Du Kerl, du fronst ja nicht in den Minen“, antwortete Cino mit einem Grinsen, dessen kein gewöhnlich Sterb
licher fähig wäre. „Du kommst in das Transportkorps.“'
Die überwältigende Größe des Regenwaldes ließ alles in und um ihn zwergenhaft erscheinen. Aus diesen grünen
Alptraum konnte man nicht entkommen. Sie gingen in eine Betonzelle mit ein paar Fenstern und einem Stern
über der Tür, die angeblich als Büro diente, doch auch hier spürte Prestin den überwältigenden Kohlfleck.
Ein kleiner Butler kam ihnen entgegen, der einen grauen Anzug aus einem der mondänsten italienischen
Herrenkleidergeschäft trug. Sein Gesicht hatte einen öligen Ausdruck, der Prestin reizte. Cino hob seine Mauser.
„Cyrus, der ist gut. Er hat das Upjohnmädchen durchgeschickt.“
Der kleine Mann rieb sich beglückt die Hände. „So! Die Contessa treibt uns ganz schön an, und deshalb ist
gerade jetzt eine Extrahilfe sehr willkommen.“
„Deine Sorgen möchte ich haben“, brummte Cino.
Kommen Sie mit. Wie heißen Sie? Von dem Madchen habe ich schon gehört, aber ...“
„Prestin. Robert Infamy.“
Der kleine Mann kicherte. Prestin maßte ein wenig säuerlich zugeben, daß der verwelkte Beau so etwas wie
einen Humor hatte. „R.I.P.? Hehe! Dann sind sie hier richtig,“
»Verschwindet“, murmelte Cino und schob seine Mauser ein, ging aber selbst weg, ohne noch einen Blick
zurückzuwerfen. Dafür eilten zwei Honschi-Garden herein, die Prestin sofort ernüchterten und jeden Gedanken
daran, den Kleinen anzuspringen, utopisch erscheinen ließen. Cyrus ging voraus, und er hüpfte bei jedem Schritt
ein wenig.
Kornisch, Prestin entdeckte, daß er mit den Honschi im Gleichschritt über die billigen Grünzeugmatten
marschierte. Die geheimnisvolle Aura vertiefte sich, als sie einen kleinen Raum betraten, der von einer ganzen
Traube blauer an der Decke hangender Lampen erhellt wurde,
„Seht, jetzt“, flüsterte Cyrus.
Es war still wie in einer Kathedrale und steril wie in einem Operationsraum.
Ein Mann saß auf einem Holzstuhl und meditierte mit über den Kopf erhobenen Händen, Vor ihm auf dem Tisch
lag ein Häufchen Juwelen, die in allen Farben funkelten. In den Schatten hinter dem Mann lauerten Honschi-
Garden. Er saß da, als habe man ihn aus Glaserkitt geknetet.
Die Juwelen lagen in einem sauber gezeichneten gelben Kreidekreis.
Sie verschwanden.
Prestin blinzelte.
Der meditierende Mann seufzte, streckte sich und rieb sich mit zitternden Händen über dünnes, weißes Haar. Das
blaue Licht fiel auf ein Stoppelkinn, setzte blaue Sterne in seine Pupillen und ließ Gesicht und Zahne
gespenstisch schimmern.
Ein Honschi, kein Wächter, sondern ein Aufseher, schüttete ein weiteres Juwelenhäufchen in den gelben Kreis
und zählte sorgfältig. Ein Assistent notierte die Zahl auf einem Täfelchen, das ihm um den Hals hing.
„Also, los, Graves!“ ließ sich eine Lautsprecherstimme vernehmen, und Prestin entdeckte den winzigen Grill
unter einer TV-Überwachungskamera. Die Stimme klang jung, scharf und autoritär. „Portieren, Graves!“
Aber der Mann zuckte zitternd zurück und hob abwehrend die Hände, Sein Gesicht verfiel. „Nicht, nicht mehr!“
krächzte er. „Mein Gehirn ist schon ganz ausgebrannt. Nicht mehr. Laßt mich ein wenig ausruhen.“
„Zwei Minuten, Graves, sonst weißt du, was passiert!“
„Ja.“ Graves sackte auf seinem Stuhl zusammen und ließ den Kopf hängen. „Ja, ich weiß.“
Jetzt begriff Prestin, was er hier sah; was David Macklin und die Montevarchi gewollt hatten; warum das
Bademädchen sich selbst angeboten hatte - und was mit ihm geschehen würde.
„Ich habe einen Ersatz“, sagte Cyrus. „Wenn du ...“
„Gut, Cyrus“, antwortete die Lautsprecherstimme. „Bring ihn herein Graves, du kannst ausruhen. Aber vergiß
nicht, Graves, morgen wirst du das Doppelte portieren, verstanden! Verschwinde!“
Die Honschi-Wachen zerrten Graves, ein armes, geschlagenes Menschenbündel, davon. Cyrus deutete auf den
leeren Stuhl, und Prestin setzte sich ohne Widerrede. Er spürte, daß ihn die ekelhaften Froschaugen nicht
losließen. Ihre Angst vor menschlichen Gefangenen nahm um so mehr ab, je größer ihre zahlenmäßige
Überlegenheit war.
. „Der gelbe Kreis gibt die genaue Position eines Nodalpunktes an, Prestin“, erklärte die harte
Lautsprecherstimme, die in scharfen Echos von allen Seiten zurückkam. „Du wirst diese Juwelen portieren. Das
tust du für die Contessa, damit sie zufrieden sein kann.“
„Sehr interessant“, antwortete Prestin gleichmütig, doch ihm war sehr mulmig zumute. „Ihr habt aber etwas
vergessen. Ich kann diese Klunkerchen hier nicht portieren, wie ich will. Ich weiß ja nicht, wie es gemacht
wird.“
„Das bringen wir dir schon bei, Prestin. Du kannst es, denn du hast die Gabe eines Porteurs. Ich habe gehört, daß
du das Mädchen Upjohn portiert hast. Du wirst gut für die Contessa arbeiten.“
„Bis ich so verbraucht bin wie Graves?“
„Man hat dir ja eine Alternative geboten.“
Cyrus trippelte zu einem fahrbaren Schaltkasten mit einer ganzen Menge Hebeln, Skalen und Uhren, von dem
zahlreiche Kabel wegführten. Prestin wurde daraus aber nicht klug. Cyrus nahm eine Elektrode und wickelte sie
ab. „Das tut mir ebenso weh wie dir“, erklärte er kichernd.
Prestin wurde übel, und er mußte heftig schlucken, um den Mageninhalt nicht von sich zu geben. Die Honschi-
Garden hielten ihn fest, als Cyrus die Elektroden um seine Arme, Beine und den Körper wickelte. Seine Kleider
waren seit seiner Landung in Rom über alle Maßen strapaziert worden, und das war jetzt das Ende für sie. Sie
hingen nur noch als Lumpen an ihm.
Cyrus' Kichern reizte Prestin zu blinder Wut. Am liebsten hätte er um sich geschlagen und einen Honschi mit
bloßen Händen erwürgt.
„Portiere diese Juwelen durch den Nodalpunkt, Prestin“, befahl die metallene Stimme.
„Das kann ich nicht“, fauchte er und versuchte sich loszureißen.
Da traf ihn ein elektrischer Schlag. Seine Augen waren wie Billardkugeln und quollen ihm aus dem Kopf. Sein
Gehirn schien nicht mehr zu seinem Körper zu gehören, sondern in einer Bratpfanne zu schmoren. Er hätte nie
geglaubt, daß ein elektrischer Schock so schmerzhaft sein könnte.
Und dann fiel er wie ein leerer Sack zurück.
„Das war eine kleine Ermutigung Prestin.“ Die kalte, metallene Stimme reizte ihn noch mehr, aber er konnte ja
keinen erwürgen. Seine Wut an einem Lautsprecher auslassen - der sicherste Weg ins Irrenhaus!
„Ich weiß doch nicht, was ich tun soll“, jammerte er.
Da traf ihn wieder der Elektroschock, und als er vorüber war, lief Prestin der Schweiß in Strömen von der Stirn.
„Was soll ich tun?“ fragte er.
„Versuch's, Prestin, Wir helfen dir. Konzentriere deine Gedanken auf die Juwelen. Setze deine Gabe ein!
Portiere sie. Tu es, Prestin!
Wieder ein Schock. Und Prestin tat es.
Die Juwelen waren verschwunden.
„Ich habe doch immer gesagt, daß der Stock besser ist als die Karotte“, stellte die Metallstimme fest.
„Ä-Aber, e-es ist doch n-nicht immer so“, jammerte Prestin und schüttelte den Kopf, um den Nebel darin zu ver
treiben.
Ein neuer Schock. „So, das ist für deine Frechheit, du Wurm“, erklärte die Stimme, und gleichzeitig wurden neue
Juwelen auf den Tisch geschüttet.
Er wußte nicht, wie er es beim erstenmal geschafft hatte, doch es fiel ihm ein, als der Schock ihn wieder traf. Die
Juwelen waren weg.
„Gut. Bald kannst du's ohne meine Hilfe, Robert Infamy. Aber vergiß nie, daß du's von mir gelernt hast. Dafür
hast du mir sehr dankbar zu sein. Ich hoffe, daß du's auch bist.“
„Daran zweifle ich absolut nicht“, bemerkte Prestin erschöpft. „Ich hoffe, eine Möglichkeit zu finden, es dir
heimzuzahlen.“
9. Sie experimentierten mit Prestin und genossen es. Er mußte immer größere portieren, und sie trieben ihn mit Elektroschocks zu steigender Leistung an. Sie waren niemals zufrieden. Nach der dritten Ohnmacht, aus der sie ihn mit Wasser und Schocks zurückholen mußten, ließen sie ihn gehen. Die Honschi schleppten ihn in eine kleine, luftlose Zelle und warfen ihn auf ein Feldbett. Sein Schädel war ein brennendes Karussell. Er schlief wie in einem Morphiumrausch, aber es war die Erschöpfung. Er wußte nicht, wie lange er geschlafen hatte, als er wieder aufwachte. Ruckartig setzte er sich auf, hatte Kopfschmerzen, Hunger, Durst, und auch sonst tat ihm einiges weh. Er hatte das Gefühl, man habe ihm den Kopf abgesägt und ungeschickt wieder angenäht. Dann fiel ihm ein, daß ihm auf dem Parkplatz ein Stück des abstürzenden Hubschraubers auf den Kopf gefallen war. Er mußte harte Arbeit geleistet haben, als er sich selbst portierte; bei Fritzi hatte er nichts bemerkt. Dann hörte er das Stakkato von Maschinengewehrfeuer und schrille Schreie. Die Honschi brüllten „Hoschoo! Hoschoo!“, und das hatte zu bedeuten, daß sie wieder einmal mit dem Teufel spielten.
Die Tür wurde aufgerissen, und grelles Licht strömte herein. Dunkle Gestalten drängten ihn, „komm, komm!“
Sie plapperten italienisch, französisch, deutsch, spanisch und englisch und in vielen Sprachen, die er nicht
kannte. Prestin stand auf. Es ging. Und er dachte an den hölzernen Stuhl, die gräßliche Maschine und die
Juwelenhäufchen im gelben Kreis. Er rannte hinaus. Man schob und schubste ihn herum zwischen kreischenden,
singenden, lachenden, winkenden Leuten, bis er zum Teil einer Masse unkontrollierbarer Bewegungen wurde.
Das war Fiesta, Revolution, Faschingsdienstag und das Geklirr brechender Ketten. Er sah überall tote Honschi
herumliegen.
Ein Menschenschwarm, die meisten von ihnen halbnackt, drängten aus einem Betontunnel. Sie schwenkten
Waffen, lachten und kreischten. Vor ihnen liefen zwei Honschi-Garden, die ihre Schwerter verloren hatten, und
auf ihren hohen Helmen wippten die Pubicks.
Aber die Menschen schossen nicht, obwohl sie Waffen hatten. Sie warteten. Dann sah Prestin vor sich die andere
Menge mit den Froschaugen, und nun drängten die Menschen heran. Ein Speer wurde geworfen. An dessen
Spitze wehte blutiges Haar. Die Menge tobte und brüllte.
Die Szene widerte Prestin zwar an, doch er verstand die Leute. Man braucht die Menschen nur wie Tiere zu
behandeln, dann werden sie zu Tieren, obwohl viele sagen, das sei eines Homo sapiens unwürdig.
Säe Wind, Bruder, und du wirst Sturm ernten. Jawohl.
Prestin grinste plötzlich, streckte die Arme aus und rannte.
„Ich hätte ja wissen müssen, daß die Revolution gerade dann ausbricht, wenn ich komme!“
Todor Dalreay wirbelte herum. Sein rechter Arm mit dem Schwert, der exekutiven Verlängerung des Armes der
Justiz, war bis zum Ellbogen blutig.
„Bob! Sie haben dich also gefunden! Ja, wir haben wie die Irren geschuftet. Die Revolution war schön
vorbereitet. Wir mußten sie nur noch auslösen.“
„Das ist alles nur...?“
Das Gesicht des Jägers war magerer, wölfischer geworden, aber der Bart zitterte vor Lachen. „Keine Sorgen,
Bob. Alles ist unter Kontrolle. Viele dieser Leute stammen aus deiner Dimension, wenn auch die meisten von
hier sind. Die Dargan sind recht lebendig geworden. Es war ein Fehler, daß sie unsere ganze Karawane
gefangennahmen. Die Contessa...“
„Ja?“
Dalreay sah Prestin fragend an. Sein Gesicht war eine strenge, ein wenig abweisende, vorwurfsvolle
Richtermiene. „Sie entkam in eine andere Dimension. Ihr alter ego haben sie allerdings getötet.“
„Meinst du das schöne junge Mädchen mit den violetten Augen?“
„Ich wußte ja, daß du sie gesehen hast, Bob. Du hast dich, glaube ich, von ihr auch nicht einwickeln lassen. Ja,
diese Teufelin haben sie getötet. Die Mädchen, die für sie Sklavenarbeit tun mußten, hatten schreckliche Angst
vor ihr; deshalb mußte es geschehen. Es gab immerhin einige, die es sich zur Ehre anrechneten.“
„Das kann ich mir vorstellen.“ Prestin dachte an das schöne, badende Mädchen, das ihn hatte verführen wollen,
damit er für die Montevarchi arbeitete. Sie war tot. Aber die Contessa lebte noch.
„Eines Tages wird die Contessa alles auf Heller und Pfennig heimgezahlt bekommen. Aber es bleibt noch sehr
viel zu tun. Wir müssen diesen Platz von Honschi und Trug säubern. Dann erst können wir an unsere Zukunft
denken und an Dargai...“
„Hör mal, Todor.“ Prestin griff nach Dalreays Arm, als der Darganer weggehen wollte. „Dieses Mädchen Fritzi
Upjohn ..., weißt du, sie mußte auch hier arbeiten ... Haben deine Männer sie hier gesehen? Todor, es ist sehr
wichtig!“
„Ein Mädchen?“
„Denk an Darna, Todor. Ja, es ist wichtig! Ein Mädchen!“
Eine daherrollende Gestalt, ein Hüsteln und das Gluckgluck einer angehobenen Flasche kündigte Nodgers Nahen
an. Er rülpste, machte „hick“ und sah lächelnd in die Runde. Auch sein Schwert war rot.
„Ich habe diesen Wurm Enrico getötet“, sagte er. „Aber leider entkam sein Bruder Cino in das Große Grün.
Damit ist er aber auch erledigt.“ Dieser Cino war ein Narr.“ Nodger nahm einen tüchtigen Schluck und
wischte sich den Mund ab. „Wollte mit uns handeln. Hat sich hinter einem Mädchen verstecken wollen. Klar,
wir hörten ihm gar nicht zu. Enrico zog ja eine richtige Schau auf, aber seine Fußarbeit war so schlecht, daß
sogar ein alter Knochen wie ich ihn zu Kleinholz machen konnte. Aber Cino ...“
Mädchen“, sagte Prestin und wußte Bescheid. Es war ja gar nicht anders möglich, oder ...“ „Cino“, sagte Prestin
düster. „Cino hat Fritzi. Er muß sie haben, sie ist das einzige Mädchen, mit er handeln konnte. Wirklich.“ Tut
mir leid, Bob, aber wenn er in den Kohlfleck gegangen ist...“ Dalreay sah richtiggehend gequält drein.
„Cyrus muß es wissen“, bemerkte einer von Dalreays Männern, die sich auskannten. Die meisten von ihnen
fuhren jetzt die Sorbabäume hinauf und hinunter, liefen durch Tunnels und durchkämmten die offenen Flächen.
Die Honschi jagten sie jetzt, aber die Trugs würden sie aus einer gewissen, sicheren Entfernung niederschießen;
verständlich, wenn man sich's recht überlegte. Am Tag der Freiheit wollte keiner das Risiko eingehen, dem
ganzen Vergnügen nur deshalb auszukommen, weil er sich umbringen ließ. »Holt Cyrus her!“ rief Dalreay und
fügte leise hinzu: „Wer immer das auch ist.“
„Aber ich habe wirklich jetzt den dringenden Wunsch, mich ein bißchen hinzusetzen und meine alten Knochen
zu pflegen“, nuschelte Nodger und rülpste fast künstlerisch. Sein Falstaffspiel war in denn Augenblick zu Ende
gewesen, als der Kampf begann. Er spielte den Kampf nicht nur, er kämpfte tatsächlich.
Sie fanden einen kleinen, nüchternen Raum, von dem aus man das Gebiet überblicken konnte, wo das Große
Grün begann. Davor lag ein breiter Betonstreifen. Männer und Frauen meldeten sich bei Dalreay, der nun mit
einigen Führern die Probleme erörterte. Schließlich war Dalreay ja kein König Clinton.
Cyrus wurde bald gefunden; man schleppte ihn herbei und drückte ihn auf zitternde Knie nieder. Er versuchte
noch ein paar Witze anzubringen, aber einer versetzte ihm einen Tritt in den Achtersteven.
„Ja, ja“, plapperte er, als ihm das Problem vorgelegt worden war. „Ich weiß, was er tun wird und wohin er geht.
Auch Enrico...“
Nodger nagte an einem Hühnerschenkel und konnte daher nicht allzu deutlich sprechen, doch man verstand ihn.
„Enrico hatte zuletzt so zirka zehn Zentimeter Stahl in seinen Gedärmen. Stand ihm recht gut.“
Cyrus versuchte zu lächeln und wurde grün.
„War er derjenige, Cyrus, der die komische Schockmaschine am Nodalpunkt bediente?“ wollte Prestin wissen.
„Nein, nein! Ich weiß nicht, wer das war. Manche sagen, es sei der Sohn der Contessa, andere behaupten, es
wäre ihr Galan. Soviel ich weiß, kann der alles sein. Gesehen haben wir ihn aber nie.“
„Da du ja weißt, Cyrus, wohin Cino gegangen ist, sagst du uns das nicht nur, sondern führst uns hin“, erklärte
Dalreay und musterte dabei angelegentlich die Schneide seines Schwertes.
„Nein, nein!“ plärrte Cyrus. „Ich kann nicht ins Große Grün hineingehen! Denkt doch selbst einmal ... Es ist un
möglich!“
„Wenn Cino gehen kann, dann können's auch wir und vor allem kannst du es. Mach dich fertig!“
Sie schoben Cyrus vor sich her und fuhren mit dem Lift zur Spitze eines Sorbabaumes. Auf dessen flachem Dach
stand ein Helikopter bereit, und von dort aus überschauten sie das Große Grün. Sie hatten einen dunklen, zäh
aussehenden italienischen Kopterpiloten mitgenommen, der fröhlich lachte. Seine Handgelenke trugen noch
deutlich die Spuren von Handschellen. Alle schauten über den grünen Laubteppich hin, während sie Cyrus
zuhörten.
„Die Contessa muß ihre Ersatzfiguren fertig haben. Cino wußte das. Er dachte, er könnte mit ihnen verhandeln.
Eine habt ihr umgebracht, aber es war nicht das Upjohnmädchen, weil es mit anderen in Reserve gehalten wurde.
Sie ...“
„Was soll das heißen?“ fuhr Prestin entsetzt auf. „Ersatzfiguren? Fritzi eine Ersatzfigur? Mensch, erkläre das mal
schnellstens!“
„Das kann ich doch nicht“, jammerte Cyrus und duckte sich, als erwarte er einen Schlag. „Es gibt allerhand Ge
schichten von Schwarzem Zauber, die ich nicht verstehe. Aber die Contessa ist ein altes Weib und kann als junge
Frau erscheinen. Wie sie das macht, weiß ich nicht.“
„Wenn Cino einen Helikopter genommen hat, darin finden wir ihn.“ Prestin sah den Piloten an. „Tun Sie mit,
Pietro?“
„Klar! Ich bin dem Teufel selbst noch einiges schuldig.“
Sie luden Waffen und Lebensmittel ein und waren auch schon in der Luft. An Bord befanden sich neben Pietro
Prestin und Dalreay, Cyrus und Nodger.
„Er wird versuchen, zum Nordende zu kommen“, erklärte Cyrus. „Dort gibt es Rettungsmöglichkeiten.
Lebensmittelnotlager, falls einer hinunter muß.“ Cyrus schien sich nun schon in sein Schicksal ergeben zu
haben. „Dort kann er leben, bis die Contessa ihn holen läßt. Das ist einer ihrer Gründe für Ersatzfiguren. Ohne
diese geheimnisvollen Dinger hätte sie ja nicht zwischen den Dimensionen reisen können.“
„Ist mir egal, wenn du den Teufel findest“, erklärte Dalreay grimmig. „Den ganzen mystischen Unsinn kannst du
vergessen. Das Problem löst dann schon mein Schwert.“
Prestin, der an die Montevarchi dachte, war nicht ganz so überzeugt wie Todor.
Im Nordabschnitt erkannten sie die Waldausläufer und einen riesigen Strom von mindestens dreifacher Ama
zonasgröße. Und sie entdeckten Cinos Helikopter, der sich gerade im Golfballwipfel eines Sorbabaumes
niederließ.
Sie rannten die Treppe hinunter. Das Baumhaus sah auch nicht anders aus als die übrigen. Ein Mädchen schrie,
dann noch einmal. Prestin rannte die Treppe hinunter, und Dalreay und Pietro liefen ihm nach. Ihre Waffen
rasselten. Nodger ließ sich Zeit:
Auf einer offenen, mit Geländern gesicherten Plattform blieben sie abrupt stehen und hoben die Waffen, aber die
brauchten sie nicht. Das Bild, das sie sahen, ließ sie alle erbleichen.
Cino lag auf dem Boden; ein Fallschirm war ihm halb vom Rücken gerissen. Fritzi duckte sich neben ihn und
trug die Reste eines flammenfarbenen Negliges. Ein Trug hielt sie an den Armen fest, und einer seiner bekrallten
Klauenfüße drückte Cino hinunter.
Der plapperte vor Angst etwas Unverständliches in seiner eigenen Sprache. Nodger grinste. „Hat er's endlich
begriffen“, bemerkte er. Prestin hob seine Automatik und legte auf den Trug an.
.Vorsicht“, mahnte Pietro. „Wenn du ihn nicht beim erstenmal richtig triffst, hast du keine zweite Chance.“
„Du triffst nur das Mädchen“, warnte Dalreay.
„Fritzi?“ rief Prestin. „Fritzi, halte dich ganz ruhig, und wenn ich schieße, legst du dich ganz flach hin. Hast du
verstanden?“
Sie sah ihn an. „Habe verstanden, Alf! Du brauchst nur richtig zu zielen, das ist alles.“
Sein Finger drückte auf den Abzug -und der Trug bellte und tat einen Satz.
Prestin schoß, aber die Automatik wurde ihm aus der Hand geschlagen und fiel auf den Boden. Der Trug
kreischte wie eine ganze Herde verrückt gewordener Elefantenbullen. Dalreay schrie etwas, und dann hörte er
das Stakkato eines Schnellfeuergewehrs. Er warf sich auf Fritzi, um sie zu schützen; richtete sich auf, und beide
prallten zusammen. Miteinander rutschten sie an den Rand der Plattform, wo Cino lag.
Fritzi klammerte sich an seine Beine, durch einen Nebel sah Prestin, daß der Trug Nodger zu Boden warf. Pietro
schoß, und eine braune Pulverwolke stäubte auf. Dalreay hatte sein Schwert gezückt und wartete nur noch auf
eine passende Gelegenheit.
„Du bist also da!“ rief Fritzi. „Du bist auch auf dieser verrückten Welt gelandet?“
„Ja, später erzähle ich dir alles. Jetzt müssen wir erst diesen Trug da erledigen.“
„Cino hat mich hierhergebracht, wo ich landete, als ich aus dem Flugzeug fiel. Er war gar nicht nett.“ Fritzi
schien lange nicht so ruhig zu sein, wie sie sich gab, und vor allem hielt sie sich so an Prestin fest, als habe sie
Angst, ihn wieder zu verlieren.
„Aber dir geht's doch gut, Fritzi, oder?“
„Ja, natürlich. Die Contessa paßte schon auf mich auf. Die hat dafür gesorgt, daß mir nichts zustößt.“ Sie lachte
schrill und schluckte dann ein paarmal. „Violet wurde getötet. Das habe ich selbst gesehen. Arme Violet.“
„Laß mich los, Fritzi, der Trug ...“
Pietro hatte sein ganzes Magazin leergeschossen. Der Trug wedelte mit den krallenbewehrten Klauen; die
scharlachroten Augen funkelten, und das Wesen vibrierte vor Energie. Dalreay schrie laut und schrill und machte
einen Ausfall mit seinem Schwert...
Prestin sah das alles. Er sah auch, wie die Fallschirmriemen von Cinos schlaffer Gestalt glitten, und dann
rutschte langsam die Plattform unter ihm weg. Er versuchte noch, sich am Geländer festzuhalten, aber dann
fielen er und Fritzi miteinander in den Regenwald hinunter. Das Baumhaus wurde immer kleiner, und unter ihm
kam der grüne Baldachin immer näher...
Fritzi hing an seinen Beinen, und ihr Schrei hallte die Luftstraßen entlang.
Über ihnen war blauer Himmel mit ein paar weißen Wölkchen drinnen. Unter ihm lag lächelndes Land, und ein
bißchen in südlicher Richtung erkannte er Rom.
Also zog er die Reißleine.
„Und was sagen wir, wenn wir hinunterkommen, Alf?“
Er lachte. Er lachte ein bißchen hilflos, denn er klammerte sich an den Fallschirm, und Fritzi an seine Beine. Ihm
war es ganz egal, was die anderen sagen wurden. Die Polizei würde natürlich eine Menge Fragen stellen, aber
heutzutage gab es ja schließlich Sensationen in allen Größen und Preislagen. Und jedenfalls waren auch noch
Dave Macklin und Margie da, die bestimmt helfen würden. Irgendwie hatte er das ganz sichere Gefühl, daß alle
gesund und munter seien und auf ihn warteten.
Mit fast leidenschaftlichem Ernst wußte er aber auch, daß Todor Dalreay noch am Leben war und mit blutigem,
gezücktem Schwert über dem toten Trug stand. Leute wie Macklin, Alec,
Dalreay und Nodger wurde man nicht so schnell los. Das waren harte Nüsse. Freie Menschen machten zwar
wenig Wind, waren aber von diesen Borgia-Typ-Autokraten, zu denen die Contessa di Montevarchi zählte, nicht
leicht zu schlucken.
Es war ihm herzlich gleichgültig, ob die Contessa persönlich unten auf ihn wartete.
Die Sonne schien, und es gab Fritzi und Margie. Und Rom lag unter ihm.
Das Leben in dieser Dimension mochte recht lebhaft werden.
Ein Porteur?
Nie was davon gehört...
ENDE