ERZÄHLUNGEN 2. Auflage • Illustriert von Wolfgang Korn • 200 Seiten • Pappband mit Schutzumschlag 6,90 M
Eine Frau gla...
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ERZÄHLUNGEN 2. Auflage • Illustriert von Wolfgang Korn • 200 Seiten • Pappband mit Schutzumschlag 6,90 M
Eine Frau glaubt in einer Fremden die zurückgekehrte Geliebte ihres Mannes zu erkennen, die sie in der Nachkriegszeit durch eine Denunziation aus dem Wege geschafft hat. Ein Junge wird durch den plötzlichen Tod seines Vaters erwachsen und ringt sich zu einem großen Opfer durch. Ein Paar begegnet sich nach vielen Jahren wieder und macht die schmerzliche Erfahrung, daß sich versäumte Entscheidungen nicht einfach nachholen lassen. Die vorliegenden Geschichten machen betroffen. Immer geht es um besondere, außergewöhnliche Schicksale und Erlebnisse, die Michael G. Fritz sensibel, eindringlich und in bildhafter Schlichtheit erzählt.
VERLAG NEUES LEBEN BERLIN ISBN 3-355-00920-2
32 706
Iwan Frolow
Menschen ohne Vergangenheit
Verlag Neues Leben Berlin
Titel des russischen Originals: JIKDÄH 6e3 npomnoro Ins Deutsche übertragen von Carola Spieß Illustrationen von Karl Fischer
ISBN 3-355-00920-2
© Verlag Neues Leben, Berlin 1989 Lizenz Nr. 303(305/121/89) LSV 7703 Umschlag: Karl Fischer Typografie: Walter Leipold Schrift: 9 p Timeless Gesamtherstellung: (140) Druckerei Neues Deutschland, Berlin Bestell-Nr. 644 699 9 00025
Ein hoher Gitterzaun umgab den Stützpunkt. Die dichte Baumreihe hinter der Einzäunung ließ nur regennasse Dächer erkennen. Penn Murray lenkte den Wagen an die Einfahrt heran. Der Nieselregen machte melancholisch. Die ohnehin trostlose Gegend mit dem Gitter und dem verwaisten Pförtnerhäuschen im Vordergrund wirkte hinter dem grauen Regenschleier nur noch deprimierender. Murray hupte nachdrücklich. Aus dem Häuschen kam eine Militärperson im Regenmantel, trat an den Wagen heran und salutierte. „Melden Sie dem General: Penn Murray aus dem Verteidigungsministerium", wies der Ankömmling den Wachhabenden an. Der grüßte nochmals und verschwand wieder im Häuschen. Penn Murray war es schon oft gelungen, aktuelles Material an unzugänglichsten und mitunter auch sehr gefährlichen Orten zu beschaffen. Doch jedesmal liegt die Gefahr woanders, so daß er sich bei aller Tollkühnheit nie ganz an sie gewöhnen konnte. Auch jetzt fühlte er Unbehagen, weil so lange niemand aus der Wache kam. Um sich abzulenken, stellte er sich vor, wie die spitzen Gitterstäbe plötzlich in die Höhe wachsen und die über ihnen lastende Wolke aufschlitzen, so daß sie wie eine berstende Eisscholle auseinandergleitet. Gleich würde die Sonne hervorkommen. Doch die Phantasiebilder verschwanden. Zwei Mann kamen jetzt aus der Wache. „Ihren Wagen wird der Leutnant fahren", sagte der eine. Der andere bat Murray, sich auszuweisen, und verglich dessen Gesicht mit dem Paßfoto. Darauf setzte er sich ans Lenkrad. Sie fuhren an auffallend eleganten mehrgeschossigen Gebäuden und an weniger repräsentativen Holzbauten vorbei, an Schuppen, Materiallagern, an aufgetürmten Kabelrollen, Autowracks, Fässern, Kisten, die wer weiß was für Ausrüstungen bargen. Murray schaute gleichgültig in die Gegend, mitunter schloß er auch die Augen, als döse er vor sich hin. Doch er prägte sich alles ein. Hier gab es nichts Belangloses, jede Kleinigkeit konnte ihm im Notfall von Nutzen sein oder aber zum Verhängnis werden. Der Wagen hielt vor einem flachen Gebäude mit kostspieliger Granitverkleidung; ein Relief, auf dem antike Göttinnen dargestellt waren, umgab den Eingang mit den Türringen aus blitzender Bronze. Murray erkannte General Burnetti nach dem Foto, das er gesehen hatte. Als er vortreten wollte, um sich vorzustellen, hielt ihn der General mit einer Handbewegung zurück. „Moment, ich gebe erst Anweisung, daß uns niemand stört." Er drückte auf die Taste des Videotelefons. Auf dem Bildschirm erschien ein am Schreibtisch sitzender hagerer Offizier mit einem langen, asymmetrischen Gesicht. „Oberst Osers!" ließ sich der General hören. Der Offizier schrak zusammen und hob den Kopf. „Zu Befehl, Herr General!" „Ich lege die Leitung zu Ihnen. Ich bin jetzt eine Stunde lang nicht zu sprechen." „Verstanden, Herr General!" Jetzt hielt Murray seine Zeit für gekommen. „Penn Murray, Vertreter von 3
Maximelectronics", begann er seinen vorbereiteten Satz und stockte dann, so als wollte er nicht die Verbindung zwischen Militär- und Finanzkreisen deutlich werden lassen. „Sir", unterbrach der General die Erklärung und schob die Rechte Murray wie eine Schranke entgegen. Diese Geste des nicht sehr großen, mageren Generals amüsierte Murray. „Ich weiß, woher Sie kommen, Mr. Murray. Uns bleibt hier nichts verborgen." Murray hatte vorausgesehen, daß die Unterredung mit dem General nicht einfach sein würde, doch er hatte nicht erwartet, daß sie so schnell, ohne jedes Vorfühlen, beginnen würde. Er parierte jedoch in aller Ruhe den Ausfall des Gegners: „Daran zweifle ich nicht, General... Haben Sie die chiffrierte Meldung aus dem Ministerium bekommen?" Burnetti überhörte die Frage. „Wir freuen uns immer über einen Gast aus der Hauptstadt. Setzen Sie sich, erzählen Sie. Was gibt es Neues? Das Leben soll jetzt schwieriger geworden sein." „Von der Inflation und Arbeitslosigkeit abgesehen, sieht es glänzend aus." Der General warf ihm einen Blick zu. „Und wie steht's bei "Fred Friedeman?" Friedeman war der Konzernchef von Maximelectronics, einer der bedeutendsten Großindustriellen; er lieferte Waffen und Technik an den Stützpunkt, und es hieß, daß er auch die hiesigen Forschungsprojekte finanzierte und kontrollierte. Das alles war Murray bekannt. „Er ist so erfolgreich wie immer. Fast die Hälfte aller Rüstungsaufträge geht an ihn." „Das sieht dem alten Fred ähnlich." „Allerdings sah es so aus, als wollte man dem Minister etwas anhängen. In der Presse hieß es, er hätte die Aufträge nicht uneigennützig vergeben. Es scheint aber noch einmal glattgegangen zu sein." „Und wie geht es Elaine?" Diese scheinbar harmlosen Fragen dienten natürlich Murrays Überprüfung; er sollte Flagge zeigen. Etwas Ähnliches hatte Murray auch erwartet, und er begriff, daß das erst der Anfang war. „Sie meinen Friedemans Frau?" vergewisserte sich Murray. „Von seinem Privatleben erfahre ich aus Anekdoten und aus der Presse. An diese Quellen kommen Sie doch ebensogut heran, General." „Zeitungen gibt's wirklich im Überfluß, an Anekdoten mangelt es dagegen. Zuwehig neue Besucher. Anekdoten enthalten mehr Wahrheit als unsere Presse. Erzählen Sie doch." Murray schwankte, doch dann entgegnete er bestimmt: „Sollten wir die Anekdoten nicht bis zum Dinner verschieben? Jetzt würde ich gern zur Sache kommen." „Wenn Sie darauf bestehen - ich bin bereit, Mr. Murray!" Das Gesicht des Generals hatte jetzt einen lauernden Ausdruck, er schien bemerkt zu haben, daß Murray einen Fehler gemacht hatte. „Also, ich habe Ihnen ja schon gesagt, daß wir hier durchaus gut informiert sind. Das ist keine leere Behauptung. Sie zum Beispiel sind kein Konzernvertreter, sondern Journalist." Dieser Ausfall kam für Murray völlig überraschend. Der General wurde jetzt offiziell und sagte in scharfem Ton: „Ihre Freunde haben Ihre Identität 4
preisgegeben, Sie sind ein Zeitungsschmierer, der hier seine Nase in unsere Top secrets stecken will." Alles ist aus, dachte Murray und fühlte, wie sich sein Körper anspannte, um das Zittern niederzukämpfen; doch bald hatte er sich wieder in der Gewalt und sah den General erstaunt an. Burnetti lachte auf und ging scheinbar auf Murrays Spiel ein: „Verzeihung, Sir, ich habe mich offensichtlich geirrt ... Man hat uns gewarnt; ein Journalist würde bei uns herumschnüffeln." Der General zwinkerte Murray zu. „Sie sind der Vertreter von Maximelectronics und zugleich Inspekteur des Ministeriums?" „Sie machen ja Witze", sagte Murray und setzte sich bequemer zurecht. „Wir haben gleichzeitig zwei chiffrierte Meldungen bekommen: die eine kündigte einen Inspekteur aus dem Ministerium an, die andere einen Journalisten von der linken Presse", äußerte Burnetti vertraulich. Auf jede Geste, auf jeden Tonfall achten, ermahnte sich Murray. „Wahrscheinlich wird der nächste Gast bald kommen", meinte er unbewegt. „So oder so, Sie wollen doch in jedem Falle unsere Arbeitsergebnisse sehen, oder?" fragte Burnetti lebhaft und setzte hinzu: „Wir haben allerdings etwas vorzuweisen." „Wollen wir nicht auf den Journalisten warten, General? Dann hätten Sie weniger Umstände." 5
' Der General warf Murray einen raschen Blick zu. „Sie wollen sich von der Fahrt ausruhen? Konzentrieren Sie sich, und wir können anfangen." Burnetti drückte auf die Taste der Sprechanlage. „Christie und Mondiale zu mir." Dann wandte er sich wieder Murray zu. „Die Richtung unserer Forschungen muß ich Ihnen sicher nicht erläutern?" „Im großen und ganzen bin ich informiert", meinte Murray, obgleich er, was die Forschungen in der Militärbasis betraf, nur unklare Vermutungen hegte, doch diese Vermutungen hatten ihn ja schließlich zu der riskanten Fahrt veranlaßt. „Sie arbeiten daran, wie die Psyche der Soldaten beeinflußt werden kann. Allgemeiner gesagt: Es handelt sich um Maßnahmen zur Veränderung des Denkmusters." „Hervorragend formuliert! Eine solche Wortäquilibristik würde jede Zeitungskolumne bereichern." „Das ist der Stil unserer Inspektionsberichte. Für die Presse wäre er wohl kaum geeignet." Der General stand auf, reckte sich etwas und sagte mit unverhohlenem Stolz: „Wir beeinflussen die menschliche Psyche nicht nur, wir verändern sie grundlegend." Der Summer der Sprechanlage ertönte. Burnetti drückte auf die Taste. „Ja?" „Herr General, Robert Mondiale und Paul Christie sind im Vorzimmer." „Sie sollen hereinkommen ... Machen Sie sich bekannt, das sind unsere Wissenschaftler. Meine Herren, wir haben Besuch. Der Inspekteur vom Ministerium." Murray erhob sich. „Penn Murray." „Paul Christie", stellte sich ein hochgewachsener, junger Mann in Zivil lächelnd vor. „Robert Mondiale", ließ sich der zweite gleichsam widerwillig vernehmen. Er war von mittlerer Statur, bewegte sich langsam, trug eine Brille und Uniform, wenn auch ohne Rangabzeichen. Der General wandte sich an sie. „Womit beginnen wir, meine Herren?" „Wir sollten dem Inspekteur unseren Film zeigen", schlug Christie vor, „danach können wir seine" Fragen beantworten." Der General blickte zu Murray hinüber. Der nickte. „Einverstanden. Zuerst also den Film." Auf der Leinwand tauchte eine seltsame Gruppe auf, die-unter starker Bewachung anmarschierte: eine Mischung von Zivilisten und Militärangehörigen, deren Uniformen Murray noch nie gesehen hatte. Da defilierten offenbar Einwohner aller Kontinente vorbei: Schwarze, Braune, Gelbhäutige, Weiße. Männer, Frauen und Kinder ... „Aus den befreundeten Staaten erhalten wir Material in Hülle und Fülle", kommentierte Burnetti, der hinter Murray saß. „Es handelt sich hauptsächlich um politische Häftlinge, die ein hohes Strafmaß haben, oder um Kriegsgefangene. Sie können freiwillig entscheiden, ob sie ihre Haftzeit absitzen oder nach einem einmaligen Experiment wieder in Freiheit leben wollen." Die „Freiwilligen" wurden jedoch sorgsam bewacht, wie Murray bemerkte. Die auf der Leinwand vorbeiziehenden Gesichter blickten streng und leidvoll. 6
„Das Experiment verlangt gerade solche Leute", ließ sich der General wieder vernehmen. „Die Denkweise und Psyche von fanatischen Gegnern unseres politischen Systems, von überzeugten Verfechtern von Wahnideen zu verändern erscheint uns besonders wichtig." Jetzt sah man in einen Laborraum hinein: allerlei Geräte, Generatoren, eine sehr komplizierte Apparatur mit einem Objektiv wie bei einer Kamera, davor ein Sessel. „Damit erfolgt also die gezielte Einwirkung auf die Psyche?" fragte Murray. „Das ist nicht ganz zutreffend", erläuterte Christie. „Das ist der Gedächtnislöscher." „Unser jüngstes Kind", fügte Burnetti hinzu, „im Ministerium weiß man davon noch nichts." Mondiale schwieg. Er saß neben Murray, die Hände auf die Knie gestützt, und glich einer Skulptur, die ein nicht sehr geschickter Künstler aus Stein gehauen hatte. Die Proportionen stimmten nicht ganz: Der große Kopf mit den groben Gesichtszügen paßte nicht zu der zierlichen Figur; die Finger mit ihren verdickten Gelenken schienen nicht ganz zu Ende geformt. Indessen ging auf der Leinwand das Geschehen weiter. Einzeln betraten die Leute das Labor, sie wurden in den Sessel vor der Apparatur gesetzt, und Christie drückte irgendeine Taste. Man hörte ein leichtes Geräusch, ähnlich dem Klicken eines Kameraverschlusses, und das Gesicht desjenigen, der im Sessel saß, veränderte sich schlagartig: Die Falten glätteten sich, die Gesichtszüge erschienen plötzlich amorph; die Versuchsperson betrachtete zutiefst erstaunt die Laboreinrichtung, die Wissenschaftler ... „Wir bitten die Leute, sich zum Fotografieren hinzusetzen", erklärte Christie, „das geht ganz problemlos, ohne alle Scherereien. Dann ein Druck auf die Taste, und fertig. Eine plötzliche Bestrahlung. Der starke Elektroschock löscht das Gedächtnis des Menschen vollständig aus. Die Ergebnisse werden Sie gleich sehen." Die Menschen auf der Leinwand erschienen jetzt verwirrt und bedrückt. Ihr Gesichtsausdruck ließ Willenlosigkeit erkennen, und ihre Bewegungen waren zaghaft und gehemmt. Mit aufgerissenen Augen starrten sie Christie an, der ihnen ganz einfache Fragen stellte: „Ihr Familienname, Ihr Vorname." „Ich kann mich nicht erinnern." „Wie alt sind Sie?" „Ich weiß nicht." „Wo sind Sie geboren?" Ein unschlüssiges Schulterzucken. „Welche Schulbildung haben Sie, welchen Beruf?" „Vergessen." „Ihre Nationalität?" „Ich kann mich nicht erinnern." „Haben Sie Familie?" „Ich kann mich an nichts erinnern." Immer neue Gesichter tauchten vor Christie auf, die Fragen wurden leicht verändert, doch die Antworten waren immer die gleichen: Ich erinnere mich nicht, ich weiß nicht, ich habe es vergessen ... 7
Murray war starr vor Entsetzen. Sein ganzes Wesen bäumte sich auf gegen das, was er sah. Um seine Gefühle nicht zu verraten, blieb er unbeweglich sitzen und schwieg. Dann aber fragte er, nachdem er seinen Satz in Gedanken geprobt hatte: „Wie kommt es, daß sie nicht die Sprache vergessen?" „Die Wörter sind das erste, was sich der Mensch aneignet. Die Wörter sind in seinem Intellekt fester verwurzelt als alles andere. Übrigens ist das ja einer der Vorzüge unseres Apparats. Diejenigen, die der Gedächtnislöschung unterzogen wurden, bleiben danach fast vollwertige Menschen." „Die Einwirkung der Strahlung verändert sie doch aber", bemerkte Murray. „Das ist ganz natürlich, schließlich werden ja schlagartig alle Beziehungen der Versuchsperson zur Außenwelt unterbrochen. Doch sobald jemand in Kontakt zu ihr tritt, erinnert sich die Versuchsperson der Sprache und wird zu einem ganz normalen Menschen mit einer absolut gesunden Psyche ..." Mondiale schwieg auch jetzt und blickte nur düster auf Murray, wobei er hin und wieder die Brille abnahm und seine buschigen Brauen glattstrich. „Achten Sie einmal auf den Mulatten", ließ sich General Burnetti vernehmen. Auf der Leinwand erschien ein männliches Gesicht mit markanten Zügen. In diesem Menschen floß sicher das Blut von Vorfahren sehr verschiedener Rassen. Am deutlichsten waren die europäischen und negroiden Merkmale. Pierre Veranger! Murray hatte ihn sofort erkannt. Als Veranger die Befreiungsbewegung in Martinius führte, hatte Murray ihn interviewt. Ihr Gespräch fand während der Kampfhandlungen statt; Veranger hätte sonst keine Zeit für Murray gefunden. Erst vor einem Monat hatte er erlebt, wie. für Pierre Veranger, den Nationalhelden der Volksrepublik Martinius, ein Denkmal enthüllt wurde. Veranger sei, so hieß es, von der Junta während der Haft umgebracht worden. Das Denkmal gefiel Murray damals sehr. Veranger in der Gestalt des Atlas wurde von einem gewaltigen Felsblock niedergedrückt, aus dem kleine, die staatliche Hierarchie symbolisierende Figuren herausgehauen waren. Die titanische Anstrengung wölbte die Muskeln an Armen und Beinen, die Brauen waren zusammengezogen und die Lippen entschlossen aufeinandergepreßt. „Das ist einer von den Rebellen aus Martinius, Pierre Veranger", erläuterte der General. „Sie haben sicher von ihm gehört. Er hat selbst sein Schicksal gewählt: Der Erschießung zog er unser Experiment vor." Nach der Bestrahlung wirkte Verangers Gesicht erschlafft, doch es behielt noch einen Rest des früheren Ausdrucks. „Erinnern Sie sich, wer Sie sind und woher Sie kommen?" fragte Christie nun Veranger. Der zuckte verlegen mit den Schultern. „Sind Sie vielleicht Pierre Veranger aus Martinius?" erinnerte ihn Christie. „Denken Sie nach." „So wird der Grad der Gedächtnislöschung überprüft", erklärte Mondiale plötzlich. „Wenn sich jemand nicht einmal an seinen Namen erinnern kann, bedeutet das, der Versuch ist absolut gelungen." „Pierre Veranger? Ich?" Der Bestrahlte runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. Auf der Leinwand suggerierte Christie, der den gleichen Zivilanzug trug wie jetzt im Zimmer des Generals, der Versuchsperson: „Sie sind ein Neube8
kehrter der Großen Demokratischen Gemeinschaft. Sie heißen Martin Clay. Haben Sie sich das gemerkt?" „Ja. Ich heiße..." „Die Antwort lautet: Ja, Herr." „Ja, Herr. Ich bin Martin Clay, Bürger der Großen Demokratischen Gemeinschaft." „Richtig. Unsere Große Demokratische Gemeinschaft ist aus mehreren Staaten mit gleicher politischer und ökonomischer Struktur hervorgegangen. Unser vereintes Land ist das demokratischste in der Welt. Jeder Bürger wählt die Parlamentsmitglieder und den Präsidenten ..." So wurden den Leuten fertige „Wahrheiten" suggeriert, wie man sie ständig in der Zeitung lesen konnte. Das Gedächtnis der Rezipienten, in dem jede Information gelöscht war, wurde mit Dogmen und Begriffen vollgestopft,,die die Versuchspersonen mechanisch wiederholten, die einen stumpf und gleichgültig, die anderen eifrig bemüht und die dritten freudig, als wäre es für sie eine Offenbarung. Anschließend führte Christie Veranger in einen der Laborräume. „Das ist unser Labor, Bekehrter Clay. Sie werden hier arbeiten. Haben Sie verstanden?" „Ja, Herr. Ich werde hier arbeiten. Was habe ich zu tun?" „Das werde ich Ihnen noch sagen." „Danke, Herr." „Ich heiße Paul Christie, und mein Freund hier heißt Robert Mondiale. Haben Sie sich das gemerkt?" „Ja, Herr Mondiale." „Mondiale ist mein Freund. Ich bin Paul Christie. Ist denn das so schwer zu begreifen?" „Entschuldigen Sie, Herr Christie. Ich will es mir merken." „Sie werden das tun, was ich oder Herr Mondiale Ihnen aufträgt." „Ich will mir Mühe geben, Herr Christie." „Martin Clay ist ein besonderer Fall", sagte jetzt Christie, der neben Burnetti saß, „ein ungewöhnlicher Mensch. Wir haben ihn im Labor gelassen, damit wir ihn ständig beobachten können." Der Film war zu Ende, und es wurde wieder hell im Raum. „Wie Sie sehen, schenken unsere Wissenschaftler den Menschen ein zweites, ehrenhaftes Leben, das nichts mit dem ersten, verbrecherischen zu tun hat", sagte Burnetti feierlich und nahm wieder den Sessel hinter seinem Arbeitstisch ein! „Sehr beeindruckend." Murray rückte seinen Stuhl so, daß er dem General zugewandt saß. „Dennoch hat die Methode einen wesentlichen Mangel", meinte der General. Auf Murrays fragenden Blick hin fuhr er fort: „Die Leute verlieren ihr Gedächtnis, doch damit büßen sie auch ihre Kenntnisse, ihre Erfahrungen und Fertigkeiten ein. Von einem Leben zum anderen überzuwechseln ist für sie einfacher, als die Straße zu überqueren. Aber es sind Verbrecher. Und nach der Rechtsprechung muß jeder Verbrecher ein Bewußtsein seiner Schuld entwickeln und die Notwendigkeit und Zwangsläufigkeit seiner Strafe empfinden." 9
„Und wie sieht das weitere Schicksal der Bestrahlten aus?" Murray täuschte Interesse vor. „Das zeigen wir Ihnen in natura." Der General sah auf die Uhr. „Jetzt ist es Zeit zum Essen. Bringen Sie den Gast ins Restaurant und dann zu Tante Taira. Soll er sich etwas entspannen", Burnettis Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, „um sechzehn Uhr sehen wir uns wieder im Labor." Murray entging nichts, weder das zweideutige Lächeln Burnettis noch die unverhältnismäßig lange Zeit, die für das Essen vorgesehen war ... Was verbarg sich dahinter? Und warum erwähnte der General den Journalisten nicht mehr? Das waren recht ungute Vorzeichen. Murray trat hinter Christie und Mondiale hinaus. Der Regen hatte aufgehört, doch die Wolkendecke war immer noch dicht. Murray wollte zu seinem Buick gehen, Christie hielt ihn jedoch zurück. „Kommen Sie in meinen Wagen, Mr. Murray, wir könnten dann unser Gespräch fortsetzen ..." Schweigend folgte ihm Murray zu dem schwarzen Mercedes, neben dem sich zwei Fahrer unterhielten, ohne die Näherkommenden zu bemerken. „Bekehrter Clay!" rief Christie. , Murray erkannte Pierre Veranger sogleich. Er war es, daran bestand kein Zweifel. Für immer hatten sich ihm Tag und Stunde seines Gesprächs mit „Clay" eingeprägt: Während ihres Beisammenseins explodierte ganz in der Nähe ein Geschoß und überschüttete sie beide mit Erde; sie konnten sich nur mit Mühe hervorgraben. Jetzt glitt Verangers Blick gleichgültig über Murrays Gesicht; höflich wandte er sich an Christie: „Wohin befehlen Sie?" 10
Er öffnete beflissen den Wagenschlag. „Augenblick", stoppte ihn Christie, „Mr. Murray, Inspekteur des Ministeriums, möchte sich ein wenig mit Ihnen unterhalten." „Ja, bitte, Mr. Murray", wandte sich Veränger an Murray. Sein Gesicht drückte eine hündische Bereitwilligkeit aus. Murray war verwirrt von dieser plötzlichen Begegnung, von den Erinnerungen, die sie in ihm wachrief, ihn irritierte auch, daß ihn Veränger nicht erkannt hatte. „Mr. Veränger, äh, Clay, Sie arbeiten als Fahrer?" murmelte der Journalist. „Ich tue, was man mir sagt." „Was für Pflichten haben Sie denn außerdem noch?" „Ich helfe im Labor, ich halte die Wohnung vor Mr. Mondiale in Ordnung:, ich bereite die Mahlzeiten ..." Murray wußte nicht weiter. Christie kam ihm zu Hilfe: „Bekehrter Clay, wie beurteilen Sie das politische System in unserem Land?" „Wir haben das humanste Gesellschaftssystem der Welt. Es bietet allen die gleichen Chancen ... Ein Unternehmer kann seinen Sohn, seinen Bruder oder wen immer entlassen, wenn dieser schlecht arbeitet, und er wird einen tüchtigen, gescheiten Menschen einstellen, von dem Profit zu erwarten ist. Das bringt die Fähigkeiten jedes einzelnen maximal zur Geltung - zum Nutzen der Gesellschaft." Es wirkte schockierend auf Murray, so etwas von Veränger, dem Rebellen und Volkshelden, zu hören. „Danke, Mr. Clay." Sosehr sich Murray auch bemühte, er war nicht imstande, Veränger als „Bekehrten" zu bezeichnen, es wollte ihm einfach nicht über die Zunge. „Ich danke Ihnen. Fahren wir, meine Herren", schlug er vor, um sich der unangenehmen Situation zu entziehen. „Ja, los." Mondiale nickte. Im Wagen holte Christie eine Zigarettenpackung hervor und hielt sie Murray entgegen. „Danke, diese Schwäche habe ich Gott sein Dank überwunden.*' „Lobenswert", meinte Christie und steckte die Packung wieder ein. Um das Schweigen zu brechen, wandte sich Murray an Christie: „Wie schnell eignet sich die Versuchsperson eigentlich die neue Ideologie und bestimmte Arbeitsfertigkeiten an?" „Das geht sehr schnell. Es bedarf nur geringfügiger Suggestion." „Kann es nicht geschehen, daß die Versuchsperson allmählich wieder zu ihren früheren Überzeugungen zurückfindet?" „Im Prinzip ist das sicher möglich. Doch es sind jetzt zwei Jahre seit Aufnahme der Versuche vergangen, ohne daß derartige Fälle registriert worden wären." Mondiale auf dem Vordersitz schwieg. „Gewinnen die Versuchspersonen nicht irgendwann wieder ihr kritisches Denkvermögen zurück?" Das Gespräch hinderte Murray nicht, sich alles genau einzuprägen, was er von der Umgebung sah. „Sie machen sich nur das zu eigen, was wir ihnen suggerieren." „Bleiben die individuellen Begabungen erhalten?" „Die schöpferischen Fähigkeiten lassen merklich nach. Man kann andererseits beobachten, wie Arbeitseifer, Pünktlichkeit, Gehorsam und andere 11
wertvolle, heute nur ungenügend vorhandene Eigenschaften jäh zunehmen. Wir sind da", unterbrach sich Christie. Sie fuhren an einem eindrucksvollen dreistöckigen Gebäude mit Kuppeldach vor. Mondiale wandte sich an den Fahrer: „Sie können essen gehen. Vor halb vier werden wir nicht zurück sein." „Warum so spät?" wunderte sich Murray. „Alles zu seiner Zeit, Mr. Murray", sagte Christie lachend, womit er Murray natürlich nur noch mehr in Spannung versetzte. Der große runde Saal, der - ungewöhnlich für ein Restaurant - fast so hoch wie ein Kirchenraum war, schien gut besucht. Musik erschallte aus den Lautsprechern. „Bei der Bestellung verlassen Sie sich nur auf mich, meine Herren", schlug Christie vor, als man sich setzte. „Ich kenne die hiesige Küche ganz gut." „Sehr verbunden", meinte Murray. „Beachten Sie, daß das gesamte Personal hier Bekehrte sind." „Danke für den Hinweis." Murray hatte sich kaum umsehen können, als auch schon ein schöner, etwa fünfundzwanzigjähriger Mulatte an ihren Tisch trat und sich ihnen freundlich zuwandte: „Guten Tag, Mf. Christie, guten Tag, Mr. Mondiale, guten Tag, Mr.... Verzeihung ..." „Mr. Murray", half ihm Christie aus. „Guten Tag, Mr. Murray, ich heiße Charly. Was möchten Sie bestellen?" „Arbeiten Sie schon lange hier?" wollte Murray von ihm wissen. „Ungefähr seit einem Jahr, Mr. Murray." „Und was haben Sie früher gemacht?" „Daran kann ich mich nicht erinnern. Irgend etwas ist mit mir geschehen: Ich war sehr kränk, ich war lange bewußtlos, doch Mr. Christie und Mr. Mondiale haben mich wieder gesund gemacht. Dafür danke ich ihnen." Charly verbeugte, sich. „Gefällt es Ihnen hier, Charly?" „Mehr als das. Das Essen ist sehr gut, und ich habe hier mein eigenes Zimmer. Ich arbeite jeden zweiten Tag." Obgleich Murray derartige auf das Materielle beschränkte Empfindungen und Bedürfnisse bei den „Bekehrten" erwartet hatte, hoffte er insgeheim doch, auch noch etwas anderes zu hören. Er wollte soviel wie möglich über die Bedienung im Restaurant erfahren. „Sind sie verheiratet, Charly?" „Ich weiß es nicht, Mr. Murray. Irgendwo habe ich wahrscheinlich Frau und Kinder, doch ich habe sie vergessen. Eine neue Familie will ich jetzt nicht gründen; meine erste Familie könnte ja plötzlich auftauchen." „Was machen Sie in Ihrer Freizeit?" „Ich bin außerdem noch Lehrling in der Graveurwerkstatt. Nicht einmal zum Fernsehen habe ich Zeit." „Kommen Sie voran beim Gravieren?" „Der Meister ist mit mir zufrieden. Ich darf schon Schrift gravieren, auch Ornamente oder die Porträts der Auftraggeber gelingen mir bereits. Bald werde ich selbständig arbeiten können." 12
Beim Bestellen bewies Christie den Geschmack eines echten Gourmets. Er warf nur so um sich mit den Namen seltsamer Gerichte und beschrieb ausführlich deren komplizierte Zubereitungsarten. Murray legte keinen besonderen Wert aufs Essen und kannte sich in den Feinheiten der Kochkunst nicht aus. Er beobachtete die Bedienung, die durch den Saal eilte. Daher hörte er Christie kaum zu. Von den Speisen, deren Namen fielen, waren ihm nur schwarzer Kaviar und die irakische Pastete Kubbah bekannt. Ein Satz Christies ließ ihn plötzlich aufmerken. „Und drei Karten für Tante Taira ..." „Wird erledigt." „Was für eine Tante Taira?" erkundigte sich Murray möglichst unbefangen. „Nur nicht so eilig." Christie zwinkerte ihm zu. „Sie werden Ihren Spaß haben." Alles das gefiel Murray nicht: der zweideutige Ton, das geheimnistuerische, spöttische Lächeln. Auch die Situation im Restaurant schien ihm verdächtig. Nur wenige Gäste aßen; man sah viele Uniformierte. Vor allem aber störten ihn die runden Nischen, die dunkel verglast waren und den Saal von allen Seiten umgaben. Sie wirkten wie die auf ihn gerichteten Augen eines alles sehenden und verstehenden elektronischen Systems. Mitunter hatte er sogar den Eindruck, als veränderten sie ihren Ausdruck: Bald verengten sie sich wie zu einem bösen Lächeln, bald fiel ihr starrer, strafender Blick auf ihn. Murray gelang es schließlich, sich von dem kalten Glanz loszureißen. Dem höflichen Kellner, der am Nachbartisch bediente, mit dem Blick folgend, meinte er: „Menschen wie alle anderen auch, man würde nie vermuten ..." „Nicht ganz", entgegnete Christie, „Sie können stolz sein, in diesem Restaurant zu speisen. Hier werden Sie von einer Elite bedient: ehemalige Politiker und Gewerkschaftsführer, Guerillakommandeure, Literaten, Maler, Philosophen. Ein anderes Etablissement dieser Art werden Sie nicht finden." „Wie fügen sie sich denn in die soziale Rolle, die Sie ihnen ..." Murray fand nicht sogleich das passende Wort, „die Sie ihnen zuweisen? Versuchen sie nicht, aus dieser Rolle auszubrechen?" „Ein Bekehrter sucht wie jeder Mensch nach dem Bereich, in dem er seine Fähigkeiten am besten anwenden kann. Und es kommt vor, daß er diesen Bereich nicht sogleich findet. Das ist ganz normal. Meist wird' er jedoch über den für ihn vorgesehenen Beschäftigungsbereich nicht hinausgehen." Der Kellner brachte Wein und Vorspeisen. Christie schenkte ein. „Ich möchte auf Sie trinken, meine Herren", sagte Murray, „auf Sie als Wissenschaftler, die mich mit ihrer Erfindung beeindruckt haben. Ich könnte mir vorstellen, daß Ihr Bestrahlungsgerät auch in anderen Bereichen anwendbar wäre. Könnte man mit seiner Hilfe statt der Psyche Gesunder nicht die Kranker verändern? Könnte man damit nicht psychisch Kranke heilen? Ich möchte darauf trinken, daß die Möglichkeiten Ihrer Erfindung noch weiter ausgeschöpft werden." „Wir behandeln nur Kranke", bemerkte Christie. Alle tranken. Christie füllte die Gläser sogleich wieder; es war ein ungewöhnlich aromatischer, starker, bläulich schimmernder Wein. Christie 13
schlug einen feierlichen Ton an: „Erlauben Sie, meine Herren ... Überall heißt es jetzt: Wir leben im Zeitalter der wissenschaftlich-technischen Revolution. Revolution bedeutet nicht nur einen Umschwung im sozialen Bereich, sondern auch in den Köpfen. Die herrschenden Kräfte und Ideologien werden abgelöst. Die wissenschaftlich-technische Revolution hat zum Ziel, die Wissenschaft und ihre führenden Köpfe zur herrschenden Kraft in der Gesellschaft zu machen. Deshalb bitte ich Sie, auf die Wissenschaftler zu trinken, denen es bestimmt ist, sich über die Welt zu erheben." „Die Wissenschaft ist stärker als der Mensch, das erkennt man auf Schritt und Tritt", sagte Murray nachdenklich. „Ich kenne beispielsweise mehrere Methoden zur Veränderung des Denkmusters des Menschen: die chirurgische Methode, die Lasermethode ..." „Das sind Bagatellen", unterbrach ihn Christie, „alle Methoden - außer unserer - rufen irreversible Veränderungen im Verhalten und im Denken des Menschen hervor. Unsere Methode löscht nur das Gedächtnis aus." „Sollte sich die Versuchsperson wirklich niemals an ihre Vergangenheit erinnern?" meinte Murray, wobei sein Blick an Charly hängenblieb. „Bis jetzt wissen wir nur das eine: Während dieser anderthalb Jahre hat noch niemand sein Gedächtnis wiedererlangt", antwortete Christie. „Gestatten Sie?" Robert Mondiale hob sein Glas. „Schön und gut, soll sich die Wissenschaft über die Gesellschaft erheben. Doch möge sie dabei nicht von ihrer Höhe herabstürzen, zerschellen und alles unter sich begraben. Deshalb wollen wir auf die Wissenschaftler trinken, die ihr Wissen an ihre Nachkommen weitergeben. Auf die unvergängliche Kaste der Wissenschaftler!" „Nichts ist unvergänglich auf der Welt", widersprach Christie, „da sollte man sich nichts vormachen." Murray zögerte. Für ihn war Mondiale von Anfang an ein Rätsel. Immer wieder blickte er auf diesen düsteren Schweiger und versuchte zu begreifen, welche Rolle er neben dem quicklebendigen Paul Christie spielte. War er ein Agent, den die Militärbehörde auf den fähigen Wissenschaftler angesetzt hatte? Oder war er Christie als persönlicher Beschützer und technischer Gehilfe beigegeben? Und plötzlich dieser seltsame Trinkspruch, der das Bild Mondiales nur noch mehr verwirrte. Die Bedienung kam und verschwand lautlos wie ein Schatten. „Wer war dieser Charly eigentlich früher?" fragte Murray. „Ein Maler und Rebell", antwortete Christie.lachend. „Kennen Sie seinen früheren Namen?" Christie und Mondiale wechselten einen Blick. „Es ist untersagt, sich so etwas zu merken." Christie winkte ab. „Er hieß Pedro Pereiro." „Ich habe wohl von ihm gehört", meinte Murray und ergänzte für sich: Und ich wollte ihn sogar interviewen! Murray aß, trank und beteiligte sich am Gespräch, doch als sich Charly wieder einmal auf der Treppe zeigte, die aus der Küche in den Speisesaal führte, empfand er plötzlich eine unerklärliche Unruhe. Charly näherte sich ihrejm Tisch betont langsam und feierlich, wobei er das leere Tablett vor sich her trug. Als er herangekommen war, sah Murray auf dem Tablett mehrere weiße Bogen. 14
„Die Einladungen für die Herren." Christie zog Murrays Kärtchen zu sich heran und las: „Kitty Landlell. Was für ein Glück Sie haben, verehrter Murray!" „Wahrscheinlich der Reiz des Neuen", meinte Mondiale dazu. „Was ist das?" fragte Murray, auf das Kärtchen weisend. „Nicht was, sondern wer", korrigierte ihn Christie. „Das schönste Mädchen aus dem Haus Tante Tairas." Christie zwinkerte Murray zu. „Haben Sie es jetzt begriffen?" „Nicht ganz", murmelte Murray. „Siebzehn Mädchen kommen auf den gesamten Stützpunkt." Christie kicherte. „Da suchen sie sich ihre Kavaliere eben aus: Damenwahl." Murray blickte feindselig zu den runden Glasaugen in der Wand. „Offenbar sind Sie es nicht gewohnt, der passive Teil zu sein?" Christie war bereits etwas alkoholisiert. „Also, ich bin verheiratet..." „Kitty macht es jedem recht! Drehen Sie doch das Kärtchen einfach um, Murray." Murray sah ein schönes Gesicht mit feinen Zügen, einen eindringlichen Blick. Ja, sie war sehr anziehend. Murray ging langsam den Flur der dritten Etage entlang und suchte das auf dem Kärtchen angegebene Zimmer. Da war es, Zimmer Nr. 317. Er blieb eine Weile stehen und überlegte, bevor er leise klopfte. „Herein", hörte man eine zarte Frauenstimme. Murray öffnete die Tür. „Ich habe Sie erwartet, Mr. Murray." Vor ihm stand eine hochgewachsene, zierliche junge Frau von ungefähr zwanzig Jahren. Ihr blasses Gesicht mit den dunkelblauen schmalen Augen umgab ein üppiger blonder Haarschopf. Die mit hellgelbem, blaugeblümtem Stoff bezogenen Möbel, die Vorhänge aus dem gleichen Stoff, die Reproduktionen der Porträts von Greuze an den Wänden paßten so ganz zur Bewohnerin dieses Raums. Mit einer leichten Handbewegung lud Kitty den Gast zum Sitzen ein. Diese Geste faszinierte Murray durch die Ausdruckskraft der Arme und Hände. Kitty bemerkte seinen Blick und lächelte. „Alle blicken aus irgendeinem Grund auf meine Hände. Man hat mir schon oft gesagt, ich müßte Bühnentänzerin sein." In ihrer Stimme schwang ein kaum verborgener Schmerz mit. Murray war betroffen. Er fühlte sich verwirrt und unbehaglich. „Ich bitte Sie, lieber Murray", Kitty trat an ihn heran, „das hat nichts zu bedeuten, es überkam mich nur so." Sie berührte seine Schultern, zog jedoch ihre Hände schreckhaft wieder zurück. Dann streichelte sie mit weichen Bewegungen seinen Kopf. Murray fühlte, wie seine Spannung nachließ und seine Befürchtungen sich zerstreuten. Er zog Kitty an sich. „Kitty!" brüllte plötzlich eine durchdringende männliche Stimme, und Faustschläge hämmerten an die Tür. Überrascht ließ Murray Kitty los und trat zurück. „Kitty! Was willst du mit dem? Schick ihn zum Teufel! Wenn er 15
rauskommt, schlag ich ihm den Schädel ein!" Murray erstarrte. „Achte nicht darauf, Kitty lachte, „ein armer Idiot, der in mich verliebt ist. Man wird ihn gleich beruhigen." Hinter der Tür konnte man Stimmen hören, ein Hin und Her begann, doch bald war alles still. Murray fühlte wieder diese Unruhe. Kitty sah ihn zärtlich an. „Ihr Männer, auch hier müßt ihr an eure Geschäfte denken." Ihre scheuen Hände berührten seinen Hals, seine Haare. Murray verlor sich in ihrem Anblick, doch die Unruhe verließ ihn nicht. Ob sie in ihrem früheren Leben Tänzerin gewesen war? Vielleicht hatte sie einen Freund oder Ehemann zurückgelassen? „Du bist so gehemmt und verspannt", wies ihn Kitty zart zurecht. „Offenbar erinnert sich auch der Körper", dachte Murray laut weiter, doch er wollte damit auch Kittys Vorwurf beantworten. „Die Hände erinnern sich länger als der Kopf." „Vergiß alles", wollte ihn Kitty überreden. Doch Murray war bereits von seiner Vermutung gepackt. „Bist du schon lange hier, Kitty?" „Ungefähr ein Jahr." „Und wo warst du vorher?" „Daran erinnere ich mich nicht mehr. Das hat nichts zu bedeuten. Ich habe eine schwere Krankheit durchgemacht. Ich war lange bewußtlos, hieß es, es hätte nicht viel gefehlt, und ... Ich habe den berühmten Wissenschaftlern Christie und Mondiale viel zu verdanken. Sie haben mich geheilt. Heute bin ich glücklich." „Sind hier alle Mädchen nach einer schweren Krankheit hergekommen?" Kitty nickte und sah Murray aufmerksam an. „Und diese Mädchen wissen nichts von ihrem früheren Leben?" „So ist es. Wir sind Menschen ohne Vergangenheit. Mit Vergnügen sind wir dem General, Christie und allen Offizieren zu Diensten. Wenn wir allerdings sehen, wie immer neue Gruppen von Geheilten auftauchen, dann kommt uns der Verdacht, daß man irgend etwas vor uns verbirgt. Unser Stützpunkt unterliegt ja strengster Geheimhaltung. Doch es geht uns hier eigentlich nicht übel." Angst und Entsetzen befielen Murray, Angst nicht nur um diese armen Verurteilten, sondern auch um seine eigene Person; er fürchtete, hier selbst zum Versuchskaninchen zu werden. Unerwartet äußerte Kitty nachdenklich: „Manchmal will ich mich ganz stark an etwas erinnern, doch von der Anstrengung tut mir dann der Kopf so weh, daß ich aufhöre nachzudenken." „Geht es deinen Freundinnen ebenso?" wollte Murray wissen. „Ja! Irgendein Offizier hat uns gesagt, daß wir für unsere Überzeugung leiden, dafür, daß wir gegen die Staatsmacht opponiert haben ..." Kitty lächelte. „Aber wir haben ihm nicht geglaubt. Wir stellen uns das Land und die Stadt vor, wo wir gelebt haben könnten, dann die Familie, die Arbeit, die Liebe ..." „Wie seht ihr euer Leben hier?" „Manchmal überkommt es uns. Ich hatte einmal einen Offizier hier, ein 16
Sadist war das, ein übler Typ. Ich versuchte, aus seiner Pistolentasche die Waffe herauszuziehen, doch ich schaffte es nicht. Er dachte, ieh wolle mich erschießen. So eine Anwandlung habe ich aber nur ein einziges Mal erlebt. Der Offizier beruhigte mich Sann. Die anderen sind ganz umgänglich. Zu dir hatte ich gleich Vertrauen, als ich dich sah. Bin ich dir unangenehm?" „Kitty", er küßte sie zart auf die Wange, „du tust mir sehr leid." „Ich tue dir leid?" Sie blickte erstaunt zu ihm hoch. „Du willst also auch wissen, was für eine Vergangenheit ich habe? Wozu?" Kittys Finger spielten in seinen Haaren, glitten zart über sein Gesicht, seinen Hals, seine Brust, ihre blauen Augen sahen ihn so warm und bittend an, daß ihn eine tiefe Beklemmung überfiel. Sollte dieses Geschöpf wie ein Hund nur darauf dressiert sein, Befehle auszuführen? Er stand unvermittelt auf. Sie wirkte zwar nicht wie eine Geistesgestörte, doch er konnte sie einfach nicht als vollwertigen Menschen ansehen. Er griff sich eins der Bücher, die auf dem Tisch lagen. „Liest du das, Kitty?" „Nein, das ist für die Kunden", erwiderte sie schnippisch. „Demnach hast du das Lesen nicht verlernt?" „Ich habe es wieder lernen müssen. Ich lese allerdings sehr langsam und verstehe auch nicht alles. Mir ist, als könnte ich durch die Bücher irgend etwas wieder zurückgewinnen." Aus dem Buch fiel ein Lesezeichen heraus. Murray hob es auf. Es war ein kleines Kärtchen, auf dem sein Name stand und irgendwelche Schnörkel. „Was ist denn das?" „Eine Botschaft vom General", erklärte Kitty lächelnd. „Eine Anweisung, wen ich heute zu empfangen habe." Das Kärtchen war mit „Burnetti" unterschrieben. „Was denn, schickt er allen solche Anweisungen? Jeden Tag?" „Manchmal macht das auch Tante Taira für ihn." Der Klang splitternden Glases ließ Murray aufspringen. Etwas Schweres war hereingeflogen und zu Boden gefallen. Eine Granate? Es folgte jedoch keine Explosion. Murray beugte sich schnell hinab, um den vermeintlichen Sprengkörper hinauszuwerfen. Der Gegenstand erwies sich als ein Ziegelsteinbrocken, eingewickelt in Papier. „Der Störenfried kann sich einfach nicht beruhigen." „Da steht doch etwas auf dem Papier." Kitty hob das zerknüllte Papier auf. „Das ist für dich." Murray nahm das Papier aus ihrer Hand. „An Murray" stand da in großen, ungleichmäßigen Buchstaben. Er drehte das Blatt um und las: „Der General gab Befehl, Ihr Gedächtnis zu löschen. Doch wir werden Ihnen helfen. Die Löschung wird nur vorgetäuscht; Sie müssen jedoch einen vollständigen Gedächtnisverlust simulieren. Gelingt Ihnen das, sind Sie gerettet." Kitty sagte nichts, nur ihre Augen wurden noch dunkler, und ihre Hände zitterten vor Erregung. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, daß er jetzt gehen mußte. Kitty wollte ihm etwas sagen, doch statt der Worte konnte sie nur ein Schluchzen hervorbringen. Eine blaue Ader zuckte an ihrem Hals, und ihre Arme streckten sich ihm bittend entgegen. 17
„Du gehst fort?" Sie begann zu weinen. „Bring mich von hier weg. Du kannst das." Murray machte sich behutsam von Kitty los und ging zur Tür. Hinter sich hörte er ein unterdrücktes Stöhnen. Er hielt es nicht aus und drehte sich um: Kitty kniete, und ihre kraftlos herabhängenden Arme erinnerten an die Flügel eines verwundeten Vogels. Er riß die Tür auf und stürzte in den Flur hinaus. Neben dem Mercedes warteten die anderen schon auf ihn, und er dachte, wie schön es jetzt wäre, den Stützpunkt so schnell wie möglich zu verlassen und am Steuer seines Buick über den regenfeuchten Asphalt zu jagen. Der Gedanke an die Botschaft auf dem zerknüllten Zettel ließ Murray jedoch ruhiger werden. Offenbar haben hier noch nicht alle den Verstand verloren, dachte er, als er auf dem Rücksitz neben dem finsteren Mondiale saß. Er hatte sich im Grunde genommen äußerst leichtsinnig verhalten: Er war sogar unter seinem eigenen Namen aufgetreten - im Vertrauen darauf, daß dieser recht häufig vorkam. In der Militärbasis kannte man wahrscheinlich seine Reportagen und auch die Artikel über ihn, die darüber Auskunft gaben, wer sich hinter dem Pseudonym Brisant verbirgt. So war die Gedächtnislöschung eine ganze reale Gefahr für ihn. Aber wer sollte so mutig sein, einen Journalisten zu retten? Trotz dieser unerfreulichen Gedanken versäumte es Murray nicht, das Gelände zu studieren; auch seine Begleiter musterte er genau und versuchte, 18
sich über sie klarzuwerden: Wäre irgendeiner von ihnen fähig, ihn zu retten? Nein. Christie war ein Besessener, dem das menschliche Leben, gemessen an wissenschaftlichen Ideen, nichts bedeutete. Mondiale war eine undurchsichtige Persönlichkeit. Murrays Blick fiel auf den dunklen Nacken des Fahrers. Martin Clay? Noch vor zwei, drei Stunden war Murray überzeugt gewesen, daß alle „Bekehrten" gehorsame Ausführende mit einem streng begrenzten Verhaltensprogramm seien, so etwas wie Roboter. Und was sollte er jetzt annehmen? Im Rückspiegel sah er Clays beziehungsweise Verangers durchdringenden Blick. Dieser Veranger konnte ihm doch wohl kaum helfen. Was sollte er mit dem Labor zu tun haben? Murray versuchte sich vorzustellen, wie er sich widerstandslos in den Sessel der Anlage setzt, wie Paul Christie auf die Taste drückt... Die Fahrt zum wissenschaftlichen Zentrum dauerte lange. Murray bemühte sich, alles im Gedächtnis zu behalten: die Größe des Geländes, bestimmte Besonderheiten des Stützpunkts und die Lage der einzelnen Gebäude. Schließlich waren sie angelangt. Die drei miteinander verbundenen Gebäudeteile des wissenschaftlichen Zentrums lagen in einer kleinen Senke, so daß der Blick bei der Anfahrt fast von oben darauf fiel. Die langgezogene Fassade erinnerte an einen Vogel im Fluge: Die beiden geschwungenen Seitenflügel trafen im Winkel auf den ovalen Mittelteil. Murray wunderte sich über die Fenster der fünfgeschossigen Seitenflügel: Diese schienen ungewöhnlich klein für ein so modernes Gebäude, zudem waren sie von außen zur Hälfte mit Alujalousien verdeckt und von innen dicht verhängt. Der ovale Mittelteil hingegen besaß eine klare Geschoßgliederung und schien gänzlich aus großen dunklen Glasquadraten zu bestehen, die diagonal angeordnet waren. Bald verschwand alles hinter dichten Baumgruppen. Als der Gebäudekomplex dann hinter einer Straßenbiegung überraschend vor ihnen auftauchte und auf den Glasflächen der gerundeten Fassade ihnen plötzlich ein schwarzer Mercedes entgegenkam, begriff Murray, daß er das Spiegelbild ihres Wagens sah. Keine schlechte Idee, so eine verspiegelte Fassade! Sie bogen auf dep weitflächigen Parkplatz ein, wo ein Dutzend Busse und mindestens zweihundert PKW standen. Auch der Dodge des Generals kam neben ihnen zum Halten. Der General fuhr selbst. „Bei Ihnen ist wohl eine Fahrerstelle frei", bemerkte Murray beim Aussteigen. Burnetti wollte die Anspielung jedoch nicht verstehen. „Ich ziehe es vor, die Dinge selbst in der Hand zu haben", war seine Antwort. Man begab sich gemeinsam zum Seiteneingang, der ins Labor führte. Sie gingen den langen, sanft geschwungenen Flur der dritten Etage entlang, in den eine Unmenge von Türen mündete. Einige Türen öffnete Burnetti im Vorbeigehen; die in den Labors Beschäftigten sprangen auf, und die leitenden Mitarbeiter kamen beflissen auf den General zu, der jedoch nur lässig die Hand hob und weiterging. „Jetzt kommen wir in das Allerheiligste!" wandte sich der General an Murray. 19
Sie näherten sich einer massiven Tür. Hier beginnt also der mittlere Gebäudeteil, stellte Murray für sich fest. Christie brauchte lange, um den Eingangscode einzugeben. Schließlich traten sie in einen hohen, fensterlosen Raum voller komplizierter Technik. Murray erkannte den Gedächtnislöscher wieder, den er vormittags im Film gesehen hatte. „Sind Sie zufrieden mit dem Besuch in Tante Tairas Haus, Mr. Murray?" erkundigte sich der General und zündete sich eine Zigarette an. „Ja, General, danke." „Also, meine Herren, es ist Zeit." Der General wechselte den Ton. Er drückte die Zigarette aus und ging zu der Anlage hinüber. „Ihre Aufgabe ist es, unserem Gast aus der Hauptstadt die Anlage vorzuführen. Sehen Sie sich alles an, und fragen Sie, Mr. Murray." „Vorläufig habe ich keine Fragen." „Dann beginnen wir mit der Vorführung. Haben Sie jemanden, der vorgesehen ist?" wandte sich der General an Christie. „Im Augenblick nicht, General." „Soll ich es mal selbst probieren?" Burnetti ließ sich in dem Sessel nieder. „Welch ein wunderbarer Sitz! Bequemer als in meinem Arbeitszimmer." Der General erhob sich. „Ich habe nie daran gedacht, daß der Sessel bequem sein könnte", murmelte Christie und ließ sich ebenfalls auf dem Sitz des Gedächtnislöschers nieder. „Ja, ganz gut." Christie lachte. „Probieren Sie doch einmal, Mr. Murray", schlug Burnetti vor. Jetzt läßt es sich nicht mehr umgehen, dachte Murray, komme, was wolle! „Mit Vergnügen", sagte er laut. Kaum hatte Murray im Sessel Platz genommen, als sich große Metallklammern um seine Arme und Beine legten. Instinktiv wollte er auffahren, doch die Klammern schnitten schmerzhaft in sein Fleisch. Schluß, es ist aus. Er wollte schreien, doch das wäre jetzt sinnlos. „Na bitte, der Presseonkel hat sich selbst in den Sessel gesetzt, den wir ihm so schön untergeschoben haben." Der General grinste. „Und ich habe mir den Kopf zerbrochen, wie wir ihn da hineinkriegen." Ob er sich die Botschaft von der nur vorgetäuschten Gedächtnislöschung hat einfallen lassen? durchzuckte es Mürray. „Sie sind von der Presse, das wissen wir. Erinnern Sie sich, ich sagte Ihnen doch, im Ministerium sei noch nichts über unsere neue Anlage bekannt. Das haben Sie einfach hingenommen. Tatsächlich aber wissen ziemlich viele im Ministerium darüber Bescheid. Sie wollten hier also ein bißchen Spion spielen? Die Leser etwas unterhalten? Keine Sorge, Sie sind nicht in Lebensgefahr, wir werden nur das, was überflüssig ist, aus Ihrem Gedächtnis löschen. Sie werden nicht schlecht dabei fahren. Mr. Murray." „Ich hatte nicht den geringsten Zweifel, daß Sie ein Humanist sind", zwang sich Murray zu witzeln. Burnetti schoß einen feindseligen Blick hinüber. „Genügend Fakten für eine Skandalgeschichte haben Sie doch jetzt sicher zusammen?" „Alles ganz harmloses Material! Eignet sich kaum zur Veröffentlichung..." „Sie werden Ihre Mission nicht erfüllen können. Sehr bedauerlich. Für gewisse allzu eifrige Leute wäre Ihr Artikel eine Warnung. Es glaubt ja immer 20
noch jeder, er könne protestieren, könne von Meinungsfreiheit herumschreien und sogar irgendwelche Forderungen stellen!" Der General redete immer weiter, Murray aber überkam plötzlich eine ungeheure Wut auf sich selbst wegen seiner Unvorsichtigkeit. Er war schon oft in schwierigste Situationen geraten, er hatte mit der Zentralregierung von Südafrika gesprochen, hatte das großmäulige Geschwätz des Anführers des Bundes der europäischen Faschisten aufgezeichnet und den Diktator von Rangunien interviewt. Mehr als einmal stand alles auf der Kippe, und jedesmal war es gut ausgegangen. Aber der Krug geht so lange zu Wasser ... „Jetzt ist die Stunde der Abrechnung gekommen, Mr. Murray", stichelte der General. „Sie gehören nicht zu den Feiglingen, das war mir klar. Dennoch fällt Ihnen der Verzicht auf all Ihre geistigen Qualitäten schwer, geben Sie es nur zu. Ich wüßte zu gern, was jemand in einem solchen Augenblick empfindet." „Sollte ich tatsächlich ein zweites Leben geschenkt bekommen? Wenn ich ins Paradies eingehe, werde ich für Sie beten, General." Burnettis zuckende Wange verriet, daß ihn seine Kaltblütigkeit allmählich verließ. „Journalist werden Sie dann wohl nicht mehr sein können. Ich werde Ihnen eine andere Stelle verschaffen. Vielleicht als Pfleger in unserem Krankenhaus." „Das ist doch ganz gleichgültig. Ich werde Ihnen in jedem Fall dankbar sein, General!" „Rufen Sie Martin Clay und die Putzfrau herein", brüllte Burnetti plötzlich. „Alle Mitarbeiter sollen kommen!" Mondiale versuchte ihn zurückzuhalten. „Hier darf niemand herein, Herr General!" Burnettis Gesicht lief rot an. „Der Befehl ist auszuführen!" Während Christie die Leute zusammenrief, hielt der General, außer sich vor Wut, Murray immer wieder vor: „Gleich wird Ihnen klarwerden, was Ihr zweites Leben wert ist! Später werden wir dann überprüfen, ob Sie sich an diese Szene erinnern." Der Raum füllte sich bis auf den letzten Platz. Christie baute Martin Clay und die schwarzhäutige Alte vor dem General auf. Der General wandte sich an Veranger: „Clay, gefällt dir diese Alte?" „Sie ist eine liebe Dame, Herr General." „Sehr schön. Wir beabsichtigen ein wichtiges Experiment. Du wirst diese Frau heiraten." Clays Gesicht blieb unbewegt. Er erstarrte nur kurz, dann antwortete er gefügig: „Wenn es so wichtig ist, Herr General..." „Es ist äußerst wichtig! Zieht euch aus und geht in den Nebenraum." Clay begann gehorsam, seine Jacke aufzuknöpfen. Viele Mitarbeiter blickten zu Boden. „Sie haben Spaß daran, Abhängige zu erniedrigen?" Das kam von Murray. „Aber Sie erniedrigen sich selbst, Herr General. Alle Ihre Mitarbeiter wissen jetzt, was Sie für ein Mensch sind." „Der Befehl ist aufgehoben!" brüllte Burnetti plötzlich los. „Alle verlassen den Raum." Das Labor war im Nu leer. Der General wies Christie an: „Los, Paul." 21
Christie schaltete die Anlage ein. Nach dem bekannten leichten Klicken zuckte Murrays Körper einmal, dann glätteten sich die Falten in seinem Gesicht. Sein Kopf sank herab, und man hörte ihn leise schnarchen. „Was, ist er eingeschlafen? Das ist etwas ungewöhnlich." Christie drückte wieder eine Taste, die Klammern öffneten sich, und Murray stürzte zu Boden. Er erhob sich langsam und blickte sich verständnislos im Labor um. „Wie kommen Sie hierher?" fragte ihn Mondiale barsch. Murray sah ihn an und zuckte erstaunt mit den Schultern. „Wer sind Sie, und woher kommen Sie?" Murray dachte angestrengt nach. „Ich kann mich nicht erinnern." Er ging zum General hinüber und vertiefte sich in dessen Gesicht. „Na, worauf warten Sie noch, Mr. Mondiale?" sagte Burnetti hastig. „Bekehren Sie diesen Schreiberling zu unserem Glauben. Ich gehe jetzt mit Paul in den' Stab hinüber und setze mich mit dem Ministerium in Verbindung. Robert Mondiale geleitete den General und Christie hinaus. Murray blickte ihnen unterwürfig nach. Die Tür schloß sich hinter den beiden. Murray stand ganz still, dann sah er sich um und bewegte sich langsam durch das Labor; niemand hielt ihn auf. Er kehrte um und setzte sich wieder in den Sessel vor den Gedächtnislöscher. Dort versank er in Erstarrung, den Kopf in die Hände gestützt. Mondiale trat ein. Als er den „ruhiggestellten" Journalisten sah, trat er zu 22
ihm und berührte ihn an der Schulter. „Mr. Murray, deprimiert Sie der Aufenthalt bei uns wirklich so?" Murray hob vorsichtig den Blick. „Verzeihung, wie meinen Sie?" „Machen Sie keinen Unsinn, Mr. Murray!" Murray zuckte zusammen. „Was meinen Sie denn?" „Nanu, haben Sie sogar mich vergessen?" „Nein, nein", murmelte Murray eilfertig. „Ich kenne Sie. Aber irgend etwas muß mit mir passiert sein." „Sie denken sicher, daß ich jetzt Ihre Gedächtnislöschung überprüfe. Wir haben doch nur einen Scherz mit Ihnen gemacht!" Mondiale lachte. „Ja, ja, danke vielmals." Murray nickte eifrig. „Warum verstellen Sie sich denn?" Murray sah Mondiale aufmerksam an. „Mir kommt es vor, als ob ich Sie zum erstenmal sehe." „Ich heiße Robert Mondiale." „Robert Mondiale", wiederholte Murray. „Ja, ja, Mr. Robert Mondiale, ja, ja..." Mondiale nahm die Brille ab. Er trat an Murray heran und ließ den Blick prüfend über dessen Gesicht gleiten. Dann ging er hinüber zur Anlage, wobei er mechanisch seine Brillengläser blank rieb. Nachdem er verschiedenes kontrolliert hatte, kam er wieder zu Murray zurück. „Ich weiß nicht, Mr. Murray..., vielleicht ist uns ein tragischer Irrtum unterlaufen. Sie, der Journalist Penn Murray, haben sich hier als Vertreter des Verteidigungsministeriums Zutritt verschafft. Hier im Militärstützpunkt werden verbotene Versuche an Menschen durchgeführt. Ihnen ist bekannt, daß mit Hilfe dieser Anlage Menschen ihres Gedächtnisses beraubt werden und man ihnen dann die als notwendig erachteten Informationen ,eingibt'. So vollzieht sich eine Manipulation ihrer Weltanschauung und ihrer Willensorientierung. Darüber wollten Sie berichten. Der Chef des Stützpunktes, General Burnetti, hat von Ihrer Absicht erfahren und wollte Sie der Gedächtnislöschung unterziehen. Aber ich entschloß mich, Sie zu retten; ich habe die Energiezufuhr der Anlage unterbrochen. Ich habe Sie davon durch meinen Zettel in Kenntnis gesetzt. Es liegt jetzt in Ihrem Interesse, sich nicht weiter zu verstellen..." Mondiale verstummte, doch Murray sagte immer noch nichts. „Ich will Sie nicht provozieren. Schauspielerei ist jetzt nicht mehr nötig! Außer mir weiß niemand davon, daß die Löschung nur vorgetäuscht war." Murray nickte und sagte leise: „Ich glaube Ihnen." „Das möchte sein! Sie verstehen ja alles ganz großartig. Jemand ohne Gedächtnis wäre einer solchen Logik nicht fähig." Mondiale lächelte breit, als er sah, daß Murrays Blick wieder aufmerksam und verständig war. „Als ich diese Anlage erfand, ahnte ich nicht im geringsten, daß man sie einmal hier mißbrauchen würde. Ich wollte die Menschen lediglich von der Last ihrer Zwangsideen befreien. Ich traf Paul Christie wieder, den ich noch von der Universität her kannte, und erzählte ihm von meinen Ideen; er versprach mir ein Labor und äußerst günstige Arbeitsbedingungen. So baute ich diese Anlage, die im Grunde nur der praktischen Überprüfung meiner Idee dienen sollte. Doch der General setzte sie dann zu Zwecken ein, an die ich niemals auch nur gedacht hatte. Was sollte ich tun? Der Gedächtnislöscher 23
ist, wie man sieht, funktionstüchtig, und ich stehe nun unter strengster Bewachung." Mondiale sah zur Tür und lauschte. „Wir haben noch etwas Zeit, und ich will Ihnen alles offen darlegen, Mr. Murray. Ich lasse mich auf ein großes Risiko ein; aber ich glaube sicher zu sein, daß Sie der Journalist Penn Brisant sind." „Ja, das ist mein Pseudonym." Mondiale ging zur Tür und drehte den Schlüssel um. „Im Augenblick geht die Montage eines neuen Gedächtnislöschers, den ich konstruiert habe, ihrem Ende entgegen. Diese Anlage wird die Energie nicht in Stromstößen, sondern in Wellen aussenden, wie ein Rundfunksender. Diese Wellen können dann auf die Hirnrinde von Tausenden, ja vielleicht Millionen Menschen gleichzeitig einwirken..." „Das ist ja unglaublich!" rief Murray aus. Mondiales Stimme tönte klangvoll, er war erfüllt vom Glauben an die großartigen Perspektiven, die sich damit eröffneten. Murray aber sah in diesen Plänen nur eine neuerliche Bedrohung für die Menschheit. „Ich hoffe, der Maschine ein Programm eingeben zu können, das den menschlichen Willen in eine bestimmte Richtung lenkt." „Von diesem neuen Willen sprechen Sie, als versprächen Sie den Sterblichen ein irdisches Paradies. Sie wollen den Menschen ihre Geschichte nehmen? Ihr Wissen, das sie in Jahrtausenden erworben haben? Sie haben die Menschheit doch gar nicht gefragt, ob sie das auch will!" „Zum Fragen ist es zu spät, ich bin selbst nicht mehr frei!" Inmitten all dieser hochkomplizierten Laboranlagen erschien Mondiale auf einmal wie die Verkörperung des Bösen. Das Gefühl der Dankbarkeit, das Murray gegenüber diesem Menschen hegte, hielt ihn nicht davon ab, seine Einwände vorzubringen. „Entschuldigen Sie, Mr. Mondiale, aber auf welche Weise wollen Sie den Menschen irgendeinen Willen eingeben?" Mondiale durchmaß den Raum mit großen Schritten, sein Gesicht zeigte fast Besessenheit. Die Arme hochwerfend, stieß er hervor: „Die Wissenschaft bewegt sich sprunghaft voran, von einer Entdeckung zur anderen. Die Menschen können damit nicht Schritt halten, es gelingt ihnen nicht, die neuen Entdeckungen und Erfindungen so schnell zu begreifen und zu akzeptieren. Erinnern Sie sich an die Arbeiteraufstände? Von der schmutzigen und schändlichen Vergangenheit können sich die Menschen nur trennen, wenn sie durch ein reinigendes Fegefeuer gehen ... Sie büßen doch durch die Bestrahlung nur zeitweilig ihre erworbenen Erfahrungen und Kenntnisse ein. Der dem Menschen innewohnende Drang, zu überleben und ein Maximum an Wohlstand zu erreichen, wird ihn all das lehren, was wir heute können. Schließlich lassen wir die Bibliotheken unangetastet und damit das in den Büchern enthaltene Wissen. Ihre Sprache werden die Menschen nicht verlieren, ebensowenig wie das Gedächtnis des Körpers. Sich erinnern ist weitaus leichter, als etwas Neues zu entdecken. Wenn der Sohn der Erde das Geheimnis der Schriftzeichen entdeckt hat, wird er rasch alle Geheimnisse der Wissenschaft begreifen und sich die Technik aneignen. Er wird ja nichts mehr erfinden müssen! Ich bin davon überzeugt, daß schon die zweite unter den neuen Verhältnissen geborene Generation die heutige Höhe der Zivilisa24
tion erreicht haben wird. Das wird nicht mehr als fünfzig Jahre dauern, was - auf die gesamte Geschichte der Menschheit bezogen - faktisch gleich Null ist. Wenn wir das Gedächtnis der Menschen auslöschen, stellen wir damit schlagartig alle auf die gleiche Stufe. Es wird keinen General Burnetti geben, keine ihm unterstellten Obersten, Leutnants und Soldaten." „Und was folgt daraus?" „Die Wissenschaft ist bis zu den verborgensten Geheimnissen des menschlichen Lebens und des Universums vorgedrungen. Der Erde wäre durch die Bestrahlung der Menschen eine von ihr so dringend benötigte Ruhepause zur Regenerierung vergönnt. Von der zerstörerischen Tätigkeit des Menschen befreit, könnte sie ihre lebenspendenden Kräfte wieder erneuern..." „Wer aber wird diese Idioten anführen?" fragte Murray entsetzt. „Diese Millionen Unwissender?" „Über dieses Problem denke ich seit fast zwanzig Jahren nach, seitdem ich die Welt als mein Haus und die Erde als meine Wiege zu begreifen begann. Wenn auch die Bomben, die über Hiroshima und Nagasaki abgeworfen wurden, für mich längst vergangene Geschichte waren, so trafen sie mich doch in der Seele. Auch die Vergangenheit kann verletzen, sie kann sogar töten. Und so suche ich nun nach denkenden Menschen", Mondiale hatte sich etwas beruhigt, „nach denkenden Menschen ... Eine Gruppe von Wissenschaftlern könnte die Menschheit führen. Ich meine nicht jene, die die Macht gewaltsam an sich gerissen haben, nicht solche Banditen wie Burnetti, sondern eine Elite der Wissende,n ..." „Es wäre interessant zu erfahren, welche Rolle Paul Christie dabei spielt", erkundigte sich Murray. „Er ist ein Mensch von ungeheurer Tatkraft und ein guter Organisator, doch als Wissenschaftler hat er sich bisher noch nicht bewiesen." „Sieh mal an", konnte sich Murray nicht enthalten zu bemerken. „Er möchte leidenschaftlich gern Wissenschaftler sein." „Weil der Elite der Wissenschaftler die Zukunft gehört?" „Zu uns zu gehören bedeutet für ihn eine Lebensfrage. Und er hat dafür gar keine schlechten Voraussetzungen. Er ist zu allem bereit. Doch einstweilen hat er noch nicht einmal das Prinzip dieser Anlage begriffen. Ich weihe ihn jedenfalls nicht in meine Ideen ein." „Er ist demnach davon überzeugt, daß ich jetzt ein Mensch ohne Vergangenheit bin?" „Unbedingt! Doch Sie müssen jetzt einmal für eine gewisse Zeit ihre Würde yergessen und so tun, als ob ..." „Ich verstehe..." „Haben Sie gesehen, wie sich der General verhält? Das geringste Zeichen von Ungehorsam bringt ihn zur Raserei. Im Zorn verläßt in jede Vernunft. Versetzen Sie sich in Clays Lage. Könnten Sie das ertragen, ohne daß Sie sich dabei mit einer Silbe, einer Geste verraten?" „Was? Sollte Verangers Gedächtnis nicht gelöscht worden sein?" „Veranger besitzt ungewöhnliche Selbstbeherrschung und einen überragenden Verstand. Bevor ich ihm hier begegnete, hatte ich schon viel von ihm gehört. Wenn ich einem Sterblichen die Gedächtnislöschung erspare, muß ich ganz sicher sein, daß er all das, was dann auf ihn zukommt, auch bewältigt 25
und mich nicht ans Messer liefert. Ich darf mich da nicht irren, Mr. Murray." „Danke für das Vertrauen." Es klopfte an der Tür. Ein vereinbartes Klopfen. Mondiale öffnete. Martin Clay stürzte in den Raum. Er ging rasch zum Schaltpult des Generators und drückte verschiedene Tasten. Ein gleichmäßiges Maschinengeräusch erfüllte den Raum. Clay trat zu Mondiale. „Mr. Mondiale, Sie sind in Gefahr. Ihr Gespräch mit Murray ist Wort für Wort im Stab abgehört worden." „Wie das?" fragte Mondiale verwirrt. „In ein bis zwei Minuten wird der General hier sein", fuhr Veranger fort. „Wo sind unsere Waffen?" Die Verwandlung des langsamen und untertänigen Clay in den entschlossen und rasch handelnden Veranger überraschte Murray außerordentlich. Mondiale verschwand im Nebenraum, riß einen Schrank auf und leerte eiligst das obere Fach: Er warf irgendwelche Papiere, Geräte und Teile auf den Boden, öffnete in der Tiefe des Schrankes eine geheime Tür und holte zwei Pistolen heraus. Sie unterschieden sich von den üblichen Handfeuerwaffen durch ihren langen und breiten Lauf und den massiven Griff. Durch das Fenster hörte man das Geräusch ankommender Autos. Veranger stürzte zur Wand und drückte einen Knopf. Durch den entstandenen Sehschlitz konnte man den Dodge des Generals und einen Lastwagen voller Soldaten sehen. Veranger beobachtete alles ohne jede Deckung vom „Fenster" aus. Murray trat zu ihm. Aus der Kabine des Lastwagens schwang sich ein Offizier. Burnetti sagte kurz etwas zu den zurückbleibenden Soldaten und begab sich, begleitet von Christie und dem Offizier, zum Seiteneingang. „Überlassen Sie ruhig alles mir", sagte Veranger und zog sich hinter den Generator zurück. „Empfangen Sie den hohen Gast so wie immer. Keine Panik zeigen." Der General betrat energisch das Labor. Christie wich nicht von seiner Seite. Der Offizier bezog Posten an der Tür. Nachdem er einen raschen Blick auf den laufenden Generator und die ruhig .Dasitzenden geworfen hatte, hielt Burnetti inne. „Meine Herren Wissenschaftler! Sie können mir zu einer Entdeckung gratulieren. Sie ist zwar nicht wissenschaftlicher Natur, hat es aber in sich: Unser guter Mondiale begnügt sich nicht mehr mit der Forschung, er zeigt auch großen missionarischen Eifer." Mondiale nahm Haltung vor dem General an. „Mir ist zu Ohren gekommen, daß Sie sich hier für Jesus Christus halten und beabsichtigen, Millionen Menschen mit dem Paradies zu beglücken. Für den Anfang haben Sie wohl erst einmal den Evangelisten Murray vor der Gedächtnislöschung bewahrt!?" Burnetti schritt, die Hand wie Napoleon in die Uniformbluse gesteckt, auf und ab. „Sie haben sich als geschickter Verschwörer gezeigt, Mr. Mondiale ..." Mondiale stand ohne jede Bewegung. Der General winkte dem Offizier an der Tür, worauf dieser den Raum verließ. 26
„Erklären Sie mir, Mr. Mondiale, wie Sie Ihre Tätigkeit beurteilen und was Sie dafür verdient haben!" Mondiale schwieg. „Es ist lange her, daß ein Franzose namens Guillötin lebte. Er bastelte eine sehr einfache Maschine für die Hinrichtung von Verbrechern. Später köpfte man ihn selbst damit. Verehrter Herr Erfinder, auf Sie wartet Ihr Sessel." Der General wies auf den Gedächtnislöscher. Durch das Maschinengeräusch hindurch hatte niemand das leise Klicken gehört. Der General zuckte zusammen und starrte die Anwesenden erstaunt an. Christie zog sofort die Pistole und stürzte hinter den Generator. Ein neuerliches Klicken ließ ihn augenblicklich einhalten. Seine Pistole fiel zu Boden, beim Aufschlagen löste sich ein Schuß. Christie betrachtete höchst verwirrt die Umstehenden, dann sah er sich im Raum um. Veranger nob die Pistole auf und entwaffnete auch rasch den General, wobei er diesen fragte: „Wie heißen Sie?" Der zuckte mit den Schultern. Mit dem nunmehr willenlosen Gesicht und den passiv herabhängenden Armen war er kaum wiederzuerkennen. „Wir haben Sie von einer schweren Krankheit geheilt", fuhr Veranger mit der Stimme eines Hypnotiseurs fort. „Und Sie, Paul Christie, bitte ich, zu mir zu kommen ..." Veranger ging zur Wand und drückte einen Knopf. „Mr. Christie, stellen Sie sich neben den General. Ja, so. Jetzt öffnen Sie das Fenster, General Burnetti, und winken dem Offizier, damit er die Soldaten 27
abtreten läßt. Beugen Sie sich hinaus, und winken Sie, damit alle Ihren Befehl befolgen und abfahren ... Ich danke Ihnen, General." Veranger und Mondiale begaben sich daraufhin in einen Nebenraum, und Veranger sagte: „Mr. Mondiale, Ihr Gespräch mit Murray hat auch Oberst Osers abgehört. Wenn er im Verlauf von fünf Minuten keine Nachricht vom General hat, dann wird er noch eine Kompanie hierher in Marsch setzen." „Sie haben recht." „Machen Sie sich zur Abfahrt fertig. Nehmen Sie nur das Notwendigste , mit. Alles übrige vernichten wir." Mondiale schaltete die Sprechanlage ein. „Achtung, Achtung! Hier spricht Mondiale. Im Labor sind Arbeiten angesetzt, die besonderer Geheimhaltung unterliegen. Deshalb fordert General Bumetti alle Mitarbeiter zum Verlassen des Zentrums auf." Veranger ging wieder in den Raum, in dem sich der General und Christie aufhielten. Das Maschinengeräusch war hier längst nicht so stark. Veranger kehrte um und öffnete weit die Tür; jetzt vibrierte der ganze Raum. Die Gefangenen Bumetti und Christie saßen unbeweglich da. Sie waren bedrückt und verwirrt. „Also dann - an die Arbeit", wandte sich Veranger an die beiden. Diese belebten sich sogleich etwas. „Vergessen Sie nicht, Sie sind Paul Christie, früherer Wissenschaftler. Sie sind Militärangehöriger, General Bumetti. Haben Sie sich das eingeprägt?" Die zusammengesunkene Gestalt des Generals nahm militärische Haltung an. Er sprang auf und meldete: „Jawohl." „Sie, General, befehligen eine größere militärische Einheit. Ihr Vertreter, Oberst Osers, möchte Sie liebend gern hereinlegen. Verstehen Sie, was ich mit ,hereinlegen' meine?" „Ja, Herr..." „Ich verbinde Sie jetzt mit Osers. Behandeln Sie ihn streng. Bringen Sie ihm bei, daß er ohne Sie nichts zu unternehmen hat. Haben Sie alles begriffen?" „Was habe ich Osers konkret zu sagen?" Veranger nahm den Hörer auf und sagte mit erhobener Stimme: „Oberst Osers? Hören Sie? Hier verläuft alles normal. Ich bin dabei, die Situation zu bereinigen. Sie warten auf mich und unternehmen nichts, bevor ich zurückkomme. Es sind neue Gesichtspunkte aufgetaucht. Haben Sie verstanden, Oberst?" Veranger legte den Hörer auf. „So werden Sie es sagen." Er übergab dem General den Hörer, blieb aber neben dem Telefon stehen und hielt einen Finger auf der Gabel. „Oberst Osers? Hören Sie?" fragte Bumetti. „Jawohl, Herr General", klang es aus dem Hörer. Bumetti wiederholte eifrig bemüht, was ihm Veranger zuvor gesagt hatte, und er sah dabei im Bewußtsein seiner Überlegenheit auf Christie herab, der ihn mit unverhohlenem Neid betrachtete. Veranger drückte die Gabel herunter. „Großartig, General, wie Sie das gemacht haben." Wieder ein stolzer Blick des Generals zu Christie. Veranger ging zur Wand und blickte durch den Sehschlitz zum Seiteneingang hinüber. Die Mitarbeiter schlenderten einzeln oder zu zweit zum Parkplatz. 28
Er kam wieder zu den Gefangenen zurück. „Jetzt sprechen Sie ins Mikrofon: .Entfernen Sie sich schneller, meine Herren, das geht ja hier zu wie bei einer Beerdigung!' Fangen Sie an." Veranger schaltete die Sprechanlage ein und lauschte den aufgebrachten Worten Burnettis. „Sehr schön, General. Das genügt erst einmal. Entspannen Sie sich." Veranger blickte wieder aus dem Fenstei. Draußen rasten die Mitarbeiter jetzt los, als brenne es. Veranger verließ den Raum und sah, wie Mondiale in aller Ruhe Unterlagen durchsah. „Lieber Mondiale, Eile tut not. Auf diese Weise sind Sie morgen noch nicht fertig! Wählen Sie nur das Allernötigste aus. Der Rest muß vernichtet werden." Mondiale nickte. Jetzt wurde der zum Verbrennen bestimmte Stapel von Unterlagen zusehends höher. Murray und Veranger sahen Mondiale zu. Murray entschloß sich zu einer Frage: „Mr. Veranger, ich nehme an, daß Sie über Mondiales Pläne Bescheid wissen. Sollten Sie wirklich nichts gegen die Löschung des Gedächtnisses bei Millionen von Menschen einzuwenden haben?" „Das zu erörtern ist jetzt nicht die Zeit. Die Möglichkeit einer Gedächtnislöschung würde ich nur im äußersten Notfall für zulässig halten, zum Beispiel bei einer drohenden nuklearen Katastrophe. Angesichts des Untergangs der ganzen Welt wäre es doch wohl das kleinere Übel, das Gedächtnis zu verlieren." „Wo ist die Garantie, daß die neue Erfindung nicht von Wahnsinnigen oder Abenteurern mißbraucht wird, die sich die Welt unterwerfen wollen? Wo ist die Garantie dafür, daß auch die integersten Wissenschaftler keinem Irrglauben unterliegen? Wäre es nicht besser, all das in die Luft zu sprengen?" „Sicher. Wir werden das gleich in Angriff nehmen." Veranger ging rasch zu dein Schrank, dem Mondiale vorhin die Pistolen entnommen hatte, und holte dort einige kleine Blöcke heraus, die er in einen Korb legte. Murray nahm den Korb entgegen und folgte Veranger, der damit begann, die Blöcke, in die Anlage einzuführen. An Mondiale gewandt, erkundigte sich Veranger, wie weit dieser sei. „Ich bin fast fertig. Nur das hier nehme ich mit." Und er wies auf einen beträchtlich hohen Stapel von Papieren. „Gut. Wir tragen alles hinüber zum Wagen. Der General wird Sie durch die Kontrolle am Tor manövrieren. Sehen Sie zu, daß Sie in meine Heimat gelangen." „Fahren Sie denn nicht mit?" fragte Murray verwundert. „Ich muß hierbleiben. Da ist noch etwas Wichtiges zu Ende zu führen." „Was, zum Teufel, soll denn das sein?" protestierte Mondiale. „Alle Menschen, denen man ihre Vergangenheit genommen hat, müssen befreit werden. Wir haben alles geplant; wir haben auch Waffen, allerdings nur wenige. Sie, Dr. Mondiale, reisen nach Martinius, dort sind jejzt die Unseren an der Macht. Grüßen Sie alle. Berichten Sie von allem, was die Gedächtnislöschung betrifft. Man wird Ihnen dort günstige Arbeitsbedingungen schaffen." 29
„Sie dürfen nicht hierblieben, Mr. Veranger!" ereiferte sich Murray. „Warum nicht?" „Im Stab wird man erfahren, daß Sie es waren, der hier alles organisiert hat. Wenn man dann mit Ihnen abrechnet, leidet die Sache darunter." „Sie haben wahrscheinlich recht", meinte Veranger und drückte die Tasten des Telefons. „Nein, ohne Anruf ist es sicherer." Er hielt inne. „Mr. Mondiale, in Christies Arbeitsraum ist ein Funkgerät, ich will es meinen Kameraden hier überlassen, damit wir uns verständigen können. Haben Sie die Schlüssel?" „Nein. Sie wissen doch, daß ich keine Schlüssel haben darf." „Verflucht!" Veranger lief in den Raum zurück, in dem sich die Gefangenen befanden. „Mr. Christie, Sie müssen die Schlüssel zu allen Räumen haben. Erlauben Sie?" Er griff erst in die eine und dann in die andere Tasche Christies und holte die Schlüssel hervor. „Danke." Veranger verließ den Raum und schloß die Tür hinter sich. „Helfen Sie mir, Mr. Murray." Murray folgte ihm. „Nehmen Sie den Empfänger, die Antenne und den Bedienungsteil, ich trage den Sender. Wir bringen alles zum Wagen." Sie brachten das Funkgerät im Kofferraum unter. „Mr. Veranger", das war Murray, „ich würde gern eine Frau aus dem Haus von Tante Taira herausholen." „Kitty Landlell, vermute ich." „Wie haben Sie davon erfahren?" „Ich habe Ihnen doch die Nachricht mit der Warnung übermittelt. Außerdem hatte ich den vom General geschickten Radaumacher zu beruhigen, der zu Ihnen hineinwollte. Gut. Nehmen Sie Ihre Kitty nur mit. Fahren Sie im Dodge des Generals, und handeln Sie in seinem Namen. Burnetti wird ja sowieso bei Ihnen sein. Sie müssen ihm unterwegs beibringen, wie man einen Wagen lenkt. Das ist sehr wichtig, denn der General muß uns aus dem Stützpunkt hinausbringen. Ich hole ihn jetzt." Jetzt saß Burnetti am Steuer. Kitty befand sich auf dem Rücksitz. Als Murray an Mondiale und Veranger herantrat, fiel ihm der Ernst auf, mit dem ihn letzterer anblickte. „Sie werden ohne mich fahren", sagte Veranger, „mein Platz ist hier, denn hier wird bald alles zu Ende sein. Was die Ereignisse des heutigen Tages betrifft - da hoffe ich mich herauszuwinden, ich gelte ja schließlich als schwachsinnig. Wie kann man mich da für irgend etwas verantwortlich machen? Ich werde behaupten, Sie hätten mir alles befohlen. Der Hauptzeuge, der gegen mich aussagen kann, Christie, ist nicht zurechnungsfähig. Die Pistole nehmen Sie bitte." Er reichte Murray die Waffe. „Sie werden sie vielleicht benötigen." Murray fühlte den bequemen Griff und wog die Waffe in der Hand. Veranger fuhr fort: „Bitte hören Sie jetzt genau zu. Ich habe bereits mit verschiedenen Leuten Funkverbindung aufgenommen. An der Abfahrt nach Vandelusa, ungefähr zwanzig Minuten von hier entfernt, finden Sie eine kleine Gaststätte. Fragen Sie dort nach Tichomir. Merken Sie sich bitte den 30
Namen! Er wird Sie über die Grenze bringen. Dort warten schon die Unsern auf Sie. Den General nehmen Sie mit: als lebenden Beweis für die verbrecherischen Experimente. Was ist noch zu bedenken? Ach ja, der Film von Mr. Christie. Mr. Mondiale, den Film haben Sie nicht mitgenommen?" Mondiale sah ihn bestürzt an. „Gut, ich hole ihn. Setzen Sie sich schon in den Wagen." Veranger lief zu dem Gebäude zurück und verschwand rasch in der Tür. Mondiale setzte sich neben den General. Murray hörte ein Motorengeräusch und wandte sich um. Aus der Kurve schoß ein Auto hervor, das sehr schnell näher kam. Nur wenige Meter hinter ihnen bremste es scharf. Ein großer, hagerer Mann in Uniform stieg aus. Oberst Osers! Murray hatte ihn erkannt, und die plötzliche Gefahr ließ das Blut in seinen Schläfen pulsieren. Osers blieb noch einen Augenblick im Wagen sitzen und gab dem Fahrer irgendwelche Anweisungen. Fast ohne seine Haltung" zu verändern, flüsterte Murray dem General zu: „Das ist Oberst Osers, Ihr Stellvertreter. Wie konnte er Ihrem Befehl zuwiderhandeln und den Stab verlassen? Er verdient einen strengen Verweis." Als der Oberst herangekommen war, stand Murray neben dem Wagen und blickte mit verständnislosem, stumpfem Gesichtsausdruck auf Osers. „Oberst Osers, wie konnten Sie es wagen, sich über meinen Befehl hinweg31
zusetzen und den Stab zu verlassen?" sagte der General schneidend. „Entschuldigen Sie, General. Ich hatte sehr lange keine Nachricht von Ihnen. Die Telefonverbindung war unterbrochen. Da wurde ich unruhig ..." Einen umfänglichen Metallkoffer tragend, strebte Veranger dem Laborausgang zu. Kaum hatte er die Außentür geöffnet, sah er den zweiten Wagen mit dem Fahrer, der auch Offizier war. Er sah auch den Oberst neben dem Dodge des Generals stehen. Als sei nichts geschehen, ging Veranger ruhig zurück und schloß die Tür wieder bis auf einen winzigen Spalt. Dann zog er die Pistole. Durch einen Spalt konnte er sehen, wie Osers alle mit einem raschen, doch eindringlichen Blick überflog: den abwesend wirkenden Murray neben dem Wagen, den an das Lenkrad geklammerten General, den neben dem General dösenden Mondiale und die lächelnde Kitty. Jetzt hörte Veranger auch die hohe und scharfe Stimme des Generals: „Für die Nichtbefolgung des nächsten Befehls werden Sie sich nach allen Regeln zu verantworten haben. Haben Sie verstanden?" „Jawohl, Herr General." „Dann führen Sie den Befehl aus." Als der Wagen des Obersten Osers hinter der Kurve verschwunden war, trat Veranger mit dem Filmkoffer in der Hand aus dem Labor. „Sie haben sich alle großartig verhalten, Freunde. Besonders Murray und der General. Jetzt fürchte ich nicht mehr für Sie." Er legte den Metallkasten in den Kofferraum. Murray verbarg nicht seine Hochachtung vor diesem Menschen, der darauf verzichtete, in seine Heimat zurückzukehren, wo er hoch geehrt werden würde. „Ich wünsche Ihnen Erfolg, Mr. Veranger. Ich würde Sie gern wiedersehen." „Ich hoffe sehr, daß wir uns noch einmal begegnen." Das Generalsauto verließ das Territorium des Stützpunktes; von der untergehenden südlichen Sonne beleuchtet, entfernte sich der Wagen rasch auf der durch dichten Wald führenden Chaussee.
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Otto Emersleben
Papiersterne Roman 2. Auflage • 272 Seiten • Pappband mit Schutzumschlag 7,80 M
Was gibt es zu entdecken im Abenteuer Alltag, das für den Kundendienstmitarbeiter Edmund Hörn durch den ungewöhnlichen Auftrag seines Generaldirektors, sich zu erinnern, erneut herausgefordert wird. Wie aber erinnert man sich... eines Freundes ... und Wegbegleiters auf vielen Reisen ..., wenn es nur um die eine Reise geht - Paris, Mai 1968, von der Ernst Lenner nicht mehr zurückkehrte? Sicher braucht man an einen solchen Kollegen auch nicht mehr zu denken, wenn er sich nicht plötzlich selbst in Erinnerung bringen würde ..., als Directeur Lenner, Frankreich, um mit seinem ehemaligen Betrieb Geschäftsbeziehungen aufzunehmen. Wie wird man sich entscheiden? Da ist plötzlich wieder von Interesse, wie das damals war, als im Mai nicht nur die Bäume blühten, sondern auch die Hoffnungen; und auch dies: was jetzt, heute, geändert werden muß, damit sich etwas ändert nicht bei irgend jemandem, sondern bei einem selbst.
Verlag Neues Leben Berlin