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Veröffentlichungen des Instituts für Deutsches, Europäisches und Internationales Medizinrecht, Gesundheitsrecht und Bioethik der Universitäten Heidelberg und Mannheim
Herausgegeben von Peter Axer, Gerhard Dannecker, Thomas Hillenkamp, Lothar Kuhlen, Eibe H. Riedel, Jochen Taupitz (Geschäftsführender Direktor)
Weitere Bände siehe http://www.springer.com/series/4333
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Anja Beatrice Dolderer
Menschenwürde und Spätabbruch
1C
Reihenherausgeber Professor Dr. Peter Axer Professor Dr. Gerhard Dannecker Professor Dr. Dr. h.c. Thomas Hillenkamp Professor Dr. Lothar Kuhlen Professor Dr. Eibe Riedel Professor Dr. Jochen Taupitz (Geschäftsführender Direktor) Autorin Anja Beatrice Dolderer
Gedruckt mit Unterstützung der Graduiertenakademie der Universität Heidelberg und mit Mitteln der Exzellenzinitiative.
ISSN 1617-1497 ISBN 978-3-642-22467-6 e-ISBN 978-3-642-22468-3 DOI 10.1007/978-3-642-22468-3 Springer Heidelberg Dordrecht London New York Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012 Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Gedruckt auf säurefreiem Papier Springer ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media (www.springer.com)
Meinen Eltern
Vorwort
Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2011 von der juristischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg als Dissertation angenommen. Mein ganz besonderer Dank gebührt meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. Thomas Hillenkamp. Er hat die Bearbeitung des vorliegenden Themas vorgeschlagen und mir stets seine volle Unterstützung zukommen lassen. Danken möchte ich auch Herrn Prof. Dr. Dieter Dölling für die Erstellung des Zweitgutachtens. Herrn Prof. Dr. Claus Bartram danke ich für die Unterstützung bei medizinischen Fragen und die Korrektur des ersten Kapitels. Die Arbeit entstand während meiner Zeit als Stipendiatin des Interdisziplinären Forums für Biomedizin und Kulturwissenschaften (IFBK) im Rahmen des Marsilius-Kollegs der Universität Heidelberg, Teilprojekt „Menschenwürde am Lebensanfang“. Dem IFBK danke ich für die finanzielle Unterstützung. Den Mitgliedern des IFBK und des Marsiliuskollegs danke ich für fruchtbare Gespräche und Anregungen. Danken möchte ich auch meinen Kollegen und Freunden, die mich während des Entstehungsprozesses dieser Arbeit verständnisvoll begleitet haben: Wolfgang Gosch für seine Diskussionsfreude sowie Katja Zabaschus und Susanne Keck für die seelisch-moralische Unterstützung in unzähligen Mittags- und Kaffeepausen. Meiner Schwester, Dr. Simone Abend, danke ich für die Diskussionsbereitschaft in medizinischen Fragen. Meiner Mutter danke ich herzlich für das Korrekturlesen dieser Arbeit. Meinen Eltern, Angelika und Peter Dolderer, widme ich in großer Dankbarkeit dieses Buch. Sie haben mich während des Studiums und der Promotion stets liebevoll unterstützt. Heidelberg, im August 2011
Anja Beatrice Dolderer
Inhaltsverzeichnis
Einführung ............................................................................................................. 1 A. Die Problematik des Spätabbruchs im gesellschaftlichen Diskurs .............. 1 B. Definition: Spätabbruch .............................................................................. 4 C. Angabe der Schwangerschaftsdauer............................................................ 5 D. Häufigkeit ................................................................................................... 6 E. Zielsetzung und Vorgehensweise ................................................................ 6 1. Kapitel: Medizinische Grundlagen................................................................. 9 A. Biologische Entwicklung des nasciturus und Geburt .................................. 9 B. Schmerzempfinden und Leidensfähigkeit des Fötus ................................. 12 C. Die Pränatale Diagnostik........................................................................... 13 I. Pränataldiagnostische Verfahren ........................................................ 13 1. Nicht-invasive Methoden ............................................................ 14 a) Ultraschalluntersuchung ....................................................... 14 aa) Ungezielte Ultraschalluntersuchung .............................. 14 bb) Gezielte Ultraschalluntersuchung .................................. 15 cc) Doppler-Ultraschall ........................................................ 15 dd) Diagnostische Sicherheit ................................................ 15 ee) Ultraschall als Routineuntersuchung .............................. 16 b) Alpha-Fetoprotein-Test ......................................................... 16 c) Triple-Test ............................................................................ 17 d) Analyse fötaler Zellen im mütterlichen Blut......................... 17 2. Invasive Methoden ...................................................................... 17 a) Amniozentese ....................................................................... 17 b) Chordozentese....................................................................... 18 c) Chorionzottenbiopsie und Plazentazentese ........................... 19 d) Fetoskopie ............................................................................. 19 II. Ziele, Vorteile und Grenzen der Pränataldiagnostik........................... 19 III. Auswirkungen der Pränataldiagnostik ................................................ 21 IV. Zeitpunkt pränataldiagnostischer Verfahren ...................................... 22 D. Methoden des Schwangerschaftsabbruchs ................................................ 23 I. Vermeidung der Nidation und frühe Abbrüche .................................. 23 II. Schwangerschaftsabbrüche nach der 12. Woche ................................ 24 III. Schwangerschaftsabbrüche nach der 20. Woche ................................ 24
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Inhaltsverzeichnis
2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben ................................................... 25 A. Die Funktion der Grundrechte beim Schwangerschaftsabbruch ............... 25 I. Abwehrrechte und Schutzpflichten im Vergleich .............................. 25 II. Dogmatische Herleitung der grundrechtlichen Schutzpflicht............. 27 1. Die Schutzpflichtenjudikatur des Bundesverfassungsgerichts .... 28 2. Kritische Stimmen in der Literatur .............................................. 30 a) Die „abwehrrechtliche“ Lösung............................................ 30 b) Menschenwürdekern ............................................................. 31 c) Die staatstheoretische Fundierung ........................................ 32 d) Grundrechtsschranken und Sozialstaatsprinzip .................... 33 e) Stellungnahme und Ergebnis ................................................ 34 B. Die Menschenwürde ................................................................................. 35 I. Vorüberlegungen ................................................................................ 35 II. Ideengeschichtliche Grundlagen der Menschenwürde ....................... 36 1. Die Menschenwürde in der griechischen und römischen Antike ................................................................. 37 2. Die Menschenwürde in der Spätantike und im Mittelalter .......... 38 3. Die Menschenwürde in der Renaissance ..................................... 39 4. Die Menschenwürde in der Aufklärung ...................................... 40 5. Verfassungsrechtliche Rezeption des Menschenwürdebegriffs ........................................................ 41 6. Ideengeschichtliche Prägung der verfassungsrechtlichen Menschenwürde? ......................................................................... 42 III. Rechtscharakter der Menschenwürdegarantie .................................... 43 IV. Inhalt der Menschenwürde ................................................................. 46 1. Schwierigkeiten bei der Konkretisierung der Menschenwürde ... 46 2. Positive Begriffsbestimmung ...................................................... 47 a) Wert- oder Mitgifttheorien ................................................... 47 aa) Christliche Variante ....................................................... 47 bb) Naturrechtlich-idealistische Variante ............................. 48 b) Leistungstheorie.................................................................... 48 c) Anerkennungs- oder Kommunikationstheorie ...................... 49 d) Zwischenergebnis ................................................................. 52 3. Negative Bestimmungsversuche.................................................. 52 a) Objektformel von Dürig ....................................................... 52 b) Präzisierungsversuche des Bundesverfassungsgerichts ........ 53 c) Präzisierungsversuche in der Literatur.................................. 55 4. Stellungnahme und Ergebnis ....................................................... 57 V. Der Schutz des nasciturus durch die Menschenwürde ....................... 59 1. Der Status des nasciturus in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.......................................................... 59 a) Urteil vom 25. Februar 1975................................................. 59 b) Urteil vom 28. Mai 1993 ...................................................... 60 c) Subjektiv- oder objektiv-rechtlicher Grundrechtsschutz des nasciturus ......................................... 61
Inhaltsverzeichnis
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2. Der Status des nasciturus in der Literatur .................................... 61 a) Menschenwürdeträgerschaft ab Vorliegen spezifisch menschlicher Eigenschaften.................................................. 62 aa) Erlebensfähigkeit ........................................................... 62 bb) Überlebensinteresse ....................................................... 67 cc) Ichbewusstsein, Vernunft und Selbstbestimmung.......... 70 dd) Soziale Erkennbarkeit .................................................... 72 ee) Einheit von Leib, Seele und Geist .................................. 73 ff) Zwischenergebnis........................................................... 73 b) Objektiv-rechtlicher Begründungsansatz .............................. 73 aa) Vorwirkung der Menschenwürde in Parallele zum postmortalen Würdeschutz ............................................. 74 bb) Anwartschaftsrecht auf Menschenwürde ....................... 76 cc) Nicht-reziproke Schutzpflicht aufgrund der Potentialität .............................................................. 77 dd) Zwischenergebnis........................................................... 78 c) Menschenwürdeträgerschaft des nasciturus ab einer bestimmten entwicklungsbiologisch bedeutsamen Zäsur ..... 79 aa) Vorüberlegung ............................................................... 79 bb) Menschenwürde bereits mit Befruchtung....................... 79 cc) Menschenwürde ab Nidation.......................................... 83 dd) Menschenwürde ab Individuation .................................. 84 ee) Menschenwürde ab Überlebensfähigkeit ....................... 85 ff) Menschenwürdeträgerschaft des nasciturus ab Geburt .. 87 gg) Zwischenergebnis........................................................... 88 d) Zwischenresümee ................................................................. 88 3. Auslegung des Art. 1 Abs. 1 GG ................................................. 88 a) Grammatikalische Auslegung ............................................... 88 b) Historische Auslegung .......................................................... 90 c) Systematische Auslegung ..................................................... 91 d) Teleologische Auslegung ...................................................... 92 e) Ergebnis ................................................................................ 94 VI. Rechtswirkungen der Menschenwürde.............................................. 94 1. Unantastbarkeit der Menschenwürde .......................................... 94 2. Stufung des pränatalen Würdeschutzes ....................................... 95 3. Ergebnis ..................................................................................... 100 C. Das Recht auf Leben ............................................................................... 101 I. Der materiale Schutzbereich ............................................................ 101 II. Der personale Schutzbereich ............................................................ 101 1. Lebensrecht ab Erlebensfähigkeit oder Überlebensinteresse ..... 101 2. Objektiv-rechtliche Begründung ............................................... 101 3. Der nasciturus als Träger des Lebensrechts ab einer bestimmten entwicklungsbiologisch bedeutsamen Zäsur .......... 102 4. Auslegung des Art. 2 Abs. 2 GG ............................................... 103 a) Grammatikalische Auslegung ............................................. 103 b) Historische Auslegung ........................................................ 104
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D. E.
F.
G.
c) Systematische Auslegung ................................................... 106 d) Teleologische Auslegung.................................................... 106 e) Ergebnis .............................................................................. 107 III. Die Schranke des Lebensrechts ........................................................ 108 1. Das Lebensrecht in der gesetzgeberischen Abwägungsentscheidung ........................................................... 108 2. Stufung des pränatalen Lebensschutzes..................................... 108 3. Ergebnis ..................................................................................... 113 Verhältnis von Menschenwürde und Lebensrecht .................................. 114 I. Entkopplung der personellen Schutzbereiche .................................. 114 II. Entkopplung der materiellen Schutzbereiche ................................... 115 Verbot behinderungsbezogener Diskriminierung gemäß Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG .............................................................................. 118 I. Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG als Grundlage einer staatlichen Schutzpflicht ......................................................... 118 II. Der Gewährleistungsbereich des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG .................. 119 1. Grundrechtsträgerschaft ............................................................ 119 2. Der Begriff der Behinderung ..................................................... 120 3. Benachteiligung „wegen“ einer Behinderung ........................... 121 4. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung behinderungsbezogener Ungleichbehandlung ........................... 122 5. Ergebnis ..................................................................................... 123 III. Zwischenresümee ............................................................................. 123 Kollidierende Rechtsgüter der Schwangeren .......................................... 123 I. Enge oder weite Tatbestandstheorie ................................................. 124 II. Art. 1 Abs. 1 GG .............................................................................. 126 III. Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ....................................................................... 127 IV. Art. 4 Abs. 1 GG .............................................................................. 128 V. Allgemeines Persönlichkeitsrecht/ Selbstbestimmungsrecht ........... 128 VI. Art. 2 Abs. 1 GG .............................................................................. 129 VII. Ergebnis ........................................................................................... 130 Grundrechtskoordination ........................................................................ 130 I. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ....................... 130 1. Urteil vom 25.2.1975................................................................. 130 2. Urteil vom 28.5.1993................................................................. 132 II. Maßstab der Schutzmaßnahmen....................................................... 133 1. Evidenzkontrolle oder Untermaßverbot .................................... 133 2. Zwischen Untermaß- und Übermaßverbot ................................ 134 III. Betrachtung der gegenüberstehenden Rechtspositionen .................. 136 1. Menschenwürde der Mutter versus Menschenwürde und Lebensrecht des nasciturus ................................................. 136 2. Selbstbestimmungsrecht/Allgemeines Persönlichkeitsrecht der Mutter versus Lebensrecht des nasciturus ........................... 137 3. Gewissensfreiheit versus Lebensrecht des nasciturus ............... 137 4. Handlungsfreiheit versus Recht auf Leben ................................ 137
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5. Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit der Mutter versus Lebensrecht des nasciturus ............................................. 138 a) Lebenskollision ................................................................... 138 b) Körperliche Unversehrtheit der Mutter versus Lebensrecht des nasciturus ................................................. 139 c) Beeinflussung der Abwägungsentscheidung durch Art. 6 Abs. 2 GG ....................................................... 140 d) Postnatale Lebensfähigkeit als Komponente der Abwägungsentscheidung .................................................... 141 e) Unabhängigkeit des Schutzmaßes vom Alter der Schwangerschaft ................................................................. 141 H. Ergebnis zum 2. Kapitel .......................................................................... 142 3. Kapitel: Einfachgesetzliche Regelung des Spätabbruchs ......................... 143 A. Überblick über die strafrechtliche Rechtslage......................................... 143 I. Tatbestand ........................................................................................ 143 1. Tatobjekt .................................................................................... 143 2. Tathandlung ............................................................................... 144 3. Vorsätzliche Tatbegehung ......................................................... 144 II. Abgrenzung: Schwangerschaftsabbruch und Totschlag ................... 144 1. Mensch versus Leibesfrucht ...................................................... 145 2. Exkludierende Abgrenzung ....................................................... 147 3. Grundlegende Entscheidungen .................................................. 149 a) Oldenburger Fall ................................................................. 149 b) Zittauer Fall ........................................................................ 150 4. Einschränkung der Lebenserhaltungspflicht des Arztes ............ 151 III. Rechtfertigung von Spätabbrüchen bei Vorliegen der medizinisch-sozialen Indikation gemäß § 218a Abs. 2 StGB .......... 152 1. Lebensgefahr ............................................................................. 152 2. Schwerwiegende Gesundheitsgefahr ......................................... 153 3. Konkrete Gefahr ........................................................................ 156 4. Fallgruppen ................................................................................ 156 5. Subsidiarität des Schwangerschaftsabbruchs............................. 157 6. Einwilligung der Schwangeren .................................................. 158 7. Vornahme durch einen Arzt ...................................................... 158 8. Indikation nach ärztlicher Erkenntnis ........................................ 159 IV. Fehlende Rechtsprechung von Seiten der Strafgerichte ................... 159 B. Beratung .................................................................................................. 161 I. Medizinische Beratung versus psychosoziale Beratung ................... 161 1. Beratende Personen ................................................................... 161 2. Inhaltliche Schwerpunkte .......................................................... 161 3. Beratungsbeziehung................................................................... 163 4. Beratungsmethoden ................................................................... 163
XIV
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II. Beratungssituation nach Wegfall der embryopathischen Indikation und vor dem Bundestagsbeschluss vom 13. Mai 2009 .. 164 1. Ärztliche Beratungspflichten ..................................................... 164 a) Beratungssituation bei der allgemeinen Schwangerschaftsbetreuung ............................................... 164 b) Beratungssituation bei Diagnose- und Indikationsstellung.............................................................. 166 c) Beratungssituation vor Abbruch der Schwangerschaft ....... 167 2. Anspruch der Schwangeren auf psychosoziale Beratung gemäß § 2 SchKG...................................................................... 167 3. Unzureichende Beratung in der Praxis ...................................... 168 4. Die Bedeutung psychosozialer Beratung ................................... 169 III. Beratungssituation nach dem Bundestagsbeschluss vom 13. Mai 2009 ............................................................................ 170 1. Informationsmaterialien der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung ................................................. 170 2. Ärztliche Pflichten ..................................................................... 171 3. Mutterschaftsrichtlinien und Mutterpass ................................... 173 4. Kapitel: Verfassungsmäßigkeit der Rechtslage zum Spätabbruch ......... 175 A. Grundrechtskoordination des § 218a Abs. 2 StGB auf den ersten Blick ................................................................................ 175 B. Verfassungsmäßigkeit des § 218a Abs. 2 StGB auf den zweiten Blick – Schwächen der gesetzlichen Regelung ................................................... 176 I. Menschenwürde und Rechtmäßigkeit des indizierten Abbruchs...... 176 II. Menschenwürde und schmerzhafte Geburt ...................................... 179 1. Schmerzempfinden des Fötus .................................................... 179 2. Fetozid ....................................................................................... 180 III. Menschenwürde und Abtreibungsautomatismus .............................. 182 1. Embryopathisch unterlegte medizinisch-soziale Indikation ...... 182 a) Embryopathische und medizinisch-soziale Indikation im Vergleich ....................................................................... 182 b) Ergebnis .............................................................................. 186 2. Sonderfall: Abbruch wegen tödlicher Erkrankung des Fötus .... 186 3. Bestehender Abbruchsautomatismus in der Praxis.................... 187 4. Bewertung der bereits getroffenen Schutzmaßnahmen ............. 189 a) Beratungs- und Vermittlungspflicht des Arztes .................. 189 aa) Beratungspflicht versus freiwilliges Beratungsangebot......................................................... 190 bb) Beratungs- und Vermittlungspflicht des Arztes ........... 194 b) Unterstützung der Beratungssituation durch Informationsmaterialien der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung ................................................ 196 c) Überarbeitung der Mutterschaftsrichtlinien und des Mutterpasses .......................................................... 196 d) Bedenkzeit .......................................................................... 197
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e) Regelungsort ....................................................................... 201 f) Ergebnis .............................................................................. 203 5. Weitere Regelungsmängel ......................................................... 203 a) Bestimmtheit, Kompetenz und Kontrollierbarkeit .............. 203 b) Kind-als-Schaden-Rechtsprechung ..................................... 207 aa) Voraussetzungen für eine Ersatzpflicht des Arztes ...... 207 bb) Einwände des Bundesverfassungsgerichts ................... 208 cc) Urteil des BGH vom 18. Juni 2002 .............................. 209 dd) Erstattungsfähigkeit des Unterhalts .............................. 210 ee) Erfolgsaussichten der Klagen Rechtsprechungsübersicht ............................................ 210 ff) Änderungsbedarf? ........................................................ 215 c) Begrenzung der Pränataldiagnostik .................................... 216 d) Statistik ............................................................................... 217 aa) Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht.................. 217 bb) Was wird bisher statistisch erfasst? .............................. 218 cc) Änderungsbedarf .......................................................... 218 dd) Bedenken gegen eine Erweiterung der Statistik ........... 222 ee) Stellungnahme.............................................................. 223 e) Dokumentation des Arztes .................................................. 223 IV. Menschenwürde und gleichbleibender einfachgesetzlicher Schutz des nasciturus ....................................................................... 225 1. Strengere Voraussetzungen bei Spätabbrüchen ......................... 225 2. Wiedereinführung einer befristeten embryopathischen Indikation................................................................................... 226 3. Anwendung der §§ 211 ff. ab extrauteriner Lebensfähigkeit .... 230 4. Ergebnis ..................................................................................... 231 V. Fazit .................................................................................................. 231 C. Änderungsbedürftigkeit des § 12 Abs. 2 SchKG .................................... 231 D. Ergebnis .................................................................................................. 235 Anhang ............................................................................................................... 239 Literaturverzeichnis .......................................................................................... 279
Einführung
A. Die Problematik des Spätabbruchs im gesellschaftlichen Diskurs Späte Schwangerschaftsabbrüche, die zu einem Zeitpunkt stattfinden, zu dem die Föten bereits potentiell extrauterin lebensfähig sind, stoßen in der Gesellschaft, mehr noch als Abbrüche zu früheren Schwangerschaftszeitpunkten, auf Empörung und werden intensiv diskutiert. Zum einen werden ethisch-moralische Bedenken gegenüber der Tötung eines lebensfähigen, erlebensfähigen und möglicherweise bereits schmerzempfindlichen Kindes geltend gemacht.1 Zum anderen stützt sich die Empörung aber auch auf die Gründe, die zu einem Schwangerschaftsspätabbruch führen. Spätabbrüche werden häufig dadurch veranlasst, dass im Rahmen einer pränataldiagnostischen Untersuchung eine Fehlbildung des Kindes festgestellt wird. Nach der Regelung des § 218a Abs. 2 StGB sind diese Abbrüche gerechtfertigt, wenn die Schwangere dadurch in Suizidgefahr gerät oder schwere Depressionen bekommt. Im Gegensatz zu Schwangerschaftsabbrüchen, die durch eine physische Gesundheitsgefahr der Mutter wie Gebärmutterhalskrebs indiziert sind und bei denen neben dem Überleben der Mutter auch das Überleben des Kindes erwünscht ist, wird der Fötus bei embryopathisch motivierten Abbrüchen gezielt getötet. Stoßen medizinisch indizierte (Spät-)Abbrüche weithin auf Akzeptanz, wird bei embryopathisch motivierten Abbrüchen eine Selektion behinderter Föten befürchtet.2 Berichte aus der Praxis stützen diese Befürchtungen. Gynäkologen und Humangenetiker berichten, dass häufig allein die Schwere der Behinderung des Kindes über einen Abbruch entscheide und das zusätzliche Erfordernis der schwerwiegenden Gesundheitsgefahr für die Mutter zwar im Gesetz stehe, in der Praxis aber häufig nur unzureichend angewendet werde. Bezweifelt wird auch, dass eine Behinderung des Kindes überhaupt eine schwerwiegende Gefahr für den psychischen Gesundheitszustand oder eine Suizidgefahr auslösen könne. Mit dem Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz vom 21. August 19953, hat sich die Problematik verschärft. Nach § 218a Abs. 3 StGB i.d.F. des
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Vgl. nur Merkel, Früheuthanasie, S. 461. Vgl. nur Wewetzer, Hessisches Ärzteblatt 2009, S. 398. BGBl. I S. 1050.
A. B. Dolderer, Menschenwürde und Spätabbruch, DOI 10.1007/978-3-642-22468-3_1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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Einführung
Schwangeren- und Familienhilfegesetzes vom 27. Juli 19924 durften Schwangerschaftsabbrüche bei Vorliegen einer embryopathischen Indikation nur innerhalb von 22 Wochen vorgenommen werden. Durch das Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz entfiel die embryopathische Indikation. Eine Vielzahl der Abbrüche, die auf der Grundlage der embryopathischen Indikation vorgenommen werden konnten, werden nun von der unbefristet geltenden medizinisch-sozialen Indikation des § 218a Abs. 2 StGB erfasst. Spätschwangerschaftsabbrüche sind für alle Beteiligten belastender als frühe Abbrüche. Für die Schwangere ist nicht nur die physische, sondern auch die psychische Belastung groß, da sie im Verlauf der Schwangerschaft eine immer enger werdende Beziehung zu ihrem Kind aufgebaut hat. Geht man von einer steigenden Schmerzempfindlichkeit des nasciturus aus, so wird ein Spätabbruch für ihn wesentlich qualvoller sein als ein früher Abbruch. Aber auch für die Ärzte, die, um ein Überleben des Kindes auszuschließen, zum Teil eine gezielte Tötung des Fötus im Mutterleib durch Fetozid vornehmen, stellt ein Spätabbruch eine große psychische Belastung dar. Daher verwundert es nicht, dass die Initiative zu einer Änderung der Rechtslage von der Ärzteschaft ausging. In vielfachen Stellungnahmen forderten die Ärzte unter anderem die Verbesserung der Beratungssituation der Schwangeren, die Einführung einer Bedenkzeit zwischen Diagnose und Abbruch, eine gesonderte statistische Erfassung embryopathisch motivierter Abbrüche, den Ausschluss des Weigerungsrechts des Arztes an einem Schwangerschaftsabbruch mitzuwirken auf Fälle einer akuten Lebensgefahr für die Schwangere zu beschränken und Spätabbrüche nur bei schwersten Erkrankungen des Fötus zuzulassen.5 Die Forderungen der Ärzte entfachten einen breit angelegten gesellschaftlichen und politischen Diskurs. Angetrieben und emotionalisiert wurde der Diskurs auch durch die Medien, die von den Fällen des Oldenburger Babys Tim im Jahr 19976 und dem Zittauer Fall7 berichteten. In beiden Fällen überlebten die Kinder ihre späte Abtreibung. Auf intensivmedizinische Maßnahmen zur Rettung wurde allerdings verzichtet. Im Zittauer Fall drückte der Chefarzt dem lebenden Kind sogar Mund und Nase zu, um das Sterben zu beschleunigen. Stellungnahmen von Verbänden, die Schwangerschaftskonfliktberatung anbieten, wie beispielsweise der Sozialdienst katholischer Frauen (SkF),8 pro familia,9 donum vitae,10 die Evangelische Frauenhilfe (EFHiD) und die Frauenarbeit in
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7 8 9 10
BGBl. I S. 1398. BÄK, DÄBl. 1998, S. A-3013 ff.; DGGG, Positionspapier 2003; DGGG, Positionspapier 2004, BÄK/DGGG 2006, S. 115 ff. Einstellungsverfügung der StA Oldenburg vom 3. 5. 1999, NStZ 1999, S. 461 f.; Einstellungsverfügung der StA Oldenburg ohne Datum, versandt am 14. 5. 2003, ZfL 2003, S. 99 ff.; AG Oldenburg, Strafbefehl v. 29. 3. 2004, ZfL 2004, S. 117 f. LG Görlitz, Urteil v. 7. 6. 2002, ZfL 2003, S. 87 ff.; BGHSt, Urteil v. 20. 5. 2003, ZfL 2003, S. 83 ff. SkF, Stellungnahme 2005. pro familia, Ausschuss-Drs. 16(13)439e. donum vitae, Ausschuss-Drs. 16(13)439h.
A. Die Problematik des Spätabbruchs im gesellschaftlichen Diskurs
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Deutschland (EFD),11 sowie Stellungnahmen der Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung e.V.,12 der Arbeiterwohlfahrt, dem Paritätischen Wohlfahrtsverband13 und dem Netzwerk gegen Selektion durch Pränataldiagnostik14 wurden abgegeben. Allen gemeinsam war das Ziel, die Zahl der Spätabtreibungen zu verringern. Unterschiedlich sind jedoch die vorgeschlagenen Mittel und Wege, um das Ziel zu erreichen. Die öffentliche Diskussion führte vermehrt zu Anträgen und Debatten im Bundestag.15 Im Zentrum der neueren Diskussion standen drei Punkte: 1) Die Verbesserung von Aufklärung und Beratung der Frau, 2) die Einhaltung einer Bedenkzeit von drei Tagen zwischen Diagnose und Indikationsstellung und 3) die Verbesserung der Statistik.16 Am 13. Mai 2009 wurden vom Bundestag Änderungen des Schwangerschaftskonfliktgesetzes und einige flankierende Maßnahmen beschlossen.17 Dadurch wurde die Beratungssituation der Schwangeren nach einem pathologischen Befund in der Pränataldiagnostik verbessert und eine Bedenkzeit eingeführt. Eine verbesserte statistische Erfassung erzielte demgegenüber keine Mehrheit. An der Erlaubtheit von Spätabbrüchen bei Vorliegen einer medizinischsozialen Indikation ändert die neue Rechtslage aber nichts. Der Kern der bestehenden Rechtslage wurde nicht angetastet. Der Bundestagsbeschluss stieß überwiegend auf positive Resonanz. Die Bundesärztekammer und die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe begrüßten erwartungsgemäß den Bundestagsbeschluss. Wie zu erwarten war, stieß der Beschluss auch bei den Vertretern der evangelischen und katholischen Kirche auf positive Resonanz. Beide hatten sich im Vorfeld bereits für eine Verbesserung der Beratungssituation und eine Mindestbedenkzeit eingesetzt.18 11 12 13 14 15
16 17 18
EFD/EFHiD, Positionspapier 2007. Lebenshilfe, Ausschuss-Drs. 16(13)439g. AWO/Paritätischer Wohlfahrtsverband/pro familia, Stellungnahme 2002. Netzwerk gegen Selektion durch PND 2004, 2006. Beispielhaft angeführt seien die folgenden Anträge: CDU/CSU, „Vermeidung von Spätabtreibungen“, BT-Drs. 15/3948; SPD/Bündnis 90/Die Grünen, „Psychosoziale Beratungsangebote bei Schwangerschaftsabbrüchen nach medizinischer Indikation ausbauen“, BT-Drs. 15/4148; Gesetzentwurf zur Änderung des Schwangerschaftskonfliktgesetzes ausgehend von Johannes Singhammer in: BT-Drs. 16/11106; Gesetzentwurf ausgehend von Kerstin Griese in: BT-Drs. 16/11347; Gesetzentwurf ausgehend von Ina Lenke in: BT-Drs. 16/11330; Antrag ausgehend von Christel Humme in: BT-Drs. 16/11342. Vgl. den gruppenübergreifenden Gesetzentwurf im Anhang 1. Vgl. 3. Kapitel B III. Der vormalige Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken ZdK, Prof. Dr. Hans Joachim Meyer hatte zuvor die Abgeordneten aufgefordert, den Gruppenantrag der CDU/CSU und SPD zu unterstützen und begrüßt nun den Bundestagsbeschluss. Vgl. Meyer, http://www.katholisch.de/25759.html; unterstützt wurde dieser Antrag auch von Seiten des Diözesanrates der Katholiken der Erzdiözese München und Frei-
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Einführung
Allerdings betonte der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Erzbischof Zollitsch, dass die Änderungen nur einen kleinen Fortschritt darstellten. Die katholische Kirche stünde Abtreibungen generell ablehnend gegenüber, so dass die Gesetzesänderung nicht die von der Kirche gewünschte Lösung beinhalte. Spätabtreibungen seien zudem eine besonders brutale Form der Tötung.19 Nicht ausreichend erscheint der Bundestagsbeschluss auch Lebensrechtsgruppen wie der Aktion Lebensrecht für Alle (ALFA).20 Demgegenüber greift der Bundestagsbeschluss nach Auffassung der Linksfraktion zu weit in das Selbstbestimmungsrecht der Frauen ein. Die Grundrechte der Frauen auf Unantastbarkeit ihrer Würde, auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit und auf Gewissensfreiheit würden durch das repressive Abtreibungsrecht ohnehin schon stark eingeschränkt, so dass weitere Verschärfungen des Abtreibungsrechts abzulehnen seien.21 Diese Aussagen legen die Vermutung nahe, dass die Diskussionen im Bundestag durch die Neuerungen des Schwangerschaftskonfliktgesetzes lediglich ein vorläufiges Ende gefunden haben.
B. Definition: Spätabbruch Der Begriff des Schwangerschaftsspätabbruchs wird nicht einheitlich verwendet. Zum Teil werden als Spätabbrüche bereits alle Schwangerschaftsabbrüche bezeichnet, die nach der 12. Schwangerschaftswoche post conceptionem (p.c.) vorgenommen werden. Anknüpfungspunkt für diese zeitliche Differenzierung ist die Regelung des § 218a StGB. Gemäß § 218a Abs. 1 StGB ist ein Schwangerschaftsabbruch tatbestandslos, wenn er innerhalb der ersten 12 Wochen auf Verlangen der Schwangeren von einem Arzt durchgeführt wird und die Schwangere dem Arzt durch eine Bescheinigung nachgewiesen hat, dass sie sich mindestens drei Tage vor dem Eingriff von einer Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle hat beraten lassen. Innerhalb der ersten 12 Schwangerschaftswochen erklärt Abs. 3 darüber hinaus einen Abbruch bei Vorliegen einer kriminologischen Indikation für gerechtfertigt. Schwangerschaftsabbrüche nach der 12. Schwangerschaftswoche
19
20 21
sing und der EKD. Vgl. Diözesanrat der Katholiken, Faltblatt 2009; Reimers (EKD), Votum 2008. Zollitsch, http://www.katholisch.de/21767.html; bereits in der Enzyklika Evangelium vitae mahnt Papst Johannes Paul II zu besonderer Aufmerksamkeit hinsichtlich der Pränatalen Diagnostik. Solange sie eine frühzeitige Therapie zum Ziel habe und keine Gefahren für das Kind und die Mutter berge, sei sie sittlich erlaubt. Werde sie dahingegen vorgenommen, um selektive Abtreibungen zu ermöglichen, so sei sie als höchst verwerflich einzustufen. Vgl. Johannes Paul II, Enzyklika Evangelium vitae 1995, S. 78. Darüber hinaus wird es befürwortet, Gesetzesvorschläge zu unterstützen, die zwar kein vollständiges Verbot von Abtreibungen vorsehen, aber zumindest den Schaden begrenzen. Vgl. Johannes Paul II, Enzyklika Evangelium vitae 1995, S. 91. ALfA, Stellungnahme 2009. BT-Drs. 16/11377, S. 5.
C. Angabe der Schwangerschaftsdauer
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sind nur bei Vorliegen einer medizinisch-sozialen Indikation gemäß § 218a Abs. 2 StGB gerechtfertigt. Die hier zu behandelnde Problematik des Spätabbruchs knüpft nicht an die zeitliche Differenzierung des § 218a StGB an. Unter einem Spätabbruch ist vielmehr ein Schwangerschaftsabbruch zu verstehen, der zu einem Zeitpunkt stattfindet, zu dem der nasciturus bereits potentiell extrauterin lebensfähig ist. Als frühester Zeitpunkt für die extrauterine Lebensfähigkeit wird die 20. Schwangerschaftswoche post conceptionem (p.c.) angeführt. Nach der gemeinsamen Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin, der Deutschen Gesellschaft für Perinatale Medizin und der Gesellschaft für Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin „Frühgeburt an der Grenze der Lebensfähigkeit des Kindes“ nimmt nach 20 vollendeten Schwangerschaftswochen p.c. bei guter neonatologischer Versorgung die Rate überlebensfähiger Neugeborener kontinuierlich zu.22 Von der 20.-21. Schwangerschaftswoche p.c. steigt die Überlebenschance behandelter Frühgeborener auf bis zu 50 % an, wobei 20 bis 30 % der überlebenden Kinder an schwerwiegenden Gesundheitsstörungen leiden. Frühgeburten ab der 22. Schwangerschaftswoche p.c. überleben bei Behandlung in 60 % der Fälle.23
C. Angabe der Schwangerschaftsdauer Der Gesetzgeber stellt bei den Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch gemäß § 218a Abs. 1 Nr. 3, Abs. 4 S. 1 StGB bei der Altersberechnung der Schwangerschaft auf den Zeitpunkt der Empfängnis ab (Altersberechnung post conceptionem, p.c.). Der Arzt hingegen knüpft bei der Berechnung der Schwangerschaftsdauer an den ersten Tag der letzten Regelblutung an (Altersberechnung post menstruationem, p.m.). Der Eisprung findet meist in der Mitte von zwei Zyklen, ungefähr zwischen dem 10. und 18. Zyklustag statt. Regelmäßig besteht daher zwischen den beiden Berechnungsmethoden eine Differenz von zwei Wochen. Die Altersangabe p.m. ist um ca. zwei Wochen höher als die Altersberechnung p.c. Ein Schwangerschaftsalter von 14 Wochen p.m. bedeutet somit, dass 12 Wochen seit der Empfängnis vergangen sind.24 Das Schwangerschaftsalter wird im Folgenden, sofern nicht anders gekennzeichnet, entsprechend der Zählweise der §§ 218 ff. StGB in Schwangerschaftswochen p.c. angegeben.
22
23 24
AMWF-Leitlinien Register Nr. 024/019, S. 6; im Jahr 2004 ging die DGGG in ihrem Positionspapier davon aus, dass ein Überleben des Kindes erst aber der 22-24 Woche p.c. und einem Geburtsgewicht von 500 g möglich sei. Vgl. DGGG, Positionspapier 2004, S. 9. AMWF-Leitlinien Register Nr. 024/019, S. 6. Kröger, in: LK-StGB, Vor §§ 218 ff. Rn. 46.
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Einführung
D. Häufigkeit Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes erfolgten im Jahr 2009 insgesamt 110 694 Schwangerschaftsabbrüche. 3200 Schwangerschaftsabbrüche wurden auf der Grundlage der medizinisch-sozialen Indikation des § 218a Abs. 2 StGB vorgenommen, was nur 2,9 % aller Schwangerschaftsabbrüche entspricht. Zwischen der 20. und 23. Schwangerschaftswoche p.c. wurden 451, nach der 22. Schwangerschaftswoche p.c. 237 Abbrüche vorgenommen.25 Zum Teil wird aber von einer erheblichen Dunkelziffer ausgegangen, die daraus resultieren soll, dass die Ärzte ihrer Meldepflicht aus Angst vor einem Ermittlungsverfahren und wegen des Widerspruchs zu ihrem Berufsethos nicht nachkommen.26 Wernstedt stützt ihre Spekulation auf die Anzahl der Anfragen nach einem späten Schwangerschaftsabbruch am Universitätsklinikum Erlangen. Im Zeitraum von April 2003 bis Oktober 2004 wurden 17 Anfragen nach Spätabbrüchen gestellt. Geht man von 12 Anfragen pro Jahr aus und veranschlagt diese Zahl für alle 35 Universitätskliniken mit Kliniken für Frauenheilkunde, so kommt man im Jahr auf etwa 420 Fälle, bei denen nicht immer eine Indikation gestellt wird. Krankenhäuser der Regel- und Grundversorgung sowie niedergelassene Gynäkologen bleiben bei dieser Zahl noch unberücksichtigt. Für realistisch hält sie daher die Vornahme von 1300 Spätabbrüchen pro Jahr.27
E. Zielsetzung und Vorgehensweise Die geltende Rechtslage ist von einem gesellschaftlichen Konsens weit entfernt. Ziel dieser Arbeit ist es zu überprüfen, ob der Gesetzgeber durch die geltende Rechtslage und Rechtswirklichkeit einer eventuell bestehenden verfassungsrechtlichen Schutzpflicht gegenüber dem nasciturus in ausreichendem Maße nachkommt, ob weitergehende Schutzmaßnahmen getroffen werden müssen, wie das beispielsweise die Kirchen oder die ALfA fordern, oder ob der Staat möglicherweise durch die geltende Regelung zu stark in die Grundrechte der Schwangeren eingreift, wie es beispielsweise die Linksfraktion vertritt. Im ersten Kapitel der Arbeit sollen medizinische Grundlagen erarbeitet werden, die für das Verständnis der weiteren Arbeit unerlässlich sind. Zunächst wird die biologische Entwicklung des nasciturus und dessen Schmerzempfindlichkeit erörtert. Nähere Betrachtung findet auch die Pränatale Diagnostik, da sie häufig die Ursache für einen Spätschwangerschaftsabbruch bildet. Schließlich werden die Methoden des späten Schwangerschaftsabbruchs denen des frühen Abbruchs gegenübergestellt.
25 26 27
Statistisches Bundesamt, Schwangerschaftsabbrüche 2009. Tröndle, FS Müller-Dietz, S. 922; Eberbach verweist darauf, dass die Zahlenangaben höchst widersprüchlich sind. Vgl. Eberbach, in: Römelt, Spätabbrüche, S. 15. Wernstedt, in: Wewetzer/Wernstedt, Spätabbruch der Schwangerschaft, S. 178.
E. Zielsetzung und Vorgehensweise
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Im zweiten Kapitel werden zunächst die verfassungsrechtlichen Maßstäbe herausgearbeitet, anhand derer zu überprüfen ist, ob der Staat seiner eventuell gegenüber dem ungeborenen Leben bestehenden Schutzpflicht in ausreichendem Maße nachkommt. Im Zentrum der Betrachtung stehen die Menschenwürde und das Lebensrecht des nasciturus. Zunächst ist die Frage zu klären, ob und wie der nasciturus durch diese verfassungsrechtlichen Normen geschützt wird. Insbesondere ist zu erörtern, ob mit fortschreitender Entwicklung die Schutzbedürftigkeit des nasciturus zunimmt, so dass in der Spätphase der Schwangerschaft erhöhte Anforderungen an einen Schwangerschaftsabbruch zu stellen wären. Da jegliche Einschränkung der Abbruchsmöglichkeiten in die Grundrechte der Schwangeren eingreift, müssen die kollidierenden Grundrechte der Schwangeren den Rechten des nasciturus gegenübergestellt und im Rahmen einer praktischen Konkordanz zum Ausgleich gebracht werden. Im dritten Kapitel wird die einfachgesetzliche Ebene in den Blick genommen. Nach einem kurzen Überblick über den Tatbestand des § 218 StGB wird zunächst eine Abgrenzung zu den Tötungsdelikten vorgenommen. Im Zentrum dieses Kapitels steht anschließend die Erörterung der Voraussetzungen des § 218a Abs. 2 StGB. Ausführlich dargestellt werden soll in diesem Kapitel auch die Beratungssituation der Schwangeren, die durch verschiedene Richtlinien und nunmehr auch durch das Gendiagnostik- und Schwangerschaftskonfliktgesetz einfachgesetzlich geregelt ist. Im vierten Kapitel wird die einfachgesetzliche Regelung des Spätabbruchs auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüft. Die vom Bundestag am 13. Mai 2009 beschlossenen Änderungen werden anhand der im zweiten Kapitel erarbeiteten verfassungsrechtlichen Maßstäbe gewürdigt. Weitere Regelungslücken und -alternativen werden erörtert.
1. Kapitel: Medizinische Grundlagen
Im ersten Kapitel sollen zunächst einige medizinische Grundlagen geklärt werden, die im hier zu behandelnden Kontext relevant sind. Zunächst wird die biologische Entwicklung des nasciturus sowie dessen Schmerzempfindlichkeit in den Blick genommen. Anschließend wird die pränatale Diagnostik eingehend betrachtet, da Spätabbrüche häufig durch einen pathologischen Befund des Fötus in der Pränataldiagnostik veranlasst werden. Schließlich werden die Methoden des späten Schwangerschaftsabbruchs mit den Abbruchsmethoden in einem frühen Stadium der Schwangerschaft verglichen. Die Kenntnis dieser medizinischen Grundlagen ist unabdingbar für eine adäquate Beurteilung des geltenden Rechts.
A. Biologische Entwicklung des nasciturus und Geburt Ernst Haeckel (1834-1919) entwickelte das Biogenetische Grundgesetz, demzufolge der Mensch während seiner Entwicklung im Mutterleib (Ontogenese) die Entwicklung der Stammesgeschichte (Phylogenese) durchlaufe.1 Zunächst entwickle sich aus einem Zellklumpen quasi ein Fisch, dann ein Lurch. Erst im Anschluss daran werde der nasciturus einem Säugetier ähnlich und verwandle sich schließlich in einen Menschen. Haeckels Biogenetisches Grundgesetz hat das Bewusstsein der Menschen nachhaltig geprägt und wird noch heute von Medizinern zitiert und im Biologieunterricht angeführt. Der australische Philosoph Peter Singer, auf den später noch zurückzukommen ist,2 knüpft immer noch an Haeckels Thesen an. Haeckels Auffassung erwies sich allerdings als nicht haltbar. Die Entwicklung des Kindes während der Schwangerschaft wird heute in drei zeitliche Phasen eingeteilt. Die ersten zwei Schwangerschaftswochen bilden die Phase der Frühentwicklung. Von der Einnistung in den Uterus (Nidation) bis zur neunten Schwangerschaftswoche dauert die Phase der Embryonalzeit. Daran schließt sich die Fetalperiode an, die bis zum Ende der Schwangerschaft andauert. Daran anknüpfend spricht man in der medizinischen Terminologie ab der neunten Schwangerschaftswoche nicht mehr vom Embryo, sondern vom Fötus.
1 2
Vgl. dazu die Ausführungen von: Schlingensiepen-Brysch, ZRP 1992, S. 418. 2. Kapitel B V 2 a) bb).
A. B. Dolderer, Menschenwürde und Spätabbruch, DOI 10.1007/978-3-642-22468-3_2, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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1. Kapitel: Medizinische Grundlagen
Nach juristischer Terminologie entsteht der Embryo mit Befruchtung (Fertilisation). Die Befruchtung ist kein punktförmiges Ereignis, sondern dauert etwa 24 Stunden. Sie beginnt mit dem Eindringen der Samenzelle in die Eizelle und endet mit der Vereinigung der haploiden Chromosomensätze von Ei- und Samenzelle zum diploiden Chromosomensatz des nasciturus. Bereits mit Befruchtung ist die genetische Singularität des Menschen festgelegt.3 Die Zygote beginnt sich zu teilen, während sie sich in Richtung Uterus bewegt. Bis zum Acht-Zell-Stadium verfügen die Zellen über Totipotenz. Löste man eine der Zellen aus dem Zellverband heraus, so könnte sie sich zu einem vollständigen Embryo entwickeln. Spätestens zwischen dem Acht- und dem 16-Zell-Stadium geht diese Totipotenz aber verloren. Die Zellen können sich nur noch zu unterschiedlichen Zelltypen entwickeln. Man bezeichnet sie daher als pluripotent.4 Drei bis vier Tage später gelangt die mittlerweile vielzellige Kugel, genannt Morula,5 in den Uterus. Die Morula hält sich bis zum sechsten Tag als freie Blastozyste in der Gebärmutterhöhle auf. Die Blastozyste heftet sich am fünften/sechsten Tag nach dem Eisprung an die mütterliche Uterusschleimhaut an. Die freie Blastozyste kollabiert und nistet sich im Bindegewebe ein. Nach 10-14 Tagen ist der Embryoblast eingenistet (Nidation).6 Die Zellen ordnen sich und die Differenzierung von Körperstrukturen beginnt.7 Zunächst gliedert sich der Embryo in zwei epitheliale Zellschichten, den rückwärts liegenden Epiblast und den bauchwärts liegenden Hypoblast. Gegen Ende der zweiten Entwicklungswoche entsteht der so genannte Primitivstreifen. Durch ihn werden zum einen die Achsen des Embryos festgelegt, zum anderen entstehen aus dem Epiblast die drei Keimblätter das Ektoderm, Endoderm und Mesoderm. Mit Ausbildung des Primitivstreifens geht die Fähigkeit zur Mehrlingsbildung verloren (Individuation).8 Nach drei Wochen bildet sich das Blutgefäßsystem. Gegen Ende der dritten Schwangerschaftswoche beginnt der Herzschlauch des Fötus zu pulsieren. Parallel dazu beginnt die Entstehung der Corda dorsalis, um die sich später die Wirbelsäule entwickelt. Aus einer Verdickung des Ektoderms bilden sich Neuralrohr und Neuralleiste, aus denen später die Hirnnerven und Teile des übrigen Nervensystems hervorgehen. In der vierten Entwicklungswoche schließt sich das Neuralrohr am kranialen und am kaudalen Ende des Embryonalkörpers. Das Nervensystem dominiert nun das Wachstum des Embryos.9 Das Gehirn wächst rasch. Aus den drei Keimblättern der Keimscheibe entwickeln sich während der Embryonalperiode alle großen Organsysteme. Nach acht Wochen, am Ende der Embryonalphase, 3 4 5 6 7 8 9
Ausführlich dazu: Rager, in: Rager, Beginn, Personalität und Würde des Menschen, S. 70 ff. Rager, in: Rager, Beginn, Personalität und Würde des Menschen, S. 77. Die Zygote sieht in diesem Stadium aus wie eine Maulbeere und wird daher Morula genannt. Vgl. Sadler, Medizinische Embryologie, S. 56. Rager, in: Rager, Beginn, Personalität und Würde des Menschen, S. 79. Ausführlich dazu: Rager, in: Rager, Beginn, Personalität und Würde des Menschen, S. 86 ff. Rager, in: Rager, Beginn, Personalität und Würde des Menschen, S. 92. Rager, in: Rager, Beginn, Personalität und Würde des Menschen, S. 94.
A. Biologische Entwicklung des nasciturus und Geburt
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sind alle wichtigen Organsysteme angelegt und der Körperumriss hat sich ausgebildet.10 Während die Embryonalphase von Differenzierungen geprägt ist, stehen in der nun folgenden Fetalperiode Wachstum und Reifung im Mittelpunkt.11 Im dritten, vierten und fünften Monat wächst der Fötus rasch in die Länge (ca. 5 cm pro Monat).12 Ab der 15. Schwangerschaftswoche werden die Kindsbewegungen von der Mutter in der Regel deutlich wahrgenommen. Während der letzten zweieinhalb Monate steht die Gewichtszunahme im Vordergrund (ca. 700 g pro Monat).13 Mit der 28. Schwangerschaftswoche sind in der Lunge ausreichend Alveolen und Kapillaren vorhanden, die dem Fötus den Gasaustausch und damit die Sauerstoffaufnahme sowie extrauterines Leben ermöglichen.14 Bei einer intensivmedizinischen Betreuung verschiebt sich der Zeitpunkt der extrauterinen Lebensfähigkeit weiter nach vorne. Als frühester Zeitpunkt für die Lebensfähigkeit wird die 20. Schwangerschaftswoche post conceptionem (p.c.) angeführt. So nimmt gemäß der gemeinsamen Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin, der Deutschen Gesellschaft für Perinatale Medizin und der Gesellschaft für Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin „Frühgeburt an der Grenze der Lebensfähigkeit des Kindes“ nach 20 vollendeten Schwangerschaftswochen p.c. bei guter neonatologischer Versorgung die Rate überlebensfähiger Neugeborener kontinuierlich zu.15 Die reguläre Schwangerschaft dauert durchschnittlich 38 Schwangerschaftswochen.16 Der Mensch wird schließlich hilfsbedürftig und unfertig geboren und ist auf besondere Fürsorge angewiesen. Im Vergleich zu anderen Säugetieren kommt der Mensch als „physiologische Frühgeburt“ zur Welt. Viele Fähigkeiten, die sich bei Säugetieren während der Schwangerschaft entwickeln, reifen beim Menschen erst im ersten Lebensjahr.17 Der Geburtsvorgang wird in drei Abschnitte eingeteilt: Die Eröffnungsperiode, die Austreibungsperiode und die Nachgeburtsperiode. Die Eröffnungsperiode beginnt mit den ersten Geburtswehen. Unter diesen Wehen öffnet sich der Muttermund vollständig. In der Austreibungsperiode wird das Kind unter Presswehen geboren. In der Nachgeburtsperiode werden schließlich die Plazenta und die Eihäute ausgestoßen.18
10 11 12 13 14 15 16 17 18
Kiechle, Gynäkologie und Geburtshilfe, S. 232; Rager, in: Rager, Beginn, Personalität und Würde des Menschen, S. 94. Kiechle, Gynäkologie und Geburtshilfe, S. 234; Sadler, Medizinische Embryologie, S. 121. Sadler, Medizinische Embryologie, S. 121, 123. Sadler, Medizinische Embryologie, S. 121, 125. Sadler, Medizinische Embryologie, S. 269 f. AMWF-Leitlinien Register Nr. 024/019, S. 6. Sadler, Medizinische Embryologie, S. 121. Rager, in: Rager, Beginn, Personalität und Würde des Menschen, S. 110. Hanke, Spätabtreibungen, S. 14 f.
12
1. Kapitel: Medizinische Grundlagen
B. Schmerzempfinden und Leidensfähigkeit des Fötus Die Frage ob, ab wann und in welcher Weise der nasciturus Schmerzen empfinden kann, ist nicht vollständig geklärt und wird kontrovers beurteilt.19 Die Entwicklung des Nervensystems liefert aber bedeutsame Hinweise. Die Schmerzempfindung erfolgt, indem mechanische, thermische und chemische Reize von den freien Nervenendigungen in ein elektrisches Signal übersetzt und an das Rückenmark weitergeleitet werden. Über eine Synapse wird die Information an das Gehirn weitergegeben. Die Schmerzinformationen werden im Thalamus gebündelt und verarbeitet. Anschließend werden diese Informationen an die Hirnrinde weitergeleitet und werden uns dadurch „bewusst“. Die Informationen werden schließlich im Kortex weiterverarbeitet.20 Zwei Schmerzkomponenten sind daher zu unterscheiden. Die Nozizeption, bei der freie Nervenendigungen durch Reize aktiviert werden und die objektiv anhand einer spezifischen Nervenaktivität erfasst werden kann, und der Schmerz als subjektiv empfundene Komponente. Allerdings kann auch nur eine der beiden Komponenten gegeben sein, wie zum Beispiel bei Bewusstlosen. Hier findet Nozizeption statt, das Signal wird aber geblockt. Umgekehrt findet bei Patienten mit Phantomschmerzen keine Nozizeption statt, wobei der Patient dennoch Schmerz empfindet.21 Geht man mit der International Association for the study of pain von der Definition Schmerz als ein subjektives Erlebnis aus, so sind thalamokortikale Verbindungen nötig, um Schmerzen bewusst wahrzunehmen. Die Entwicklung des menschlichen Gehirns und des Rückenmarks beginnt bereits in der dritten Schwangerschaftswoche p.c.22 In der siebten Gestationswoche entwickeln sich die freien Nervenendigungen. Zwischen der 7. und der 14. Gestationswoche zeigen sich die ersten auf Rückenmarksebene verschalteten Schutzreflexe23, die allerdings noch keinen Anschluss an das höhere Zentrale Nervensystem haben. Ab der 18., spätestens aber ab der 23. Schwangerschaftswoche zeigt sich eine Stressreaktion durch Ausschüttung von beispielsweise Cortisol oder ßEndorphinen.24 Dies spricht dafür, dass die Schmerzinformation den Hirnstamm und den Thalamus erreicht hat. Damit der Schmerz aber ins Bewusstsein gelangt, müssen die Informationen über thalamokortikale Fasern in den Kortex gelangen, wo sie verarbeitet werden sollen. Die Hirnrinde des Erwachsenen besteht aus sechs Schichten, die sich beim Fötus bis zur 30. Woche entwickeln. Zu diesem Zeitpunkt finden die Fasern des Thalamus Anschluss an den Kortex. Allerdings beweist diese Entwicklung des Nervensystems nicht, dass eine Schmerzwahrnehmung erst ab der 30. Schwangerschaftswoche möglich ist. 19 20 21 22 23 24
Als frühester Zeitpunkt für die Schmerzempfindlichkeit des Nasciturus wird die 8. Schwangerschaftswoche angegeben. Vgl. Hanke, Spätabtreibungen, S. 28. Brusseau, International Anesthesiology Clinics 2008, p.12. Brusseau, International Anesthesiology Clinics 2008, p.12. Brusseau, International Anesthesiology Clinics 2008, p. 14. Brusseau, International Anesthesiology Clinics 2008, p. 14. Brusseau, International Anesthesiology Clinics 2008, p. 12.
C. Die Pränatale Diagnostik
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Bei hydranzephalischen Kindern, die ohne oder nur mit minimaler Hirnrinde geboren werden, konnte man anhand der Mimik feststellen, dass eine Schmerzempfindung wie bei gesunden Kindern stattfindet.25 Dies spricht für das Bestehen eines rudimentären Bewusstseins, das durch subkortikale Strukturen getragen wird und das es möglich erscheinen lässt, dass ein Fötus in einem frühen Stadium eine Form der Schmerzempfindung besitzt.26 Da der Thalamus etwa um die 20. Woche seine Funktion aufnimmt, ist eine Schmerzwahrnehmung ab der 20. Woche wahrscheinlich.27 Die Durchführung von Messungen am intrauterinen Fötus ist jedoch sehr schwierig, so dass die Frage nach der Schmerzempfindlichkeit des Fötus nicht mit Sicherheit beantwortet werden kann.
C. Die Pränatale Diagnostik Spätschwangerschaftsabbrüche werden häufig dadurch veranlasst, dass bei einer pränatalen Diagnostik eine Erkrankung des nasciturus festgestellt wird. Liegen die Voraussetzungen der medizinisch-sozialen Indikation gemäß § 218a Abs. 2 StGB vor, so kann ein Schwangerschaftsabbruch zeitlich unbegrenzt vorgenommen werden. Die pränatale Diagnostik soll daher im Folgenden genau betrachtet werden. Zur pränatalen Diagnostik zählen alle Untersuchungen, die im Rahmen der Schwangerenvorsorge durchgeführt werden und im Mutterpass aufgeführt sind. Nicht alle pränatalen Diagnosemöglichkeiten sind fester Bestandteil der Schwangerenvorsorge. Insbesondere die invasiven Verfahren, die den Fötus betreffen und zugleich einen nicht unerheblichen Eingriff in den Körper der Schwangeren erfordern, werden vorwiegend nur bei Risikoschwangerschaften angewandt. Die Mutterschaftsrichtlinien enthalten in Abschnitt B einen umfangreichen Katalog möglicher Indikationen für das Vorliegen einer Risikoschwangerschaft, zu denen auch ein erhöhtes Alter der Schwangeren (bei Erstgebärenden über 35 Jahre) und Erkrankungen anderer Familienmitglieder gehören.
I. Pränataldiagnostische Verfahren Die verschiedenen Diagnosemöglichkeiten sollen im Folgenden eingehend dargestellt werden. Dabei wird auch berücksichtigt, zu welchem Zeitpunkt man die jeweiligen Diagnosemöglichkeiten durchführen kann. Vorab ist darauf hinzuweisen, dass die zeitlichen Angaben teils um 1-2 Wochen voneinander abweichen. Die hier dargestellte zeitliche Einschätzung kann daher nur eine ungefähre Vorstellung vermitteln. 25 26 27
Brusseau, International Anesthesiology Clinics 2008, p. 17. Brusseau, International Anesthesiology Clinics 2008, p. 20 f. Rager hält eine Schmerzempfindung ab der 24. Woche für wahrscheinlich. Vgl. Rager, in: Rager, Beginn, Personalität und Würde des Menschen, S. 109.
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1. Kapitel: Medizinische Grundlagen
1. Nicht-invasive Methoden Zunächst werden die nicht-invasiven Diagnoseverfahren eingehend betrachtet. Dazu zählen die Ultraschalluntersuchung, Alpha-Fetoprotein- und Triple-Test sowie die Analyse von fötalen Zellen im mütterlichen Blut. a) Ultraschalluntersuchung aa) Ungezielte Ultraschalluntersuchung Zu den nicht-invasiven Diagnoseverfahren gehört die Ultraschalluntersuchung. Nach Abschnitt A Ziff. 5 der Mutterschaftsrichtlinien28 sind während der gesamten Schwangerschaft drei Ultraschalluntersuchungen vorgesehen. Das erste Screening findet vom Beginn der 9. bis zum Ende der 12. Schwangerschaftswoche p.m. statt. In dieser frühen Sonographie wird zunächst die Leibesfrucht lokalisiert und ihre Größenentwicklung mittels der Messung der ScheitelSteiß-Länge kontrolliert. Darüber hinaus kann man das Alter der Schwangerschaft bestimmen und den Entbindungstermin berechnen, eine Mehrlingsschwangerschaft entdecken und eine Eileiter- oder Bauchhöhlenschwangerschaft ausschließen. Grobe Auffälligkeiten des Embryos können bereits in dieser zeitlichen Phase aufgedeckt werden. Von einem erfahrenen Arzt können bereits in der frühen Schwangerschaft fetale Strukturen wie Herz, Magen, Nieren, Harnblase, Extremitäten, Kopf mit Gesicht, Gehirn und Wirbelsäule gut gesehen und Fehlbildungen festgestellt werden. Die Nackenfaltendicke liefert Hinweise für das Vorliegen einer Chromosomenstörung (z.B. Trisomie 21) des nasciturus.29 Die zweite Sonographie wird von Beginn der 19. bis zum Ende der 22. Schwangerschaftswoche p.m. durchgeführt. Dabei werden die Plazentalage und -struktur, die Fruchtwassermenge sowie die Kindslage bestimmt. Das Wachstum und die Herztätigkeit des Ungeborenen werden kontrolliert, Kopf, Abdomen und Femur gemessen. Darüber hinaus können fetale Fehlbildungen erkannt und der Geburtstermin überprüft werden.30 Die späte Sonographie, die von Beginn der 29. bis zum Ende der 32. Schwangerschaftswoche p.m. vorgenommen wird, dient der Überprüfung des regelrechten Wachstums und der Lage des Fötus. Plazenta, Gebärmutter und Fruchtwassermenge werden gemessen. Nur selten werden dabei Erkrankungen des Fötus entdeckt, die nicht bereits zuvor festgestellt wurden.31 28
29
30 31
Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen über die ärztliche Betreuung während der Schwangerschaft und nach der Entbindung („MutterschaftsRichtlinien“) i.d.F. vom 10. Dezember 1985, zuletzt geändert am 6. August 2009, veröffentlicht im Bundesanzeiger 2009, Nr. 174, S. 3921 und am 19. November 2009 in Kraft getreten. Ausführlich zu den Möglichkeiten des 1. Screenings: BZgA, Repräsentativbefragung 2006, S. 54 f.; Feldhaus-Plumin, Versorgung und Beratung zu PND, S. 39; S. 73; Kiechle, Gynäkologie und Geburtshilfe, S. 287. Feldhaus-Plumin, Versorgung und Beratung zu PND, S. 40; Goerke/Valet, Gynäkologie und Geburtshilfe, S. 73; Kiechle, Gynäkologie und Geburtshilfe, S. 288. Feldhaus-Plumin, Versorgung und Beratung zu PND, S. 40; Kiechle, Gynäkologie und Geburtshilfe, S. 290.
C. Die Pränatale Diagnostik
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Visuell erfassbar sind beim Ultraschall beispielsweise Gestaltdefekte, Bauchwandbrüche, Zwerchfellhernien, Verlagerungen der Herzachse, Lungendysplasie, Agnesie der Nieren, Zystennieren, Phokomelien und Obstruktionen im MagenDarmtrakt.32 bb) Gezielte Ultraschalluntersuchung Zu differenzieren ist zwischen der ungezielten Ultraschalldiagnostik und der gezielten Fehlbildungsdiagnostik.33 Kommt bei den Basisuntersuchungen, die Bestandteil der Mutterschaftsvorsorge sind, der Verdacht auf, dass der Fötus missgebildet ist, so wird die Schwangere an einen höhergradig qualifizierten Diagnostiker (DEGUM-Stufe II) und bedarfsweise an ein Ultraschallzentrum (DEGUMStufe III) überwiesen.34 Im Anschluss an die erste von den Mutterschaftsrichtlinien empfohlene Ultraschalluntersuchung wird häufig ein so genanntes Ersttrimesterscreening von Pränataldiagnostikern (DEGUM-Stufe II und III) durchgeführt. Dazu wird die Nackenfalte des nasciturus gemessen und das Blut der Schwangeren auf bestimmte Hormon- und Eiweißwerte untersucht. Aus Protein- und Hormonbefunden in Kombination mit dem Alter der Mutter und dem Nachweis eines Nackenödems beim Fötus durch Ultrasonographie kann das Risiko für ein DownSyndrom und andere Chromosomenabweichungen abgeschätzt werden.35 cc) Doppler-Ultraschall Ein Spezialultraschall über die Bauchdecke ist der so genannte Doppler-Ultraschall, mit dem die Durchblutung der Nabelschnur und wichtiger Blutgefäße des nasciturus gemessen werden kann. Dadurch kann festgestellt werden, ob das Kind optimal mit Nährstoffen und Sauerstoff versorgt wird und das Herz sich ordnungsgemäß entwickelt. Da beim Doppler-Ultraschall eine 10-fach höhere Energie eingesetzt wird als beim normalen Ultraschall, sollte er nicht in der frühen Schwangerschaft angewendet werden.36 dd) Diagnostische Sicherheit Viele Fehlbildungen sind im Ultraschallschnittbild schwierig zu erkennen. Die Erscheinungsformen gleicher Anomalien sind aufgrund unterschiedlicher Ausprägungen und Schweregrade sehr variabel. Eine adipöse Bauchdecke der Mutter, geringe oder stark vermehrte Fruchtwassermengen oder eine ungünstige Lage des Fötus können die Diagnose zusätzlich erschweren.37 Die diagnostische Sicherheit 32 33 34
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Hepp, in: Schumann, Verantwortungsbewusste Konfliktlösungen, S. 66. Schmidt-Recla, in: Schumann, Verantwortungsbewusste Konfliktlösungen, S. 85. Feige/Rempen/Würfel/Jawny/Rohde, Frauenheilkunde, S. 398; Feldhaus-Plumin, Versorgung und Beratung zu PND, S. 39, 40, 52; Hillmer, Patientenstatus und Rechtsstatus von Frau und Fötus, S. 37. BZgA, Repräsentativbefragung 2006, S. 56; Feldhaus-Plumin, Versorgung und Beratung zu PND, S. 39; Hepp, in: Schumann, Verantwortungsbewusste Konfliktlösungen, S. 66. BZgA, Repräsentativbefragung 2006, S. 54 f. Feige/Rempen/Würfel/Jawny/Rohde, Frauenheilkunde, S. 397 ff.
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1. Kapitel: Medizinische Grundlagen
beträgt bei einem Geübten dennoch bis zu 90 %.38 Häufig reichen allerdings Ultraschallergebnisse allein nicht aus. Die Auffälligkeiten führen zu invasiven Untersuchungen wie der Amniozentese. ee) Ultraschall als Routineuntersuchung Die Ultraschalluntersuchung wird mittlerweile als Routineuntersuchung in der ärztlichen Schwangerschaftsbegleitung angesehen.39 Eine repräsentative Befragung Schwangerer zum Thema Pränataldiagnostik der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung aus dem Jahr 2006 ergab, dass fast alle Frauen die drei Ultraschalluntersuchungen durchführen lassen. 70,4 % der Schwangeren nahmen sogar mehr als drei Ultraschalluntersuchungen in Anspruch, um Fehlbildungen des Kindes ausschließen zu können.40 In der Praxis werden daher wesentlich mehr Ultraschalluntersuchungen als die in den Mutterschaftsrichtlinien vorgesehenen durchgeführt.41 Durch die Sichtbarmachung des Kindes entwickeln die schwangeren Frauen und auch die Väter zum Teil eine starke Bindung zu ihrem Kind.42 Andererseits haben schwangere Frauen aber teilweise auch das Gefühl, durch die Ultraschalluntersuchung etwas Intimes preiszugeben, oder befürchten, dass die Sonographie für den Fötus schädlich sein könnte.43 b) Alpha-Fetoprotein-Test Der Alpha-Fetoprotein-Test wird im Zeitraum der 16.-18. Schwangerschaftswoche p.m. vorgenommen. Das Ergebnis liegt nach wenigen Tagen vor.44 Das AlphaFetoprotein (AFP) ist ein Glykoprotein, das im Dottersack und in der Leber des Fötus produziert wird. Mit dem fetalen Urin gelangt es zunächst ins Fruchtwasser und über die Plazenta anschließend ins mütterliche Blut. Im Vergleich zur Nichtschwangeren ist die Konzentration des Proteins bei der Schwangeren um ein Vielfaches erhöht. Der AFP-Spiegel steigt bis zur 30. Schwangerschaftswoche p.m. im mütterlichen Serum an, im Fruchtwasser fällt er im zweiten Trimenon ab. Ist die AFP-Konzentration erhöht, so kann dies beispielsweise auf Neuralrohrdefekte (Spina bifida, Anenzephalie), Bauchwanddefekte, Darmobstruktionen, Nierenanomalien, Steißbeinteratom, Chromosomenaberration oder Hydrops hindeuten.45 Bei einer erhöhten AFP-Konzentration kann keine sichere Diagnose gestellt werden. Möglich ist nur eine Wahrscheinlichkeitsberechnung. Eine gezielte Ultra-
38 39 40 41 42
43 44 45
Hepp, in: Schumann, Verantwortungsbewusste Konfliktlösungen, S. 66; ders. in: Rager, Beginn, Personalität und Würde des Menschen, S. 144. BZgA, Repräsentativbefragung 2006, S. 31. BZgA, Repräsentativbefragung 2006, S. 32, 33. Kiechle, Gynäkologie und Geburtshilfe, S. 287. BZgA, Repräsentativbefragung 2006, S. 31, 32. In dieser Befragung gaben ~ 80 % der Schwangeren an, dass die Ultraschalluntersuchung für sie besonders wichtig sei, da sie selbst und der Vater einen ersten Blick auf das Ungeborene werfen könnten. Hillmer, Patientenstatus und Rechtsstatus von Frau und Fötus, S. 37 f. Feldhaus-Plumin, Versorgung und Beratung zu PND, S. 41; Haker, Ethik der genetischen Frühdiagnostik, S. 104. Feige/Rempen/Würfel/Jawny/Rohde, Frauenheilkunde, S. 406.
C. Die Pränatale Diagnostik
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schalldiagnostik oder invasive Diagnostik ist zur Aufdeckung einer Anomalie zusätzlich nötig.46 c) Triple-Test Beim Triple-Test werden in der 16. bis 18. Schwangerschaftswoche p.m. im mütterlichen Blut zwei weitere Eiweiße betrachtet, nämlich das humane ChorionGonadotropin und Östradiol.47 Die Konzentration dieser Proteine wird mit dem Alter der Schwangeren in Bezug gesetzt. Dieser Quotient wird mit dem Altersrisiko verglichen. Übersteigt der Quotient das Altersrisiko, so wird eine Amniozentese empfohlen. Auch der Triple-Test ermöglicht nur eine statistische Wahrscheinlichkeitsberechnung für das Risiko einer Frau, ein Kind mit einer Chromosomenstörung (Trisomie 21, 18 und 13) oder einem Neuralrohrdefekt zu gebären.48 Sowohl der AFP-Test als auch der Triple-Test weisen eine relativ hohe Falschpositiv-Rate (zwischen 5 und 9, 6 %) auf. Ein auffälliger Test zieht in der Regel invasive Diagnoseverfahren nach sich und führt zu einer starken Beunruhigung der Eltern. Die diagnostizierten Erkrankungen sind zudem nicht therapierbar. Aufgrund dieser Aspekte werden AFP- und Triple-Test kontrovers beurteilt49 und zunehmend durch das Ersttrimesterscreening mittels Ultraschall (Nackentransparenzmessung) ersetzt. d) Analyse fötaler Zellen im mütterlichen Blut Hierbei werden fötale Zellen, die durch die Plazenta in den Kreislauf der Schwangeren gelangt sind, aus dem mütterlichen Blut isoliert und dann auf chromosomale Normabweichungen untersucht. Diese Untersuchung kann bereits nach ca. 6 Wochen vorgenommen werden. Sie ist allerdings bislang noch nicht ausgereift50 und wird kaum eingesetzt. 2. Invasive Methoden Zu den invasiven Methoden der pränatalen Diagnostik zählen Amniozentese, Chorionzottenbiopsie und Chordozentese sowie die Fetoskopie. Diese Diagnoseverfahren werden im Folgenden näher betrachtet. a) Amniozentese Die Amniozentese (Fruchtwasserpunktion) wird zwischen der 14.-20. Schwangerschaftswoche p.m. durchgeführt, um Chromosomenanomalien, andere genetische Erkrankungen und Stoffwechselstörungen festzustellen und abzuklären.51
46 47 48 49 50 51
Feige/Rempen/Würfel/Jawny/Rohde, Frauenheilkunde, S. 407. Hepp, in: Rager, Beginn, Personalität und Würde des Menschen, S. 145. Hepp, in: Rager, Beginn, Personalität und Würde des Menschen, S. 145. Feige/Rempen/Würfel/Jawny/Rohde, Frauenheilkunde, S. 413; Feldhaus-Plumin, Versorgung und Beratung zu PND, S. 41. DGGG, Positionspapier 2003, S. 28; Haker, Ethik der genetischen Frühdiagnostik, S. 104. BZgA, Repräsentativbefragung 2006, S. 58.
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1. Kapitel: Medizinische Grundlagen
Bei der Amniozentese werden 10-20 ml Fruchtwasser über die Bauchdecke der Schwangeren entnommen. Um die optimale Einstichstelle zu finden, wird die Punktion unter Ultraschall vorgenommen.52 Im gewonnenen Fruchtwasser sind Zellen des Fötus vorhanden, die zytogenetisch untersucht werden können.53 Das Ergebnis der Chromosomenanalyse liegt nach zwei bis vier Wochen vor.54 Die Amniozentese ist das häufigste invasive Verfahren der pränatalen Diagnostik. In 0,5-1% der Fälle treten aber Komplikationen wie Fehlgeburt, Frühgeburt, Blasensprung oder intrauteriner Fruchttod auf.55 Die lange Wartezeit stellt darüber hinaus eine psychische Belastung für die Schwangere dar.56 Mittels der FISH-Diagnostik (fluorescent in situ hybridization) können innerhalb von 24 Stunden die häufigsten numerischen Chromosomenstörungen diagnostiziert werden. Für diese Methode werden unkultivierte Fruchtwasserzellen verwendet. Üblicherweise werden die Chromosomen 13, 18, 21 und die Geschlechtschromosomen X und Y im Zellkern auf spezielle Weise angefärbt.57 Beim FISH-Test sind methodenbedingt nicht alle Chromosomenstörungen erkennbar. Er ersetzt somit eine konventionelle Chromosomendiagnostik nicht. b) Chordozentese Die Chordozentese wird etwa um die 18.-20. Schwangerschaftswoche p.m. vorgenommen.58 Hierbei wird fetales Blut aus der Nabelvene gewonnen. 1-2 ml reichen hierfür in der Regel aus. Aus einer Kultur von Lymphozyten kann eine Karyotypisierung erfolgen. Auch Erbkrankheiten, Blutgruppenunverträglichkeiten sowie Infektionen wie beispielsweise Röteln können festgestellt werden. Das Ergebnis liegt nach zwei bis vier Wochen vor.59 Die Chordozentese ist schwieriger durchzuführen als eine Amniozentese. Laut Kiechle hat die Chordozentese in geübten Händen aber eine gleich niedrige Komplikationsrate wie die Amniozentese.60
52 53 54
55 56 57 58 59 60
Feige/Rempen/Würfel/Jawny/Rohde, Frauenheilkunde, S. 417. Kiechle, Gynäkologie und Geburtshilfe, S. 297. Feldhaus-Plumin, Versorgung und Beratung zu PND, S. 42; nach Hiersche ist der früheste Zeitpunkt für eine erfolgreiche Amniocentese mit Fruchtwassergewinnung und anzüchtbaren Zellen die 16. Woche p.m. Vier Wochen später bekommt man das Ergebnis der Chromosomenanalyse. Klappt es beim ersten Mal nicht, so kann in der 20. Woche p.m. eine Zweitpunktion unternommen werden. Das Ergebnis liegt dann in der 24. Woche p.m. und damit in der 22. Woche p.c. vor. Daraus resultierte auch die frühere Frist von 22 Wochen. Vgl. Hiersche, FS Tröndle, 1989, S. 671 f. Kiechle, Gynäkologie und Geburtshilfe, S. 297. Feldhaus-Plumin,Versorgung und Beratung zu PND, S. 43. Feige/Rempen/Würfel/Jawny/Rohde, Frauenheilkunde, S. 418. BZgA, Repräsentativbefragung 2006, S. 58. BZgA, Repräsentativbefragung 2006, S. 58; Feige/Rempen/Würfel/Jawny/Rohde, Frauenheilkunde, S. 419; Kiechle, Gynäkologie und Geburtshilfe, S. 297 f. Kiechle, Gynäkologie und Geburtshilfe, S. 298.
C. Die Pränatale Diagnostik
19
c) Chorionzottenbiopsie und Plazentazentese Eine Chorionzottenbiopsie wird zwischen der 10.-12. Schwangerschaftswoche p.m. vorgenommen.61 Bei der Chorionzottenbiopsie werden unter Ultraschallkontrolle durch Punktion Zellen der den Embryo umgebenden fasrigen Hülle (Trophoblastgewebe) entnommen. Im ersten Trimenon nennt man diesen Vorgang Chorionzottenbiopsie, im zweiten und dritten Trimenon Plazentazentese. Die so gewonnenen Zellen können zur Ermittlung der Chromosomenformel und zu molekulargenetischen Untersuchungen verwendet werden. Eine Kultivierung dieser Zellen ist nicht erforderlich, so dass das Ergebnis bereits nach zehn Tagen vorliegt. Das Abortrisiko beträgt 1-2%. Gesundheitliche Risiken für die Schwangere bestehen ebenfalls.62 Bei frühen Biopsien kann es zu Fehlbildungen des Kindes kommen. Darüber hinaus sind falsch-positive Testergebnisse möglich und führen bei der Schwangeren zu einer enormen psychischen Belastung.63 d) Fetoskopie Im Zeitraum zwischen der 15. und 22. Schwangerschaftswoche p.m. kann eine Fetoskopie durchgeführt werden. Dabei wird der Fötus mit Hilfe eines Endoskops, das durch die Bauchdecke in die Fruchtblase geführt wird, betrachtet und es können Gewebeproben entnommen werden. Die Fetoskopie wird insbesondere dann durchgeführt, wenn ein hohes Risiko für schwerste erbliche Hautkrankheiten besteht, die noch nicht molekulargenetisch diagnostiziert werden können. Die Fetoskopie führt in zwei bis drei Prozent der Fälle zu einer Fehlgeburt oder zum intrauterinen Fruchttod.64
II. Ziele, Vorteile und Grenzen der Pränataldiagnostik Nach den Richtlinien der Bundesärztekammer zur pränatalen Diagnostik von Krankheiten und Krankheitsdispositionen dient die Pränataldiagnostik dem Abbau von Ängsten und Sorgen der Schwangeren hinsichtlich der Gesundheit des Kindes und der Hilfestellung bei der Entscheidung über Fortsetzung und Abbruch der Schwangerschaft.65 Nach den Mutterschaftsrichtlinien sollen durch die Pränataldiagnostik Risikoschwangerschaften frühzeitig erkannt und Lebens- und Gesundheitsgefahren für die Mutter und das Kind abgewendet werden.66 Die Pränataldiagnostik dient daher zunächst dem Lebensschutz des Kindes, indem Schwangerschaftsabbrüche auf Verdacht und aus bloß anamnestischer Angst verhindert werden.67 In 97-98 % der Fälle kann der Schwangeren die Angst vor 61 62 63 64 65 66 67
BZgA, Repräsentativbefragung 2006, S. 58. Hepp, in: Schumann, Verantwortungsbewusste Konfliktlösungen, S. 66; ders. in: Rager, Beginn, Personalität und Würde des Menschen, S. 145. Hillmer, Patientenstatus und Rechtsstatus von Frau und Fötus, S. 42. Haker, Ethik der genetischen Frühdiagnostik, S. 105; Hillmer, Patientenstatus und Rechtsstatus von Frau und Fötus, S. 40. BÄK, DÄBl. 1998, S. A-3236. Mutterschaftsrichtlinien, Allgemeines Ziff. 1. Hepp, in: Schumann, Verantwortungsbewusste Konfliktlösungen, S. 67.
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1. Kapitel: Medizinische Grundlagen
einem behinderten Kind auch tatsächlich genommen werden.68 Vor allem bei Risikoschwangerschaften wird der Schwangeren durch die pränatale Diagnostik ein entspanntes Fortsetzen der Schwangerschaft ermöglicht. Darüber hinaus bekommen auch Paare mit familiären Vorbelastungen die Gelegenheit zu eigenen Kindern, die sonst von einer Schwangerschaft absehen würden. In problematischen Fällen können Zeitpunkt, Modus und Ort der Entbindung festgelegt werden. Unter Umständen kann die Wahl einer speziellen Entbindungsklinik sinnvoll sein. Ergibt die pränatale Diagnostik einen embryopathischen Befund, so können sich die Eltern auf die Erkrankung ihres Kindes oder auf eine Mehrlingsschwangerschaft seelisch vorbereiten und Maßnahmen für das Leben mit einem behinderten Kind treffen.69 Wird bei der pränatalen Diagnostik eine Entwicklungsstörung des Kindes festgestellt, so kann teilweise eine fetale Therapie durchgeführt oder eine postnatale Therapie geplant und optimiert werden. Bei Erkrankungen, die sich intrauterin noch zu bedrohlichen Krankheitsbildern entwickeln können, aber potentiell behandelbar sind, bietet die pränatale Diagnostik Vorteile. Beispielsweise kann auf die fetale Blutarmut bei Rhesusunverträglichkeit oder mütterlicher Ringelrötelinfektion reagiert werden. Eine solche Anämie führt meist zu einem Multiorganversagen und damit zum Versterben des Ungeborenen. Dies kann man verhindern, indem man die Nabelschnur des Fötus punktiert und eine fetale Bluttransfusion vornimmt.70 Ebenso können beispielsweise Lungen- oder Nierenzysten punktiert werden.71 Schwere fetale Herzrhythmusstörungen, wie eine fraktäre Reentry-Tachykardie, können beispielsweise durch die Gabe von Adenosin über den mütterlichen Blutkreislauf oder über die fetale Nabelschnur medikamentös behandelt werden. Behandelbar sind auch Erkrankungen wie Harnabflussstörungen und krankhafte Flüssigkeitsansammlungen im Brustkorb mit Störungen der Lungenentwicklung. Letztere versucht man durch Anlage von Kathetern in das Fruchtwasser abzuleiten.72 Therapierbar nach Geburt sind beispielsweise bestimmte Herzfehler, Neuralrohrdefekte wie ein offener Rücken (spina bifida), Bauchwanddefekte, LippenKiefer-Gaumenspalten, Zwerchfellhernien und Lungenerkrankungen.73 Therapierbar ist auch die sogenannte Phenylketonurie, eine autosomal rezessiv vererbte Stoffwechselstörung, bei der die Aminosäure Phenylalanin nicht abgebaut werden kann. Dadurch reichert sich diese Aminosäure im Körper an und es entsteht Phenylpyruvat, Phenylacetat oder Phenyllactat. Unbehandelt führt dies zu einer schweren Epilepsie. Durch eine lebenslange eiweißarme Diät kann diese Folge verhindert werden. 68 69 70 71 72 73
Feige/Rempen/Würfel/Jawny/Rohde, Frauenheilkunde, S. 397 Feige/Rempen/Würfel/Jawny/Rohde, Frauenheilkunde, S. 399. Wüstemann, in: Wewetzer/Wernstedt, Spätabbruch der Schwangerschaft, S. 47. Kiechle, Gynäkologie und Geburtshilfe, S. 20 f. Wüstemann, in: Wewetzer/Wernstedt, Spätabbruch der Schwangerschaft, S. 46 ff. Wüstemann, in: Wewetzer/Wernstedt, Spätabbruch der Schwangerschaft, S. 46; Hepp, in: Schumann, Verantwortungsbewusste Konfliktlösungen, S. 67.
C. Die Pränatale Diagnostik
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In vielen Fällen kann die Pränatalmedizin Krankheiten aber nur feststellen, ohne eine Therapie bereitzuhalten.74 Nicht therapierbar sind beispielsweise genetische Anomalien wie die Trisomie 21 und die Trisomie 13, letale Nierenerkrankungen wie das Pottersyndrom und letale Erkrankungen des Skelettsystems sowie syndromale Krankheitsbilder, schwere Neuralrohrdefekte und die Anencephalie sowie Tumore.75 Die Pränataldiagnostik bildet dann häufig die Grundlage einer Konfliktsituation, deren Lösung in einem Schwangerschaftsabbruch gesehen wird.76 Die pränatale Diagnostik bietet aufgrund der fortschreitenden medizinischen Entwicklung immer mehr Möglichkeiten, immer früher und immer geringfügigere erbliche Krankheiten des Fötus zu erkennen, wobei keineswegs alle Erkrankungen erkennbar sind.77 Während sich die pränatale Diagnostik folglich fortwährend verbessert, sind die Therapiemöglichkeiten begrenzt. Die Schere zwischen diagnostizierbaren Leiden und möglichen Therapien öffnet sich immer weiter.78 Die Risiken der Pränataldiagnostik sind im Übrigen nicht zu unterschätzen. Vor allem bei den invasiven Diagnoseverfahren kann es zu einer Fehlgeburt und zu physischen Beeinträchtigungen wie Schmerzen und Blutungen bei der Schwangeren kommen. Oft ist zwischen Eingriff und Befundmitteilung eine 10- bis 21tägige Wartezeit zu überbrücken, in der die Schwangere und ihr Partner Ängsten und damit psychischen Belastungen ausgesetzt sind.79
III. Auswirkungen der Pränataldiagnostik Die Ultraschalldiagnostik wird, wie die Mutterschaftsrichtlinien zeigen, bei der Schwangerschaftsvorsorge routinemäßig durchgeführt. Nur 15 % der Schwangeren verzichten auf PND.80 Werbebroschüren, Medien und die einschlägige Lebenshilfe-Literatur zeichnen häufig idealisierte Bilder einer kontrollierbaren Schwangerschaft, eines glücklichen Familienlebens mit gesunden Kindern. Dadurch entsteht der Eindruck, dass jede Frau sich für ein solch ideales Leben entscheiden kann, indem sie Pränataldiagnostik in Anspruch nimmt und ein fehlgebildetes Kind ablehnen kann. Diejenigen, die sich dennoch für ein solches Kind entscheiden, stehen unter Rechtfertigungsdruck.81 Die Möglichkeiten der Pränataldiagnostik, auch weniger schwerwiegende Anomalien diagnostizieren zu können, führen zu einem Anspruchsden74 75 76 77 78 79 80 81
Römelt, in: Römelt, Spätabbrüche, S. 27. Wüstemann, in: Wewetzer/Wernstedt, Spätabbruch der Schwangerschaft, S. 46; Hepp, in: Schumann, Verantwortungsbewusste Konfliktlösungen, S. 67. Schumann, in: Schumann, Verantwortungsbewusste Konfliktlösungen, S. 1 f. Fn. 1. Eberbach, JR 1989, S. 266. Eberbach, JR 1989, S. 268. BZgA, IQZ in der PND, S. 14. BZgA, Repräsentativbefragung 2006, S. 33 Abb. 16, S. 34 Abb. 17; BZgA, IQZ in der PND, S. 13. Charbonnier, in: Wewetzer/Wernstedt, Spätabbruch der Schwangerschaft, S. 68.
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1. Kapitel: Medizinische Grundlagen
ken auf ein gesundes Kind. Die Bereitschaft, eine Behinderung zu akzeptieren, geht aufgrund eines vermeintlichen Anspruchs „ich kann die Schwangerschaft zu jederzeit beenden“ zurück. Schon behebbare Behinderungen wie zum Beispiel eine Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte sollen vermieden werden,82 denn aus diesem Wissen folgt nicht nur ein individueller, sondern auch ein gesellschaftlicher Erwartungsdruck, jegliche Risiken ausschließen zu müssen.83 Vor wenigen Jahren noch war eine umfassende pränatale Diagnostik nur für Risiko-Schwangerschaften vorgesehen. Die Kapazitäten sind jedoch mittlerweile so weit ausgebaut, dass auch jüngeren Frauen die Durchführung von pränatalen Diagnoseverfahren mit Appell an ihr Verantwortungsgefühl nahe gelegt wird.84 Das Altersrisiko entscheidet heute nicht mehr darüber, ob pränatale Diagnoseverfahren zur Entdeckung von Chromosomenanomalien eingesetzt werden. Das Alter spielt lediglich noch eine Rolle bei der Wahl der Diagnoseverfahren. Bis zu einem Alter von 35 Jahren bevorzugen die Schwangeren nicht-invasive Untersuchungen. Frauen über 35 lassen dagegen häufig eine Amniozentese oder Chorionzottenbiopsie durchführen. Fast ein Drittel der Frauen zwischen 35-39 Jahren und 44 % der über 39 Jährigen lassen sich Fruchtwasser entnehmen. Unter 35 Jahren lassen nur 6 % eine Amniozentese durchführen.85 Erklären lässt sich dieses Ergebnis mit einer Risikoabwägung. Mit zunehmendem Alter steigt das Risiko der Schwangeren, ein Kind mit Down-Syndrom zu bekommen. Zugleich besteht bei der Vornahme invasiver Diagnostik ein Risiko von 0,5-2 %, dass es zu Komplikationen kommt. Mit zunehmendem Risiko, ein behindertes Kind zu bekommen, steigt die Bereitschaft, das Risiko einer Komplikation in Kauf zu nehmen. Die PND bildet heute zunehmend ein Mittel der Familienplanung, das die Schwangerschaft auf Probe ermöglicht. Beispielsweise zeigt sich bei deutlich erhöhtem Altersrisiko für Trisomie 21 die Tendenz, eine Schwangerschaft zu probieren und bei einem Befund für Trisomie 21 im Anschluss einen Schwangerschaftsabbruch vorzunehmen.86
IV. Zeitpunkt pränataldiagnostischer Verfahren Abschließend stellt sich die Frage, warum es überhaupt embryopathisch motivierte Spätschwangerschaftsabbrüche gibt. Die Übersicht über die einzelnen Diagnoseverfahren zeigt, dass alle Diagnoseverfahren bis zur 20. Schwangerschaftswoche p.m. durchgeführt werden können und die Ergebnisse der Diagnoseverfahren damit vor extrauteriner Lebensfähigkeit des nasciturus vorliegen können.
82 83 84 85 86
Beckmann, MedR 1998, S. 157. Hepp, in: Schumann, Verantwortungsbewusste Konfliktlösungen, S. 69, 70; Beckmann, MedR 1998, S. 158. Hillmer, Patientenstatus und Rechtsstatus von Frau und Fötus, S. 47. BZgA, Repräsentativbefragung 2006, S. 35. Laufs, NJW 1990, S. 1511.
D. Methoden des Schwangerschaftsabbruchs
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Der Grund für die Existenz embryopathisch motivierter Spätabbrüche liegt zum einen darin, dass es Entwicklungsstörungen gibt, die sich erst in der zweiten Schwangerschaftshälfte entwickeln. Außerdem kann eine schwierige, langwierige Diagnostik erforderlich sein, die erst spät abgeschlossen wird und erst im Anschluss eine Prognoseeinschätzung, Beratung und Entscheidungsfindung ermöglicht.87 Auch Fehldiagnosen sind möglich. Die Befunde bei Pränataldiagnostik bieten häufig keine absolute Sicherheit.88 Schließlich kommt es auch vor, dass die Schwangere erst sehr spät einen Arzt aufsucht und Ultraschalldiagnostik in Anspruch nimmt, so dass die Erkrankung oder Behinderung des ungeborenen Kindes erst in einem weit fortgeschrittenen Stadium der Schwangerschaft festgestellt werden kann.89
D. Methoden des Schwangerschaftsabbruchs Um beurteilen zu können, ob späte Schwangerschaftsabbrüche aus medizinischer Sicht besonders problematisch sind, sollen im Folgenden die Methoden sowohl früher als auch später Abbrüche betrachtet werden.
I. Vermeidung der Nidation und frühe Abbrüche Will man die Nidation verhindern, so geschieht das durch die Gabe von Medikamenten. Hohe Dosen von Östradiol oder einem Kombinationspräparat aus Östradiol und Gestagen verhindern die Einnistung.90 In einer sehr frühen Schwangerschaft, bis zum 49. Tag p.m., kann der Schwangerschaftsabbruch medikamentös vorgenommen werden. Die Schwangere erhält zunächst das Antigestagen Mifepriston p.o. und etwa 48 Stunden später ein stark wirksames Prostaglandin, das zur Uteruskontraktion und zur Ausstoßung der Leibesfrucht führt.91 Bis zur 12. Woche wird die Schwangerschaft in der Regel mittels Kürettage abgebrochen. Dazu wird zunächst der Muttermund erweitert. Anschließend wird eine Kanüle aus Plastik oder Metall in die Gebärmutter eingeführt und der Inhalt der Gebärmutter abgesaugt (Vakuumaspiration, Saugkürettage) oder ausgeschabt (Chirurgische Kürettage).92
87 88 89 90 91 92
Garne/Khoshnood/Loane/Boyd/Dolk, BJOG 2010, S. 662 f. BZgA, IQZ in der PND, S. 14. Vgl. dazu: Schwerdtfeger, in: Wewetzer/Wernstedt, Spätabbruch der Schwangerschaft, S. 38. Feige/Rempen/Würfel/Jawny/Rohde, Frauenheilkunde, S. 255. Kiechle, Gynäkologie und Geburtshilfe, S. 247. Kröger, in: LK-StGB, Vor §§ 218 ff. Rn. 47.
24
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II. Schwangerschaftsabbrüche nach der 12. Woche Nach der 12. Woche gestaltet sich ein Schwangerschaftsabbruch aufgrund der Größen- und Gewichtszunahme des Fötus schwieriger. In der Praxis werden meist Prostaglandine verabreicht. Dadurch werden Wehen ausgelöst und nach mehreren Stunden – durchschnittlich etwa 15 Stunden – wird die Frucht ausgestoßen. Da Plazenta und Eihäute dabei häufig nicht vollständig ausgestoßen werden, muss im Anschluss meist eine Kürettage durchgeführt werden. Teilweise wird zusätzlich Mifepriston 24-36 Stunden vor Gabe der Prostaglandine verabreicht. Dadurch wird die Wirksamkeit des Prostaglandins erhöht und die Zeit vom Beginn der Einleitung bis zur Ausstoßung nahezu halbiert.93 Bis nach Ablauf der 22. Schwangerschaftswoche verstirbt der Fötus regelmäßig im Verlauf des verfrühten Geburtsvorgangs, zum einen durch Sauerstoffmangel, zum anderen dadurch, dass seine Körperstrukturen, wie sein noch zu weicher Kopf, einer verfrühten Geburt nicht gewachsen ist.94 Ein Schwangerschaftsabbruch kann auch mittels Kaiserschnitt (Hysterotomie) durchgeführt werden. Im Vergleich zu anderen Methoden stellt der Kaiserschnitt einen erheblichen Eingriff in den Körper der Schwangeren dar und ist dementsprechend risikoreich. Daher wird ein Kaiserschnitt nur sehr selten durchgeführt.95
III. Schwangerschaftsabbrüche nach der 20. Woche Schwangerschaftsabbrüche nach der 20. Schwangerschaftswoche werden auf dieselbe Weise vorgenommen, wie nach der 12. Schwangerschaftswoche. Nach der 20. Schwangerschaftswoche besteht allerdings die Möglichkeit, dass der nasciturus lebend zur Welt kommt. Wird aber beispielsweise eine Behinderung des Fötus festgestellt und gerät die Mutter dadurch in Gesundheitsgefahren, so ist Ziel des Schwangerschaftsabbruchs die Abtötung der Frucht. Um eine Lebendgeburt zu vermeiden, führt der Arzt neben der Gabe weheninduzierender Mittel einen Fetozid durch. Er tötet dabei den Fötus gezielt im Mutterleib, indem er durch Injektion von Kaliumchlorid eine Herzlähmung des Fötus herbeiführt oder Fibrinkleber in das Herz des Ungeborenen appliziert und dadurch eine mechanische Unterbrechung des Blutflusses auslöst.96 Auch Methoden wie die Gabe von Luft oder das Unterbinden der Blutversorgung durch die Nabelschnur werden beschrieben.97
93 94 95 96 97
Kiechle, Gynäkologie und Geburtshilfe, S. 247 f. Kiechle, Gynäkologie und Geburtshilfe, S. 247; Wirth, Spätabtreibung, S. 54. Hanke, Spätabtreibungen, S. 21 f. Kröger, in: LK-StGB, § 218a Rn. 55; Wirth, Spätabtreibung, S. 55 f. Feldhaus-Plumin, Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit 2008, S. 67.
2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
Im zweiten Kapitel werden die verfassungsrechtlichen Maßstäbe herausgearbeitet, anhand derer zu überprüfen ist, ob der Staat seiner eventuell gegenüber dem ungeborenen Leben bestehenden Schutzpflicht in ausreichendem Maße nachkommt. Die Fragen, ob und wie der nasciturus von den Grundrechten geschützt wird, müssen geklärt werden. Als Rechtsgüter des nasciturus kommen die in Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 S. 1 und in Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG genannten in Betracht. Anschließend soll der Frage nachgegangen werden, in welcher Weise kollidierende Grundrechte der Mutter zu berücksichtigen sind.
A. Die Funktion der Grundrechte beim Schwangerschaftsabbruch Wie bereits in der Einleitung angeklungen, ist der Staat möglicherweise durch die Grundrechte des nasciturus zu dessen Schutz verpflichtet. Bevor überprüft wird, ob der nasciturus in den Gewährleistungsbereich von Menschenwürde und Lebensrecht einbezogen ist, soll, gleichsam vor die Klammer gezogen, das grundrechtsdogmatische Konstrukt der grundrechtlichen Schutzpflicht näher betrachtet werden.
I. Abwehrrechte und Schutzpflichten im Vergleich Nach ständiger Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts stellen Grundrechte primär Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat dar (status negativus). Das Bundesverfassungsgericht leitet diese primäre Grundrechtsfunktion zum einen aus der geistesgeschichtlichen Entwicklung der Grundrechtsidee, zum anderen aus den geschichtlichen Vorgängen, die zur Aufnahme der Grundrechte in die Verfassung geführt haben, ab.1 Der Bürger hat demgemäß einen Anspruch gegen den Staat, ungesetzliche und unverhältnismäßige Eingriffe in seinen grundrechtlich gewährleisteten Freiheitsbereich zu unterlassen. Der moderne Eingriffsbegriff versteht unter einem Eingriff jedes staatliche Handeln, das dem Einzelnen ein Verhalten, das in den Schutzbereich eines Grundrechts fällt, ganz oder teilweise unmöglich macht, gleichgültig ob diese Wirkung final oder unbeabsichtigt, unmit1
BVerfGE 7, 198 (204 f.).
A. B. Dolderer, Menschenwürde und Spätabbruch, DOI 10.1007/978-3-642-22468-3_3, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
telbar oder mittelbar, rechtlich oder tatsächlich, mit oder ohne Befehl und Zwang erfolgt. Die Wirkung muss allerdings von einem zurechenbaren Verhalten der öffentlichen Gewalt ausgehen.2 Da der Staat Schwangerschaftsabbrüche weder selbst anordnet noch durch eigenes Personal durchführen lässt, sondern dem nasciturus vielmehr von privater Seite, nämlich von Seiten der Mutter und dem Arzt, Gefahr droht, sind die Grundrechte in ihrer primären Funktion nicht betroffen. Nicht ein Eingriff des Staates, sondern ein Eingriff von Privatpersonen muss abgewendet werden. Weitgehend einig ist man sich mittlerweile darüber, dass die Grundrechte keine unmittelbar horizontale Drittwirkung zwischen Privaten entfalten,3 so dass weder die Mutter noch der die Abtreibung durchführende Arzt durch die Grundrechte des ungeborenen Kindes unmittelbar beschränkt sind. Die unmittelbare Drittwirkung wird aus guten Gründen abgelehnt. Zum einen widerspräche sie dem Wortlaut des Art. 1 Abs. 1 S. 2 und Art. 1 Abs. 3 GG, der nur die öffentliche Gewalt den Grundrechten verpflichtet.4 Zum anderen zeigt die Systematik der Grundrechte, dass nur in wenigen Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten die Wirkung auf Private erstreckt wird, wie beispielsweise in Art. 9 Abs. 3 S. 2 oder Art. 20 Abs. 4 GG.5 Eine Grundrechtsbindung aller gegenüber allen würde darüber hinaus dem Sinn und Zweck der Grundrechte widersprechen. Die Grundrechte würden zu Grundpflichten gegenüber den Mitbürgern, was eine weitgehende Freiheitsbeschränkung nach sich zöge.6 Das Bundesverfassungsgericht hat allerdings in seinem ersten Urteil zum Schwangerschaftsabbruch die Existenz grundrechtlicher Schutzpflichten als normative Funktion anerkannt und den Grundrechten damit eine im weitesten Sinne horizontale Funktion zugebilligt. Das Gericht formuliert im Urteil: „Die Schutzpflicht des Staates ist umfassend. Sie verbietet nicht nur – selbstverständlich – unmittelbare staatliche Eingriffe in das sich entwickelnde Leben, sondern gebietet dem Staat auch, sich schützend und fördernd vor dieses Leben zu stellen, das heißt vor allem, es auch vor rechtswidrigen Eingriffen von Seiten anderer zu bewahren.“7
Diese zum damaligen Zeitpunkt neuartige Grundrechtsfunktion stieß sowohl in der Rechtsprechung als auch im juristischen Schrifttum auf nahezu einhellige Akzeptanz. Für die Anerkennung der Schutzpflichten als eigenständige Dimension der Grundrechte spricht, dass das Grundgesetz an mehreren Stellen, wie bei-
2 3
4 5 6 7
Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 253; Isensee, in: Isensee/Kirchhof, HStR V, § 111 Rdnr. 63. Dietlein bezeichnet die unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte als ausdiskutiert. Vgl. Dietlein, Grundrechtliche Schutzpflichten, S. 75; anders noch BAGE 1, 185 (193f.). Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 191. Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 191. Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 191. BVerfGE 39, 1 (42).
A. Die Funktion der Grundrechte beim Schwangerschaftsabbruch
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spielsweise in Art. 1 Abs. 1 S. 2 und Art. 16a Abs. 1 GG, selbst den Schutz bestimmter Rechtsgüter anordnet.8 Der Staat ist somit verpflichtet, grundrechtsbewehrte Rechtsgüter seiner Bürger wie beispielsweise Würde, Leben, Gesundheit, Eigentum und Freiheit vor rechtswidrigen Beeinträchtigungen seitens Dritter zu bewahren.9 Die grundrechtliche Schutzpflicht beinhaltet zunächst einen Regelungsauftrag an den parlamentarischen Gesetzgeber. Ist es seiner Auffassung nach nötig, zu Gunsten des Opfers in grundrechtlich geschützte Rechtsgüter des Störers einzugreifen, so muss er die hierfür erforderliche Eingriffsermächtigung bereitstellen.10 Sowohl in ihrer Abwehrfunktion als auch in ihrer Schutzfunktion richten sich die Grundrechte an denselben Adressaten, den Staat, und sichern dasselbe grundrechtlich gewährleistete Schutzgut vor Eingriffen. Die Übergriffe drohen jedoch von verschiedenen Seiten. Während beim Abwehrrecht der Übergriff von Seiten des Staates droht, droht er bei der Schutzpflicht von dritter, privater Seite, in den Fällen des Schwangerschaftsabbruchs von Seiten der Mutter und dem behandelnden Gynäkologen. Dementsprechend beinhaltet das Abwehrrecht das Recht auf eine negative Handlung.11 Hinsichtlich des Rechts auf Leben und der körperlichen Unversehrtheit beinhaltet das Abwehrrecht beispielsweise das Recht des Bürgers, dass der Staat Verletzungshandlungen unterlässt. Die Schutzpflicht fordert demgegenüber aktive Handlungen zum Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit vor Übergriffen Dritter.12 Dementsprechend stehen sich nicht nur zwei Parteien, nämlich Bürger und Staat gegenüber, sondern das Beziehungsgeflecht erweitert sich zu einem Beziehungsdreieck aus Grundrechtsbeeinträchtiger (Störer), Grundrechtsgeschütztem (Opfer) und Grundrechtsschützer (Staat).13
II. Dogmatische Herleitung der grundrechtlichen Schutzpflicht Unproblematisch ist die Begründung der staatlichen Schutzpflicht dann, wenn sie sich explizit aus dem Verfassungstext ergibt. Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG verpflichtet die staatliche Gewalt explizit zum Schutz der Menschenwürde. Hinsichtlich des hier ebenfalls zu erörternden Lebensrechts des nasciturus ist eine ausdrückliche Schutzverpflichtung jedoch nicht ersichtlich. Die dogmatische Herleitung ist erwartungsgemäß umstritten. Für Inhalt und Reichweite der grundrechtlichen Schutzverpflichtung ist die dogmatische Herleitung von großer Bedeutung.
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Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 86. BVerfGE 39, 1 (42); Dietlein, grundrechtliche Schutzpflichten, S. 74. Dietlein, grundrechtliche Schutzpflichten, S. 70 f. Höfling, in: Thomas/Kluth, Das zumutbare Kind, S. 128. v. Bernstorff, Der Staat 2008, S. 27. Höfling, in: Thomas/Kluth, Das zumutbare Kind, S. 129.
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
1. Die Schutzpflichtenjudikatur des Bundesverfassungsgerichts Das Rechtsinstitut der grundrechtlichen Schutzpflicht ist entscheidend geprägt von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Bahnbrechend wirkte insbesondere das erste Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Schwangerschaftsabbruch.14 In diesem Urteil leitete es die Pflicht des Staates zum Schutz jedes menschlichen Lebens zum einen unmittelbar aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 ab. Zum anderen stützte es die Schutzpflicht auch auf Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG. „Die Pflicht des Staates, jedes menschliche Leben zu schützen, läßt sich deshalb bereits unmittelbar aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ableiten. Sie ergibt sich darüber hinaus auch aus der ausdrücklichen Vorschrift des Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG; denn das sich entwickelnde Leben nimmt auch an dem Schutz teil, den Art. 1 Abs. 1 GG der Menschenwürde gewährt.“ 15
Die Schutzpflicht des Art. 2 Abs. 2 S. 1 verankerte das Bundesverfassungsgericht in der durch die Grundrechtsnormen verkörperten „objektiven Wertordnung“ und führte dazu aus: „Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts enthalten die Grundrechtsnormen nicht nur subjektive Abwehrrechte, sondern sie verkörpern zugleich eine objektive Wertordnung, die als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gilt und Richtlinien und Impulse für Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung gibt (BVerfGE 7, 198 [205]- Lüth –; 35, 79 [114] – Hochschulurteil – mit weiteren Nachweisen). Ob und gegebenenfalls in welchem Umfang der Staat zu rechtlichem Schutz des werdenden Lebens von Verfassung wegen verpflichtet ist, kann deshalb schon aus dem objektiven Gehalt der grundrechtlichen Normen erschlossen werden.“16
Nach der anfänglich klaren Trennung der beiden Begründungsstränge – objektivrechtlicher Gehalt des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG und Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG – amalgamiert es zehn Seiten später diese Begründungsansätze, indem es die Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG ableitet. In der Folgezeit verzichtete das Bundesverfassungsgericht teilweise auf die Bezugnahme der objektiven Wertordnung. Es stützte die Schutzfunktion allein auf Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 GG17 und betonte, dass alle staatlichen Organe menschliches Leben vor rechtswidrigen Eingriffen von Seiten anderer zu bewahren hätten.18 In manchen Entscheidungen diente aber auch die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte weiterhin als Begründung für die Schutzpflicht des Staates.19
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BVerfGE 39,1 ff. BVerfGE 39, 1 (41). BVerfGE 39, 1 (41 f.). Vgl. nur BVerfGE 46, 160 (164); 49, 24 (53); 57, 250 (284 f.). BVerfGE 46, 160 (162). BVerfGE 49, 89 (141 f.); 53, 30 (57); 56, 54 (73); 77, 170 ( 214 f.); 77, 381 (402 f.); BVerfG-K, EuGRZ 1998, 172 (173).
A. Die Funktion der Grundrechte beim Schwangerschaftsabbruch
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Rechtsgüter wie beispielsweise die Berufsfreiheit20 und die Wissenschaftsfreiheit21 wurden auf diese Weise in die Schutzfunktion miteinbezogen. Im zweiten Urteil zum Schwangerschaftsabbruch stützte das Bundesverfassungsgericht die Schutzpflicht wiederum auf Art. 2 Abs. 2 GG und Art. 1 Abs. 1 GG und formulierte: „Ihren Grund hat diese Schutzpflicht in Art. 1 Abs. 1 GG, der den Staat ausdrücklich zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde verpflichtet; ihr Gegenstand und – von ihm her – ihr Maß werden durch Art. 2 Abs. 2 GG näher bestimmt.“22
Vergleicht man die Entscheidungsgründe der ersten und zweiten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch, so wird deutlich, dass sich der Begründungsschwerpunkt für die staatliche Schutzpflicht verlagert hat. Im ersten Urteil zum Schwangerschaftsabbruch wird die Schutzpflicht in erster Linie aus der objektivrechtlichen Funktion des Art. 2 Abs. 2 GG abgeleitet und darüber hinaus auch Art. 1 Abs. 1 GG herangezogen. Demgegenüber rückt das Bundesverfassungsgericht in der zweiten Entscheidung die Menschenwürde weiter in den Mittelpunkt und bezeichnet die Menschenwürde als Grund der Schutzpflicht, wobei personaler und materieller Schutzbereich sowie die Schutzintensität vom betroffenen Grundrecht auf Leben abhängen. Auf die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte wird nicht Bezug genommen. Auch nach dem zweiten Urteil zum Schwangerschaftsabbruch finden sich beide Begründungsansätze in seiner Rechtsprechung.23 Zusammengefasst kann man somit feststellen, dass das Bundesverfassungsgericht die Schutzpflicht in Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG und im objektivrechtlichen Gehalt der Grundrechte verortet. Klarstellend ist hierzu anzumerken, dass die im Lüth-Urteil wurzelnde Wertordnungstheorie, wonach die Grundrechte eine objektive Wertordnung bilden, in engem Zusammenhang mit der Menschenwürdegarantie steht. Auch diese ist oberster Wert der Verfassung und strahlt in die anderen Grundrechte aus. Im juristischen Schrifttum stieß die dogmatische Herleitung des Bundesverfassungsgerichts auf breite Zustimmung.24
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24
BVerfGE 92, 26 (46). BVerfGE 55, 37 (68). BVerfGE 88, 203 (251). Den Ausführungen der 2. Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch folgen z.B. BVerfGE 90, 145 (195); BVerfG-K, NJW 1995, S. 2343; BVerfG-K, NJW 1996, S. 651. Auf die objektiv-rechtliche Funktion der Grundrechte nimmt demgegenüber Bezug: BVerfG-K EuGRZ 1998, 172 (173). Beipielhaft erwähnt seien: Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 414; Dietlein, Grundrechtliche Schutzpflichten, S. 64 f.; Unruh, Grundrechtliche Schutzpflichten, S. 56 f.; Giwer, Präimplantationsdiagnostik, S. 90; angemerkt sei außerdem, dass Dürig bereits 1958 die Schutzpflicht aus Art. 1 Abs. 1 S. 2 ableitete: Dürig, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Art. 1 Abs. 1 Rn. 16; Art. 1 Abs. 3 Rn. 102, 131.
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
2. Kritische Stimmen in der Literatur Unbestritten blieb diese Judikatur jedoch nicht. Die drei Hauptkritikpunkte seien an dieser Stelle genannt. Die Kritik knüpft zum einen an die Rechtsfigur der objektiven Wertordnung an. Dieses Gebilde sei zu verschwommen, um eine juristische Begründung zu leisten.25 Darüber hinaus wird gerügt, dass der Rekurs des Bundesverfassungsgerichts auf die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte einerseits und Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG andererseits inkonsistent sei und die Ableitung der Schutzpflichten daher höchst unklar bleibe.26 Außerdem habe das Bundesverfassungsgericht nicht hinreichend dargelegt, wie aus der objektiv-rechtlichen Dimension der Grundrechte eine staatliche Schutzverpflichtung folgen soll.27 Das Meinungsspektrum über die dogmatische Begründung der Schutzpflichten ist in der Literatur weit gefächert. Teilweise wird versucht, die grundrechtlichen Schutzpflichten als Ausfluss des abwehrrechtlichen Gehalts der Grundrechte zu begreifen. Andere versuchen die dogmatische Herleitung stärker am Wortlaut der Verfassung zu orientieren oder staatstheoretisch zu fundieren. Die wesentlichen Begründungsansätze sollen im Folgenden dargestellt werden. a) Die „abwehrrechtliche“ Lösung Die Vertreter des abwehrrechtlichen Lösungsansatzes halten die Rechtsfigur der grundrechtlichen Schutzpflicht für entbehrlich. Diese Fälle ließen sich bereits unter Rückgriff auf die abwehrrechtliche Dimension der Grundrechte lösen, indem man dem Staat das Verhalten des Bürgers zurechne.28 Anknüpfungspunkt dieser etatistischen Konvergenztheorie29 ist die Tatsache, dass der Staat eine Friedensordnung errichtet hat, innerhalb derer ihm allein das Gewaltmonopol zukommt. Das Verbot der Selbstjustiz hindere den Bürger daran, seine Rechte selbst durchzusetzen, so dass er nunmehr auf staatliches Handeln zu seinem Schutz angewiesen sei. Durch das Verbot privater Gewalt lege der Staat seinen Bürgern die Pflicht auf, beeinträchtigende, aber von der Rechtsordnung gestattete Handlungen von anderen Mitbürgern ohne Gegenwehr zu dulden. Verbiete der Staat ein Verhalten nicht, so erlaube er es und das „Opfer“ müsse das Verhalten dulden. Private Eingriffe, die sich folglich im Bereich des Erlaubten bewegten, könnten daher auf die Rechtsordnung zurückgeführt werden und seien dem Staat zurechenbar.30 25
26 27 28 29 30
Isensee, in: Isensee/Kirchhof; HStR V, § 111 Rn. 81. Jestaedt, Grundrechtsentfaltung, S. 112 f.; Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 129-146; Stern, Staatsrecht III/1, S. 912-915. Klein, NJW 1989, S. 1635. Klein, NJW 1989, S. 1635; Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 180; Jestaedt, Grundrechtsentfaltung S. 112 f.; Sondervotum zu BVerfGE 39, 1 (68, 73 ff.). Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 213 ff. Begriffsbildung von Isensee, in: Isensee/Kirchhof, HStR V, § 111 Rn. 118. Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 213 ff. Ausführliche Darstellung bei: Alexy, Theorie der Grundrechte S. 415 ff.; Höfling, in: Thomas/Kluth, Das zumutbare Kind, S. 130 ff; Isensee, in: Isensee/Kirchhof HStR V, § 111 Rn. 118 f.
A. Die Funktion der Grundrechte beim Schwangerschaftsabbruch
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Diese Ansicht wurde zu Recht vielfach kritisiert. Eingewendet wurde zum einen, dass das bloße Nichtverbieten einer Handlung nicht zugleich eine Beteiligung des Staates an der Verletzungshandlung oder eine Zurechnung zum Staat begründen könne.31 Private Eingriffe blieben private Eingriffe. Eine staatliche Verantwortung für solche Eingriffe bestünde nur dann, wenn der Staat verpflichtet sei, diese zu unterbinden. Angelpunkt des Ganzen sei aber dann die Pflicht, die Eingriffe zu unterbinden, und nicht die Zurechnung der Handlungen Privater.32 Zum anderen wurde der Vorwurf methodischer Inkonsequenz erhoben. Indem das Handeln Privater dem Staat als Eingriff zugerechnet werde, werde die Existenz der zu beweisenden Schutzpflicht bereits vorausgesetzt.33 Der Schluss vom Fehlen eines Eingriffsverbots auf eine Duldungspflicht wird zudem als nicht hinreichend begründbar entlarvt. Der Grundrechtsträger sei nämlich nicht verpflichtet, den Eingriff zu dulden, sondern könne ihm ausweichen oder ihn auf andere unverbotene Weise abwenden.34 § 823 Abs. 1 BGB bringe im Übrigen ein allgemeines Nichtschädigungsgebot zum Ausdruck.35 Dieses decke explizit die bedeutendsten grundrechtlichen Schutzgüter, nämlich Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit und Eigentum. Die Rechtsprechung habe darüber hinaus Schadensersatzansprüche gemäß § 823 Abs. 1 BGB auch für Nachteile aus unerlaubten Handlungen gegenüber anderen Grundrechten zugesprochen.36 Auch wenn spezielle Verbote nicht bestünden, sichere § 823 Abs. 1 BGB grundrechtlich verbürgte Schutzgüter gegenüber privaten Angriffen ab. Die Kritik überzeugt und entlarvt diese „abwehrrechtliche Lösung“ als unhaltbar. b) Menschenwürdekern Bereits vor der ersten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Schwangerschaftsabbruch37 leitete Dürig die Schutzpflicht aus Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG ab. Die im Kernbereich der Grundrechte abgesicherten Werte seien dadurch auch gegen Angriffe Privater abzuschirmen.38 Zu schützen sei folglich ein Menschenwürdekern der Grundrechte.39 Soweit das Grundgesetz wie in Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG oder Art. 6 GG explizit von „schützen“ spreche, ergebe sich die grundrechtliche Schutzpflicht und ein damit korrespondierendes Recht bereits aus dem Verfassungstext. Dies erschwere es aber, hinsichtlich der Grundrechte, in denen sich kei31 32 33 34 35 36 37 38 39
Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 417; Höfling, in: Thomas/Kluth, Das zumutbare Kind, S. 132; Unruh, grundrechtliche Schutzpflichten, S. 47 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 417 f. Unruh, grundrechtliche Schutzpflichten, S. 47; Stern, Staatsrecht III/1, S. 947. Stern, Staatsrecht III/1, S. 730. Kritisch dazu allerdings Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 188. Dietlein, grundrechtliche Schutzpflichten, S. 46 ff.; Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 85 ff.; Giwer, Präimplantationsdiagnostik, S. 87. Ausführliche Darstellung bei Dietlein, grundrechtliche Schutzpflichten, S. 47. BVerfGE 39, 1 (41). Dürig, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Art. 1 Abs. I Rn. 16, Art. 1 Abs. III Rn. 102, 131. Starck, Praxis der Verfassungsauslegung, S. 71.
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
ne explizite Schutzanordnung finde, subjektive Schutzansprüche abzuleiten.40 Ein subjektives Recht auf Schutz wurde von Dürig im Hinblick auf den Wortlaut des Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG daher nur bezüglich des Würdekerns von Grundrechten anerkannt.41 Im Übrigen bestehe eine objektiv-rechtliche Staatsaufgabe ohne ein korrespondierendes subjektives Recht. Diese Sichtweise hat den Vorteil, dass sie näher an den Text des Grundgesetzes angelehnt ist, da die Menschenwürdegarantie die Schutzverpflichtung des Staates deutlich zum Ausdruck bringt.42 Problematisch erscheinen allerdings die folgenden Aspekte. Die Verpflichtung des Staates zum Schutz der Menschenwürde sollte an sich bewirken, dass sich der Schutz des Einzelnen verstärkt. Eine Beschränkung eines subjektiven Rechts auf Schutz auf einen Würdekern würde aber eine Verschlechterung des Schutzes bewirken. Auch wenn die Grundrechte teilweise als Konkretisierungen der Menschenwürdegarantie zu verstehen sind, sind sie mit dieser nicht identisch.43 Darüber hinaus bereitet die inhaltliche Bestimmung der Menschenwürde erhebliche Schwierigkeiten, was zusätzlich gegen die Reduktion der Schutzpflichten auf einen Menschenwürdekern spricht. 44 Auch diese Herleitung der Schutzpflichten kann daher nicht überzeugen. c) Die staatstheoretische Fundierung Die Grundlage der Schutzpflicht wird teilweise auch in der Staatsaufgabe der Sicherheit gesehen und damit auf eine außergrundrechtliche Basis gestützt. Der Zweck des modernen Staates bestehe darin, Sicherheit für seine Bürger zu gewährleisten. Darum sei der Staat mit Gehorsamsanspruch, Macht und Gewaltmonopol ausgestattet. Dieser Staatszweck bilde die Grundlage für die heutige staatliche Schutzpflicht. 45 Durch die Verknüpfung der Staatsaufgabe der Sicherheit mit den Grundrechten wird ihr ein verfassungsrechtliches Substrat zugewiesen, nämlich die grundrechtlich geschützten Güter.46 Diese konkretisierten in ihrer objektiv-rechtlichen Dimension die einzelnen Schutzpflichten des Staates.47 Problematisch ist zum einen, dass auch nach dieser Ansicht zur Konkretisierung der Schutzpflichten auf die objektiv-rechtliche Dimension der einzelnen Grundrechte zurückgegriffen werden muss.48 40 41 42 43 44 45
46 47 48
Starck, Praxis der Verfassungsauslegung, S. 70. Starck, Praxis der Verfassungsauslegung, S. 74 f. Starck, Praxis der Verfassungsauslegung, S. 74 f. Giwer, Präimplantationsdiagnostik, S. 89. Unruh, Grundrechtliche Schutzpflichten, S. 43 f. Isensee, in: Isensee/Kirchhof, HStR V, § 111 Rn. 83; Stern, Staatsrecht III/1, S. 932; Klein, NJW 1989, 1635 f.; zu den ideengeschichtlichen Hintergründen ausführlich: Unruh, Grundrechtliche Schutzpflichten, S. 37 ff. Isensee, in: Isensee/Kirchhof, HStR V, § 111 Rn. 84. Klein, NJW 1989, S. 1636; Stern, Staatsrechte III/1, S. 937. So auch: Giwer, Präimplantationsdiagnostik, S. 88; Unruh, Grundrechtliche Schutzpflichten, S. 40.
A. Die Funktion der Grundrechte beim Schwangerschaftsabbruch
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Zum anderen sind im Grundgesetz Schutzpflichten ausdrücklich normiert, wie beispielsweise in Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG, Art. 6 Abs. 1, Abs. 2 und Abs. 4 GG. Finden sich aber in der Verfassung selbst Anhaltspunkte für die Existenz einer Schutzfunktion der Grundrechte, so kann ein Rekurs auf die Staatszwecklehre nicht die tragende Säule der Begründung sein.49 Für die Begründung der Schutzpflichten können die Staatsaufgabe der Sicherheit und deren ideengeschichtliche Hintergründe aber unterstützend herangezogen werden.50 d) Grundrechtsschranken und Sozialstaatsprinzip Die Schutzpflicht des Staates für das Grundrecht auf Leben leitet Roman Herzog mittels eines Erst-Recht-Schlusses aus der Schranke der Ehre des Art. 5 Abs. 2 GG her. Wenn die Verfassung schon die Ehre schütze, so müsse zugleich eine Schutzpflicht für das ungleich höher stehende Recht auf Leben gegeben sein.51 Auch Seewald versteht Grundrechtsschranken wie Art. 11 Abs. 2, 13 Abs. 7 GG nicht nur als Rechtsbeschränkungen. Unübersehbar sei, „daß auch die Beschränkung von Grundrechten unmittelbar durch die Verfassung oder aufgrund verfassungsrechtlicher Ermächtigung an den Gesetzgeber nicht nur »negativ« rechtsbegrenzende Wirkung hat, sondern - »auf der anderen Seite« - »positive«, begünstigende Rechtswirkungen hat, nämlich zugunsten der Interessen und Rechtsgüter, die die Schrankenregelung tatbestandsmäßig ausfüllen.“52 Diese Schrankenregelungen begünstigten den Bürger „reflexartig“.53 Aufgrund des materiellen Gehalts wie den Lebensschutz verpflichteten sie den Staat zum Handeln.54 Zur Untermauerung wird das in Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 GG verankerte Sozialstaatsprinzip herangezogen. Dieses verpflichte den Staat zum Handeln, während der Inhalt der Handlungspflicht sich aus anderen Verfassungsbestimmungen wie den Grundrechten ergebe.55 Die Ableitung der Schutzpflichten aus den Grundrechtsschranken kann jedoch nicht überzeugen. Grundrechtsschranken sind Befugnisnormen und ermöglichen den Eingriff des Staates in den Schutzbereich eines Grundrechts. Eine Aufgabenzuweisung kann ihnen nicht entnommen werden.56 Einzuwenden ist auch, dass Grundrechte als Leistungsrechte und grundrechtliche Schutzpflichten zwei völlig unterschiedliche Grundrechtsfunktionen darstellen. Bei den Leistungsrechten ist eine bipolare Beziehung zwischen Bürger und Staat gegeben. Bei den Schutzpflichten erweitert sich das Beziehungsgeflecht zu
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So auch: Unruh, Grundrechtliche Schutzpflichten, S. 40; Giwer, Rechtsfragen der Präimplantationsdiagnostik, S. 88. Unruh, grundrechtliche Schutzpflichten, S. 41; Giwer, Rechtsfragen der Präimplantationsdiagnostik, S. 88; Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 104. Herzog, JR 1969, S. 441 (443). Seewald, Zum Verfassungsrecht auf Gesundheit, S. 80. Seewald, Zum Verfassungsrecht auf Gesundheit, S. 80. Seewald, Zum Verfassungsrecht auf Gesundheit, S. 80 f., 141-143. Seewald, Zum Verfassungsrecht auf Gesundheit, S. 81 f., 145. Unruh, grundrechtliche Schutzpflichten, S. 49; Giwer, Präimplantationsdiagnostik, S. 89; Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 97.
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
einem Beziehungsdreieck, nämlich Staat-Störer-Opfer.57 Das Sozialstaatsprinzip verpflichtet den Staat zwar zu aktivem Tun. Materiell zielt es aber auf einen Ausgleich zwischen finanziell unterschiedlich ausgestatteten Mitgliedern durch Umverteilung finanzieller Ressourcen und Absicherung von Lebensrisiken durch die Bereitstellung von Sozialversicherungssystemen.58 Während Schutzpflichten somit auf Gefahrenabwehr zielen, will das Sozialstaatsprinzip den materiellen status quo verbessern und absichern.59 Die grundrechtlichen Schutzpflichten können folglich nicht aus Grundrechtsschranken hergeleitet werden. e) Stellungnahme und Ergebnis Die verschiedenen Begründungssätze in der Literatur können folglich die Existenz der Schutzpflichten nicht überzeugend begründen. Eine staatstheoretische Fundierung, die zur Begründung unterstützend herangezogen werden kann, kommt nicht umhin, zur Konkretisierung der Schutzpflichten auch zugleich die objektivrechtliche Dimension der einzelnen Grundrechte heranzuziehen, auf die auch das Bundesverfassungsgericht abstellt. Die dogmatische Begründung des Bundesverfassungsgerichts ist jedoch, wie bereits angesprochen, vielfacher Kritik ausgesetzt. Diese Kritik ist zu facettenreich, um hier im Detail dargestellt werden zu können. Überprüft werden soll daher lediglich, ob die bereits dargestellten Hauptkritikpunkte plausibel sind. Kritisiert wird zunächst die auf den ersten Blick bestehende Inkonsistenz der Schutzpflichtendogmatik, die teils auf die objektive Wertordnung, teils auf Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG Bezug nimmt.60 Unruh verweist jedoch zu Recht darauf, dass darin kein Widerspruch zu sehen sei, sondern Wertordnungstheorie und Menschenwürdegarantie verfassungsdogmatisch nicht getrennt werden könnten.61 Im LüthUrteil führte das Bundesverfassungsgericht bereits aus, dass die Grundrechte eine objektive Wertordnung konstituierten, die ihren Mittelpunkt in der menschlichen Persönlichkeit und Würde habe.62 Die Bezugnahme sowohl auf die objektive Wertordnung als auch auf die Würdegarantie stellt daher gerade keinen Widerspruch dar. Auch die Kritik, dass die Rechtsfigur der objektiven Wertordnung zu verschwommen sei und subjektive Präferenzentscheidungen des Richters ermögliche,63 lässt sich nicht bestätigen. Inhaltlich begrenzt sich im konkreten Fall die Schutzpflicht auf das Rechtsgut des einschlägigen Grundrechts, in seiner persönlichen, sachlichen und räumlichen Extension.64 57 58 59 60 61 62 63
64
Giwer, Präimplantationsdiagnostik, S. 89; Isensee, in: Isensee/Kirchhof, HStR V, § 111 Rn. 5. Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 97. Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 97. Unruh, grundrechtliche Schutzpflichten, S. 34 Unruh, grundrechtliche Schutzpflichten, S. 34. BVerfGE 7, 198 (205) Jestaedt, Grundrechtsentfaltung, S. 112 f.; Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 129-146; Stern, Staatsrecht III/1, S. 912-915. Isensee, in: Isensee/Kirchhof , HStR V, § 111 Rn. 81. So auch: Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 102.
B. Die Menschenwürde
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Auch die Beanstandung, allein der Hinweis auf den objektiv-rechtlichen Gehalt der Grundrechte besage nicht ohne weiteres, warum daraus eine Schutzpflicht folgen solle, ist nicht überzeugend.65 Dieser Einwand kann mit einem Blick auf die Genese des Grundgesetzes entkräftet werden. Auch die Verfassungsväter maßen den Grundrechten neben der primär abwehrrechtlichen Funktion eine staatslegitimierende Funktion bei. Der Staat habe „die äußere Ordnung zu schaffen, deren die Menschen zu einem auf der Freiheit des Einzelnen beruhenden Zusammenleben bedürfen. Aus diesem Auftrag stammt letztlich die Legitimität seiner Machtausübung.“66 In dieser staatsfundierenden Funktion, die die Grundrechte dem Staat zur Verwirklichung aufgibt, liegt der Schlüssel zum objektiv-rechtlichen Gehalt der Grundrechte.67 Die Herleitung der grundrechtlichen Schutzpflichten aus einer objektivrechtlichen Wertordnung und Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG als Mittelpunkt dieser Wertordnung ist daher höchst plausibel. Unterstützt wird diese Ansicht durch den staatstheoretischen Ansatz.
B. Die Menschenwürde I. Vorüberlegungen Die staatliche Pflicht, die Menschenwürde zu schützen, findet sich nicht nur in unserem Grundgesetz, sondern stößt auf nahezu universelle Akzeptanz. Dieser Gedanke findet sich beispielsweise auch in Art. I-2 des Entwurfs eines Vertrages über eine Verfassung für Europa. Konstituierende Werte der Union sind hiernach: Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte. Verwiesen werden kann auch auf die Präambel der Grundrechtscharta der Europäischen Union. Die Völker Europas erklären hierin ihr Bestreben nach einer friedlichen Zukunft auf der Grundlage gemeinsamer Werte. „In dem Bewusstsein ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes gründet sich die Union auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität.“ Stößt die aus der Würde des Menschen resultierende Schutzpflicht auf umfassende Akzeptanz, so scheiden sich bei der Frage nach Rechtsnatur und Inhalt der Menschenwürde die Geister. Trotz eingehender wissenschaftlicher Bemühungen ist Art. 1 Abs. 1 GG weit davon entfernt, dogmatisch ohne weiteres handhabbar zu sein.68 Die Menschenwürde ist nicht nur fester Bestandteil des Verfassungsrechts sondern auch Gegenstand moralphilosophischer und theologischer Lehren, so dass sich ethische, theologische und juridische Deutungen vermischen. 65 66 67 68
Stern, Staatsrecht III/1 S. 945. Schmid, JöR n.f., Bd. 1 (1951), S. 47. Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 194; dem folgend: Müller-Terpitz, der Schutz des pränatalen Lebens, S. 101. Ipsen, JZ 2001, S. 990.
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
Die inhaltliche Unbestimmtheit des Menschenwürdebegriffs hat den Vorteil, dass sich jeder Mensch mit ihr identifizieren kann und sie dadurch universell auf Akzeptanz stößt. Durch die inhaltliche Unbestimmtheit fällt es aber auch leicht, die Menschenwürde für eigene Zwecke zu beanspruchen. Es besteht die Gefahr, dass diejenigen, die Schwangerschaftsabbrüchen generell ablehnend gegenüberstehen, versuchen, jeden Abbruch als Menschenwürdeverstoß und damit als verfassungswidrig zu qualifizieren. Unter Berufung auf das Unantastbarkeitspostulat des Art. 1 Abs. 1 GG wird die Menschenwürde dadurch zum „Totschlagargument“69. Vor einer Tendenz, die Menschenwürde zu trivialisieren, zur allgegenwärtigen Bezugsgröße zu machen, muss aber gewarnt werden, denn ein inflationärer Gebrauch der Menschenwürde würde eine Entwertung derselben nach sich ziehen.70 Auf der anderen Seite ist zu befürchten, dass diejenigen, die Schwangerschaftsabbrüche befürworten, versuchen, Art. 1 Abs. 1 GG für unanwendbar zu erklären, indem sie den nasciturus aus dem personalen Schutzbereich ausklammern oder die Zulässigkeit von Schwangerschaftsabbrüchen allein an Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG messen. Denn anders als die Menschenwürde ist das Lebensrecht aufgrund des Gesetzesvorbehalts Einschränkungen zugänglich. Will man überprüfen, ob Spätschwangerschaftsabbrüche mit der Menschenwürde vereinbar sind, so ist es erforderlich, die Menschenwürde zunächst handhabbar zu machen. Zum besseren Verständnis werden im Folgenden zunächst die ideengeschichtlichen Grundlagen der Menschenwürde dargestellt und überprüft, ob die Menschenwürde ein bloß objektives Verfassungsprinzip darstellt, oder daneben auch eine grundrechtliche Gewährleistung verbürgt. Im Anschluss daran wird der Inhalt der Menschenwürde konkretisiert. Schließlich ist zu klären, ob, ab wann und in welcher Art und Weise der nasciturus in den Gewährleistungsbereich der Menschenwürde einbezogen ist. Im Hinblick auf Spätabbrüche ist der Frage nachzugehen, ob der Menschenwürdeschutz sich in seiner Intensität an der Entwicklung des nasciturus orientiert und an Spätabbrüche im Vergleich zu frühen Abbrüchen erhöhte Anforderungen zu stellen sind.
II. Ideengeschichtliche Grundlagen der Menschenwürde Der Begriff der Menschenwürde entwickelte sich innerhalb von zweieinhalbtausend Jahren Philosophiegeschichte und erfuhr durch die verschiedenen philosophischen Traditionen unterschiedliche Prägungen.71 Es ist vom jeweiligen Würdeverständnis abhängig, ob der nasciturus bereits als Würdeträger angesehen werden kann.
69 70 71
Taupitz, NJW 2001, S. 3436. Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 47; Hufen, JuS 2010, S. 2. Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 7.
B. Die Menschenwürde
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1. Die Menschenwürde in der griechischen und römischen Antike In der griechischen und römischen Antike verstand man unter Würde (lat. dignitas) einen Status abhängig von Verdienst, Amt, Rang, Ansehen und persönlicher Bedeutung; folglich die Geltung des Menschen im öffentlichen Leben.72 Da jeder Mensch über verschiedene Ämter und Titel verfügte, war der Umfang der Würde entsprechend unterschiedlich.73 In der mittleren Stoa begann man die Würde in universalistischer Weise zu verstehen; als etwas, was den Menschen von anderen Lebewesen abhob, nämlich Vernunftbesitz und freier Wille unabhängig von Amt und sozialem Status. Diese Würde kam allen Menschen gleichermaßen zu.74 Allerdings begriff die Stoa die Menschenwürde nicht als Abwehrrecht des Bürgers gegen den Staat, sondern als Pflicht des Menschen, sich würdegemäß zu verhalten und beispielsweise ungehemmten sinnlichen Genuss zu meiden.75 Ein solches leistungsbezogenes Würdeverständnis erfasste den nasciturus nicht. Sowohl die Leibesfrucht als auch neugeborene Kinder hatten in der Antike einen sehr niedrigen Status.76 Ein generelles Abtreibungsverbot war sowohl der griechischen als auch der römischen Kultur fremd. Vielmehr wurden Abtreibungen unter dem Gesichtspunkt des Staatswohls beurteilt und als neutrales Instrument der Bevölkerungspolitik verwendet.77 Nach der Lehre der Stoa wurde menschliches Leben mit dem ersten Atemzug und damit mit Geburt eingehaucht und mit dem letzten ausgehaucht.78 Dementsprechend wurde eine Abtreibung nicht bestraft, sondern lediglich als eigentumsrechtliches Problem gehandhabt. Der nasciturus und das Neugeborene galten als Privateigentum des Vaters, der über eine Abtreibung entscheiden durfte. Eine Frau machte sich nur dann strafbar, wenn sie gegen den Willen des Mannes eine Abtreibung vornahm.79 Nach der Sukzessivbeseelungslehre des Aristoteles erfuhr die freie Verfügbarkeit über die Leibesfrucht allerdings eine Einschränkung. Nach Aristoteles Vorstellung besaß die Leibesfrucht zunächst eine vegetative Seele bzw. eine Pflanzenseele. Nach Ausgestaltung des Geschlechts, was beim männlichen nasciturus 40 Tage nach der Befruchtung, beim weiblichen 90 Tage nach Befruchtung abgeschlossen sei, sollte zu der bisher vorhandenen vegetativen Seele eine animalische empfindsame Seele hinzutreten. Mit der Geburt erfolgte die Beseelung mit der denkenden, Bewusstsein besitzenden Geistesseele, die göttlicher Herkunft ist. Bereits mit Bestehen der animalischen Seele sollten Abtreibungen unzulässig sein. 80 72 73 74 75 76 77 78 79 80
Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 3. Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 3; Enders, Menschenwürde, S. 177. Podlech, in: AK-GG Art. 1 I Rn. 2. Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 4; Hain, Der Staat 2006, S. 194. Demel, Abtreibung zwischen Straffreiheit und Exkommunikation, S. 67. Demel, Abtreibung zwischen Straffreiheit und Exkommunikation, S. 67. Jerouschek, Lebensschutz und Lebensbeginn, S. 20 f. Demel, Abtreibung zwischen Straffreiheit und Exkommunikation, S. 70; Jerouschek, Lebensschutz und Lebensbeginn, S. 22. Ausführliche Darstellung bei Demel, Abtreibung zwischen Straffreiheit und Exkommunikation, S. 19 f.; Schmoll, FAZ vom 31. 5. 2001, S. 15.
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
2. Die Menschenwürde in der Spätantike und im Mittelalter Seit der Spätantike und dem Mittelalter entwickelte sich im Christentum die „imago-dei-Lehre“. Nach dieser Lehre hebt sich der Mensch von den anderen Lebewesen dadurch ab, dass er als Abbild Gottes geschaffen wurde. Der Mensch ist als Ebenbild Gottes ein Spiegel dessen, der die Freiheit ist. Im Menschen findet sich die Freiheit des Schöpfers gegenüber allen Dingen, insbesondere der Natur, wieder. Dadurch kommt ihm ein unverfügbarer und unverlierbarer Wert zu, der ihn von anderen Geschöpfen abhebt.81 Grundlage dieser Lehre bildet das 1. Buch Mose/Gen. Kap. 1, Vers 26-28: Und Gott sprach: Lasset uns Menschen machen, ein Bild das uns gleich sei, die da herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alle Tiere des Feldes und über alles Gewürm, das auf Erden kriecht. Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Weib. Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch Untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alles Getier das auf Erden kriecht.82
Thomas von Aquin (1225-1274), bei dem die imago-dei-Lehre ihren Höhepunkt fand, sah in der Menschenwürde eine primär verpflichtende Gabe Gottes.83 Die menschliche Würde besaß nur der tugendhafte Mensch. Der sündige und damit würdelose Mensch durfte demgegenüber wie ein Tier getötet werden. Als Ebenbild Gottes sind nach dieser Lehre im Übrigen alle Menschen in ihrem Status gleich.84 Der Status des nasciturus wurde unterschiedlich beurteilt. Einig war man sich darüber, dass ein vollwertiger Mensch erst dann existierte, wenn zu dem biologischen Leben eine Geistesseele hinzukam. Wann und wie dies geschehen sollte, wurde allerdings unterschiedlich beurteilt. Die Vertreter des Generatianismus waren der Auffassung, dass die Seele beim Zeugungsakt aus den Seelen der Eltern oder des Vaters erzeugt (lat.: generare) wurde. Nach dem Traduzianismus wurde die Seele übertragen (lat.: traducere).85 Innerhalb dieser Lehren fand sich zum einen die Auffassung, dass die Leibesfrucht erst nach 40 Tagen menschenähnlich wurde und das Menschsein erst zu diesem Zeitpunkt gegeben sein konnte. Die Beseelung konnte folglich auch erst nach 40 Tagen stattfinden. Teilweise wurde das Menschsein aber auch bereits mit Zeugung bejaht.86
81 82 83 84 85 86
Vgl. dazu: Schreiber, MedR 2003, S. 368. Darüber hinaus kann auch auf Psalm 8, Vers 5-9 und 1. Buch Mose/Gen. Kapitel 9, Vers 6 f. und 1. Brief an die Korinther, Kap. 11, Vers 7 hingewiesen werden. Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 5; Enders, Menschenwürde, S. 183 f. Vgl. dazu Hain, Der Staat 2006, S. 195. Demel, Abtreibung zwischen Straffreiheit und Exkommunikation, S. 21. Demel, Abtreibung zwischen Straffreiheit und Exkommunikation, S. 22 f.
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Vertreter des Kreatianismus gingen davon aus, dass die Seele von Gott aus dem Nichts erschaffen wurde.87 Wann die Beseelung erfolgen sollte, wurde uneinheitlich beantwortet. Albertus Magnus vertrat eine Simultanbeseelung. Mit der Zeugung erfolgte zugleich die Beseelung. Demgegenüber unterschied Thomas von Aquin wie Aristoteles auch eine vegetative und animalische Entwicklungsstufe, der ein jeweiliger Seelenzustand entsprach. Die von Gott kommende Geistesseele konnte erst hinzukommen, wenn die Leibesfrucht menschliche Gestalt angenommen hatte. Die Beseelung männlicher Embryonen sollte nach 40 Tagen, die weiblicher Embryonen nach 80 Tagen stattfinden. Begründet wurde diese zeitliche Differenzierung mit den alttestamentarischen Reinigungsvorschriften der Frau nach der Geburt.88 Die wechselhafte Dominanz dieser Auffassungen beeinflusste die Sanktionierung von Schwangerschaftsabbrüchen. Dementsprechend wurde zunächst jede Abtreibung mit lebenslänglicher, dann mit langjähriger Exkommunikation geahndet.89 Später wurde zwischen der Abtreibung einer beseelten und unbeseelten Leibesfrucht differenziert. Die Abtreibung einer beseelten Leibesfrucht wurde kirchenrechtlich als homicidium (Totschlag) geahndet. Die Abtötung unbeseelter Embryonen wurde als schwere sittliche Verfehlung eingestuft und nur mit einer einjährigen Buße belegt.90 3. Die Menschenwürde in der Renaissance Die Epoche der Renaissance ist für das moderne Meschenwürdeverständnis sehr bedeutend. Pico della Mirandola (1463-1494) löste die Würdebegründung von den theologischen Wurzeln und sah den Menschen als Mikrokosmos, in dem alle Möglichkeiten angelegt sind. Der Mensch hat nach seiner Auffassung Möglichkeiten, zwischen denen er frei wählen kann. Als Bildhauer und Dichter (lat.: plastes et fictor) kann er bestimmen, wie er leben will. In dieser Freiheit liegt seine Würde.91 Nicht der vom Sündenfall durch die Gnade Gottes gerettete Mensch, sondern das eigenständig gestaltende, vernünftige Individuum steht im Mittelpunkt. Die Würde ist nicht mehr verpflichtend; ein bestimmter göttlicher Wille muss nicht erfüllt werden. Dem Menschen steht es frei, durch sein eigenes Tun zu höchsten Lebensformen zu gelangen, oder auf die Stufe eines Tieres abzusinken.92 Fraglich ist, welchen Status Pico della Mirandola dem ungeborenen Leben zubilligt. Die Beantwortung dieser Frage hängt davon ab, ob ein tatsächliches Entwurfsvermögen gegeben sein muss, oder ob die bloße Potenz zu einem solchen Entwurfsvermögen bereits ausreicht. Nach Gröschners Interpretation reicht die
87 88 89 90 91 92
Demel, Abtreibung zwischen Straffreiheit und Exkommunikation, S. 23. Lev., Kap. 12 Vers 1-5; Belling, Rechtfertigungsthese, S. 32. Demel, Abtreibung zwischen Straffreiheit und Exkommunikation, S. 80 ff. Schockenhoff, Ethik des Lebens, S. 305. Vgl. Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 9; Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 296 f. Enders, Menschenwürde, S. 185.
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
bloße Potenz aus, so dass auch der nasciturus in den Kreis der Menschenwürdeträger miteinzubeziehen ist.93 4. Die Menschenwürde in der Aufklärung In der Zeit der Aufklärung besann man sich wieder auf die bereits in der Antike begründete Auffassung von der Würde als Teilhabe an der Vernunft. Pufendorf (1632-1694) verstand unter Würde eine vernunftgeleitete Wahlmöglichkeit, sich zwischen Gut und Böse zu entscheiden. Dieses Vernunftvermögen sollte der Seele des Menschen entspringen. Da nach Pufendorf alle Menschen unabhängig von Rasse, Geschlecht und Glauben, Verdienst und Ansehen dieses Vernunftvermögen haben, wurde ihnen allen gleichermaßen Würde zugesprochen.94 Unklar ist, welchen Status Pufendorf dem nasciturus zubilligte. Abhängig ist die Beantwortung der Frage wiederum davon, ob die Potentialität der Entscheidungsmöglichkeiten ausreicht, oder ob eine Entscheidungsmöglichkeit tatsächlich bestehen muss und der Mensch daher zumindest geboren sein muss.95 In Kants Ethik wird die vernunftgeleitete sittliche Autonomie dann zum Zentralbegriff. Kant sieht die Würde des Menschen in der Autonomie des Menschen begründet, d.h. in der Fähigkeit zur Selbstgesetzgebung auf der Grundlage eines freien Willens. Kant versteht hierunter nicht eine Freiheit zu einer beliebigen Selbstgesetzgebung, sondern eine vernunftgeleitete sittliche Autonomie und damit eine Freiheit, nur seiner eigenen und dennoch allgemeinen Gesetzgebung unterworfen zu sein.96 „Allein der Mensch, als Person betrachtet, d.i. als Subject einer moralisch-praktischen Vernunft, ist über allen Preis erhaben; denn als ein solcher (homo noumenon) ist er nicht blos als Mittel zu anderer ihren, ja selbst seinen eigenen Zwecken, sondern als Zweck an sich selbst zu schätzen, d.i. er besitzt eine Würde (einen absoluten innern Werth), wodurch er allen anderen vernünftigen Weltwesen Achtung für ihn abnöthigt, sich mit jedem Anderen dieser Arten messen und auf den Fuß der Gleichheit schätzen kann.“97
Dementsprechend fordert Kant in der zweiten Formel des kategorischen Imperativs: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als auch in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“98 93
94 95 96 97 98
Gröschner, Menschenwürde und Sepulkralkultur, S. 34; a. A. Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 297. Dieser vertritt, dass Picos Würdeverständnis ein tatsächliches Entwurfsvermögen voraussetze, und begründet dies mit der Aussage von Pico della Mirandola, dass „der Vater (in den Menschen) gleich bei seiner Geburt die Samen aller Möglichkeiten und die Lebenskeime jeder Art hineingelegt“ habe, in: Pico della Mirandola, Über die Würde des Menschen, S. 11. Ausführlich dazu: Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, S. 186188. So auch: Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S.298. Ausführlich dazu: Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 299. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, eingel. in: Timmermann, S. 49 f.. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, eingel. in: Timmermann, S. 44, Rn. 49.
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Die Achtungspflicht gegenüber anderen Menschen ist nach Kant aber keine notfalls mit Gewalt durchsetzbare Rechtspflicht. Sie ist zusammen mit der Nächstenliebe als eine der beiden Tugendpflichten einzuordnen. Die Achtungspflicht stellt eine negative Pflicht dar, sich nicht über einen anderen zu erheben. Eine Rechtspflicht stellt sie deshalb nicht dar, weil sie nicht wie Rechtspflichten durch einen bloßen äußeren Akt zu erfüllen ist. Erforderlich ist vielmehr, dass man sie zur Maxime des eigenen Handelns macht. Darüber hinaus ist diese Pflicht zu vage, um eine Rechtspflicht begründen zu können.99 Aus der Lehre Kants auf eine Erstreckung der Menschenwürde auf den nasciturus zu schließen, ist problematisch. Kant knüpft die Würde an vernunftgeleitetes Handeln, das dem Embryo als solchem noch nicht möglich ist.100 Aus diesen Gründen vertritt Dreier zu Recht, dass man Kants Personenbegriff nur unter „ziemlicher Verkennung von Intentionen und Voraussetzungen seiner Philosophie auf vorgeburtliches Leben beziehen kann“.101 5. Verfassungsrechtliche Rezeption des Menschenwürdebegriffs Mitte des 19. Jahrhunderts wird der Begriff der Menschenwürde zum politischen Schlagwort der Arbeiterbewegung. Lassalle forderte den Staat auf, die materielle Lage der Arbeiter zu verbessern und ihnen ein menschenwürdiges Dasein zu ermöglichen.102 Die Weimarer Reichsverfassung nahm die Forderung nach einem menschenwürdigen Dasein – allerdings beschränkt auf das Wirtschaftsleben – in Art. 151 Abs. 1 S. 1 programmhaft auf: „Die Ordnung des Wirtschaftslebens muss den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziel der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle entsprechen.“ Die früheste ausdrückliche Verankerung der Menschenwürde in einer rechtsstaatlichen Verfassung findet sich in der Präambel der irischen Verfassung.103 Das Unrechtssystem des nationalsozialistischen Regimes stärkte nach 1945 das Bewusstsein für die menschliche Würde. Am 26. Juni 1945 nahm die United Nations Conference on International Organization die Satzung der Vereinten Nationen an, die in Nr. 2 der Präambel die Formulierung „Glauben an grundlegende Menschenrechte, an die Würde und den Wert der menschlichen Persönlichkeit“ enthielt.104 Aufgenommen wurde die Würde auch in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte am 10. Dezember 1948. Auch einige vorkonstitutionelle Landesverfassungen beinhalteten bereits die Menschenwürde.105 99 100 101 102 103
104 105
Kant, Metaphysik der Sitten, 1956, S. 600. Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 84. Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 84. Dazu Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 15 m.w.N. Präambel der Verfassung der Republik Irlands v. 1.7.1937: „auf daß die Würde und Freiheit des Individuums gewährleistet“ werde. Engl. abgedruckt in JöR Bd. 25 (1938), S. 357. Zur verfassungsrechtlichen Rezeption des Menschenwürdebegriffs ausführlich: Stern, Staatsrecht III/1, S. 15 ff. Beispielsweise Art. 100 der Bayrischen Verfassung vom 2.12. 1946 und Art. 3 der Hessischen Verfassung vom 1. 12. 1946. Ausführliche Darstellung bei: Stern, Staatsrecht III/1, S. 17.
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
Letztlich bestand im Parlamentarischen Rat Einigkeit darüber, dass die Pflicht zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde in die Verfassung aufzunehmen sei und an die Spitze der Verfassung gehöre.106 Die Menschenwürde wurde darüber hinaus in vielen europäischen Verfassungen verankert, wie in der griechischen, schwedischen, portugiesischen, spanischen, schweizerischen und türkischen Verfassung.107 Ob der nasciturus vom Parlamentarischen Rat in den Schutzbereich der Menschenwürde einbezogen wurde, ist höchst problematisch. Die Beantwortung dieser Frage soll daher einem gesonderten Abschnitt vorbehalten bleiben.108 6. Ideengeschichtliche Prägung der verfassungsrechtlichen Menschenwürde? Nachdem die ideengeschichtliche Entwicklung der Menschenwürde und die verfassungsrechtliche Rezeption skizziert wurden, stellt sich die Frage, ob das grundgesetzliche Würdeverständnis von einer bestimmten theologischen oder philosophischen Denkrichtung geprägt ist. Es gab auf der einen Seite Versuche, die Menschenwürde im Verfassungstext naturrechtlich zu verankern. Dem Grundsatzausschuss lag in seiner 4. Sitzung am 23. September 1948 folgende Fassung zur Beratung vor: „Die Würde des Menschen ruht auf ewigen, einem Jeden von Natur aus eigenen Rechten.“109 Auf der anderen Seite wurde versucht, die Menschenwürde theistisch zu fundieren. In der 42. Sitzung des Hauptausschusses stellte diesbezüglich der Abgeordnete Seebohm den Antrag, in Art. 1 Abs. 2 GG die Worte „von Gott gegeben“ einzufügen.110 Diese Bemühungen fanden aber im Parlamentarischen Rat keine Mehrheit, so dass das Bekenntnis zur Menschenwürde ohne Zusätze und Herkunftsangaben niedergeschrieben wurde. Den entstehungsgeschichtlichen Materialien des Grundgesetzes kann man somit entnehmen, dass die Verfassungsväter und -mütter den Menschenwürdebegriff nicht im Sinne einer bestimmten philosophischen oder theologischen Denkrichtung verstehen wollten. Eine theistische Fundierung der Menschenwürde wäre im Übrigen problematisch. Zum einen widerspräche eine solche der Neutralitätspflicht des Staates. Zum anderen wäre darüber hinaus fraglich, ob sie auch von den Teilen der Gesellschaft akzeptiert würde, die keiner oder einer anderen Religion oder Weltanschauung angehören. Auch eine Fundierung in der Philosophie Kants wäre bedenklich, denn nach Kant ist die Menschenwürde keine Rechtspflicht sondern eine Tugendpflicht.111 Darüber hinaus wird Würde weniger als zu schützendes Gut begriffen, „sondern als – pflichtenethisch grundiertes – Vermögen zu eigener moralischer Gesetzge106 107 108 109 110 111
Stern, Staatsrecht III/1, S. 18, Fn. 62. Vgl. genaue Darstellung bei Stern, Staatsrecht III/1, S. 19. Vgl. 2. Kapitel B V 3 b). Wiedergegeben nach JöR n.f., Bd. 1 (1951), S. 48. Stern, Staatsrecht III/1, S. 18. Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 13.
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bung, die im Wesentlichen in der Einsicht in das objektive sittliche Gesetz besteht“.112 Dieser Pflichtcharakter der Menschenwürde spricht dagegen, die verfassungsrechtliche Menschenwürde gänzlich im Sinne der Philosophie Kants zu verstehen.113 Das verfassungsrechtliche Würdeverständnis kann daher weder als Rezeption der imago-dei-Lehre noch der Philosophie Kants verstanden werden. Theodor Heuss bezeichnete das Menschenwürdeversprechen des Grundgesetzes demgemäß als eine „nicht interpretierbare These“114 und meinte damit, dass die Menschenwürde des Grundgesetzes nicht auf einer bestimmten ideengeschichtlichen Strömung basiert.115 Dennoch wirken diese ideengeschichtlichen Grundgedanken in das heute geltende Würdeverständnis fort, was bei den im Folgenden darzustellenden aktuell vertretenen Auffassungen über den Inhalt des Menschenwürdebegriffs deutlich wird. Die ideengeschichtlichen Grundlagen können allerdings nur richtunggebende Hinweise liefern und dürfen nicht zur allein maßgeblichen Interpretationsmaxime gemacht werden.116 Die Menschenwürde des Art. 1 Abs. 1 GG ist ein verfassungsrechtlicher Begriff, der daher auch nach den Regeln der juristischen Auslegung zu interpretieren ist.117
III. Rechtscharakter der Menschenwürdegarantie Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG beinhaltet hinsichtlich der Menschenwürde ausdrücklich eine Schutzverpflichtung und wird von der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG erfasst. Schon aus diesen beiden Aspekten folgt, dass das Menschenwürdepostulat nicht nur einen unverbindlichen Programmsatz, eine präambelartige Motivationserklärung oder eine bloß ethische Deklamation darstellt. Vielmehr handelt es sich bei Art. 1 Abs. 1 GG um eine unmittelbar verbindliche Norm des objektiven Verfassungsrechts.118 Vom Bundesverfassungsgericht wird die Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG daher auch als „tragendes Konstitutionsprinzip“119,
112 113 114 115
116 117 118 119
Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 13. So auch: Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, Hofmann, AöR 1993, S. 357, Fn. 17; S. 306; Stern, Staatsrecht III/1, S. 8 f.. Parl. Rat, 4. Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen am 23.9.1948, abgedruckt in: Deutscher Bundestag/Bundesarchiv, Parlamentarischer Rat, Bd. 5/I, S. 72. Zippelius, in: Bonner Kommentar, Art. 1 Abs. 1 u. 2 Rn. 5; Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 306; ausführlich auch Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 7. Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rdnr. 1, 7, 13; Böckenförde-Wunderlich, Präimplantationsdiagnostik, S. 149. Zippelius, in: Bonner Kommentar, Art. 1 I Rn. 10. Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 42; Stern, Staatsrecht III/1, S. 26. BVerfGE 64, 261 (274).
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
als „höchster Rechtswert“ im grundgesetzlichen „Wertesystem“120 oder als „Wurzel der Grundrechte“121 bezeichnet. Fraglich ist aber, ob Art. 1 Abs. 1 GG darüber hinaus eine Grundrechtsgewährleistung verbürgt. Die Beantwortung dieser Frage ist nicht nur in prozessualer Hinsicht relevant.122 Prägend ist die Entscheidung dieser Frage zum einen für das Würdeverständnis und die Annäherung an den Würdeinhalt. Herdegen führt dazu aus: „Wer die Menschenwürde nur als ein Prinzip begreift, vermag sich leichter situationsgebundenen Konturen der Würdegarantie zu entziehen als die Verfechter eines subjektiven Rechtes, das sich beim Schutz des einzelnen in konkreten Lebensumständen zu bewähren hat.“123 Darüber hinaus ist die Beantwortung dieser Frage relevant für die Abgrenzung der Menschenwürde von den nachfolgenden Grundrechten, im vorliegenden Fall vor allem vom Lebensrecht.124 Im Folgenden ist daher zu prüfen, ob Art. 1 Abs. 1 GG lediglich eine verbindliche Norm des objektiven Verfassungsrechts darstellt oder darüber hinaus ein Individualgrundrecht verbürgt. Gegen den Grundrechtscharakter des Art. 1 Abs. 1 GG wird angeführt, dass der gesamte subjektiv-rechtliche Gehalt der Menschenwürde bereits in den einzelnen Grundrechten enthalten sei und durch die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG geschützt werde.125 Jede Beeinträchtigung des Art. 1 Abs. 1 GG werde zumindest von Art. 2 Abs. 1 GG erfasst, so dass ein lückenloser Rechtsschutz der Betroffenen gewährleistet sei.126 Darüber hinaus sei die besondere Normstruktur des Art. 1 Abs. 1 GG zu beachten. Im Gegensatz zu anderen Grundrechten, insbesondere den Freiheitsgrundrechten, sei der Schutzbereich des Art. 1 Abs. 1 GG nicht klar begrenzt. Darüber hinaus sei die Menschenwürde anders als die Gewährleistungen der folgenden Artikel nicht einschränkbar, sondern vielmehr unantastbar. Eine solche Normstruktur sei den folgenden Grundrechten aber fremd.127 120 121 122
123 124 125 126 127
BVerfGE 5, 85 (204); BVerfGE 35, 202 (225). BVerfGE 93, 266 (293). Handelt es sich bei der Menschenwürde um ein Verfassungsprinzip, so ist die Staatsgewalt zwar daran nach Art. 20 III GG gebunden und das Bundesverfassungsgericht müsste die Verletzung dieses Prinzips mit der abstrakten oder konkreten Normenkontrolle überprüfen. Allerdings würde die Verneinung der Grundrechtsqualität bedeuten, dass es sich bei der Menschenwürde um kein subjektives Recht handelt und der einzelne eine Verletzung der Menschenwürde nicht geltend machen könnte. Vgl. dazu auch die Ausführungen von Ipsen, in: JZ 2001, S. 990. Für die Fragestellung, ob die Spätabtreibungssituation mit der Menschenwürde vereinbar ist, ist die prozessuale Wirkung freilich irrelevant, da der Nasciturus selbst ohnehin keine Verletzung seiner Menschenwürde rügen kann und seine abtreibungswillige Mutter ihn in dieser Sache auch nicht vertreten wird. Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 29. So auch: Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 357. Dürig, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Art. 1 Abs. I Rn. 4 ff. (Erstb.); Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 129. Geddert-Steinacher, Menschenwürde, S. 172. Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 127; Lorenz, ZfL 2001, S. 39 f.
B. Die Menschenwürde
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Darüber hinaus wird befürchtet, dass die Zuordnung der Menschenwürde zu den Grundrechten eine Relativierung und Abwägung derselben begünstige und sie im Ergebnis schwäche.128 Normative Irrelevanz sei bei einer Verneinung der Grundrechtsqualität im Übrigen nicht die Folge. Als Konstitutionsprinzip und Kerngarantie des Grundgesetzes bilde Art. 1 Abs. 1 GG den denkbar höchsten Maßstab für die Ausübung der staatlichen Gewalt und wirke in der Rechtspraxis in flexibler Weise auf das Verständnis der Grundrechte sowie der gesamten Verfassungsordnung ein.129 Auch die Normgenese deutet darauf hin, die Menschenwürde als bloß objektives Verfassungsprinzip zu begreifen. Im Parlamentarischen Rat formulierte Bergsträsser: „Aus den allgemeinen Ausführungen des Art. 1, die von uns eigentlich präambelartig für die ganzen Grundrechte gedacht waren – so hatten wir Art. 1 von Anfang an aufgefasst -, sollte nun in das unmittelbar geltende Recht übergeleitet werden.“130 Für ein bloß objektives Verfassungsprinzip wird darüber hinaus auf den Normtext verwiesen. Das Wörtchen „darum“ in Art. 1 Abs. 2 GG spreche gegen den Grundrechtscharakter der Menschenwürdegarantie. Auch Art. 1 Abs. 3 GG, der die Staatsorgane zur Einhaltung der „nachfolgenden Grundrechte“ verpflichtet, spreche gegen den Grundrechtscharakter des Art. 1 Abs. 1 GG. Gleichwohl ist diese Argumentation zweifelhaft, da nicht alle nachfolgenden Artikel echte Grundrechte im Sinne subjektiver Abwehrrechte sind und grundrechtsgleiche Rechte auch jenseits des ersten Abschnitts existieren.131 Darüber hinaus steht Art. 1 GG unter der Überschrift „I. Die Grundrechte“, was auf den Grundrechtscharakter der Menschenwürdegarantie hindeutet. Aus dem Zusammenhang der drei Absätze von Art. 1 GG schließt Nipperdey auf den Grundrechtsgehalt der Menschenwürde. Zuerst werde in Abs. 1 die Menschenwürde garantiert, in Abs. 2 folge daraus ein Bekenntnis zu den Menschenrechten und in Abs. 3 wird die Staatsgewalt an die nachfolgenden Grundrechte gebunden. Art. 1 Abs. 1 GG sei daher gerade „die Wurzel und Quelle aller später formulierten Grundrechte und damit selbst das materielle Hauptgrundrecht“.132 Letztlich liefern Wortlaut und Systematik widersprüchliche Aussagen. Eine eindeutige Antwort auf die Frage nach der Rechtsnatur des Art. 1 Abs. 1 GG geben diese Auslegungsmethoden nicht.133 Die wohl herrschende Auffassung in der Literatur geht davon aus, dass Art. 1 Abs. 1 GG zugleich ein Grundrecht darstelle.134 Auch das Bundesverfassungsge-
128 129 130 131 132 133
134
Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 127. Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 128. Bergsträsser, in: Parlamentarischer Rat Bd 5, S. 594. Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 125. Nipperdey, in: Neumann/Nipperdey/Scheuner, Grundrechte, S. 12. So auch: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 125; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG Kommentar, Art. 1 Abs. 1 Rn. 29; Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 358. Häberle, in: Isensee/Kirchhof, HStR II, § 22 Rn. 74; Hain, Der Staat 2006, S. 196; Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 29; ders., GS Heinze, S. 359;
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
richt scheint implizit vom Grundrechtscharakter auszugehen, indem es Verfassungsbeschwerden unter Berufung auf Art. 1 Abs. 1 GG zuließ.135 Begründen lässt sich diese Sichtweise mit teleologischen Erwägungen. Zweck der Norm ist, den Menschen als Subjekt mit eigenen Rechten zu etablieren. Daher muss die Menschenwürdegarantie eine subjektiv-rechtliche Gewährleistung verbürgen.136 Der auf ein Subjekt bezogenen Achtungs- und Schutzverpflichtung des Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG muss daher eine Berechtigung des einzelnen Menschen korrespondieren.137 Mit dem Grundgesetz sollen Rechte wirkungsvoll gewährleistet werden. Art. 19 Abs. 4 GG verbürgt dazu einen effektiven Rechtsschutz und Art. 93 I Nr. 4a GG ermöglicht die Verfassungsbeschwerde.138 Lehnt man den Grundrechtscharakter des Art. 1 Abs. 1 GG ab, so ist eine Verfassungsbeschwerde unter Berufung auf Art. 1 Abs. 1 GG niemals möglich. Gerade dem höchsten Wert der Verfassung muss aber eine optimale Durchsetzungsmöglichkeit entsprechen, so dass Art. 1 Abs. 1 GG zugleich als Grundrecht zu verstehen ist. Die Tatsache, dass bei einer Beeinträchtigung der Menschenwürde meist auch ein anderes Grundrecht betroffen ist, kann diese Sichtweise nicht erschüttern. Lücken weisen die übrigen Grundrechte vor allem im Bezug auf neu aufkommende Gefahren der Biotechnologie auf.139 Auch der Verweis darauf, dass Art. 1 Abs. 1 GG eher als Präambel des Grundrechtsteils gesehen wurde, bedeutet im Hinblick auf seine Offenheit nicht, dass er nicht auch zugleich ein Grundrecht beinhalten kann.140 Art. 1 Abs. 1 GG ist somit nicht nur ein objektives Verfassungsprinzip, sondern beinhaltet zugleich ein Grundrecht.
IV. Inhalt der Menschenwürde Im Folgenden soll die Frage geklärt werden, was die Menschenwürdegarantie inhaltlich verbürgt. 1. Schwierigkeiten bei der Konkretisierung der Menschenwürde Es gibt vielfache Versuche, den Inhalt der Menschenwürde zu konkretisieren. Schwierig gestaltet sich diese Konkretisierung zum einen deshalb, weil die Menschenwürde in zweieinhalb Jahrtausenden Philosophiegeschichte von unterschiedlichen Ideen geprägt wurde.
135 136 137 138 139 140
Höfling, in: Sachs, GG Kommentar, Art. 1 Rn. 4 ff.; Ipsen, JZ 2001, S. 990 f.; SchmidtJortzig, DÖV 2001, S. 926; Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 358. Vgl. beispielsweise BVerfGE 49, 286; 50, 256; 72, 105. Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 30; Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 358. Höfling, in: Sachs, GG Kommentar, Art. 1 Rn. 6. Starck, in: v.Mangoldt/Klein/Starck, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 29. Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 29; Ipsen, JZ 2001, S. 991 So auch: Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 358.
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Zum anderen bereitet die spezifische Normstruktur des Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit der Unantastbarkeitsklausel Probleme. Im Gegensatz zu anderen Grundrechtsgewährleistungen, wie beispielsweise die Berufsfreiheit des Art. 12 GG oder die Kunstfreiheit des Art. 5 Abs. 3 GG, verfügt die Menschenwürde nicht über einen sachlich eigengeprägten Normbereich, wie dies auch bei den Generalklauseln des Art. 2 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG der Fall ist.141 Das Prinzip der Menschenwürde verweist vielmehr auf ein umfassendes Spektrum menschlichen Handelns. Bezugspunkt ist nicht ein besonderes Verhalten eines Grundrechtsträgers. Vielmehr geht es um den Modus einer Handlung. Als modal ausgerichtete Generalklausel kennzeichnet die Menschenwürde eine besondere normative Offenheit.142 Im Wesentlichen gibt es zwei Methoden, sich dem Gewährleistungsgehalt der Menschenwürde zu nähern. Einerseits wird versucht den Inhalt der Menschenwürde positiv zu bestimmen. Andererseits wird bei der Begriffsbestimmung auf den Verletzungsvorgang abgestellt. Bei der Darstellung der unterschiedlichen Ansichten soll zugleich darauf eingegangen werden, welchen Status der nasciturus bei der jeweiligen Position einnimmt. 2. Positive Begriffsbestimmung a) Wert- oder Mitgifttheorien Die Wert- oder Mitgifttheorien verstehen unter Würde eine bestimmte, den Menschen auszeichnende Qualität.143 Sie stehen in der Tradition der christlichen Naturrechtslehre und der Philosophie Kants. Dementsprechend begegnen uns diese Theorien in zwei Varianten. aa) Christliche Variante Nach der christlichen Variante hat jeder Mensch einen von Gott mitgegebenen Wert.144 Dieser Wert gründet sich auf die Ebenbildlichkeit des Menschen mit Gott, durch welche Gott ihn zu seinem Partner erklärt und zur Verantwortung für sein eigenes Verhalten und die Schöpfung aufgerufen hat.145 Diese besondere Auszeichnung im Rahmen der göttlichen Schöpfungsordnung hebt ihn von anderen Lebewesen ab.146 Würde wird in einem transzendentalen, metaphysischen Sinne verstanden. Dementsprechend kommt es nicht darauf an, ob bestimmte geistige oder moralische Bedingungen erfüllt sind. Die Würde besteht unabhängig von ihrer Aktualisierungsmöglichkeit, vom Entwicklungsstand oder Ichbewusstsein. Ein solches Würdeverständnis hat den Vorteil, dass es die Würde jedes Menschen, auch des geistig Schwerbehinderten, gut begründen kann.147 Auch dem
141 142 143 144 145 146 147
Höfling, in: Sachs, GG Kommentar, Art. 1 Rn. 9. Höfling, in: Sachs, GG Kommentar, Art. 1 Rn. 9. Vgl. dazu Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 55. Vitzthum, JZ 1985, S. 206. Vgl. Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 55. Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 55. Hofmann, AöR 1993, S. 361.
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nasciturus kann bei einem solchen Würdeverständnis Würde zugesprochen werden. Problematisch ist jedoch, dass die christliche Variante auf einer sehr bewegten Dogmengeschichte basiert, in der dem nasciturus längst nicht immer eine volle Menschenqualität zuerkannt wurde. Darüber hinaus bereitet es in einem weltanschaulich neutralen Staat Probleme, gewichtige Normen wie Art. 1 Abs. 1 GG anhand religiöser Glaubenssätze zu interpretieren.148 bb) Naturrechtlich-idealistische Variante Nach der auf Kant zurückgehenden naturrechtlich-idealistischen Variante wurzelt die besondere Qualität des Menschen in seiner Begabung zu vernunftgeleiteter sittlicher Autonomie. Auch in dieser Variante versteht man unter Würde eine inhärente, jedem Menschen zukommende Qualität.149 Wie in der christlichen Variante, wird Würde auch hier in einem transzendentalen metaphysischen Sinne verstanden, so dass es auf ihre Aktualisierung oder Aktualisierungsmöglichkeit nicht ankommt.150 Hofmann weist allerdings darauf hin, dass diese Ansicht Begründungsschwierigkeiten beim Würdezuspruch an den nasciturus, geistig Behinderte oder Menschen ohne Bewusstsein habe. Sie müsse dann mit einem potentiellen Vernunftvermögen oder den Fähigkeiten der Gattung argumentieren und könne nicht auf die konkrete Würde des Einzelnen abstellen.151 Auch die naturrechtlich-idealistische Variante legt ein ideengeschichtlich geprägtes Menschenbild zugrunde. Wie oben gezeigt, wollten die Verfassungsväter- und mütter die Menschenwürde aber gerade nicht als Ausprägung einer bestimmten ideengeschichtlichen Strömung verstehen. Weder die christliche noch die naturrechtlich-idealistische Variante sind folglich dazu geeignet, den Inhalt der Menschenwürde zu konkretisieren. b) Leistungstheorie Luhmann vertritt ein leistungsorientiertes, dynamisches Menschenwürdekonzept.152 Dieses Würdekonzept erinnert stark an das am Ansehen in der Gesellschaft orientierte römische Würdeverständnis. Nach Luhmann ist Würde anders als gewisse Grundanlagen der Intelligenz keine Naturausstattung und auch kein dem Menschen aufgrund einer bestimmten Naturausstattung immanenter Wert.153 Würde bedarf nach dieser Auffassung vielmehr der Konstitution. „Sie ist das Ergebnis schwieriger, auf generelle Systeminteressen der Persönlichkeit bezogener, teils bewusster, teils unbewusster Darstellungsleistung und in gleichem Maße Ergebnis ständiger sozialer Kooperation, die ebenfalls bewusst oder unbewusst, la-
148 149 150 151 152 153
Hofmann, AöR 1993, S. 361; Hörnle, ARSP 2003, S. 323. Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 310. Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 55; Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 309. Hofmann, AöR 1993, S. 361. Luhmann, Grundrechte als Institution, S. 68 ff. Luhmann, Grundrechte als Institution, S. 68.
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tent oder durchschauend – niemals aber in Form offener Kommunikation, weil das ein Darstellungsfehler wäre – praktiziert werden kann.“154 Durch eine erfolgreiche Selbstdarstellung in Kommunikation mit anderen Menschen gewinne der Agierende seine Würde und werde zur Person.155 Diese Darstellungsleistung kann nach Luhmann aber auch misslingen, so dass der Mensch bei jeder Kommunikation riskiert, seine Würde zu verlieren.156 Es sei ihm aber auch möglich, diese Würde wiederherzustellen. Luhmann zieht daraus die Konsequenz, dass die Würde nach diesem Verständnis „alles andere als >unantastbar<“ sei.157 Da die Würde des Menschen auf seiner eigenen Darstellungsleistung basiere, hätten die Grundrechte nicht die Funktion, Würde zu gewährleisten.158 Vielmehr müsse die Verfassung dem Einzelnen die Selbstdarstellung ermöglichen.159 Menschen, die zu einer eigenen Identitätsbildung nicht fähig sind, wie der geistig Schwerstbehinderte und der nasciturus, sind nach dieser Ansicht von vorneherein aus der Würdegarantie ausgeschlossen. Für diese Auffassung lässt sich anführen, dass sie weltanschaulich neutral ist und von allen Mitgliedern in einer pluralistischen Gesellschaft akzeptiert werden kann.160 Darüber hinaus ist dieser Theorie zugute zu halten, dass sie eine Verbindung zwischen der Staatsfundamentalnorm des Art. 1 Abs. 1 GG und den Grundentscheidungen der Verfassung knüpft. Sowohl Rechts- und Sozialstaatsprinzip als auch die Gleichheits- und Freiheitsrechte sind darauf gerichtet, die Leistung der Identitätsbildung zu ermöglichen und zu sichern.161 Im Dunkeln bleibt aber, wann eine gelungene Selbstdarstellung überhaupt vorliegt. Problematisch ist darüber hinaus, dass nach dieser Auffassung Personen, die nicht zur Identitätsbildung fähig sind, z.B. dem geistig Schwerstbehinderten oder dem Anenzephalus, keine Würde zukommt.162 Im Hinblick darauf, dass Art. 1 Abs. 1 GG auch als Reaktion auf die Vernichtung lebensunwerten Lebens in der Zeit des Dritten Reiches zu begreifen ist, kann ein ausschließlich leistungsorientiertes Verständnis der Menschenwürde nicht überzeugen und ist somit abzulehnen. c) Anerkennungs- oder Kommunikationstheorie Nach der von Hofmann entwickelten Anerkennungs- oder Kommunikationstheorie ist die Menschenwürde weder eine Eigenschaft oder Qualität des Individuums noch Ausdruck seiner Leistung. Würde konstituiere sich vielmehr „in sozialer Anerkennung durch positive Bewertung von sozialen Achtungsansprüchen. Jedenfalls 154 155 156 157 158 159 160 161 162
Luhmann, Grundrechte als Institution, S. 68 f. Luhmann, Grundrechte als Institution, S. 69. Luhmann, Grundrechte als Institution, S. 67. Luhmann, Grundrechte als Institution, S. 69. Luhmann, Grundrechte als Institution, S. 72. Luhmann, Grundrechte als Institution, S. 75. Zaar, Wann beginnt die Menschenwürde, S. 47; Hofmann, AöR 1993, S. 362; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 370. Hofmann, AöR 1993, S. 362; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 370. Luhmann, Grundrechte als Institution, S. 69.
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
im Rechtssinne sei Würde demnach kein Substanz-, Qualitäts- oder Leistungs-, sondern ein Relations- oder Kommunikationsbegriff.“163 In Anlehnung an Pufendorf begreift Hofmann die Würde „als eine Kategorie der Mitmenschlichkeit des Individuums“ und zieht daraus den Schluss, dass Schutzgut des Art. 1 Abs. 1 GG die mitmenschliche Solidarität sei.164 Die Menschenwürde ist nach dieser Auffassung ein rein normativer Wert, der innerhalb einer Gemeinschaft zuerkannt wird und das Miteinander bestimmt. Menschenwürde ist daher nicht losgelöst von einer bestimmten Anerkennungsgemeinschaft denkbar. Hofmann betont, dass die Menschenwürde nicht nur ein Grundrecht, sondern eine Staatsfundamentierungsnorm sei. Das Deutsche Volk habe den Staat gerade um der Würde der Menschen willen gegründet. Im Staatsgründungsakt sprächen sich die Menschen gegenseitig Würde zu und gäben sich ein gegenseitiges Versprechen. „Im wechselseitigen Versprechen wird ein gemeinsamer Sinn festgestellt, der allen Beteiligten Maßstab sein soll.“165 Das Gründungsversprechen verlange mehr als die bloße gegenseitige Achtung des Lebens, der Freiheit und Unverletzlichkeit; es erfordere darüber hinaus, dass der andere in seiner Eigenart und individuellen Besonderheit mit allem, was er als Teil des Ganzen einbringt, geachtet werde.166 Erniedrigungen seien ausgeschlossen, da keinem die Befugnis zustehe, einem Mitglied des Gemeinwesens die Würde abzusprechen. Die soziale Anerkennung beziehe sich zunächst nur auf Mitglieder einer nationalen Solidargemeinschaft, die sich durch das Staatsgründerversprechen gegenseitigen Respekt versprochen hätten. Das Gründungsversprechen bedarf nach Hofmann ständiger Erneuerung.167 Träger der Menschenwürde können deshalb nur Personen sein, die fähig sind, ein solches Versprechen abzugeben. Die auf einem wechselseitigen Versprechen basierende Menschenwürde sagt zunächst nichts über die noch nicht oder nicht mehr zur Anerkennungsgemeinschaft gehörenden Menschen aus. Hofmann spricht Verstorbenen einen Würdeanspruch zu, weil dieses Andenken „zur eigenen wechselseitig anzuerkennenden Identität und Selbstachtung gehört“.168 Geehrt wird damit die persönliche Individualität, die ein Dasein voraussetzt. Der nasciturus ist aber nie da gewesen und kann nicht erniedrigt werden. Demgemäß kann der nasciturus nicht Subjekt eines sozialen Achtungsanspruchs sein. Er ist aber mögliches Schutzobjekt einer Rechtspflicht, welche die Gesellschaft dem ungeborenen Leben um ihrer Selbstachtung willen schulde.169 Hörnle weist darauf hin, dass eine altruistische Erweiterung des Kreises der Versprechensempfänger als Vertrag zugunsten Dritter möglich sei. Die Versprechensgeber könnten auch ungeborene Kinder in ihr Versprechen miteinbeziehen. 163
164 165 166 167 168 169
Hofmann, AöR 1993, S. 364; zustimmend Hörnle, ARSP 2003, S. 323 f.; unterstützt wird diese Ansicht wohl auch von Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 57; Zaar, Wann beginnt die Menschenwürde, S. 51. Hofmann, AöR 1993, S. 364. Hofmann, AöR 1993, S. 369. Hofmann, AöR 1993, S. 377. Hofmann, AöR 1993, S. 377. Hofmann, AöR 1993, S. 375. Hofmann, AöR 1993, S. 376; Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 Rn. 84.
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In Fällen einer staatlich angeordneten Tötung ungeborener Kinder bestehe zudem ein eigenes Interesse der Versprechensgeber. In den Fällen, in denen den Eltern aufgrund einer schwersten Behinderung ein unzumutbares Opfer abverlangt werde, könne man aber kein Würdeversprechen der Eltern annehmen.170 In diesen Fällen scheidet der nasciturus somit als Träger der Menschenwürde aus. Dieses vertragstheoretische Menschenwürdeverständnis hat den Vorteil, dass es sich auf keine bestimmte geistesgeschichtliche Sichtweise stützt, was dem Willen des Verfassungsgebers entspricht. Problematisch ist allerdings, dass nicht deutlich wird, was Menschenwürde konkret inhaltlich bedeutet. Diese Auffassung bietet weniger eine Definition des Begriffs der Menschenwürde als eine Fundierung der Menschenwürde. Der Inhalt des Gründungsversprechens ist darüber hinaus schwer zu ermitteln und erfährt durch die ständige Erneuerung des Gründungsversprechens Veränderungen. Gerade problematische Fragen wie der Status des nasciturus unterliegen dadurch einem „unbeständigen gesellschaftlichen Konsens“.171 Dies widerspricht der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG.172 Diese Norm entzieht Art. 1 Abs. 1 GG der gesellschaftlichen Disposition und zeigt, dass das Versprechen des Art. 1 Abs. 1 GG gerade nicht der ständigen Erneuerung bedarf. Der Inhalt der Würde muss daher mit Hilfe juristischer Auslegungsmethoden ermittelt werden. Letztlich bietet diese inhaltliche Unbestimmtheit dem Einzelnen die Möglichkeit, seine subjektive Sichtweise einzuflechten. Möglich ist es, dem nasciturus Würde zuzuerkennen, wie Hörnle, oder abzusprechen, wie Hofmann. Zu Recht weist Müller-Terpitz darauf hin, dass das von Hofmann für die soziale Anerkennung vorausgesetzte Dasein nicht erst mit Geburt, sondern bereits mit Befruchtung beginnen könne. Schließlich lebe der Embryo bereits in der Mutter und könne in einer späteren Entwicklungsphase auch mit Bewegungen auf äußere Abläufe reagieren. Die pränatale Diagnostik trägt zusätzlich dazu bei, dass das Kind bereits im Mutterleib als ein anderer anerkannt wird. Gerade hinsichtlich der Frage, ob dem nasciturus Würde zuzusprechen ist oder nicht, besteht ein weiter Interpretationsspielraum. Der Ansatz von Hörnle ist deshalb problematisch, weil ihr ein generelles altruistisches Menschenwürdeversprechen bezüglich schwerstbehinderter Föten nicht vorstellbar erscheint. Es erscheint höchst bedenklich, dem einen nasciturus Würde zuzusprechen, dem anderen eine solche aber abzusprechen und die Würde zur Disposition der Eltern zu stellen. Möglich erscheint auch, dass sich nicht nur die werdenden Eltern sondern auch die Eltern eines neugeborenen schwerstgeschädigten Kindes der Erziehung nicht gewachsen fühlen. In einem solchen Fall, der sich in entwicklungsbiologischer Hinsicht kaum von dem des nasciturus unterscheidet,
170 171
172
Hörnle, ARSP 2003, S. 333. Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 317. Hörnle erkennt dieses Problem und will daher den Inhalt des Menschenwürdeversprechens im Hinblick auf die nationalsozialistischen Taten bestimmen. Problematisch ist allerdings, dass ein Bezug zu neueren Gefährdungen fehlt. Zaar, Wann beginnt die Menschenwürde, S. 50.
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
kann eigentlich auch nicht von einem Würdeversprechen ausgegangen werden.173 Gleichwohl wird diese Konsequenz nicht gezogen. Im Ergebnis eignet sich diese Theorie lediglich zur Fundierung des Menschenwürdegedankens. Für eine Definition ist sie aufgrund ihrer Unbestimmtheit und Wertungsunsicherheit ungeeignet. d) Zwischenergebnis Wie gezeigt, können die positiven Bestimmungsversuche den Inhalt der Menschenwürde nicht zufriedenstellend konkretisieren. Generell mangelt es diesen Theorien an Bestimmtheit. 3. Negative Bestimmungsversuche Aufgrund der Schwierigkeiten, den Inhalt der Menschenwürde positiv zu umschreiben, wird vielfach versucht, sich dem Garantiebereich der Menschenwürde negativ, d.h. vom Verletzungsvorgang her, zu nähern. Im Mittelpunkt steht die Frage, wann die Würde des Menschen verletzt ist, wobei der Interpret natürlich eine gewisse Vorstellung über den Inhalt der Menschenwürde haben muss. Aber gerade bei unbestimmten normativen Begriffen ist das Falsifizieren oftmals leichter als die positive Bestimmung ihres Inhalts.174 a) Objektformel von Dürig Dürig entwickelte in Anlehnung an Kant die so genannte „Objektformel“, der sich auch das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich angeschlossen hat. Die Menschenwürde ist demnach verletzt, wenn „der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird.“175 In der bioethischen Diskussion wird häufig der Begriff Instrumentalisierungsverbot synonym verwendet. Eine solche Negativdefinition hat den Vorteil, dass sie bei der Verfassungsinterpretation flexibel ist und auf neue Bedrohungen reagieren kann. Eine Versteinerung des Würdebegriffs wird dadurch verhindert.176 Vorteilhaft ist auch, dass sie ohne Bezugnahme auf eine bestimmte weltanschauliche Position auskommt und somit Art. 1 Abs. 1 GG in einer pluralistischen Gesellschaft konsensfähig bleibt.177 Grundsätzlich ist diese Objektformel zur Identifizierung evidenter Menschenwürdeverstöße wie Folter, Gehirnwäsche, Erniedrigung oder Ächtung geeignet.178 Außerhalb evidenter Menschenwürdeverletzungen ist sie allerdings sehr vage und wird daher häufig als Leerformel kritisiert.179
173 174 175 176 177 178 179
Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 318. Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 319. Dürig, AöR 1956, S. 127. Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 51. Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 52. Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 53; Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Art. 1 Abs. 1 Rn. 37 f. Herdegen, JZ 2001, S. 775.
B. Die Menschenwürde
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Das Bundesverfassungsgericht, das sich dieser Formel oftmals selbst bediente,180 hat auf eine gravierende Schwäche der Objektformel hingewiesen. „Der Mensch ist nicht selten bloßes Objekt nicht nur der Verhältnisse und der gesellschaftlichen Entwicklung, sondern auch des Rechts, insofern er ohne Rücksicht auf seine Interessen sich fügen muß. Eine Verletzung der Menschenwürde kann darin allein nicht gefunden werden.“181 Zum Objekt wird der Bürger beispielsweise bei der Versendung von Steuerbescheiden, denn er muss entgegen seinen Interessen zahlen. Gleichwohl kann man in diesem Fall keinen Würdeverstoß erblicken. Zum Objekt werden auch Soldaten im Kriegseinsatz, wenn sie zurückgezogen, verschoben und eingesetzt werden. Die Verwendung dieses Vokabulars zeigt, dass die Subjektqualität nicht mehr im Vordergrund steht, sondern Soldaten eher als Objekte behandelt werden.182 Dennoch wird auch in diesen Fällen von niemandem ein Menschenwürdeverstoß geltend gemacht. Die Objektformel ist somit in dieser Hinsicht zu weit. Auf der anderen Seite wird durch das Erfordernis einer Instrumentalisierung des Gegenübers zum „bloßen Mittel“ aber auch nicht jeder Menschenwürdeverstoß erfasst. Dies wird deutlich, wenn man sich folgenden Fall vor Augen führt. Ein politischer Gegner wird misshandelt oder gefoltert, um ihn in seiner anerkannten Subjektivität zu schädigen.183 Insoweit ist die Objektformel zu eng. Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, dass eine negative Umschreibung der Menschenwürde dogmatisch nicht einwandfrei ist, da sämtliche Argumente, die normalerweise der Eingriffs- oder Rechtfertigungsdogmatik zugeordnet werden, hier bereits im Schutzbereich erörtert werden müssen.184 b) Präzisierungsversuche des Bundesverfassungsgerichts Das Bundesverfassungsgericht hat eingedenk der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft zunächst „Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung, Ächtung usw.“185, „Misshandlung und Diskriminierung“186 und „grausame, unmenschliche und erniedrigende Strafen“187 ausdrücklich als Würdeverletzungen qualifiziert. Schließlich folgte es der von Dürig entwickelten Objektformel mit einigen Abstrichen.188 Ausgehend von der Erkenntnis, dass der Einzelne häufig Objekt des Rechts ist,189 versuchte das Bundesverfassungsgericht im Abhörurteil die Objektformel zu präzisieren, indem es sie durch ein subjektives Element ergänzte.
180 181 182 183 184 185 186 187 188 189
BVerfGE 9, 89 (95); 27, 1 (6); 28, 386 (391); 45, 187 (228); 50, 166 (175); 87, 209 (228). BVerfGE 30, 1 (25 f.); so auch Hilgendorf, Jahrbuch für Recht und Ethik 1999, S. 142. Zaar, Wann beginnt die Menschenwürde, S. 21. Zaar, Wann beginnt die Menschenwürde, S. 19. vgl. Elsner/Schobert, DVBl. 2007, S. 280 f. BVerfGE 1, 97 (104); 96, 375 (400); 102, 347 (366 f.). BVerfGE 109, 279 (312). BVerfGE 45, 187 (228). BVerfGE 9, 89 (95); 45, 187 (228); 50, 166 (175); 72, 105 (116). BVerfGE 30, 1 (25).
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
„Hinzukommen muss, dass er einer Behandlung ausgesetzt wird, die seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt, oder dass in der Behandlung im konkreten Fall eine willkürliche Missachtung der Würde des Menschen liegt.“
Damit die Behandlung durch die öffentliche Hand die Menschenwürde tangiere, müsse in der Behandlung ein „Ausdruck der Verachtung des Wertes“ des Menschen liegen. Es müsse also gerade eine „verächtliche Behandlung“ vorliegen.190 Dieser Präzisierungsversuch ist bei näherem Hinsehen nicht gelungen. Die „Infragestellung der Subjektqualität“ ist inhaltsgleich mit der Objektformel und beinhaltet damit nichts Neues. Im Dunkeln bleibt auch, wann die Subjektqualität des Einzelnen prinzipiell in Frage gestellt wird. Eine klare Antwort darauf findet sich auch nicht in der Entscheidung zum großen Lauschangriff, in der das Bundesverfassungsgericht ausführt, dass die Subjektqualität des Einzelnen prinzipiell dann in Frage gestellt werde, wenn die Behandlung seitens der öffentlichen Gewalt die Achtung des Wertes vermissen ließe, der jedem Menschen um seiner selbst willen zukomme.191 Diese Formulierung ist zum einen sehr vage, zum anderen setzt sie ein Würdeverständnis bereits voraus. Neu ist aber das Abstellen auf eine „willkürliche Missachtung“. Im Umkehrschluss bedeutete dies aber, dass eine willkürfreie zielgerichtete Würdeverletzung zulässig wäre. Auf die Intention des Verletzenden kann es aber nicht ankommen. Vielmehr ist darauf abzustellen, ob aus Sicht des Verletzten eine Würdeverletzung vorliegt. Denn auch eine Würdeverletzung in guter Absicht bleibt eine Würdeverletzung.192 Darüber hinaus bleibt auch im Dunkeln, wann eine staatliche Maßnahme „verächtlich“ und „Ausdruck der Verachtung“ ist. Diese Formulierungen sind zu unbestimmt, als dass sie die Konkretisierung des Menschenwürdegehalts erleichtern könnten. Vielmehr erschweren sie die Konkretisierung zusätzlich.193 In den folgenden Entscheidungen hat das Bundesverfassungsgericht auch nicht mehr an diesen Präzisierungsversuch angeknüpft, sondern eine Würdeverletzung dann bejaht, wenn der Mensch zum bloßen Objekt des Staates gemacht wird oder einer Behandlung ausgesetzt wird, die seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt.194 Darüber hinaus griff es auch auf die positive Aufzählung von Verletzungstatbeständen zurück, nämlich „Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung, Ächtung usw.“195 Im Ergebnis hält das Bundesverfassungsgericht die Objektformel für geeignet, um die richtige Richtung zu weisen, zweifelt aber daran, ob eine generelle Defini190 191 192
193 194 195
BVerfGE 30, 1 (26). BVerfGE 109, 279 (313). Darauf wurde auch im abweichenden Votum des Abhörurteils hingewiesen. BVerfGE 30, 1 (39 f.); Hofmann fragt darüber hinaus kritisch, ob es neben der willkürlichen Missachtung der Menschenwürde überhaupt eine willkürfreie Missachtung gebe. Vgl. Hofmann, AöR 1993, S. 360 Im Ergebnis so auch Zaar, Wann beginnt die Menschenwürde, S. 21; Hofmann, AöR 1993, S. 360. Vgl. nur BVerfGE 87, 209 (228); BVerfGE 96, 375 (399). Vgl. nur BVerfGE 102, 347 (367); BVerfGE 1, 97 (104).
B. Die Menschenwürde
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tion des Menschenwürdebegriffs überhaupt möglich ist. Wann eine Menschenwürdeverletzung vorliege, könne man nicht generell, sondern nur in Ansehung des konkreten Falles sagen.196 Der Maßstab der Menschenwürde ist nach dem Bundesverfassungsgericht mit Blick auf die spezifische Situation, in der es zum Konfliktfall kommt, näher zu konkretisieren.197 Was die Achtung der Menschenwürde im Einzelnen erfordere, könne auch nicht losgelöst von den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen bestimmt werden.198 Daraus folgt, dass durch zeitbedingten Wandel sich im Grenzbereich von Würdeverletzungen und Vereinbarkeit Verschiebungen ergeben können. Letztlich sind die Präzisierungsversuche des Bundesverfassungsgerichts nicht ausreichend. Es bleibt dabei, dass sich mit Hilfe der Objektformel nur offensichtliche Würdeverletzungen wie Folter und Gehirnwäsche, bei denen ein allgemeiner Konsens leicht hergestellt werden kann, aufgedeckt werden können. Ein solcher evidenter Konsens fehlt aber beispielsweise ganz offensichtlich in der Abtreibungsdebatte und im bioethischen Bereich.199 c) Präzisierungsversuche in der Literatur Um der Objektformel Konturen zu verleihen, wurden im juristischen Schrifttum Fallgruppen herausgearbeitet, deren Beachtung die Menschenwürde erfordert und bei deren Missachtung eine Objektstellung des Menschen nahe liegt.200 Hilgendorf entwickelte in einer Ensembletheorie verschiedene Fallgruppen von Würdeverletzungen, denen subjektive Rechte korrespondieren.201 196 197 198 199 200
201
BVerfGE 30, 1 (25). BVerfGE 109, 279 (311). BVerfGE 96, 375 (400). Dreier, DÖV 1995, S. 1038. Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 59 ff.; Höfling, in: Sachs, GG Kommentar, Art. 1 Rn. 19; Hilgendorf, Jahrbuch für Recht und Ethik 1999, S. 148; Hofmann, AöR 1993, S. 363; Birnbacher, in: Kettner, Biomedizin und Menschenwürde, S. 260; Podlech, in: AK-GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 17 ff. Hilgendorf, JZ 2004, S. 337; ders., Jahrbuch für Recht und Ethik 1999, S. 148; eine ähnliche Systematisierung der Fallgruppen nimmt auch Hufen vor, in: JuS 2010, S. 2. Höfling unterscheidet lediglich vier Problemdimensionen: Die Achtung und der Schutz der körperlichen Integrität, die Sicherung menschengerechter Lebensgrundlagen, die Gewährleistung einer elementaren Rechtsgleichheit und die Wahrung der personalen Identität und Integrität.201 Dreier verweist in ähnlicher Weise darauf, dass sowohl die positiven als auch negativen Bestimmungsversuche der Menschenwürde in drei Grundaussagen übereinstimmen. Zum einen schütze die Menschenwürde als egalitäres Prinzip vor massiven Verletzungen des Gleichheitsgedankens. Weiter erfordere die Menschenwürde als Ausdruck verfassungsstaatlicher Freiheit die Respektierung der Individualität, Identität sowie der physischen, psychischen und moralischen Integrität des Menschen. Die soziale Komponente des Menschenwürdeprinzips erfordere zudem die Gewährleistung eines Existenzminimums.201 Bei näherem Hinsehen ist die Ensembletheorie mit den von Höfling und Dreier gebildeten Fallgruppen identisch. Die Rechte auf autonome Selbstentfaltung, auf Wahrung der Privatsphäre und auf minimale Achtung lassen sich unter das Recht auf Wahrung der
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
x Jeder Mensch hat ein Recht auf ein materielles Existenzminimum. Mit der Menschenwürde ist es nicht vereinbar, einem Individuum die für seine Existenz notwendigen Güter vorzuenthalten, wie Nahrung, Wasser, Luft, Kleidung und Raum. x Die Menschenwürde erfordert es, dass jedem Individuum minimale Freiheitsrechte gewährt werden. Ohne Freiheit kann sich der Mensch nicht entfalten. Aus Art. 1 Abs. 1 GG resultiert somit ein Recht auf autonome Selbstentfaltung. x Mit der Menschenwürde nicht zu vereinbaren ist der Einsatz von Mitteln wie Drogen, Wahrheitsseren, Hypnose oder Gehirnwäsche, die das Bewusstsein des Menschen tief greifend verändern. Es besteht folglich ein Recht auf geistigseelische Integrität. x Eine extreme Schmerzzufügung verletzt ebenfalls die menschliche Würde. Es besteht somit ein Recht auf Freiheit von extremen Schmerzen. Leichtere Schmerzzufügungen fallen unter Art. 2 Abs. 2 GG. x Die höchstpersönliche Privatsphäre darf nicht dem Zugriff Dritter offen gelegt werden. Es besteht folglich ein Recht auf Wahrung der höchstpersönlichen Privatsphäre. x Sechstens verletzt es die Menschenwürde, wenn einem Menschen der Status als Rechtssubjekt verweigert wird. Der Einzelne hat folglich ein Recht auf grundsätzliche Rechtsgleichheit. x Die Würde des Menschen ist verletzt, wenn der Einzelne in extremer Weise gedemütigt oder seiner Selbstachtung beraubt wird. Er hat somit ein Recht auf minimale Achtung. Beschreibt man den Schutzbereich mithilfe konkreter Einzelfallbeispiele, die Eingriffe in Art. 1 Abs. 1 GG demonstrieren, so entsteht ein dogmatisches Problem. Die genaue Abgrenzung von Schutzbereich, Eingriff und Verletzung geht verloren. Kloepfer stellt daher fest, dass man bei einer solchen Vorgehensweise den zweiten Schritt vor den ersten setze und das zu schützende Gut durch seine Beeinträchtigung definiere.202 Man muss also die Reichweite des Schutzbereichs zugleich als Verletzungsgrenze verstehen, um diese Methode zur inhaltlichen Bestimmung der Menschenwürde für geeignet zu halten.203 Zweifelsohne sind diese Präzisierungsversuche geeignet, den Zugang zum Gehalt der Menschenwürde zu erleichtern, indem sie Bereiche, in denen typischerweise Menschenwürdeverletzungen drohen, systematisieren. Hilgendorf selbst weist aber darauf hin, dass diese Fallgruppen keine abschließende Definition beinhalten, sondern lediglich den Kerngehalt der Menschenwürde präzisieren.204 Diese Fallgruppen können daher auch nur als Interpretationshilfe herangezogen werden.
202 203 204
personalen Identität und Integrität subsumieren und sind in der Ensembletheorie nur anschaulicher dargestellt. Kloepfer, FS 50 Jahre BVerfG, S. 83. Kloepfer, FS 50 Jahre BVerfG, S. 83. Hilgendorf, Jahrbuch für Recht und Ethik, 1999, S. 148.
B. Die Menschenwürde
57
Darüber hinaus sagen die Präzisierungsversuche nichts darüber aus, ob auch der nasciturus in den Gewährleistungsbereich der Menschenwürde einzubeziehen ist. 4. Stellungnahme und Ergebnis Sowohl positive als auch negative Bestimmungsversuche leiden an einem hohen Maß inhaltlicher Unbestimmtheit. In dieser Unbestimmtheit liegt aber sowohl eine Schwäche als auch eine Stärke der Menschenwürdegarantie. Gerade weil die Menschenwürde verschiedene Auslegungen zulässt, können sich Menschen unterschiedlicher Weltanschauungen mit ihr identifizieren. Daher gehört die Menschenwürde zu den allgemein anerkannten Werten unserer Gesellschaft.205 Diese Unbestimmtheit resultiert aus der spezifischen generalklauselartigen Normstruktur der Menschenwürdegarantie. Sie bezieht sich nicht auf einen klar abgrenzbaren Bereich, sondern verweist auf das menschliche Dasein als solches.206 Das menschliche Dasein als solches ist aber viel zu komplex, um es in eine allgemeingültige Formel packen zu können. Eine präzise Definition des Schutzbereichs, wie beispielsweise beim Grundrecht auf Leben, ist daher von vornherein nicht möglich. Ohne jegliche Präzisierung ist der Begriff allerdings nicht handhabbar und somit praktisch nutzlos. Eine Konkretisierung des Menschenwürdebegriffs muss zunächst zwei Dinge beachten. Zum einen darf die Menschenwürde nicht inflationär und für triviale Fallkonstellationen gebraucht werden. Aus der Unantastbarkeitsklausel folgt, dass Abwägungen mit anderen Grundrechtsgewährleistungen nicht möglich sind. Jeder Eingriff in die Würde stellt zugleich eine Verletzung derselben dar, so dass die sachliche Reichweite des Tatbestands zugleich die Verletzungsgrenze markiert.207 Diese Unantastbarkeitsklausel unterstützt den Charakter der Menschenwürde als Höchstwert der Verfassung. Die Unantastbarkeit kann allerdings nur eingehalten werden, wenn der Würdebegriff eng ausgelegt wird, ansonsten wird in Bereichen, in denen ein Interessenausgleich unbedingt erforderlich ist, eine Abwägung unmöglich. Die folgenden Grundrechte bieten dem Einzelnen die Freiheit, sich in seiner Würde zu entfalten. Zu berücksichtigen ist im Hinblick auf den vorliegenden Fall, dass nicht jede Tötung einen Würdeverstoß beinhalten kann. Wird die Menschenwürde unreflektiert ins Feld geführt, so schadet dies zum einen dem „System der Rechtsordnung mit seinen durchdachten Proportionen“.208 Zum anderen würde dies auch zu einer Entwertung des Verfassungshöchstwerts führen und die Wirkkraft der Menschenwürde schwächen.209 Andererseits darf die Einschlägigkeit der Menschenwürde nicht auf die historischen Menschenwürdeverletzungen wie Demütigung, Verfolgung, Ächtung und erniedrigende Strafen, die aufgrund der NS-Verbrechen zunächst im Vordergrund 205 206 207 208 209
So auch: Hilgendorf, Jahrbuch für Recht und Ethik 1999, S. 138. Höfling, JuS 1995, S. 858. Jarrass, in: Jarrass/Pieroth, Art. 1 Rn. 10; Höfling, in: Sachs, GG Kommentar, Art. 1 Rn. 10. Di Fabio, JZ 2004, S. 6. Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 47; Di Fabio, JZ 2004, S. 6.
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
standen, beschränkt werden. Der Menschenwürdebegriff ist nicht statisch konzipiert, sondern entwickelt und definiert sich erst in Wechselwirkung mit den gesellschaftlichen Wertvorstellungen, die ihrerseits dem Wandel der Zeit unterliegen.210 Zu einer Versteinerung des Würdebegriffs würde auch eine Auffassung führen, die Würdeverletzungen nur bei evidenten Eingriffen annähme, bezüglich derer ein breiter gesellschaftlicher Konsens bestünde. Die Entwicklungen in der Biotechnologie verdeutlichen, dass eine Reaktion auf neue Gefährdungslagen nötig ist und eine Anpassung des Würdeverständnisses möglich sein muss. Ein gesellschaftlicher Konsens bildet sich in neuen Gefährdungslagen nur schwer, so dass eine Anpassung an gewandelte gesellschaftliche Verhältnisse nicht in ausreichendem Maße möglich wäre.211 Inflationierung und Versteinerung müssen somit verhindert werden. Eine positive Bestimmung der Menschenwürde muss festlegen, was dem Menschenbild entspricht. Dadurch ist sie gefährdet, in einer weltanschaulich pluralistischen Gesellschaft nicht mehr konsensfähig zu sein. Zudem droht zweifelsohne eine Gefahr der Versteinerung, da im Laufe der Zeit immer mehr in die Menschenwürde hineininterpretiert und festgeschrieben würde.212 Diese Gefahr kann vermieden werden, indem man die Menschenwürdegarantie vom Eingriff her zu bestimmen versucht. Die Objektformel mit den zu ihrer Präzisierung von der Literatur entwickelten Fallgruppen eignet sich dazu, die Richtung zu weisen, in der typischerweise Menschenwürdeverletzungen drohen und soll daher als Anknüpfungspunkt dienen. Innerhalb der so eruierten Problembereiche muss anhand des konkreten Falls entschieden werden, ob eine Menschenwürdeverletzung gegeben ist. Aufgrund der Komplexität menschlichen Daseins kann nicht genau festgelegt werden, wann eine Würdeverletzung vorliegt, vielmehr ist eine wertende Gesamtbetrachtung vorzunehmen. In die Betrachtung mit einzubeziehen sind die Schwere der Beeinträchtigung, die damit verfolgten Ziele und verwendeten Praktiken, das Verhalten des Betroffenen selbst213 und ob sein Subjektstatus trotz seiner Verobjektivierung in spezifischen Unterordnungs- und Abhängigkeitsverhältnissen durch Kompensationsmechanismen noch hinreichend gesichert ist.214 Die hier vertretene inhaltliche Präzisierung der Menschenwürdegarantie trifft allerdings noch keine Aussage darüber, ob der nasciturus in den Gewährleistungsbereich der Menschenwürdegarantie einzubeziehen ist oder nicht. Dies ist im Folgenden zu prüfen.
210 211 212 213 214
Taupitz, NJW 2001, S. 3436. Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 325. Taupitz, NJW 2001, S. 3436. Di Fabio, JZ 2004, S. 6; Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 325. Höfling, in: Sachs, GG Kommentar, Art. 1 Rn. 16.
B. Die Menschenwürde
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V. Der Schutz des nasciturus durch die Menschenwürde Zunächst ist festzuhalten, dass eine Behandlung des nasciturus als bloßes Objekt grundsätzlich denkbar ist. Möglich erscheint dies beispielsweise dann, wenn bei einem embryopathischen Befund in der Pränataldiagnostik die Schwangerschaft automatisch abgebrochen wird.215 Gleichwohl ist die Menschenwürdeträgerschaft des nasciturus höchst umstritten. Während ihm die wohl herrschende Meinung einen subjektiven Grundrechtsstatus bereits ab Befruchtung zubilligt, sprechen ihm andere während der gesamten pränatalen Entwicklungsphase jeglichen Grundrechtsstatus ab. Zwischen diesen beiden Extrempositionen gibt es vielfältige Versuche, dem nasciturus lediglich einen rein objektiv-rechtlichen Menschenwürdeschutz zuzubilligen oder den Beginn der Menschenwürdeträgerschaft an ein bestimmtes pränatales Entwicklungsstadium wie die Nidation, Individuation oder die extrauterine Lebensfähigkeit zu knüpfen. Im Folgenden soll zunächst dargestellt werden, welchen Status das Bundesverfassungsgericht dem nasciturus zubilligt. Anschließend wird auf den Streitstand in der Literatur eingegangen. Die Begründungsansätze werden zunächst auf ihre Schlüssigkeit untersucht und anschließend im Rahmen der Stellungnahme durch die klassischen Auslegungsmethoden überprüft. 1. Der Status des nasciturus in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts In den beiden Urteilen zum Schwangerschaftsabbruch216 hatte das Bundesverfassungsgericht zu entscheiden, ob der Staat seiner Schutzpflicht gegenüber dem nasciturus durch die jeweiligen gesetzlichen Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch in ausreichendem Maße nachkommt, und musste sich daher ausführlich mit dem verfassungsrechtlichen Status des nasciturus im Hinblick auf Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG auseinandersetzen. Die Argumentationen bezüglich des Lebensrechts und der Menschenwürdegarantie sind in beiden Urteilen eng miteinander verwoben, so dass hier sowohl die Ausführungen zu Art. 2 Abs. 2 S. 1 als auch zu Art. 1 Abs. 1 GG dargestellt werden. a) Urteil vom 25. Februar 1975 Im ersten Leitsatz seines ersten Urteils formulierte das Bundesverfassungsgericht: „Das sich im Mutterleib entwickelnde Leben steht als selbständiges Rechtsgut unter dem Schutz der Verfassung (Art. 2 Abs. 2 Satz 1, Art. 1 Abs. 1 GG). Die Schutzpflicht des Staates verbietet nicht nur unmittelbare staatliche Eingriffe in das sich entwickelnde Leben, sondern gebietet dem Staat auch, sich schützend und fördernd vor dieses Leben zu stellen.“217
215 216 217
4. Kapitel B III. BVerfGE 39, 1; 88, 203. BVerfGE 39, 1 (1).
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
Aufgrund biologisch-physiologischer Erkenntnisse bestehe Leben im Sinne des Art. 2 Abs. 2 GG jedenfalls mit Nidation vom 14. Tage nach der Empfängnis.218 Die Entwicklung des nasciturus verlaufe kontinuierlich ohne scharfe Zäsuren und sei nicht bereits mit Geburt abgeschlossen, was sich beispielsweise daran zeige, dass die für die menschliche Persönlichkeit spezifischen Bewusstseinsphänomene erst längere Zeit nach der Geburt aufträten.219 Daraus folge zum einen, dass eine genaue Abgrenzung der verschiedenen Entwicklungsstufen des menschlichen Lebens nicht möglich sei, und zum anderen, dass der Schutz des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG weder auf den fertigen Menschen nach Geburt noch auf den extrauterin lebensfähigen Fötus beschränkt werden könne.220 Sinn und Zweck des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG erforderten es, den nasciturus in den Schutzbereich dieser Grundgesetzbestimmung mit einzubeziehen. Der Schutz menschlichen Lebens wäre unvollständig, wenn nur das geborene Leben von Art. 2 Abs. 2 GG erfasst würde.221 Im Zweifel müsse im Übrigen die Auslegung gewählt werden, die die juristische Wirkungskraft der Grundrechtsnorm am stärksten entfalte.222 Darüber hinaus stützten die Verhandlungen im Parlamentarischen Rat die Erstreckung des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG auf das pränatale Leben in historischer Hinsicht. Das ungeborene Leben sei dem geborenen daher gleich zu achten. Nachdem das Bundesverfassungsgericht eine Schutzpflicht des Staates aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG bejahte, stellt es fest, dass sich eine Schutzpflicht darüber hinaus auch aus Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG ergebe. „Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu; es ist nicht entscheidend, ob der Träger sich dieser Menschenwürde bewußt ist und sie selbst zu wahren weiß. Die von Anfang an im menschlichen Sein angelegten potentiellen Fähigkeiten genügen, um die Menschenwürde zu begründen.“223
Unabhängig davon, ob der nasciturus Grundrechtsträger ist oder nicht, ergibt sich nach der Aussage des Bundesverfassungsgerichts eine staatliche Schutzpflicht für sein Leben zumindest aus der durch die Grundrechte konstituierten objektiven Wertordnung.224 b) Urteil vom 28. Mai 1993 Im Gegensatz zum ersten Urteil zum Schwangerschaftsabbruch sieht das Bundesverfassungsgericht in seiner zweiten Entscheidung nicht den objektiv-rechtlichen Gehalt des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG als Grundlage der staatlichen Schutzpflicht, sondern Art. 1 Abs. 1 GG. Dementsprechend wird der verfassungsrechtliche Status des nasciturus nicht wie vormals primär anhand des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG gemessen, sondern anhand des Art. 1 Abs. 1 GG untersucht. Im ersten Leitsatz der Ent218 219 220 221 222 223 224
BVerfGE 39, 1 (37). BVerfGE 39, 1 (37). BVerfGE 39, 1 (37). BVerfGE 39, 1 (37). BVerfGE 39, 1 (38). BVerfGE 39, 1 (41). BVerfGE 39, 1 (41).
B. Die Menschenwürde
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scheidung stellt das Bundesverfassungsgericht fest: „Menschenwürde kommt schon dem ungeborenen menschlichen Leben zu.“225 Jedenfalls ab Nidation handele es sich bei dem Ungeborenen um individuelles Leben, das in seiner genetischen Identität bereits festgelegt und nicht mehr teilbar sei. Der nasciturus entwickle sich nicht zum Menschen, sondern bereits als Mensch.226 Die Entwicklungsphasen seien unabdingbare Stufen der Entwicklung eines individuellen Menschseins. „Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu.“227 „Diese Würde des Menschseins liegt auch für das ungeborene Leben im Dasein um seiner selbst willen.“228 Die Würde könne sich zudem nur im Leben entfalten, so dass dem nasciturus ein eigenes Lebensrecht gewährleistet werden müsse.229 c) Subjektiv- oder objektiv-rechtlicher Grundrechtsschutz des nasciturus Das Bundesverfassungsgericht spricht dem nasciturus in beiden Urteilen ab Nidation Menschenwürde und Lebensrecht zu. Im ersten Urteil zum Schwangerschaftsabbruch hat das Bundesverfassungsgericht die Frage „ob der nasciturus selbst Grundrechtsträger ist oder aber wegen mangelnder Grundrechtsfähigkeit >nur< von den objektiven Normen der Verfassung in seinem Recht auf Leben geschützt wird“ ausdrücklich offen gelassen.230 Im zweiten Urteil äußert sich das Bundesverfassungsgericht nicht ausdrücklich zur Grundrechtsträgerschaft des nasciturus. Allerdings spricht es in diesem Urteil von einem „eigenen Lebensrecht des Ungeborenen“231 und führt aus, dass dem nasciturus selbst Menschenwürde zukomme.232 Somit scheint das Gericht nunmehr selbst von einer subjektiven Grundrechtsträgerschaft des nasciturus auszugehen.233 2. Der Status des nasciturus in der Literatur Die Diskussion über den verfassungsrechtlichen Status des nasciturus in der Literatur wurde durch die beiden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts nicht entschärft. Zum einen ließ das Bundesverfassungsgericht offen, ob der Grundrechtsschutz ab Befruchtung oder ab Nidation beginnt.234 Zum anderen wird diese 225 226 227 228 229 230 231 232 233
234
BVerfGE 88, 203 (203, 251). BVerfGE 88, 203 (252). BVerfG, 88, 203 (252) in Bezugnahme auf BVerfGE 39, 1 (41). BVerfGE 88, 203 (252). BVerfGE 88, 203 (252). BVerfGE 39, 1 (41). BVerfGE 88, 203 (252). BVerfGE 88, 203 (251). Auf diese Weise wird das zweite Urteil des Bundesverfassungsgerichts auch interpretiert von: Kluth, FamRZ 1993, S. 1383; Merkel, FS Müller-Dietz, S. 498, Fn. 15; Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 272; Papier, FS Starck, S. 380; demgegenüber geht Höfling, in: Sachs, GG Kommentar, Art. 1 Rn. 60 davon aus, dass das Bundesverfassungsgericht diese Frage offengelassen habe. BVerfGE 88, 203 (252).
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
Rechtsprechung insgesamt häufig als widersprüchlich kritisiert und damit als nicht ausschlaggebend bewertet.235 a) Menschenwürdeträgerschaft ab Vorliegen spezifisch menschlicher Eigenschaften Teilweise wird der Zuspruch von Menschenwürde vom Vorliegen spezifisch menschlicher Eigenschaften abhängig gemacht wie Erlebensfähigkeit, Überlebensinteresse, Ichbewusstsein, Vernunft und Selbstbestimmung. Das Abstellen auf solche Eigenschaften führt im Ergebnis dazu, dass der Mensch erst ab Geburt in den Gewährleistungsbereich der Menschenwürde einbezogen ist. aa) Erlebensfähigkeit Merkel fordert für den Zuspruch von Menschenwürde und Lebensrecht das Vorliegen von „Erlebensfähigkeit“. Merkel geht zunächst davon aus, dass die Auslegung des Art. 1 Abs. 1 und des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG kein eindeutiges Ergebnis bezüglich der Grundrechtsträgerschaft des nasciturus liefere. Daneben könnten auch die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts als Verfassungsinterpret den Status des nasciturus nicht eindeutig begründen, denn die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sei inkonsistent und folglich nicht aussagekräftig.236 Auf der einen Seite propagiere das Bundesverfassungsgericht einen subjektivgrundrechtlichen Status des nasciturus mit der Folge, dass ein nicht indizierter Schwangerschaftsabbruch zwar straflos, aber weiterhin rechtswidrig sei. Auf der anderen Seite behandle das Gericht diese Abbrüche aber zugleich als rechtmäßig, indem es den Abtreibungsvertrag zwischen Arzt und Schwangerer entgegen §§ 134, 138 BGB für wirksam erkläre,237 Nothilfe zugunsten des Embryos ausschließe,238 einen Anspruch der Schwangeren auf Lohnfortzahlung für die Zeit des Abbruchs vorsehe239 und den Staat zur Bereitstellung eines flächendeckenden Angebots ambulanter und stationärer Einrichtungen zur Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen verpflichte.240 Merkel verweist darauf, dass Beihilfe zu einer rechtswidrigen Tötung ebenfalls rechtswidrig sei. Indem der Staat durch die Bereitstellung von Einrichtungen Beihilfe zur rechtswidrigen Tötung leisten müsse, werde er von Rechts wegen zum Unrecht verpflichtet.241 Darüber hinaus verweist er auf das Urteil des BVerfG vom 27.10.1998, in dem der 1. Senat die ärztliche Tätigkeit des beratenen Schwangerschaftsabbruchs und damit die 235
236 237 238 239 240 241
Ipsen, DVBl 2004, S. 1384; ders., JZ 2001, S. 991 f.; Merkel, FS Müller-Dietz, S. 495 ff.; ders. Forschungsobjekt Embryo, S. 94; Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 69; Hoerster, JuS 1995, S. 194; Schmidt-Jortzig, DÖV 2001, S. 929. Merkel, ZfL 2008, S. 40. BVerfGE 88, 203 (295). BVerfGE 88, 203 (279). BVerfGE 88, 203 (324). BVerfGE 88, 203 (265). Merkel, ZfL 2008, S. 40.
B. Die Menschenwürde
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rechtswidrige Tötung grundrechtsgeschützter Personen dem Schutz des Art. 12 GG unterstellte.242 Aufgrund dieser Widersprüche könne die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts den Grundrechtsstatus des nasciturus nicht zweifelsfrei begründen. Merkel stellt fest, dass die Instanzen der Rechtsanwendung den rechtswidrigen Schwangerschaftsabbruch durchgängig als rechtmäßig behandelten. Da Normgeltung voraussetze, dass die Norm ein Minimum an sozialer Wirksamkeit besitze, stelle die Formulierung „rechtswidrig“ eine bloße falsa demonstratio dar.243 Ein rechtmäßiger Schwangerschaftsabbruch wäre mit dem Grundrechtsstatus des nasciturus aber nur dann in Einklang zu bringen, wenn die Tötung durch Defensivnotstand gerechtfertigt wäre. Ein Defensivnotstand könnte aber nur dann bejaht werden, wenn der nasciturus die Gefahrentstehung wegen seines zurechenbaren Verhaltens vorrangig zu vertreten habe oder die Hinnahme der Gefahr durch einen Dritten diesem aus Gründen der rechtlich erzwingbaren Solidarität zuzumuten sei.244 Bei einer Schwangerschaft sei aber nicht der nasciturus für sein Dasein verantwortlich, sondern vielmehr die Schwangere, mit Ausnahme der Fälle der aufgezwungenen Schwangerschaft. Eine Rechtfertigungsmöglichkeit scheide in allen anderen Fällen folglich aus. In diesem Konflikt würden dem nasciturus folglich keine Grundrechte gewährt. Da es keine halben Grundrechte gebe, die einmal Schutz gewähren und ein anderes Mal nicht, sei der nasciturus nirgends Grundrechtsträger.245 Aus diesen Befunden zieht Merkel den Schluss, dass der nasciturus nirgendwo als Träger der Grundrechte behandelt werde.246 De lege lata komme ihm folglich kein Grundrechtsschutz zu. Da weder der Verfassungstext noch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts den verfassungsrechtlichen Status des nasciturus verbindlich entschieden,247 überprüft er schließlich, ob dem nasciturus ein subjektiv-grundrechtlicher Status aus moralischen Gründen auf der Grundlage der „SKIP-Argumente“248 zuzubilligen sei. Das Speziesargument, das dem nasciturus Würde und Lebensschutz allein aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Gattung Mensch zuspricht, wird von Merkel als biologistisch-naturalistischer Fehlschluss kritisiert. Das Argument des biologistisch-naturalistischen Fehlschlusses beruht nach ihm auf folgender Überlegung: Den Naturwissenschaften geht es um eine Seins-Beschreibung, wohingegen die normativ und präskriptiv orientierte Rechtswissenschaft und Philosophie auf eine Sollens-Beschreibung zielen. Als unzulässig und als naturalistischer Fehlschluss wird es bezeichnet, wenn aus einer Seins-Beschreibung eine normativ-präskriptive Schlussfolgerung gezogen wird. Eine Berufung auf die Natur kann daher niemals 242 243 244 245 246 247 248
BVerfGE 98, 265. Merkel, FS Müller-Dietz, S. 503; Merkel, ZfL 2008, S. 40 f. Merkel, Forschungsobjekt Embryo, S. 94; Merkel, ZfL 2008, S. 41. Merkel, ZfL 2008, S. 41. Merkel, FS Müller-Dietz, S. 505. Merkel, FS Müller-Dietz, S. 495 ff. = Spezies-, Kontinuitäts- , Identitäts- und Potentialitätsargument.
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
menschliches Verhalten legitimieren, da sie im Gegensatz zu menschlichem Verhalten weder rechtfertigungsfähig noch rechtfertigungsbedürftig ist; rechtfertigungsfähig sind die Handlungen des Menschen, und zwar gerade insofern, als sie keine Naturereignisse sind.249 Nötig sind nach Merkel daher konkrete menschliche Eigenschaften, die es gebieten, dem Menschen einen subjektiv-grundrechtlichen Status zuzubilligen. Rein äußere biologische Unterschiede könnten dies nicht sein, sondern es müssten „subjektive, mit einem inneren Erleben verbundene Eigenschaften sein, und zwar solche, die das eigene Leben für den Menschen in einem höheren Grad, als das bei Tieren der Fall ist, wünschbar, schätzenswert, kurz: zu einem Gut oder zum Gegenstand eines subjektiven Wohls oder Interesses machen.“250 Moralische Rechte seien nur auf diese Weise begründbar, denn wer bestimmte Interessen nicht haben könne, könne nicht verletzt werden und damit sei auch kein sinnvoller Schutz möglich. Voraussetzung für ein Lebensrecht sei daher ein Interesse am eigenen Überleben, das subjektives Empfinden voraussetze.251 Föten ab der 20. Schwangerschaftswoche hätten ein integriertes funktionsfähiges Neuralsystem und seien zu subjektiven Wahrnehmungen fähig. Von diesem Zeitpunkt an habe der nasciturus einen „élan vital“, einen Empfindungsstrom, der dem nasciturus ein minimales Lebensinteresse verleihe und ihn zu einem möglichen Schädigungsobjekt mache.252 Denn wenn die betreffenden Empfindungen des nasciturus „als angenehm und lustvoll erfahren werden…, dann bedeutet das Lustvolle der Erfahrung eo ipso ein gewisses Wollen ihrer Fortdauer.“ Das in diesem Wollen liegende Interesse sei dann zu schützen.253 Dieser Schutz bleibe aber immer noch hinter einem subjektiv-grundrechtlichen Schutz zurück und sei mit anderen Belangen abwägbar. Demgegenüber hätte weder der pränidative Embryo noch der anencephale Fötus ein Überlebensinteresse mangels subjektiven Empfindens. Aus dem Prinzip der Gattungssolidarität folge allerdings, dass auch der pränidative Embryo in die Normsphäre des Lebensschutzes miteinzubeziehen sei, da er ein Entwicklungspotential habe. Diese Gattungssolidarität resultiere daraus, dass alle Menschen einmal aus Embryonen hervorgegangen sind und damit auch allen menschlichen Embryonen die Chance ihrer Entwicklung eingeräumt werden müsse. Anders als ein subjektives Recht auf Leben sei diese Solidaritätspflicht allerdings von relativ geringem Gewicht.254 Im Ergebnis hält Merkel die Vornahme später Schwangerschaftsabbrüche für moralisch erheblich problematischer als frühe. Auch das Kontinuums-, Identitäts- und Potentialitätsargument können nach Merkel die subjektive Grundrechtsträgerschaft des nasciturus nicht begründen.255 249 250 251 252 253 254 255
Pap, MedR 1986, S. 233; Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 31. Merkel, FS Müller-Dietz, S. 508; ders., Forschungsobjekt Embryo, S. 134. Merkel, FS Müller-Dietz, S. 510; Merkel, DRiZ 2002, S. 190 f. Merkel, Früheuthanasie, S. 461 . Merkel, Früheuthanasie, S. 461. Merkel, FS Müller-Dietz, S. 511; Merkel, ZfL 2008, S. 42. Zu diesen Argumenten vgl. 2. Kapitel B V 2 c) bb).
B. Die Menschenwürde
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Geborenen Menschen, die vollständig erlebensunfähig sind, wie der irreversibel Bewusstlose im apallischen Syndrom und der Anenzephalus, will Merkel dennoch ein subjektives Grundrecht auf Würde und Leben zusprechen. Er begründet dies mit dem Prinzip des Normschutzes, das er zum einen aus dem Verletzungsverbot und der Solidarität und zum anderen aus den Fundamentalnormen wie Menschenwürde, Recht auf Leben und Gleichheit, die aus Gründen der Humanität und der Stabilität der normativen Gesamttextur der Gesellschaft über die strikten Grenzen hinaus garantiert werden, ableitet.256 Die Grundrechte auf Leben und Würde schützen primär das allgemeine Tötungs- und Entwürdigungsverbot als Fundament der Normordnung.257 Merkel geht bei seiner Argumentation davon aus, dass weder die Auslegung der Norm noch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts den Rechtsstatus des nasciturus zweifelsfrei entschieden, und sieht daher die Möglichkeit eröffnet, ethisch und rechtstheoretisch zu argumentieren. Der Argumentation Merkels ist aber dann der Boden entzogen, wenn die Auslegung des Art. 1 Abs. 1 GG entgegen seiner Auffassung doch zu einem eindeutigen Ergebnis führen würde. Die Aussage, dass eine Auslegung der Grundrechtsnormen keine eindeutige Antwort auf die Grundrechtsträgerschaft des nasciturus gebe, soll um Wiederholungen zu vermeiden, erst später im Rahmen der Auslegung der Menschenwürde überprüft werden.258 Überprüft werden soll aber bereits an dieser Stelle, ob Merkels weitere Argumentation stimmig ist. Merkel deckt zu Recht Widersprüche in den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts auf. Darauf hinzuweisen ist aber, dass aus einer solchen Widersprüchlichkeit nicht unbedingt geschlossen werden muss, dass die gesamte Postulation der Grundrechtsträgerschaft unhaltbar ist. Denkbar ist auch, dass man die Anordnungen des Bundesverfassungsgerichts, soweit sie mit den eigenen Leitsätzen nicht vereinbar sind, für verfassungswidrig erklärt, da diese Anordnungen der Ebene des einfachen Rechts zuzuordnen sind, wohingegen dem Inhalt der Leitsätze Verfassungsrang zukommt.259 Zum anderen ist es wohl auch verfehlt, bei der bloßen Feststellung der Widersprüche stehen zu bleiben. Im zweiten Urteil zum Schwangerschaftsabbruch werden Vorgaben für einen Lebensbereich, nämlich den Schwangerschaftsabbruch, gemacht, der, wie die Geschichte zeigt, ein Ewigkeitsthema der Menschheit darstellt und in seiner Lösung hoch problematisch ist. Es ist durchaus denkbar, dass die Richter des Bundesverfassungsgerichts Widersprüche bewusst in Kauf nahmen, um zu einer akzeptablen Lösung zu gelangen. Nicht zuzustimmen ist Merkel außerdem in der Aussage, dass der nasciturus in den Fällen des § 218a Abs. 1 StGB nicht als Grundrechtsträger behandelt wird. Die Feststellung, dass der nasciturus in diesen Fällen ohne Notstandslage aufgrund der Entscheidung der Mutter getötet werden darf, ist nicht hinreichend überzeu256 257 258 259
Merkel, FS Müller-Dietz, S. 514. Merkel, FS Müller-Dietz, S. 514. Vgl. 2. Kapitel B V. Büchner, ZfL 1999, S. 60 f.
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
gend. Die Geschichte hat gezeigt, dass Schwangerschaftsabbrüche auch durch ein vollständiges Verbot nicht verhindert werden können. Aus dieser Erkenntnis resultierte letztlich die Beratungsregelung des § 218a Abs. 1 StGB, die einen effektiveren Schutz des nasciturus im Einvernehmen mit der Mutter bewirken soll. Ergibt die Beobachtung des Gesetzgebers, dass der Schutz nicht ausreicht, so hat er nachzubessern. Die Beratungsregelung wurde folglich gerade deshalb erlassen, weil der nasciturus als Grundrechtsträger anzusehen ist und kann daher schwerlich als Beweis dafür herangezogen werden, dass das geltende Recht den nasciturus nicht als Grundrechtsträger behandelt. Darüber hinaus stellt Merkel bei seiner Argumentation die Normenhierarchie quasi auf den Kopf. Indem er die einfachgesetzliche Rechtslage des Schwangerschaftsabbruchs als Argumentationsgrundlage verwendet und dabei Schlussfolgerungen für das Verfassungsrecht zieht, missachtet er, dass nicht das Verfassungsrecht am einfachen Recht, sondern gerade umgekehrt das einfache Recht am Verfassungsrecht zu messen ist. Ist das einfache Recht mit dem Verfassungsrecht nicht vereinbar, so folgt daraus keinesfalls eine Anpassung des Verfassungsrechts. Vielmehr müsste man die einfachgesetzliche Norm für verfassungswidrig erklären. Letztlich lassen inkonsistente Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und verfassungswidrige Gesetze den Vorrang der Verfassung unberührt. Sofern Merkel in rechtstheoretischer Hinsicht argumentiert, dass ein Minimum an sozialer Wirksamkeit Bedingung der Geltung einer Norm sei, lässt er die Vorschriften des Art. 79 GG außer Acht. Gemäß Art. 79 Abs. 1 S. 1 GG kann der Wortlaut des Grundgesetzes nur durch ein Gesetz geändert werden, das gemäß Art. 79 Abs. 2 GG von einer 2/3-Mehrheit im Bundestag und Bundesrat gebilligt wurde. Eine Änderung des Art. 1 GG ist gemäß Art. 79 Abs. 3 GG gänzlich unzulässig bis zu dem Zeitpunkt, zu dem gemäß Art. 146 GG eine Verfassung in Kraft tritt, die vom Deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen wurde. Diese Regelungen bezüglich der Verfassungsänderung hätten keine Bedeutung mehr, wenn jeder Artikel, der gerade nicht mehr beachtet wird, seine Geltung verlöre.260 Problematisch erscheint auch, dass Merkel die Forschungsfreiheit gemäß Art. 5 Abs. 3 GG mittels der Gattungssolidarität beschränken will, die dem nasciturus aber keinen Grundrechtsstatus verleiht.261 Die Forschungsfreiheit ist aber nur durch kollidierende Güter von Verfassungsrang beschränkbar. Mangels Grundrechtsstatus des nasciturus ist er nicht in der Lage, die Forschungsfreiheit einzuschränken. Merkel muss dazu das Konstrukt der Gattungswürde bemühen. Indem Merkel das Lebensinteresse an das Kriterium der Empfindungsfähigkeit knüpft, entstehen schließlich weitere problematische Fragen, die einer Antwort bedürfen. Zum einen stellt sich die Frage, welche Konsequenzen sich für den Umgang mit höher entwickelten Tieren ergeben, die grundsätzlich empfindungsfähig sind. Basiert das Lebensinteresse auf angenehmen Empfindungen, wie Merkel es vertritt, so stellt sich darüber hinaus die Frage, was passiert, wenn der nasciturus 260 261
Hillgruber/Goos, ZfL 2008, S. 46 f. Merkel, Forschungsobjekt Embryo, S. 150, 188.
B. Die Menschenwürde
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unangenehme Empfindungen hat. Ist ihm in diesen Fällen das Lebensinteresse abzusprechen?262 Diese Fragen bedürften einer Antwort. Unverständlich bleibt auch, warum Merkel geborenen vollständig erlebensunfähigen Menschen Menschenwürde und Lebensschutz zuspricht, dem nasciturus aber versagt. Als Grund für den Schutz aller geborenen Menschen nennt Merkel unter anderem die Humanität. Es drängt sich die Frage auf, warum der Würdeund Lebensschutz aus Gründen der Humanität nur dem geborenen Menschen zukommen soll und nicht dem nasciturus. Wie Stern könnte man den Würde- und Lebensschutz gerade aus Gründen der Humanität auch für den nasciturus für erforderlich halten.263 Das Anknüpfen an die Spezieszugehörigkeit lehnt Merkel als biologistischnaturalistischen Fehlschluss ab. Dass allein aus einem biologischen Faktum keine normative Schlussfolgerung gezogen werden darf, ist unbestritten. Allerdings stellt das Abstellen auf beispielsweise das Bewusstsein oder die Gehirnentwicklung selbst eine normative Folgerung aus biologischen Fakten dar, so dass sich die Konzeption Merkels selbst dem Vorwurf eines biologistisch-naturalistischen Fehlschlusses ausgesetzt sieht. Bei näherem Hinsehen erweist sich Merkels Auffassung daher im Ergebnis als nicht schlüssig. bb) Überlebensinteresse Hoerster billigt in Anlehnung an den australischen Philosophen Peter Singer dem Menschen erst dann einen Rechtsstatus und subjektive Rechte und damit Menschenwürde und Lebensrecht zu, wenn er ein eigenes Überlebensinteresse hat.264 Dieses spezifisch menschliche Überlebensinteresse fehle nicht nur jedem Tier, sondern auch dem Fötus, so dass dieser ebenfalls kein Lebensrecht und keine Menschenwürde haben könne.265 Hoerster bestreitet nicht, dass der nasciturus von Anfang an zur Spezies homo sapiens gehöre und das Potential besitze, sich zu einem geborenen Menschen zu entwickeln. Wie Singer lehnt er jedoch dieses Argument in Anlehnung an die Begriffe Rassismus und Sexismus, die ebenfalls nur an biologische Eigenschaften anknüpfen, als unzulässigen Speziesismus ab. Allein die Zugehörigkeit zu einer 262 263 264
265
Hoerster, JuS 2003, S. 531. Stern, Staatsrecht III/1, S. 1056. Hoerster, ZfL 2006, S. 46; ders., JuS 2003, S. 532; ders., Abtreibung im säkularen Staat, S. 69 ff. Hoerster bezeichnet seine Auffassung selbst als utilitaristisch. Utilitarismus kann definiert werden als jene ethische Auffassung, die im Nützlichen die Grundlage des sittlichen Verhaltens sieht und sittliche Normen nur anerkennt, sofern sie sich im Laufe der Zeit für die Interessen der einzelnen als nützlich erwiesen und bewährt haben. Für den Utilitarismus gibt es somit keine objektiven Normen und damit kein Gut und Böse, so dass sich alles aus dem Konsens von subjektiven Interessen ergibt. Vgl. Lohner, Personalität und Menschenwürde, S. 26 f. Hoerster konzentriert sich in seinen Ausführungen vorwiegend auf das Lebensrecht. Gleichwohl versagt er bei seiner Argumentation durch die Differenzierung von vorpersonalen und personalen Wesen dem Nasciturus implizit zugleich die Menschenwürde. So auch Schreiber, MedR 2003, S. 369
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
bestimmten biologischen Kategorie könne keine ethischen Konsequenzen haben.266 Dazu seien bestimmte relevante Eigenschaften erforderlich. Nur wer ein Lebensinteresse habe, könne auch ein Lebensrecht und dadurch auch Menschenwürde haben. Voraussetzung für ein Lebensinteresse sei aber der aufgeklärte Wunsch nach Überleben. Mangels Ich-Bewusstseins könne der Fötus einen solchen Wunsch nicht haben.267 Wie Singer differenziert Hoerster zwischen bloßem Mensch- und Personsein. Das Personsein gehe über rein biologische Fakten hinaus und erfordere IchBewusstsein.268 Die Leibesfrucht sei daher nur Vorläufer einer Person.269 Mangels Überlebensinteresse leide der nasciturus unter seiner Tötung ebenso wenig wie die noch unbefruchtete Keimzelle.270 Es werde auch kein Überlebensinteresse einer sich aus dem Fötus entwickelnden Person verletzt, da bereits die Entstehung einer Person verhindert werde.271 Konsequenterweise müsste sonst auch die Nichtbefruchtung das Überlebensinteresse beeinträchtigen.272 Mangels Ich-Bewusstsein und dem dadurch fehlenden Überlebensinteresse komme dem nasciturus folglich weder Würde noch Lebensrecht zu. Aus Sicherheitserwägungen nimmt Hoerster ein Überlebensinteresse ab Geburt an und billigt sowohl dem Neugeborenen als auch dem geistig schwer Behinderten Lebensrecht und Menschenwürde zu, um eine klare Grenzziehung zu ermöglichen. Darüber hinaus vertritt er, dass bei irreversibel Komatösen und Altersdementen bereits ein Überlebensinteresse bestanden habe. Dieses erstrecke sich wie eine Brücke auf die nun kommende Phase.273 In dieser Konsequenz unterscheidet sich die Ansicht Hoersters von der Auffassung Singers. Singer geht davon aus, dass ein eigentliches Lebensrecht erst im zweiten Lebensjahr bestehe. Vorsichtshalber spricht er dem Kind aber bereits nach einem Lebensmonat das Lebensrecht zu. Zuvor könnten behinderte und unerwünschte Kinder auch nach der Geburt getötet werden, denn entsprechend der Entwicklung des Nervensystems habe das Leben eines Neugeborenen weniger Wert als das Leben eines Schweins, eines Hundes oder eines Schimpansen.274 Auch der irreversibel Komatöse hat nach Singer kein Lebensrecht. Euthanasie bei 266 267 268
269 270 271 272 273 274
Hoerster, Abtreibung im säkularen Staat, S. 64 f.; ders., JuS 1989, S. 174. Hoerster, Abtreibung im säkularen Staat, S. 69 ff.; ders., JuS 1989, S. 172. Hoerster, Abtreibung im säkularen Staat, S. 74 ff.; Singer fordert in seinem Werk Praktische Ethik auf S. 118 „Selbstbewußtsein, Selbstkontrolle, Sinn für Zukunft, Sinn für Vergangenheit, die Fähigkeit, mit anderen Beziehungen zu knüpfen, sich um andere zu kümmern, Kommunikation und Neugier.“ Hoerster, Abtreibung im säkularen Staat, S. 75. Hoerster, JuS 1989, S. 176. Hoerster, Abtreibung im säkularen Staat, S. 100. Hoerster, Abtreibung im säkularen Staat, S. 102. Hoerster, ZfL 2006, S. 46. Singer, Praktische Ethik, S. 169. Singer nimmt als Anknüpfungspunkt für seine Thesen das von Ernst Haeckel (1834-1919) entwickelte Biogenetische Grundgesetz, nach dem der Mensch während seiner Entwicklung im Mutterleib (Ontogenese) die Entwicklung der Stammesgeschichte (Phylogenese) durchläuft. Wie bereits oben gezeigt, ist die Auffassung von Haeckel nicht mehr haltbar. Vgl. 1. Kapitel A.
B. Die Menschenwürde
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älteren Menschen, denen die Fähigkeit zum Bewusstsein fehlt, lehnt Singer mit der Begründung ab, dass dieses Verfahren bei den bewussten Menschen Ängste auslösen könnte, selbst einmal so getötet zu werden.275 Hinsichtlich der Tötung fordert Singer, dass sie so schmerzfrei wie möglich geschehen müsse, auch bei Spätschwangerschaftsabbrüchen.276 Nach Hoerster ist der nasciturus aber nicht gänzlich schutzlos gestellt. Aus dem Gattungsinteresse, die menschliche Spezies zu erhalten und dem Beschützerinstinkt gegenüber dem nasciturus als Angehöriger der eigenen Gattung leitet er einen „schlichten Lebensschutz“ ab, der allerdings in gestufter Form vorstellbar sei. Eine Abwägung zwischen den Interessen der Frau und dem nasciturus wird dadurch möglich. Daraus folgt, dass Abtreibungen grundsätzlich zu jedem Zeitpunkt der Schwangerschaft zulässig sind.277 Ob eine solche Argumentation wirklich mit Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 2 GG vereinbar wäre, soll erst im Rahmen der Auslegung überprüft werden. Auch hier beschränkt sich die kritische Würdigung auf die Schlüssigkeit der Argumentation. Im Ergebnis kann diese Auffassung nicht überzeugen. Problematisch ist zunächst, dass Hoerster, wohl um geborene Menschen ohne Überlebensinteresse nicht aus der Würdegarantie auszuklammern und dadurch ein mit der Verfassung nicht in Einklang zu bringendes Ergebnis zu vermeiden, ab Geburt ein Überlebensinteresse fingiert. Damit setzt er sich in Widerspruch zu seiner gesamten Argumentation, nach der für die Zubilligung von Personalität, Ichbewusstsein und Rationalität erforderlich sind. Die klare Grenzziehung, die er mit dieser Fristsetzung anstrebt, ist im Übrigen nicht nur durch das Abstellen auf den Zeitpunkt der Geburt möglich, sondern könnte auch erreicht werden, indem beispielsweise an den Beginn des 2. Lebensjahres oder des 5. Schwangerschaftsmonats angeknüpft würde. Inkonsistent ist auch die von ihm bemühte Brückenkonstruktion, die den Rechtsstatus des geborenen Menschen auch bei Verlust eines Überlebensinteresses sichern soll. Fordert man wie Hoerster ein aktuelles Überlebensinteresse, so müssen konsequenterweise sowohl Embryonen als auch schwerst geistig Behinderte aus dem Garantiebereich der Menschenwürde herausfallen. Es überzeugt nicht, ein vergangenes Überlebensinteresse für ausreichend zu erachten und dem zukünftigen Überlebensinteresse keine Relevanz zuzubilligen.278 Wie bereits ausgeführt, stellt es nach Hoerster einen biologistischnaturalistischen Fehlschluss dar, Menschenwürde und Lebensrecht mit der Spezieszugehörigkeit zu begründen. Eine solche Begründung hält er im Übrigen für willkürlich. Zu fragen ist, was willkürlich an einer Auffassung sein soll, die allen Angehörigen der menschlichen Spezies Menschenwürde und Lebensrecht zubilligt. Willkürlich erscheint vielmehr, den Zuspruch dieser Rechte von vagen Eigenschaften abhängig zu machen. Willkürlich ist darüber hinaus auch, dass man die 275 276 277 278
Singer, Praktische Ethik, S. 246. Singer, Praktische Ethik, S. 197 f. Hoerster, Ethik des Embryonenschutzes, S. 111, 113. Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 167.
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
mit Befruchtung entstandenen Fähigkeiten des nasciturus, Ich-Bewusstsein zu erlangen, nur bei Ungeborenen nicht berücksichtigt, bei Schlafenden und Bewusstlosen aber akzeptiert.279 Folgt man Hoersters Sichtweise, so fordert man für den Zuspruch von Menschenwürde und Lebensrecht des nasciturus das Vorliegen einer bestimmten Eigenschaft, nämlich ein Überlebensinteresse. Demgegenüber erachtet man für den Zuspruch von Menschenwürde und Lebensrecht des geborenen Menschen die Gattungszugehörigkeit für ausreichend. Ein Überlebensinteresse ist gerade nicht erforderlich. Damit beinhaltet die Argumentation Hoersters aber bezüglich des geborenen Lebens selbst einen biologistisch-naturalistischen Fehlschluss und wurde zutreffend als „Geburtsspeziesismus“280 bezeichnet.281 Auch Hoersters Auffassung ist folglich ernstzunehmenden Einwänden ausgesetzt und kann im Ergebnis nicht überzeugen. cc) Ichbewusstsein, Vernunft und Selbstbestimmung Im Gegensatz zu Merkel und Hoerster billigt Dreier dem nasciturus das durch Art. 2 Abs. 2 GG garantierte Lebensrecht zu, spricht sich aber zugleich gegen eine Einbeziehung des nasciturus in den Gewährleistungsbereich der Menschenwürde aus. Die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts hält er ebenfalls für inkonsistent und nicht überzeugend.282 Die Einschlägigkeit der Menschenwürdegarantie hätte zur weitgehenden Verfassungswidrigkeit der Abtreibungsregelungen führen müssen. Allenfalls könnte eine enge medizinische Indikation für zulässig gehalten werden, wobei aber auch hier fraglich sei, weshalb der Konflikt immer zu Lasten des Kindes ausgehen solle.283 Darüber hinaus nimmt Dreier Bezug auf die erste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Schwangerschaftsabbruch, in der das Gericht ausführte, dass der Gesetzgeber nicht verpflichtet sei, die gleichen Maßnahmen zum Schutz von ungeborenem und geborenem Leben zu treffen. Die Existenz der §§ 218 ff. StGB neben den §§ 211 ff. StGB zeige, dass der nasciturus im Strafrecht nicht als Mensch angesehen werde, sondern in der Geburt ein fundamentaler Einschnitt liege.284 Nur indem man den nasciturus aus der Würdegarantie ausklammere, könne man Wertungswidersprüche vermeiden.285 Dreier weist ausdrücklich darauf hin, dass man allein aus der Tatsache, dass der nasciturus im biologisch-naturwissenschaftlichen Sinne lebe, nicht schließen könne, dass er in den Gewährleistungsbereich der Menschenwürde einzubeziehen sei. Eine solche Schlussfolgerung stelle vielmehr einen biologistisch-naturalistischen Fehlschluss dar.286 279 280 281 282 283 284 285 286
Tröndle, NJW 1991, S. 2542. Tröndle, NJW 1991, S. 2543. Tröndle, NJW 1991, S. 2543; Tröndle, GA 1995, S. 253. Dreier, DÖV 1995, S. 1039 f.; Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 69. Dreier, DÖV 1995, S. 1040. Dreier, ZRP 2002, S. 379. Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 70. Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 66.
B. Die Menschenwürde
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Auch die im nasciturus angelegten potentiellen Fähigkeiten genügten nicht, um eine Würdeträgerschaft zu begründen. Bei einer solchen Argumentation müsste eine „Würdeverletzung pro futuro“ konstruiert werden.287 Gemäß ihrer Entstehungsgeschichte und ihrem Zweck solle die Menschenwürdegarantie eine konkrete Schutzgarantie für konkrete Subjekte sein, um deren Personenhaftigkeit, Integrität und Identität zu wahren. Ein Abstellen auf die Potentialität würde zu einer Inflationierung des Menschenwürdesatzes und damit zu seiner Entwertung führen.288 Dreier verweist darüber hinaus auf den Wortlaut des Art. 1 Abs. 1 GG, der von Würde „des Menschen“ und nicht von „jeder“ wie Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG spreche. Leben sei zwar conditio sine qua non, aber nicht zugleich conditio per quam.289 Das bedeute, dass das Leben zwar kausale Voraussetzung für das Vorliegen der Menschenwürde sei. Allerdings heiße dies nicht zugleich, dass jedem Leben Menschenwürde zukomme. Menschenwürde und Lebensschutz seien daher grundsätzlich zu entkoppeln. Eine solche Auffassung sei auch mit anderen rechtlichen Wertungen kompatibel wie beispielsweise § 1 BGB, der die Rechtsfähigkeit des Menschen an die Geburt knüpft. Bei § 1923 Abs. 2 BGB müsse die Rechtsfähigkeit fingiert werden.290 Träger der Menschenwürde kann nach Dreier nur der geborene Mensch mit seiner prinzipiellen (nicht aktuellen) Fähigkeit zur vernünftigen Selbstbestimmung sein, nicht aber der nasciturus, da diesem Ich-Bewusstsein, Vernunft und die Fähigkeit zur Selbstbestimmung fehlen.291 Dreiers Begründung ist vielfachen Bedenken ausgesetzt. Zunächst schließt er vom einfachgesetzlichen Recht auf die Verfassung, indem er aus den strafrechtlichen Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch und den Regelungen im Bürgerlichen Gesetzbuch folgert, dass die Geburt ein fundamentaler Einschnitt sei. Der Verweis auf den Beginn der Rechtsfähigkeit nach dem BGB ist schon allein deshalb nicht aussagekräftig, weil jedes Gesetz für sich selbst festlegt, wann die Rechtssubjektivität beginnt.292 Wie in der Kritik zu Merkel bereits dargestellt, ist das einfache Recht im Hinblick auf das Verfassungsrecht und nicht das Verfassungsrecht anhand des einfachen Rechts zu interpretieren. Eine solche Schlussfolgerung ist daher verfehlt, da sie die Normenhierarchie quasi auf den Kopf stellt.293 Sofern Dreier die Urteile des Bundesverfassungsgerichts zum Schwangerschaftsabbruch als widersprüchlich kritisiert, berücksichtigt er nicht die Komplexität des Schwangerschaftsabbruchs. Er zieht nicht in Betracht, dass Wertungswidersprüche möglicherweise unvermeidbar sind, um einer solchen Extremsituation gerecht zu werden. Eine ergebnisorientierte Argumentation, die den nasciturus aus
287 288 289 290 291 292 293
Dreier, DÖV 1995, S. 1039. Dreier, DÖV 1995, S. 1039. Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 67. Dreier, ZRP 2002, S. 378. Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 64. Tornow, Art. 1 Abs. 1 GG als Grundrecht, S. 77. So auch: Tornow, Art. 1 Abs. 1 GG als Grundrecht, S. 77.
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
der Menschenwürdegarantie ausklammern will, um Wertungswidersprüche zu vermeiden, kann jedenfalls nicht überzeugen. Darüber hinaus ist nicht schlüssig begründet, warum die Potentialität des nasciturus, sich zu einem geborenen Menschen zu entwickeln, nicht zu einem Würdezuspruch führen soll. Eine mit der Ausweitung der Menschenwürdegarantie einhergehende Inflationierung und Entwertung ist nicht ersichtlich. Es werden auch sonst keine lebenden Personengruppen von der Würdegarantie ausgeklammert, nur um einer Entwertung der Menschenwürdegarantie entgegen zu wirken. Mit Befruchtung liegt bereits ein konkretes Subjekt vor, so dass eine Inflationierung nicht zu befürchten ist. Darüber hinaus kann einer Inflationierung auch durch ein enges Verständnis des materiellen Schutzbereichs der Menschenwürde entgegengewirkt werden. Eine Einengung des personellen Schutzbereichs ist nicht erforderlich. Richtig ist, dass Leben und Menschenwürde getrennt voneinander zu betrachten sind und dass das bloße Abstellen auf ein biologisches Faktum einen biologistisch-naturalistischen Fehlschluss darstellt. Ob das Abstellen auf ein biologisches Faktum aber möglicherweise aus teleologischen Gründen geboten ist, ist später noch zu prüfen.294 Ist dies der Fall, so wird ein biologistisch-naturalistischer Fehlschluss vermieden. dd) Soziale Erkennbarkeit Für Schmidt-Jortzig macht das spezifisch Menschliche nicht die Summe menschlicher Gene aus, sondern „die einzigartige Vernunftbegabung, die Gefühlsabhängigkeit, die Sozialität eines Geschöpfes“.295 Er beschreibt den Menschen als kulturelles Wesen mit Anlagen zu Musikalität und Sprache. Seine Bestimmung liege in Interaktion und Kommunikation mit seinesgleichen. Für den Zuspruch von Menschenwürde maßgeblich sei daher die soziale Erkennbarkeit.296 In seinen Ausführungen legt er sich nicht auf einen genauen Zeitpunkt fest, zu dem diese soziale Erkennbarkeit gegeben ist, sondern erwägt den Zeitpunkt der Nidation, da zu diesem Zeitpunkt eine Verbindung mit dem mütterlichen Organismus eintritt, den Zeitpunkt der 6. Schwangerschaftswoche, in der sich durch den Beginn der Herztätigkeit ein eigener Kreislauf des nasciturus herausbildet, die 12. Schwangerschaftswoche, da zu diesem Zeitpunkt atmungsähnliche Bewegungen feststellbar sind und das Gesicht menschliche Züge bekommt, die 13. Woche, da dann erste elektrische Hirnsignale ablaufen, die 22. Schwangerschaftswoche, da hier die extrauterine Lebensfähigkeit gegeben ist, und die Geburt, da ab diesem Zeitpunkt das Kind personell und individuell zweifellos zur Kenntnis genommen werde.297 Das Kriterium der Menschenerkennbarkeit, das Schmidt-Jortzig für erforderlich hält, eignet sich nicht für die Beantwortung der Frage, wann Menschenwürde be294 295 296
297
2. Kapitel B V 3 d). Schmidt-Jortzig, DÖV 2001, S. 930. Schmidt-Jortzig, DÖV 2001, S. 930; auch Zippelius, in: Bonner Kommentar, Art. 1 Abs. 1 u. 2, Rn. 51, vertritt die Auffassung, dass sich der Nasciturus dem Bild des Menschen wenigstens angenähert haben sollte. Schmidt-Jortzig, DÖV 1995, S. 930.
B. Die Menschenwürde
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ginnt. Schmidt-Jortzig selbst erwägt verschiedene Zeitpunkte. Folglich kann der Zuspruch von Menschenwürde nicht an dieses Kriterium anknüpfen. Generell ist es höchst problematisch, den Würdeschutz an Merkmale wie Vernunftbegabung, Musikalität oder Kommunikationsfähigkeit zu knüpfen, denn auch geborene Menschen, wie der Anenzephalus, der irreversibel Komatöse oder Demenzkranke besitzen diese Fähigkeiten nicht. Konsequenterweise müsste man auch diesen Personen die Würde absprechen. Gleichwohl wird diese Konsequenz von niemandem gezogen. ee) Einheit von Leib, Seele und Geist Podlech klammert den nasciturus aus dem Gewährleistungsbereich der Würdegarantie aus, bezieht ihn aber zugleich in den Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 GG ein. Die Existenz des Lebens durchläuft nach seiner Ansicht drei Lebensabschnitte: Das Stadium des nasciturus, das Stadium des Menschen in der Einheit von Leib, Seele und Geist und das Stadium als Mensch vom Hirntod bis zur Leichenwerdung.298 Erst mit der bezeichneten Einheit werde der Mensch zum Träger der Menschenwürde. Diese Einheit erlösche nicht mit dem Hirntod, so dass auch dem Verstorbenen Würde zukomme.299 Die Auffassung von Podlech entbehrt letztlich jeder Begründung. Offen bleibt, warum die Einheit von Leib, Seele und Geist erst ab Geburt und nicht bereits mit Befruchtung gegeben sein soll.300 Böckenförde spricht daher beispielsweise bereits ab Befruchtung von einer Leib-Geist-Seele Einheit, da zu diesem Zeitpunkt das biologische Fundament bereits vorhanden und darin die spätere geistige und psychische Entwicklung mit grundgelegt sei.301 Die Sichtweise Podlechs erinnert letztlich stark an die Sukzessivbeseelungslehre, die heute nicht mehr vertreten wird. Diese Auffassung kann folglich nicht überzeugen. ff) Zwischenergebnis Die dargestellten Auffassungen, die den Zuspruch von Menschenwürde von spezifisch menschlichen Eigenschaften oder einem Überlebensinteresse abhängig machen, sind in ihrer Argumentation nicht schlüssig und können daher nicht überzeugen. b) Objektiv-rechtlicher Begründungsansatz Die Vertreter eines objektiv-rechtlichen Begründungsansatzes sprechen dem nasciturus keinen subjektiv grundrechtlichen Status zu. Als Grundrechtssubjekt anerkennen sie nur den geborenen Menschen. Allerdings soll die Menschenwürde auf den pränatalen Bereich vorwirken, woraus ein objektiv-rechtlicher Schutz re-
298 299 300 301
Podlech, in: AK GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 57. Podlech, in: AK GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 57, 58a f. Zaar, Wann beginnt die Menschenwürde, S. 93. Böckenförde, JZ 2003, S. 812.
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
sultiere, dessen Intensität mit fortschreitender Entwicklung des nasciturus zunehme.302 Begründet wird die Vorwirkung auf verschiedene Art und Weise. aa) Vorwirkung der Menschenwürde in Parallele zum postmortalen Würdeschutz Ipsen, der einen objektiv-rechtlichen Begründungsansatz vertritt, beginnt seine Ausführungen mit einer umfassenden Kritik an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Man könne nicht einerseits ausdrücklich die Menschenwürdeträgerschaft des nasciturus postulieren und damit eine auf das einzelne Leben bezogene staatliche Schutzpflicht während der gesamten Dauer der Schwangerschaft bestätigen und auf der anderen Seite die Straflosigkeit von Schwangerschaftsabbrüchen trotz Rechtswidrigkeit innerhalb der ersten zwölf Wochen aufgrund eines Beratungsmodells und nach zwölf Wochen unbegrenzt aufgrund des Indikationsmodells billigen.303 Grundrechtsdogmatisch gebe es nur zwei Möglichkeiten. Erstens: Der nasciturus sei als Träger der Menschenwürde anzusehen. Dann liege eine Menschenwürdeverletzung vor, da seine Existenz vollständig zur Disposition der Mutter stünde. Zweitens: Der nasciturus werde überhaupt nicht von der Menschenwürdegarantie erfasst oder sein Schutz sei aus der objektiven Geltung der Menschenwürdegarantie abzuleiten. Dann werde mit der Abtreibung kein Rechtssubjekt beseitigt. Es sei lediglich zu prüfen, ob der Gesetzgeber dem geschützten Rechtsgut einen hinreichenden Schutz gewähre.304 Im Ergebnis entscheidet sich Ipsen für einen bloß objektiven Schutz der Menschenwürde. Eine Erstreckung der Menschenwürde auf das pränatale Stadium im Sinne eines objektiv-rechtlichen Schutzes begründet er mit einem Vergleich zum postmortalen Würdeschutz,305 der seit der Mephisto-Entscheidung unstrittig anerkannt ist. Dort führte das Bundesverfassungsgericht aus: „Es würde mit dem verfassungsverbürgten Gebot der Unverletzlichkeit der Menschenwürde, das allen Grundrechten zugrunde liegt, unvereinbar sein, wenn der Mensch, dem Würde kraft seines Personseins zukommt, in diesem allgemeinen Achtungsanspruch auch nach seinem Tode herabgewürdigt oder erniedrigt werden dürfte. Dementsprechend endet die in 302
303 304 305
Ipsen, JZ 2001, S. 992; Denninger, KritV 2003, S. 207; Hartleb, DVBl 2006, S. 678; Kloepfer, JZ 2002, S. 420; Lorenz, ZfL 2001, S. 40; Anderheiden bejaht eine subjektive Grundrechtsberechtigung des nasciturus aus Art. 2 Abs. 2 GG erst ab Nidation und spricht dem nasciturus implizit auch ab diesem Zeitpunkt Menschenwürde zu. Für die prävitale Phase erwägt er einen prävitalen Schutz aus Art. 1 Abs. 1 GG in Parallele zum postmortalen Persönlichkeitsschutz. Vgl. Anderheiden, KritV 2001, S. 380; für einen objektiven pränidativen Lebensschutz aus den Vorwirkungen der Menschenwürde auch: Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Art. 2 Abs. 2 Rn. 28; Taupitz, NJW 2001, 3437 f. Ipsen, DVBl 2004, S. 1384; ders., JZ 2001, S. 992. Ipsen, JZ 2001, S. 992. Ipsen, JZ 2001, S. 992; so auch: Taupitz, NJW 2001, 3438;
B. Die Menschenwürde
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Art. 1 Abs. 1 GG aller staatlichen Gewalt auferlegte Verpflichtung, dem Einzelnen Schutz gegen Angriffe auf seine Menschenwürde zu gewähren, nicht mit dem Tode.“306
Der Tote ist hierbei nicht Subjekt der Menschenwürde, vielmehr wird er von der Nach- oder Reflexwirkung der Menschenwürde erfasst, mit der Folge, dass der postmortale Würdeschutz abwägungsoffen ist.307 Im Sinne eines „Spiegelbildes“308 müsse in Analogie zu dem abwägungsoffenen postmortalen Würdeschutz ein abwägungsoffener pränataler Würdeschutz vorhanden sein und entsprechend einer Grundrechtsnachwirkung eine Grundrechtsvorwirkung existieren.309 Der nasciturus sei wie der Tote nicht Grundrechtsträger der Menschenwürde. Es bestehe aber eine rein objektive Schutzpflicht aus Art. 1 Abs. 1 GG.310 In Parallele zur sukzessiven Abnahme des postmortalen Würdeschutzes steige der Würdeschutz in der pränatalen Phase an. Ipsen begründet den zunehmenden Würdeschutz auch damit, dass Rechtssubjekt der geborene Mensch sei. Daher steige der Würdeschutz mit fortschreitender Entwicklung des nasciturus und zunehmender Menschenähnlichkeit an.311 Prima facie scheint eine Parallelisierung von postmortalem und pränatalem Würdeschutz logisch und geradezu geboten zu sein. Bei näherem Hinsehen entdeckt man jedoch gravierende Unterschiede, die eine vollständige Parallelisierung von postmortalem und pränatalem Würdeschutz verbieten. Der Tote hat zumindest einmal gelebt und ein Interesse an dem sorgsamen Umgang mit seinem Körper nach dem Tod entwickelt. Der postmortale Menschenwürdeschutz stellt also gleichsam eine Verlängerung der Würde derjenigen dar, die einmal gelebt haben. Eine solche Anbindung des Würdeschutzes an die früher lebende Person unternimmt auch das Bundesverfassungsgericht, wenn es formuliert: „Geschützt ist bei Verstorbenen zum einen der allgemeine Achtungsanspruch, der dem Menschen kraft seines Personseins zusteht…Schutz genießt aber auch der sittliche, personale und soziale Geltungswert, den die Person durch ihre eigene Lebensleistung erworben hat.“312
306 307
308 309
310 311 312
BVerfGE 30, 173 (194). Hartleb, DVBl 2006, S. 675; Ipsen, JZ 2001, S. 993; a.A. Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG Kommentar, Art. 1 Rn. 15, der davon ausgeht, dass es sich bei dem Toten um ein Grundrechtssubjekt auf Zeit handelt. Dederer, AöR 2002, S. 13. Ipsen, JZ 2001, S. 993; Birnbacher, in: Kettner, Biomedizin und Menschenwürde, S. 259; so auch: Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Art. 2 Abs. 2 Rn. 28; Lorenz, ZfL 2001, S. 40.; Rosenau, FS Schreiber, S. 761, 766 f; Taupitz, NJW 2001, 3438. Ipsen, JZ 2001, S. 991. Ipsen, JZ 2001, S. 994. Kammerbeschluss vom 5. 4. 2001, NJW 2001, S. 2959.
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
Bei der Vorwirkung der Menschenwürde in das pränatale Stadium war ein Grundrechtssubjekt nie vorhanden. Es fehlt daher das Substrat, an das der Würdeschutz anknüpfen kann.313 Eine weitere Asymmetrie besteht darin, dass der nasciturus sich in der Entwicklung befindet, während bei einem Toten eine solche Entwicklung gerade nicht mehr stattfindet.314 Aufgrund der genannten Asymmetrien überzeugt es daher nicht, in Parallele zum postmortalen Würdeschutz einen pränatalen Würdeschutz zu begründen. Darüber hinaus stößt die Annahme von subjektlosen Grundrechten auf erhebliche Bedenken. Hartleb weist zu Recht darauf hin, dass Grundrechte durch eine dreigliedrige Struktur gekennzeichnet sind, nämlich Grundrechtsträger, -adressat und -inhalt.315 Im Ergebnis kann die Konstruktion von subjektlosen Grundrechten folglich nicht überzeugen. bb) Anwartschaftsrecht auf Menschenwürde Aufgrund der Tatsache, dass bereits die Zygote das Potential hat, sich zu einer menschlichen Persönlichkeit zu entwickeln, der jedenfalls mit Vollendung der Geburt Lebensrecht und Menschenwürde in vollem Maße zustehen, erscheint es Kloepfer angemessen, auch dem nasciturus den Schutz der Menschenwürde und des Lebensgrundrechts im Sinne einer Vorwirkung zuzusprechen.316 Da es sich letztlich um grundrechtliche Entstehungssicherung handle, die dem künftigen Menschen zur Sicherung seiner Geburt diene, spreche viel dafür, diesen Grundrechtsschutz als Schutz von Quasi-„Grundrechtsanwartschaften“ zu begreifen.317 Dieser Anwartschaftsschutz sei aber nicht so stark wie der Lebens- und Würdeschutz geborener Menschen. Die Intensität des Schutzes nehme mit fortschreitender Entwicklung des nasciturus zu, so dass der Lebens- und Würdeschutz des nasciturus kurz nach Befruchtung am geringsten und kurz vor Geburt am größten sei.318 Fraglich ist zunächst, ob die Übertragung der Idee des zivilrechtlichen Anwartschaftsrechts ins Verfassungsrecht überzeugen kann.319
313 314 315 316 317 318 319
Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Fn. 253; Hartleb, DVBl 2006, S. 675; Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 338. Dederer, AöR 2002, S. 13; Hartleb, DVBl 2006, S. 675. Hartleb, DVBl 2006, S. 675. Kloepfer, JZ 2002, S. 420. Kloepfer, JZ 2002, S. 420. Kloepfer, JZ 2002, S. 420. Im Hinblick darauf, dass die Rechtsfähigkeit des Menschen im Zivilrecht gemäß § 1 BGB erst mit Vollendung der Geburt beginnt, der Nasciturus aber beispielsweise gemäß § 1923 Abs. 2 BGB erbrechtlich Begünstigter sein kann, stellte sich im Zivilrecht schon früh die Frage, wie man ein Recht einem noch nicht existenten Rechtsträger zuordnen kann. Erörtert wurden für die Zuordnung dieser subjektlosen Rechte die Idee einer Anwartschaft und einer schwebenden oder partiellen Rechtsfähigkeit. Vgl. Hohner, Subjektlose Rechte, S. 132 ff., 145. Heute ist man sich darüber einig, dass der Nasciturus bereits teilrechtsfähig ist. Vgl. Ellenberger, in: Palandt, §§ 1-6 Rn. 7.
B. Die Menschenwürde
77
Eine Übertragung von zivilrechtlichen Konstruktionen wie das Anwartschaftsrecht auf das Verfassungsrecht erscheint problematisch, da es im Verfassungsrecht um wesentlich tiefgreifendere und existenzielle Fragen geht. Im Zivilrecht sichert ein Anwartschaftsrecht die Entstehung einer Rechtsposition und ist daher äußerst vorteilhaft für den Inhaber des Anwartschaftsrechts. Kloepfer nutzt das Anwartschaftsrecht hier zwar dazu, dem nasciturus einen objektiv-rechtlichen Schutz zuzubilligen. Gleichzeitig wird diese Rechtsfigur aber dazu verwendet, die Unantastbarkeit der Menschenwürde und damit ihren Absolutheitscharakter zu umgehen, weshalb das Anwartschaftsrecht hier auch nachteilig für den nasciturus ist. Die Menschenwürde ist unteilbar. Graduelle Stufungen, wie ein sich verdichtendes Anwartschaftsrechts auf Menschenwürde, sind undenkbar. Auch die Idee eines Menschenwürdeanwartschaftsrechts kann eine Vorwirkung der Menschenwürde folglich nicht schlüssig begründen. cc) Nicht-reziproke Schutzpflicht aufgrund der Potentialität Hartleb hält eine Vorwirkung der Menschenwürde in den pränatalen Bereich für erforderlich, da ansonsten der Schutz der menschlichen Würde unvollständig wäre, wenn er erst mit Existenz des Grundrechtsträgers einsetze und ein bereits vorhandenes Entwicklungspotential vollständig ignoriere.320 Diese Grundrechtsvorwirkung knüpft er allein an die Potentialität und bezeichnet sie als nicht-reziproke Schutzpflicht.321 Der so begründete Grundrechtsschutz soll parallel zur biologischen Entwicklung des nasciturus zunehmen.322 Zweifelhaft ist dieser Begründungsansatz zunächst deshalb, weil ein menschlicher Entwicklungsprozess in zwei grundrechtsdogmatisch unterschiedlich bewertete Phasen, nämlich Grundrechtsvorwirkung und Grundrechtsträgerschaft, aufgespalten wird.323 Problematisch erscheint darüber hinaus, dass alle objektiv-rechtlichen Begründungsansätze eine Schutzwirkung annehmen, ohne dass überhaupt ein Grundrechtssubjekt existiert. Die Vorstellung, dass durch Grundrechte etwas geschützt wird, das materiell nicht Grundrechtsträger ist, ist dogmatisch aber kaum nachzuvollziehen.324 Hartleb setzt sich mit diesem Problem selbst auseinander und bestreitet, dass grundrechtliche Schutzpflichten stets eines subjektiven Trägers bedürfen. Er verweist auf die Mephisto-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, in der die
320 321 322 323
324
Hartleb, DVBl 2006, S. 677; aus der Potentialität leiten auch Geiger/von Lampe, Jura 1994, S. 23 eine Vorwirkung der Menschenwürde ab. Hartleb, DVBl 2006, S. 678; zugeneigt wohl Hoerster, ZfL 2006, S. 46. Hartleb, DVBl 2006, S. 679. Hartleb setzt sich in: DVBl 2006, S. 679 mit diesem Gegenargument selbst auseinander, hält aber eine unterschiedliche normative Behandlung verschiedener Entwicklungsphasen des Menschen für geboten. Heun, JZ 2002, S. 519; Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 67; Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 31; Hoerster, ZfL 2006, S. 45; Merkel, FS Müller-Dietz, S. 497; Müller-Terpitz, der Schutz des pränatalen Lebens, S. 338; ders., ZfL 2006, S. 35 f.
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
Schutzwürdigkeit des Toten aus Art. 1 Abs. 1 GG abgeleitet wurde.325 Wie oben bereits ausgeführt, hinkt ein solcher Vergleich insofern, als der Tote im Gegensatz zum nasciturus bereits zu seinen Lebzeiten ein Interesse am Würdeschutz nach seinem Tod entwickeln konnte und einmal Würdeträger war. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bestätigt im Übrigen eher die Sichtweise, dass einer Schutzwirkung eine Grundrechtsträgerschaft korrespondiert. Im ersten Abtreibungsurteil326 ließ das Bundesverfassungsgericht zwar offen, ob der Schutz des nasciturus nur aus den objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalten resultiert oder ob der nasciturus zugleich Grundrechtsträger ist. Im LüthUrteil führte das Bundesverfassungsgericht aber aus, dass die objektiven Grundrechtsgehalte dazu dienten, die Geltungskraft der Grundrechte in ihrer subjektivabwehrrechtlichen Dimension zu verstärken und zu ergänzen.327 Seine bisherige Rechtsprechung zu den objektiven Gewährleistungsgehalten der Grundrechte lässt daher darauf schließen, dass der materiale Geltungsbereich nicht vom personalen Geltungsbereich abstrahiert werden sollte.328 Eine andere Sichtweise würde im Übrigen die verfassungspositivierten Grenzen überschreiten, denn Art. 1 Abs. 1 GG schützt nicht die Würde der Menschheit im Allgemeinen, sondern die Würde des Menschen.329 Nur wer den nasciturus als Mensch im Sinne des Art. 1 Abs. 1 GG begreift, kann eine Schutzwirkung, und sei sie nur objektiv-rechtlicher Natur, herleiten. „Der objektiv-rechtliche Gehalt eines Grundrechts umfasst das durch es verbürgte, von einem konkreten Rechtsträger und damit einem konkreten Rechtsanspruch (Achtung und Schutz) abstrahierte Rechtsgut in seinem personalen wie materialen Zuschnitt.“330 Es wäre ein „logischer Bruch“, Vorstufen des menschlichen Lebens den Würdeanspruch abzusprechen und dennoch eine Schutzpflicht des Staates mit der Menschenwürde zu begründen.331 Nicht erörtert wurde bislang, ob eine Stufung des Würdeschutzes orientiert an der Entwicklung des nasciturus überhaupt möglich wäre. Darauf wird später zurückzukommen sein.332 dd) Zwischenergebnis Die objektiv-rechtlichen Begründungsansätze können im Ergebnis nicht überzeugen.
325 326 327 328 329 330 331 332
BVerfGE 30, 173. BVerfGE 39, 1. BVerfGE 7, 198 (205); bestätigt durch das Mitbestimmungsurteil: 50, 290 (337). So aber Ipsen, JZ 2001, S. 992. Zaar, Wann beginnt die Menschenwürde, S. 106. Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 153. Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 31; Zaar, Wann beginnt die Menschenwürde, S. 106. 2. Kapitel B VI 2.
B. Die Menschenwürde
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c) Menschenwürdeträgerschaft des nasciturus ab einer bestimmten entwicklungsbiologisch bedeutsamen Zäsur aa) Vorüberlegung Der Beginn des Menschenwürde- und Lebensschutzes wird häufig mit Hilfe eines Verweises auf eine bestimmte biologische Entwicklungsstufe des nasciturus bestimmt. Zu beachten ist, dass der Begriff „Mensch“ im Sinne des Art. 1 Abs. 1 GG ein normativer Begriff ist, der nicht notwendigerweise von naturwissenschaftlichen Gegebenheiten abhängt. Dennoch darf eine rechtliche Zäsur nicht willkürlich ausfallen. Eine Orientierung an naturwissenschaftlichen Erkenntnissen liegt daher nahe. Es wird daher vielfach versucht, an Zäsuren innerhalb des Entwicklungsprozesses anzuknüpfen, die es auch unter normativen Gesichtspunkten gestatten, von einem Menschen im Rechtssinne zu sprechen. Als einschneidende Zäsuren in der Entwicklung werden dabei Befruchtung, Nidation, Individuation, extrauterine Überlebensfähigkeit und die Geburt gewertet. Befruchtung, Nidation und Individuation liegen zeitlich weit vor dem hier relevanten Zeitpunkt der extrauterinen Lebensfähigkeit. Dennoch sollen diese verschiedenen Anknüpfungspunkte im Folgenden zumindest kurz erörtert werden, da sich daraus zum einen generell Argumente für die Ausdehnung der Menschenwürde in den pränatalen Zeitraum gewinnen lassen, zum anderen aber auch die Bedeutung der einzelnen Zäsuren in der Entwicklung des nasciturus aufgezeigt werden kann. Darauf wird später im Rahmen des abgestuften Schutzkonzepts noch einmal eingegangen.333 bb) Menschenwürde bereits mit Befruchtung Der wohl überwiegende Teil des juristischen Schrifttums sieht den nasciturus bereits ab der Zellkernverschmelzung von Ei- und Samenzelle als Träger der Menschenwürde an und folgt in seiner Argumentation in etwa den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts.334 Gestützt wird diese Ansicht zunächst auf naturwissenschaftliche Erkenntnisse und auf rechtsethische Erwägungen. Da die Zygote bereits zur Spezies Mensch gehöre, müsse ihr dementsprechend Menschenwürde zukommen.335 Darüber hinaus wird darauf verwiesen, dass bereits in der Zygote ein bestimmter Chromosomensatz fixiert und das genetische Programm fertig vorhanden sei. Die individuelle DNA kennzeichne das menschliche Lebewesen in einer unverwechselbaren Art und Weise. Zygote und der später 333 334
335
2. Kapitel B VI 2. Vgl. nur: Böckenförde, JZ 2003, S. 812 f.; Classen, DVBl 2002, S. 143; Dürig, in: Maunz/Dürig, Art. 1 Abs. 1 Rn. 65; Herdegen, GS Heinze, S. 358; Hillgruber, in: Epping/Hillgruber, GG Kommentar, Art. 1 Rn. 3-4; Höfling, in: Sachs, GG Kommentar, Art. 1 Abs. 1 Rn. 51; Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG Kommentar, Art. 1 Rn. 11 f.; Kloepfer, JZ 2002, S. 420; Müller-Terpitz, ZfL 2006, S. 38 f.; ders., Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 345; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Kommentar, Art. 1 Abs. 1 Rn. 18. Kluth, in: Das zumutbare Kind, S. 103; Hillgruber, in: Epping/Hillgruber, GG Kommentar, Art. 1 Rn. 3.
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
geborene Mensch seien dadurch identisch.336 Bereits mit Befruchtung bilde sich ein neues, eigenständiges menschliches Leben. Argumentiert wird auch mit dem bereits in der befruchteten Eizelle vorhandenen Potential, sich zu einem geborenen Menschen zu entwickeln.337 Der Embryo entwickle sich daher genau genommen als Mensch und nicht zum Menschen. Nach der Befruchtung entfalte sich der Embryo von innen nach Maßgabe einer eigenen Organisation. Die Entwicklung verlaufe selbstgesteuert. Gerade dies präge den menschlichen Organismus, „geprägte Form, die lebend sich entwickelt.“338 Entwicklung und Wachstum des nasciturus verliefen kontinuierlich, ohne einschneidende Zäsuren in der Entwicklung.339 Die Vertreter dieser Ansicht sehen in der Befruchtung folglich die zentrale Weichenstellung der menschlichen Ontogenese und halten keine nachfolgende Entwicklungsstufe für so bedeutend wie die Befruchtung. Die Anknüpfung des Menschseins an Zäsuren nach diesem Zeitpunkt wird vielmehr als willkürlich verworfen.340 Für den Würdeschutz ab Befruchtung wird außerdem angeführt, dass im Zweifelsfall diejenige Auslegung zu wählen sei, welche die juristische Wirkungskraft der Grundrechte am stärksten entfalte. Ein umfassender Schutz werde nur dann gewährleistet, wenn man ihn ab Befruchtung beginnen lasse.341 Außerdem wird befürchtet, dass bei einer Verschiebung des Beginns der Menschenwürde auf einen späteren Zeitpunkt ein „Dammbruch“ drohe. Lasse man Eingriffe zum Zeitpunkt des Beginns der Menschenwürde zu, so setze sich dieser Aufweichungsprozess in Zukunft fort und führe zu einer weiteren Entwertung der Menschenwürdegarantie.342 Die aufgeführten Argumente sollen im Folgenden auf ihre Schlüssigkeit überprüft werden. Die hier verwendeten so genannten SKIP-Argumente sind keine klassischen juristischen Argumente, sondern stammen aus dem bioethischen Diskurs. Die juristische Argumentation zum Beginn des Würde- und Lebensschutzes wird aber mit diesen ethischen Aspekten angereichert und vermischt. Nachdem diese Argumente in der bisherigen Darstellung lediglich angeklungen sind, sollen sie im Folgenden näher betrachtet werden. 336 337 338 339
340 341 342
Böckenförde, JZ 2003, S. 812; Fassbender, MedR 2003, S. 281; Hiersche, FS Tröndle, 1989, S. 670. Lehmann, DRiZ 2002, S. 194; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Kommentar, Art. 1 Abs. 1 Rn. 18. Böckenförde, JZ 2003, S. 812; Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 216. Hillgruber, in: Epping/Hillgruber, GG Kommentar, Art. 1 Rn. 4; Lehmann, DRiZ 2002, S. 194; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Kommentar, Art. 1 Abs. 1 Rn. 19; Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 216. Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG Kommentar, Art. 1 Rn. 11; Lehmann, DRiZ 2002, S. 195. Schwarz, KritV 2001, S. 195. Böckenförde-Wunderlich, Präimplantationsdiagnostik, S. 12; Classen, DVBl 2002, S. 146.
B. Die Menschenwürde
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Hinsichtlich des Speziesarguments rügt Merkel zunächst völlig zu Recht, dass es einen biologistisch-naturalistischen Fehlschluss bedeute, wenn das Menschsein allein an das Faktum Spezieszugehörigkeit geknüpft werde. Ein solcher Fehlschluss kann aber vermieden werden, wenn die Spezieszugehörigkeit des nasciturus lediglich im Rahmen einer teleologischen und historischen Auslegung des Art. 1 Abs. 1 GG Berücksichtigung findet.343 Das Kontinuitätsargument wird als klassischer Fehlschluss, als SôritêsParadoxon (sorôs = Haufen) verworfen. Veranschaulicht wird die Kritik durch folgendes Beispiel: Ein Sandkorn für sich allein bilde noch keinen Haufen. Ein Sandkorn und ein weiteres ebenfalls nicht. Drei oder vier Sandkörner bildeten auch noch keinen Haufen. Eine Million Sandkörner bildeten aber schließlich einen Sandhaufen.344 Bestritten wird mit dieser Argumentation nicht die Kontinuität der menschlichen Entwicklung. Bestritten wird vielmehr die Behauptung, die Rechtsordnung könnte wegen dieser Kontinuität keine Zäsuren festlegen.345 Eine parallele Betrachtung von Sandhaufenbildung und menschlicher Entwicklung erscheint zunächst problematisch. Die Entwicklung des nasciturus verläuft von sich aus kontinuierlich. Sandkörner müssen durch äußeren Einfluss zugegeben werden. Dennoch gerät die Schlüssigkeit des Kontinuumsarguments durch dieses Beispiel ins Wanken. Die Rechtsordnung kann in der Tat zwischen zwei Endzuständen einer Entwicklung eine klare Zäsur setzen. So kann auch die Menschenwürdeträgerschaft durch die Rechtsordnung an eine bestimmte Entwicklungszäsur geknüpft werden. Das Kontinuumsargument ist folglich für sich allein nicht geeignet, die Menschenwürdeträgerschaft des nasciturus von Befruchtung an schlüssig zu begründen. Gegen das Identitätsargument wird vielfach eingewandt, dass die Identität zwischen einem Vielzeller und einem geborenen Menschen lediglich in seiner DNA gesehen werden könne.346 Die Anknüpfung an ein biologisches Faktum begründe aber einen naturalistischen Fehlschluss. Das spezifisch Menschliche liege vielmehr in Vernunft, Gefühlsabhängigkeit und Sozialität, die bei einer Zygote noch nicht vorhanden seien.347 Vor allem innerhalb der ersten zwei Wochen nach Befruchtung werden Bedenken gegen dieses Argument erhoben, da zu diesem Zeitpunkt noch Mehrlingsbildungen möglich sind.348 Doch wie kann die Verdopplung der menschlichen Identität zum Wegfall der Menschenwürde führen? Ein biologistisch-naturalistischer Fehlschluss wird im Übrigen auch hier durch eine Auslegung des Art. 1 Abs. 1 GG vermieden.349 343 344 345
346 347 348 349
Vgl. dazu 2. Kapitel B V 3 b), d). Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 85. Merkel, FS Müller-Dietz, S. 516; ders., Forschungsobjekt Embryo, S. 157 ff.; Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 85; Hilgendorf, NJW 1996, S. 761; Hoerster, JuS 1989, S. 173. Merkel, FS Müller-Dietz, S. 518. Schmidt-Jortzig, DÖV 2001, S. 930. Coester-Waltjen, FamRZ 1984, S. 235; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG Kommentar, Art. 1 Rn. 9 Vgl. dazu 2. Kapitel B V 3.
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
Gegen das Potentialitätsargument wird eingewandt, dass man aus einer später eintretenden Rechtsposition nicht zugleich schließen könne, dass sie bereits in einem früheren Stadium vollständig bestehe. Veranschaulicht wird dies durch folgenden Vergleich: Der Thronfolger ist potentieller König, ihm stehen aber dennoch nicht dieselben Rechte zu wie dem König. Aus der Tatsache, dass der nasciturus geboren und dadurch Menschenwürde- und Lebensrechtsträger werde, könne nicht geschlossen werden, dass ihm bereits im pränatalen Stadium die gleichen Rechte zukämen.350 Merkel und Seelmann entgegnen diesem Argument zu Recht, dass solche Rechte nicht in Frage stünden. Es gehe lediglich darum, dass dem nasciturus die Möglichkeit der weiteren Entfaltung offen stehen solle und ihm daher die Chance der Potentialität offen bleibe.351 Gegen das Potentialitätsargument wird außerdem geltend gemacht, dass bei einer Abtreibung die Weiterexistenz des menschlichen Wesens verhindert werde und damit auch die Entwicklungsmöglichkeit, also gerade die Potentialität entfalle.352 Dadurch habe nie ein potentieller Rechtsinhaber existiert. Allerdings ist auch dieser Einwand nicht haltbar. Durch die Tötung des potentiellen Rechtsinhabers würde man sich, diesem Einwand folgend, moralische Legitimität verschaffen. Dass dies nicht sein kann, wird durch die Rechtsfigur der außerordentlichen Zurechnung deutlich.353 Danach erfolgt die Zurechnung auch dann, wenn man sich selbst verantwortlich einem Zurechnungskriterium entzieht.354 Als weiterer Einwand gegen das Potentialitätsargument wird die Gefahr einer reductio ad absurdum angeführt. Unter Umständen müsste man auch der unbefruchteten Eizelle und einem Spermium Potentialität zusprechen. Diesem Einwand kann man aber damit begegnen, dass weder Spermium noch Eizelle mit dem späteren personalen Wesen identisch sind.355 Erst wenn der Chromosomensatz festliegt, kann die Identität und aktive Potentialität bejaht werden. Letztlich zeigt sich, dass ethische Erwägungen unterstützend für die Würdeträgerschaft der Zygote ins Feld geführt werden können, solange man einen biologistisch-naturalistischen Fehlschluss vermeidet. Die hilfsweise angeführte Argumentation, dass in Zweifelsfällen die Auslegung zu wählen ist, welche die juristische Wirkungskraft der Grundrechte am stärksten entfaltet, ist nicht geeignet, die Menschenwürdeträgerschaft des nasciturus ab Befruchtung zu begründen. Voraussetzung einer wirkungsstarken Auslegung ist zunächst einmal die Existenz eines Grundrechts und die Existenz eines Rechtsinhabers, auf den es angewendet werden kann. Dies ist aber gerade fraglich, so dass
350 351 352 353 354 355
Hoerster, JuS 1989, S. 176; Joerden, ZStW 2008, S. 14 f. Seelmann, in: Kettner, Biomedizin und Menschenwürde, S. 72. Merkel, Forschungsobjekt Embryo, S. 171. Seelmann, in: Kettner, Biomedizin und Menschenwürde, S. 73. Seelmann, in: Kettner, Biomedizin und Menschenwürde, S. 73. Seelmann, in: Kettner, Biomedizin und Menschenwürde, S. 73.
B. Die Menschenwürde
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das Argument der „wirkungsstärksten Auslegung“ den Grundrechtsstatus nicht begründen kann.356 Gleiches gilt für die Vertreter der so genannten Dammbruchtheorie, da ein Dammbruch nur dann drohen kann, wenn eine bestimmte Handlung wirklich den Anfang einer Würdeverletzung darstellt.357 Im Ergebnis stützen ethische Erwägungen und biologische Aspekte die Ausdehnung des Würdeschutzes auf den Zeitpunkt der Befruchtung. Anders läge der Fall allerdings dann, wenn sich aus den nachfolgenden Entwicklungsstufen Prozesse auffinden ließen, die innerhalb der Ontogenese ebenfalls so entscheidend sind wie die Befruchtung. cc) Menschenwürde ab Nidation Der Beginn der Menschenwürde wird zum Teil auf den Zeitpunkt der Nidation datiert.358 Für diese Sichtweise wird angeführt, dass die Natur selbst vor Nidation mit dem Embryo verschwenderisch umginge. Vor Einnistung der befruchteten Eizelle in die Gebärmutter stürben zwischen 50-75 %359 der Zygoten ab, wohingegen sich nach Abschluss der Nidation die Abortrate innerhalb des ersten Trimenons auf 10 % verringere. Achte die Natur das Leben des pränidativen Embryos gering, so könne für die rechtliche Entscheidung nichts anderes gelten.360 Darüber hinaus komme es erst mit Nidation zu einer Anbindung des nasciturus an den mütterlichen Organismus. Zu vermuten sei, dass diese Verbindung zur Gebärmutter für die Körperachsendetermination des Embryos erforderlich sei, denn die Körperachsendetermination entstehe erst nach Implantation des Embryos in die Gebärmutter und sei somit wahrscheinlich von ihr abhängig. Die Nidation sei wie die Befruchtung auch conditio sine qua non für die Entstehung des Menschen, ohne die der kontinuierliche Entwicklungsprozess nicht stattfinden könne. Ohne die Symbiose zwischen Mutter und nasciturus sei eine Entwicklung des Embryos nicht möglich.361 Vertreter dieser Auffassung stellen ausdrücklich klar, dass sie sich bewusst sind, dass die Entwicklung des Lebens ein kontinuierlicher Vorgang sei. Allerdings gebe es immer Stationen, an die das Recht anknüpfen müsse, wie die Geburt für die Tötungsdelikte nach §§ 211 ff. StGB.362 Die Nidation weise die für eine Zäsion erforderliche Prägnanz und Festigkeit auf. Vor der Nidation gebe es mehrere ganz entscheidende Entwicklungsschritte. Nach Nidation sei aber kein ver-
356 357 358 359 360 361 362
Geiger/Lampe, Jura 1994, S. 22; Merkel, Forschungsobjekt Embryo, S. 33; Zaar, Wann beginnt die Menschenwürde, S. 77. Taupitz, NJW 2001, S. 3436. Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Art. 2 Abs. 2 Rn. 24 f.; Jarass, in: Jarass/ Pieroth, GG Kommentar, Art 1 Rn. 9. 50%-75 % bei Jerouschek, JZ 1989, S. 281. Lüttger, JR 1969, S. 450; Jerouschek, JZ 1989, S. 281. Schäuble, FAZ vom 21. Mai 2001, S. 49, in diese Richtung auch: Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Art. 2 Abs. 2 Rn. 25. Lüttger, JR 1969, S. 450.
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
gleichbarer entscheidender Entwicklungsschritt in der menschlichen Entwicklung mehr festzustellen.363 Die angeführten Argumente können nicht überzeugen. Zum einen kann aus der Tatsache, dass viele Zygoten nicht zur Einnistung gelangen, nicht zugleich auf die Schutzunwürdigkeit aller Zygoten geschlossen werden. Dass die Natur verschwenderisch mit befruchteten Eizellen umgeht, bedeutet nicht zugleich, dass der Mensch die befruchtete Eizelle gering achten darf. Böckenförde-Wunderlich formuliert diesbezüglich zu Recht: „Denn die Natur muß sich nicht verantworten, sie ist weder rechtfertigungsfähig, noch rechtfertigungsbedürftig, eine Entscheidung über den rechtlich relevanten Lebensbeginn dagegen schon.“364 Nach medizinischer Ethik ist es daher erforderlich, auch die befruchtete Eizelle mit allen Mitteln zu erhalten.365 Unbestreitbar ist, dass die Entwicklung des nasciturus von einer Interaktion mit den mütterlichen Gebärmutterzellen abhängig ist. Gleichwohl wird das embryonale Entwicklungspotential dadurch nicht ergänzt. Die Nidation dient lediglich als Umgebungsbedingung der Realisierung dieses Entwicklungspotentials.366 Die bloße Abhängigkeit des nasciturus von seiner Mutter reicht darüber hinaus nicht aus, um ihm eigenständige Schutzpositionen zu versagen. Auch nach der Geburt ist das Neugeborene weiterhin von seiner Mutter im Hinblick auf Nahrung und Versorgung abhängig. Gleichwohl werden ihm aus diesem Grund keine Grundrechte abgesprochen. Die Nidation ist für die Entwicklung des nasciturus zwar unabdingbar. Dies sind aber alle weiteren biologischen Entwicklungsstufen auch. Im Vergleich zur Befruchtung, mit der die genetische Identität des Menschen festgelegt wird, erweist sich die Nidation nicht als ebenso einschneidende Zäsur, die es rechtfertigen würde, den Beginn des Menschseins auf diesen Zeitpunkt zu datieren. dd) Menschenwürde ab Individuation Als biologisch einschneidende Zäsur wird zum Teil auch die Individuation gesehen, die zeitlich eng mit dem Abschluss der Nidation zusammenfällt. Die Individuation kennzeichnet den Zeitpunkt, zu dem die Bildung eineiiger Mehrlinge nicht mehr stattfinden kann. Erst ab diesem Zeitpunkt, so wird argumentiert, könne von einem konkret personalen Lebewesen gesprochen werden, dem individuelle Grundrechte zustehen können.367 Diese Auffassung kann nicht überzeugen. Im Zeitpunkt der Befruchtung steht jedenfalls fest, dass sich ein neues Individuum entwickelt. Gewiss ist nur noch nicht, ob sich ein weiteres einzigartiges Wesen entwickeln wird. Auch geborenen Mehrlingen steht unbestritten trotz ihrer genetischen Identität Menschenwürde 363 364 365 366 367
Knoepffler, in: Schweidler, Neumann, Brysch, Menschenleben-Menschenwürde, S. 250. Böckenförde-Wunderlich, Präimplantationsdiagnostik, S. 176. Jerouschek, JZ 1989, S. 281. Böckenförde, JZ 2003, S. 812; Müller-Terpitz, ZfL 2006, S. 36. Coester-Waltjen, FamRZ 1984, S. 235; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG Kommentar, Art. 1 Rn. 9.
B. Die Menschenwürde
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zu.368 Daher kann die Verdopplung der menschlichen Identität nicht zum Verlust der Menschenwürde führen. ee) Menschenwürde ab Überlebensfähigkeit Zu erwägen ist auch, ob der Zeitpunkt der extrauterinen Überlebensfähigkeit des nasciturus eine entscheidende Zäsur in der Entwicklung des nasciturus darstellt, die es rechtfertigt, ihn erst ab diesem Zeitpunkt in die Würdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG miteinzubeziehen. Im deutschen juristischen Schrifttum findet eine solche Sichtweise bislang, soweit ersichtlich, keine Stütze. Auch das Bundesverfassungsgericht hat einer solchen Auffassung in der ersten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch eine Absage erteilt.369 Demgegenüber knüpft der U.S. Supreme Court an die extrauterine Lebensfähigkeit des nasciturus weitreichende Folgen. Am 22. Januar 1973 hatte der U.S. Supreme Court in Sachen Roe versus Waden darüber zu entscheiden, ob das im Staat Texas bestehende grundsätzliche Abtreibungsverbot, das nur in Fällen der Lebensgefahr für die Schwangere aufgehoben war, mit ihrem „right of privacy“370 vereinbar war, das auch ein Grundrecht auf Abtreibung verbürge.371 Der U.S. Supreme Court vertrat die Ansicht, dass der nasciturus keine Person im Sinne des 14. Zusatzartikels, der das Verfahren für staatliche Zugriffe in Leben und Freiheit regelt, sei. Er begründete seine Auffassung damit, dass die Vorschriften der Verfassung das Wort „Person“ meist nur in einem Zusammenhang verwendeten, der auf geborene Personen zugeschnitten sei.372 Auf den nasciturus ließen sich diese Vorschriften nicht sinnvoll anwenden. Der U.S. Supreme Court billigte dem nasciturus aber den Status einer potentiellen Person zu und zog daraus die Konsequenz, dass die Bundesstaaten ein grundsätzliches Abtreibungsverbot im dritten Trimester ab extrauteriner Überlebensfähigkeit des nasciturus regeln könnten, da zu diesem Zeitpunkt der Fötus zu einem „sinnvollen Leben“ fähig sei.373 In den Fällen der Gesundheits- und Lebensgefahr für die Schwangere sei dieses Abtreibungsverbot aber aufzuheben.374 Der Zeit-
368 369 370 371 372 373
374
Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 64. BVerfGE 39, 1 (37). Dieses entspricht dem deutschen Persönlichkeits- und Selbstbestimmungsrecht. 410 U.S. 113 (153). 410 U.S. 113 (157 f.). Wörtlich heißt es in der Entscheidung 410 U.S. 113 (163): “With respect to the State’s important and legitimate interest in potential life, the >compelling< point is at viability. This is so because the fetus then presumably has the capability of meaningful life outside the mothers’s womb.” 410 U.S. 113 (163 f.). In der Parallelentscheidung Doe versus Bolton, 410 U.S. 179 (191 f.) wurde der Gesundheitsbegriff auch auf das emotionale, psychologische, familiäre und altersbezogene Befinden der Frau erstreckt. Dadurch sind weitergehende Beschränkungen des Abtreibungsrechts auch innerhalb des zweiten Trimesters der Schwangerschaft möglich.
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
punkt der extrauterinen Lebensfähigkeit wird frühestens auf die 24. Schwangerschaftswoche p.c. datiert.375 Im zweiten Trimester der Schwangerschaft wird eine Regelung der Abtreibung wegen zwingender Interessen des Staates am Gesundheitsschutz der Schwangeren in einer Weise befürwortet, die sich an der Gesundheit der Schwangeren orientiert. Beispielsweise dürfen Qualifikationsanforderungen an die behandelnden Personen oder an Art und Qualität der Abtreibungseinrichtung gestellt werden. In späteren Entscheidungen wurde vor allem hinsichtlich abtreibungswilliger Minderjähriger gebilligt, dass bei Abtreibungen im ersten Trimester der Schwangerschaft bestimmte Verfahrensregeln eingehalten werden und die öffentliche Förderung von Beratungsstellen an die Bedingung geknüpft wird, dass sie nicht zur Abtreibung raten.376 In der Folgezeit wurde auch weiterhin die weitgehende Entscheidungsfreiheit der Schwangeren proklamiert. Die starre Abstufung gesetzlich zulässiger Maßnahmen orientiert an den Schwangerschaftstrimestern wurde demgegenüber aufgegeben. Schutzmaßnahmen wie die Einführung einer Beratungspflicht der Schwangeren können nun auch innerhalb des ersten Schwangerschaftstrimesters getroffen werden, ohne allerdings das Letztentscheidungsrecht der Schwangeren anzutasten.377 Die entscheidende Bedeutung der extrauterinen Lebensfähigkeit wird damit begründet, dass der nasciturus zu diesem Zeitpunkt vom mütterlichen Organismus biologisch unabhängig werde. Zu diesem Zeitpunkt sei er zwar noch nicht tatsächliches Mitglied der Gesellschaft, verfüge aber über eine aktuale Potentialität.378 Probleme bereitet diese Sichtweise schon in praktischer Hinsicht. Aufgrund der Fortschritte in der Medizin ist die zeitliche Grenze der Überlebensfähigkeit keinesfalls statisch bestimmbar, sondern vom Stand der Technik abhängig. Es ist zu erwarten, dass sich der Zeitpunkt der Überlebensfähigkeit in Zukunft immer weiter nach vorn verschieben wird, je mehr es der Hightech- Medizin gelingt, die Aufgaben des mütterlichen Organismus zu übernehmen. Vielleicht gelingt irgendwann sogar eine komplette in-vitro-Gestation. Dass die Schutzwürdigkeit des nasciturus von den wandelnden Möglichkeiten der pränatalen Intensivmedizin abhängen soll, ist äußerst bedenklich.379 Darüber hinaus ist auch im Hinblick darauf, dass der nasciturus von Befruchtung an zwar eng mit dem mütterlichen Organismus verbunden, aber immer eine eigenständig abgrenzbare biologische Entität ist, fraglich, ob die extrauterine Lebensfähigkeit tatsächlich ein solch qualitativer Sprung in der biologischen Entwicklung des nasciturus darstellt, der es rechtfertigt, die grundrechtliche Schutzwürdigkeit erst ab diesem Zeitpunkt beginnen zu lassen. Mutter und Kind haben 375 376 377 378 379
410 US 113 (160). Walther, EuGRZ 1992, S. 46 f. 492 US 490 (1989); 505 US 833 (1992). Vgl. dazu: Brugger, JZ 1992, S. 912; Walther, EuGRZ 1992, S. 45 ff. Schwarz, Menschenwürde, S. 65. So auch: Böckenförde-Wunderlich, Präimplantationsdiagnostik, S. 175; Giwer, Präimplantationsdiagnostik, S. 71; Zaar, Wann beginnt die Menschenwürde nach Art. 1 GG, S. 91.
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von Anfang an einen getrennten Blutkreislauf, gegebenenfalls unterschiedliche Blutgruppen und einen getrennten Stoffwechsel.380 Darüber hinaus kann es vorkommen, dass die Mutter stirbt, der nasciturus aber überlebt und umgekehrt, dass der nasciturus im Mutterleib verstirbt und die Mutter überlebt. Die Argumentation des U.S. Supreme Court, dass ab dieser Zäsur ein sinnvolles Leben außerhalb des Mutterleibs möglich sei, ist zudem problematisch. Ob ein Individuum ein sinnvolles oder sinnloses Leben führt, entzieht sich externer Bewertungsmöglichkeiten und kann nur von dem jeweiligen Individuum selbst entschieden werden.381 In entwicklungsbiologischer Hinsicht stellt die extrauterine Überlebensfähigkeit folglich keine ebenso einschneidende Zäsur dar wie die Befruchtung. ff) Menschenwürdeträgerschaft des nasciturus ab Geburt Der Geburt wird in der Entwicklung des nasciturus ebenfalls eine entscheidende Bedeutung zugemessen. Argumentiert wird, dass die Sauerstoff- und Nahrungsaufnahme sowie die Abgabe der Exkrete nicht mehr über den Körper der Mutter sondern unabhängig von ihm erfolge.382 Schon allein die Abnabelung demonstriere eine Selbständigkeit, die intrauterin nicht möglich gewesen sei. Darüber hinaus erfolge mit Geburt eine Aufnahme in die Gemeinschaft. Erst jetzt bestünde die Möglichkeit, soziale Beziehungen zu knüpfen.383 Es ist zweifelhaft, ob die Geburt eine einschneidende Zäsur in der biologischen Entwicklung des nasciturus darstellt. Der Fötus unmittelbar vor Geburt gleicht dem Neugeborenen. Schon vor seiner Geburt ist er unabhängig von seiner Mutter lebensfähig und weist dieselben individuellen Gesichtszüge auf. Die kognitiven und sensorischen Fähigkeiten des kurz vor seiner Entbindung stehenden nasciturus sind mit denen des Neugeborenen identisch. Auch für die Gehirn- und Herzentwicklung ist die Geburt eine völlig unbedeutende Zäsur.384 Kurz vor seiner Geburt ist ein Fötus im Vergleich zu einem Frühgeborenen weiter entwickelt, so dass die Geburt keine entscheidende Zäsur in der biologischen Entwicklung des nasciturus darstellt.385 Folglich kann es in der rechtlichen Bewertung keinen Unterschied machen, ob sich das Kind in oder außerhalb des Mutterleibs befindet. Eine gewisse Selbständigkeit ist von Beginn der Embryonalentwicklung an gegeben, da der nasciturus nie nur Teil des mütterlichen Organismus ist, sondern immer eine klar abgrenzbare Entität darstellt. Die Geburt bietet zwar den Vorteil, dass ihr Zeitpunkt zweifelsfrei feststellbar ist. Dieser Zeitpunkt ist aber variabel, steht dadurch ärztlichen Manipulationen offen und ist somit als Anknüpfungspunkt für die Statuszuschreibung nicht geeig-
380 381 382 383 384 385
So auch: Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 178, 174 f. Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 179. Nüsslein-Volhard, Werden des Lebens, S. 190. In diese Richtung Rüpke, ZRP 1974, S. 74; Frommel, ZRP 1990, 352. Singer, Praktische Ethik, S. 181 f. Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 173 f.
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
net.386 Soziale Kontakte bestehen im Übrigen schon im Mutterleib, indem das Kind durch Bewegungen auf die Mutter reagiert. Allein die Abnabelung des Kindes von seiner Mutter stellt in entwicklungsbiologischer Hinsicht folglich keine so einschneidende Zäsur dar, dass sie als Anknüpfungspunkt für den Beginn der Menschenwürde einleuchtend erscheint. gg) Zwischenergebnis Die Befruchtung ist die zentrale Weichenstellung in der menschlichen Ontogenese. Eine ebenso bedeutsame Zäsur in der weiteren Entwicklung findet sich nicht. d) Zwischenresümee Es wurde gezeigt, dass es bislang nicht gelungen ist, schlüssig zu begründen, warum der Zuspruch von Menschenwürde vom Vorliegen bestimmter für den Menschen typischer Eigenschaften abhängen soll. Auch der Zuspruch einer rein objektiv-rechtlichen Schutzpflicht zugunsten des ungeborenen Lebens konnte nicht überzeugen. Die Ausführungen zeigen, dass einzig die Befruchtung in entwicklungsbiologischer Hinsicht als Anknüpfungspunkt für den Beginn der Menschenwürde schlüssig ist. Damit ist jedoch noch nicht gesagt, dass der nasciturus ab diesem Zeitpunkt als Menschenwürdeträger anzusehen ist. Eine Ansicht, die allein auf ein biologisches Merkmal wie die Befruchtung abstellt, sieht sich dem Einwand eines biologistisch-naturalistischen Fehlschlusses ausgesetzt. Um einen biologistisch-naturalistischen Fehlschluss zu vermeiden, wird dieses Ergebnis im Rahmen der folgenden Stellungnahme mittels der klassischen Auslegungsmethoden überprüft. 3. Auslegung des Art. 1 Abs. 1 GG a) Grammatikalische Auslegung Ausgangspunkt jeder Norminterpretation ist zunächst eine Analyse des Normtextes. Dabei soll, soweit nicht spezifisch juristische Begriffe verwendet werden, durch Zugrundelegung eines durchschnittlichen Sprachverständnisses der Bedeutungsgehalt der Norm ermittelt werden.387 Das umgangssprachliche Verständnis und das allgemeine Sprachgefühl können aber auch nicht allein entscheidend sein. Ebenso wenig können die Naturwissenschaften die Bedeutung des Begriffs festlegen.388 Vielmehr wird die Begrifflichkeit normativ verwendet, so dass sich ihre Bedeutung vom allgemeinen Verständnis unterscheiden kann.389 Der ausgehend vom Wortlaut der Norm ermittelte mögliche Sinngehalt bildet die Grenze der Gesetzesauslegung.390
386 387 388 389 390
Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 174. Larenz, Methodenlehre, S. 320. Merkel, Forschungsobjekt Embryo, S. 26. Larenz, Methodenlehre, S. 320; Merkel, Forschungsobjekt Embryo, S. 27. Larenz, Methodenlehre, S. 322.
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Ausgehend vom Wortlaut des Art. 1 Abs. 1 GG, der die Würde des Menschen für unantastbar erklärt, ist zu prüfen, ob unter den Begriff „Mensch“ auch der nasciturus zu subsumieren ist. Im allgemeinen Sprachgebrauch besteht die Tendenz, den Begriff Mensch mit einem geborenen Menschen zu assoziieren.391 Man ist geneigt, einen Menschen spontan mit rational und selbstbewusst handelnden Personen gleichzusetzen und damit das Geborensein vorauszusetzen. Einer befruchteten Eizelle würde bei einer Meinungsumfrage wohl kaum dieselbe Würde zugesprochen werden wie einem Bundesverfassungsrichter.392 Durch die Verwendung von Begriffen wie Fötus, Leibesfrucht oder Embryo wird auch sprachlich eine Zäsur zwischen Geborensein und Ungeborensein markiert. Plakativ wird behauptet: Genauso wenig wie ein Ei ein Huhn und eine Raupe ein Schmetterling ist, ist der nasciturus ein Mensch.393 Dieser Vergleich zeigt aber lediglich, dass es für verschiedene Entwicklungsstadien unterschiedliche fachliche Begrifflichkeiten gibt. Dass der nasciturus aber kein Mensch im Rechtssinne sein kann, ist damit noch nicht gesagt.394 Im Übrigen ist die Umgangssprache auch nicht ganz konsequent. So nennt man den nasciturus auch einen ungeborenen Menschen und spricht beispielsweise davon, ein Kind auszutragen oder auch ein Kind abzutreiben. Den Begriff „Kind“ kann man aber synonym für einen geborenen jungen Menschen verwenden. Auch die Rechtssprache scheint auf den ersten Blick den Begriff Mensch für den geborenen Menschen zu verwenden. § 1 BGB regelt beispielsweise ausdrücklich, dass die Rechtsfähigkeit des Menschen mit der Vollendung seiner Geburt beginnt. Nach dem StGB können Mord und Totschlag gemäß §§ 211 Abs. 2, 212 Abs. 1 nur an geborenen Menschen bzw. nach Beginn der Eröffnungswehen begangen werden. Vor diesem Zeitpunkt sind die Regelungen über den Schwangerschaftsabbruch anzuwenden. Das StGB nennt den Fötus nicht Mensch, sondern vielmehr „Ungeborenes“ (vgl. § 219) und das Embryonenschutzgesetz spricht vom „Embryo“. In diesen Fällen auf der Ebene des einfachen Gesetzes ist ein Ungeborenes folglich klar als solches gekennzeichnet. Andererseits erweist sich auch die Rechtssprache nicht als konsequent und spricht in § 219 Abs. 1 StGB von der Austragung eines Kindes. Die Bezeichnung als Kind findet sich ebenfalls in § 3 Abs. 1 MuSchG, § 1915o und § 1912 Abs. 2 BGB. Im Übrigen kann die Ebene des einfachen Gesetzesrechts nicht entscheidend für die Ebene des Verfassungsrechts sein. Zum einen geht das Verfassungsrecht dem einfachgesetzlichen Recht im Rang vor. Zum anderen wäre auch die Überprüfung einer Norm anhand des Verfassungsrechts durch das Bundesverfassungsgericht nicht möglich, wenn die Verfassung selbst erst durch einfaches Gesetz ausgelegt werden müsste. Das Verfassungsrecht als Fundament der gesamten Rechtsordnung kann daher dem Begriff „Mensch“ eine weitere Bedeutung zuer-
391 392 393 394
Wille, Die Rechtsstellung des Nasciturus, S. 87; Dederer, AöR 2002, S. 10. Hilgendorf, NJW 1996, S. 761; in diese Richtung auch: Zippelius, in: Bonner Kommentar, Art. 1 Abs. 1 u. 2, Rn. 51. Lübbe, KritV 1993, S. 315. Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 228.
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kennen, insbesondere könnte es die Grundrechtsfähigkeit vorverlagern und an einen anderen Entstehungstatbestand als die Geburt anknüpfen.395 Der Begriff des „geborenen Menschen“ findet sich in der Verfassung nicht. Daraus folgt, dass der Wortlaut durchaus einer Interpretation zugänglich ist, die auch den nasciturus als Zugehörigen der Spezies Homo sapiens sapiens als Mensch qualifiziert.396 Ohne Verstoß gegen sprachliche Konventionen wird daher der nasciturus vom möglichen Wortsinn des Art. 1 Abs. 1 GG erfasst.397 Ob der personale Schutzbereich des Art.1 Abs. 1 GG aber nun tatsächlich für das Ungeborene eröffnet ist, ist durch die weitergehenden Auslegungsmethoden zu überprüfen. b) Historische Auslegung Sind nach dem Wortlaut mehrere Deutungen möglich, so ist als nächstes zu fragen, welche Deutung der Regelungsabsicht des Gesetzgebers oder seiner eigenen Normvorstellung am besten entspricht.398 Das Protokoll des Parlamentarischen Rates gibt keine Auskunft darüber, ob Art. 1 Abs. 1 GG auch auf den nasciturus anwendbar sein soll. Im Gegensatz zu den detaillierten Debatten im Parlamentarischen Rat über die Frage, ob der nasciturus als Träger des Lebensgrundrechts ausdrücklich im Verfassungstext verankert werden soll, fand eine solche Diskussion zu Art. 1 Abs. 1 GG nicht statt.399 Die Formulierungsvorschläge von Carlo Schmid, der eine Schutzpflicht des Staates für „die Würde menschlichen Lebens“ verankern wollte und von Theodor Heuß, der „die Würde des menschlichen Wesens“ dem Schutz des Staates unterstellen wollte, legen die Einbeziehung des nasciturus zwar nahe, fanden aber keine Mehrheit.400 Die mangelnde Auseinandersetzung mit diesem Aspekt lässt sich wohl damit erklären, dass die Frage nach der Menschenwürde des Ungeborenen 1948 nicht dieselbe Brisanz hatte wie in der heutigen Zeit. Abgesehen von der Frage der Zulässigkeit der Abtreibung, die auch schon zur damaligen Zeit relevant war, hat die Menschenwürde durch die Fortschritte in der Medizin, die beispielsweise die Forschung an embryonalen Stammzellen, das reproduktive Klonen und die In-vitroFertilisation ermöglichen, eine neue Dimension erlangt.401 Für die Einbeziehung des nasciturus in die Menschenwürdegarantie spricht auf den ersten Blick § 10 Abs. 1 S. 1 des Preußischen Allgemeinen Landrechts, in 395 396 397 398 399
400 401
Merkel, Forschungsobjekt Embryo, S. 27; Zaar, Wann beginnt die Menschenwürde, S. 115; Ipsen, JZ 2001, S. 991. Wille, Die Rechtsstellung des Nasciturus, S. 88. So auch Hillgruber/Goos, ZfL 2008, S. 43. Larenz, Methodenlehre, S. 328. Beckmann will allerdings aus den Diskussionen über den Einbezug des Nasciturus in den Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG Rückschlüsse auf den Einbezug des Nasciturus in den Schutzbereich der Menschenwürde ziehen. Vgl. Beckmann, Der Staat 2008, S. 571. Zitiert nach: JöR n.f. Bd. 1 (1951), S. 49. Diese Mutmaßung stellt auch Zaar, Wann beginnt die Menschenwürde nach Art. 1 GG?, S. 110.
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dem es hieß: „Die allgemeinen Rechte der Menschheit gebühren auch den noch ungeborenen Kindern schon vor der Zeit ihrer Empfängniß.“402 Jerouschek entlarvt diesen Satz allerdings als Farce, indem er darauf verweist, dass der federführende Redaktor des strafrechtlichen ALR-Teils Ernst Ferdinand Klein das im Vergleich zur Kindstötung stark herabgesetzte Strafmaß der Abtreibung damit begründete, dass die abgetriebene Leibesfrucht möglicherweise nicht lebend zur Welt gekommen wäre. Den ungeborenen Kindern wurden daher doch nicht die gleichen Rechte der Menschheit zugebilligt wie den geborenen. Der Schutz ungeborener Kinder wurde vielmehr garantiert, um später existente Steuerzahler und Armeediener zu sichern.403 Im Ergebnis führt auch diese Auslegungsmethode zu keinem eindeutigen Ergebnis. c) Systematische Auslegung Ob der nasciturus ab Befruchtung in den Gewährleistungsbereich der Menschenwürde einzubeziehen ist, soll nun mithilfe der systematischen Auslegung überprüft werden. Bei der systematischen Auslegung wird die Einordnung der Norm in den formalen und sachlichen Zusammenhang der Normen genauer betrachtet, um daraus Rückschlüsse auf ihren Normgehalt zu gewinnen.404 Art. 1 Abs. 1 GG, dessen Grundrechtsqualität bereits oben bejaht wurde, steht im Zusammenhang mit weiteren Grundrechten. Meistens setzen die Grundrechte den Status des Geborenseins voraus. Das gilt vor allem für die so genannten Kommunikationsgrundrechte der Art. 5, 8, 9 GG, sowie für die Grundrechte der Glaubens- und Gewissensfreiheit des Art. 4 GG, der Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG, der Bewegungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG und der in Art. 12 GG gewährleisteten Berufsfreiheit. Diese beispielhaft angeführten Grundrechtsverbürgungen sind auf geborene Menschen zugeschnitten und sprechen zunächst gegen eine Extension der Menschenwürdegarantie auf den nasciturus.405 Im Gegensatz zu diesen Grundrechten ist aber der sachliche Schutzbereich des Art. 1 Abs. 1 GG auf den nasciturus anwendbar, da dadurch ein Status gesichert wird.406 Auch andere Grundrechte sind in ihrem materialen Gewährleistungsgehalt sinnvoll auf das ungeborene Leben anwendbar, wie beispielsweise der Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 2 GG und das Diskriminierungsverbot gemäß Art. 3 Abs. 3 GG. Ein Schwerstbehinderter kann unter Umständen ebenfalls weder seine Meinung kundtun, noch an Versammlungen teilnehmen oder sich auf seine Berufsfreiheit berufen, trotzdem spricht man ihm Würde zu. Allein aus der Tatsache, dass der Großteil der Grundrechte auf geborene Menschen zugeschnitten ist, kann nicht gefolgert werden, dass Art. 1 GG ebenfalls nur auf geborene Menschen angewandt werden kann, denn die Schutzbe402 403 404 405 406
Stern, Staatsrecht III/1, S. 1047. Jerouschek, JZ 1989, S. 283; Wille, Die Rechtsstellung des Nasciturus, S. 94. Larenz, Methodenlehre, S. 324 ff. Merkel, Forschungsobjekt Embryo, S. 28; Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 229. Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 339.
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
reiche der einzelnen Grundrechte unterscheiden sich thematisch stark voneinander.407 Zu bedenken ist außerdem, dass Art. 1 Abs. 1 GG der Ewigkeitsgarantie nach Art. 79 Abs. 3 GG unterliegt. Der Sinn von Art. 79 Abs. 3 GG, Änderungen bei besonders wichtigen Regelungen zu verhindern, würde nicht erreicht, wenn eine zu enge Auslegung die Anwendbarkeit des Art. 79 Abs. 3 GG verhinderte. 408 Teilweise wird, wie oben bereits erwähnt, aus § 1 BGB geschlossen, dass die Würde des Art. 1 Abs. 1 GG nur geborenen Menschen zukomme. Wie oben bereits erläutert, kann aber das einfachgesetzliche Recht nicht für die verfassungsrechtliche Auslegung maßgebend sein.409 Ein Schluss von § 1 BGB auf Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG scheidet darüber hinaus auch deshalb aus, weil die jeweiligen Rechtsbereiche unterschiedliche Ziele verfolgen. § 1 BGB muss eine präzise Regelung über den Zeitpunkt der Rechtsfähigkeit treffen, da mit diesem Zeitpunkt privatrechtliche Ansprüche und Pflichten beginnen. Rechtsklarheit wird dadurch erreicht, dass auf den am leichtesten erkennbaren Zustand des Geborenseins abgestellt wird. Ziel der Grundrechte ist demgegenüber der Schutz des Menschen im Allgemeinen.410 Im Übrigen ist der nasciturus auch im Zivilrecht nicht rechtlos gestellt, wie beispielsweise § 1923 Abs. 2 BGB, der den nasciturus als Erben in Betracht zieht, und § 823 BGB, der den nasciturus als „anderen“ betrachtet, zeigen. Auch die systematische Auslegung führt zu keinem eindeutigen Ergebnis. Eine Extension der Menschenwürde auf das pränatale Leben erscheint aber weiterhin möglich. d) Teleologische Auslegung Als letzte Auslegungsmethode bleibt schließlich die teleologische Interpretation, bei der Sinn und Zweck der Norm ermittelt werden.411 Gegen diese Auslegungsmethode werden Bedenken erhoben. Laut Merkel bietet diese Interpretationsweise die Möglichkeit, ergebnisorientiert zu argumentieren und den eigenen Telos in die Norm hineinzulesen. Hält man den Embryo für besonders schutzbedürftig, wird man sagen, er sei auch von Art. 1 Abs. 1 GG erfasst. Ist man anderer Auffassung, wird man ihn aus Art. 1 Abs. 1 GG herauslesen. Da für die Auslegung bereits etwas vorausgesetzt werde, was erst bewiesen werden solle, handle es sich um eine „maskierte petitio principii“.412 Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass sich der Zweck zum einen aus den Begründungen der Gesetzesvorlagen, Protokollen der Gesetzesberatungen und Ausschussberichten ergibt. Zum anderen steht diese Interpretationsmethode in engem Zusammenhang mit der systematischen und grammatischen Auslegung. Sie allein 407 408 409 410 411 412
So auch: Zaar, Wann beginnt die Menschenwürde, S. 117; Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 229 f.. Zaar, Wann beginnt die Menschenwürde, S. 117 f. Tornow, Art. 1 Abs. 1 GG als Grundrecht, S. 80. Wille, Die Rechtsstellung des Nasciturus, S. 89. Larenz, Methodenlehre, S. 333. Merkel, Forschungsobjekt Embryo, S. 28.
B. Die Menschenwürde
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kann ein Auslegungsergebnis nicht stützen.413 Durch die Anbindung an normgenetische, systematische und grammatikalische Gesichtspunkte wird eine Beliebigkeit bei der Interpretation verhindert. Art. 1 Abs. 1 GG wurde als Reaktion auf die nationalsozialistischen Gräueltaten als Leitprinzip an die Spitze der Verfassung gestellt. Dadurch wurde der damaligen Staatsideologie eine radikale Absage erteilt, die die Wertigkeit des menschlichen Lebens an der Rassenzugehörigkeit, Religionszugehörigkeit, körperlichen und geistigen Verfasstheit maß, lebenswertes und lebensunwertes Leben unterschied und letzteres vernichtete.414 Vor dem Hintergrund der Menschenversuche, der Tötung von Geisteskranken und der Vernichtung angeblich geistig und moralisch minderwertiger Menschen zur Zeit des Nationalsozialismus ist offensichtlich, dass Würde niemals auf denjenigen beschränkt werden kann, der sie selbst herzustellen vermag.415 Als Leitmotiv an der Spitze der Verfassung verdeutlicht die Menschenwürdegarantie vielmehr, dass ausnahmslos jedem Menschen ein von der staatlichen Ordnung zu respektierender Wert- und Achtungsanspruch zukommt.416 Sinn und Zweck der Menschenwürdegarantie ist es zu verhindern, dass Menschen sich anmaßen, nach eigenmächtig festgesetzten Kriterien einzelne Menschen als minderwertig zu qualifizieren. Art. 1 Abs. 1 GG enthält damit ein streng formales Differenzierungsverbot. Die Gleichwertigkeit aller Menschen lässt sich nur dann erreichen, wenn der Zuspruch der Würdegarantie allein von der Zugehörigkeit zur Spezies Mensch abhängig gemacht wird. Unabhängig von bestimmten Eigenschaften, Merkmalen oder aktuellen Fähigkeiten kommt Würde damit jedem zu, der zur Spezies Mensch gehört.417 Die Menschenwürdegarantie erfordert für den Zuspruch der Menschenwürde daher gerade nicht mehr die Erfüllung von Voraussetzungen, die über das bloße Menschsein bzw. über die bloße biologische Existenz hinausgehen, wie IchBewusstsein, Überlebensinteresse, Vernunft, Selbstbestimmung oder Kommunikationsfähigkeit. Eine Differenzierung zwischen Person- und Menschsein ist mit dem Telos des Art. 1 Abs. 1 GG nicht vereinbar. Konsequenterweise wird im deutschen juristischen Schrifttum und der Rechtsprechung daher auch solchen geborenen Menschen Würde zugebilligt, die zu vernünftigem Handeln nicht fähig sind und über Selbstbestimmung und IchBewusstsein nicht verfügen, wie beispielsweise dem irreversibel Komatösen, dem Neugeborenen, dem anencephalen Kind und auch so genannten Missgeburten, die vom äußeren Erscheinungsbild her einem Menschen kaum ähneln, sowie dem geistig Schwerstbehinderten.418 413 414
415 416 417 418
Stern, Staatsrecht III/2, S. 1663. Böckenförde-Wunderlich, Präimplantationsdiagonstik, S. 166; Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 340, 242; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Kommentar, Art. 1 Abs. 1 Rn. 10; Zaar, Wann beginnt die Menschenwürde, S. 112. Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Kommentar, Art. 1 Abs. 1 Rn. 24. Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 340. v. Dewitz, ZfL 2009, S. 74; Böckenförde, JZ 2003, S. 811. Starck in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Kommentar, Art. 1 Abs. 1 Rn. 22.
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Soll die Menschenwürde aber jedem Menschen aufgrund seiner Spezieszugehörigkeit zustehen, so muss sie ihm von Anfang an zustehen und damit aufgrund naturwissenschaftlicher Erkenntnisse ab Befruchtung. Bereits zu diesem Zeitpunkt existiert ein individuelles menschliches Leben, das das Potential besitzt, sich kontinuierlich zum geborenen Menschen zu entwickeln. Die oben bereits erörterten weiteren Zäsuren waren als Anknüpfungspunkte für den Beginn der Menschenwürde nicht überzeugend. Eine Differenzierung nach gewissen Entwicklungsstadien ist mit dem Telos des Art. 1 Abs. 1 GG nicht vereinbar.419 Schließlich maßt sich derjenige, der das Menschsein an bestimmte Eigenschaften, wie Ich-Bewusstsein, Vernunft, Selbstbestimmung und Überlebensinteresse oder Entwicklungsstadien, wie die Nidation, Individuation, Überlebensfähigkeit oder Geburt knüpft, an, menschliches Dasein zu bewerten, was durch Art. 1 Abs. 1 GG gerade verhindert werden sollte. Wie Starck es zutreffend formuliert, ist die Anknüpfung an den Zeitpunkt der Fertilisation nicht ein biologistischnaturalistischer Fehlschluss, „sondern beruht auf einer Bescheidung des Menschen, dessen Amt es nicht ist, per definitionem Würde zu versagen“.420 e) Ergebnis Die vorstehende Untersuchung hat gezeigt, dass der nasciturus ab Befruchtung als Träger der Menschenwürde anzusehen ist. Dieses Ergebnis ist nicht nur in entwicklungsbiologischer Hinsicht einleuchtend, sondern entspricht auch Sinn und Zweck des Art. 1 Abs. 1 GG.
VI. Rechtswirkungen der Menschenwürde 1. Unantastbarkeit der Menschenwürde Art. 1 Abs. 1 GG erklärt die Würde des Menschen für unantastbar. Anders als bei Eingriffen in Freiheitsgrundrechte, die unter einem ausdrücklichen Gesetzesvorbehalt stehen oder durch verfassungsimmanente Schranken begrenzt werden können und damit einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung zugänglich sind, stellt jeder Eingriff in die Menschenwürde auch eine Verletzung derselben dar.421 Die Menschenwürde kann mit keinem Einzelgrundrecht oder sonstigem Verfassungswert abgewogen werden.422 Teilweise wird versucht, die Unantastbarkeit einzuschränken. Herdegen vertrat beispielsweise in seiner Kommentierung von Art. 1 Abs. 1 GG im Jahr 2003, dass die Menschenwürde in einen Kern- und einen Randbereich unterteilt werden könne. Nur im Kernbereich sei eine Abwägung mit anderen Grundrechten ausge-
419 420 421 422
Böckenförde, JZ 2003, S. 811. Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Kommentar, Art. 1 Abs. 1 Rn. 18. Dreier, in: Dreier, GG-Kommentar, Art. 1 I Rn. 44; Hufen, JuS 2010, S. 9; Poscher, JZ 2004, S. 760. BVerfGE 93, 266 (293); BVerfG, JZ 2003, 622 (623); Hufen, JuS 2010, S. 9; Poscher, JZ 2004, S. 760.
B. Die Menschenwürde
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schlossen.423 Relativierend führt er neuerdings aus, dass sich der Achtungsanspruch überhaupt erst aus einer bilanzierenden Gesamtwürdigung ergebe.424 Ansonsten sei der Schutz der Menschenwürde auf ein zu schmales Feld von kategorial umrissenen Misshandlungen beschränkt oder das strikte Verbot jedes würderelevanten Eingriffs ersticke die Handlungsfähigkeit staatlicher Organe.425 Zu Recht wurde diese Auffassung als unzutreffende Einschränkung des absoluten Schutzes der Menschenwürde durch die Verfassung kritisiert.426 Die Unantastbarkeitsklausel schließt außerdem auch die Übertragung von Schranken anderer Grundrechte auf die Menschenwürde aus. Der Ansicht von Kloepfer, der das durch Gesetz einschränkbare Rechtsgut Leben als höchstes Verfassungsgut qualifiziert und die extrem enge Auslegung der Menschenwürde bei deren Uneinschränkbarkeit vermeiden und die Schranken des Lebensrechts auf die Menschenwürde übertragen will, kann daher nicht gefolgt werden.427 Nicht von vornherein abgelehnt werden kann eine Abwägungsmöglichkeit lediglich dann, wenn unter Berufung auf die Würde eines anderen die Würde eines Rechtsträgers angetastet werden soll.428 2. Stufung des pränatalen Würdeschutzes Es gibt auch Versuche, das Unantastbarkeitpostulat der Würde in der pränatalen Phase zu relativieren und das „Alles oder Nichts Prinzip“429 der verfassungsrechtlichen Statusdebatte zu vermeiden. Vertreten wird ein an der Entwicklung des nasciturus orientiertes gestuftes Würdekonzept.430 Ein gestuftes Schutzkonzept nehmen, wie bereits gezeigt, die Vertreter eines objektiv-rechtlichen Begründungsansatzes an.431 Auch Merkel und Hoerster, die einen schlichten Lebensschutz des nasciturus aus dem Prinzip der Gattungssolidarität ableiten, vertreten ein gestuftes Schutzkonzept.432 Diese Auffassungen wurden bereits näher beleuchtet und für nicht schlüssig befunden. Herdegen billigt im Gegensatz zu den vorgenannten Konzepten dem nasciturus ab dem Zeitpunkt der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle einen subjektiv
423 424 425 426 427 428 429 430 431 432
Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Art. 1 Abs. 1 Rn. 20, 22, 26 (Stand 2003). Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Art. 1 Abs. 1 Rn. 47 (Stand 2009) und Rn. 45 (Stand 2006). Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Art. 1 Abs. 1 Rn. 47. v. Dewitz, ZfL 2009, S. 75. Kloepfer, FS 50 Jahre BVerfG, S. 77 ff. Für eine Abwägung in dieser Situation: Di Fabio, JZ 2004, S. 5 f.; Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Art. 1 Abs. 1 Rn. 73. Herdegen, JZ 2001, S. 775. Herdegen, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz Kommentar, Art. 1 Abs. 1 Rn. 69-71; ders., JZ 2001, S. 774 f.; Schlink, Aktuelle Fragen des pränatalen Lebensschutzes, S. 15. Vgl. 2. Kapitel B V 2 b). Vgl. 2. Kapitel B V 2 a) aa), bb).
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
grundrechtlichen Würdestatus zu,433 vertritt aber zugleich ein an der Entwicklung des nasciturus orientiertes gestuftes Würdekonzept.434 Ein gestufter pränataler Menschenwürdeschutz sei nicht durch die besondere Einschränkbarkeit oder Abwägungsoffenheit mit anderen Verfassungsgütern gekennzeichnet, sondern ziele schlicht auf einen Achtungs- und Schutzanspruch, welcher der jeweiligen Entwicklungsstufe des pränatalen Lebens angemessen sei.435 Der große Vorteil eines gestuften Würdeschutzes von Anfang an liege darin, dass die schwierige Setzung ontogenetischer Zäsuren erspart bleibe.436 Herdegen verweist darauf, dass eine gleich bleibende Intensität des Würdeschutzes während der pränatalen Phase der europäischen Geistesgeschichte der letzten Jahrhunderte völlig fremd sei.437 Das Recht habe schon immer nach dem Entwicklungsstand des Opfers differenziert. Deutlich werde dies auch an den geltenden Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch: § 218a Abs. 1 StGB erklärt einen Schwangerschaftsabbruch innerhalb der ersten 12 Wochen p.c. für tatbestandslos,438 wenn er auf Verlangen der Schwangeren von einem Arzt durchgeführt wird und die Schwangere sich mindestens drei Tage vor dem Eingriff hat beraten lassen. § 218a Abs. 3 StGB rechtfertigt einen Abbruch bei Vorliegen einer kriminologischen Indikation ebenfalls innerhalb der ersten 12 Wochen p.c..439
433 434 435
436 437 438
439
Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Art. 1 Abs. 1 Rn. 65. Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Art. 1 Abs. 1 Rn. 69; ders., JZ 2001, S. 774; ders., GS Heinze, S. 363. Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Art. 1 Abs. 1 Rn. 71; ders., JZ 2001, S. 774; so auch Lorenz, ZfL 2001, S. 45, der die Menschenwürde zwar für absolut geltend und unabwägbar hält, den Gehalt der Menschenwürde aber situationsbedingt bestimmen will. Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Art. 1 Abs. 1 Rn. 65. Herdegen, GS Heinze, S. 363. Der Schwangerschaftsabbruch bleibt aber rechtswidrig. Das ergibt sich aus der Gesetzgebungsgeschichte der Norm. Das Bundesverfassungsgericht erklärte in seinem zweiten Urteil zum Schwangerschaftsabbruch die Fristenregelung des Schwangeren- und Familienhilfegesetzes als mit Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG unvereinbar, weil der beratene Schwangerschaftsabbruch als „nicht rechtswidrig“ qualifiziert wurde, ohne dass ein überwiegendes kollidierendes Interesse der Schwangeren für erforderlich gehalten wurde. Vgl. BVerfGE 88, 203 (204 f. Ls. 15) Als Reaktion des Gesetzgebers auf dieses Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist § 218a I StGB daher als Tatbestandsausschluss zu verstehen, wobei die Rechtswidrigkeit weiter besteht. Grund für die 12-Wochen-Frist ist nicht etwa eine besondere Entwicklungszäsur des nasciturus. In der Praxis ist sie vielmehr deshalb tauglich, weil zu diesem Zeitpunkt eine Schwangerschaft subjektiv und objektiv feststellbar ist und relativ schonende Abbruchmethoden wie in der Regel die Ausschabung angewendet werden können. Vgl. Riha, in: Schumann, Verantwortungsbewusste Konfliktlösungen, S. 50. Rein zahlenmäßig kommt diesen Fällen allerdings nur eine untergeordnete Bedeutung zu. Im Jahr 2008 wurden 21 Schwangerschaftsabbrüche auf der Grundlage der kriminologischen Indikation vorgenommen. Vgl. dazu: Statistisches Bundesamt, Schwangerschaftsabbrüche 2008.
B. Die Menschenwürde
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§ 218a Abs. 4 S. 1 StGB enthält einen persönlichen Strafausschließungsgrund zugunsten der Schwangeren. Nach Beratung bleibt sie straffrei, wenn sie innerhalb der ersten 22 Wochen den Schwangerschaftsabbruch von einem Arzt durchführen lässt. In zeitlicher Hinsicht unbefristet erlaubt lediglich § 218a Abs. 2 StGB einen Schwangerschaftsabbruch bei Vorliegen einer medizinisch-sozialen Indikation. Auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die die Abtreibung im bestehenden Maße ermögliche, lasse sich im Übrigen nur bei Annahme eines in modo entwicklungsabhängigen Würdeschutzes konsistent darstellen.440 Ein gestufter Würdeschutz sei auch durch den aktuellen Diskurs über die Würdeschranken der modernen Biotechnologie indiziert, da in diesem Diskurs Behandlungsformen und Zweckbestimmungen im Mittelpunkt stünden, die beim geborenen Menschen als Würdeverletzung angesehen würden. Ein gestufter Würdeschutz erspare letztlich die ständige Errichtung und spätere Aufgabe von Tabus.441 Auf Rechtsfolgenebene, bei der es um das „Wie“ des Schutzes geht, könne daher zwischen den jeweiligen Erscheinungsformen des ungeborenen Lebens differenziert werden. Der Schutz der Menschenwürde vor Implantation einer befruchteten Eizelle in den mütterlichen Uterus reiche weniger weit als beim Embryo nach Nidation oder beim geborenen Menschen.442 Einer aus der in-vitro-Fertilisation hervorgegangenen Blastozyste komme ein stärkerer Schutz zu, als einer daraus entnommenen Zelle, die zwar totipotent, aber nicht zur eigenständigen Ausreifung bestimmt sei.443 Herdegen stellt für die Frühphase darüber hinaus fest, dass die Verpflichtung zur Achtung der Würde auf das Subjekt zwischenmenschlicher Beziehungen gerichtet sei und in einem Stadium, in dem solche Beziehungen konkret schwer erlebbar seien, bei der Annahme von Würdeverletzungen Zurückhaltung geübt werden müsse.444 Im Ergebnis müsste nach Herdegens Konzept der Schutz des extrauterin lebensfähigen nasciturus intensiver gestaltet sein als der Schutz des zwölf Wochen alten nasciturus. Herdegens gestuftes Würdekonzept kann allerdings nicht überzeugen. Zunächst bestehen rein praktische Schwierigkeiten. Die Setzung ontogenetischer Zäsuren bezüglich des „Ob“ des Würdeschutzes bleibt zwar erspart. Gleichwohl stellen sich damit zwei weitere ebenso problematische Fragen, nämlich welche Entwicklungsstufen es rechtfertigen, ein anderes Schutzniveau anzuwenden, und wie stark sich die Schutzintensität dann jeweils gestaltet. Es ist natürlich möglich, die pränatale Entwicklung mit Schlink in vier verschiedene zeitliche Entwicklungsabschnitte einzuteilen. Die erste Phase ist nach Schlink die Zeit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle bis zur Nidation, da das Verhältnis der Zweiheit in Einheit von Mutter und Kind noch fehlt, die zweite 440 441 442 443 444
Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Art. 1 Abs. 1 Rn. 70; ders., JZ 2001, S. 775; mit der geltenden Rechtslage argumentiert auch Schreiber, MedR 2003, S. 370. Herdegen, JZ 2001, S. 773. Herdegen, JZ 2001, S. 774. Herdegen, JZ 2001, S. 774. Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Art. 1 Abs. 1 Rn. 70.
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
Phase umfasst die ersten zwölf Wochen nach der Nidation, in der die Zweiheit in Einheit bereits besteht und der nasciturus dem mütterlichen Schutz gänzlich anvertraut und existentiell von ihr abhängig ist. Nach diesen zwölf Wochen kommt es zu spürbaren Kindsbewegungen oder das Kind wird per Ultraschall visuell wahrgenommen. Durch diese Wahrnehmung wird das Ungeborene in dieser dritten Phase zur Person. Die vierte Phase beginnt schließlich mit der Überlebensfähigkeit des nasciturus. Der nasciturus ist zwar noch ungeborenes Leben, aber zugleich auch gebärbares Leben.445 Die Nidation scheint für Herdegen ebenfalls eine einschneidende Stufe in der Entwicklung des nasciturus zu sein.446 Weitere Stufen benennt er aber nicht. Grundsätzlich problematisch an einem solchen Stufenmodell erscheint aber, dass die Zäsursetzung geradezu willkürlich ist. Man kann wie Schlink von diesen vier Stufen ausgehen, kann aber beispielsweise auch an verschiedene Phasen der Gehirnentwicklung anknüpfen. Die biologische Entwicklung des nasciturus erfolgt wie gezeigt kontinuierlich. Die Befruchtung stellt die entscheidende Zäsur in der menschlichen Entwicklung dar. Weder die Zeitpunkte der Nidation noch der extrauterinen Lebensfähigkeit, die von Schlink genannt werden, sind von solch entscheidender Bedeutung in der menschlichen Ontogenese, dass es überzeugend wäre, sie als Schutzstufen zu etablieren.447 Noch problematischer als die Setzung solcher Zäsuren ist die Beantwortung der Frage, welche konkrete Schutzintensität in der jeweiligen Phase besteht und welche Schutzmaßnahmen erforderlich sind. Als vorteilhaft gestaltet sich eine solche Konzeption daher gerade nicht. Sofern zur Begründung eines gestuften Würdeschutzkonzepts auf die europäische Geistesgeschichte Bezug genommen wird, entpuppt sich dies als äußerst schwaches Argument. Die geistesgeschichtliche Entwicklung knüpfte zunächst an völlig falsche naturwissenschaftliche Annahmen an, wie beispielsweise an das biogenetische Grundgesetz von Ernst Haeckel, zum anderen war sie auch von einem Wechsel von Sukzessiv- und Simultanbeseelungslehre geprägt, so dass ihre Aussagekraft äußerst fraglich erscheint. Auch die unterstützende Bezugnahme auf die strafrechtlichen Regelungen des Schwangerschaftsabbruchs ist verfehlt. Die Ausgestaltung des einfachen Gesetzesrechts wird hier abermals als Begründung für die verfassungsrechtliche Auslegung des Art. 1 Abs. 1 GG herangezogen. Wie oben bereits erörtert, stellt der Schluss von einer einfachgesetzlichen Regelung auf die Verfassungsinterpretation die Normenhierarchie auf den Kopf. Die Verfassung sagt zwar nicht ausdrücklich etwas über den Würdeschutz des nasciturus aus. In diesem Fall muss aber anhand der verschiedenen Auslegungsmethoden versucht werden, eine Lösung zu finden. Darüber hinaus ist der einfachgesetzliche Lebens- und Würdeschutz auch nicht konsequent orientiert an der Entwicklung des nasciturus gestuft. Hinsichtlich der 445 446 447
Schlink, Fragen des pränatalen Lebensschutzes, S. 14. Eine Differenzierung des Schutzes vor und nach Nidation befürwortet auch Taupitz, NJW 2001, S. 3438. Vgl. dazu 2. Kapitel B V 2 c) cc), ee).
B. Die Menschenwürde
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Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch, die mit Fortschreiten der Schwangerschaft höhere Anforderungen an einen Schwangerschaftsabbruch vorsehen, mag eine konsequente Stufung vorliegen. Die Regelungen des Embryonenschutzgesetzes widersprechen jedoch einem gestuften Schutz in der Rechtsordnung, da sie bereits in einer frühen Phase der menschlichen Entwicklung einen starken Schutz gewähren.448 Es gibt noch einen weiteren Grund, aus dem es problematisch ist, die verfassungsrechtlichen Stufungen auf das Abtreibungsstrafrecht zu stützen. Der Schwangerschaftsabbruch ist ein hochkomplexes und heikles Thema, das die Menschheit schon seit Jahrtausenden beschäftigt. Der Versuch, die Interessen der Schwangeren und des nasciturus ausreichend zu gewährleisten, ist immer eine Kompromisslösung unter Berücksichtigung der Probleme einer Schwangerschaft, die nie alle zu befriedigen vermag. Auch die momentan geltende Fassung der §§ 218 ff. StGB ist eine solche Kompromisslösung, so dass ein Verweis auf die Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch nicht überzeugend zu dem Schluss eines gestuften Menschenwürdeschutzes führen kann.449 Es ist unbestritten, dass Abtreibungen schon immer milder geahndet wurden als die Tötung geborener Menschen. Allerdings kann man daraus nicht zugleich auf einen geringeren Schutzanspruch des nasciturus schließen. Für die Bemessung des Strafrahmens ist nicht nur entscheidend, dass es um eine Tötung geht. Vielmehr werden andere Aspekte miteinbezogen, wie die Abschreckungsfunktion einer Strafandrohung, der soziale Unwertgehalt der Tat und das Tatmotiv sowie die Schuld. Nicht nur die Abtreibung wird geringer bestraft als der Totschlag gemäß § 212 StGB, sondern auch die fahrlässige Tötung nach § 222 StGB weist demgegenüber ein geringeres Strafmaß auf. Dies zeigt, dass aus einer geringeren Bestrafung nicht zugleich auf einen geringeren Schutz des Rechtsguts geschlossen werden kann. Ein solches Würdekonzept ist auch nicht vom Wortlaut des Art. 1 Abs. 1 GG gedeckt. Aus dem Wortlaut der Verfassung kann man zwar zunächst in der Tat nicht eindeutig die Frage beantworten, ob der nasciturus in den Schutzbereich des Art.1 Abs. 1 GG mit einzubeziehen ist. Daraus kann man aber nicht schließen, dass dem nasciturus Würde nur in einer abgeschwächten Form zukommt, die im Laufe seiner Entwicklung ansteigt. In der Verfassung findet sich nirgends ein Anhaltspunkt für einen gestuften Würdeschutz. Art. 1 Abs. 1 GG lautet vielmehr „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ und gewährt damit jedem, der ein menschliches Wesen ist, eine gleich bleibende Würde.450 Die Unantastbarkeitsformel würde zur Leerformel, wenn nur ein gestufter Schutz für erforderlich gehalten wird.451 Durch eine solche Stufung wird die einzige nicht abwägungsoffene
448 449 450
451
Vgl. Schumann, in: Schumann, Verantwortungsbewusste Konfliktlösungen , S. 9 f. So im Ergebnis auch: Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 288. Die Gegenargumente, die Hoerster gegen einen gestuften Lebensschutz anführt, eignen sich auch als Gegenargumente für ein Konzept des gestuften Menschenwürdeschutzes. Vgl. Hoerster, JuS 2003, S. 530; Hoerster, NJW 1997, S. 774. Hörnle, ARSP 2003, S. 320.
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
Schutzposition des Individuums im Grundgesetz aufgegeben und der Sinn der Menschenwürdegarantie neben den sonstigen Grundrechten in Frage gestellt.452 Ist man bei der Subsumtion im Zweifel, ob der nasciturus Menschenwürdeträger ist oder nicht, so kann man diesen Zweifelsfall nicht dadurch lösen, dass man die Subsumtion bejaht, zugleich aber gewissermaßen als Ausgleich die Rechtsfolgen abschwächt. Diese Vorgehensweise ist im Rahmen der juristischen Auslegung unüblich.453 Hoerster veranschaulicht dies durch folgendes Beispiel. Wäre man sich unsicher, ob an bestimmten Fachhochschulen Wissenschaft betrieben wird oder nicht, so käme man nicht auf die Idee, Art. 5 Abs. 3 GG zu bejahen, den Hochschullehrern aber zugleich nur eine eingeschränkte Wissenschaftsfreiheit zuzusprechen.454 Ein gestufter Würdeschutz bedeutet nicht nur einen gesteigerten Schutz gegen Ende der Schwangerschaft, sondern auch einen sehr schwachen Schutz in der Frühphase. Herdegen stellt für die Frühphase fest, dass die Verpflichtung zur Achtung der Würde auf das Subjekt zwischenmenschlicher Beziehungen gerichtet sei, und in einem Stadium, in dem solche Beziehungen konkret schwer erlebbar seien, müsse bei der Annahme von Würdeverletzungen Zurückhaltung geübt werden.455 Bei der Frage, ob der nasciturus Träger der Menschenwürde ist, wurde bereits erläutert, dass es auf Kriterien wie die Erlebbarkeit nicht ankommt, sondern dass ab Befruchtung dem nasciturus Menschenwürde kraft seines Menschseins zuzusprechen ist. Wird also die Erheblichkeit solcher Kriterien bei der Bestimmung des personellen Schutzbereichs verneint, so können sie nicht bezüglich des „wie“ des Schutzes entscheidend sein.456 Spricht man folglich jedem Mitglied der Spezies Mensch unabhängig von seiner biologischen Entwicklung nur aufgrund seines Menschseins Menschenwürde zu, so kann man konsequenterweise eine prozesshafte Stufung des Würdeschutzes nicht vertreten. Unterschiedliche Stufen des Menschseins gibt es dann nicht.457 Eine solche Stufung würde zu einer Differenzierung zwischen Grundrechten erster Klasse bezüglich geborener Menschen und Grundrechten zweiter Klasse für den nasciturus führen, die es nicht gibt. Der Schutz der Menschenwürde ist somit nicht orientiert an den Entwicklungen des nasciturus gestuft, sondern zu jedem Zeitpunkt gleich. 3. Ergebnis Bereits ab Befruchtung ist der nasciturus als Träger der Menschenwürde anzusehen und vom Staat vor Menschenwürdeverletzungen Privater zu schützen. Die Schutzintensität orientiert sich nicht an verschiedenen Entwicklungsstufen der menschlichen Ontogenese, sondern ist zu jedem Zeitpunkt gleich. Auch die extra-
452 453 454 455 456 457
Classen, DVBl 2002, S. 144. Hoerster, JuS 2003, S. 530. Hoerster, JuS 2003, S. 530. Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Art. 1 Abs. 1 Rn. 70. Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 352. Dederer, AöR 2002, S. 13.
C. Das Recht auf Leben
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uterine Lebensfähigkeit des Fötus führt nicht dazu, dass ihm im Vergleich zum Embryo ein erhöhter Schutz zu gewährleisten ist.
C. Das Recht auf Leben I. Der materiale Schutzbereich Das Recht auf Leben schützt in materialer Hinsicht das körperliche Dasein des Menschen im Sinne einer lebenden, biologisch-physischen Existenz.458 Durch jede Tötung wird dieses Recht irreversibel zerstört. Jeder Schwangerschaftsabbruch stellt eine Tötung des nasciturus dar. Ist der nasciturus Grundrechtsträger des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG, so wird durch einen Schwangerschaftsabbruch in dessen Recht auf Leben eingegriffen.
II. Der personale Schutzbereich Umstritten ist allerdings auch hinsichtlich des Lebensrechts, ob der nasciturus in den personalen Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG mit einzubeziehen ist. Die Argumentation verläuft weitgehend parallel zu dem Streitstand, ob der nasciturus als Träger der Menschenwürde anzusehen ist. 1. Lebensrecht ab Erlebensfähigkeit oder Überlebensinteresse Die Ansichten von Merkel und Hoerster, die für den Zuspruch von Menschenwürde und Lebensrecht das Vorliegen von Erlebensfähigkeit oder Überlebensinteresse fordern, wurden oben bereits eingehend erörtert und abgelehnt. Eine erneute Diskussion erübrigt sich daher an dieser Stelle.459 2. Objektiv-rechtliche Begründung Ein objektiv-rechtlicher Begründungsansatz wird nicht nur bezüglich der Menschenwürde, sondern auch bezüglich des Lebensrechts vertreten. Der Mensch wird erst ab Geburt als Grundrechtsträger des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG anerkannt. Ein subjektiv grundrechtlicher Status des nasciturus ergebe sich weder aus dem Wortlaut des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG460, aus Sinn und Zweck der Norm noch aus der Entstehungsgeschichte.461 Aufgrund der Potentialität der befruchteten Eizelle, sich zu einem geborenen Menschen zu entwickeln, und der im 458 459 460
461
Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 2 II Rn. 25; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Kommentar, Art. 2 Abs. 2 Rn. 192. Vgl. dazu 2. Kapitel B V 2 a) aa), bb). Frommel, ZRP 1990, S. 352; Geiger/von Lampe, Jura 1994, S. 22; Kloepfer, JZ 2002, S. 420, demzufolge zumindest unmittelbar nach Befruchtung nicht von einem Menschen gesprochen werden kann. Geiger/von Lampe, Jura 1994, S. 22.
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
Lebensgrundrecht verkörperten objektiven Wertentscheidung müsse der Schutz durch Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG allerdings objektiv-rechtlich vorwirken462 oder ausstrahlen463. Kloepfer spricht insofern von einem Grundrechtsschutz im Sinne eines Grundrechtsanwartschaftsrechts.464 Die Intensität des so gewährten Lebensschutzes steige mit dem Heranwachsen des werdenden menschlichen Lebens an.465 Wie das objektiv-rechtliche Begründungskonzept der Menschenwürde gegen die verfassungspositivierten Grenzen des Art. 1 Abs. 1 GG verstößt466, beinhaltet auch das objektiv-rechtliche Begründungskonzept des Lebensschutzes einen solchen Verstoß gegen Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG. Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG gewährleistet jedem ein Lebensrecht. Damit ist ein konkretes Subjekt im Verfassungstext fixiert, auf das sich das Lebensrecht bezieht. Der objektiv-rechtliche Gehalt des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG kann daher nicht losgelöst von einem konkreten Subjekt existieren.467 Wie bereits ausführlich dargestellt, hat der objektiv-rechtliche Gewährleistungsgehalt der Grundrechte außerdem den Zweck, die Geltungskraft derselben zu verstärken.468 Der Grundrechtsschutz setzt damit stets einen individuellen Träger voraus. Ein rein objektiv-rechtlicher Schutz losgelöst von einem konkreten Subjekt ist daher gerade nicht denkbar.469 Eine objektiv-rechtliche Begründung des Lebensrechts kann folglich nicht überzeugen. 3. Der nasciturus als Träger des Lebensrechts ab einer bestimmten entwicklungsbiologisch bedeutsamen Zäsur Die Frage nach dem Beginn des Lebensrechts wird kontrovers beurteilt. In Parallele zu der oben dargestellten Diskussion zum Beginn der Menschenwürde wird auch der Beginn des Lebensrechts an biologisch-physiologisch relevante Zäsuren, wie Befruchtung,470 Nidation,471 Individuation472, extrauterine Überlebensfähigkeit473 und Geburt474 geknüpft. 462 463 464
465 466 467 468 469 470
Dederer, AöR 2002, S. 18; Frommel, ZRP 1990, S. 352; Geiger/von Lampe, Jura 1994, S. 23 f.; Hartleb, DVBl 2006, S. 677 f.; Ipsen, DVBl 2004, S. 1386. Jerouschek, JZ 1989, S. 284 f. Kloepfer, JZ 2002, S. 420. Auch Coester-Waltjen, in: FamRZ 1984, S. 235, Dederer, in: AöR 2002, S. 17-20 und Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Art. 2 Abs. 2 Rn. 28 konstruieren einen rein objektiv-rechtlichen Schutz des ungeborenen Lebens, allerdings nur bis zum Zeitpunkt der Nidation, da es bis zu diesem Zeitpunkt aufgrund der Omnipotenz der Zelle an der erforderlichen Individualisierung fehle. Ab Nidation sprechen sie dem Nasciturus einen subjektiv grundrechtlichen Lebensschutz zu. Vor Nidation wird daher eine Abwägung des Lebensrechts des Nasciturus mit anderen Rechtsgütern, wie beispielsweise auch mit dem Recht eines Patienten auf Gesundheit, der sich durch das therapeutische Klonen Heilung erhofft, für möglich gehalten. Geiger/von Lampe, Jura 1994, S. 22; Ipsen, DVBl 2004, S. 1386. Vgl. dazu 2. Kapitel B V 2 b) cc). Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 153; ders., ZfL 2006, S. 36. BVerfGE 7, 198, (205); 50, 290 (337); Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 66 ff.; Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 155. Heun, JZ 2002, S. 519; Hoerster, ZfL 2006, S. 46. Beckmann, ZRP 2003, S. 99 f.; Böckenförde-Wunderlich, Präimplantationsdiagnostik, S. 178 f.; Classen, DVBl 2002, S. 143; Giwer, Präimplantationsdiagnostik, S. 77 f.;
C. Das Recht auf Leben
103
Von Sass wurde außerdem vorgeschlagen, den Beginn des Lebens am „Hirnleben“ zu orientieren. Ausgehend vom Hirntod als der maßgeblichen Bestimmung für das Lebensende, sei der Beginn des Hirnlebens das analoge Moment für den Beginn menschlichen Lebens.475 Auch die Setzung dieser Zäsur überzeugt nicht. Die Parallele von Hirntod und Hirnleben ist zum einen schon deshalb problematisch, weil mit dem Eintritt des Hirntods die Gehirntätigkeit irreversibel erlischt, die befruchtete Eizelle aber noch das Potential zur Gehirnentwicklung hat.476 In praktischer Hinsicht problematisch ist es außerdem, festzulegen, wann das Hirnleben beginnt. Man könnte beispielsweise daran anknüpfen, dass mit der dritten Schwangerschaftswoche p.c. die Entwicklung des Gehirns beginnt oder darauf abstellen, dass sich die freien Nervenendigungen ab der 14. Woche entwickeln. Darüber hinaus könnte man auch für relevant erachten, dass der Thalamus in der 20. Woche seine Funktion aufnimmt. Die Möglichkeiten sind vielfältig. Zum anderen ist es bislang ungeklärt, in welchem Verhältnis die Nervenzellen des Gehirns und Geist zueinander stehen.477 Wie oben bereits ausführlich erörtert, ist die Befruchtung die zentrale Weichenstellung der menschlichen Ontogenese. Von diesem Zeitpunkt an existiert ein sich selbst organisierendes System, das über das Potential verfügt, sich zu einem geborenen Menschen zu entwickeln. Diese Entwicklung verläuft ohne weitere ebenso einschneidende Zäsuren. Es liegt daher nahe, den nasciturus ab Befruchtung als Träger des Lebensrechts anzusehen. Um einen biologistisch-naturalistischen Fehlschluss zu vermeiden, muss aber auch hier mittels der vier klassischen Auslegungsmethoden untersucht werden, ob der nasciturus bereits ab Befruchtung Träger des Lebensrechts sein soll. 4. Auslegung des Art. 2 Abs. 2 GG a) Grammatikalische Auslegung Der nasciturus wird als Zuordnungssubjekt des Art. 2 Abs. 2 S. 1 1. Alt. GG nicht ausdrücklich erwähnt. Nach dieser Norm hat „jeder“ ein Recht auf Leben. „Jeder“
471
472 473 474 475 476
477
Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG Kommentar, Art. 2 Rn. 49; Schmidt-Jortzig, DÖV 2001, S. 926 f.; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 2 II Rn. 29, 39 f.; Schwarz, KritV 2001, S. 194 ff.; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Kommentar, Art. 2 Abs. 2 Rn. 192; Stern, Staatsrecht III/1, S. 1057. Anderheiden, KritV 2001, S. 378 f.; Dederer, AöR 2002, S. 17; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Art. 2 Abs. 2 Rn. 25; Murswiek, in: Sachs, GG Kommentar, Art. 2 Rn. 145 b; Rosenau, in: FS Schreiber, S. 772. Coester-Waltjen, FamRZ 1984, S. 235; Taupitz, NJW 2001, S. 3438; Schreiber, MedR 2003, S. 369. 410 US 113 (163 f.). Merkel, FS Müller-Dietz, S. 511; Hoerster, JuS 1989, S. 178; Hoerster, Abtreibung, S. 132 f. Sass, in: Flöhl, Genforschung, S. 38 ff.; zugeneigt auch Joerden, ZStW 2008, S. 16 f. So auch: Schlingensiepen=Brysch, ZRP 1992, S. 420; Schwarz, KritV 2001, S. 195; Silva Sánchez, ZStW 2008, S. 23; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Kommentar, Art. 1 Abs. 1 Rn. 18. Schlingensiepen=Brysch, ZRP 1992, S. 422.
104
2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
steht im Kontext des Grundgesetzes immer für „jeder Mensch“.478 Insofern ist die Frage, wer unter „jeder“ zu verstehen ist, identisch mit der Frage, wer „Mensch“ im Sinne des Art. 1 Abs. 1 GG ist. Vom Wortlaut des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG gedeckt ist zum einen ein Verständnis, das unter den Begriff „jeder“ lediglich jeden geborenen Menschen subsumiert.479 Hoerster vermutet insofern, dass weite Teile der Bevölkerung den Begriff „jeder“ auf diese Weise interpretieren würden.480 Andererseits ist es auch möglich, unter „jeder“ jedes menschliche Leben und damit auch die Leibesfrucht zu subsumieren.481 Der Wortlaut des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG führt daher zu keinem eindeutigen Ergebnis.482 b) Historische Auslegung Nach der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts legt die Entstehungsgeschichte des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG den Einbezug des nasciturus in den Schutzbereich des Lebensrechts nahe.483 Das Bundesverfassungsgericht nimmt in seinen Ausführungen Bezug auf die im Folgenden darzustellende Debatte im Parlamentarischen Rat, die sich mit der Frage befasste, ob auch das „keimende Leben“ vom Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG erfasst werde.484 Am 19. November 1948 stellte die DP-Fraktion einen schriftlichen Antrag, um zu erreichen, dass das BGG um die folgende Bestimmung ergänzt wurde:>Jeder Mensch hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Das keimende Leben wird geschützt…< Nachdem dieser Antrag zurückgestellt worden war, wiederholte die DP den Antrag nahezu wortgleich. In der 2. Lesung des Hauptausschusses über die Grundrechte erklärte der DPAbgeordnete Seebohm, dass das Recht auf Leben nicht zweifelsohne das keimende Leben erfasse. Daher müsse zur Klarstellung das „keimende Leben“ in den Wortlaut des Art. 2 GG aufgenommen oder zumindest ein Vermerk im Protokoll auf den Einbezug des nasciturus in den Schutzbereich des Lebensrechts gemacht werden. Nachdem die Abgeordneten Weber (CDU/CSU) und Heuß (FDP) dargestellt hatten, dass nach ihrem Begriffsverständnis Leben auch das ungeborene Leben umfasse und daher ein ausdrücklicher Einbezug des nasciturus in den Verfas-
478
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480 481
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483 484
Giwer, Präimplantationsdiagnostik, S. 63; Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 225; ders., ZfL 2006, S. 37; Murswiek, in: Sachs, GG Kommentar, Art. 2 Rn. 145a. Murswiek, in: Sachs, GG Kommentar, Art. 2 Rn. 145a vertritt diesbezüglich, dass ein solches Verständnis dem allgemeinen und juristischen Sprachgebrauch widersprechen würde. Hoerster, JR 1995, S. 51. Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Kommentar, Art. 2 Abs. 2 Rn. 203; Weiß, JR 1995, S. 53, die der Auffassung sind, dass unter „jeder“ schon dem Wortlaut nach eindeutig auch die Leibesfrucht zu subsumieren ist. So auch: Giwer, Präimplantationsdiagnostik, S. 63; Hillgruber/Goos, ZfL 2008, S. 43; Hoerster, JR 1995, S. 51; ders., JuS 1989, S. 173. Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG Kommentar, Art. 2 Rn. 47. BVerfGE 39, 1 (38 ff.). BVerfGE 39, 1 (38 ff.).
C. Das Recht auf Leben
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sungstext nicht erforderlich sei, wollte der Abgeordnete Seebohm seinen Antrag zurückziehen.485 Der SPD Abgeordnete Greve stellte daraufhin für sich und einige seiner Fraktionskollegen fest, dass unter dem Recht auf Leben nicht zugleich das Recht auf das keimende Leben zu verstehen sei, woraufhin der Abgeordnete Seebohm den Antrag der DP-Fraktion wieder aufnahm. In der Abstimmung des Hauptausschusses wurde der Antrag auf Aufnahme des Satzes:>Auch das keimende Leben ist geschützt<, mit 7 zu 11 Stimmen abgelehnt. Drei Abgeordnete enthielten sich.486 Am 6. Mai 1949 stimmte das Plenum des Parlamentarischen Rats dem Art. 2 Abs. 2 GG bei 2 Gegenstimmen zu. Die Abgeordneten Seebohm und Weber brachten bei der dritten Lesung am 8. Mai 1949 zum Ausdruck, dass nach ihrer Auffassung auch der nasciturus vom Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 GG erfasst sei und blieben damit ohne Widerspruch. Dieser entstehungsgeschichtliche Hintergrund legt es nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts nahe, auch den nasciturus in den Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG mit einzubeziehen. Diese Schlussfolgerung wird nun vielfach kritisiert.487 Der Antrag, das „keimende Leben“ ausdrücklich im Verfassungstext zu verankern, sei letztlich von der Mehrheit abgelehnt worden. Diese Mehrheit habe zum einen aus Gegnern des vorgeburtlichen Lebensschutzes, zum anderen aus Abgeordneten, die den nasciturus ohnehin in den Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 S. 1 einbezogen sahen und eine Klarstellung für überflüssig hielten, bestanden.488 Ob der Antrag letztlich abgelehnt wurde, weil die Mehrheit der Abgeordneten den nasciturus ohnehin in den Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG einbezogen habe, sei reine Spekulation, denn die Protokolle beinhalteten nicht, aus welchem Grund der jeweilige Abgeordnete den Antrag abgelehnt habe. Die Stellungnahmen der Abgeordneten Seebohm und Weber in der dritten Lesung änderten an diesem Ergebnis nichts, da die Erklärungen einzelner Mitglieder der verfassungsgebenden Körperschaft nicht mit dem Willen des Verfassungsgebers gleichgesetzt werden könnten. Aus dem entstehungsgeschichtlichen Hintergrund ergäbe sich somit nicht eindeutig, ob der nasciturus vom Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG erfasst werde oder nicht.489 Das Bundesverfassungsgericht selbst relativiert die Aussagekraft des entstehungsgeschichtlichen Hintergrunds, wenn es formuliert: „Jedenfalls kann aus den Materialien noch weniger für die gegenteilige Ansicht abgeleitet werden.“490 In einer dezidierten Untersuchung der historischen Hintergründe gelingt es Beckmann überzeugend, die Interpretation der historischen Gegebenheiten durch das Bundesverfassungsgericht zu stützen. Er verweist auf das Protokoll der Sitzung der CDU/CSU-Fraktion vom 22. Februar 1949, das ausdrücklich bestätigt, 485 486 487 488 489 490
Ausführliche Darstellung bei Beckmann, Der Staat 2008, S. 556 f. Ausführliche Darstellung bei Beckmann, Der Staat 2008, S. 557 f. Vgl. nur Hoerster, JuS 1989, S. 173. So auch: Giwer, Präimplantationsdiagnostik, S. 64; Hoerster, JuS 1989, S. 173. Hillgruber/Goos, ZfL 2008, S. 43. BVerfGE 39, 1 (40).
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
dass die acht Abgeordneten der CDU/CSU davon ausgingen, dass der nasciturus in den Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG einbezogen sei.491 Außerdem zeigt er anhand von Zitaten aus den Protokollen des Hauptausschusses, dass die Abgeordneten Seebohm (DP), Weber und Heuss (FDP) der Auffassung waren, dass der nasciturus von Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG erfasst werde. Im Ergebnis gingen damit 11 Abgeordnete vom Einbezug des nasciturus in den Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG aus. Die Mehrheit des Hauptausschusses wollte das keimende Leben somit in den Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG einbeziehen.492 Dass die Erklärung einzelner Abgeordneter grundsätzlich nicht mit dem Willen des Verfassungsgebers gleichgesetzt werden kann, wird von Beckmann nicht bestritten. Im Plenum kam aber schließlich durch die Beiträge von Weber und Seebohm nur ein Recht auf Leben zur Sprache, das auch das keimende Leben mitumfasste. Da diese Beiträge unwidersprochen blieben, konnte sich die Abstimmung daher auch nur auf ein solches Lebensrecht beziehen.493 Im Ergebnis legt die historische Interpretation daher den Einbezug des ungeborenen Lebens in den Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG nahe. c) Systematische Auslegung Die systematische Auslegung führt zu keinem eindeutigen Ergebnis. Wie oben bereits ausgeführt, kann aus der Tatsache, dass die meisten Grundrechte auf geborene Menschen zugeschnitten sind, nicht geschlossen werden, dass der nasciturus generell aus dem Schutzbereich aller Grundrechte auszuklammern ist. Grundrechte wie die Menschenwürde und das Lebensrecht, die den Status eines Menschen gewährleisten, lassen sich thematisch sinnvoll auf den nasciturus anwenden. Wie oben dargestellt, können auch aus den zivilrechtlichen Regelungen zur Rechtsfähigkeit des nasciturus keine Schlüsse für die Grundrechtsträgerschaft des nasciturus gezogen werden.494 d) Teleologische Auslegung Nach Auffassung des Bundesverfassungsrechts ist es nach Sinn und Zweck des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG erforderlich, den Lebensschutz auf das ungeborene Leben auszudehnen. „Die Sicherung der menschlichen Existenz gegenüber staatlichen Übergriffen wäre unvollständig, wenn sie nicht auch die Vorstufe des „fertigen Lebens“, das ungeborene Leben, umfaßte.“495 Letztlich setzt das Bundesverfassungsgericht mit dieser Aussage aber den Einbezug des nasciturus in den Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG bereits voraus, der doch gerade in Frage steht. Die Zirkularität dieser teleologischen Begründung wurde zu Recht kritisiert und die Argumentation als wertlos verworfen.496 Die Kritik an der teleologischen Auslegung des Bundesverfassungsgerichts bedeutet aber nicht, dass diese Ausle491 492 493 494 495 496
Vgl. Beckmann, Der Staat 2008, S. 559. Beckmann, Der Staat 2008, S. 560 f. Beckmann, Der Staat 2008, S. 569. So auch: Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Kommentar, Art. 2 Abs. 2 Rn. 203. BVerfGE 39, 1 (37). Hoerster, JuS 1989, S. 173.
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gungsmethode für die Frage nach dem Lebensrecht des nasciturus generell nicht von Bedeutung wäre. Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ist ebenso wie Art. 1 Abs. 1 GG als Reaktion auf die nationalsozialistischen Gräueltaten zu verstehen. Mit der Statuierung beider Vorschriften wurde Euthanasieprogrammen, die sich anmaßten, lebenswertes von lebensunwertem Leben unterscheiden zu können, und letzteres vernichteten, eine klare Absage erteilt.497 Solche Euthanasieprogramme sind, worauf Kunig hinweist, grundsätzlich auch in der pränatalen Lebensphase denkbar, wenn der Staat aus rassischen, religiösen oder sozialpolitischen Gründen Abtreibungen anordnet.498 Sinn und Zweck des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG war somit die Statuierung der Gleichheit allen menschlichen Lebens. Wie Art. 1 Abs. 1 GG enthält Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG somit ein streng formales Differenzierungsverbot.499 Eine ausnahmslose Gleichheit aller Menschen kann, wie oben bereits ausgeführt, nur dann erreicht werden, wenn es für die Grundrechtsträgerschaft des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG allein auf die Spezieszugehörigkeit ankommt.500 Andernfalls droht die Anerkennung des Lebensrechts zum Spielball gesellschaftlicher Machtkämpfe zu werden. Es würde dann über Kriterien verhandelt, die für den Zuspruch des Lebensrechts erforderlich sind. Eben diese Situation wollte der Gesetzgeber angesichts der nationalsozialistischen Vergangenheit verhindern. Eigenschaften, die über das bloße Menschsein bzw. über die bloße biologische Existenz hinausgehen, wie Ich-Bewusstsein, Überlebensinteresse, Vernunft, Selbstbestimmung oder Kommunikationsfähigkeit sind für den Zuspruch des Lebensrechts folglich nicht entscheidend. Schon die befruchtete Eizelle, die zur Spezies Mensch gehört, ist daher Trägerin des Lebensrechts. Bereits zu diesem Zeitpunkt existiert individuelles Leben mit dem Potential, sich zu einem geborenen Menschen zu entwickeln. Der hiergegen oftmals erhobene Vorwurf eines biologistisch-naturalistischen Fehlschlusses geht schließlich ins Leere. Der Zuspruch des Lebensrechts an jeden Zugehörigen der Spezies Mensch beruht auf einer historischen und teleologischen Interpretation des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG. e) Ergebnis Die historische und teleologische Auslegung des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG führt zu dem Ergebnis, dass der nasciturus ab Befruchtung als Träger des Grundrechts auf Leben anzusehen ist.
497 498 499 500
Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Art. 2 Abs. 2 Rn. 10; Lorenz, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 2 Rn. 26. Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG Kommentar, Art. 2 Rn. 47. Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 242. Müller-Terpitz, ZfL 2006, S. 37.
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
III. Die Schranke des Lebensrechts 1. Das Lebensrecht in der gesetzgeberischen Abwägungsentscheidung Im Gegensatz zur Menschenwürde ist das Lebensrecht nicht unantastbar, sondern steht gemäß Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG unter einem Eingriffsvorbehalt. Dies bedeutet zunächst, dass das Grundrecht auf Leben auf der Grundlage eines förmlichen Parlamentsgesetzes501 beschränkt werden kann. Bei Schwangerschaftsabbruchkonflikten, in denen sich nicht Bürger und Staat im klassischen Abwehrverhältnis gegenüberstehen, sondern vielmehr der Staat die Rechtsgüter der Bürger vor privaten Übergriffen schützen muss, wirkt sich der Eingriffsvorbehalt folgendermaßen aus: Zum einen bildet er die Rechtfertigungsgrundlage für Eingriffe in das pränatale Leben, die zum Schutz entgegenstehender Rechtsgüter der Schwangeren geboten sind. Andererseits ermöglicht er, das Lebensrecht des nasciturus mit den Rechtsgütern der Schwangeren ins Verhältnis zu setzen.502 Auf der Grundlage des Gesetzesvorbehalts sind Einschränkungen des Lebensrechts zunächst nicht nur bei einer Kollision von Leben gegen Leben vorstellbar, sondern auch zugunsten anderer Rechtsgüter. Allerdings muss im Rahmen des Ausgleichs der entgegenstehenden Interessen durch praktische Konkordanz in Betracht gezogen werden, dass das Grundrecht auf Leben als vitale Basis der Menschenwürde und der übrigen Grundrechte einen Höchstwert der Verfassung darstellt und eine Beeinträchtigung dieses Rechtsguts stets irreversibel ist. Bei der gesetzgeberischen Abwägungsentscheidung ist dem Recht auf Leben ein hohes Gewicht zuzubilligen. In der Rechtsordnung sind Eingriffe in das Recht auf Leben dementsprechend nur selten erlaubt, wie beispielsweise im militärischen Verteidigungsfall, in dem der Staat das Leben wehrfähiger Männer gefährden darf, um die Bevölkerung zu schützen und staatliche Souveränität zu sichern. Bei Vorliegen eines rechtswidrigen Angriffs auf das Leben oder auch Sachwerte darf nach den Grundsätzen der Notwehr oder der Nothilfe ebenfalls das Leben des Angreifers vernichtet werden, sofern dies geboten ist.503 2. Stufung des pränatalen Lebensschutzes Zum Teil wird ein Konzept eines gestuften vorgeburtlichen Lebensschutzes vertreten. Danach nimmt die Intensität des Lebensschutzes mit fortschreitender Entwicklung des nasciturus zu.504 Ziel dieses Konzepts eines abgestuften Lebensschutzes ist es, in der Frühphase Eingriffe in das pränatale Leben zu erleichtern. Die dafür angeführten Argumente sind häufig mit den Begründungen für ein gestuftes Würdekonzept identisch. 501 502 503 504
Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 2 II Rn. 53. Ausführlich dazu: Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 277. Murswiek, in: Sachs, GG Kommentar, Art. 2 Rn. 171. Dreier, ZRP 2002, S. 377 ff.; Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 70; Dederer, AöR 2002, S. 19 f., der allerdings von einem rein objektiven Schutz des Lebens ausgeht. Denninger, KritV 2003, S. 191 ff., 204; Hufen, JuS 2010, S. 7; Schlink, Fragen des pränatalen Lebensschutzes, S. 10.
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Nach Dreier liegt dieses Konzept unserer Rechtsordnung bereits zugrunde. Die Rechtsordnung differenziere zum einen in kategorialer Weise zwischen dem Lebensrecht geborener Personen und dem Schutz ungeborenen Lebens. Zum anderen nähme die Rechtsordnung selbst eine Stufung des ungeborenen Lebens vor.505 Die kategoriale Differenz zwischen dem Lebensrecht geborener Menschen und dem Schutz ungeborenen Lebens veranschaulicht er mit dem Verweis auf zahlreiche Normen des einfachen Rechts. § 1 BGB lasse die Rechtsfähigkeit des Menschen erst mit Vollendung der Geburt beginnen, § 1923 Abs. 2 BGB müsse die Rechtsfähigkeit des nasciturus fingieren, um dessen Erbfähigkeit zu ermöglichen. Auch das Strafrecht stelle den nasciturus nicht dem geborenen Menschen gleich, indem es seinen Schutz lediglich durch die Normen zum Schwangerschaftsabbruch, nicht aber durch die Tötungsdelikte realisiere.506 Bestätigt werde diese Differenzierung auch durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, indem es in seiner ersten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch den Gesetzgeber nicht verpflichtete, die gleichen Maßnahmen strafrechtlicher Art zum Schutz des ungeborenen Lebens zu treffen wie für das geborene Leben.507 In der zweiten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch akzeptierte es ein Schutzkonzept für den nasciturus, das hinsichtlich geborener Menschen nie akzeptiert würde.508 Die Stufung des pränatalen Lebensschutzes veranschaulicht er anhand der Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch, die das Bundesverfassungsgericht für verfassungsgemäß befunden hat.509 Bis zur Nidation ist der Embryo gemäß § 218 Abs. 1 S. 2 GG ausdrücklich nicht von den Delikten über den Schwangerschaftsabbruch geschützt. Von der Nidation bis zur zwölften Schwangerschaftswoche ist die Abtreibung allein aufgrund einer Beratung straflos, bei der die Schwangere lediglich physisch präsent sein muss. Obwohl diese Abbrüche straflos, aber dennoch rechtswidrig sind, werden sie als rechtmäßig behandelt, indem Lohnfortzahlungsansprüche gegen den Arbeitgeber bestehen und Sozialhilfe für die mittellose Frau gewährt wird.510 Eine weitere Zäsur setzt er nach der 22. Schwangerschaftswoche, bis zu der früher ein Schwangerschaftsabbruch aufgrund embryopathischer Indikation möglich war. Heute ist diese Frist noch hinsichtlich des Strafausschließungsgrundes für die Schwangere in § 218a Abs. 4 StGB relevant. Bis zur Geburt ist ein Schwangerschaftsabbruch bei Vorliegen einer medizinisch-sozialen Indikation möglich. Auf gleicher Stufe mit geborenen Menschen stehe der nasciturus dabei nicht, denn wäre das Kind bereits geboren, wäre nicht einzusehen, warum der Konflikt immer zu Lasten des Kindes ausgehen sollte.
505 506 507 508 509 510
Dreier, ZRP 2002, S. 378; ders., JZ 2007, S. 267. Dreier, ZRP 2002, S. 378; ders., JZ 2007, S. 267. BVerfGE 39, 1 (45). BVerfGE 88, 203. Dreier, ZRP 2002, S. 379 ff.; ders. JZ 2007, S. 268 ff.; bestätigend Schlink, Fragen des pränatalen Lebensschutzes, S. 13. Dreier, JZ 2007, S. 268 mit Bezugnahme auf BVerfGE 88, 203 (279, 315, 321 ff.).
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
Unterstützend weist Dreier darauf hin, dass ein gestufter pränataler Lebensschutz mit der Intuition in Einklang stehe. Ein Vergleich mit der Rechtslage anderer Staaten wie Norwegen, Schweden und den Niederlanden, in denen Spätabbrüche strenger gehandhabt werden als frühe Abbrüche, zeige, dass auch hier ein gestuftes Konzept angewandt werde.511 Rechtskonstruktiv unterscheidet sich das Konzept des gestuften Lebensschutzes von dem des gestuften Würdeschutzes. Beim Würdeschutz wird die Stufung auf der Rechtsfolgenebene vorgenommen. Es geht um das „wie“ des Schutzes. Das Konzept des gestuften Lebensschutzes stützt sich demgegenüber auf den Gesetzesvorbehalt des Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG, der eine Einschränkung des Lebensrechts zugunsten anderer Verfassungsgüter wie dem Persönlichkeitsrecht der Frau ermöglicht.512 Durch Abwägung werden bestimmte private Übergriffe für gerechtfertigt erklärt und das Bestehen einer Schutzpflicht verneint. Zunächst sieht sich diese Auffassung wieder dem Einwand ausgesetzt, dass die Entwicklung des nasciturus kontinuierlich abläuft und die Setzung von Zäsuren immer ein Stück weit beliebig ist.513 Darüber hinaus wird die Verfassung abermals anhand des einfachen Gesetzesrechts ausgelegt und damit quasi die Normenhierarchie auf den Kopf gestellt.514 Dreier setzt sich mit diesem Einwand selbst auseinander und stimmt dieser Position grundsätzlich zu. Da sich aber weder aus dem Wortlaut des Art. 2 Abs. 2 GG noch aus ideengeschichtlichen und rechtsvergleichenden Betrachtungen eindeutig die Grundrechtsträgerschaft des nasciturus ergebe, müsse man indirektere Auslegungen und Verständnisse bemühen und zugleich die Prärogative des Gesetzgebers respektieren und die Grundrechtsentfaltung und -konkretisierung durch das Gesetz beachten.515 Dass der Wortlaut den Einbezug des nasciturus in den Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG nicht eindeutig nahe legt, ist, wie oben gezeigt, richtig. Aus historischen und teleologischen Erwägungen ergibt sich aber, dass der nasciturus in den Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG einzubeziehen ist. Die Heranziehung des einfachen Gesetzesrechts zur Grundrechtskonkretisierung ist daher gerade nicht erforderlich, sondern vielmehr verfehlt. Darüber hinaus lässt sich, wie oben bereits ausgeführt, anhand von § 1 BGB und den §§ 218 ff. StGB eine kategoriale Differenz zwischen dem Lebensrecht geborener und dem Lebensschutz ungeborener Menschen nicht schlüssig begründen. Der nasciturus wird auch im Zivilrecht durch Normen wie § 1923 Abs. 2 BGB begünstigt und im Deliktsrecht berücksichtigt.516 Auch aus dem geringeren Strafmaß der §§ 218 ff. StGB im Vergleich zu den §§ 211, 212 StGB kann nicht geschlossen werden, dass Rechtssubjekte „unterschiedlicher Kategorie“517 betrof511 512 513 514 515 516 517
Dreier, ZRP 2002, S. 379. Dreier, DÖV 1995, S. 1040. Damschen/Schönecker, Status menschlicher Embryonen, S. 73. Hoerster, JZ 2008, S. 296. Dreier, ZRP 2002, S. 382. So auch: Beckmann, ZRP 2003, S. 97. Beckmann, ZRP 2003, S. 98.
C. Das Recht auf Leben
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fen sind, denn das Strafmaß richtet sich auch nach tat- und täterbezogenen Merkmalen. Die Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch sind für die Begründung einer kategorialen Differenz im Übrigen deshalb problematisch, weil sie immer eine Kompromisslösung zwischen Belangen der Schwangeren und Belangen des Ungeborenen sind. Bei den Reformbestrebungen des Schwangerschaftsabbruchsrechts wurde die Schutzwürdigkeit des nasciturus nie in Zweifel gezogen, sondern es wurde stets angestrebt, die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche zu reduzieren.518 Selbst wenn man sich wie Dreier auf den Standpunkt stellt, dass das Verfassungsrecht keine eindeutige Auskunft über die Grundrechtsträgerschaft des nasciturus gibt, rechtfertigt dies noch nicht den Schluss, dass das Lebensrecht dem nasciturus in einer abgeschwächten Form zukommt und sich im Laufe seiner Entwicklung verstärkt. Der Verweis auf die strafrechtlichen Regelungen des Schwangerschaftsabbruchs kann ein gestuftes Lebensrecht nicht stützen. Abgesehen von den bereits erörterten Einwänden ergeben sich aus den strafrechtlichen Vorschriften keine zeitlich relevanten Zäsuren, die eine Stufung des Lebensrechts rechtfertigen. Das Strafgesetzbuch knüpft an die Zeitpunkte der Nidation und die vollendete 12. sowie 22. Schwangerschaftswoche p.c. an. Bereits oben wurde ausführlich erörtert, dass sich der nasciturus ab Befruchtung kontinuierlich ohne einschneidende Zäsuren als Mensch entwickelt und die genannten Entwicklungsstufen keine entscheidende Bedeutung haben. Aus diesem Stufenmodell zieht Dreier zugleich den Schluss, dass das Embryonenschutzgesetz liberalisiert werden könne.519 Die strengeren Anforderungen des Embryonenschutzgesetzes zeigen aber, dass es dem Gesetzgeber gerade nicht darauf ankommt, den nasciturus mit fortschreitendem Wachstum stärker zu schützen, sondern er auf unterschiedliche Gefährdungssituationen lediglich adäquat reagieren will. Das Embryonenschutzgesetz widerlegt daher die Aussage Dreiers, das Stufenkonzept sei der geltenden Rechtslage bereits immanent. Auch das Bundesverfassungsgericht kann nicht überzeugend zur Bestätigung dieses Konzepts herangezogen werden. Dreier zieht aus der Tatsache, dass das Bundesverfassungsgericht die geltende Rechtslage zum Schwangerschaftsabbruch nicht beanstandet hat, den Schluss, dass sein Konzept, das im Wesentlichen auf diesen Normen basiere, auf einer geprüften Verfassungsgrundlage stehe.520 Zugleich kritisiert er aber die Urteile des Bundesverfassungsgerichts zum Schwangerschaftsabbruch als hoffnungslos inkonsequent.521 Dadurch spricht er der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Schwangerschaftsabbruch jegliche Überzeugungskraft ab und kann sie konsequenterweise auch nicht unterstützend für seine Auffassung heranziehen. Dreier setzt sich mit der Frage auseinander, ob ein zunehmendes Lebensrecht am Lebensanfang nicht zu einem abnehmenden Lebensrecht am Lebensende füh-
518 519 520 521
Darauf verweist auch: Beckmann, ZRP 2003, S. 98. Dreier, ZRP 2002, S. 382. Dreier, ZRP 2002, S. 382. Dreier, ZRP 2002, S. 382.
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
ren müsse. Eine solche Konsequenz will er nicht ziehen und nimmt „das strikte Lebensrecht geborener Personen als feste unverrückbare Grundlage“.522 Warum diese Grundlage fest und unverrückbar sein soll, begründet er nicht. Es ist offensichtlich, dass sich das Neugeborene von einem Baby zu einem Kind und schließlich zu einem Erwachsenen entwickelt. An sich müsste konsequenterweise auch eine Stufung nach der Geburt stattfinden. Der Mensch entwickelt sich sein ganzes Leben lang weiter, so dass man auch hier an entwicklungsbiologische Merkmale anknüpfen könnte. Es wäre dann zu überlegen, ob man den vollen Lebensschutz erst mit Erreichen des 18. Lebensjahres gewähren sollte.523 Am Ende des Lebens nimmt vor allem bei Demenzkranken die Gehirnleistung ab und auch die organischen Funktionen verschlechtern sich. Auch nach der Geburt gibt es daher entwicklungsbiologisch bedeutsame Zäsuren, die dann, wenn ein gestuftes Lebensrecht am Lebensanfang aufgrund entwicklungsbiologischer Vorgänge vertreten wird, zumindest nicht kategorisch abgelehnt werden können.524 Gleichwohl wird eine solche Stufung nicht vertreten. Woran liegt das? Die Gewährleistung eines umfassenden Schutzes allen Lebens unabhängig von Behinderung und Entwicklung ist eine Reaktion auf die Gräueltaten des Nationalsozialismus. Diese umfassende Gewährleistung des Lebensgrundrechts impliziert zugleich eine formale Gleichwertigkeit aller Lebenden ohne Rücksicht auf ihre Entwicklung. Es wurde bereits ausführlich erörtert, dass Sinn und Zweck des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG es erfordern, jeden Menschen unabhängig von seiner Entwicklung und sonstigen Eigenschaften in den Schutzbereich des Lebensrechts einzubeziehen. Die Frage nach lebenswertem und lebensunwertem Leben sollte nie mehr gestellt werden. Diese Argumentation, die es erforderlich macht, dem nasciturus Menschenwürde und Lebensrecht bereits ab Befruchtung zuzusprechen und unter geborenen Menschen nicht nach deren Entwicklung zu differenzieren, verbietet es zugleich, dem nasciturus einen nur gestuften Schutz zu gewährleisten.525 Es wäre absurd, auf der Schutzbereichsebene die formale Gleichheit aller Menschen zu gewährleisten und auf der Schrankenebene zugleich eine Ungleichheit herbeizuführen. Der Grundrechtsdogmatik ist eine Differenzierung von Grundrechten 1. und 2. Klasse aus gutem Grund unbekannt.526 In der Verfassung findet sich nirgends ein Anhaltspunkt für einen gestuften Lebensschutz. Art. 2 Abs. 2 GG lautet vielmehr: „Jeder hat das Recht auf Leben“. Die Verfassung gewährt ein Recht auf Leben, nicht ein intensives und ein weniger intensives Recht auf Leben.527 Hoerster bezeichnet die These eines abgeschwächten Lebensschutzes als „misslungene(n) Versuch, einer Entscheidung der Frage nach dem Beginn des Lebensrechtes im Wege eines faulen Kompromisses auszu522 523 524 525 526 527
Dreier, ZRP 2002, S. 382. Hoerster, JZ 2008, S. 296. Beckmann, ZRP 2003, S. 101; Hoerster, Abtreibung, S. 48. So im Ergebnis auch: Beckmann, ZRP 2003, S. 100; Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 286 f. So auch: Giwer, Präimplantationsdiagnostik, S. 77. Hoerster, JuS 2003, S. 530; Hoerster, NJW 1997, S. 774.
C. Das Recht auf Leben
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weichen.“528 Im Rahmen der juristischen Auslegung ist es unüblich, einen Zweifelsfall dadurch zu lösen, dass man die Subsumtion bejaht, zugleich aber, als Ausgleich, die Rechtsfolgen abschwächt.529 Ein gestuftes Konzept des Lebensschutzes würde letztlich den dauerhaften Entzug eines Rechtsguts zugunsten allgemeiner Interessen ermöglichen, ohne dass der nasciturus eine Gefahr für Dritte darstellt. Bei embryonalen Stammzellen, die zur Züchtung von Geweben mit dem Ziel späterer Heilung verwendet werden, kann dann das Leben des Embryos mit dem Leben und der Gesundheit der Patienten abgewogen und den Rechtsgütern der Patienten unproblematisch Vorrang vor den Rechtsgütern des nasciturus gegeben werden. Damit wird der vollständige Entzug des Rechtsguts Leben zugunsten der Forschungsfreiheit und der Gesundheit der Patienten ermöglicht, ohne dass der geschützte Personenkreis in irgendeiner Art und Weise gefährdet ist. Das Recht auf Leben ist aber so fundamental, dass es grundsätzlich nur zur Verteidigung gegen einen Angriff oder eine Gefahr einschränkbar ist. Eine Ausnahme wird lediglich in den Fällen einer Schwangerschaft aufgrund der besonderen Situation der Zweiheit in Einheit erwogen.530 Gefährdungen eines grundrechtlich geschützten Rechtsguts, das Dritte nicht beeinträchtigt, lässt die Verfassung nur aufgrund ausdrücklicher Ermächtigungen zu, wie beispielsweise in Art. 12a GG, der die zwangsweise Heranziehung Wehrpflichtiger zur Bündnis- und Landesverteidigung regelt und Art. 14 Abs. 3 GG, der die Enteignung zum Wohl der Allgemeinheit vorsieht. Die nach dieser Konzeption ohne weiteres zulässige Tötung des Embryos bei der embryonalen Stammzellforschung aufgrund des Eingriffsvorbehalts widerspräche somit der Verfassungssystematik. Die Haltbarkeit des gestuften Lebenskonzepts wird dadurch widerlegt.531 Im Übrigen wird dieser Aspekt durch Art. 1 Abs. 1 GG bestätigt. Es würde eine Instrumentalisierung des Einzelnen darstellen, wenn er getötet werden dürfte, ohne dass er zugleich eine Beeinträchtigung eines anderen darstellt. Denn utilitaristische Interessenabwägungen verbieten sich aufgrund der Menschenwürdegarantie.532 Hoerster schließt aus dieser Tatsache, dass die Erfindung einer Stufung eines vorgeburtlichen Lebensschutzes „eine Ad-hoc-Erfindung zur Pseudo-Legitimation bestimmter Auffassungen im Umgang mit dem vorgeburtlichen Leben“533 ist. 3. Ergebnis Der nasciturus ist mit Befruchtung Träger des Grundrechts auf Leben. Der daraus resultierende Schutz ist in seiner Intensität zu jedem Zeitpunkt seiner Entwicklung gleich. 528 529 530 531 532 533
Hoerster, JuS 2003, S. 530. Hoerster, JuS 2003, S. 530. Murswiek, in: Sachs, GG Kommentar, Art. 2 Rn. 223c, 117, 173; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Kommentar, Art. 1 Abs. 1 Rn. 20. Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 284 f. Hoerster, NJW 1997, S. 774. Hoerster, JuS 2003, S. 530.
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
D. Verhältnis von Menschenwürde und Lebensrecht Nachdem nun geklärt wurde, dass der nasciturus sowohl Träger der Menschenwürde als auch des Lebensrechts ist, soll an dieser Stelle das Verhältnis von Menschenwürde und Lebensrecht in den Blick genommen werden.
I. Entkopplung der personellen Schutzbereiche Teilweise wird versucht, Menschenwürde und Lebensrecht im Hinblick auf den personellen Gewährleistungsbereich zu entkoppeln. Meistens wird der Würdeschutz zu einem späteren Zeitpunkt gewährt als der Lebensschutz. Ziel einer solchen Entkopplung ist es, den nasciturus für bestimmte Entwicklungsstadien aus der unantastbaren Menschenwürdegarantie auszuklammern und Fragen des Umgangs mit dem pränatalen Leben auf das unter Gesetzesvorbehalt stehende Lebensrecht zu verlagern. Bereits 1995 rief Dreier dazu auf, „die verfassungsrechtliche Diskussion über die Regelung des Schwangerschaftsabbruchs von der schweren Bürde des Art. 1 Abs. 1 GG zu befreien und auf der Basis des Art. 2 Abs. 2 GG konsistente, gestufte Lösungen zu suchen“.534 Dass etwas im biologischnaturwissenschaftlichen Sinne Leben darstelle, mache dies nicht automatisch zum Träger der Menschenwürde.535 Das Leben sei zwar vitale Basis der Menschenwürde und damit conditio sine qua non, aber nicht conditio per quam, so dass die personale Trägerschaft des Art. 2 Abs. 2 S. 1 und Art. 1 Abs. 1 GG nicht zusammenfallen müsse.536 Wie eine solche Entkopplung der personalen Trägerschaft letztlich aussehen kann, sei im Folgenden beispielhaft veranschaulicht. Dreier, Zippelius und Podlech klammern den nasciturus während der gesamten pränatalen Entwicklungsphase aus dem Schutzbereich der Menschenwürde aus, sprechen ihm aber das Grundrecht auf Leben zu.537 Demgegenüber spricht Heun dem nasciturus das Lebensrecht ab Individuation, die Menschenwürde aber erst ab Ausdifferenzierung des Gehirns zu.538 Schmidt-Jortzig bejaht das Lebensrecht ab Befruchtung, fordert für den Zuspruch von Menschenwürde aber Menschenerkennbarkeit.539 Lorenz und Dederer anerkennen den nasciturus als Träger des Grundrechts auf Leben ab Befruchtung, beziehen ihn aber erst ab Nidation in den Gewährleistungsbereich der Menschenwürde ein.540
534 535 536 537
538 539 540
Dreier, DÖV 1995, S. 1040. Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 66. Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 67. Dreier, DÖV 1995, S. 1040; ders., in: Dreier, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 70; ders., ZRP 2002, S. 377; Podlech, AK GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 57; Zippelius, in: Bonner Kommentar, Art. 1 Abs. 1 u. 2 Rn. 76. Heun, JZ 2002, S. 522. Schmidt-Jortzig, DÖV 2001, S. 926, 930. Dederer, AöR 2002, S. 14; Lorenz, ZfL 2001, S. 43, 45.
D. Verhältnis von Menschenwürde und Lebensrecht
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Vereinzelt wird umgekehrt auch die Ansicht vertreten, dass das Lebensrecht dem nasciturus erst ab Nidation zustehe, vor Nidation wirke der Schutz der Menschenwürde aber vor.541 Diesen Entkopplungsversuchen ist durch die oben vorgenommenen Auslegungen des Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG, die zu dem Ergebnis gelangten, dass die personalen Schutzbereiche der Menschenwürdegarantie und des Lebensrechts koextensional sind, der Boden entzogen.542 Dem Bundesverfassungsgericht ist somit in der Aussage „wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu“543 uneingeschränkt zuzustimmen.
II. Entkopplung der materiellen Schutzbereiche Art. 1 Abs. 2 GG bekennt sich aufgrund der grundlegenden Bedeutung des Art. 1 Abs. 1 GG zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten, die gemäß Art. 1 Abs. 3 GG in den folgenden Grundrechten konkretisiert werden. Daraus folgt, dass zahlreiche Bereiche möglicher Gefährdungen der Menschenwürde in den speziellen Freiheitsgrundrechten wie Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG und Gleichheitsgarantien näher konkretisiert werden. Darüber hinaus verfügt die Menschenwürde nicht über einen klar konturierten Schutzbereich, sondern konstituiert einen „Verfassungssatz von umfassender Allgemeinheit“.544 Diese zwei Aspekte führen schließlich dazu, dass der Schutzbereich der Menschenwürdegarantie zwangsläufig auch den Schutzbereich des Lebensrechts und anderer Grundrechtsgarantien tangiert.545 Zu klären ist daher das Verhältnis der materiellen Schutzbereiche von Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG. Das Bundesverfassungsgericht verknüpft die Menschenwürdegarantie und das Lebensrecht sehr eng. Es stellt dar, dass das Lebensrecht ein elementares und unveräußerliches Recht sei, das von der Würde des Menschen ausgehe546 und charakterisiert das menschliche Leben als „die vitale Basis der Menschenwürdegarantie“.547 Darüber hinaus führt es aus, dass sich die Pflicht zum Schutz menschlichen Lebens nicht nur aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG, sondern auch aus Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG ergebe; „denn das sich entwickelnde Leben nimmt auch an dem Schutz teil, den Art. 1 Abs. 1 GG der Menschenwürde gewährt“.548 Aus diesen Ausfüh541 542
543 544 545 546 547 548
Rosenau, FS Schreiber, S. 776; Murswiek, in: Sachs, GG Kommentar, Art. 2 Rn. 145b, 223a. Gegen eine Entkopplung des personalen Schutzbereichs: Böckenförde-Wunderlich, Präimplantationsdiagnostik, S. 165-167, 178 f.; Classen, DVBl 2002, S. 142, 143; Hillgruber/Goos, ZfL 2008, S. 44; Lorenz, ZfL 2001, S. 44; Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 343; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Kommentar, Art. 1 Abs. 1 Rn. 20; Art. 2 Abs. 2 Rn. 203. BVerfGE 39, 1 (41); 88, 203 (252). Badura, JZ 1964, S. 342. Höfling, JuS 1995, S. 861. BVerfGE 88, 203 (252). BVerfGE 39, 1 (42). BVerfGE 39, 1 (41); 88, 203 (252).
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
rungen wird in der Literatur vereinzelt geschlossen, dass das Bundesverfassungsgericht jeden Eingriff in das Leben zugleich als Würdeverstoß qualifiziere.549 Indem das Gericht formuliert, dass das Lebensrecht von der Menschenwürde ausgehe, betont es lediglich, dass Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG als Ausfluss der Menschenwürdegarantie zu verstehen ist, die als Konstitutionsprinzip auf die Interpretation der Grundrechte ausstrahlt.550 Zum Verhältnis der beiden Grundrechtsverbürgungen ist damit noch nichts gesagt. Die enge Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG dient dazu, das Lebensrecht als Höchstwert der Verfassung zu statuieren und dem Lebensrecht eine Schutzpflichtdimension zu erschließen.551 Eine partielle Überlappung der Schutzbereiche von Menschenwürde und Lebensrecht kann dieser Rechtsprechung entnommen werden, nicht aber, dass das Gericht Lebensrecht und Menschenwürde als einheitliche Gewährleistung begreift.552 In der verfassungsrechtlichen Literatur finden sich heterogene Auffassungen zum Verhältnis von Lebensrecht und Menschenwürde. Schon die Grundrechtsqualität der Menschenwürde ist umstritten, so dass die rechtsstrukturelle Vergleichbarkeit von Menschenwürde und Lebensrecht zweifelhaft ist. Nach GeddertSteinacher, die die Menschenwürde als regulatives Prinzip der Verfassungsinterpretation und nicht als Grundrecht begreift, ist das Verhältnis der Würdenorm zu den anderen Grundrechten daher nicht in den Kategorien der Konkurrenzenlehre beschreibbar, sondern steht die Menschenwürde in einem Verhältnis sui generis zu den Grundrechten.553 Wie oben bereits ausgeführt, beinhaltet Art. 1 Abs. 1 GG eine grundrechtliche Verbürgung,554 so dass nach der hier vertretenen Auffassung die rechtsstrukturelle Vergleichbarkeit gegeben ist. In der verfassungsrechtlichen Literatur lässt sich eine Tendenz erkennen, Menschenwürde und Lebensrecht sehr eng miteinander zu verknüpfen. Kloepfer wirft sogar die Frage nach der Grundrechtseinheit von Menschenwürde und Lebensrecht auf, da zwischen dem Schutz der Würde und des Lebens erhebliche Parallelen bestünden.555 Davon ausgehend, dass das Leben die Bedingung für die Entfaltung der Menschenwürde darstellt, folgert Baumann, dass Lebensrecht und Menschenwürde in einem unauflösbaren inneren Zusammenhang stehen. Art. 2 Abs. 2 GG sei ein Menschenwürdegehalt immanent; er ist mit Menschenwürdestandards 549 550
551 552 553 554 555
Heun, JZ 2002, S. 518. So auch: Lorenz, ZfL 2001, S. 44; Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 361 f.; auch in der Benetton II Entscheidung betont das BVerfG, das die Grundrechte Ausfluß der Menschenwürde sind. BVErfGE 107, 275 (284). So auch: Dreier, DÖV 1995, S. 1040; Lindner, DÖV 2006, S. 580; Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 361. So auch: Lindner, DÖV 2006, S. 580. Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 166. Vgl. 2. Kapitel B III. Kloepfer, FS 50 Jahre BVerfG, S. 101. Er koordiniert dies, indem er auch Einschränkungen der Menschenwürde zulässt. Ansonsten müsste die Würde eng ausgelegt werden und ihre Anwendung verlöre an praktischer Relevanz. Im Ergebnis stellt er die beiden Grundrechtsgewährleistungen nicht gleich, sondern nimmt eine Grundrechtseinheit nur in besonderen Fällen an.
D. Verhältnis von Menschenwürde und Lebensrecht
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aufgeladen.556 Nach Herdegen ist menschliche Würde in Abstraktion von menschlichem Leben nicht denkbar, so dass auch das menschliche Leben als Höchstwert der Verfassung zu begreifen sei. Herdegen spricht von einem Menschenwürdekern des Art. 2 Abs. 2 GG.557 Unabhängig davon wie man die enge Verbindung zwischen Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG umschreibt, ist man sich darüber einig, dass nicht jeder Eingriff in das Leben zugleich einen Menschenwürdeverstoß darstellt.558 Dies widerspräche schon dem Gesetzesvorbehalt des Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG, der Eingriffe in das Recht auf Leben auf Grund eines Gesetzes ermöglicht. Für zulässig befunden wird es, wenn der Staat einen Kriegseinsatz befiehlt, bei dem der Tod der Soldaten ernsthaft zu befürchten ist.559 Der finale Rettungsschuss im Polizeirecht ist teilweise ausdrücklich gesetzlich vorgesehen, wie beispielsweise in § 41 Abs. 2 S. 2 MEPolG; Art. 66 Abs. 2 S. 2 BayPAG. § 32 StGB rechtfertigt bei Vorliegen eines gegenwärtigen rechtswidrigen Angriffs die Tötung des Angreifers aus Notwehr, sofern diese auch geboten ist. Bei Vorliegen einer Notstandslage kann die Tötung gemäß § 35 StGB entschuldigt sein. Ein Verstoß gegen die unantastbare Menschenwürde wird hierbei nicht angenommen. Andererseits liegen in Fällen schwerer rechtlicher Diskriminierung oder bei Folter Menschenwürdeverletzungen unzweifelhaft vor, ohne dass das Lebensgrundrecht des Art. 2 Abs. 2 GG betroffen ist. Die Beispiele veranschaulichen, dass die beiden Garantien einen unterschiedlichen Gewährleistungsbereich aufweisen. Während Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG die physische Existenz des Menschen schützt, geht es bei Art. 1 Abs. 1 GG um die Gewährleistung des sozialen Wert- und Achtungsanspruchs. Eingriffe in das Leben stellen daher nur dann zugleich einen Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 GG dar, wenn sie menschliches Leben rein fremdnützig instrumentalisieren oder den Wert- und Achtungsanspruch des Menschen durch besondere Begleitumstände oder Eigenschaften der Eingriffshandlung missachten.560 Höfling umschreibt dieses Verhältnis von Menschenwürde und den anderen Grundrechten mit dem Grundsatz der partiellen Spezialität und Subsidiarität.561 Grundsätzlich sind danach die besonderen Freiheitsrechte, in diesem Fall Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG, vorrangig heranzuziehen, da sie auf einen speziellen Wirklichkeitsausschnitt bezogen und dadurch besser konkretisiert sind.562 Es besteht allerdings keine Subsidiarität wie bei Art. 2 Abs. 1 GG. Bei Vorliegen besonderer Begleitumstände und Eigenschaften kann auch zugleich ein Verstoß gegen Art. 1 556 557 558
559 560
561 562
Baumann, DÖV 2004, S. 857. Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Art. 1 I Rn. 21. Baumann, DÖV 2004, S. 858; Classen, DÖV 2009, S. 697; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Abs. 2 Rn. 14 f.; Hufen, JuS 2010, S. 7; Kloepfer, FS 50 Jahre BVerfG, S. 101; Lindner, DÖV 2006, S. 581. Ausführliche Darstellung bei Dreier, JZ 2007, S. 662 ff. Besondere Voraussetzungen fordern auch: Böckenförde-Wunderlich, Präimplantationsdiagnostik, S. 160; Höfling, JuS 1995, S. 861 f.; Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 362; Lindner, DÖV 2006, S. 584. Höfling, JuS 1995, S. 861 f. In diese Richtung auch: BVerfGE 51, 97 (105).
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
Abs. 1 GG vorliegen. Die tabuverletzende oder schwere Beeinträchtigung eines anderen Grundrechtsguts, die dem Menschen eine der elementaren Existenz- oder Entfaltungsbedingungen verwehrt, ist immer auch ein Menschenwürdeverstoß. Schließlich gewährt Art. 1 Abs. 1 GG einen Auffangschutz gegenüber solchen schweren Beeinträchtigungen, die kein anderes Grundrecht erfasst. Für den hier zu betrachtenden Sachverhalt des Schwangerschaftsspätabbruchs bedeutet dies, dass der Schwangerschaftsabbruch zunächst einmal eine Tötung darstellt, die anhand des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG zu bemessen ist. Unter Umständen kann ein Schwangerschaftsabbruch aber auch eine Würdeverletzung des nasciturus bedeuten.563
E. Verbot behinderungsbezogener Diskriminierung gemäß Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG verbietet es, jemanden wegen seiner Behinderung zu benachteiligen. Dieses Verbot wurde erst 1994 im Rahmen der Verfassungsreform in das Grundgesetz aufgenommen.564 Zeitlich liegt das Inkrafttreten damit zwischen dem 2. Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Schwangerschaftsabbruch im Jahr 1993 und dem Inkrafttreten des Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetzes im Jahr 1995, was erklärt, weshalb das Bundesverfassungsgericht den Schutz des ungeborenen Lebens ausschließlich aus Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 2 GG ableitete. Im Folgenden soll betrachtet werden, ob Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG den nasciturus vor Benachteiligungen Privater schützt. Im Anschluss sollen die Voraussetzungen des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG dargestellt werden.
I. Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG als Grundlage einer staatlichen Schutzpflicht Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG beinhaltet ein subjektives Grundrecht, das die öffentliche Gewalt bindet.565 Der Staat selbst hat folglich Diskriminierungen wegen einer Behinderung zu unterlassen. Benachteiligungen können allerdings auch von privater Seite drohen. Vorstellbar sind sie im hier zu bearbeitenden Kontext insbesondere dann, wenn sich bei Feststellung einer Behinderung in der Pränataldiagnostik ein gesetzeswidriger Abtreibungsautomatismus entwickelt. Privatpersonen werden durch Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG aber nicht unmittelbar verpflichtet. Es stellt sich daher die Frage, ob Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG eine staatliche Schutzpflicht begründet. Teilweise stößt die Ableitung einer Schutzpflicht aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG auf Widerspruch. Es wird darauf verwiesen, dass Art. 3 Abs. 3 GG im Gegensatz zu Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG oder Art. 6 Abs. 5 GG keine entsprechende Formulierung 563 564 565
Dazu später im 4. Kapitel B. BGBl. I S. 3146. Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Kommentar, Art. 3 Abs. 3 Rn. 417.
E. Verbot behinderungsbezogener Diskriminierung gemäß Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG
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enthalte, die den Staat zum aktiven Schutz aufrufe. Dies spreche dafür, die vom Verfassungsgeber bezweckte Stärkung der Behinderten in der Gesellschaft als Staatszielbestimmung zu begreifen und nicht von einer generellen objektivrechtlichen Schutzpflicht im engeren Sinne auszugehen.566 Argumentiert wird darüber hinaus, dass die grundrechtliche Freiheit nur im Verhältnis der Individuen zur Staatsgewalt bestehe und nicht in ihrem Verhältnis zueinander. Hier walte Privatautonomie, in der sich Individualität, mithin reale Ungleichheit, rechtlich zur Geltung bringen könne. Diskriminierungen, die zugleich eine Würdeverletzung darstellten, aktivierten allerdings die Schutzpflicht des Staates. Dadurch werde ein menschenrechtlicher Mindeststandard an Gleichheit gewährleistet.567 Andererseits werden aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG auch Schutzpflichten abgeleitet.568 Die genaue Festlegung der Differenzierungskriterien schaffe konkret fassbare Schutzgegenstände. Aus der objektiven Wertentscheidung der Norm könne folglich eine staatliche Schutzpflicht abgeleitet werden.569 Vertritt man, dass grundrechtliche Schutzpflichten in den objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalten wurzeln,570 so erscheint es konsequent, auch den besonderen Gleichheitsrechten generell eine Schutzwirkung zuzuerkennen. Einer ausdrücklichen Bestätigung dieser Schutzwirkung im Verfassungstext bedarf es dazu wie bei den Freiheitsgrundrechten nicht. Die Privatautonomie bleibt bei der Annahme einer Schutzpflicht erhalten, denn Schutzpflichten können flexibel erfüllt werden. Der Spannung zwischen grundrechtlicher Freiheit und Gleichheit kann dadurch angemessen Rechnung getragen werden.571 Im Ergebnis ergibt sich aus dem objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalt des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG auch eine Schutzpflicht des Staates.
II. Der Gewährleistungsbereich des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG 1. Grundrechtsträgerschaft Fraglich ist, ob der nasciturus Träger dieses Grundrechts ist. Osterloh lehnt die Erstreckung des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG auf den nasciturus ab, „denn weder die Gleichheitsperspektive noch der besondere Schutzzweck der Integrationsförderung Behinderter lassen sich ohne Zynismus auf die schwierige Situation insbe-
566
567
568 569 570 571
Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG Kommentar, Art. 3 Rn. 142; Osterloh, in: Sachs, GG Kommentar, Art. 3 Rn. 307; Scholz, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Art. 3 Abs. 3 Rn. 174. Isensee, in: Isensee/Kirchhof, HStR V, § 111 Rn. 96; Zweifelnd gegenüber einer Schutzpflicht aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG auch: Heun, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 3 Rn. 138. Eckertz-Höfer, in: AK GG, Art. 3 Abs. 2, 3 Rn. 132; Giwer, Präimplantationsdiagnostik, S. 129 ff.; Höfling, KritV 1998, S. 103 f. Giwer, Präimplantationsdiagnostik, S. 130 f.; Höfling, KritV 1998, S. 103 f.; Sachs, in: Isensee/Kirchhof, HStR V, § 126 Rn. 122. Vgl. dazu 2. Kapitel A II 1, 2 e). Giwer, Präimplantationsdiagnostik, S. 131.
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
sondere schwerer vorgeburtlicher Schäden beziehen“.572 Dem ist entgegenzuhalten, dass eine behinderungsbezogene Benachteiligung prinzipiell auch bei Ungeborenen denkbar ist. Beispielsweise würde eine rein embryopathische Indikation, die allein aufgrund der Behinderung des nasciturus einen Schwangerschaftsabbruch erlauben würde, eine solche Benachteiligung darstellen. Nach dem Wortlaut des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG darf „niemand“ benachteiligt werden. Dabei wird der Begriff „niemand“ komplementär zu „jeder“ verwendet.573 Die Begriffe „Mensch“ in Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG und „jeder“ in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG beziehen sich nach der hier vertretenen Auffassung auch auf den nasciturus. Da die Verfassung einheitlich auszulegen ist, ist das ungeborene Kind auch als Träger des Grundrechts aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG anzusehen.574 Gestützt wird dieses Ergebnis durch historische und teleologische Aspekte. Die Differenzierungsverbote des Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG sind als Reaktion auf die Verfolgungen des nationalsozialistischen Regimes zu begreifen. Durch die Einführung des Benachteiligungsverbots des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG wurden Behinderte als Gruppe, die ebenfalls den nationalsozialistischen Euthanasieprogrammen zum Opfer fielen, explizit in den verfassungsrechtlichen Schutz einbezogen. Dadurch wollte man ein Versäumnis des Parlamentarischen Rats korrigieren.575 Das nationalsozialistische Regime bedrohte indes nicht nur geborene behinderte Menschen, sondern forderte auch Schwangerschaftsabbrüche und Zwangssterilisationen.576 Diese historischen Aspekte sprechen folglich ebenfalls für die Erstreckung des Geltungsbereichs des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG auf den nasciturus.577 Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG gilt somit wie Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG und Art. 1 Abs. 1 GG für alle Angehörigen der Spezies Mensch unabhängig von ihrem Entwicklungsstand, zu der auch der nasciturus gehört.578 2. Der Begriff der Behinderung Was unter dem Verfassungsbegriff der Behinderung zu verstehen ist, ergibt sich nicht unmittelbar aus den Gesetzesmaterialien. Zum Zeitpunkt der Verfassungsänderung war der in § 3 Abs. 1 S. 1 SchwbG verwendete Begriff gebräuchlich. Danach sind Menschen behindert, „die von Auswirkungen einer nicht nur vorübergehenden Funktionsbeeinträchtigung betroffen sind, die auf einem regelwidrigen 572 573 574 575 576 577 578
Osterloh, in: Sachs, GG Kommentar, Art. 3 Rn. 308, Fn. 684. v. Dewitz, ZfL 2009, S. 77; Hofstätter, Der embryopathisch motivierte Schwangerschaftsabbruch, S. 69. v. Dewitz, ZfL 2009, S. 77; a. A. Czerner, ZRP 2009, S. 235. BT-Drs. 12/6323, S. 12. Vgl. das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14.7.1933, RGBl 1933 I, S. 529 ff. Giwer, Präimplantationsdiagnostik, S. 122. Für eine Grundrechtsträgerschaft des Nasciturus: v. Dewitz, ZfL 2009, S. 77. Auch Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Kommentar, Art. 3 Abs. 3 Rn. 421 bezieht den Nasciturus in den Gewährleistungsbereich des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG ein, ohne dies allerdings näher zu begründen; nach Individuation sieht auch Heun, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 3 Rn. 136, den Nasciturus als Träger des Grundrechts aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG an; Reichenbach, Jura 2000, S. 625 ff.
E. Verbot behinderungsbezogener Diskriminierung gemäß Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG
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körperlichen, geistigen oder seelischen Zustand beruht“. Diese Definition legte das Bundesverfassungsgericht seinem Beschluss zur Benachteiligung Behinderter im Schulwesen vom 8. Oktober 1997 zugrunde.579 Einig ist man sich wohl darüber, dass Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG nicht nur auf Schwerbehinderte beschränkt ist, sondern auch Menschen mit leichteren Behinderungen vor Benachteiligungen schützen will.580 Unter den Begriff der Behinderung sind folglich alle Funktionsbeeinträchtigungen subsumierbar, die bereits während der vorgeburtlichen Entwicklung bestehen und sich für das weitere Leben und die Entwicklung des nasciturus nachteilig auswirken. Problematisch ist jedoch, ob eine Behinderung auch dann bejaht werden kann, wenn zunächst lediglich eine genetische Disposition gegeben ist, die den nasciturus momentan nicht in seiner Weiterentwicklung hindert, sondern erst künftig in seiner Funktion beeinträchtigt. Schon vor der Grundgesetzänderung wurde als Behinderter auch derjenige qualifiziert, dem lediglich eine Behinderung drohte (§10 SGB I).581 Da der Verfassungsgeber an die bisherigen einfachgesetzlichen Begrifflichkeiten anknüpfen wollte, fällt auch der nasciturus in den sachlichen Anwendungsbereich des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG, der erst zu einem späteren Zeitpunkt beeinträchtigt sein wird. 3. Benachteiligung „wegen“ einer Behinderung Aufgrund des Benachteiligungsverbots in Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG scheidet das Merkmal der Behinderung von Verfassungswegen als sachlicher Grund für eine Ungleichbehandlung aus. Eine behinderungsbezogene Benachteiligung kann zum einen durch eine gesetzliche Regelung direkt erfolgen, wenn sie wie in den Fällen der vormals geltenden embryopathischen Indikation an die Behinderung nachteilige Rechtsfolgen knüpft.582 Benachteiligungen können aber auch mittelbar sein, wenn sich ein Gesetz beispielsweise rein faktisch für Menschen mit Behinderung im Vergleich zu Menschen ohne Behinderung nachteilig auswirkt.583 Die Beantwortung der Frage, ob mittelbare und verdeckte Benachteiligungen von Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG erfasst werden, hängt davon ab, wann eine Benachteiligung „wegen“ einer Behinderung erfolgt. Diese Frage wird im juristischen Schrifttum kontrovers beurteilt.584 Das Wort „wegen“ deutet zunächst auf einen kausalen Zusammenhang zwischen der Ungleichbehandlung und dem Abstellen auf die Behinderung hin. Fraglich ist, ob darüber hinaus eine Ungleichbehandlung vom Gesetzgeber intendiert sein muss. Das Bundesverfassungsgericht vertrat in seiner früheren Rechtsprechung das so genannte Finalitätsmodell. Hiernach verbot Art. 3 Abs. 3 GG ledig579
580 581 582 583 584
BVerfGE 96, 288 (301); bestätigt durch: BVerfGE 99, 341 (356 f.); so auch die Literatur: Heun, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 3 Rn. 135; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Kommentar, Art. 3 Abs. 3 Rn. 418. Heun, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 3 Rn. 135. v. Dewitz, ZfL 2009, S. 78; Giwer, Präimplantationsdiagnostik, S. 121. Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Kommentar, Art. 3 Abs. 3 Rn. 421. Heun, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 3 Rn. 137. Eine ausführliche Darstellung dazu findet sich bei v. Dewitz, ZfL 2009, S. 78 f.
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
lich solche Benachteiligungen, die vom Gesetzgeber intendiert waren.585 Mittlerweile hat das Bundesverfassungsgericht diese Auffassung selbst für überholt erklärt.586 In der Literatur werden die Differenzierungsverbote des Art. 3 Abs. 3 GG teilweise als Begründungsverbote verstanden. Ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 3 GG liege dann nicht vor, wenn eine Ungleichbehandlung begründet werden könne, ohne dass auf die genannten Merkmale als Kriterien abgestellt werden müsse.587 Diese Auffassungen laufen indes Gefahr, an die verbotenen Merkmale anzuknüpfen und die Ungleichbehandlung durch Alternativbegründungen für legitim zu erklären. Zu befürchten ist, dass der vom Verfassungsgeber intendierte Schutzzweck weitgehend leer läuft, da die Fälle der verdeckten, indirekten und mittelbaren Benachteiligung von Menschen mit einer Behinderung nicht erfasst werden. Das BVerfG beantwortet die Frage, wann eine Benachteiligung „wegen“ der Behinderung stattfindet, nach Aufgabe des Finalitätsmodells mit dem so genannten Kausalitätsmodell. Danach darf eine Behinderung nicht hinweggedacht werden können, ohne dass die Benachteiligung entfällt.588 Eine Diskriminierung von Menschen mit einer Behinderung muss daher nicht gezielt verfolgt werden. Darüber hinaus sind auch verdeckte und mittelbare Diskriminierungen nicht mit Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG vereinbar. Eine Modifikation erfährt das Kausalitätsmodell durch das so genannte Anknüpfungsverbotsmodell.589 Das Merkmal der Behinderung darf nicht als Anknüpfungspunkt für eine Unterscheidung herangezogen werden. Eine gesetzliche Regelung, die zu einem Nachteil des behinderten Menschen führt, der ohne Behinderung nicht vorliegen würde, stellt nach dieser Auffassung eine Benachteiligung „wegen“ der Behinderung dar, auch wenn der Wortlaut der gesetzlichen Regelung nicht ausdrücklich an die Behinderung anknüpft und eine Benachteiligung gezielt verfolgt. Nach beiden Auffassungen kann eine Benachteiligung wegen einer Behinderung auch dann bejaht werden, wenn sie mittelbar, indirekt und ungezielt rein faktisch besteht. 4. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung behinderungsbezogener Ungleichbehandlung Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG enthält keinen Gesetzesvorbehalt. Lediglich durch verfassungsimmanente Schranken kann eine behinderungsbezogene Benachteiligung folglich gerechtfertigt sein. Eine gesetzliche Regelung, die das Grundrecht aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG einschränkt, aber dem Schutz eines höherrangigen Grundrechts dient, ist mit der Verfassung vereinbar, wenn kein gleich geeignetes, milde585 586 587 588 589
BVerfGE 2, 266 (286); 39, 334, (368); 59, 128 (157); 75, 40 (70). BVerfGE 85, 191 (206). Heun, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 3 Rn. 124. BVerfGE 85, 191 (206). v. Dewitz, ZfL 2009, S. 78 f.; Sachs, in: Isensee/Kirchhof, HStR V, § 126 Rn. 66, 70; Scholz, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Art. 3 Abs. 3 Rn. 174; Stein, AK GG, Art. 3 Rn. 85.
F. Kollidierende Rechtsgüter der Schwangeren
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res Mittel existiert, um den Schutz des anderen Grundrechts zu erreichen.590 Es ist eine strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung anzustellen. Im Einklang mit dem Wortlaut und der systematischen Stellung des Benachteiligungsverbots sind analog zu den speziellen Diskriminierungsverboten des Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG zwingende Gründe für die Rechtfertigung eines Nachteils wegen einer Behinderung erforderlich.591 5. Ergebnis Der nasciturus ist als Grundrechtsträger des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG anzusehen. Der Staat hat einerseits selbst Beeinträchtigungen dieses Grundrechts zu unterlassen, andererseits den nasciturus vor Beeinträchtigungen Privater zu schützen. Eine Benachteiligung ist nur dann gerechtfertigt, wenn kollidierende überwiegende Grundrechte Dritter diese zwingend erfordern.
III. Zwischenresümee Die vorstehenden Untersuchungen haben gezeigt, dass der nasciturus bereits ab Befruchtung als Träger der in Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 2 S. 1, 3 Abs. 3 S. 2 GG normierten Grundrechte anzusehen ist. Für den Staat folgt daraus eine Schutzpflicht, das ungeborene Leben vor Würdeverletzungen, Tötung und Benachteiligungen von Seiten Privater zu schützen. Die Intensität des zu gewährleistenden Schutzes nimmt nicht mit fortschreitender Entwicklung zu, sondern ist zu jedem Zeitpunkt der menschlichen Entwicklung gleich. Die Tatsache, dass Spätabbrüche zu einem Zeitpunkt stattfinden, zu dem der Fötus bereits so weit entwickelt ist, dass er bereits extrauterin lebensfähig ist, erfordert keinen intensiveren Schutz.
F. Kollidierende Rechtsgüter der Schwangeren Während bei der Abwehrfunktion der Grundrechte ein bipolares Verhältnis zwischen Bürger und Staat besteht, erweitert sich dieses Verhältnis bei grundrechtlichen Schutzpflichten zu einem Beziehungsdreieck von Störer-Opfer-Staat. Sobald der Staat zum Schutz des Opfers in eine private Handlung eingreift, liegt zugleich ein Eingriff in die Rechte des Störers vor. Neben den grundrechtlichen Belangen des Opfers sind somit immer auch die Grundrechte des Störers zu beachten. Verbietet der Staat nun einer Schwangeren zum Schutz des nasciturus einen Schwangerschaftsabbruch oder trifft er sonstige Schutzmaßnahmen, indem er ihr beispielsweise eine Beratungspflicht auferlegt, so greift er dadurch zugleich in Grundrechte der Schwangeren ein.
590 591
v. Dewitz, ZfL 2009, S. 79. Osterloh, in: Sachs, GG Kommentar, Art. 3 Rn. 314; Scholz, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Art. 3 Abs. 3 Rn. 177.
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
Im fünften Leitsatz des zweiten Urteils zum Schwangerschaftsabbruch führt das Bundesverfassungsgericht aus, dass „ausgehend vom Anspruch der schwangeren Frau auf Schutz und Achtung ihrer Menschenwürde (Art. 1 I GG) – vor allem ihr Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 II GG) sowie ihr Persönlichkeitsrecht (Art. 2 I GG) in Betracht“592 kommen. Die gesetzlichen Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch müssen auch die Grundrechtspositionen der Schwangeren beachten. Im Folgenden sollen daher die Rechtsgüter der Schwangeren genauer in den Blick genommen werden, die bei einem Abbruchsverbot betroffen sein können.
I. Enge oder weite Tatbestandstheorie Bevor auf die einzelnen grundrechtlichen Verbürgungen eingegangen wird, ist vorab zu klären, ob die Grundrechte der Schwangeren grundsätzlich einen Schwangerschaftsabbruch umfassen können. Der Streit zwischen der so genannten engen und weiten Tatbestandskonzeption ist hier von grundsätzlicher Bedeutung. Nach der engen Tatbestandstheorie ist der Schutzbereich eines Grundrechts insoweit beschränkt, als gewaltsames Handeln von vornherein aus dem Tatbestand ausgeschlossen ist und nicht erst auf der Schrankenebene als nachrangig behandelt wird.593 Im Bezug auf Schwangerschaftsabbrüche hätte dieses Verständnis zur Folge, dass sich die Schwangere weder auf ihr allgemeines Persönlichkeits- oder Selbstbestimmungsrecht noch auf ihre allgemeine Handlungsfreiheit berufen könnte. Für die enge Tatbestandstheorie wird angeführt, dass das physische Gewaltmonopol dem Staat überantwortet worden sei, um den beliebigen Übergriff Privater in das Leben anderer zu vermeiden und das Leben der Bürger zu schützen. Daher könne der Bürger kein verallgemeinerbares Freiheitsrecht haben, mit physischem Zwang auf andere einzuwirken. Die Anwendung von körperlicher Gewalt sei vielmehr aus dem Schutzbereich grundrechtlicher Freiheitsgarantien auszuklammern.594 Da das störende Handeln nach dieser Sichtweise keinen tatbestandlichen Schutz genießt, bedürfen Schutzmaßnahmen des Staates, die sich gegen ein solches Handeln richten, konsequenterweise auch keiner grundrechtlichen Eingriffsrechtfertigung.595 592 593
594
595
BVerfGE 88, 203 (203). Eine enge Tatbestandstheorie wird beispielsweise vertreten von: Isensee, in: Isensee/Kirchhof, HStR V, § 111 Rn. 171 ff.; Kluth, in: Tomas/Kluth, Das zumutbare Kind, S. 111; Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 123 ff.; Starck, JuS 1981, S. 245 f. Isensee, in: Isensee/Kirchhof, HStR V, § 111 Rn. 176; da die Klärung, ob ein Verhalten im Einzelfall schädigend ist oder nicht, schwierig sein kann, beschränkt Isensee in Rn. 180 die Anwendbarkeit der engen Tatbestandstheorie auf evidente Fälle der Gewaltanwendung; Kluth, in: Thomas/Kluth, Das zumutbare Kind, S. 111; Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 127. Aus dem grundrechtlichen Tatbestand wird allerdings nur die Rechtsverletzung als solche ausgegrenzt. Die Qualität des Grundrechtseingriffs entfällt nur für deren Verbot
F. Kollidierende Rechtsgüter der Schwangeren
125
Nach der weiten Tatbestandstheorie umfasst der grundrechtliche Tatbestand lückenlos jedes Verhalten, welches thematisch seinem Schutzbereich zuzuordnen ist, unabhängig davon, ob Dritte durch dieses Verhalten geschädigt werden.596 Der Schwangerschaftsabbruch könnte folglich nach dieser Sichtweise in den Schutzbereich der genannten Grundrechte fallen. Die weite Tatbestandstheorie kann sich auf den Friedlichkeitsvorbehalt des Art. 8 Abs. 1 GG und die Schranke der allgemeinen Gesetze in Art. 5 Abs. 2 GG stützen, aus denen sich ergibt, dass das neminem-laedere Gebot nicht als apriorische Schranke jeder freiheitlichen Betätigung angesehen werden kann.597 Der häufig gegen die weite Tatbestandstheorie geltend gemachte Einwand, dass sie eine „groteske – das Rechtsbewußtsein zersetzende – Vorstellung eines Grundrechts auf Töten, auf Stehlen und Hehlen“ erzeuge,598 überzeugt nicht. Im Ergebnis unterstützt auch die weite Tatbestandstheorie kein evident sozialschädliches Verhalten, da die zunächst gewährte Freiheit auf Schrankenebene wieder restringiert wird.599 Die Vorzugswürdigkeit der weiten Tatbestandstheorie ergibt sich schließlich aus einem Vergleich der Konsequenzen von weiter und enger Tatbestandskonzeption: Vertritt man eine enge Tatbestandstheorie, so ist ein schädigendes Verhalten aus dem Tatbestand des Grundrechts auszuklammern. Vertritt man demgegenüber eine weite Tatbestandstheorie, so muss man sich gegebenenfalls mit gegenläufigen Prinzipien auseinandersetzen und Abwägungsentscheidungen treffen. Vertreter der engen Tatbestandstheorie halten es für vorteilhaft, dass Grundrechtskollisionen, deren Lösung immer schwierig ist, seltener sind als bei einer weiten Tatbestandstheorie600 und die Abwägungsebene, die für subjektive Präferenzentscheidungen empfänglich ist, vermieden wird.601 Prima facie scheinen diese Gesichtspunkte für ein enges Tatbestandsverständnis zu sprechen. Sie rechtfertigen es aber nicht, auf eine Abwägung zu verzichten, denn nur auf der Basis einer weiten Tatbestandstheorie ist es möglich, divergierende Interessenstandpunkte mit Hilfe eines transparenten und kontrollierbaren Subsumtionsprozesses in angemessener Weise zu berücksichtigen.602
596
597 598 599 600 601 602
durch Gesetz, Verwaltungsakt oder Urteil. Für die Durchsetzung des Verbots durch beispielsweise Verwaltungszwang oder für seine Sanktionen entfällt die Eingriffsqualität nicht. vgl. Isensee, in: Isensee/Kirchhof, HStR V, § 111 Rn. 181. Ein weites Tatbestandsverständnis wird vertreten von: Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 290 ff.; Höfling, in: Thomas/Kluth, Das zumutbare Kind, S. 121 ff., 123; für ein weites Tatbestandsverständnis der Forschungsfreiheit: Dederer, JZ 2003, S. 987; Schwarz, KritV 2001, S. 191. Höfling, ZfL 2002, S. 36 f. Starck, JuS 1981, S. 245 f. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 298. Isensee, in: Isensee/Kirchhof, HStR V, § 111 Rn. 174. Isensee, in: Isensee/Kirchhof, HStR V, § 111 Rn. 175; Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 128. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 298; Höfling, in: Thomas/Kluth, Das zumutbare Kind, S. 123.
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
Im Ergebnis ist daher die weite Tatbestandstheorie vorzugswürdig. Die Grundrechte der Schwangeren können folglich grundsätzlich auch das Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch verbürgen.
II. Art. 1 Abs. 1 GG Art. 1 Abs. 1 GG verpflichtet den Staat, die Würde jedes Menschen zu achten. Fraglich ist, ob eine Rechtspflicht der Mutter zur Austragung des Kindes eine Würdeverletzung darstellt. Eine Menschenwürdeverletzung liegt nach der oben befürworteten negativen Definition vor, wenn die Schwangere zum Objekt staatlicher Interessen degradiert wird, was nur durch eine wertende Gesamtbetrachtung festgestellt werden kann.603 Im Normalfall ist dies sicherlich zu verneinen. Die Schwangerschaft wird nicht durch eine staatliche Zwangslage verursacht, sondern durch eigenverantwortliches Handeln beim Geschlechtsakt.604 Die Subjektsqualität der Schwangeren wird durch eine grundsätzliche Austragungspflicht nicht in Frage gestellt, da sie zur Schwangerschaft selbst beigetragen hat und nun lediglich die Konsequenzen aus diesem Tun trägt.605 Eine Menschenwürdeverletzung der Mutter ist aber dann denkbar, wenn sie zum bloßen „Nährboden“ des Fötus und damit zum Objekt herabgewürdigt wird.606 Eine Würdeverletzung wurde insbesondere im „Erlanger Babyfall“ diskutiert, in dem eine im vierten Monat schwangere Frau bei einem Verkehrsunfall erhebliche Kopfverletzungen erlitt, die schließlich zum Hirntod führten. Zur Lebensrettung des Kindes wurden die Körperfunktionen der Mutter durch Beatmung und Ernährung aufrechterhalten.607 Zur bloßen „Bruthülle“ degradiert und zum Objekt herabgewürdigt würde die Schwangere jedenfalls dann, wenn ihr der Schwangerschaftsabbruch grundsätzlich ohne Rücksicht auf eine Lebensgefahr oder ernsthafte Gesundheitsschädigung verboten würde. Eine ausnahmslose Gebärpflicht in diesen Fällen würde die Schwangere nur als Gefäß für den nasciturus anerkennen und somit verobjektivieren. Ein Menschenwürdeverstoß wäre dann anzunehmen.608
603 604
605 606 607
608
Zur Frage, wann eine Menschenwürdeverletzung vorliegt, vgl. die Ausführungen im 2. Kapitel B IV 4. Als eigenverantwortlich kann eine auf einer Vergewaltigung basierende Schwangerschaft freilich nicht qualifiziert werden. Die Fälle der kriminologischen Indikation sollen bei der vorliegenden Betrachtung aber außer Betracht bleiben, da eine solche lediglich bis zur 12. Woche einen Schwangerschaftsabbruch rechtfertigen kann. v. Dewitz, ZfL 2009, S. 79. Hochreuter, KJ 1994, S. 69. FAZ v. 24. 10. 92, S. 8; Pressemitteilung der Universitätsklinik Erlangen, abgedruckt in: Medizinische Ethik Nr. 46 (Beilage zum Ärzteblatt Baden Württemberg Nr. 1/93) S. 1 ff. So auch: Hochreuter, KJ 1994, S. 69.
F. Kollidierende Rechtsgüter der Schwangeren
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III. Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG Eine Rechtspflicht zum Austragen des Kindes tastet das Recht auf Leben der Schwangeren aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 1. Alt. GG an, wenn das Leben der Frau durch die Schwangerschaft aufgrund physischer Probleme bedroht ist, wie beispielsweise bei Gebärmutterhalskrebs oder einem Herzleiden der werdenden Mutter. Die Anforderungen an den klassischen Eingriffsbegriff wären zwar nicht erfüllt,609 da ein Schwangerschaftsabbruchsverbot hierbei nicht final auf den Entzug des Lebens der Mutter gerichtet wäre und auch nicht unmittelbar zum Tod der Schwangeren führte. Der Tod träte vielmehr unmittelbar aufgrund der physischen Konstitution der Schwangeren ein. Nach erweitertem Verständnis des modernen Eingriffsbegriffs liegen Eingriffe in Art. 2 Abs. 2 GG aber vor, wenn sie final oder unbeabsichtigt erfolgen, mittelbar oder unmittelbar wirken, rechtliche oder bloß tatsächliche Wirkungen zeitigen und mit oder ohne staatlichen Befehl oder Zwang erfolgen, sofern sie von der öffentlichen Gewalt zurechenbar verursacht werden.610 Ein Abbruchsverbot würde sich folglich in den genannten Fällen als Eingriff in das Recht auf Leben der Schwangeren darstellen. Ein mittelbarer Eingriff in das Recht auf Leben durch ein Abbruchsverbot läge auch dann vor, wenn die Schwangere durch die Schwangerschaft in Suizidgefahr gerät.611 Ein Abbruchsverbot beeinträchtigte außerdem das Recht der Schwangeren auf körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 2 S. 1 2. Alt. GG, das sowohl die physische als auch psychische Integrität der Schwangeren schützt.612 Die körperliche Unversehrtheit wird bei einer Schwangerschaft schon durch die damit einhergehenden körperlichen Veränderungen betroffen. Die Schwangerschaft ist zwar keine „Krankheit“ im typischen Sinn. Allerdings ist sie regelmäßig mit Schmerzen verbunden. Daher ist die körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 2 S. 1 2. Alt. GG immer betroffen.613 Darüber hinaus kann die Schwangerschaft weitere physische und psychische Beeinträchtigungen auslösen, so dass auch in diesen Fällen ein Abbruchsverbot als Eingriff des Staates in die körperliche Unversehrtheit der Schwangeren zu qualifizieren wäre.
609 610 611
612 613
Zum klassischen Eingriffsbegriff vgl. Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Vorb. Rn. 124. Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 2 II Rn. 42. Einen Eingriff in das Lebensrecht will Weilert in den Fällen einer durch eine Depression ausgelösten Suizidgefahr nicht annehmen, da der Tod der Frau auf einem zusätzlichen Entschluss und einer zusätzlichen Handlung basiert. Lediglich ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit könne in einem solchen Falle bejaht werden. Vgl. Weilert, in: Weilert, Spätabbruch, S. 285 ff. Murswiek, in: Sachs, GG Kommentar, Art. 2 Rn. 148 ff. Correll, in: AK GG, Art. 2 Abs. 2 Rn. 95.
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
IV. Art. 4 Abs. 1 GG Ein Abbruchsverbot könnte auch einen Eingriff in die Gewissensfreiheit der Schwangeren darstellen. In der ersten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch führt das Bundesverfassungsgericht aus, dass „die Entscheidung zu einem Abbruch einer Schwangerschaft den Rang einer achtenswerten Gewissensentscheidung haben kann“.614 Die vom Grundgesetz durch Art. 4 Abs. 1 GG gewährleistete Gewissensfreiheit umfasst „jede ernste sittliche, d.h. an den Kategorien von „Gut“ und „Böse“ orientierte Entscheidung…, die der Einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfährt, so dass er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte“.615 Von der Gewissensfreiheit umfasst ist nicht nur das Recht, ein Gewissen zu haben oder ein solches frei bilden zu können, sondern auch das Recht, nach seinem Gewissen handeln zu dürfen.616 Auf der Grundlage dieser Definition ist kaum denkbar, dass die Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch als Gewissensentscheidung qualifiziert werden kann. Die Schwangere wird nur selten der Meinung sein, dass die Tötung ihres ungeborenen Kindes einer unbedingten sittlichen Pflicht entspricht. Die durch Art. 4 Abs. 1 GG garantierte Gewissensfreiheit ist daher meist nicht einschlägig.617 Es erscheint allerdings nicht unvorstellbar, dass eine Schwangere, die ein anencephales Kind in sich trägt, sich aus Gewissensgründen für den Abbruch der Schwangerschaft entscheidet. In diesen Fällen ist der Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1 GG eröffnet.
V. Allgemeines Persönlichkeitsrecht/ Selbstbestimmungsrecht Das allgemeine Persönlichkeitsrecht, das vom Bundesverfassungsgericht aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG abgeleitet wurde,618 sichert grundsätzlich einen abgeschirmten Bereich privater Lebensgestaltung.619 Die Schwangerschaft betrifft die Intimsphäre der Frau und fällt damit in den Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts.620 Daraus folgt beispielsweise, dass die Schwangere Informationen über ihre Schwangerschaft nicht mitteilen muss. Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit beinhaltet nach Aussage des 614
615 616 617 618 619 620
BVerfGE 39, 1 (48). Im zweiten Urteil zum Schwangerschaftsabbruch, BVerfGE 88, 203, führte das Bundesverfassungsgericht im fünften Leitsatz der Entscheidung aus, dass die Schwangere „für die mit einem Schwangerschaftsabbruch einhergehende Tötung des Ungeborenen nicht eine grundrechtlich in Art. 4 Abs. 1 GG geschützte Rechtsposition in Anspruch nehmen“ könne. BVerfGE 12, 45 (55); 48, 127 (173). Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Kommentar, Art. 4 Abs. 1, 2 Rn. 13. So auch Beckmann, MDR 1992, S. 1095. St. Rspr.: Vgl. nur BVerfGE 35, 202 (219); 72 , 155 (170); 82, 236 (269); 90, 263 (270). Dreier, in: Dreier, GG Kommentar, Art. 2 I Rn. 70. BVerfGE 39, 1 (42).
F. Kollidierende Rechtsgüter der Schwangeren
129
Bundesverfassungsgerichts auch das Recht, sich für oder gegen eine Elternschaft und die daraus resultierenden Pflichten zu entscheiden,621 denn die Schwangerschaft führt dazu, dass die gesamte Lebensführung und persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten erheblich eingeschränkt werden müssen.622 Die Debatten im Bundestag über die Änderung des Schwangerschaftskonfliktgesetzes und die begleitenden Stellungnahmen in der Gesellschaft stellten den Rechten des Fötus häufig das Selbstbestimmungsrecht der Frau gegenüber. Wo dieses Recht verfassungsrechtlich verankert ist, wurde nicht erörtert. Ein konkreter Grundrechtsartikel, der dieses Recht ausdrücklich verbürgt, existiert jedenfalls nicht. Auch das Bundesverfassungsgericht stellt dem Lebensrecht des Fötus das Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren gegenüber und zwar nur wenige Zeilen nach seinen Ausführungen zum Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit der Frau.623 Ob es letztlich das Selbstbestimmungsrecht direkt aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht ableitet, bleibt unklar. Die Frage, wo das Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren gesetzlich verankert ist, wird dementsprechend unterschiedlich beantwortet. Teilweise wird es aus den Grundrechten des Art. 2 Abs. 2 GG,624 aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht625 oder aus einer Zusammenschau verschiedener Grundrechte, nämlich der Menschenwürde, des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit, der Glaubens- und Gewissensfreiheit sowie der allgemeinen Handlungsfreiheit abgeleitet.626 Inhaltlich verknüpft das Bundesverfassungsgericht die Gewährleistungen des Selbstbestimmungsrechts und des allgemeinen Persönlichkeitsrechts sehr eng, indem es die Entscheidung für oder gegen eine Schwangerschaft beiden Gewährleistungen zuordnet.627 Insofern werden die beiden Begriffe synonym verwendet.
VI. Art. 2 Abs. 1 GG Art. 2 Abs. 1 GG schützt die allgemeine Handlungsfreiheit und umfasst damit jede Betätigung.628 Handlungsgebote, die der Schwangeren zum Schutz des nasciturus auferlegt werden, beeinträchtigen sie in ihrer Handlungsfreiheit. Art. 2 Abs. 1 GG greift als subsidiäres Auffanggrundrecht jedoch nur, soweit die Handlungsgebote nicht von einem spezielleren Freiheitsrecht erfasst werden.629
621 622 623 624 625 626 627 628 629
BVerfGE 39, 1 (43). BVerfGE 39, 1 (48). BVerfGE 39, 1 (43). Hillmer, Patientenstatus und Rechtsstatus von Frau und Fötus, S. 232. Laufs, Handbuch des Arztrechts, Rn. 125 f. Weilert, in: Weilert, Spätabbruch, S. 298. BVerfGE 39, 1 (43). Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG Kommentar, Art. 2 Rn. 3. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG Kommentar, Art. 2 Rn. 2.
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
VII. Ergebnis Die Grundrechte der Schwangeren aus Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 S. 1, 2 Abs. 1 GG sowie ihr allgemeines Persönlichkeitsrecht bzw. Selbstbestimmungsrecht sind bei der Erfüllung der Schutzpflicht zugunsten des nasciturus zu berücksichtigen.
G. Grundrechtskoordination Im Folgenden sollen die Grundrechtspositionen des nasciturus denen der Schwangeren gegenübergestellt werden.
I. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Das Bundesverfassungsgericht hat sich in den beiden Urteilen zum Schwangerschaftsabbruch ausführlich mit der Frage beschäftigt, wie die Rechtspositionen des nasciturus und der Schwangeren am besten koordiniert werden können. Diese Ausführungen sollen zunächst dargestellt werden. Sie bilden die Grundlage für die nachfolgenden Überlegungen. 1. Urteil vom 25. 2. 1975 In seiner ersten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch führt das Bundesverfassungsgericht aus, dass das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit der Frau nicht uneingeschränkt gewährleistet werde, sondern durch die Rechte Dritter begrenzt sei. Es könne niemals die Befugnis umfassen, in die geschützte Rechtssphäre eines anderen ohne rechtfertigenden Grund einzugreifen und dessen Leben zu zerstören.630 Das Bundesverfassungsgericht stellt fest, dass ein Ausgleich, der den Lebensschutz des nasciturus gewährleiste und zugleich den Schwangerschaftsabbruch zulasse, nicht möglich sei, da ein Schwangerschaftsabbruch immer das Leben vernichte. Bei der Abwägung von Lebensrecht des nasciturus und Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren, die in ihrer Beziehung zur Menschenwürde als Mittelpunkt des verfassungsrechtlichen Wertesystems zu setzen seien, komme dem Lebensschutz Vorrang vor dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren zu, da das Leben vernichtet werde.631 Dies führe zu der Konsequenz, dass grundsätzlich eine Austragungspflicht bestehe und der Abbruch grundsätzlich als Unrecht anzusehen sei. Diese Missbilligung müsse in der Rechtsordnung klar zum Ausdruck kommen.632 Wie der Staat seine Schutzpflicht erfülle, sei in erster Linie vom Gesetzgeber zu entscheiden. Aufgabe des Staates sei es, präventiv sozialpolitische und fürsor630 631 632
BVerfGE 39, 1 (43). BVerfGE 39, 1 (43). BVerfGE 39, 1 (44).
G. Grundrechtskoordination
131
gerische Mittel zur Sicherung des werdenden Lebens einzusetzen, um die Bereitschaft der Mutter zur Annahme des Kindes zu stärken, da der nasciturus von Natur aus in erster Linie ihrem Schutz anvertraut sei.633 Der Gesetzgeber sei nicht verpflichtet, das ungeborene Leben mit den gleichen Maßnahmen strafrechtlicher Art zu schützen wie das geborene Leben. Im Hinblick darauf, dass der Schwangerschaftsabbruch Vernichtung des Lebens bedeute und damit eines der wichtigsten Rechtsgüter zerstöre, sei der Einsatz des Strafrechts zur Ahndung der Abtreibungshandlungen legitim.634 Wenn die Gesamtheit der Schutzmaßnahmen, die auch bürgerlich-rechtlicher, öffentlich-rechtlicher und sozialrechtlicher Natur sein könnten, keinen dem zu sichernden Rechtsgut entsprechenden effektiven Schutz gewährleisten könnten, so sei der Einsatz des Strafrechts als ultima ratio geboten.635 Im Einzelfall könne das Lebensrecht des Kindes zu einer Belastung der Frau führen, die wesentlich über das normale Maß einer Schwangerschaft hinausgehe und der Frau möglicherweise unzumutbar sei. Es sei fraglich, ob der Staat auch in solchen Fällen mit dem Mittel des Strafrechts die Schwangerschaft erzwingen dürfe, denn hier kollidiere das Lebensrecht des Kindes mit dem Recht der Frau, nicht über das zumutbare Maß hinaus zur Aufopferung eigener Lebenswerte im Interesse der Respektierung dieses Rechtsguts gezwungen zu werden. In diesen Fällen sei der Gesetzgeber zur besonderen Zurückhaltung verpflichtet und könne auf das Mittel der Kriminalstrafe verzichten.636 Unzumutbarkeit liege vor, wenn die Schwangere über das normale Maß hinaus schwer belastet sei und durch die Austragung der Schwangerschaft in schwere innerliche Konflikte gestürzt werde, wie beispielsweise in Fällen einer Lebens- oder schwerwiegenden Gesundheitsgefahr. Eine Aufopferung dieser Rechtsgüter für das ungeborene Leben könne von ihr nicht erwartet werden. Die Unzumutbarkeit könne auch für ähnlich schwerwiegende Konfliktlagen angenommen werden, wie in den Fällen der eugenischen, kriminologischen und sozialen Indikation.637 In diesen Fällen mache sich ein anderes, vom Standpunkt der Verfassung aus ebenfalls schutzwürdiges Interesse mit solcher Dringlichkeit geltend, dass die staatliche Rechtsordnung von der Schwangeren nicht verlangen könne, dem Recht des Ungeborenen unter allen Umständen den Vorrang einzuräumen. Indem der Gesetzgeber solche Konfliktfälle aus dem 633 634 635
636 637
BVerfGE 39, 1 (45). BVerfGE 39, 1 (46). BVerfGE 39, 1 (47); abweichende Meinung der Richterin Rupp-v. Brünneck und des Richters Dr. Simon zum ersten Urteil zum Schwangerschaftsabbruch, S. 73 ff., die befürchten, dass durch die Pflicht des Gesetzgebers zum Erlass der Strafrechtsnormen die Funktion der Grundrechte in ihr Gegenteil verkehrt werde. Es sei nämlich nicht mehr zu prüfen, ob der Staat durch eine Strafvorschrift zu weit in den Rechtsbereich eines Bürgers eingreife, sondern ob er zu wenig strafe. Eine verfassungsrechtliche Festschreibung von Strafvorschriften sei außerdem problematisch, da die Leitgedanken des Strafrechts einem schnellen Wandel unterlägen. Im Übrigen fänden sich in den Materialien zu Art. 2 Abs. 2 GG keine Anhaltspunkte für eine Verpflichtung zu einem strafrechtlichen Schutz. BVerfGE 39, 1 (48). BVerfGE 39, 1 (49).
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
Strafrechtsschutz herausnehme, verletze er nicht die Pflicht zum Lebensschutz. In diesen Fällen müsse er aber Beratung und Hilfe anbieten, um die Schwangere an ihre grundsätzliche Pflicht zur Achtung des Lebensrechts des nasciturus zu mahnen, sie zur Austragung des Kindes zu ermutigen und in Fällen sozialer Not durch praktische Hilfsmaßnahmen unterstützen.638 2. Urteil vom 28. 5. 1993 Im zweiten Urteil zum Schwangerschaftsabbruch weist das Bundesverfassungsgericht auf den Gesetzesvorbehalt des Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG hin, der zeige, dass der Schutz des Lebens nicht in dem Sinne absolut geboten sei, dass dieses gegenüber jedem anderen Rechtsgut ausnahmslos Vorrang genieße.639 Die Reichweite der Schutzpflicht sei im Blick auf die Bedeutung und Schutzbedürftigkeit des zu schützenden Rechtsguts einerseits und mit ihm kollidierender Rechtsgüter andererseits zu bestimmen. Dem Lebensrecht des Ungeborenen stünden die Menschenwürde, das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit sowie das Persönlichkeitsrecht der Schwangeren gegenüber.640 Die Bestimmung von Art und Umfang des Schutzes wird dem Aufgabenbereich des Gesetzgebers zugeordnet, der bei der Ausgestaltung das Untermaßverbot beachten müsse. Der Schutz müsse unter Berücksichtigung der entgegenstehenden Rechtsgüter sowohl angemessen als auch wirksam sein und auf einer sorgfältigen Tatsachenermittlung sowie einer vertretbaren Einschätzung beruhen. Das Bundesverfassungsgericht betont, dass das verfassungsrechtlich gebotene Maß des Schutzes unabhängig vom Alter der Schwangerschaft sei.641 Das Untermaßverbot erfordere, dass der Schwangerschaftsabbruch für die gesamte Dauer der Schwangerschaft grundsätzlich als Unrecht qualifiziert und daher grundsätzlich verboten werden müsse. Grundrechte der Frau stünden einem grundsätzlichen Verbot des Schwangerschaftsabbruchs nicht im Weg. Sie hätten zwar auch gegenüber dem Lebensrecht des Ungeborenen Bestand, gingen aber nicht so weit, dass die Rechtspflicht zum Austragen des Kindes von Grundrechtswegen für eine bestimmte Zeit generell aufgehoben wäre. Die Grundrechtspositionen der Schwangeren führten allerdings dazu, dass es in Ausnahmelagen bei Unzumutbarkeit zulässig sei, von einer Rechtspflicht der Schwangeren zur Austragung des nasciturus abzusehen.642 Wie schon in der ersten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch verweist das Gericht darauf, dass eine Gewährleistung des Lebensschutzes des nasciturus und eines Rechts der Frau zum Schwanger638 639 640 641
642
BVerfGE 39, 1 (50). BVerfGE 88, 203 (253 f.). BVerfGE 88, 203 (254). BVerfGE 88, 203 (254). Eine solche Sichtweise lehnen allerdings die Richter Mahrenholz und Sommer ab; vgl. BVerfGE 88, 203 (342). Diese weisen darauf hin, dass die „Zweiheit in Einheit“ mit Fortschreiten der Schwangerschaft Veränderungen unterliege. Die Gewichte in der Zuordnung würden sich mit Fortschreiten der Schwangerschaft und dem Heranwachsen des nasciturus verschieben. Sowohl der Inhalt der Grundrechte der Frau als auch die Rolle des Staates in der Wahrnehmung seiner Schutzpflicht seien in der Frühphase anders zu beurteilen als im fortgeschrittenen Stadium. BVerfGE 88, 203 (255).
G. Grundrechtskoordination
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schaftsabbruch nicht möglich sei, da ein Schwangerschaftsabbruch immer zur Tötung des ungeborenen Lebens führe. Das Absehen von der Austragungspflicht in Fällen der Unzumutbarkeit sei deshalb berechtigt, weil sich das Verbot eines Abbruchs nicht darauf beschränke, den Rechtskreis eines anderen nicht zu verletzen. Aufgrund der einzigartigen Verbindung von Mutter und Kind betreffe die Austragungs- und Gebärpflicht des Kindes die Schwangere existenziell. Darüber hinaus ziehe die Geburt eines Kindes jahrelange Handlungs-, Sorge- und Einstandspflichten nach sich.643 Wie schon in der ersten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch weist das Bundesverfassungsgericht darauf hin, dass unter Umständen lebensbedrohliche Konfliktsituationen entstehen können, in denen sich die Grundrechtspositionen der Schwangeren mit solcher Dringlichkeit geltend machen, dass die staatliche Rechtsordnung von der Schwangeren die Austragung der Schwangerschaft nicht verlangen kann. Daher anerkennt das Bundesverfassungsgericht ebenfalls ausdrücklich die medizinische, kriminologische, embryopathische und eine in Kongruenz zu diesen Indikationen stehende Notlagenindikation.644 Außerhalb dieser unzumutbaren Konfliktlagen gebiete das Untermaßverbot den Einsatz des Strafrechts, da dieses dort einzusetzen sei, wo ein bestimmtes Verhalten über sein Verbotensein hinaus in besonderer Weise sozialschädlich und für das geordnete Zusammenleben unerträglich und seine Verhinderung daher besonders dringlich sei. Von der Anwendung des Strafrechts könne allerdings abgesehen werden, sofern ausreichend Schutzmaßnahmen anderer Art vorliegen und in der Rechtsordnung die Missbilligung dieser Abbrüche klar zum Ausdruck komme.645 Erforderlich seien ausreichende Maßnahmen normativer und tatsächlicher Art, die einen unter Berücksichtigung entgegenstehender Rechtsgüter angemessenen und wirksamen Schutz bewirken. Elemente des präventiven und des repressiven Schutzes seien in einem Schutzkonzept zu verbinden.646
II. Maßstab der Schutzmaßnahmen Ausgehend von diesen beiden Entscheidungen soll zunächst der Maßstab genauer betrachtet werden, anhand dessen zu beurteilen ist, ob ausreichende Schutzmaßnahmen getroffen wurden. 1. Evidenzkontrolle oder Untermaßverbot Das Bundesverfassungsgericht forderte zunächst im ersten Urteil zum Schwangerschaftsabbruch647 und der Schleyer-Entscheidung648 einen „effektiven“ und „wirksamen“ Lebensschutz. Im C-Waffen Urteil forderte das Bundesverfassungsgericht 643 644 645 646 647 648
BVerfGE 88, 203 (256). BVerfGE 88, 203 (257). BVerfGE 88, 203 (258). BVerfGE 88, 203 (261). BVerfGE 39, 1 (44). BVerfGE 46, 160 (164).
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
aufgrund der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers, dass die öffentliche Gewalt Vorkehrungen zum Schutze des Grundrechts trifft, die „nicht gänzlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind“.649 Diese Evidenzkontrolle wurde im zweiten Urteil zum Schwangerschaftsabbruch begrifflich durch das „Untermaßverbot“ abgelöst. Hier wurde formuliert, dass der Gesetzgeber hinsichtlich der Erfüllung seiner Schutzpflichten dem Untermaßverbot verpflichtet sei. Die Schutzvorkehrungen müssten für einen angemessenen und wirksamen Schutz ausreichen, auf sorgfältigen Tatsachenermittlungen und vertretbaren Einschätzungen beruhen.650 In der Folgezeit legte das Bundesverfassungsgericht bei der Frage nach der Erfüllung der Schutzpflicht teils den Maßstab des Untermaßverbots an,651 teils nahm es auf den Evidenzmaßstab Bezug.652 Welcher Maßstab ist aber letztlich der richtige? Die grundrechtlichen Schutzpflichten haben die Aufgabe, einen wirksamen Schutz vor Übergriffen privater Dritter zu gewährleisten. Ausgehend von dieser Funktion kann es daher nicht genügen, wenn der Staat nur irgendwelche „nicht gänzlich ungeeigneten oder völlig unzulänglichen“653 Mittel ergreift.654 Anders als Abwehrrechte, die sich gegen ein konkretes Verhalten des Staates richten, können Schutzpflichten in der Regel auf verschiedene Art und Weise erfüllt werden. Welche Schutzmittel der Staat als Reaktion auf eine bestimmte Gefahr einsetzen muss, ergibt sich nicht aus der Verfassung, so dass dem Gesetzgeber ein weiter Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zukommt, welche Maßnahmen er treffen will. Allerdings müssen die Schutzmaßnahmen für einen effektiven Schutz ausreichend sein655 und damit dem Untermaßverbot genügen. 2. Zwischen Untermaß- und Übermaßverbot Da der Gesetzgeber beim Schwangerschaftsabbruch das Leben des Fötus nicht schützen kann, ohne zugleich in Grundrechte der Mutter einzugreifen, muss er bei der Ausgestaltung der gesetzlichen Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch einen Mittelweg zwischen Untermaß- und Übermaßverbot suchen.656 Auf der einen Seite darf der freiheitsbeschränkende Staat nicht übermäßig in Freiheitsrechte des Bürgers eingreifen, auf der anderen Seite darf der freiheitsschützende Staat Freiheitsrechte nicht untermäßig sichern. 649 650 651
652 653 654 655 656
BVerfGE 77, 170 (215); BVerfGE 77, 381 (405). BVerfGE 88, 203 (254). BVerfG-K, NJW 1995, 2343; BVerfG-K, NJW 1996, 651. Beide Entscheidungen entnehmen die inhaltlichen Anforderungen an die Schutzpflicht der 2. Entscheidung des BVerfG zum Schwangerschaftsabbruch, beschränken die verfassungsgerichtliche Beurteilung aber in Anlehnung an die C-Waffen Entscheidung auf eine Evidenzkontrolle. BVerfGE 92, 26 (46); BVerfG-K, NJW 1998, 975 (976); BVerfG-K, NJW 2002, 1638 (1639); BVerfG-K, NVwZ 2007, S. 805. BVerfGE 77, 170 (215). So auch: Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 121. Calliess, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, § 44 Rn. 26; Isensee, in: Isensee/Kirchhof, HStR V, § 111 Rn. 165. Merten, GS Burmeister, S. 238.
G. Grundrechtskoordination
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Der Begriff „Untermaßverbot“ korreliert ersichtlich mit dem des „Übermaßverbots“. Teilweise wird sogar vertreten, dass aus dem Untermaßverbot nichts folge, was sich nicht schon aus dem Übermaßverbot ergebe. Diese Kritik knüpft an die Erforderlichkeitsprüfung des Übermaßverbots an. Da nur das Mittel im Sinne des Übermaßverbots erforderlich sei, das den Belasteten am wenigsten beeinträchtige, sei damit auch zugleich geklärt, dass es keine milderen Mittel zur Erfüllung des Verfassungsauftrags gebe. Das nach dem Übermaßverbot höchstens Erforderliche sei damit zugleich das nach dem Untermaßverbot mindestens Erforderliche.657 Dieser Einwand ist jedoch nicht haltbar. Ein erforderlicher Eingriff im Sinne des Übermaßverbots kann zugleich nicht hinreichend effektiv im Sinne des Untermaßverbots sein. Dietlein veranschaulicht dies anhand des Abtreibungsstrafrechts. Würde man schwangere Frauen dazu verpflichten, vor dem Schwangerschaftsabbruch eine Informationsbroschüre zu beziehen, so wäre diese Maßnahme im Rahmen des Übermaßverbotes geeignet, erforderlich und angemessen. Allerdings wäre diese Maßnahme allein kaum ausreichend für den Schutz des nasciturus und das Untermaßverbot insoweit verletzt. Es wird folglich deutlich, dass Über- und Untermaßverbot nicht identisch sind. Die Anwendung des Untermaßverbots gestaltet sich schwierig, da in seiner inhaltlichen Konturierung noch immer Defizite bestehen. Einigkeit über ausdifferenzierte Prüfungskriterien wie beim Übermaßverbot besteht nicht. Teilweise wird der Begriff des Untermaßverbots daher als konturlos und damit verzichtbar klassifiziert.658 Es ist jedoch durchaus möglich, für das Untermaßverbot in Anlehnung an das Übermaßverbot Prüfungskriterien zu entwickeln. Beim Übermaßverbot prüft man in einem ersten Schritt, ob der Staat mit seinem Handeln einen legitimen Zweck verfolgt, anschließend, ob das Mittel geeignet ist, es also den angestrebten Zweck generell fördern kann. In einem dritten Prüfungsschritt wird festgestellt, ob das Mittel erforderlich ist, wobei die Erforderlichkeit dann vorliegt, wenn es kein milderes ebenso effektiv wirkendes Mittel gibt. Als letzter Prüfungspunkt wird schließlich betrachtet, ob das Handeln angemessen ist. Es findet hierbei eine Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Interesse, dem die Maßnahme dient, statt.659 Das Prüfungsschema des Übermaßverbotes lässt sich auf das Untermaßverbot in modifizierter Weise übertragen.660 Die Schutzmaßnahmen müssen einem legitimen Zweck dienen und zur Zweckerreichung geeignet sein, wobei die abstrakte Möglichkeit zur Zweckerreichung hier ausreicht.661 Im Gegensatz zum Übermaßverbot, das auf einer dritten Stufe die Erforderlichkeit prüft, ist beim Untermaßverbot auf dieser Stufe festzustellen, ob 657 658 659 660
661
Hain, DVBl. 1993, S. 982 ff. Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 121. Zur Prüfung des Übermaßverbots ausführlich Detterbeck, Öffentliches Recht, Rn. 71 ff. So auch: Merten, in: GS Burmeister, S. 239 ff.; ein modifiziertes Prüfungsschema für das Untermaßverbot findet sich bei Calliess, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, § 44 Rn. 31. Merten, in: GS Burmeister, S. 240.
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
die getroffene Maßnahme einen hinlänglichen Schutz gewährleistet. Dieses Maß darf nicht unterschritten, wohl aber überschritten werden, solange die Schutzmaßnahme nicht übermäßig in Grundrechte Dritter eingreift. Auf einer vierten Stufe steht das Gebot der Proportionalität. Der staatliche Schutz muss sich am Schutzgut und am Verhältnis der Gefahr orientieren. Gilt beim Übermaßverbot der Grundsatz, dass man nicht mit Kanonen auf Spatzen schießen darf, so kann man beim Untermaßverbot diesen Spruch in der Weise modifizieren, dass man Spatzen nicht mit Kanonen schützen muss.662 Für die Proportionalität des Schutzes ist die Bedeutung des zu schützenden Grundrechts und der Grad der drohenden Gefahr ausschlaggebend. Je existentieller die betroffenen Grundrechte sind, desto stärker muss der Schutz ausgestaltet sein, so dass im Einzelfall, wie bei § 218 StGB, auch strafrechtliche Sanktionen nötig sein können, sofern ein effektiver Schutz nicht anders zu erreichen ist. Da ein Schwangerschaftsabbruch immer das Leben des nasciturus vernichtet, sind hohe Anforderungen an Schutzmaßnahmen zu stellen. Der Proportionalitätsprüfung kommt daher keine Bedeutung zu. Ob ein schutzrechtlich hinlängliches Niveau erreicht ist, kann schließlich durch eine Alternativenprüfung im Sinne einer Kontrollüberlegung festgestellt werden.663 Das Untermaßverbot auf der Seite der Schutzpflicht und das Übermaßverbot auf der Seite des Abwehrrechts bilden eine Art Korridor, innerhalb dessen der Gesetzgeber nach dem Gewaltenteilungsprinzip den erforderlichen Spielraum hat, die kollidierenden Belange abzuwägen und in Ausgleich zu bringen.664
III. Betrachtung der gegenüberstehenden Rechtspositionen Bevor untersucht wird, ob die geltende Rechtslage die Grundrechte des Fötus und der Schwangeren ausreichend berücksichtigt, sollen die kollidierenden Grundrechte, gleichsam als Vorüberlegung, zueinander ins Verhältnis gesetzt werden. Ausgangspunkt bilden die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts in den beiden Urteilen zum Schwangerschaftsabbruch, die durch die folgende Darstellung präzisiert und ergänzt werden. 1. Menschenwürde der Mutter versus Menschenwürde und Lebensrecht des nasciturus Liegt eine Verletzung der Menschenwürde der Schwangeren vor, so kann das Lebensrecht des Kindes aufgrund der Unantastbarkeit der Menschenwürde diesen Eingriff nicht rechtfertigen. Auch Verstöße gegen die Menschenwürde des nasciturus, die beispielsweise aus einer Selektion folgen könnten, sind aufgrund des Unantastbarkeitspostulats der Menschenwürde grundsätzlich nicht zu rechtferti-
662 663 664
Merten, in: GS Burmeister, S. 242. Cremer, DÖV 2008, S. 108. Calliess, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, § 44 Rn. 33.
G. Grundrechtskoordination
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gen.665 Einschränkungen des Würdeschutzes aufgrund staatlicher oder privater Interessen sind verfassungsrechtlich daher nicht zulässig.666 Eine Abwägung wäre lediglich dann denkbar, wenn das Recht auf Achtung der Menschenwürde der Schwangeren mit dem Recht auf Schutz der Menschenwürde des Fötus kollidierte. 2. Selbstbestimmungsrecht/Allgemeines Persönlichkeitsrecht der Mutter versus Lebensrecht des nasciturus Eine Austragungspflicht gegenüber dem Kind betrifft immer das Selbstbestimmungsrecht bzw. das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Schwangeren. Will die Schwangere das Kind aus irgendwelchen Gründen nicht, so kollidiert folglich ihr Selbstbestimmungs-/ allgemeines Persönlichkeitsrecht mit dem Lebensrecht des Kindes. Zutreffend hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt, dass ein Ausgleich, der den Lebensschutz des nasciturus gewährleiste und zugleich den Schwangerschaftsabbruch zulasse, nicht möglich sei, da ein Schwangerschaftsabbruch immer das Leben vernichte. Da ein Schwangerschaftsabbruch das Leben des nasciturus vernichtet, kommt bei der Abwägung von Lebensrecht des nasciturus und Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren dem Lebensschutz des nasciturus der Vorrang vor dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren zu.667 3. Gewissensfreiheit versus Lebensrecht des nasciturus Ist die Entscheidung für einen Schwangerschaftsabbruch als Gewissensentscheidung im Sinne des Art. 4 Abs. 1 GG anzusehen, so ist zu beachten, dass dieses Grundrecht zwar keinen ausdrücklichen Schrankenvorbehalt enthält, gleichwohl aber nicht schrankenlos gewährleistet ist. Durch andere Grundrechte gezogene verfassungsimmanente Schranken sind im Wege der Güterabwägung zu beachten.668 Das Lebensrecht des nasciturus als „die vitale Basis der Menschenwürde und die Voraussetzung aller anderen Grundrechte“669 geht der Freiheit der Gewissensbetätigung vor.670 4. Handlungsfreiheit versus Recht auf Leben Art. 2 Abs. 1 GG kommt nur zur Geltung, sofern nicht zugleich die spezielleren Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 GG oder Art. 2 Abs. 2 GG betroffen sind. Dem Recht auf Leben des Fötus, das durch einen Schwangerschaftsabbruch irreversibel 665
666 667 668 669 670
Neben einer Menschenwürdeverletzung läge in einem solchen Fall im Übrigen ein Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot vor. Dem Benachteiligungsverbot käme insofern keine eigenständige Bedeutung zu. v. Dewitz, ZfL 2009, S. 75; zur Unantastbarkeit der Menschenwürde vgl. 3. Kapitel B VI 1. So auch: BVerfGE 39, 1 (43). Beckmann, MDR 1992, S. 1095; Mager, in: v. Münch/Kunig, GG Kommentar, Art. 4 Rn. 47. BVerfGE 39, 1 (42). Beckmann, MDR 1992, S. 1096; Wirth, Spätabtreibung, S. 16.
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
zerstört wird, kommt im Übrigen unzweifelhaft Vorrang vor der Handlungsfreiheit zu. 5. Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit der Mutter versus Lebensrecht des nasciturus Im Hinblick auf die später genau zu untersuchende medizinisch-soziale Indikation des § 218a Abs. 2 StGB soll ausführlich der Frage nachgegangen werden, wie zu entscheiden ist, wenn das Recht des nasciturus auf Schutz seines Lebens mit dem Recht der Mutter auf Achtung ihres Lebens oder ihrer körperlichen Unversehrtheit kollidiert. a) Lebenskollision In Fällen der Lebenskollision ist mit guten Gründen von einem Vorrang des Lebensrechts der Mutter auszugehen. Das Grundgesetz ist durch ein liberales Freiheitsverständnis geprägt, das in Art. 1 Abs. 1 GG wurzelt, der den Menschen der staatlichen Ordnung voraussetzt. Die Freiheit des Einzelnen hat daher Vorrang vor jeder staatlichen Beschränkung. Ein solches Grundrechtsverständnis führt dazu, dass der Achtungspflicht ein Vorrang vor der komplexeren und auf gesetzliche Konkretisierung angewiesenen Schutzpflicht zukommt.671 Darüber hinaus spricht für die Vorrangstellung der Achtungspflicht, dass diese ein Unterlassungsgebot beinhaltet. Die Beeinträchtigung, die unterlassen werden soll, ist hierbei unmittelbar dem Staat zuzurechnen. Bei der Schutzpflicht muss der Staat Maßnahmen gegen Eingriffe Dritter treffen. Dieses unterschiedliche Maß der staatlichen Verantwortung – im einen Fall besteht sie unmittelbar, im anderen nur mittelbar – führt dazu, dass die Achtungspflicht der Schutzpflicht vorgeht.672 Diesem Ergebnis widerspricht auch nicht die Tatsache, dass es aufgrund der fundamentalen Bedeutung des Lebensrechts grundsätzlich ausgeschlossen ist, einen Menschen gezielt zu töten, es sei denn ein rechtswidriger Angriff wie hinsichtlich der Notwehr und der Nothilfe soll abgewehrt werden.673 Der Schwangerschaftsabbruch ist anders als andere Tötungshandlungen zu beurteilen. Zu beachten ist hier die unvergleichliche Situation der Schwangerschaft, in der sich Frau und nasciturus nicht nur als mögliche Täterin und mögliches Opfer gegenüberstehen, sondern eine einzigartige Zweiheit in Einheit bilden.674 Eine generelle Austragungspflicht, die Lebensgefahren unberücksichtigt ließe, wäre letztlich, wie bereits ausgeführt, mit der Würde der Schwangeren nicht vereinbar, da die Schwangere zur bloßen Bruthülle degradiert würde. In Fällen der Lebenskollision entfällt daher die Rechtspflicht der Mutter zur Austragung des Kindes.
671 672 673 674
Kersten, NVwZ 2005, S. 663. Classen, DÖV 2009, S. 694. Murswiek, in: Sachs, GG Kommentar, Art. 2 Rn. 171. Murswiek, in: Sachs, GG Kommentar, Art. 2 Rn. 173.
G. Grundrechtskoordination
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b) Körperliche Unversehrtheit der Mutter versus Lebensrecht des nasciturus Ist die körperliche Unversehrtheit der Schwangeren betroffen, so wiegt bei einer rein abstrakten Betrachtung der Schutz des Lebens des Kindes schwerer als das Recht der Schwangeren auf körperliche Unversehrtheit. Gleichwohl zieht das Bundesverfassungsgericht daraus nicht die Konsequenz, dass der Schwangeren in diesen Fällen eine Austragungspflicht auferlegt werden müsse. Zu Recht verweist das Bundesverfassungsgericht darauf, dass Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG zeige, dass das Leben nicht gegenüber jedem anderen Rechtsgut ausnahmslos Vorrang genieße.675 Dadurch wird der Weg frei, auch in Fällen schwerwiegender Gesundheitsbeeinträchtigungen und unzumutbarer Konfliktlagen von einer Austragungspflicht der Schwangeren abzusehen.676 Die Berechtigung des Kriteriums der Unzumutbarkeit wird zu Recht auf die unvergleichliche Situation der Schwangerschaft gestützt. Frau und nasciturus stehen sich nicht nur als mögliche Täterin und mögliches Opfer gegenüber, sondern bilden eine einzigartige Zweiheit in Einheit.677 Eine Austragungs- und Gebärpflicht des Kindes betrifft die Schwangere existenziell. Darüber hinaus zieht die Geburt eines Kindes jahrelange Handlungs-, Sorge- und Einstandspflichten nach sich.678 Die Vorausschau auf die damit verbundenen Belastungen kann in der besonderen seelischen Lage, in der sich Schwangere befinden, zu lebensbedrohenden Konfliktsituationen führen, in denen schutzwürdige Positionen einer schwangeren Frau sich mit einer solchen Dringlichkeit geltend machen, dass die staatliche Rechtsordnung die Austragung des Kindes nicht verlangen kann.679 Die Menschenwürde der Schwangeren wäre schließlich verletzt, wenn ihr eine Austragungspflicht ohne Rücksicht auf schwerwiegende Gesundheitsgefahren auferlegt würde und sie dadurch zur Bruthülle für den nasciturus degradiert würde. In der Abwägung mit anderen Rechtsgütern ist das Lebensrecht als ein Höchstwert der Verfassung aber als Schwerstgewicht in die Waagschale zu werfen. Daher setzt das Bundesverfassungsgericht zu Recht voraus, dass die Unzumutbarkeit nicht aus Umständen herrühren könne, die in einer Schwangerschaft normal seien.680 Erforderlich sind daher erhebliche Belastungen. Aus dem hohen Rang des Lebensrechts in der Abwägungsentscheidung ergibt sich im Übrigen auch, dass der Schwangerschaftsabbruch nur als ultima ratio in Betracht kommen darf und zumutbare Alternativen vorrangig auszuschöpfen sind.681 Ist der Frau das Austragen des Kindes unzumutbar, bedeutet dies nicht, dass die Schutzpflicht des Staates aufgehoben ist. Vielmehr muss er der Schwangeren durch Rat und Hilfe beistehen.682 675 676 677 678 679 680 681 682
BVerfGE 88, 203 (253 f.). BVerfGE 88, 203 (255 f.). Murswiek, in: Sachs, GG Kommentar, Art. 2 Rn. 173. BVerfGE 88, 203 (256). BVerfGE 88, 203 (256 f.). BVerfGE 88, 203 (257). v. Dewitz, ZfL 2009, S. 80. BVerfGE 88, 203 (257).
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
c) Beeinflussung der Abwägungsentscheidung durch Art. 6 Abs. 2 GG Wie bereits angeklungen, können sich nach der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts und nach der hier vertretenen Ansicht Gesundheits- und Lebensgefahren der Schwangeren auch aus einer Vorausschau auf die später bestehenden Handlungs-, Sorge- und Einstandspflichten für das geborene Kind ergeben. Zum Teil wird aber vertreten, dass nur Gefährdungen der Schwangeren im Sinne einer engen medizinischen Indikation, die auf einer aktuellen physischen Problematik basieren, einen Schwangerschaftsabbruch rechtfertigen könnten. Spätere Lebensverhältnisse werden in der Abwägungsentscheidung für unbeachtlich gehalten. Kluth rügt insofern, dass das Bundesverfassungsgericht in seiner zweiten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch die Maßstabsnorm des Art. 6 Abs. 2 GG übersehen habe, die das Verhältnis von Kindeswohl und Elternpflicht ausdrücklich zum Gegenstand habe, entscheidende Akzente für die Beurteilung der Kollisionslage vermittle und dadurch wichtige Anhaltspunkte zur Bestimmung der Opfergrenze im Schwangerschaftskonflikt enthalte.683 Die Konkretisierungen der in Art. 6 Abs. 2 GG verankerten Elternverantwortung im Zivilrecht sowie im Sozial- und Fürsorgerecht zeigten, dass von der Mutter weitergehende Opfer und Einbußen verlangt werden könnten, die durch Art. 6 Abs. 4 GG ausgeglichen würden, indem der Mutter der Anspruch auf Schutz und Fürsorge der Gemeinschaft zugesprochen werde. Aus den Wertungen des Art. 6 Abs. 2 GG ergebe sich folglich, dass eine Belastung, die sich aus objektiven Umständen nach der Geburt ergebe, niemals unzumutbar sein könne.684 Problematisch ist allerdings, ob Art. 6 Abs. 2 GG überhaupt auf das vorgeburtliche Leben anwendbar ist. Art. 6 Abs. 2 GG enthält die Formulierung „Pflege und Erziehung der Kinder“. Schon die Bezeichnung „Kind“ deutet auf ein geborenes Kind hin.685 Darüber hinaus erscheint die Pflege und Erziehung eines Ungeborenen unvorstellbar, so dass sich Art. 6 Abs. 2 GG seinem Sinn nach nicht auf das vorgeburtliche Stadium erstrecken lässt.686 Dementsprechend lassen sich aus Art. 6 Abs. 2 GG keine Leitlinien für die Opfergrenze in einem Schwangerschaftskonflikt ableiten. Darüber hinaus erscheint die Differenzierung zwischen vor- und nachgeburtlichen Beeinträchtigungen nicht sachgerecht. Im Rahmen einer Vorausschau kann sich ergeben, dass der Schwangeren durch die Lebensumstände nach Geburt eine schwerwiegende Gefahr ihres Gesundheitszustandes drohen wird. Die spätere Unzumutbarkeit durch Lebensumstände ist bereits in der frühen Gravidität angelegt. Sie ist bereits vorauszusehen und dadurch quasi gegenwärtig. Die Unzumutbarkeit der Austragungspflicht kann somit auch auf zukünftigen Lebensverhältnissen basieren.
683 684 685 686
Kluth, FamRZ 1993, S. 1387, 1388. Kluth, FamRZ 1993, S. 1388. Wirth, Spätabtreibung, S. 17. Hofstätter, Der embryopathisch motivierte Schwangerschaftsabbruch, S. 128.
G. Grundrechtskoordination
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d) Postnatale Lebensfähigkeit als Komponente der Abwägungsentscheidung Zum Teil wird der Lebensfähigkeit des Kindes entscheidende Bedeutung bei der Abwägungsentscheidung zugebilligt. Es wird vertreten, dass bei Lebensunfähigkeit des Kindes nach der Geburt dem Recht auf körperliche Unversehrtheit der Mutter unproblematisch der Vorzug gegeben werden könne.687 Eine solche Sichtweise ist mit dem Verfassungsrecht nicht vereinbar. Der nasciturus ist nach der hier vertretenen Auffassung bereits ab Befruchtung Träger der Menschenwürde und des Lebensrechts. Die fehlende postnatale Lebensfähigkeit führt nicht dazu, dass der nasciturus in diesen Fällen aus dem Schutzbereich des Lebensrechts oder der Menschenwürde auszuklammern wäre. Die Lebensdauer hat vielmehr keine Auswirkung auf die Geltung dieser Grundrechte.688 Vergleichsweise spricht man auch sterbenden Menschen die Grundrechte nicht ab. Folglich stehen sich die Grundrechte der Schwangeren und die Grundrechte des nasciturus, der postnatal nicht lebensfähig ist, in unveränderter Weise gegenüber. Konsequenterweise kann daher die Austragungspflicht der Schwangeren nur dann entfallen, wenn ihr Leben oder ihre Gesundheit schwerwiegend durch die Lebensunfähigkeit des ungeborenen Kindes gefährdet ist und diese Gefahr nicht auf andere Art und Weise abgewendet werden kann. e) Unabhängigkeit des Schutzmaßes vom Alter der Schwangerschaft Wie bereits ausführlich dargestellt, verändert sich der Grundrechtsstatus mit fortschreitender Entwicklung des nasciturus nicht. Den gestuften Würde- und Lebensschutzkonzepten wurde bereits eine Absage erteilt. Auch das Bundesverfassungsgericht betont im 2. Urteil zum Schwangerschaftsabbruch, dass das nach dem Untermaßverbot gebotene Maß des Schutzes unabhängig vom Alter der Schwangerschaft sei. Abstufungen des Lebensrechts und des Lebensschutzes lehnt es daher zu Recht ab.689 Aus diesen Ausführungen zieht das Bundesverfassungsgericht schließlich die Konsequenz, dass der Schutz des nasciturus vor frühen Abbrüchen in gleichem Maße erforderlich sei wie der Schutz vor späten Abbrüchen. Mahrenholz und Sommer weisen in ihrem Sondervotum jedoch darauf hin, dass die besondere Situation der Schwangerschaft – die „Zweiheit in Einheit“ – mit Fortschreiten der Schwangerschaft Veränderungen unterliege. Die Zweiheit trete mit fortschreitender Entwicklung stärker hervor. „Die gesetzliche Positivierung des Ausgleichs zwischen Grundrechtsposition der schwangeren Frau und Schutzpflicht für das ungeborene Leben muß ein pr oz eßha f te s E l em en t im G rundr e ch ts s ta tus d e r sch wang er en Frau b erü cks ich tig en, weil die Schwangerschaft selbst einen Prozeß darstellt.“690 Die Grundrechtspositionen der Frau und die Schutzpflicht des Staates seien in ihrem Verhältnis in der Frühphase anders zu beurteilen als in der Spätphase. In der Konsequenz wären an Abbrüche, 687 688 689 690
Weilert, in: Weilert, Spätabbruch, m.w.N, S. 296. v. Dewitz, ZfL 2009, S. 81. BVerfGE 88, 203 (254). BVerfGE 88, 203 (342).
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2. Kapitel: Verfassungsrechtliche Vorgaben
bei denen der nasciturus bereits extrauterin lebensfähig ist, erhöhte Anforderungen zu stellen. Diese Argumentation ist jedoch nicht überzeugend. Auch mit extrauteriner Lebensfähigkeit löst sich die Zweiheit in Einheit keineswegs auf. Nahrung und Sauerstoff nimmt der nasciturus beispielsweise weiterhin über die Schwangere auf. Dass er rein theoretisch extrauterin überleben könnte, beendet die Zweiheit in Einheit nicht. Diese Situation wird vielmehr erst mit Geburt beendet. Auch kann keine Rede davon sein, dass die Zweiheit stärker hervortritt. Sie besteht von Anfang an. Der nasciturus ist schon mit Befruchtung eine eigenständig von der Mutter abgrenzbare biologische Entität. Es bestehen getrennte Blutkreisläufe und ein unabhängiger Stoffwechsel. Lehnt man mit dem Bundesverfassungsgericht ein gestuftes Lebensschutzkonzept ab und widerspricht einer Modifikation der Zweiheit in Einheit bei Fortschreiten der Entwicklung, so ist das Alter der Schwangerschaft für das Maß des Schutzes nicht entscheidend. Die Tatsache, dass Spätabbrüche zu einem Zeitpunkt stattfinden, zu dem der nasciturus bereits extrauterin lebensfähig ist, ist für die verfassungsrechtliche Betrachtung folglich unbeachtlich.
H. Ergebnis zum 2. Kapitel Die Grundrechte des nasciturus aus Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 2 S. 1 und 3 Abs. 3 S. 2 GG fordern einen effektiven Schutz im Sinne des Untermaßverbots. Dem Gesetzgeber kommt hierbei ein Einschätzungs-, Gestaltungs- und Wertungsspielraum zu, welche Schutzmaßnahme er treffen will. Bei der Erfüllung der Schutzpflicht darf der Gesetzgeber aber zugleich nicht übermäßig in die Grundrechte der Schwangeren eingreifen und muss insbesondere ihre Menschenwürde, ihr Lebensrecht sowie ihr Selbstbestimmungs- bzw. allgemeines Persönlichkeitsrecht beachten. Die Grundrechte der Schwangeren stehen einer grundsätzlichen Austragungspflicht nicht entgegen. In Ausnahmesituationen, wie bei einer schwerwiegenden Gesundheits- oder Lebensgefahr, die auch auf dem späteren Haben des Kindes basieren können und in denen der Schwangeren die Austragung der Schwangerschaft nicht zumutbar ist, ist aufgrund der einzigartigen Situation der Schwangerschaft von einer Austragungspflicht der Schwangeren abzusehen. Durch Rat und Hilfe muss der Gesetzgeber die Schwangere aber zur Austragung des Kindes ermutigen. Diese Grundsätze gelten unabhängig von Alter oder Erkrankung der Leibesfrucht.
3. Kapitel: Einfachgesetzliche Regelung des Spätabbruchs
Bevor in einem vierten Kapitel die Verfassungsmäßigkeit der Regelung des Spätabbruchs nach den im zweiten Kapitel erarbeiteten Vorgaben einer Prüfung unterzogen wird, soll im nun folgenden dritten Kapitel zunächst betrachtet werden, auf welche Art und Weise der Gesetzgeber den nasciturus durch die einfachgesetzliche Regelung des Spätabbruchs schützt. Zunächst soll der Tatbestand des § 218 Abs. 1 S. 1 StGB in seinen Grundzügen dargestellt werden und eine Abgrenzung zwischen den §§ 211 ff. StGB und §§ 218 ff. StGB erfolgen. Im Anschluss daran werden die Voraussetzungen der medizinisch-sozialen Indikation des § 218a Abs. 2 StGB erörtert. Schließlich werden die durch den Beschluss des Bundestags vom 13. Mai 2009 eingetretenen Änderungen der Rechtslage in den Blick genommen.
A. Überblick über die strafrechtliche Rechtslage I. Tatbestand Der Tatbestand des § 218 Abs. 1 S. 1 StGB stellt sich in seinen Grundzügen folgendermaßen dar: 1. Tatobjekt § 218 Abs. 1 S. 1 StGB stellt den „Schwangerschaftsabbruch“ unter Strafe. Diese Formulierung lässt im Gegensatz zu der noch im 15. StÄG geltenden Regelung, die das „Abtöten der Leibesfrucht“ sanktionierte, das Tatobjekt nur undeutlich erkennen. Schutzobjekt dieser Norm ist die lebende Leibesfrucht ab Nidation.1 Auch ein missgebildeter nasciturus wie der Anencephalus, bei dem Großhirnhemisphären, die Neurohypophyse, das Zwischenhirn sowie das Schädeldach vollständig oder weitgehend fehlen, ist taugliches Tatobjekt. Als Tatobjekt scheidet aber die bereits intrauterin abgestorbene Leibesfrucht aus.2
1 2
Eser, in: Schönke/Schröder, § 218 Rn. 5 f.; Fischer, § 218 Rn. 3; Gropp, in: MK-StGB, § 218 Rn 6. Eser, in: Schönke/Schröder, § 218 Rn. 7.
A. B. Dolderer, Menschenwürde und Spätabbruch, DOI 10.1007/978-3-642-22468-3_4, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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3. Kapitel: Einfachgesetzliche Regelung des Spätabbruchs
2. Tathandlung Tathandlung des § 218 Abs. 1 StGB ist jede Einwirkung auf die Schwangere oder die Leibesfrucht, die zum Tod eines zum Handlungszeitpunkt im Mutterleib befindlichen, lebenden Embryos führt, indem die noch lebende Frucht im Mutterleib abstirbt oder in nicht lebensfähigem Zustand abgeht.3 Nach § 218 Abs. 1 S. 2 StGB gelten solche Handlungen nicht als Schwangerschaftsabbruch, die die Einnistung der Zygote in die Gebärmutter verhindern. Auf welche Art und Weise der Tod des nasciturus herbeigeführt wird, ist unerheblich. Ob ein Arzt den Schwangerschaftsabbruch lege artis beispielsweise durch Kürettage vornimmt oder ob nach Art der „Engelmacher“ Seifenlauge eingespritzt wird oder eine mechanische Zerstörung stattfindet, ist ohne Bedeutung.4 Die Tat ist nicht bereits mit Abschluss des abbrechenden Eingriffs vollendet, sondern erst mit dem Absterben der Leibesfrucht als dem eigentlichen Ziel des Schwangerschaftsabbruchs.5 3. Vorsätzliche Tatbegehung Auf subjektiver Tatbestandsebene ist eine mindestens bedingt vorsätzliche Tatbegehung erforderlich. Eine fahrlässige Handlung genügt hingegen nicht. Im Gegensatz zur Zurechnungsdogmatik beim fahrlässigen Erfolgsdelikt bleibt die fahrlässig intrauterin verursachte Tötung auch dann straffrei, wenn der Tod zwar erst an einem geborenen Menschen eintritt, die zum Tod führende Einwirkung aber vor der Geburt liegt.6 Diese Einschränkung des intrauterinen Lebensschutzes dient dem Interesse der Schwangeren. Verursacht sie aus Unachtsamkeit den Tod des Kindes, so soll sie nicht dafür verantwortlich gemacht werden.7 Der Haftungsausschluss gilt aber auch beispielsweise für Ärzte, so dass auch bei gravierenden pränatalen Behandlungsfehlern, die den Tod des Kindes vor oder nach Geburt herbeiführen, ohne Vorsatz keine strafrechtlichen Konsequenzen drohen.8
II. Abgrenzung: Schwangerschaftsabbruch und Totschlag Wird ein Spätabbruch vorgenommen, so ist es möglich, dass der Fötus lebend zur Welt kommt. Es stellt sich dann die Frage, in welchem Verhältnis die §§ 211 ff., 222, 223 ff. StGB zu den §§ 218 ff. StGB stehen. Die Abgrenzung von Tötungsdelikten und Schwangerschaftsabbruchsdelikten ist nicht nur bezüglich des Strafmaßes von weitreichender Bedeutung. Während der Gesetzgeber beispielsweise für die Strafbarkeit eines Schwangerschaftsab3 4 5 6 7 8
Fischer, § 218 Rn. 2, 5. Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht BT 1, § 6 Rn. 29. Gropp, in: MK-StGB, § 218 Rn. 10; Eser, in: Schönke/Schröder, § 218 Rn. 44; Satzger, Jura 2008, S. 427. BGHSt 31, 348, 351 f.; Küper, GA 2001, S. 515 ff., 518; Gropp, in: Schumann, Verantwortungsbewusste Konfliktlösungen, S. 21. Küper, GA 2001, S. 515 ff., 519; Gropp, in: Schumann, Verantwortungsbewusste Konfliktlösungen, S. 21. Gropp, in: Schumann, Verantwortungsbewusste Konfliktlösungen, S. 22.
A. Überblick über die strafrechtliche Rechtslage
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bruchs eine vorsätzliche Tat fordert, stellt er in § 222 StGB auch die fahrlässige Tötung unter Strafe.9 1. Mensch versus Leibesfrucht Schutzobjekt des § 218 Abs. 1 S. 1 StGB ist, wie bereits dargestellt, die Leibesfrucht. Im Hinblick auf die hier aufgeworfene Frage nach der Abgrenzung von Schwangerschaftsabbruch und Totschlag ist es erforderlich, „Mensch“ und „Leibesfrucht“ genau abzugrenzen und die Ausführungen hinsichtlich des Tatobjekts im Folgenden zu vertiefen. Spätestens seit der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 22. April 198310 wurde die Zäsur zwischen Leibesfrucht und Mensch fast einhellig im Beginn des Geburtsvorgangs gesehen. Rechtsprechung und Literatur stützten dieses Abgrenzungskriterium zwischen Schwangerschaftsabbruchs- und Tötungsdelikten auf § 217 a.F.,11 der die Tötung eines unehelichen Kindes durch die Mutter „in oder gleich nach der Geburt“ unter Strafandrohung stellte. Wenn das Töten in der Geburt bereits als Kindestötung (und damit als Tötung eines Menschen) und nicht mehr als Tötung der Leibesfrucht und damit als Schwangerschaftsabbruch zu qualifizieren sei, dann müsse die Zäsur beim Beginn der Geburt liegen.12 Die Geburt beginnt nach allgemeiner Auffassung mit den Eröffnungswehen, was mit den medizinischen Erkenntnissen übereinstimmt.13 Die vorausgehenden Schwangerschafts-, Senk- oder Vorwehen bedeuten nicht den Beginn der Geburt, denn diese sind nur Vorzeichen für das Bevorstehen einer Geburt, nicht aber deren Beginn.14 Fraglich ist, ob diese heute immer noch vorherrschende Auffassung nach Wegfall des § 217 StGB durch das 6. Strafrechtsreformgesetz noch haltbar ist. Für die Beibehaltung dieser Zäsur wird argumentiert, dass der Gesetzgeber durch die Streichung des § 217 StGB lediglich die unzeitgemäße Privile-gierung für nichteheliche Mütter aufheben, nicht aber die Grenze zwischen Leibesfrucht und Mensch verschieben wollte. Die positivierte Zäsurfunktion des § 217 StGB a.F. sei dabei schlicht übersehen worden.15 Das schlichte Übersehen und ungewollte Beseitigen der Zäsur kann aber nicht dazu führen, dass sie bestehen bleibt. Es liegt außerhalb der legislatorischen Möglichkeiten des Gesetzgebers, trotz Aufhebung einer Vorschrift ihre Zäsurfunktion 9 10 11
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Küper, GA 2001, S. 516 f. BGHSt 31, 348 ff; vgl. auch BGHSt 32, 194. RGSt 1, 446 (447 ff.); RGSt 9, 131 ff.; BGHSt 31, 348 (350 f.); OLG Bamberg, NJW 1988, S. 2963 (2964); OLG Karlsruhe, NStZ 1985, S. 314 (315); BVerfGE 88, 203 (251); Eser, in: Schönke/Schröder, Vor §§ 211 ff., Rn. 13. BGHSt 32, 195; 10, 5; 31, 348; Merkel, in: Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 165; Lüttger, NStZ 1983, S. 481. RGSt 9, 131; BGHSt 32, 194 (196); Schneider, in: MK-StGB, Vor §§ 211 ff. Rn. 11; Merkel, in: Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 166; Lüttger, JR 1971, S. 135. Lüttger, NStZ 1983, S. 482. Merkel, in: Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 166; Kröger, in: LK-StGB, Vor §§ 218 ff Rn. 33; Küper, GA 2001, S. 531
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3. Kapitel: Einfachgesetzliche Regelung des Spätabbruchs
unabhängig davon isoliert aufrecht zu erhalten.16 Dies könnte in der Tat dazu führen, dass die Grenze zwischen Schwangerschaftsabbruch und Tötungsdelikten neu definiert werden muss. Es ist jedoch zu bedenken, dass zwar die bisherige gesetzliche Abgrenzung verloren gegangen ist, nicht aber die Unterscheidung zwischen Mensch und Leibesfrucht. Diese Differenzierung knüpft nun an eine andere normative Grundlage an, nämlich an den im § 218 Abs. 1 StGB normierten Begriff der Schwangerschaft. Daher besteht die Grundentscheidung des Gesetzgebers, dass pränatale Schädigungen straflos sein sollen, weiterhin. Fraglich ist dann nur noch, wann eine Schwangerschaft beendet ist: mit Beginn der Geburt oder mit ihrer Vollendung.17 Vereinzelt wird vertreten, dass das „Menschsein“ erst mit Vollendung der Geburt beginne. Ausgehend von der Exklusivität von Mensch und nasciturus sei es vom Wortsinn her bedenklich, ein sich noch vollständig im Mutterleib befindliches Kind der Kategorie Mensch zuzuordnen.18 Darüber hinaus wird darauf verwiesen, dass Eröffnungswehen zu früh einsetzen könnten und dann häufig mittels einer tokolytischen Behandlung zum Stillstand gebracht würden. Wäre der Fötus durch die Eröffnungswehen bereits „Mensch“ im Sinne der §§ 211 ff. StGB geworden, so müsste er dies auch bleiben.19 Der Einwand, dass Eröffnungswehen nur dann vorlägen, wenn sie tatsächlich zur Ausstoßung des Kindes führten, wird mit dem Argument abgelehnt, dass dann eine Rückschau vorgenommen werden müsste. Im Strafrecht müsse man aber zum Zeitpunkt der Tathandlung wissen, welche Rechtsqualität das Tatobjekt habe.20 Diese Kritik greift tief. Konsequenz einer solchen Auffassung wäre aber, dass nach der geltenden Rechtslage das Kind während der gefahrenträchtigen Geburtsphase nur unzureichend geschützt ist. Mit Beginn der Geburt werden regelmäßig geburtshilfliche Überwachungsmaßnahmen durchgeführt, die ein hohes Gefährdungspotential beinhalten und damit sorgfältig vorgenommen werden müssen.21 Da weder fahrlässige Schwangerschaftsabbrüche noch Körperverletzungen gemäß § 218 ff. StGB unter Strafe gestellt sind, ist es unter dem Gesichtspunkt des Rechtsgüterschutzes angemessen, zu diesem Zeitpunkt die §§ 211ff. StGB und 223 ff. StGB anzuwenden. Nur indem man an die Eröffnungswehen anknüpft, erreicht man einen optimalen Strafrechtsschutz.22 Merkel erkennt dieses Problem und fordert daher, der Schutzbedürftigkeit des nasciturus während der Geburtsphase durch die Einfügung eines neuen Absatzes in § 218 StGB Rechnung zu tragen, der die fahrlässige Tötung sowie fahrlässige und vorsätzliche Körperverletzung des Fötus nach begonnener, aber noch nicht 16 17
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Küper, GA 2001, S. 531. Von Gropp wird vorgeschlagen, bei der Abgrenzung von Schwangerschaftsabbruchsund Tötungsdelikten de lege ferenda auf den Zeitpunkt der extrauterinen Lebensfähigkeit des nasciturus abzustellen. Vgl. dazu 4. Kapitel B IV 3. Merkel, in: Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 166. Merkel, in: Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 167; Herzberg/Herzberg, JZ 2001, S. 1112. Herzberg/Herzberg, JZ 2001, S. 1112. Lüttger, JR 1971, S. 134; Küper, GA 2001, S. 536. Lüttger, JR 1971, S. 135.
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beendeter Geburt mit Strafe bedroht.23 De lege lata wird eine Auffassung, die das „Menschsein“ erst mit Vollendung der Geburt beginnen lässt, dem Rechtsgüterschutz des nasciturus jedoch nicht gerecht. Darüber hinaus ist zu bedenken, dass nach dieser Sichtweise bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 218a Abs. 2 StGB ein „Spätabbruch“ zwischen Beginn und Vollendung der Geburt gerechtfertigt wäre. Die Regelung des § 218a Abs. 2 StGB basiert aber auf der Überlegung, dass sich die Schwangere aufgrund der bestehenden „Zweiheit in Einheit“ in einer einzigartigen Konfliktsituation befindet. Diese für den Konflikt maßgebliche Situation löst sich bereits mit Geburtsbeginn von selbst auf, so dass sie als Rechtfertigungsgrundlage nicht mehr herangezogen werden kann. Mit der Gesetzessystematik ist eine solche Sichtweise folglich nicht zu vereinbaren.24 Das „Menschsein“ beginnt somit mit den Eröffnungswehen. Dass die Eröffnungswehen schwer von anderen Wehen abzugrenzen sind, ist hinzunehmen. Eine gewisse zeitliche Unbestimmtheit ist unentrinnbar, dies gilt auch für die Zeitpunkte der Nidation und der Befruchtung. Den Geburtsanfang bei operativer Entbindung sieht das Schrifttum im Übrigen mehrheitlich in der Eröffnung des Uterus, sofern der Eingriff vor Einsetzen der Eröffnungswehen erfolgt.25 2. Exkludierende Abgrenzung Da der Spätschwangerschaftsabbruch zu einem Zeitpunkt stattfindet, zu dem der nasciturus bereits potentiell extrauterin lebensfähig ist, kann es, wenn der Gynäkologe keinen Fetozid durchführt, vorkommen, dass der Tod aufgrund der pränatal vorgenommenen Handlung erst postnatal eintritt. Die Festlegung vom Beginn des „Menschseins“ reicht daher nicht aus, um Schwangerschaftsabbruch und Totschlag in diesen Fällen zweifelsohne voneinander abzugrenzen. Nach herrschender Meinung wird eine exkludierende Abgrenzung vorgenommen. Ob die Tat nach den Regelungen über den Schwangerschaftsabbruch oder über §§ 212, 222 StGB zu beurteilen ist, richtet sich nach dem Zeitpunkt, zu dem die tödliche Tathandlung auf den Körper des Opfers einwirkt.26 Ausschlaggebend ist damit weder der Zeitpunkt des Handlungsvollzugs noch der des Erfolges. Es kommt vielmehr auf die Rechtsqualität des Tatobjekts beim Auftreffen der Schädigungshandlung an.27
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Merkel, in: Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 172; auch Herzberg/Herzberg, JZ 2001, S. 1113 halten eine Gesetzesänderung für erforderlich. Hillenkamp, FS Herzberg, S. 498, Fn. 47. Lackner/Kühl, Vor § 211 Rn. 3 m.w.N. Teilweise wird auch die Öffnung der Bauchdecke als Beginn der Geburt angesehen.Vgl. Schneider, in: MK-StGB, Vor §§ 211 ff. Rn. 12. Vgl. nur: Fischer, § 211 Rn. 8; Lüttger, JR 1971, S. 138; ders., NStZ 1983, S. 483; BGH, NStZ 2008, S. 393 (394). Eser, in: Schönke/Schröder, Vorbem §§ 211 ff. Rn. 15; Schneider, in: MK-StGB, Vor §§ 211 ff. Rn. 13.
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3. Kapitel: Einfachgesetzliche Regelung des Spätabbruchs
Die herrschende Meinung kann sich auf die geschichtliche Entwicklung der Norm berufen. Sowohl die §§ 218, 220 in der ursprünglichen Fassung des Reichsstrafgesetzbuchs als auch § 218 in der Fassung des Gesetzes vom 18.5.192628 unterschieden zwei Begehungsweisen. Einerseits gab es die Tötung im Mutterleib, andererseits die Tötung durch Abtreibung, bei welcher das Kind erst nach der Geburt starb. Da die 2. Alternative zwingend voraussetzte, dass der Erfolg am geborenen Kind eintrat, kam es bei der Abgrenzung auf den Zeitpunkt der Einwirkung der tatbestandsmäßigen Ausführungshandlung an, nicht aber auf den Zeitpunkt des Erfolgseintritts. Der Wortlaut des § 218 StGB in seinen Neufassungen durch die VO vom 9.3.194329 und durch das 5. StrRG nennt die beiden Tatbestandsmodalitäten nicht mehr ausdrücklich, umfasst aber nach ständiger Rechtsprechung des BGH weiterhin beide Varianten.30 Wenn aber das Gesetz beide Varianten umfasst und als Schwangerschaftsabbruch qualifiziert, dann stellt es als Abgrenzung zu den Tötungsdelikten auf die Objektsqualität im Zeitpunkt der Einwirkung ab und nicht auf die Objektsqualität im Zeitpunkt des Taterfolgs.31 Dadurch wird vermieden, dass die Bestrafung wegen eines Tötungsdelikts oder wegen Schwangerschaftsabbruchs von dem zufälligen Eintritt des Todes vor oder nach Geburt abhängt.32 Erfolgt der Eingriff damit pränatal, so ist grundsätzlich § 218 StGB einschlägig. Erfolgt die Einwirkung postnatal, so liegt ein Totschlag oder eine fahrlässige Tötung vor. In der Konsequenz bedeutet dies, dass eine fahrlässige pränatale Handlung, die den Tod des Kindes postnatal herbeiführt, straflos bleiben muss, um die Sperrwirkung des § 218 StGB nicht zu durchbrechen. Der Spätabbruch wird meist durch die Gabe wehenauslösender Mittel vorgenommen. Da diese Einwirkung vor Beginn der Eröffnungswehen stattfindet, ist er zunächst gemäß den §§ 218 ff. StGB zu behandeln. Überlebt das Kind die Abtreibung und stirbt danach alsbald infolge seiner mangelnden Lebensfähigkeit, so führt dies unstreitig nicht zur Anwendbarkeit der §§ 211 ff., sondern es bleibt bei der Beurteilung nach den §§ 218 ff. StGB.33 Nach der Rechtsprechung und der überwiegenden Meinung in der Literatur soll bei einer pränatalen Einwirkung mit postnatalem Todeseintritt für die Zurechnung des Todes erforderlich sein, dass die Todesursache in der mangelnden Ausreifung des Kindes liegt.34 Eine solche Einschränkung wird allerdings vielfach zu Recht abgelehnt, da dann die Fälle, in denen die Lebensunfähigkeit im Zeitpunkt des Eingriffs weniger auf der Vorzeitigkeit der Geburt beruht als auf anderen Gründen wie beispielsweise Missbildungen des Kindes, unerfasst blieben. Für die Vollendung des § 218 StGB muss es daher genügen, wenn der Abbruch mitursächlich für den Tod des Kindes ist.35 28 29 30 31 32 33 34 35
RGBl. I, 239. RGBl. I, 140. Vgl. BGHSt 10, 5 f.; 13, 21, 24; 31, 348, 352; BGH, NStZ 2008, 393, 394. Lüttger, JR 1971, S. 138. BGH, NStZ 2008, S. 393 (394). Schneider, in: MK-StGB, Vor §§ 211 ff. Rn. 13; BGHSt 10, 5; BGHSt 13, 21 (24). BGHSt 10, 5, 293; 13, 24. Eser, in: Schönke/Schröder, § 218 Rn. 22; Gropp, in: MK-StGB, § 218 Rn. 19.
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Umstritten ist auch, ob der vollendete Schwangerschaftsabbruch voraussetzt, dass das Kind alsbald nach der Geburt versterben muss.36 Auf die Lebensdauer kann es aber nicht ankommen, da die Entscheidung über einen vollendeten oder versuchten Schwangerschaftsabbruch davon abhinge, wie lange die ärztliche Kunst das Leben des Neugeborenen verlängern kann.37 Wird das lebende Kind nun nach Geburt getötet, so sind die §§ 211 ff. StGB erfüllt. Daneben liegt ein versuchter Schwangerschaftsabbruch vor, da der tödliche Erfolg nicht durch die Abbruchs-, sondern durch die Tötungshandlung herbeigeführt wurde.38 Gerade bei Spätabtreibungen kommen die Kinder häufig lebend zur Welt, wenn ein intrauteriner Fetozid nicht vorgenommen wurde. In diesem Fall stellt sich die Frage, wie sich der Arzt verhalten muss und wie sein Tun strafrechtlich zu bewerten ist. Ist das Kind lebensfähig, so muss der Arzt lebenserhaltende Maßnahmen ergreifen, ansonsten macht er sich gemäß §§ 212 (222), 13 StGB strafbar. Indiziert sind alle Maßnahmen, die auch bei der Geburt eines Wunschkindes indiziert wären, wie Reanimation, Warmhalten, medikamentöse Maßnahmen zur Beschleunigung der Lungenreifung.39 3. Grundlegende Entscheidungen Zwei Fälle haben im Rahmen dieser Abgrenzung Aufsehen erregt. Sie seien im Folgenden geschildert. a) Oldenburger Fall Im so genannten Oldenburger Fall40 nahm der verantwortliche Gynäkologe am 6. Juli 1997 einen Schwangerschaftsabbruch in der 26. Schwangerschaftswoche auf Grund einer Indikation nach § 218a Abs. 2 StGB basierend auf einem embryopathischen Befund vor. Bei sonografischen Untersuchungen wurde ein erhöhtes Risiko für Trisomie 21 diagnostiziert. In der anschließend durchgeführten Amniozentese wurde dieser Verdacht bestätigt. Aufgrund der wiederholten Erklärung der Frau, sie sei psychisch am Ende, wolle ein behindertes Kind nicht und werde sich notfalls aus dem Fenster stürzen, wurde ein Schwangerschaftsabbruch durchgeführt. Zur Welt kam ein 690 g schwerer lebender Junge, der aber schlapp und zyanotisch war und nur spontane Herzreaktionen sowie Schnappatmung zeigte. Das Kind wurde zunächst lediglich in warme Tücher gewickelt, die die Abkühlung der Körpertemperatur auf 28 °C jedoch nicht verhinderten. Als Atmung und Herzfrequenz regelmäßiger wurden, saugte man die Atemwege ab. Erst neun Stunden 36 37 38 39 40
So BGHSt 10, 5; 10, 293; 13, 24. Eser, in: Schönke/Schröder, § 218 Rn. 23; Gropp, in: MK-StGB, § 218 Rn. 20; inzwischen zweifelnd BGH, NStZ 2008, S. 393 (395). Eser, in: Schönke/Schröder, § 218 Rn. 24. Hanke, Spätabtreibungen, S. 51. Einstellungsverfügung der StA Oldenburg vom 3. 5. 1999, NStZ 1999, S. 461 f.; Einstellungsverfügung der StA Oldenburg ohne Datum, versandt am 14. 5. 2003, ZfL 2003, S. 99 ff.; AG Oldenburg, Strafbefehl vom 29. 3. 2004, ZfL 2004, S. 117 f.
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nach Geburt wurde das Kind in die Neonatologie verlegt. Durch die verzögerte Behandlung können zusätzliche Schäden des Kindes herbeigeführt worden sein. Das Amtsgericht Oldenburg verurteilte den verantwortlichen Arzt am 29. März 2004 zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen wegen einer Körperverletzung mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung gemäß §§ 223, 223a, 13 StGB in der bis zum 3. 3. 1998 gültigen Fassung. Zur Begründung führte es aus, dass durch das Abkühlen des Kindes zwar in den ersten Stunden das Überleben des Kindes sogar gesichert worden sei. Bewusst habe dem behandelnden Gynäkologen jedoch auch sein müssen, dass das Abkühlen einen erheblichen Risikofaktor in der langfristigen Mortalität des Frühgeborenen darstelle. Spätestens nach zwei Stunden hätte daher eine neonatologische intensivmedizinische Behandlung wie Wärmebehandlung, Beatmung und Schmerztherapie erfolgen müssen.41 Die Zäsur zwischen Schwangerschaftsabbruch und Körperverletzungsdelikt wird hier deutlich. Die Einwirkung auf den Nasciturus stellt sich zunächst als ein nach § 218a Abs. 2 StGB gerechtfertigter Schwangerschaftsabbruch dar. Mit der Geburt hat sich das Tatobjekt gewandelt. Ein lebensfähiger „Mensch“ wird liegengelassen, so dass die §§ 223 ff. StGB anwendbar sind. Die Rechtfertigung des Schwangerschaftsabbruchs gemäß § 218a Abs. 2 StGB wirkt in diese spätere Körperverletzung nicht hinein. b) Zittauer Fall Im so genannten Zittauer Fall42 verlangte eine Frau in der 29. Schwangerschaftswoche den Abbruch der Schwangerschaft, da bei ihrem Kind Zwergenwuchs diagnostiziert worden war. Nicht festgestellt wurde, dass der Fötus an einer letalen Form des Zwergenwuchses litt, die nur ein Überleben von drei Monaten nach Geburt ermöglichte. Die Durchführung eines Schwangerschaftsabbruchs wurde in Kliniken in Dresden und Berlin abgelehnt, da eine Indikation nicht gegeben sei. Obwohl der Chefarzt der Gynäkologie und Geburtshilfe in Zittau wusste, dass keine Notlage der Frau vorlag, nahm er einen Bauchschnitt vor und wollte das Absterben des Kindes durch mangelnde Sauerstoffzufuhr sichern, indem er zunächst die Nabelschnur vor Entwicklung des Kindes aus der Gebärmutter abklemmte. Nach der Entwicklung des Kopfes drückte er ein Tuch auf das Gesicht des Kindes, das nach der vollständigen Entwicklung keine Lebenszeichen mehr zeigte. Etwa eine halbe Stunde später zeigte das Kind im Containerraum Versuche zu atmen 41
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Wiebe kritisiert, dass auch ein versuchter Totschlag durch Unterlassen zu bejahen gewesen wäre. Spätestens um 6 Uhr hatte sich der Zustand des Kindes gebessert. Dadurch dass der Gynäkologe keinen Neonatologen hinzugezogen habe, habe er den Tod des Kindes billigend in Kauf genommen. Ein Rücktritt gemäß § 24 StGB sei nicht mehr möglich gewesen, da das Kind stabile Vitalfunktionen aufgewiesen habe und der Tötungsversuch daher fehlgeschlagen sei. Die Körperverletzung mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung stehe dazu in Tateinheit. Wiebe, Anm. zum Strafbefehl des AG Oldenburg vom 29. 3. 2004, ZfL 2004, S. 118 ff.; für eine Strafbarkeit wegen versuchten Totschlags durch Unterlassen auch schon Tröndle, Anm. zur Einstellungsverfügung der StA Oldenburg, NStZ 1999, S. 462 ff. (464). LG Görlitz, Urteil vom 7. 6. 2002, ZfL 2003, S. 87 ff.; BGHSt, Urteil vom 20. 5. 2003, ZfL 2003, S. 83 ff.
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und wurde daraufhin mittels Beatmen und Erwärmen von anderen Ärzten reanimiert. Als der Chefarzt davon erfuhr, unterband er schließlich diese Maßnahmen und drückte dem Kind Mund und Nase fest zu. Da nicht auszuschließen war, dass der Hirntod des ohnehin kranken Kindes wegen fehlender Sauerstoffversorgung nach Abtrennung der Nabelschnur und mangelnder Eigenatmung bereits vor den Handlungen des Chefarztes eingetreten war oder durch die letale Skelettfehlbildung herbeigeführt worden war, hatte das Landgericht Görlitz den Angeklagten wegen versuchten Totschlags verurteilt. Da die Eröffnung des Uterus erfolgt war, waren die §§ 211, 212 StGB anwendbar. Mangels Indikation war der Schwangerschaftsabbruch nicht gerechtfertigt. Da nicht geklärt werden konnte, wann und woran das Kind starb, stand ein versuchter Schwangerschaftsabbruch in Tateinheit. Das Landgericht Görlitz verurteilte den Chefarzt zu einer Haftstrafe von zwei Jahren auf Bewährung.43 Auch hier wird die Abgrenzung zwischen Schwangerschaftsabbruchs- und Tötungsdelikten deutlich. Während die Einwirkung auf das ungeborene Kind nach den §§ 218 ff. StGB zu beurteilen ist, richten sich die Handlungen nach Eröffnung des Uterus nach den §§ 211 ff. StGB. Das Tatobjekt hat sich von der Leibesfrucht zum Menschen gewandelt. 4. Einschränkung der Lebenserhaltungspflicht des Arztes Zu beachten ist, dass in den embryopathisch begründeten Fällen der medizinischsozialen Indikation die Pflicht des Arztes, Leben zu erhalten, eingeschränkt sein kann. Generell gilt, dass der Arzt erlöschendes Leben nicht künstlich verlängern muss. Ziffer V der „Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung“ sieht daher vor: „Bei Neugeborenen mit schwersten Beeinträchtigungen durch Fehlbildungen oder schweren Stoffwechselstörungen, bei denen keine Aussicht auf Heilung oder Besserung besteht, kann nach hinreichender Diagnostik und im Einvernehmen mit den Eltern eine lebenserhaltende Behandlung, die ausgefallene oder ungenügende Vitalfunktionen ersetzt, unterlassen oder beendet werden. Gleiches gilt für extrem unreife Kinder, deren unausweichliches Sterben abzusehen ist und für Neugeborene, die schwerste Zerstörungen des Gehirns erlitten haben.“44
In der revidierten Fassung der „Einbecker Empfehlungen“ formulieren die Deutsche Gesellschaft für Medizinrecht, die Akademie für Ethik in der Medizin und die Deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde bereits im Jahr 1992: 43
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Wiebe will sogar einen versuchten Mord wegen Heimtücke annehmen, da die Wehrlosigkeit des Kindes ausgenutzt worden sei. Das Zudrücken von Mund und Nase im Containerraum sei ebenfalls als Mordversuch mit Verdeckungsabsicht anzusehen. Anders als der BGH sieht Wiebe hier keine Tateinheit, da der Angeklagte keinen ursprünglichen Entschluss fortgeführt habe, sondern zunächst vom Tod des Kindes ausgegangen sei. Er habe erneut einen Entschluss zur Tötung gefasst, so dass Tatmehrheit vorliege. Vgl. Wiebe, Anm. zum Urteil des BGH v. 20. 5. 2003, ZfL 2003, S. 85 ff. BÄK, DÄBl. 2011, S. A-347.
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„Es gibt … Fälle, in denen der Arzt nicht den ganzen Umfang der medizinischen Behandlungsmöglichkeiten ausschöpfen muss.“ „Diese Situation ist gegeben, wenn nach dem aktuellen Stand der medizinischen Erfahrung und menschlichem Ermessen das Leben des Neugeborenen nicht auf Dauer erhalten werden kann, sondern ein in Kürze zu erwartender Tod nur hinausgeschoben wird.“45
Ob für das Kind eine Chance zum Leben besteht, ist dabei vom Arzt einzuschätzen.46 Bei nicht lebensfähigen Kindern muss Leidhilfe gewährt werden.47 Ansonsten kommt eine Strafbarkeit gemäß § 223, 13 oder § 323c StGB in Betracht.
III. Rechtfertigung von Spätabbrüchen bei Vorliegen der medizinisch-sozialen Indikation gemäß § 218a Abs. 2 StGB Bei Vorliegen der medizinisch-sozialen Indikation gemäß § 218a Abs. 2 StGB sind Schwangerschaftsabbrüche im Gegensatz zu den Straffreistellungsgründen des Abs. 1 und 3 unbefristet gerechtfertigt. Eine Differenzierung zwischen frühen und späten Schwangerschaftsabbrüchen nimmt § 218a Abs. 2 StGB nicht vor.48 Im Folgenden soll die medizinisch-soziale Indikation näher betrachtet werden. Wörtlich lautet diese wie folgt: Der mit Einwilligung der Schwangeren von einem Arzt vorgenommene Schwangerschaftsabbruch ist nicht rechtswidrig, wenn der Abbruch der Schwangerschaft unter Berücksichtigung der gegenwärtigen und zukünftigen Lebensverhältnisse der Schwangeren nach ärztlicher Erkenntnis angezeigt ist, um eine Gefahr für das Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren abzuwenden, und die Gefahr nicht auf eine andere für sie zumutbare Weise abgewendet werden kann.
1. Lebensgefahr Als Lebensgefahren kommen zum einen solche Risiken in Betracht, die sich aus einer mangelnden körperlichen Stabilität der Schwangeren ergeben oder aus bereits vorhandenen Leiden, die durch die Schwangerschaft verschlimmert werden können.49 Solche physischen Lebensgefahren sind beispielsweise gegeben, wenn die Schwangere an Gebärmutterhalskrebs, an einer chronisch entzündeten Rest-
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Einbecker Empfehlungen, MedR 1992, S. 206; dem Sinn nach bestätigt durch die Ausführungen im AMWF-Leitlinien Register Nr. 024/019, S. 3 ff. Stand 2006. Die ärztliche Pflicht zur Lebenserhaltung ist hiernach begrenzt, wenn es faktisch unmöglich ist, einen Behandlungserfolg herbeizuführen, wenn eine Behandlung unzumutbar ist, wenn der Patient dauerhaft unfähig zur Kommunikation ist oder wenn die Behandlung gegen die Menschenwürde verstoßen würde. AMWF-Leitlinien Register Nr. 024/019, S. 2. Fischer, § 218a Rn. 22. Zu den Auffassungen, die entgegen dem ausdrücklichen Wortlaut des Gesetzes an Spätabtreibungen höhere Anforderungen stellen wollen vgl. 4. Kapitel B IV 1. Eser, in: Schönke/Schröder, § 218a Rn. 28.
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niere leidet oder ein schweres Herzleiden hat.50 Außerdem kann es auch in Fällen einer hochgradigen Mehrlingsschwangerschaft zu lebensgefährlichen Komplikationen für die Schwangere kommen. Eine Lebensgefahr liegt nach der Intention des Gesetzgebers auch dann vor, wenn durch die Schwangerschaft Depressionen hervorgerufen werden, die eine Suizidneigung herbeiführen oder verstärken.51 2. Schwerwiegende Gesundheitsgefahr Eine Gefahr für die Gesundheit der Schwangeren ist dann gegeben, wenn die ernstzunehmende Wahrscheinlichkeit besteht, dass das Fortbestehen der Schwangerschaft oder die Geburt des Kindes eine physische oder psychische Krankheit der Schwangeren auslöst oder steigert.52 Eine schwerwiegende Beeinträchtigung des körperlichen Gesundheitszustands liegt zweifelsohne vor, wenn die Schwangere an Herz- oder Kreislauferkrankungen leidet.53 Physische Leiden wie das HELLP-Syndrom, organisch bedingte Herzfehler eines bestimmten Schweregrades, Niereninsuffizienz, Diabetes, Zervix- und Ovarialkarzinome können heute unproblematisch eine Indikation im Sinne des § 218a Abs. 2 StGB begründen.54 Neben körperlichen Leiden sind nun auch ausdrücklich seelische Leiden genannt. Unter diese können unproblematisch Fälle von psychischen Leiden wie Depressionen mit echtem Krankheitswert subsumiert werden.55 Nach dem gesetzgeberischen Willen, der im Wortlaut des § 218a Abs. 2 StGB seinen Ausdruck gefunden hat, ist jedoch ein echter Krankheitswert nicht unbedingt erforderlich. Die Indikation ist vielmehr weiter zu verstehen.56 Der gesetzgeberische Wille spiegelt sich zum einen darin wider, dass anders als in § 223 StGB, der die Schädigung der „Gesundheit“ unter Strafe stellt, die medi-
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Vgl. BT-Drs. 11/4528, S. 78 – Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Rechts der Vormundschaft und Pflegschaft für Volljährige (Betreuungsgesetz – BtG). Aufgrund des gleichen Wortlauts von § 1905 und § 218a Abs. 2 StGB können die beispielhaften Ausführungen dieses Gesetzentwurfs auch für die Auslegung des § 218a Abs. 2 StGB herangezogen werden; Eser, in: Schönke/Schröder, § 218a Rn. 28; Merkel, NK-StGB, § 218a Rn. 85. RGSt 61, 242 (257 f.);Rudolphi/Rogall, in: SK-StGB, § 218a Rn. 40; Eser, in: Schönke/Schröder, § 218a Rn. 28; Fischer, § 218a Rn. 20; Gropp, MK-StGB, § 218a Rn. 43; BT-Drs. 11/4528, S. 78. Rudolphi/Rogall, SK-StGB, § 218a Rn. 41; Eser, in: Schönke/Schröder, § 218a Rn. 29. BT-Drs. 11/4528, S. 78. Kröger, in: LK-StGB, § 218a Rn. 40. So die Rechtsprechung des BGHZ vom 18. 6. 2002, MedR 2002, S. 640 ff. Dabei ist schon an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass die Zivilgerichte bei der Auslegung der Gesundheitsbeeinträchtigung strenger sind als die Strafgerichte; BT-Drs. 11/4528 S. 78. BT-Drs. VI/3434, S. 20; vgl. dazu: Fischer, § 218a Rn. 25; Eser, in: Schönke/Schröder, § 218a Rn. 29; Gropp, MK-StGB, § 218a Rn. 44, Hillenkamp, FS Amelung, S. 437; Merkel, in: NK-StGB, § 218a Rn. 90.
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3. Kapitel: Einfachgesetzliche Regelung des Spätabbruchs
zinisch-soziale Indikation eine Beeinträchtigung des „Gesundheitszustands“ erfordert.57 Unter Gesundheitsschädigung im Sinne des § 223 StGB ist jedes Hervorrufen oder Steigern eines vom normalen Zustand der körperlichen Funktionen nachteilig abweichenden (pathologischen) Zustandes, gleichgültig, auf welche Art und Weise er verursacht wird und ob das Opfer dabei Schmerzen empfindet, zu verstehen.58 Bloße Störungen des seelischen Befindens reichen bei § 223 StGB nicht aus, es sei denn, sie führen zu einer nicht nur unerheblichen Verschlechterung des körperlichen Zustandes.59 „Gesundheit“ im Sinne des § 223 StGB ist somit komplementär zum Begriff der „Krankheit“ zu verstehen. „Gesundheitszustand“ im Sinne des § 218a Abs. 2 StGB soll aber nach dem Willen des Gesetzgebers nicht synonym mit „Gesundheit“ im Sinne des § 223 StGB verwendet werden, da die Rechtsprechung psychische Beeinträchtigungen nur sehr begrenzt unter den Begriff der „Gesundheit“ im Sinne des § 223 StGB subsumiert,60 bei einer Schwangerschaft psychische Beeinträchtigungen aber genauso bedeutsam wie körperliche sind und daher berücksichtigt werden müssen. Psychische Probleme können sich insbesondere dann einstellen, wenn bei Pränataldiagnostik eine Fehlbildung des Kindes diagnostiziert wurde. Bereits im 5. Strafrechtsänderungsgesetz wollte man sich dem Gesundheitsbegriff in der Präambel der Satzung der Weltgesundheitsorganisation WHO vom 22. Juli 1946 annähern, die auch das seelische und soziale Wohlbefinden berücksichtigt.61 Darüber hinaus wollte man auch eine Annäherung an neuere Bestimmungen der medizinischen Indikation in Dänemark, Schweden, England und den USA erreichen.62 In der damaligen Gesetzesfassung wurde ein Schwangerschaftsabbruch nicht bestraft, wenn dadurch „von der Schwangeren eine Gefahr für ihr Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung ihres Gesundheitszustandes abgewendet werden kann.“ Damit brachte der Wortlaut die gewollte Annäherung an den Gesundheitsbegriff der WHO nicht zum Ausdruck. Durch die Aufnahme der psychischen Komponente und der „Berücksichtigung der gegenwärtigen und künftigen Lebensverhältnisse“ wollte der Gesetzgeber im 15. StrÄndG diese Annäherung klarstellen.63 Zu betonen ist, dass lediglich eine Annäherung an diesen Begriff, aber keine Gleichsetzung mit ihm bezweckt war.64 Ein solch weites Verständnis wäre auch Bedenken ausgesetzt. Der Bundesrat drückt seine Bedenken in der Stellungnahme zum Entwurf des 5. Strafrechtsreformgesetzes der Bundesregierung so aus, dass 57 58 59 60 61
62 63 64
Gropp, MK-StGB, § 218a Rn. 44; Merkel, NK-StGB, § 218a Rn. 90. Lackner/Kühl, § 223 Rn. 5. Lackner/Kühl, § 223 Rn. 5; Fischer, § 218a Rn. 25. BT-Drs. VI/3434, S. 20. Diese lautet: „Health is a state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease of infimity.” Vgl. ausführlich zum Gesundheitsbegriff der WHO: Hillenkamp, in: Tag/Hillenkamp, Intramurale Medizin, S. 124 f. BT-Drs. VI/3434, S. 20. Müller-Emmert, DRiZ 1976, S. 166. Merkel, in: NK-StGB, § 218a Rn. 90.
A. Überblick über die strafrechtliche Rechtslage
155
dies eine „nicht vertretbare Ausweitung der medizinischen Indikation und damit zugleich eine erhebliche Zunahme der Schwangerschaftsabbrüche unter vorwiegend sozialen Aspekten zur Folge“ hätte.65 Die Beeinträchtigung des seelischen Gesundheitszustandes erfordert somit nicht das Vorliegen eines bestimmten Krankheitsbildes. Entscheidend ist eine ganzheitliche Betrachtung. Neben biologisch-medizinischen Bedingungen sind auch die gesamten sozialen gegenwärtigen und zukünftigen Lebensverhältnisse der Schwangeren mit einzubeziehen.66 Gesundheitsgefahren, die von der medizinisch-sozialen Indikation umfasst sind, können daher auch beispielsweise psychoneurotische Persönlichkeitsstörungen, neurasthenische Entwicklungen mit ständigen Versagenserlebnissen und depressive Fehlentwicklungen sein, die auch durch familiäre und wirtschaftliche Belastungen ausgelöst werden können und die keine Krankheiten im engen medizinischen Sinn sind.67 Auch ständige Überforderungen der Frau und ein lang andauernder Erschöpfungszustand im Sinne einer „verbrauchten Frau“ reichen aus.68 Es werden somit auch solche Zustände erfasst, die keinem medizinisch fest umschriebenen Krankheitsbild entsprechen, sondern erst auf Grund einer Gesamtwürdigung auf dem Hintergrund der gegenwärtigen und zukünftigen Lebensverhältnisse eine biologisch signifikante Verschlechterung der körperlichen oder seelischen Verfassung der Schwangeren erkennbar machen.69 Die bloße Beeinträchtigung im sozialen Wohlbefinden, wie beispielsweise bei Einkommenseinbußen oder Verringerung sozialer Geltung, die nach dem Gesundheitsbegriff der WHO schon eine Gesundheitsgefahr begründen würde, kann jedoch keine Bedrohung der Gesundheit darstellen.70 Die zu befürchtende Gesundheitsbeeinträchtigung muss zudem schwerwiegend sein. Schwerwiegend ist sie dann, wenn sie erheblich über die physischen und psychischen Belastungen, die mit jedem normalen Verlauf einer Schwangerschaft verbunden sind, hinausgeht.71 Eine dauerhafte Gesundheitsbeeinträchtigung oder eine solche, die einer Lebensgefahr gleichkommt, ist aber nicht erforderlich.72 In der Gesundheitsgefahr ist ein eigenständiger Indikationsgrund zu erblicken.73
65 66 67 68 69 70 71 72 73
BT-Drs. VI/3434, S. 46. Nicht leugnen kann man aber wohl, dass durch die Annäherung an den Gesundheitsbegriff der WHO eine erhebliche Grauzone entstanden ist. Eser, in: Schönke/Schröder, § 218a Rn. 29. BT-Drs. VI/3434, S. 20; Eser, in: Schönke/Schröder, § 218a Rn. 29; Rudolphi/Rogall, in: SK-StGB, § 218a Rn. 41; Lackner/Kühl, § 218a Rn. 12. Gropp, MK-StGB, § 218a Rn. 44; Kröger, in: LK-StGB, § 218a Rn. 40; Eser, in: Schönke/Schröder, § 218a Rn. 29. Lackner/Kühl, § 218a Rn. 12; Fischer, § 218a Rn. 25. BT-Drs. VI/3434, S. 22; Eser, in: Schönke/Schröder, § 218a Rn. 29. BVerfGE 88, 203 (257); Gropp, MK-StGB, § 218a Rn. 45; Rudolphi/Rogall, in: SKStGB, § 218a Rn. 42; Eser, in: Schönke/Schröder, § 218a Rn. 30. Gropp, MK-StGB, § 218a Rn. 45; Rudolphi/Rogall, in: SK-StGB, § 218a Rn. 42. Eser, in: Schönke/Schröder, § 218a Rn. 30; Gropp, MK-StGB, § 218a Rn. 45.
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3. Kapitel: Einfachgesetzliche Regelung des Spätabbruchs
3. Konkrete Gefahr § 218a Abs. 2 StGB fordert das Vorliegen einer Gefahr für das Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren. Aus dem ultima ratio Gedanken ergibt sich, dass die Gefahr konkret sein muss. Eine Gefahr ist zunächst einmal als ein Zustand zu definieren, in dem aufgrund tatsächlicher Umstände die Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines schädigenden Ereignisses besteht, wobei unter Wahrscheinlichkeit die nahe liegende Möglichkeit des Schadenseintritts zu verstehen ist.74 Für das Vorliegen einer Gefahr im Sinne des § 218a Abs. 2 StGB müssen konkrete Anhaltspunkte für den möglichen Schadenseintritt bestehen, wobei der Grad der Wahrscheinlichkeit von der Größe der Gefahr abhängig zu machen ist. Dabei gilt: Je schwerer die drohende Gesundheitsbeeinträchtigung wiegt, desto geringer muss die Wahrscheinlichkeit ihres Eintritts sein.75 Gegenwärtig muss die Gefahr nicht sein. Es reicht aus, wenn sich die Gefahr erst im weiteren Verlauf der Schwangerschaft oder auch nach der Geburt verwirklichen kann.76 Die Berücksichtigung zukünftiger Lebensverhältnisse wird in § 218a Abs. 2 StGB ausdrücklich angeordnet. 4. Fallgruppen Die genauere Betrachtung der Voraussetzungen des § 218a Abs. 2 StGB zeigt, dass sich die Sachverhalte der medizinisch-sozialen Indikation in drei Gruppen einteilen lassen. (1) § 218a Abs. 2 StGB erfasst zunächst die Fälle, in denen die Schwangerschaft zu einer physischen Lebens- oder Gesundheitsgefahr der Schwangeren führt. Aufgrund der bestehenden medizinischen Möglichkeiten hat diese Fallgruppe allerdings an Bedeutung verloren.77 (2) Andererseits werden auch psychische Lebens- und Gesundheitsgefahren durch die medizinisch-soziale Indikation berücksichtigt. Diese können auch durch die persönlichen Lebensumstände verursacht sein. Der Sachverhalt, der der Entscheidung des Reichsgerichts vom 11. März 1927 zugrunde lag, lässt sich dieser Fallgruppe beispielsweise zuordnen. In diesem Fall war die Schwangere durch eine Liebesbeziehung mit einem Reisenden schwanger geworden und geriet durch die Schwangerschaft in Suizidgefahr.78 Zu dieser Fallgruppe zählen darüber hinaus beispielsweise die Sachverhalte, in denen die Schwangere einer Immigrantenfamilie angehört und bei Austragen der Schwangerschaft mit Verletzungen oder gar Tötung von Seiten ihrer Familie zu rechnen hat. Wie häufig Abbrüche aus diesen Gründen vorgenommen werden, bleibt im Dunkeln. 74 75 76 77 78
BGHSt 18, 271 (272); 176 (179); Merkel, in: NK-StGB, § 218a Rn. 83. Eser, in: Schönke/Schröder, § 218a Rn. 31; Fischer, § 218a Rn. 24; Rudolphi/Rogall, in: SK-StGB, § 218a Rn. 43. Rudolphi/Rogall, in: SK-StGB, § 218a Rn. 44. BÄK/DGGG 2006, S. 122; Fischer, § 218a Rn. 20. RGSt 61, 242; bestätigt durch RGSt 62, 137 ff.
A. Überblick über die strafrechtliche Rechtslage
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(3) Durch die „Berücksichtigung der gegenwärtigen und zukünftigen Lebensverhältnisse“ sollten in § 218a Abs. 2 StGB darüber hinaus Fallkonstellationen der ehemals embryopathischen Indikation aufgefangen werden, in denen die Behinderung des ungeborenen Kindes zu einer unzumutbaren Belastung der Schwangeren führt.79 Von der medizinisch-sozialen Indikation erfasst sind somit nach dem Willen des Gesetzgebers auch Fälle, in denen die Schwangere darunter leidet, ein behindertes Kind in sich zu tragen oder sich zu einem Leben mit einem behinderten Kind außerstande sieht. Von Seiten der Ärzte wurde in Gesprächen allerdings vielfach bestritten, dass aus einer Behinderung des nasciturus jemals eine Suizidgefahr resultieren könne und behauptet, dass der Abbruch doch allein wegen der Behinderung des nasciturus gewünscht werde. Vermutlich kommt dieser Fallgruppe zahlenmäßig die größte Bedeutung innerhalb der medizinisch-sozialen Indikation zu.80 5. Subsidiarität des Schwangerschaftsabbruchs Ein Schwangerschaftsabbruch ist bei Vorliegen einer Gefahr für das Leben oder einer schwerwiegenden Gefahr für die Gesundheit nur als ultima ratio gerechtfertigt, wenn die Gefahr nicht auf eine andere für die Schwangere zumutbare Weise abgewendet werden kann. Erforderlich ist daher zunächst die faktische Abwendbarkeit der Gefahr. Diese kann in erster Linie durch ärztliche Maßnahmen wie die Gabe von Psychopharmaka zur Bekämpfung von Depressionen und Suizidneigung, die Verabreichung von Medikamenten zur Stützung des Kreislaufs oder durch Einleiten einer Frühgeburt abgewendet werden.81 Von Seiten der Ärzte wurde mir allerdings berichtet, dass diese Maßnahmen fast nie getroffen werden. Gesundheitsgefahren, die durch die gegenwärtigen oder künftigen Lebensverhältnisse der Schwangeren drohen, können eventuell auch durch Vermittlung und Bezahlung von Haushaltshilfen und Pflegekräften beseitigt werden, also durch Gewähren von personellen und materiellen Hilfen.82 Darüber hinaus muss die mögliche Abwendungsmaßnahme der Schwangeren zumutbar sein. Unzumutbarkeit liegt vor, wenn durch den Einsatz der Abwendungsmaßnahme ebenfalls schwerwiegende Gesundheitsbeeinträchtigungen oder andere Belastungen und Schäden drohen, die in ihrem Gewicht den den Schwangerschaftsabbruch rechtfertigenden Umständen wertmäßig annähernd gleichste-
79
80 81 82
BT-Drs. 13/1850, S. 51. Die embryopathisch motivierte medizinisch-soziale Indikation wird im Rahmen der verfassungsrechtlichen Würdigung noch vertieft dargestellt. Vgl. 4. Kapitel B III 1. BÄK/DGGG 2006, S. 123. Rudolphi/Rogall, in: SK-StGB, § 218a Rn. 46; Kröger, in: LK-StGB, § 218a Rn. 42; Fischer, § 218a Rn. 28; Merkel, in: NK-StGB, § 218a Rn. 124. Kröger, in: LK-StGB, § 218a Rn. 42; Rudolphi/Rogall, in: SK-StGB, § 218a Rn. 46; Gropp, MK-StGB, § 218a Rn. 48.
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3. Kapitel: Einfachgesetzliche Regelung des Spätabbruchs
hen.83 Eine längerfristige Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gegen den Willen der Schwangeren ist ihr nur im Ausnahmefall zuzumuten.84 Ebenso ist die Freigabe zur Adoption hoch problematisch.85 Es wird der Schwangeren kaum zumutbar sein, ihr Kind zur Welt zu bringen und sich anschließend sofort von ihm zu trennen.86 Die Freigabe zur Adoption ist jedenfalls dann keine gangbare Lösung, wenn die Schwangere dazu psychisch nicht in der Lage ist, unabhängig davon ob die Gründe gegen eine Adoption vernünftig sind. Die psychische Belastung durch die Geburt und Erziehung des Kindes würde dann durch die psychische Belastung ersetzt, die auf Grund der Freigabe zur Adoption bevorsteht. Das Vorliegen einer medizinisch-sozialen Indikation würde dadurch nicht beseitigt.87 Ob eine Maßnahme unzumutbar ist oder nicht, ist letztlich nach den Umständen des Einzelfalls aufgrund einer Gesamtwürdigung zu beurteilen.88 6. Einwilligung der Schwangeren Die Schwangere muss in die Vornahme eines Schwangerschaftsabbruchs eingewilligt haben. Die Wirksamkeit der Einwilligung setzt Einsichts- und Urteilsfähigkeit der Schwangeren voraus, nicht Geschäftsfähigkeit.89 Die Einwilligung ist höchstpersönlich zu erteilen. Auf sie kann verzichtet werden, wenn die Schwangere bei medizinisch-sozialer Indikation zu einer Willenserklärung nicht in der Lage ist. Besteht die zeitliche Möglichkeit, dann muss die Einwilligung bei dem gesetzlichen Vertreter oder einem Pfleger eingeholt werden.90 7. Vornahme durch einen Arzt Der Abbruch muss von einem Arzt vorgenommen werden. Dieses Erfordernis ergibt sich aus der Gesamtkonzeption des Fristen- und Indikationsmodells; durch die Mitwirkung eines Arztes soll zum einen die Schwangere geschützt werden, zum anderen wird auch eine Verbesserung des Lebensschutzes für die Leibesfrucht erwartet.91 Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass ein Arzt gemäß § 12 Abs. 1 SchKG nicht verpflichtet ist, an einem Schwangerschaftsabbruch mitzuwirken, es sei denn, die Mitwirkung ist gemäß § 12 Abs. 2 SchKG notwendig, um
83 84 85 86
87 88 89 90 91
Rudolphi/Rogall, in: SK-StGB, § 218a Rn. 47. BT-Drs. VI/3434, S. 21; Kröger, in: LK-StGB, § 218a Rn. 45; Eser, in: Schönke/Schröder, § 218a Rn. 34; Fischer, § 218a Rn. 28. Fischer, § 218a Rn. 28 m.w.N.; vgl. dazu auch Merkel, in: NK-StGB, § 218a Rn. 128 ff. Rudolphi/Rogall vermuten, dass der Gesetzgeber von einer generellen Unzumutbarkeit der Adoption ausgeht, halten die Adoption aber im Einzelfall für möglich, vgl. Rudolphi/Rogall, SK-StGB, § 218a Rn. 47; so auch Fischer, § 218a Rn. 28. Gropp, MK-StGB, § 218a Rn. 50. Eser, in: Schönke/Schröder, § 218a Rn. 34; Lackner/Kühl, § 218a Rn. 13. Fischer, § 218a Rn. 16. Fischer, § 218a Rn. 16. BVerfGE 88, 203 (289 ff.); Fischer, § 218a Rn. 17.
A. Überblick über die strafrechtliche Rechtslage
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von der Frau eine nicht anders abwendbare Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung abzuwenden. 8. Indikation nach ärztlicher Erkenntnis Die Indikation muss gemäß § 218a Abs. 2 StGB nach ärztlicher Erkenntnis vorliegen. Ärztliche Erkenntnis meint nicht ärztliches Ermessen, so dass es sich nicht um die subjektive Wertung eines Arztes handelt. Der Begriff „ärztliche Erkenntnis“ kennzeichnet sowohl die Grundsätze, nach denen sich die Prüfung inhaltlich zu richten hat, als auch die Person, auf deren Erkenntnis es im Wesentlichen ankommt.92 In der Fassung des 5. StrafRG war anstelle des Begriffs „ärztliche Erkenntnis“ der Begriff „medizinische Wissenschaft“ enthalten. Der neue Begriff macht deutlich, dass nicht nur medizinisch-technische, sondern alle Faktoren in die Bewertung eingehen müssen, wie beispielsweise auch der Wert des ungeborenen Lebens.93 Eine ärztliche Erkenntnis ist nur dann gegeben, „wenn der Arzt, der sie gewinnt, hierbei die Regeln seines Berufs beachtet“.94 Er muss das Vorliegen einer Indikationslage gewissenhaft prüfen und dazu die Patientin befragen. Gemäß dem durch § 218a StGB vorgegebenen Umfang der Prüfung darf er sich dabei nicht auf rein medizinische Gesichtspunkte beschränken.95 Handelt der Arzt nach den Regeln der ärztlichen Heilkunst, so ist ihm hinsichtlich der Indikationsstellung ein Beurteilungsspielraum einzuräumen, der eine detaillierte gerichtliche Nachprüfung ausschließt.96 Die Entscheidung des Arztes ist vom Gericht lediglich auf ihre Vertretbarkeit zu überprüfen. Zur Begründung führt der BGH aus:„Ihm kann nicht zugemutet werden, das volle strafrechtliche Risiko einer (aus der späteren Sicht anderer Personen) objektiv falschen Entscheidung zu tragen; dies umso weniger als die Fassung des Gesetzes wertende Entscheidungen verlangt, die zwangsläufig in erheblichem Umfang nicht oder jedenfalls nicht voll objektivierbar sind.“97
IV. Fehlende Rechtsprechung von Seiten der Strafgerichte Erstaunen mag, dass bei der hier vorgenommenen Auslegung des § 218a Abs. 2 StGB strafrechtliche Rechtsprechung nicht berücksichtigt wurde. Dies liegt daran, dass strafrechtliche Rechtsprechung, die sich mit den Voraussetzungen des seit 1995 geltenden § 218a Abs. 2 StGB befasst, bislang so gut wie gar nicht exis-
92 93 94 95 96 97
BGHSt 38, 144; Fischer, § 218a Rn. 18. Prot. VII, 2395 f. BGHSt 38, 144 (152). BGHSt 38, 144 (154). Eser, in: Schönke/Schröder, § 218a Rn. 36; Rudolphi/Rogall, SK-StGB, § 218a Rn. 54. BGHSt 38, 144 (153).
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3. Kapitel: Einfachgesetzliche Regelung des Spätabbruchs
tiert.98 Warum dies so ist, wird einerseits mit einem Verweis auf ein weit ausgebreitetes Dunkelfeld begründet.99 Andererseits minimieren Absprachen zwischen Gynäkologen, Rechtsmedizinern und der örtlichen Staatsanwaltschaft wie in Kiel juristische Risiken für den Arzt.100 Auf der Grundlage der strafrechtlichen Vorschriften zum Schwangerschaftsabbruch wurde den Ärzten in Kiel ein protokollartiges Vorgehen empfohlen. Um den Arzt rechtlich zu entlasten und die ethische Verantwortung des Eingriffs auf mehrere Stellen zu verteilen, wurde in Kiel angeregt, den Fall vor dem Schwangerschaftsabbruch einer interdisziplinären Kommission vorzulegen. Darüber hinaus wurde unter anderem die Indikationsstellung durch zwei Ärzte empfohlen.101 Für wichtig wurde befunden, dass der Arzt seine Vorgehensweise genauestens dokumentiert. Dadurch wird ein höchstmögliches Maß an Transparenz und Nachprüfbarkeit erreicht und die Ärzte werden zugleich abgesichert.102 Um dem Arzt die Kommunikation mit den Ermittlungsorganen zu erleichtern, wurde zusätzlich empfohlen, dass die Schwangere vor dem Abbruch in einer schriftlichen Schweigepflichtentbindungserklärung zustimmen solle, dass der Staatsanwaltschaft im Beweissicherungsverfahren alle Details preisgegeben werden können.103 Kopien der wichtigsten ärztlichen Unterlagen wie Ultraschallbefunde, die Indikationsstellung zum Abbruch mit umfassender schriftlicher Begründung, die schriftliche Einwilligung der Schwangeren in den Schwangerschaftsabbruch, das Protokoll der Sitzung der interdisziplinären Kommission sowie die Schweigepflichtentbindungserklärung sollen schließlich an die Kriminalpolizei weitergegeben werden, die diese an die Staatsanwaltschaft weiterleitet. Bei Einhaltung dieses protokollartigen Vorgehens wird das Beweissicherungsverfahren erheblich verkürzt, ein hohes Maß an Transparenz erreicht und das Haftungsrisiko erheblich verringert.104
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Im Oldenburger und Zittauer Fall wurden die Voraussetzungen nur peripher erörtert. Vgl. 3. Kapitel A II 3 a), b). Zu der Auslegung des § 218a Abs. 2 StGB durch die Zivilgerichte vgl. 4. Kapitel B III 5 b). Tröndle, FS Müller-Dietz, S. 922. Ausführlich dazu: v. Kaisenberg/Jonat/Kaatsch, DÄBl 2005, S. A-133. v. Kaisenberg/Jonat/Kaatsch, DÄBl 2005, S. A-134. v. Kaisenberg/Jonat/Kaatsch, DÄBl 2005, S. A-133. Im Zweifel kann der Staatsanwalt die Krankenakte ohnehin beschlagnahmen. v. Kaisenberg/Jonat/Kaatsch, DÄBl 2005, S. A-135; nicht überall funktionieren diese Absprachen zwischen Staatsanwaltschaft und Ärzten so gut wie in Kiel. In Heidelberg beispielsweise sind diese Absprachen gescheitert.
B. Beratung
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B. Beratung Neben den strafrechtlichen Regelungen soll der Schutz des nasciturus durch flankierende Maßnahmen, wie eine ausreichende Beratung der Schwangeren, sichergestellt werden. Bis 1995 erlaubte die damals geltende embryopathische Indikation gemäß § 218a Abs. 3 StGB a.F. einen Schwangerschaftsabbruch nur dann, wenn sich die Schwangere mindestens drei Tage vor dem Eingriff beraten ließ und dies durch eine Bescheinigung nachweisen konnte. Nicht vorgesehen war aufgrund des dringenden Handlungsbedürfnisses eine Beratungspflicht hinsichtlich der engen medizinischen Indikation des § 218a Abs. 2 StGB a.F. Durch den Wegfall der embryopathischen Indikation und deren teilweise Integration in die medizinisch-soziale Indikation entfiel die Beratungspflicht auch für die Fälle der medizinisch-sozialen Indikation, die durch eine Erkrankung des Kindes veranlasst waren. Der Wegfall der Beratungspflicht bedeutete zwar nicht ein vollständiges Beratungsdefizit. Gleichwohl wurde die Beratungssituation für unzureichend befunden, so dass der Bundestag am 13. Mai 2009 Maßnahmen beschloss, die eine Verbesserung der Aufklärung und Beratung der Schwangeren bewirken sollen. Um die beschlossenen Änderungsmaßnahmen angemessen würdigen zu können, soll zunächst zwischen medizinischer und psychosozialer Beratung unterschieden werden. Im Anschluss daran wird zunächst die Beratungssituation bis zum 13. Mai 2009 geschildert und schließlich werden die vom Bundestag beschlossenen Änderungen aufgezeigt.
I. Medizinische Beratung versus psychosoziale Beratung Zu unterscheiden sind zunächst die medizinische und die psychosoziale Beratung. 1. Beratende Personen Die medizinische Beratung erfolgt durch Ärzte und Ärztinnen. Die psychosoziale Beratung wird demgegenüber von Psychologen und Psychologinnen, Sozialpädagogen und Sozialpädagoginnen oder Sozialarbeitern und Sozialarbeiterinnen durchgeführt.105 2. Inhaltliche Schwerpunkte Im Mittelpunkt der ärztlichen Beratung stehen medizinische Aspekte. Die Aufmerksamkeit des Arztes ist grundsätzlich auf Krankheiten und Gesundheitsrisiken gerichtet, damit diese gegebenenfalls therapiert werden können, so dass die ärztliche Beratung vorwiegend gesundheitliche Aspekte des Kindes und der Schwangeren sowie Art, Risiken, Folgen und Aussagekraft der Untersuchungen und Be-
105
Woopen/Rummer, MedR 2009, S. 132.
162
3. Kapitel: Einfachgesetzliche Regelung des Spätabbruchs
handlungen thematisiert. Soziale, psychologische und rechtliche Aspekte werden nachrangig behandelt.106 Nicht nur die Beratung durch den Frauenarzt, sondern auch die humangenetische Beratung ist eine medizinische Leistung. In der humangenetischen Sprechstunde bildet das Beratungsgespräch wegen des Grundsatzes des informed consent einen Schwerpunkt. Medizinische Fragestellungen zur Diagnostik und Prävention bei Erkrankungen, bei denen Veränderungen im genetischen Material vermutet werden, stehen im Mittelpunkt des humangenetischen Beratungsgesprächs. Vor einer gezielten pränataldiagnostischen Untersuchung werden Risikovoraussagen über eine genetische Störung beim Kind unter anderem auf der Grundlage einer Familienanamnese getroffen.107 Daneben sollten auch psychologische und ethische Probleme im Hinblick auf einen Schwangerschaftsabbruch erörtert werden. Häufig werden aber ausschließlich Informationen über Anlass, Vorgehensweise, mögliche Ergebnisse und Konsequenzen einer humangenetischen Diagnostik erteilt.108 Bei der psychosozialen Beratung werden die psychischen und sozialen Aspekte der Frau und ihres Umfeldes thematisiert, Emotionen und Reaktionen ihrer Umgebung sowie unter anderem ihre berufliche Situation mit einbezogen.109 Das primäre Ziel psychosozialer Beratung liegt darin, die Entscheidungskompetenz der Schwangeren zu stärken. Sie beinhaltet psychologische Krisen- und Konfliktberatung sowie rechtliche, medizinische und soziale Informationen und die Vermittlung von Hilfen.110 Die Ratsuchenden bekommen die Möglichkeit, ihre Gefühle und Phantasien zu verbalisieren. Für Sorgen und Ängste vor pränatalen Untersuchungen wird Raum und Zeit gegeben, um trotz Zeitdruck Ruhe zu gewinnen.111 § 2 Abs. 2 SchKG konkretisiert den Inhalt der psychosozialen Beratung. Beispielsweise müssen nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 SchKG Informationen über familienfördernde Leistungen und besondere Rechte im Arbeitsleben gegeben werden. Nr. 4 umfasst Informationen über soziale und wirtschaftliche Hilfen für Schwangere. Gemäß Nr. 5 werden Informationen über Hilfsmöglichkeiten für behinderte Menschen und deren Familien erteilt. Darüber hinaus sieht Nr. 6 die Unterrichtung über die Methoden eines Schwangerschaftsabbruchs sowie dessen psychische und physische Folgen und Risiken vor. Nach Nr. 7 kann auch eine Information über Lösungsmöglichkeiten von psychosozialen Konflikten bei der Schwangerschaft stattfinden. Nr. 8 bietet eine Informationsmöglichkeit über psychologische und rechtliche Punkte bei der Adoption. Die psychosoziale Beratung ist nicht direktiv und ergebnisoffen. Die psychosoziale Beratung orientiert sich zudem am Beratungsbedürfnis der Frauen in der jeweiligen Phase der Schwangerschaft. 106 107 108 109 110 111
BMFSFJ, Modellprojekt „Entwicklung von Beratungskriterien“, S. 34; Lammert/Dewald, in: Psychosoziale Beratung in der PND, S. 26. Lammert/Dewald, in: Psychosoziale Beratung in der PND, S. 28 f. BMFSFJ, Modellprojekt „Entwicklung von Beratungskriterien“, S. 36. Woopen/Rummer, MedR 2009, S. 133. BZgA, IQZ in der PND, S. 18; Weiss, in: Wewetzer/Wernstedt, Spätabbruch der Schwangerschaft, S. 235. Weiss, in: Wewetzer/Wernstedt, Spätabbruch der Schwangerschaft, S. 235.
B. Beratung
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Im Modellprojekt des BMFSFJ wurde herausgearbeitet, dass je nach Beratungszeitpunkt Unterschiede hinsichtlich der psychischen Verfassung der Schwangeren und hinsichtlich des Beratungsanliegens und den dadurch anfallenden Beratungsthemen bestehen.112 Dementsprechend wird das beraterische Vorgehen angepasst. Vor Inanspruchnahme eines pränatalen Diagnoseverfahrens muss sich die Frau für oder gegen PND entscheiden. Nach Feststellung eines pathologischen Befundes steht die Entscheidung für oder gegen einen Schwangerschaftsabbruch im Raum. Zu diesen Zeitpunkten, in denen ein hoher Entscheidungsbedarf besteht, müssen zugleich Informationen über medizinische Grundlagen erteilt und emotionale Entlastung geboten werden. Während des Wartens auf den pränataldiagnostischen Befund und nach Abbruch der Schwangerschaft stehen keine akuten Entscheidungen mehr an. Hier steht die emotionale Begleitung im Vordergrund. Nach dem Abbruch geht es darum, Mut zu machen, die Trauer um das Geschehene auszuhalten. 3. Beratungsbeziehung Unterschiede finden sich auch in der Beratungsbeziehung. Der Arzt verfügt über Fachwissen und ist gegenüber der Schwangeren sowohl Partner als auch Autorität. Vor allem wenn er über die Indikationsstellung entscheidet, ist die Schwangere wesentlich von seiner Entscheidung abhängig. Die psychosoziale Beratung entscheidet nichts. Sie soll der Frau helfen, das Richtige zu tun und sie unterstützen. Es soll eine vertrauensvolle und partnerschaftliche Beziehung zum Berater und zur Beraterin entstehen.113 4. Beratungsmethoden Unterschiedlich sind auch die Methoden der Beratung.114 Ärztliche Aufklärung will dem Laien auf verständliche Art und Weise die Diagnose, die therapeutischen Möglichkeiten und die Prognose in einem persönlichen Gespräch oder mittels der Aushändigung von Materialien mitteilen. Psychosoziale Beratung verwendet verschiedene Konzepte der Gesprächsführung, die auf die verschiedenen Klienten und Probleme abgestimmt sind. Die Berater sind intensiv in verschiedenen Gesprächstechniken ausgebildet. Sie vermitteln betroffene Familien auch an Selbsthilfegruppen. Medizinische Beratung kann daher als Behandlungsberatung bezeichnet werden, psychosoziale Beratung ist demgegenüber als Beratungsbehandlung zu verstehen.115
112 113 114 115
BMFSFJ, Modellprojekt „Entwicklung von Beratungskriterien“, S. 11 f. Vgl. dazu Woopen/Rummer, MedR 2009, S. 132; Lammert/Dewald, in: Psychosoziale Beratung in der Pränataldiagnostik, S. 18. Vgl. dazu Woopen/Rummer, MedR 2009, S. 133. Damm, MedR 2006, S. 1.
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3. Kapitel: Einfachgesetzliche Regelung des Spätabbruchs
II. Beratungssituation nach Wegfall der embryopathischen Indikation und vor dem Bundestagsbeschluss vom 13. Mai 2009 Der Wegfall der Beratungspflicht gegenüber der Schwangeren durch den Wegfall der embryopathischen Indikation führte, wie bereits angedeutet, nicht zu einer vollständigen Beratungslücke. Diese Beratungssituation soll im Folgenden genauer betrachtet werden. 1. Ärztliche Beratungspflichten Während der Schwangerschaft gibt es verschiedene Beratungsanlässe. Die Schwangere wird zunächst von einem Arzt regulär betreut, der auch ungezielte pränatale Diagnoseverfahren durchführt. Bei entsprechendem Anlass führt darüber hinaus ein Spezialist die pränatale Diagnostik durch. In der Regel stellt dieser Arzt bei pathologischem Befund auch die Indikation zum Abbruch. Ärztliches Handeln wird schließlich dann erforderlich, wenn ein Schwangerschaftsabbruch vorgenommen werden soll. Die Ärzte sind im Rahmen ihrer Berufsausübung grundsätzlich immer zur Beratung verpflichtet.116 Anleitungen, wie diese Beratung zu erfolgen hatte, gaben verschiedene Richtlinien. Im Folgenden soll anhand der aufgezeigten Beratungsanlässe die Beratungssituation überprüft werden. a) Beratungssituation bei der allgemeinen Schwangerschaftsbetreuung Gemäß Abschnitt A Ziff. 1 der Mutterschaftsrichtlinien sollte der Arzt, der die reguläre Schwangerschaftsbetreuung durchführte, die Schwangere zunächst in ausreichendem Maße beraten.117 Diese Beratung bezog sich auf jedes Stadium der Schwangerschaft und sollte der Schwangeren qualifizierte Entscheidungen über auftretende Fragen ermöglichen. Die Schwangere sollte durch diese Beratung insbesondere in der Lage sein zu entscheiden, ob und welche Vorsorgeuntersuchungen sie vornehmen lassen wollte und ob sie die Schwangerschaft abbrechen wollte oder nicht.118 Darüber hinaus sollte der Arzt die Schwangere über ihren Rechtsanspruch auf Beratung zu allgemeinen Fragen der Schwangerschaft nach § 2 SchKG unterrichten. Ziff. D I der Richtlinie zur Empfängnisregelung und zum Schwangerschaftsabbruch i.d.F. vom 13. September 2007 wies jeden Arzt an, bei der von ihm durchzuführenden ärztlichen Beratung inhaltlich auf eine Austragung der Schwangerschaft hinzuwirken, soweit schwerwiegende Gründe nicht entgegenstehen, da eine Abtreibung keine Methode zur Geburtenregelung sei.119 116 117 118 119
So auch die Begründung des Antrags von Humme, BT-Drs. 16/11342 S. 3. Abrufbar unter: http://www.transfusionsmedizin-online.de/download/mutterschaftsrichtlinien2003.pdf. Woopen/Rummer, MedR 2009, S. 134. Abrufbar unter: http://www.g-ba.de/downloads/62-492-247/RL_Empfaengnis_200709-13.pdf.
B. Beratung
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Ermächtigungsgrundlage dieser Richtlinien, die vom Gemeinsamen Bundesausschuss beschlossen wurden, war § 92 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 SGB-V. § 92 Abs. 8 SGB-V erklärte die Richtlinien des Bundesausschusses zu Bestandteilen der Bundesmantelverträge. Dadurch kam den Richtlinien Rechtsnormqualität zu.120 Da der Gemeinsame Bundesausschuss aber nur Regelungen für die gesetzlich Krankenversicherten, nicht aber für privat Krankenversicherte treffen kann121, bestand die öffentlich-rechtliche Bindungswirkung nur gegenüber den Krankenkassen, Leistungserbringern innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung (Vertragsärzte) und kassenärztlichen Vereinigungen. Sie war damit auf die kassenärztliche Versorgung beschränkt. Sanktionen für Pflichtverletzungen waren nicht vorgesehen.122 Die Mutterschaftsrichtlinien mussten allerdings vom Arzt zur Kenntnis genommen werden. Die Kenntnisnahmepflicht folgte aus der kammerrechtlichen Berufspflicht des Arztes zur Weiterbildung und Information über den aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft. Es gehört zu den Sorgfaltspflichten des Arztes, die für die Schwangere relevanten Informationen weiterzugeben.123 Ergänzt wurden diese Normen durch die Richtlinien der Bundesärztekammer zur pränatalen Diagnostik von Krankheiten und Krankheitsdispositionen.124 Der die Schwangerschaft betreuende Arzt sollte gemäß Ziff. 2.1 vor Durchführung ungezielter pränataler Diagnoseverfahren, wie bei den im Mutterpass verankerten Ultraschalluntersuchungen, aufklärend beraten. Inhaltlich sollten gemäß Ziff. 9 die Problematik des Schwangerschaftsabbruchs und das Risiko der Diagnostik einbezogen werden. Diese Richtlinien wurden allerdings lediglich in Hamburg und MecklenburgVorpommern durch Implementierung in die Landesberufsordnungen zu verbindlichem Berufsrecht,125 so dass sie weithin unverbindlich geblieben sind und nicht einmal mit berufsrechtlichen Sanktionen geahndet werden konnten. Wirkung entfalteten diese Richtlinien lediglich dadurch, dass sie den medizinischen Standard prägten. Das Handeln des Arztes entsprach nur dann der erforderlichen Sorgfalt, wenn es die Leitlinie beachtete. Andernfalls lag der Schluss nahe, dass der Arzt fahrlässig handelte.126 Wirksamkeit entfalteten sie somit nur über Rezeptionsnormen, da sie die verkehrserforderliche Sorgfalt konturierten. 120
121 122 123 124 125 126
Auf der Rechtsgrundlage des früheren RVO § 368p a.F. fehlte diesen Richtlinien der Rechtsnormcharakter. Sie waren lediglich als Verwaltungsvorschriften anzusehen und erlangten gegenüber den Ärzten erst über § 28 BMV(Ä)/§ 14 Abs. 1 BMV(Z) und über die Satzungen der KÄVen Verbindlichkeit. Vgl. dazu: Hencke, in: Peters, Handbuch der KV, SGB V, § 92 Rn. 34. Dazu auch: Kentenich, Protokoll 16/81, 2009, S. 42. Duttge, Ausschuss-Drs. 16(13)439j, S. 4, hält lediglich Folgen im Rahmen der Honorarprüfung für möglich. § 4 Abs. 1 MBO-Ä; Schmidt-Recla, in: Verantwortungsbewusste Konfliktlösungen, S. 83. DÄBl 1998, S. A-3236 ff. Vgl. § 13 Abs. 2 BO LÄK HH v. 27. 3. 2000 i. d. F. v. 20. 2. 2006 und § 13 Abs. 2 BO LÄK MV v. 20. 5. 2005 i. d. F. v. 3. 7. 2007. Schmidt-Recla, in: Schumann, Verantwortungsbewusste Konfliktlösungen, S. 84.
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3. Kapitel: Einfachgesetzliche Regelung des Spätabbruchs
b) Beratungssituation bei Diagnose- und Indikationsstellung Den Arzt, der bei entsprechendem Anlass, wie einem auffälligen Befund bei den drei regulären Ultraschallscreenings, als Spezialist pränatale Diagnoseverfahren durchführte und meist auch die Indikation stellte, trafen zunächst die Beratungspflichten nach den allgemeinen Vorschriften über Aufklärung und Einwilligung. Um eine Indikation gemäß § 218a Abs. 2 StGB stellen zu können, muss die Konfliktlage der Schwangeren erfasst werden. Dies ist in der Praxis nur durch ein (Beratungs-) Gespräch mit dem Arzt möglich, in dem er von den gegenwärtigen und zukünftigen Lebensverhältnissen erfährt und zukünftige Gefahren für ihren Gesundheitszustand sowie anderweitige Abwendungsmöglichkeiten prognostizieren kann.127 Insofern fand eine Beratung wohl regelmäßig statt. Inhaltlich konkretisiert wurde die Beratung lediglich durch untergesetzliche Regelungen. Gemäß Ziff. 2. 2 der Richtlinien der Bundesärztekammer zur pränatalen Diagnostik von Krankheiten und Krankheitsdispositionen sollte derjenige, der als Spezialist die PND durchführte, bezüglich der Diagnose- und Indikationsstellung detailliert aufklären und beraten.128 Vor Durchführung einer gezielten pränatalen Diagnostik sollte ausführlich über Anlass, Ziel und Risiko der Untersuchung beraten werden und auf die Grenzen der pränatal-diagnostischen Möglichkeiten sowie deren Unsicherheiten hingewiesen werden. Alternativen zur invasiven Diagnostik sollten aufgezeigt werden. Außerdem sollte darauf hingewiesen werden, dass im Falle eines pathologischen Befundes psychologische und ethische Konflikte entstehen. Nachdem sich ein pathologischer Befund ergeben hatte, sollte gemäß Ziff. 2. 3 über die Bedeutung des Befundes, die Art der Erkrankung des Kindes, Therapiemöglichkeiten, Schwangerschaftsabbruch und medizinische und soziale Hilfsmöglichkeiten aufgeklärt werden.129 Diese Richtlinien waren jedoch weitestgehend unverbindlich. Anhaltspunkte, wie die Beratung erfolgen sollte, enthielt auch die Erklärung der Bundesärztekammer zum Schwangerschaftsabbruch nach Pränataldiagnostik, in der die Bundesärztekammer in Abschnitt II unter anderem zur Einholung einer Bestätigung der Diagnose durch einen zweiten Untersucher riet und eine umfassende, nicht nur auf medizinische Aspekte beschränkte, sondern psycho-soziale Aspekte miteinbeziehende Beratung forderte und zu einer Einhaltung einer angemessenen Bedenkzeit zwischen Beratungen und Schwangerschaftsabbruch riet. 130 Bei Bedarf war die Hinzuziehung von Beratern anderer Fachgebiete vorgesehen. Eine umfassende Beratung wurde für eine verantwortungsvolle Entscheidung der Schwangeren über einen Schwangerschaftsabbruch und als Grundlage für die Indikationsstellung des Arztes als unerlässlich angesehen. Diese Regelungen waren aber wiederum nicht unmittelbar verbindlich und wirkten lediglich dadurch, dass sie bei der juristischen Auslegung zur Konkretisierung der ärztlichen Sorgfaltspflichten herangezogen wurden. 127 128 129 130
Woopen/Rummer, MedR 2009, S. 135. BÄK, DÄBl. 1998, S. A-3236 (3238). BÄK, DÄBl. 1998, S. A-3236 (3238). BÄK, DÄBl. 1998, S. A-3013, insbesondere S. A-3015 f.
B. Beratung
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Eine verbindliche Beratungspflicht des Arztes vor und nach vorgeburtlichen genetischen Untersuchungen ist seit dem 1. Februar 2010 in § 15 Abs. 2 GenDG geregelt. Danach ist die Schwangere vor einer vorgeburtlichen genetischen Untersuchung und nach Vorliegen des Befundes entsprechend § 10 Abs. 2, 3 GenDG genetisch zu beraten und auf den Beratungsanspruch des § 2 SchKG hinzuweisen. Inhalt der genetischen Beratung sind gemäß § 10 Abs. 3 GenDG die Erörterung der medizinischen, psychischen und sozialen Fragen. Die Beratung soll allgemein verständlich und ergebnisoffen erfolgen. Das GenDG gilt allerdings nur für genetische Untersuchungen und damit nicht für alle Formen der pränatalen Diagnostik. c) Beratungssituation vor Abbruch der Schwangerschaft Gemäß dem schon damals geltenden § 218c Abs. 1 Nr. 2 StGB hatte der den Abbruch durchführende Arzt die Schwangere über die Bedeutung des Eingriffs, insbesondere über Ablauf, Folgen, Risiken sowie mögliche physische und psychische Auswirkungen zu beraten. Diese Beratungspflicht gilt sowohl für Schwangerschaftsabbrüche auf der Grundlage von § 218a Abs. 1 StGB als auch für Abbrüche aufgrund der medizinisch-sozialen und kriminologischen Indikation des § 218a Abs. 2, 3 StGB. Verstieß der Arzt gegen diese Pflicht, wurde er gemäß § 218c Abs. 1 StGB mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft, wenn die Tat nicht in § 218 StGB mit Strafe bedroht war. Eine strafbewehrte ärztliche Beratungspflicht war damit erst zu einem Zeitpunkt vorgesehen, zu dem die medizinisch-soziale Indikation bereits gestellt war und ein Schwangerschaftsabbruch durchgeführt werden sollte. Der Entscheidungskonflikt der Schwangeren wurde bei dieser Beratung nicht in den Blick genommen, da sich die Schwangere zu diesem Zeitpunkt bereits für einen Abbruch entschieden hat.131 Das durch den Wegfall der embryopathischen Indikation entstandene Beratungsdefizit wurde durch § 218c Abs. 1 Nr. 2 StGB auch deshalb nicht kompensiert, weil der Schwangerschaftsabbruch bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 218a Abs. 2 StGB auch ohne die Beratung nach § 218c Abs. 1 Nr. 2 StGB gerechtfertigt ist. Anzumerken ist, dass strafrechtliche Rechtsprechung zu dieser Norm noch nicht existiert und diese damit in der strafrechtlichen Praxis bislang irrelevant ist.132 2. Anspruch der Schwangeren auf psychosoziale Beratung gemäß § 2 SchKG Soweit sich aus den vorigen Darstellungen ärztliche Beratungspflichten ergaben, korrespondierten diesen Pflichten Beratungsansprüche der Schwangeren. Darüber hinaus hatte jede Frau gemäß § 2 Abs. 1 SchKG das Recht, von einer Beratungsstelle im Sinne des § 3 SchKG in allen eine Schwangerschaft berührenden Fragen beraten und informiert zu werden.
131 132
Duttge, Ausschuss-Drs. 16(13)439j, S. 3. Woopen/Rummer, MedR 2009, S. 136.
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3. Kapitel: Einfachgesetzliche Regelung des Spätabbruchs
3. Unzureichende Beratung in der Praxis Studien der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ergaben, dass die Beratungssituation der Schwangeren in der Praxis unzureichend ist. Nur etwa die Hälfte der Schwangeren war zufrieden mit den Informationen, die sie über pränataldiagnostische Verfahren vor deren Durchführung von ärztlicher Seite erhielt.133 Recht ausführlich war die Beratung im Hinblick auf medizinische Aspekte der Pränataldiagnostik, wie Anlass und Ziel der Untersuchung und statistische Risikoeinschätzung. Über Themen, die nicht originär im medizinischen Zuständigkeitsbereich liegen, wie über die Möglichkeit der Inanspruchnahme von psychosozialer Beratung, wurde weniger beraten. In den Fällen, in denen ein embryopathischer Befund vorlag, zeigten sich die Frauen zufrieden hinsichtlich der Informationen über die Ursache der Entwicklungsstörung sowie über Fortführung oder Abbruch der Schwangerschaft.134 Unzufrieden waren sie jedoch im Hinblick auf die Informationen über die Folgen für sie selbst und die Familien. 71 % bemängelten, schlecht auf das Leben mit einem behinderten Kind vorbereitet worden zu sein, und 40 % gaben an, dass die Vermittlung weiterführender Hilfen sehr schlecht gewesen sei.135 Die Ursache dieses Beratungsdefizits vor allem im emotionalen Bereich liegt zunächst darin, dass es im Klink- oder Praxisalltag sehr schwierig ist, eine umfassende ärztliche Aufklärung vorzunehmen. Das Zeitbudget der üblichen Sprechstundensituation reicht dafür nicht aus. In diesem schmalen Zeitfenster müssen bereits komplexe medizinische Sachverhalte in eine dem Laien verständliche Sprache übersetzt werden.136 Rein praktisch besteht nicht die Möglichkeit, die Schwangere langfristig und mehrfach zu betreuen.137 Auch sind nicht alle in diesem Bereich tätigen Ärzte im Bereich Beratung und Gesprächsführung ausreichend qualifiziert.138 Zwar haben Frauenärzte die Qualifikation für die psychosomatische Grundversorgung. Fragen hinsichtlich von Hilfestellung oder Kontaktaufnahmen zu Behindertenverbänden bedürfen aber einer zweiten unabhängigen Sichtweise; für Problemlösungen wie Trauerarbeit ist der Arzt vielfach nicht hinreichend qualifiziert.139 Darüber hinaus ist teilweise auch ein mangelndes Interesse der Schwangeren hinsichtlich der Auswirkungen der pränatalen Diagnostik feststellbar, das mit Selbstschutz begründet werden kann. Da die pränatale Diagnostik mit negativen 133 134 135
136 137 138 139
BZgA, Repräsentativbefragung 2006, S 10 f., 47, 48; bestätigt durch Rohde/Woopen, Evaluation der Modellprojekte in Köln, Düsseldorf und Essen, S. 39 f., 141. BZgA, Repräsentativbefragung 2006, S. 50. BZgA, Repräsentativbefragung 2006, S. 50; zu demselben Ergebnis gelangte das vom BMFSFJ geförderte Modellprojekt „Entwicklung von Beratungskriterien“ auf S. 16. 70 % der Frauen wurden vom Arzt nicht auf Hilfsangebote aufmerksam gemacht und 61,4 % gaben an, dass sie nicht über die Möglichkeit seelischer Belastungen aufgeklärt wurden. Lammert/Dewald, in: Psychosoziale Beratung in der Pränataldiagnostik, S. 26. Woopen, Protokoll 16/81, 2009, S. 16. BZgA, IQZ in der PND, S. 17. Kentenich, Protokoll 16/81, S. 16.
B. Beratung
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Gefühlen verbunden ist und möglicherweise eine Entscheidung über Leben und Tod des Kindes gefällt werden muss, vermeiden die Schwangeren es, sich damit näher zu beschäftigen, so dass einem Ratschlag des Arztes unkritisch gefolgt wird.140 4. Die Bedeutung psychosozialer Beratung Emotionale Entlastung bieten nun aber die psychosozialen Beratungsstellen, die allerdings nur sehr selten konsultiert werden.141 Die empirischen Ergebnisse des Modellprojekts „Entwicklung von Beratungskriterien für die Beratung Schwangerer“ bestätigten, dass für schwangere Frauen in der Entscheidungssituation vor Inanspruchnahme vorgeburtlicher Diagnostik, während des Wartens auf den diagnostischen Befund und nach der Diagnose eines pathologischen Befundes ein psychosoziales Beratungsangebot erforderlich ist.142 Fast ausnahmslos raten die Frauen, die eine psychosoziale Beratung in Anspruch nahmen, anderen Schwangeren zu einer psychosozialen Beratung nach einem bei pränataler Diagnostik festgestellten pathologischen Befund. Obwohl sie selbst meist nur nach der Durchführung pränataldiagnostischer Verfahren psychosozial beraten wurden, würde ein Großteil der Frauen eine solche Beratung bereits vor der Inanspruchnahme von Pränataldiagnostik und während der Wartezeit empfehlen.143 Dennoch wurde die psychosoziale Beratung in der Praxis bislang kaum in Anspruch genommen. Dies liegt wohl vor allem daran, dass der Anspruch auf psychosoziale Beratung in der Öffentlichkeit viel zu wenig bekannt ist. Die Evaluation des von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung herausgegebenen Faltblatts „Pränataldiagnostik – Beratung, Methoden und Hilfen“ ergab beispielsweise, dass der größere Teil der Frauen nicht wusste, dass es Beratungsstellen zum Thema Pränataldiagnostik gibt. Gänzlich unbekannt war den Frauen, dass sie einen Rechtsanspruch auf Beratung haben.144 Aus Studien ist ersichtlich, dass mehr als die Hälfte der Schwangeren von den Ärzten, die wie oben gezeigt, die wichtigste Informationsquelle für die Schwangere sind, nicht auf den Anspruch auf
140 141 142
143 144
BZgA, Repräsentativbefragung 2006, S. 40; zum gleichen Ergebnis gelangt BMFSFJ, Modellprojekt „Entwicklung von Beratungskriterien“, Studie II S. 12, 17. BZgA, Repräsentativbefragung 2006, S. 24 f. Hier wurden nur 13 % der Schwangeren psychosozial beraten. BMFSFJ, Modellprojekt „Entwicklung von Beratungskriterien“, S. 17; bestätigt durch Rohde/Woopen, Evaluation der Modellprojekte in Köln, Düsseldorf und Essen, S. 141. 90 % der beratenen Frauen waren sehr zufrieden mit der psychosozialen Beratung und empfanden es als hilfreich, dass es einen neutralen Platz der Beratung gab, wo Gefühle reflektiert werden konnten und die Beraterin persönliches Verständnis zeigte. Auch die Möglichkeit, besprechen zu können, wie man den Abschied vom Kind gestaltet, wurde als wichtig eingestuft. Rohde/Woopen, Evaluation der Modellprojekte in Köln, Düsseldorf, Essen, S. 82 f., 141. BZgA, Evaluation Faltblatt, S. 9; zum gleichen Ergebnis gelangt: BMFSFJ, Modellprojekt „Entwicklung von Beratungskriterien“, S. 2.
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3. Kapitel: Einfachgesetzliche Regelung des Spätabbruchs
psychosoziale Beratung hingewiesen wurden.145 Grund dafür ist, dass oftmals Unwissenheit darüber besteht, welche Beratungsinhalte die psychosoziale Beratung hat.146 Nach Auffassung der Beratenden besteht zudem eine generelle Hemmschwelle hinsichtlich der Inanspruchnahme psychosozialer Hilfsangebote. In der Wartezeit auf das Ergebnis der Pränataldiagnostik oder nach Mitteilung eines pathologischen Befundes sind die schwangeren Frauen zwar emotional stark belastet. In der Regel wurden aber schon viele ärztliche Beratungsgespräche geführt, so dass nicht zu erwarten ist, dass sie von sich aus eine psychosoziale Beratungsstelle aufsuchen. Die Betroffenen wollen eher „ihre Ruhe haben“.147 In der Praxis bestehen auch oft unterschiedliche Ansichten darüber, wer welche Beratung zu welchem Anlass anbieten darf. Sowohl Gynäkologen, Hebammen, Humangenetiker als auch psychosoziale Berater halten sich für zuständig.148 Vorbehalte und Konkurrenzdenken gegenüber der anderen Berufsgruppe behindern die Verweisung.
III. Beratungssituation nach dem Bundestagsbeschluss vom 13. Mai 2009 Um diesem Beratungs- und Informationsdefizit entgegenzutreten, hat der Bundestag am 13. Mai 2009 das Gesetz zur Änderung des Schwangerschaftskonfliktgesetzes und weitere flankierende Maßnahmen beschlossen. Die Gesetzesentwürfe auf den Drucksachen 16/11106 (ausgehend von Johannes Singhammer), 16/11347 (ausgehend von Kerstin Griese) und 16/11330 (ausgehend von Ina Lenke) wurden zu einem gruppenübergreifenden Gesetzentwurf zusammengefasst149 und in dritter Lesung mit 326 Ja- und 234 Nein-Stimmen beschlossen. Das Gesetz trat am 1. 1. 2010 in Kraft150 und ergänzt die oben erörterten Beratungsvorschriften.151 1. Informationsmaterialien der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung Um die Informiertheit der Schwangeren zu verbessern und den Beratungsanspruch gemäß § 2 SchKG aufzuwerten, sieht der neue Absatz 1a des § 1 SchKG vor, dass von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung Informationsmaterialien erstellt werden, die Informationen über das Leben mit einem geistig oder körper145 146 147 148 149 150 151
BZgA, Repräsentativbefragung 2006, S. 10 f., 47, 48; BMFSFJ, Modellprojekt „Entwicklung von Beratungskriterien“, S. 16. BZgA, IQZ in der PND, S. 20. BZgA, IQZ in der PND, S. 20. BMFSFJ, Modellprojekt „Entwicklung von Beratungskriterien“, S. 2. Der gruppenübergreifende Gesetzentwurf ist in Anhang 1 beigefügt. Die neue Fassung des Schwangerschaftskonfliktgesetzes ist in Anhang 2 abgedruckt. Die unter II. dargestellten Normen haben weiterhin Bestand. Durch die Änderung des Schwangerschaftskonfliktgesetzes hat sich die Beratungssituation aber erheblich verbessert.
B. Beratung
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lich behinderten Kind und dem Leben von Menschen mit solchen Behinderungen enthalten und darüber hinaus auf den Rechtsanspruch des § 2 SchKG hinweisen sowie Kontaktadressen von Selbsthilfegruppen, Beratungsstellen und Behindertenverbänden sowie von Verbänden von Eltern behinderter Kinder angeben. Diese Informationsmaterialien werden auf Aufforderung an Einzelpersonen, als Lehroder Informationsmaterialien an schulische und berufsbildende Einrichtungen, an Beratungsstellen, Frauenärzte, Ärzte und medizinische Einrichtungen, die Pränataldiagnostik vornehmen, Humangenetiker und Hebammen sowie an alle Institutionen der Jugend- und Bildungsarbeit verteilt. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung hat mittlerweile die Broschüre „Informationsmaterial für Schwangere nach einem auffälligen Befund in der Pränataldiagnostik“ erstellt.152 Dabei wurden nicht nur die inhaltlichen Vorgaben des § 1a SchKG in vollem Umfang erfüllt, sondern auch weitergehende sinnvolle Informationen erteilt: Neben dem gesetzlich vorgeschriebenen Hinweis auf § 2 SchKG finden sich in einem ersten Teil umfassende Informationen über den Inhalt und die Leistungsfähigkeit psychosozialer Beratung. Ausdrücklich wird darauf verwiesen, dass der Beratungsanspruch auch für werdende Väter gilt und die Möglichkeit der Paarberatung besteht.153 In einem zweiten Abschnitt wird das Leben mit einem behinderten Kind in den Blick genommen und auf verschiedene Unterstützungsmöglichkeiten hingewiesen, wie beispielsweise eine von den gesetzlichen Krankenkassen finanzierte Hebammenbetreuung, die bei den Vorbereitungen auf die Geburt und der Zeit des Wochenbetts hilft. Daneben finden sich weitere umfangreiche Hinweise auf Hilfsangebote.154 Das Leben mit einer Behinderung wird in der Broschüre nur kurz in den Blick genommen. Verwiesen wird aber auf drei weitere Broschüren, die gute Einblicke in das Leben mit einer Behinderung gewähren.155 Im Anschluss daran findet sich eine elf Seiten lange Auflistung von Kontaktadressen von Selbsthilfegruppen, Beratungsstellen, Behindertenverbänden und Verbänden von Eltern behinderter Kinder mit näheren Erläuterungen zu den jeweiligen Kontaktstellen.156 Insgesamt bietet diese Broschüre umfassende Informationen für die Schwangere. 2. Ärztliche Pflichten Bei dringenden Gründen für die Annahme, dass die körperliche oder geistige Gesundheit des Kindes geschädigt ist, normiert der neue § 2a Abs. 1 SchKG eine Pflicht des die Diagnose mitteilenden Arztes zur allgemeinverständlichen und ergebnisoffenen Beratung über medizinische und psychosoziale Aspekte, die sich 152 153 154 155 156
Die Informationsmaterialien sind in Anhang 3 beigefügt. S. 2 f. der Informationsmaterialien in Anhang 3. S. 4 ff. der Informationsmaterialien in Anhang 3. S. 6 der Informationsmaterialien in Anhang 3. S. 8-18 der Informationsmaterialien in Anhang 3.
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3. Kapitel: Einfachgesetzliche Regelung des Spätabbruchs
aus dem Befund ergeben. Medizinische, psychische und soziale Fragen sowie die Unterstützungsmöglichkeiten bei physischen und psychischen Belastungen sind zu erörtern. Zur Beratung sind Ärzte hinzuzuziehen, die mit diesen Gesundheitsschädigungen bei geborenen Kindern Erfahrung haben. Hinzuziehung kann sowohl eine persönliche Beratung der Schwangeren durch einen weiteren Arzt als auch eine Beratung des diagnostizierenden Arztes – möglicherweise auch telefonisch – bedeuten.157 In der Regel werden Pädiater, Neonatologen oder auf die Behandlung solcher Krankheiten spezialisierte Ärzte hinzugezogen. Sinn dieser Regelung ist, dass die Schwangere eine realistische Vorstellung von dem Krankheitsbild, den Therapie- und Betreuungsmöglichkeiten und der Lebenswirklichkeit betroffener Kinder bekommt.158 § 2a Abs. 1 S. 4 SchKG verpflichtet schließlich den Arzt, über die Möglichkeit weitergehender psychosozialer Beratung gemäß § 2 SchKG zu informieren. Im Einvernehmen mit der Schwangeren hat der Arzt darüber hinaus Kontakte zu Beratungsstellen gemäß § 3 SchKG sowie zu Selbsthilfegruppen oder Behindertenverbänden zu vermitteln.159 Soweit möglich soll er Kontakte herstellen. Sofern dies nicht möglich ist, soll er Kontaktadressen von Organisationen im nahen Umfeld der Schwangeren angeben. Existieren keine regionalen Selbsthilfegruppen oder Behindertenverbände, können Kontaktadressen von Bundes- oder Dachverbänden weitergegeben werden.160 Da das Zeitbudget der ärztlichen Sprechstunde und auch die ärztliche Qualifikation für eine angemessene psychosoziale Beratung weiterhin nicht ausreichen, liegt in der Normierung der Hinweis- und Vermittlungspflicht des Arztes eine bedeutsame Neuerung. Auch den indikationsstellenden Arzt im Sinne des § 218b Abs. 1 StGB trifft gemäß § 2a Abs. 2 S. 1 SchKG eine Beratungspflicht über medizinische und psychische Aspekte.161 Darüber hinaus ist er verpflichtet, auf den Anspruch auf psychosoziale Beratung nach § 2 SchKG hinzuweisen und Beratungsstellen nach § 3 SchKG im Einvernehmen mit der Schwangeren zu vermitteln, soweit dies gemäß Absatz 1 noch nicht erfolgt ist. Liegen ein pathologischer Befund bezüglich des Fötus und eine medizinischsoziale Indikation vor, so muss gemäß § 2a Abs. 2 S. 2 SchKG zwischen Diagnose und Ausstellung der Indikationsbescheinigung eine Mindestbedenkzeit von drei Tagen eingehalten werden. Liegt keine Gesundheitsschädigung des Kindes vor und ist der Schwangerschaftsabbruch beispielsweise aus psychiatrischen Gründen der Mutter bei einem gesunden Kind indiziert, so muss gemäß § 2a Abs. 2 S. 2 SchKG die Beratung über den Schwangerschaftsabbruch mindestens drei Tage vor 157 158 159 160 161
Kentenich/Vetter/Diedrich, Frauenarzt 2009, S. 937. Kentenich/Vetter/Diedrich, Frauenarzt 2009, S. 937. Das Dokumentationsfomular des Arztes, der der Schwangeren die Diagnose mitteilt, ist in Anhang 4 S. 1 abgedruckt. Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Ausschuss-Drs. 16(13)462, S. 6. Dies entspricht § 218c Abs. 2 StGB, der die Beratung über die Bedeutung des Eingriffs, insbesondere über Ablauf, Folgen, Risiken und mögliche physische und psychische Auswirkungen vorsieht.
B. Beratung
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Ausstellung der Indikationsbescheinigung erfolgen. Keine Frist muss eingehalten werden, wenn gemäß § 2a Abs. 2 S. 3 SchKG Hinweise auf eine gegenwärtige erhebliche Gefahr für Leib oder Leben der Schwangeren bestehen. Bei der schriftlichen Feststellung der Indikation hat der Arzt bei der Schwangeren nach Ablauf der dreitägigen Bedenkzeit eine schriftliche Bestätigung über die Beratung und Vermittlung einzuholen. Für die Schwangere besteht kein Beratungszwang. Die Schwangere kann auf eine Beratung verzichten und bestätigt dann den Verzicht, wobei auch der Verzicht nicht vor Ablauf der Frist gemäß § 2a Abs. 2 S. 2 SchKG erklärt werden kann.162 Die Möglichkeit der Schwangeren, auf die Beratung des Arztes zu verzichten, ist zum einen dadurch gerechtfertigt, dass es sich in den Fällen des § 218a Abs. 2 StGB um Wunschkinder handelt, die nicht leichtfertig abgetrieben werden.163 Zum anderen wird der Schwangeren ein Recht auf Nichtwissen zugesprochen.164 Die Änderungen des § 14 SchKG zielen auf die Einhaltung dieser Neuerungen. Wer die in § 2a vorgesehene Beratung nicht vornimmt oder vor Ablauf der dreitägigen Bedenkzeit die schriftliche Feststellung der Indikation ausstellt, handelt nach den Ergänzungen des § 14 SchKG ordnungswidrig. 3. Mutterschaftsrichtlinien und Mutterpass Zustimmung fand im Bundestag auch der von der Abgeordneten Christel Humme (SPD) ausgehende Vorschlag, die Mutterschaftsrichtlinien in dem Sinne zu überarbeiten, dass die Trias aus ärztlicher Beratungspflicht vor und nach pränataler Diagnostik, Hinweispflicht auf psychosoziale Beratung und Sicherung einer fachlich qualifizierten Beratung verankert wird.165 Konkrete Vorschläge wurden allerdings nicht unterbreitet. Darüber hinaus soll auch der Mutterpass zu einem Informationsdokument für die schwangere Frau aufgewertet werden. Inhaltlich soll zum einen auf den Rechtsanspruch auf medizinische und psychosoziale Beratung hingewiesen werden, zum anderen soll auch ein Verweis auf die von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung angebotene Internetseite www.schwanger-info enthalten sein. Darüber hinaus sind Einlegeblätter mit Adressen regionaler psychosozialer Beratungsstellen beizufügen.166 Bislang wurden diese Vorgaben noch nicht umgesetzt.
162
163 164 165 166
Die Formulare, mit denen die Schwangere die Beratung und Vermittlung des Arztes bestätigt, sind in Anhang 4 S. 2, 3 abgedruckt; das Dokumentationsformular des indikationsstellenden Arztes ist in Anhang 4 S. 4 abgedruckt. Gemäß § 12 Abs. 1 SchKG ist im Übrigen ein Arzt grundsätzlich nicht verpflichtet, an einem Schwangerschaftsabbruch mitzuwirken. Allerdings erscheint es problematisch, inwieweit sich Ärzte einer Beratung tatsächlich entziehen können, wenn sie die Mitwirkung am Abbruch verweigern wollen. Notz, Protokoll 16/81, S. 32. Vgl. dazu auch ausführlich: Woopen/Rummer, MedR 2009, S. 135. BT Drs. 16/11342, S. 4 f. BT Drs. 16/11342, S. 5.
4. Kapitel: Verfassungsmäßigkeit der Rechtslage zum Spätabbruch
Anhand der im zweiten Kapitel erarbeiteten verfassungsrechtlichen Grundlagen soll nun die soeben dargestellte Rechtslage zum Schwangerschafts(spät)abbruch beurteilt und weiter vertieft werden. Im Zentrum der Betrachtung soll dabei die Vereinbarkeit mit der Menschenwürde stehen. Darüber hinaus werden weitere Regelungsmängel und Regelungsalternativen in den Blick genommen.
A. Grundrechtskoordination des § 218a Abs. 2 StGB auf den ersten Blick § 218a Abs. 2 StGB sieht von der Rechtspflicht der Mutter zur Austragung des Kindes ab, wenn eine schwerwiegende Gesundheits- oder Lebensgefahr für die Schwangere besteht. Der Gesetzgeber vermeidet durch die gesetzliche Regelung des § 218a StGB Menschenwürdeverletzungen der Mutter, indem er in besonderen Konfliktsituationen Schwangerschaftsabbrüche zulässt und keine Rechtspflicht der Schwangeren zur Austragung des Kindes statuiert, die über die Grenzen der Zumutbarkeit hinausgeht. Von einer Degradierung der Schwangeren zur bloßen „Bruthülle“ kann daher keine Rede sein. Zugleich wird das Leben des nasciturus bei § 218a Abs. 2 StGB nicht in die freie Selbstbestimmung der Schwangeren gestellt,1 sondern darf nur im Falle der Kollision mit den Rechtsgütern Leben und Gesundheit der Schwangeren geopfert werden.2 § 218a Abs. 2 StGB ordnet darüber hinaus ausdrücklich an, dass zumutbare Alternativen vor einem Abbruch ausgeschöpft sein müssen, so dass den verfassungsrechtlichen Vorgaben insoweit entsprochen wird. In diesen Fällen muss nach den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts der Schwangeren aber Rat und Hilfe angeboten werden, um sie zur Austragung der Schwangerschaft zu ermutigen.3 Die Möglichkeit der Beratung bieten die Regelungen des Schwangerschaftskonfliktgesetzes. Prima facie scheint § 218a Abs. 2 StGB zusammen mit den flankierenden Vorschriften im Schwangerschaftskon1 2 3
Vgl. 2. Kapitel G III 2. Vgl. 2. Kapitel G III 5. Vgl. 2. Kapitel G I.
A. B. Dolderer, Menschenwürde und Spätabbruch, DOI 10.1007/978-3-642-22468-3_5, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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fliktgesetz daher verfassungsrechtlich unbedenklich zu sein. Bei näherem Hinsehen bestehen jedoch Zweifel.
B. Verfassungsmäßigkeit des § 218a Abs. 2 StGB auf den zweiten Blick – Schwächen der gesetzlichen Regelung I. Menschenwürde und Rechtmäßigkeit des indizierten Abbruchs Der Gesetzgeber hat die medizinisch-soziale Indikation ausdrücklich als Rechtfertigungsgrund anerkannt, indem er Abbrüche auf der Grundlage des § 218a Abs. 2 für nicht rechtswidrig erklärt. Die Indikationen sind somit als Spezialfälle des rechtfertigenden Notstands anzusehen.4 Unzumutbaren Konfliktsituationen der Schwangeren soll durch eine gesetzliche Vorwegabwägung im Sinne von § 34 StGB Rechnung getragen werden.5 Die Qualifikation eines Schwangerschaftsabbruchs auf der Grundlage der medizinischen Indikation als rechtmäßig wird teilweise für verfassungswidrig gehalten. In den obigen Darlegungen klang bereits an, dass in den Fällen der medizinisch-sozialen Indikation eine Rechtfertigung mit der Verfassung in Einklang steht.6 In der nachfolgenden Betrachtung soll dieser Aspekt noch einmal näher beleuchtet werden. Bei Vorliegen einer Indikation wurde der Schwangerschaftsabbruch in § 218a StGB aF. lediglich als nicht strafbar bezeichnet. Offen war insofern, ob es sich dabei um einen Rechtfertigungs-, Entschuldigungs- oder Strafausschließungsgrund handelte. Die Rechtsprechung7 und die überwiegende Literatur8 gingen von einem rechtfertigenden Notstand aus. Der Gesetzgeber hat den rechtfertigenden Charakter der medizinisch-sozialen Indikation nun ausdrücklich geregelt, indem er diese Abbrüche als „nicht rechtswidrig“ qualifiziert und damit die herrschende Meinung zur alten Gesetzesfassung bestätigt. Gegen die rechtfertigende Wirkung der medizinisch-sozialen Indikation werden allerdings verfassungs- und strafrechtliche Einwendungen erhoben. Nach der Auffassung von Merkel ist die Rechtmäßigkeit des indizierten Schwangerschaftsabbruchs nach § 218a Abs. 2 StGB mit dem Grundrechtsstatus des nasciturus nicht zu vereinbaren. Der rechtfertigende Notstand erfordere allgemein ein wesentliches Überwiegen der durch die Notstandshandlung zu schützenden Rechtsgüter gegenüber den beeinträchtigten Gütern. Ein solches Überwiegen der Rechtsgüter der Mutter gegenüber den Rechtsgütern des Kindes könne aber 4 5 6 7 8
Fischer, § 218a Rn. 14. BT-Drs. 13/1850, S. 25; Eser, in: Schönke/Schröder, § 218a Rn. 22. Vgl. 3. Kapitel G III 4. Vgl. nur BVerfGE 88, 203 (257, 272 ff.); BGHSt 38, 144 (158); BGHZ 86, 240 (245); BGHZ 89, 95 (102); BSG, NJW 1985, S. 2215 (2216); BAG, NJW 1989, S. 2347. Vgl. nur Gropp, GA 88, 1 ff.; Roxin, JA 81, 229.
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auch bei einer medizinischen Notlage nicht festgestellt werden. Spreche man dem Kind ein volles Lebensrecht zu, so seien Lebensrecht der Mutter und Lebensrecht des Kindes gleichwertig. Ein rechtfertigender Notstand komme daher schon in Fällen der Lebenskollision nicht in Betracht.9 Auch die Tatsache, dass – mit Ausnahme der kriminologischen Indikation – die Schwangere durch eigenverantwortliches Sexualhandeln selbst die Schwangerschaft und damit die Konfliktlage herbeiführe, spreche gegen die Annahme eines Defensivnotstands.10 Für besonders problematisch hält Merkel, dass sogar die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des seelischen Gesundheitszustandes, die allein auf der Erwartung einer bestimmten abnormen Konstitution des späteren Kindes und nicht auf dem Zustand des Schwangerseins beruhe, eine Tötung rechtfertigen könne.11 Aus der Tatsache, dass man geborene Menschen nur bei Vorliegen einer Notstands- oder Notwehrlage rechtmäßig töten dürfe, Föten aber ohne Notstandsoder Notwehrlage dennoch aus Gründen der Unzumutbarkeit rechtmäßig abtreiben könne, zieht Merkel den Schluss, dass der Gesetzgeber den nasciturus aus dem Schutzbereich subjektiver Grundrechte ausschließe.12 Begreift man den nasciturus als Grundrechtsträger und folgt der Argumentation Merkels, so wäre konsequenterweise ein Menschenwürdeverstoß gegeben, denn die Menschenwürde verbürgt eine elementare Rechtsgleichheit, die durch die unterschiedliche Behandlung von geborenen und ungeborenen Menschen nicht eingehalten wäre.13 Durch die Gestaltung des § 218a Abs. 2 StGB als Strafausschließungsgrund oder als Spezialfall des entschuldigenden Notstands müsste man diesem Missstand abhelfen.14 Frister bejaht im Gegensatz zu Merkel das Vorliegen eines Defensivnotstandes bei schwerwiegenden Gesundheits- oder Lebensgefahren für die Mutter, die auf dem Schwangersein beruhen. Während beim Aggresivnotstand ein wesentliches Überwiegen des geschützten Interesses gegeben sein müsse, dürfe beim Defensivnotstand, entsprechend der Regelung des § 228 BGB, das geschützte Interesse nicht wesentlich geringwertiger sein als das beeinträchtigte. Dies sei bei schwerwiegenden Gesundheitsgefahren der Schwangeren nicht der Fall, so dass sich die medizinisch-soziale Indikation als normaler Anwendungsfall des Defensivnotstandes legitimieren lasse.15
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Merkel, Forschungsobjekt Embryo, S. 93 ff.; v. Dewitz, ZfL 2009, S. 85. Merkel, Forschungsobjekt Embryo, S. 93 ff. Nicht zu bestreiten ist, dass die Schwangere zur Schwangerschaft beigetragen hat. Gleichwohl spricht diese Tatsache nicht gegen die Annahme eines Defensivnotstands. Nicht jede Schwangerschaft führt automatisch zu schwerwiegenden Lebens- oder Gesundheitsgefahren der Mutter, so dass zumindest in diesen Fällen eine vorrangige Zurechnung der Konfliktlage an die Mutter abzulehnen ist. Sachgerecht ist es daher, den nasciturus als Gefahrenquelle zu begreifen. Merkel, Forschungsobjekt Embryo, S. 93 ff. Merkel, Forschungsobjekt Embryo, S. 72, 101. Zur Frage, wann ein Menschenwürdeverstoß gegeben ist vgl. 2. Kapitel B IV 4. v. Dewitz, ZfL 2009, S. 80. Frister, Jahrbuch Heinrich-Heine-Universität 2003.
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Nicht übertragbar seien diese Grundsätze aber auf die Fälle, bei denen die Gefahr aus der zukünftigen Belastung durch das geborene Kind resultiere. Nicht jede Verursachung einer Gefahr sei geeignet, einen Defensivnotstand zu begründen. Ein Vergleich zur Störerhaftung im Polizeirecht zeige, dass als Störer – mit Ausnahme des Zweckveranlassers – nur in Anspruch genommen werden könne, wer eine Gefahr unmittelbar verursacht habe. Ein Defensivnotstand könne daher nicht angenommen werden, wenn die Einwirkung auf fremde Rechtsgüter erst durch eine psychische Reaktion vermittelt werde. Beruhe die Gefahr für die Mutter daher auf der Existenz des Kindes nach der Schwangerschaft, liege kein Defensivnotstand vor. Anders sei aber dann zu entscheiden, wenn eine Suizidgefahr auf einer Schwangerschaftsdepression beruhe und die psychische Reaktion in der Weise mit dem körperlichen Zustand der Schwangerschaft verknüpft sei, dass die psychische Reaktion mit Beendigung der Schwangerschaft entfiele.16 Nach dieser Auffassung ist die medizinisch-soziale Indikation folglich nur teilweise mit den Grundprinzipien der Rechtfertigungslehre und mit der Menschenwürdegarantie vereinbar, soweit die Gefahren direkt vom Zustand der Schwangerschaft ausgehen. Fristers Sichtweise begegnet aber einem gewichtigen Einwand. Er ermöglicht durch seine Argumentation hinsichtlich physischer Gesundheits- und Lebensgefahren letztlich die Abwägung von Leben gegen Leben, die im Rahmen des § 34 StGB nach der herrschenden Auffassung in der Rechtsprechung und Literatur zu Recht abgelehnt wird, da der Wert des menschlichen Lebens gleichsam unendlich ist.17 Ansonsten müsste man den Abschuss eines Passagierflugzeugs zur Rettung einer größeren Anzahl von Menschen zulassen.18 Die Annahme eines Defensivnotstandes kann nur dann überzeugend begründet werden, wenn die einzigartige Situation der Schwangerschaft in der Interessenabwägung berücksichtigt wird, wie es das Bundesverfassungsgericht tut.19 Roxin zieht aus der besonderen Situation der Zweiheit in Einheit den Schluss, dass die Mutter, die dem Kind das Leben schenke, nur solche Gefahren auf sich nehmen müsse, die üblicherweise mit einer Schwangerschaft verbunden seien. Die Hingabe ihres Lebens oder die Hinnahme schwerwiegender Gesundheitsgefahren dürfe von der Lebensspenderin nicht verlangt werden.20 Letztlich verbietet auch, wie gezeigt, die Würde der Frau, der Schwangeren eine generelle Austragungspflicht ohne Rücksicht auf Lebens- und schwerwiegende Gesundheitsgefahren aufzuerlegen und sie dadurch zur bloßen „Bruthülle“ zu degradieren. Diese Gefahren können aber auch aus dem künftigen Haben eines Kindes resultieren. Diese Aspekte führen zu dem Ergebnis, dass die medizinisch-soziale Indikation als Rechtfertigungsgrund anzusehen ist. Unzumutbaren Konfliktsituationen der 16 17 18 19
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Frister, Jahrbuch Heinrich-Heine-Universität 2003. Vgl. nur BGHSt 35, 347 (350); BGH, NJW 1953, S. 513; Fischer, § 34 Rn. 10. Diese Konsequenz zieht Ladiges, ZIS 2008, S. 140; anders zu Recht BVerfGE 115, 118, 151 ff. BVerfGE 88, 203 (256). Zusätzlich werden in die Interessenabwägung auch Interessen der Allgemeinheit miteinbezogen. So vermeide die Ausgestaltung des § 218a Abs. 2 StGB als Rechtfertigungsgrund Laienabtreibungen. Vgl. Fischer, § 218a Rn. 15. Roxin, Strafrecht AT I, § 16 Rn. 79.
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Schwangeren wird aufgrund einer gesetzlichen Vorwegabwägung im Sinne von § 34 StGB Rechnung getragen. Nur die besondere Situation der Schwangerschaft ermöglicht aber die Annahme einer Rechtfertigung. Ein Verstoß gegen die durch die Menschenwürde verbürgte elementare Rechtsgleichheit kommt mangels eines vergleichbaren Sachverhalts nicht in Betracht. Einwände gegen die Rechtfertigungslösung basieren letztlich auf dem Gedanken, dass der Schwangerschaftsabbruch nur eine privilegierte Form der Tötung ist und die Grundsätze zur Rechtfertigung der Tötung eines geborenen Menschen eins zu eins übertragbar seien. In der Tat legt das Gesetz eine solche Sichtweise nahe. Die Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch befinden sich im 16. Abschnitt des Strafgesetzbuchs unter dem Titel „Straftaten gegen das Leben“ und stehen zwischen den Tatbeständen des Mordes in § 211 StGB und des Totschlags in § 212 StGB und der fahrlässigen Tötung in § 222 StGB. Durch diese Systematik wird der Anschein erweckt, als sei der Schwangerschaftsabbruch ein der Tötung eines geborenen Menschen äquivalentes Geschehen. Das ist aber nicht so. Schon im 19. Jahrhundert vertrat Karl Joseph Anton Mittermaier den Standpunkt, es sei nicht zu billigen, „wenn man die Leibesfrucht mit Gleichem Rechte, wie das lebendige Kind, rechtlich begabt“ und die Abtreibung als „eine wahre Tötung“ sehe. Die Abtreibung sei als „eigenes Verbrechen“ aufzufassen. Um zu verdeutlichen, dass ein Schwangerschaftsabbruch aufgrund der besonderen Situation der Zweiheit in Einheit nicht mit der Tötung eines geborenen Menschen gleichgesetzt werden kann, wäre eine Ausgliederung der Schwangerschaftsabbruchsdelikte aus dem Abschnitt „Straftaten gegen das Leben“ sinnvoll.21
II. Menschenwürde und schmerzhafte Geburt 1. Schmerzempfinden des Fötus Wie bereits dargestellt, wird es für möglich gehalten, dass der Fötus zum Zeitpunkt des Spätschwangerschaftsabbruchs bereits Schmerzen empfindet. Durch die Gabe von Prostaglandinen werden bei einem Spätabbruch Wehen ausgelöst und es kommt zum Herauspressen des unreifen Kindes durch den Geburtskanal. Der Organismus eines Fötus in der 23. Schwangerschaftswoche ist im Gegensatz zum reifen Fötus nicht so ausgeprägt, dass er den Strapazen einer Geburt gewachsen wäre. Ist der Abbruch embryopathisch motiviert, so ist der Tod des Fötus gewollt. Dieser Tod ist aber nach Aussagen der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe und der Bundesärztekammer möglicherweise sehr qualvoll, da der nasciturus unter oder nach der Geburt erstickt.22 Gleichwohl ist eine Narkose nicht verpflichtend vorgeschrieben. Eine wertende Gesamtbetrachtung dieser Situation deutet auf das Vorliegen eines Menschenwürdeverstoßes hin.23 21 22 23
Vgl. Hillenkamp, in: Weilert, Spätabbruch, S.35 ff. BÄK/DGGG 2006, S. 135; zum Schmerzempfinden des nasciturus vgl. 1. Kapitel B. Zur Frage, wann ein Menschenwürdeverstoß vorliegt vgl. 2. Kapitel B IV 4.
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Die Zufügung extremer Schmerzen kann, wie oben bereits ausgeführt, eine Menschenwürdeverletzung darstellen. Zu bedenken ist außerdem, dass bei geborenen Menschen jede Operation unter Narkose oder lokaler Betäubung durchgeführt wird. Auch in der Sterbephase wird versucht, durch den Einsatz von schmerzlindernden Mitteln das Leiden zu mindern. Die gesamte Palliativmedizin beruht auf dem Gedanken, ein schmerzfreies Sterben zu ermöglichen. Selbst in Ländern, in denen die Todesstrafe gilt, ist man bemüht, die Vollstreckung schmerzfrei durchzuführen. Vorausgesetzt der Fötus empfindet bereits Schmerzen, so mutet man ihm bei einem narkosefreien Schwangerschaftsabbruch ein schmerzvolles Sterben zu, das man einem geborenen Menschen nicht zumuten würde. Eine Verletzung der elementaren Rechtsgleichheit kommt dann ebenfalls in Betracht und kann einen Würdeverstoß begründen. Wie bereits oben angesprochen, ist aber bislang nicht mit Sicherheit feststellbar, ob und wie stark der nasciturus bereits Schmerzen empfindet, so dass ein Würdeverstoß nicht eindeutig festgestellt werden kann.24 Schon allein aus Gründen der Humanität ist aber Regelungsbedarf gegeben. 2. Fetozid Möglicherweise könnte eine gesetzliche Normierung des Fetozids und einer vorangehenden Narkotisierung des Föten in den Fällen embryopathisch motivierter Schwangerschaftsabbrüche diesem Missstand abhelfen.25 Für die an sich dem Lebensschutz verpflichteten Ärzte stellt eine gezielte Tötung unzweifelhaft eine enorme Belastung dar. Der Berufsordnung für die deutschen Ärzte ist das Genfer Gelöbnis vorangestellt, das alle Ärzte auffordert, ihre Heilkunde zum Nutzen und nicht zum Schaden ihrer Patienten anzuwenden.26 Tröndle hält den Fetozid daher für standesethisch unvertretbar.27 Die Bundesärztekammer selbst führte in ihrer Erklärung zum Schwangerschaftsabbruch nach Pränataldiagnostik aus, dass die Durchführung eines Fetozids mit dem Zweck, den „Erfolg“ eines späten Abbruchs zu sichern, im Hinblick auf das ärztliche Ethos nicht akzeptabel sei.28 Empörung über den Fetozid bringt auch Wiebe zum Ausdruck, wenn er formuliert: „Der Stich ins Herz des Kindes macht nicht nur dessen Überleben unmöglich, sondern trifft auch den Rechtsstaat ins Mark. Barbarei – anders kann man das kaum nennen – und Rechtsstaat schließen sich nämlich aus.“29 Anderer Ansicht ist demgegenüber die Österreichische Gesellschaft für Präund Perinatalmedizin, die den Fetozid als die aus humanitären, ethischen, medizinischen und rechtlichen Überlegungen primär gebotene Form des Spätschwanger-
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Aus demselben Grund ist auch ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit des Nasciturus durch Schmerzzufügung nicht eindeutig feststellbar. Dafür plädiert beispielsweise Merkel, in: NK-StGB, § 218a Rn. 110. BÄK, DÄBl. 1997, S. C-1772. Tröndle, FS Müller-Dietz, S. 924. BÄK, DÄBl. 1998, S. A-3013. Wiebe, ZfL 2002, S. 74.
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schaftsabbruchs bezeichnet.30 Neuerdings vertreten auch die Bundesärztekammer und die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, dass ein Fetozid indiziert sei, wenn ein Schwangerschaftsabbruch bei potentieller extrauteriner Lebensfähigkeit des Kindes vorgenommen werden solle. Anzunehmen sei, dass der mithilfe von Prostaglandinen durchgeführte Schwangerschaftsabbruch, der zum Absterben des Föten unter oder nach der Geburt führe, vom Fötus selbst wesentlich qualvoller empfunden werde als der alternativ durch den Fetozid mögliche Sekundentod. Darüber hinaus könne dadurch auch das Trauma der Eltern vermieden werden, das entstehe, wenn das Kind zunächst lebend geboren werde und danach im Beisein der Eltern wegen extremer Unreife versterbe.31 Stimmt man einer gesetzlichen Regelung zu, die einen embryopathisch motivierten Spätabbruch ermöglicht, so kann man einen Fetozid nicht mit der Begründung ablehnen, dass dadurch eine gezielte barbarische Tötung stattfinde. Ein Schwangerschaftsabbruch beinhaltet definitionsgemäß die Tötung der Leibesfrucht. Nichts anderes wird letztlich durch einen Fetozid erreicht. Gerade in den Fällen, in denen die Indikation auf einer seelischen Gefahr für die Mutter durch das prospektive Kind basiert, kann die Gefahr von der Mutter nur dann mit Sicherheit abgewendet werden, wenn ein Fetozid durchgeführt wird. Dass ein Fetozid für die behandelnden Ärzte wegen der gezielten Tötung sehr belastend ist, wird nicht bestritten. Zu bedenken ist aber, ob eine qualvolle indirekte Tötung des Kindes durch Sauerstoffmangel ethisch wirklich besser ist.32 Die auf moralische Erwägungen gestützte Behauptung, man dürfe den nasciturus nur aus dem Uterus zwingen, um dann zu sehen, ob er überlebt oder nicht, wird von Merkel zurecht als hochgradig unmoralisch und als „frivoles Gottesurteil“ verworfen.33 Stirbt das Kind nach der qualvollen Geburt, so hat man ihm unnötige Qualen zugefügt. Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, dass frühe Schwangerschaftsabbrüche mittels Kürettage vorgenommen werden. Der Inhalt der Gebärmutter wird hierbei abgesaugt, so dass eine direkte Tötung des nasciturus auch hier stattfindet. Letztlich wird das Tötungsgeschehen in der Spätphase lediglich offensichtlicher, qualitativ ändert sich nichts. Embryopathisch motivierte Spätschwangerschaftsabbrüche sollten daher durch einen Fetozid mit einer vorangehenden Narkotisierung des Fötus erfolgen, um dem nasciturus Schmerzen zu ersparen und traumatische Erfahrungen der Eltern zu vermeiden. Die Bundesärztekammer könnte durch standesrechtliche Regelungen auf eine solche Abbruchspraxis hinwirken. Alternativ käme auch eine gesetzliche Regelung in Betracht.34
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Österreichische Gesellschaft für Prä- und Perinatalmedizin, Speculum 4/2002, S. 4. BÄK/DGGG 2006, S. 135. Merkel, in: NK-StGB, § 218a Rn. 110. Merkel, in: NK-StGB, § 218a Rn. 110. Merkel, in: NK-StGB, § 218a Rn. 112.
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III. Menschenwürde und Abtreibungsautomatismus Spätabbrüche werden häufig dadurch ausgelöst, dass bei Pränataldiagnostik Fehlbildungen des Kindes festgestellt werden. Es wird für wahrscheinlich gehalten, dass ein Automatismus von: Pränataldiagnostik – Befund einer Behinderung des Ungeborenen – Schwangerschaftsabbruch als medizinische Therapie droht.35 Ein solcher Abbruchsautomatismus wäre mit den Grundrechten des nasciturus nicht vereinbar. Die Menschenwürde, die wie oben dargestellt, eine Garantie elementarer Rechtsgleichheit verbürgt, wäre jedenfalls dann verletzt, wenn Schwangerschaftsabbrüche allein aus selektiven Gründen automatisch vorgenommen würden. Eine derartige Geringachtung von Behinderten als Menschen zweiter Klasse wäre mit der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG nicht vereinbar. Darüber hinaus verstieße eine solche Benachteiligung auch gegen Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG. Da das Leben behinderter Föten durch einen solchen Automatismus praktisch immer vernichtet würde, bestünden auch Mängel hinsichtlich des durch Art. 2 Abs. 2 GG gewährleisteten Lebensschutzes. 1. Embryopathisch unterlegte medizinisch-soziale Indikation In § 218a Abs. 2 StGB ist ein solcher Abbruchsautomatismus nicht ausdrücklich angelegt. Besonders deutlich wird dies, wenn man die medizinisch-soziale Indikation mit der bis 1995 geltenden embryopathischen Indikation vergleicht.36 Der Gesetzgeber knüpft anders als hinsichtlich der embryopathischen Indikation keine Rechtsfolgen an eine bestehende Behinderung des Föten. Gerade im Hinblick auf Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG wird aber zum Teil geltend gemacht, dass eine verdeckte Diskriminierung durch die gesetzliche Regelung vorläge, da die embryopathische Indikation vollständig von der medizinisch-sozialen Indikation erfasst werde.37 Darüber hinaus wird vielfach vertreten, dass die legalen Möglichkeiten der Abtreibung behinderter Föten durch diese Gesetzesänderung ausgeweitet worden sind, indem die gesetzlichen Anforderungen minimiert wurden und die 22-Wochen-Frist weggefallen ist.38 a) Embryopathische und medizinisch-soziale Indikation im Vergleich Ein Vergleich der heute geltenden medizinisch-sozialen Indikation mit der ehemals geltenden embryopathischen Indikation zeigt jedoch eindrücklich, dass von einem vollständigen Aufgehen der embryopathischen Indikation in die medizinisch-soziale Indikation und damit von einer eventuell verdeckten Diskriminierung keine Rede sein kann.
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Duttge, in: Wewetzer/Wernstedt, Verantwortungsbewusste Konfliktlösungen, S. 96; Eser, in: Schönke/Schröder, § 218a Rn. 38. Über die Verfassungsmäßigkeit der früheren embryopathischen Indikation soll hier nicht entschieden werden. Dies würde den Rahmen der Darstellung sprengen. Tröndle, FS Müller-Dietz, S. 924; ders., NJW 1995, S. 3015. Tröndle, FS Müller-Dietz, S. 924; ders., NJW 1995, S. 3015; in diese Richtung auch Beckmann, MdR 1998, S. 159 f.; Otto, ZfL 1999, S. 55 ff.
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Nach der vormals geltenden embryopathischen Indikation des § 218a Abs. 3 StGB in der Fassung des SFHG war ein Schwangerschaftsabbruch innerhalb von 22 Wochen gerechtfertigt, „wenn nach ärztlicher Erkenntnis dringende Gründe für die Annahme sprechen, daß das Kind infolge einer Erbanlage oder schädlicher Einflüsse vor der Geburt an einer nicht behebbaren Schädigung seines Gesundheitszustandes leiden würde, die so schwer wiegt, dass von der Schwangeren die Fortsetzung der Schwangerschaft nicht verlangt werden kann“. Zusätzlich musste sich die Schwangere drei Tage vor dem Eingriff beraten lassen. Die Unzumutbarkeit musste sich nicht unbedingt in einer gesundheitlichen Beeinträchtigung der Schwangeren niederschlagen; vielmehr reichte die zeitliche, kräftemäßige und finanzielle Überforderung bei der Mitversorgung eines unheilbar geschädigten Kindes aus.39 Im Mittelpunkt der Betrachtung stand der Schweregrad der Schädigung des nasciturus. War die Schädigung schwer und unbehebbar, so wurde unwiderleglich vermutet, dass die embryopathische Indikation vorlag.40 Allerdings ist anzumerken, dass es auch schon bei der alten Fassung nicht um die Verhinderung kranken Nachwuchses ging, sondern der Schwangeren psychische Belastungen erspart bleiben sollten. Die embryopathische Indikation des § 218a Abs. 2 Nr. 1 StGB wurde auf Anregung von Behindertenverbänden und Kirchen gestrichen, um dem Missverständnis entgegenzuwirken, dass die Rechtfertigung eines Schwangerschaftsabbruchs aus einer geringeren Achtung des Lebensrechts geschädigter Kinder resultieren kann; ein Teil der Fallkonstellationen der früheren embryopathischen Indikation sollen nach dem Willen des Gesetzgebers durch eine Neuformulierung des § 218a Abs. 2 StGB aufgefangen werden können.41 Indem die medizinische Indikation um eine soziale Komponente erweitert wurde und sowohl seelische als auch soziale Gefahren bei der Entscheidung über das Vorliegen einer Lebens- oder Gesundheitsgefahr der Schwangeren beachtlich sind, muss die Indikation nicht mehr unmittelbar auf dem Schwangerschaftskonflikt basieren, sondern kann auch aus dem Konflikt der Mutter mit ihrem geborenen Kind und den umfassenden Sorge- und Einstandspflichten abgeleitet werden.42 Diese Konflikte bestehen vor allem dann, wenn bei Pränataldiagnostik eine Fehlbildung oder Behinderung des Kindes diagnostiziert wurde. In diesen Fällen ist Ziel der Abtreibung nicht nur das Beenden der Schwangerschaft, sondern auch und vor allem der Tod der Leibesfrucht. In der neuen Gesetzesfassung ist Anknüpfungspunkt nicht mehr die Behinderung des Kindes. Auf die Schwere der Schädigung kommt es nicht mehr an, sie ist nur noch ein Indiz. Der Blickwinkel hat sich auf den Zustand der Schwangeren verlagert. Das Vorliegen einer Behinderung allein reicht nicht aus, vielmehr müs39 40 41 42
Hillenkamp, FS Amelung, S. 432 f.; Kröger, in: LK-StGB, § 218a Rn. 50; Lackner, 20. Aufl. 1993, § 218a Rn. 14. Kröger, in: LK-StGB, § 218a Rn. 50. BT-Drs. 13/1850, S. 51. Eser, in: Schönke/Schröder, § 218a Rn. 26; Merkel, Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 210; Merkel, in: NK-StGB, § 218a Rn. 81.
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sen dadurch erst Gefahren für die Schwangere entstehen.43 Insofern ist die neue Rechtslage restriktiver. Diese Änderung der Rechtslage hat das OLG Hamm offensichtlich nicht berücksichtigt, wenn es ausführt, dass das Fehlen der linken Hand und eines Teils des linken Unterarmes keine ausreichend schwerwiegende Behinderung darstelle, so dass über den embryopathischen Aspekt die medizinische Indikation nicht bejaht werden könne.44 Zu beachten ist, dass die medizinisch-soziale Indikation auch Fälle erfasst, in denen ein geringer oder behebbarer Behinderungsgrad gegeben ist, die von der ursprünglichen embryopathischen Indikation nicht gedeckt gewesen wären, wenn unter Berücksichtigung der gegenwärtigen und zukünftigen Lebensverhältnisse der Schwangeren die Gefahr einer schwerwiegenden Gesundheitsschädigung besteht. Insoweit ist der Kreis der rechtfertigungsfähigen Abbrüche mit der Wiedereinführung der medizinisch-sozialen Indikation eher erweitert.45 Die Neufassung hat den Vorteil, dass sie die drohende Öffnung des Tors platter Eugenik durch die alte Fassung schließt.46 Sie vermeidet darüber hinaus die nahezu unmögliche Beantwortung der Frage, wann eine Behinderung schwerwiegend ist. Einen Konsens könnte man noch darüber herbeiführen, dass eine operable Lippen-Kiefer-Gaumenspalte keine schwerwiegende Behinderung ist. Beim DownSyndrom, das in unterschiedlichen Schweregraden ausgeprägt sein kann, wird die Frage schwieriger. Fehlen Extremitäten oder liegen sonstige körperliche Fehlbildungen vor, so stellt sich die Frage, ob alle Finger oder Hände oder vielleicht sogar noch ein Arm fehlen müssen, damit eine schwerwiegende Behinderung vorliegt. Besonders problematisch würde die Beurteilung einer schwerwiegenden Behinderung bei Krankheiten, die sich erst später im Leben zeigen. Beispielsweise ist die Chorea Huntington (Veitstanz) zu nennen. Dabei verlaufen die ersten 35-55 Lebensjahre normal. Danach kommt es jedoch zu einem vollständigen Persönlichkeitsverfall und schließlich zum Tod.
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Ausführlich zur Änderung der Rechtslage: Hillenkamp, FS Amelung, S. 431 ff.; Eser, in: Schönke/Schröder, § 218a Rn. 39; Gropp, MK-StGB, § 218a Rn. 60; Hennies, ArztR 1998, S. 128; Reichenbach, Jura 2000, S. 626. OLG Hamm, NJW 2002, S. 2649 (2651); umfassende Kritik zu diesem Urteil von Hillenkamp, FS Amelung, S. 431 f.; auch in der Entscheidung vom 6. 3. 2002 stellt das OLG Hamm auf die physische Konstitution des Kindes ab, indem es ausführt, dass die mangelnde Gebärfähigkeit zu keiner Abtreibungsindikation führen würde. Vgl. OLG Hamm, VersR 2003, S. 1580; Ansatzpunkt müsste auch hier der Zustand der Mutter sein. Gerät die Mutter durch die physische Konstitution des Kindes in Lebensgefahr oder wird in ihrer Gesundheit schwerwiegend beeinträchtigt, kann eine Abtreibung erfolgen. Hillenkamp, FS Amelung, S. 433. Eser, in: Schönke/Schröder, § 218a Rn. 38.
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Ein anderes Beispiel ist das Edwards-Syndrom. Bei diesem beträgt die Lebenserwartung in 90 % der Fälle ein Jahr.47 Es gibt keinen Maßstab, der festlegt, wie viele gesunde Lebensjahre vorliegen müssen.48 Hiersche und Jähnke differenzierten im Hinblick auf die alte Rechtslage danach, ob das Kind ein Lebensalter erreichen wird, in dem es eine selbständige Existenz aufbauen kann. Kann es ein solches Alter erreichen, so könne die Schwangere wie jede andere Mutter auch ihr Erziehungswerk vollenden und ihr Kind anschließend aus der Hand geben. Die Behinderung war in einem solchen Fall nach Hiersche und Jähnke folglich nicht schwerwiegend genug, so dass von der Schwangeren die Fortsetzung der Schwangerschaft verlangt werden konnte.49 Eine solche Differenzierung ist nach dem heute geltenden Recht nicht nötig und auch gar nicht mehr möglich. Leidet die werdende Mutter an erheblichen Depressionen und denkt an Selbstmord, weil bei ihrem Kind Chorea Huntington diagnostiziert wurde, so ist eine Indikation im Sinne des § 218a Abs. 2 StGB zweifelsohne gegeben.50 Fehlen einem Kind sämtliche Extremitäten, so ist die Behinderung zweifelsohne schwerwiegend. Wird die Gesundheit der Mutter dadurch nicht beeinträchtigt, so ist ein Schwangerschaftsabbruch gemäß § 218a Abs. 2 StGB dennoch nicht indiziert. Im Gegensatz dazu würde das Fehlen eines Fingers für die Bejahung einer medizinisch-sozialen Indikation ausreichen, wenn die Mutter dadurch suizidgefährdet wäre. In der Praxis wird der Grad der Behinderung wohl eine gewisse Indizwirkung für die Glaubwürdigkeit und Nachvollziehbarkeit einer psychischen Gesundheitsgefahr begründen. Bei einer schweren Behinderung werden häufig Gesundheitsgefahren für die Mutter vorliegen und die medizinisch-soziale Indikation erfüllt sein. Von einem vollständigen Aufgehen der embryopathischen Indikation in der medizinisch-sozialen Indikation zu sprechen, wäre aber verfehlt. Die Rechtslage hat sich geändert.
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Hiersche/Jähnke, MDR 1986, S. 2. Eberbach, JR 1989, S. 267. Hiersche/Jähnke, MDR 1986, S. 2. Anzumerken ist allerdings, dass nach dem Gendiagnostikgesetz die Chorea Huntington nicht mehr diagnostiziert werden darf. § 15 Abs. 1 GenDG bestimmt, dass nur noch Krankheiten oder Behinderungen diagnostiziert werden dürfen, die während der Schwangerschaft bestehen oder unmittelbar nach der Geburt zu Gesundheitsproblemen führen. § 15 Abs. 2 GenDG regelt, dass eine vorgeburtliche genetische Untersuchung, die darauf abzielt, genetische Eigenschaften des Embryos oder des Fötus für eine Erkrankung festzustellen, die nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Wissenschaft und Technik erst nach Vollendung des 18. Lebensjahrs ausbricht, nicht vorgenommen werden darf. Das hier gebildete Beispiel ist daher rein hypothetisch und soll lediglich der Veranschaulichung dienen.
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b) Ergebnis Ein Abtreibungsautomatismus behinderter Föten ist im Gesetz folglich auch nicht verdeckt angelegt, da entscheidender Anknüpfungspunkt der geltenden Rechtslage der gesundheitliche Zustand der Mutter und nicht mehr der Schweregrad der Behinderung ist. 51 2. Sonderfall: Abbruch wegen tödlicher Erkrankung des Fötus Eine Neigung zu einem Abbruchsautomatismus besteht allerdings bei todkranken Föten. In der juristischen Literatur wird vielfach vertreten, dass der Abbruch bei todkranken Föten, bei denen keine Therapiemöglichkeit besteht und die postnatal nur kurzfristig überleben können, allein deshalb zulässig sei, weil die sinnlose Belastung durch die Fortsetzung der Schwangerschaft der Schwangeren unzumutbar wäre.52 Die Schwangere solle nicht zur Austragung eines mit Sicherheit lebensunfähigen Kindes gezwungen werden, da es für sie eine Tortur darstelle zu wissen, dass dem Kind nur Leiden und Tod bevorstünden.53 Ein Fetozid ist nach dieser Auffassung bei todkranken Kindern somit zu jedem Zeitpunkt der Schwangerschaft, unabhängig vom Vorliegen der Voraussetzungen der medizinisch-sozialen Indikation, möglich. Allein der Wunsch der Mutter würde für einen Abbruch genügen.54 Unterstützung erfährt diese Ansicht auch von medizinischer Seite. Nach dem Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe sollen Spätabbrüche grundsätzlich nicht mehr stattfinden, es sei denn es liegen 51 52
53 54
So auch Reichenbach, Jura 2000, S. 626 f. Lackner/Kühl, § 218a Rn. 17; Eser, in: Schönke/Schröder, § 218a Rn. 43; Gropp, in: MK-StGB, § 218a Rn. 65 Schumann/Schmidt-Recla, MedR 1998, S. 504. Diese Tendenz zeigte sich bereits in der Literatur zu § 218a StGB in der Fassung des 15. StrÄndG, dessen Absatz 1 Nr. 2 eine medizinisch-soziale Indikation und dessen Absatz 2 Nr. 1 eine auf 22 Wochen befristete embryopathische Indikation enthielt. Lagen die Voraussetzungen der embryopathischen Indikation vor und war die 22-Wochen-Frist verstrichen, so war eine Abtreibung auf der Grundlage dieser Indikation nicht mehr straflos möglich. Bei todkranken Föten erfuhr diese Rechtslage heftige Kritik, da es nicht einzusehen sei, weshalb die Schwangere ein Kind austragen solle, das nicht lebensfähig sei. Um diesem Dilemma zu entgehen, wurde beispielsweise hinsichtlich des Anencephalus vertreten, dass er als Toter anzusehen sei und damit nicht unter den Schutz der §§ 218 ff. StGB falle.Vgl. dazu Dreher/Tröndle, § 218 Rn. 3 m.w.N. Andererseits wurde darauf hingewiesen, dass der Gesetzgeber diese Fälle des todkranken Fötus nicht bedacht habe und 1972 mangels ausreichender pränataler Diagnosemöglichkeiten auch nicht bedenken konnte. Argumentiert wurde auch, dass der Sinn der dem Lebensschutz dienenden 22-Wochen-Frist bei lebensunfähigen Föten nicht greife. Aus diesen Gründen wollte man diese Lücke durch teleologische Extension des § 218a Abs. 3 StGB i.d.F. des 15. StrÄndG ausfüllen und die 22-Wochenfrist aussetzen. Vgl. dazu: Hiersche/Jähnke, MDR 1986, S. 4 f. Unter methodischen Gesichtspunkten wurden die Rechtsfolgen der medizinisch-sozialen Indikation auf den Schwangerschaftsabbruch todkranker Föten nach der 22. Woche erstreckt. Vgl. dazu: Isemer/Lilie, MedR 1988, S. 70; Hiersche/Jähnke, MDR 1986, S. 4 f. Eser, in: Schönke/Schröder, § 218a Rn. 43; Gropp, in: MK-StGB, § 218a Rn. 65. Schumann/Schmidt-Recla, MedR 1998, S. 504.
B. Verfassungsmäßigkeit des § 218a Abs. 2 StGB auf den zweiten Blick
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schwerste unbehandelbare Entwicklungsstörungen vor.55 Beispielhaft als tödliche Defekte werden die Anenzephalie genannt, aber auch Krankheiten wie das Dysraphie-Syndrom, unheilbare Nierenfunktionsstörungen, das Potter Syndrom, Rhachischisis und die Trisomien 13 und 18, bei denen das Kind eine Überlebenszeit von einigen Monaten haben kann. Im Einzelfall kann die Überlebenszeit auch deutlich länger sein. Bei diesen Fehlbildungen dürfte nach der Geburt auf eine lebenserhaltende Behandlung verzichtet werden. Daraus wird geschlossen, dass auch eine Abtreibung erlaubt sein müsse. Ansonsten entstünden Wertungswidersprüche zur so genannten Früheuthanasie.56 Diese Auffassung ist jedoch weder in verfassungsrechtlicher Hinsicht haltbar, noch steht sie mit der ratio des geltenden Rechts in Einklang. Sie führt zu einem Abbruchsautomatismus todkranker Föten, der mit der Menschenwürde, dem Lebensrecht und dem Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG nicht vereinbar ist. Darüber hinaus erweist sich diese Ansicht als unschlüssig. Indikationsgrund ist bei einem embryopathisch motivierten Schwangerschaftsabbruch gewöhnlich die Bedrohung für die (seelische) Gesundheit der Schwangeren, die aus dem Zusammenleben mit einem behinderten Kind resultiert. Ist das Kind aber postnatal nicht lebensfähig, so ist eine intrauterine Tötung an sich nicht erforderlich, da für die Schwangere gerade keine nachgeburtlichen unzumutbaren Belastungen im Sinne des § 218a Abs. 2 StGB entstehen können.57 Einer generellen Unzumutbarkeitsvermutung steht darüber hinaus die Erfahrung entgegen, dass sich Frauen teilweise bewusst für das Austragen des Kindes entscheiden, um sich nach der Geburt in Würde verabschieden zu können. Mit dem geltenden § 218a Abs. 2 StGB ist diese Sichtweise schließlich nicht zu vereinbaren.58 Die medizinisch-soziale Indikation knüpft gerade nicht an die Schwere der Behinderung an, sondern allein an den Zustand der Mutter. Nur wenn sie in ihrem Leben oder in ihrer Gesundheit gefährdet ist und keine anderweitigen zumutbaren Abwendungsmöglichkeiten bestehen, darf ein Schwangerschaftsabbruch auf der Grundlage des § 218a Abs. 2 StGB erfolgen. De lege lata müssen folglich auch bei todkranken Föten die Voraussetzungen des § 218a Abs. 2 StGB erfüllt sein.59 3. Bestehender Abbruchsautomatismus in der Praxis Verlautbarungen aus der Ärzteschaft lassen es nicht nur in den Fällen einer tödlichen Erkrankung des Fötus zweifelhaft erscheinen, ob der gesetzgeberische Wille in der Praxis bislang tatsächlich beachtet wurde. Ärzte berichten von Fällen, in denen Schwangerschaftsabbrüche allein oder vorwiegend wegen eines pathologi55 56 57 58 59
DGGG, Positionspapier 2003, S. 11; ebenso die Erklärung der BÄK zum Schwangerschaftsabbruch nach Pränataldiagnostik, DÄBl. 1995, S. A-3015. Eser, Schönke/Schröder, § 218a Rn. 43. Merkel, NK-StGB, § 218a Rn. 120. Merkel, NK-StGB, § 218a Rn. 120. De lege ferenda wird eine gesetzliche Klarstellung des Erlaubtseins solcher Abbrüche gefordert von: Merkel, in: NK-StGB, § 218a Rn. 122.
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4. Kapitel: Verfassungsmäßigkeit der Rechtslage zum Spätabbruch
schen Befundes beim nasciturus durchgeführt wurden.60 In persönlichen Gesprächen mit Gynäkologen wurde berichtet, dass in der Praxis bei der Diagnose eines Down-Syndroms sogleich ein Termin für die Abtreibung vereinbart wurde. Die Berichte aus der ärztlichen Praxis legen das bisherige Bestehen eines Abbruchsautomatismus nach embryopathischem Befund somit nahe. Eine verlässliche Statistik, die eine solche Vermutung stützt, gibt es allerdings nicht. Die Statistik gibt lediglich Auskunft darüber, ob ein Schwangerschaftsabbruch auf einer medizinischen Indikation basierte. Sie enthält keine Angaben darüber, ob die medizinische Indikation durch embryopathische Gründe ausgelöst wurde. Untersuchungen wie die Studie „Qualitäts- und Qualifikationssicherung im Rahmen genetischer Beratung und Diagnostik am Beispiel ausgesuchter Testverfahren – eine interdisziplinäre prospektive Untersuchung“ zeigen aber zumindest, dass die Entscheidungen für und gegen eine Abtreibung von den Befunden in der pränatalen Diagnostik abhängen. Bei autosomal-numerischen Chromosomenstörungen mit auffälligem Ultraschallbefund lag die Schwangerschaftsabbruchsrate bei 90,1 %, bei chromosomalen Auffälligkeiten ohne pathologische Bedeutung bei 15,3 %. Schwangerschaften mit numerischen Chromosomenstörungen und zugleich auffälligem Ultraschallbefund werden daher in der Regel abgebrochen.61 Von Woopen wird bestätigt, dass insbesondere bei chromosomalen Auffälligkeiten ein Automatismus zu bestehen scheint.62 Auch aus medizinrechtlicher Sicht wird die Existenz eines Abbruchsautomatismus für höchst plausibel gehalten. Die „Kind-als-Schaden-Rechtsprechung“, die bei Misslingen des Schwangerschaftsabbruchs unter Umständen einen Haftungsanspruch begründet, lasse eine Defensivmedizin plausibel erscheinen, die im Zweifel zu einem Abbruch rate.63 Auf der Grundlage dieser Aspekte wird trotz mangelnder statistischer Erfassung embryopathisch motivierter Abbrüche überwiegend davon ausgegangen, dass in der Praxis tatsächlich ein Automatismus zwischen pathologischem Befund und Schwangerschaftsabbruch bestand.64 Die seit dem Bestehen der medizinisch-sozialen Indikation gesammelten Erfahrungen haben daher deutlich gemacht, dass insbesondere der Schutz behinderter ungeborener Kinder bislang nicht ausreichend gewährleistet war. Die Schutzpflicht des Staates gegenüber dem nasciturus aus Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 2, 3 Abs. 3 S. 2 GG erforderte es daher, Maßnahmen zu treffen, die einem solchen Automatismus entgegenwirken.
60 61 62 63 64
BT-Drs. 16/11106, S. 7. Vlg. auch Nippert, Ausschuss-Drs. 16(13)439k, S. 3. Woopen, Ausschuss-Drs. 16(13)439c, S. 3. Duttge, Ausschuss-Drs. 16(13)439j, S. 3. Vgl. nur BT-Drs. 16/11106, S. 7; Büchner, ZfL 2009, S. 38; Eser, in: Schönke/Schröder, § 218a Rn. 38, warnt ausdrücklich vor jedem Automatismus zwischen Befund und Schwangerschaftsabbruch.
B. Verfassungsmäßigkeit des § 218a Abs. 2 StGB auf den zweiten Blick
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4. Bewertung der bereits getroffenen Schutzmaßnahmen Der Gesetzgeber hat auf diesen Automatismus am 13.5.2009 reagiert, indem er unter anderem die Änderungen des Schwangerschaftskonfliktgesetzes beschloss. Durch die Änderung des Schwangerschaftskonfliktgesetzes sollen bislang bestehende Beratungs- und Informationsdefizite der Schwangeren behoben werden.65 Eine Verbesserung der Beratungssituation bezweckt, dass die Betroffenen durch eine unabhängige psychosoziale Beratung in Konfliktsituationen begleitet und emotional entlastet werden und dadurch die Wahrscheinlichkeit steigt, dass sich mehr Eltern ein Leben mit einem behinderten Kind zutrauen.66 Den Anforderungen an das Untermaßverbot wird der Gesetzgeber, wie bereits dargestellt, erst dann gerecht, wenn die Maßnahmen zur Zweckerreichung geeignet sind und einen hinlänglichen Schutz bieten. Ob durch die neuen Regelungen ein hinlänglicher Schutz vor einem Abbruchsautomatismus besteht, kann erst nach einer vollständigen Aufklärung der Schwächen der gesetzlichen Regelung und einer umfassenden Würdigung von Regelungsalternativen entschieden werden. Zu beachten ist dabei, dass die Schutzvorkehrungen nicht übermäßig in die Rechte der Schwangeren eingreifen dürfen. a) Beratungs- und Vermittlungspflicht des Arztes In § 2a Abs. 1 SchKG wurde nun die Pflicht des Arztes, der die pränataldiagnostischen Untersuchungen vornimmt, verankert, bei einem pathologischen Befund die Schwangere über die medizinischen und psychosozialen Aspekte, die sich aus dem Befund ergeben, zu beraten. Dabei müssen Ärzte hinzugezogen werden, die mit der Gesundheitsschädigung bei Kindern Erfahrung haben. Dadurch soll eine hinreichende Information der Schwangeren über die Erkrankung des Kindes sichergestellt werden. § 2a Abs. 2 SchKG verpflichtet den indikationsstellenden Arzt zur Beratung über medizinische und psychische Aspekte, die sich aus einem Schwangerschaftsabbruch ergeben. Eine umfassende ärztliche Beratung ist unerlässlich. Nur auf diese Weise können die medizinischen Befunde angemessen gewürdigt und geeignete Hilfen für die Bewältigung der Situation gefunden werden.67 Auf diese Weise werden Lebens-, Würde- und Gleichheitsschutz verbessert. Im Bewusstsein, dass der Arzt eine angemessene Würdigung sozialer Aspekte mangels Kenntnissen und mangels ausreichender Zeit nicht vornehmen kann, wird er darüber hinaus gemäß § 2a Abs. 1 S. 4, Abs. 2 S. 1 SchKG dazu verpflichtet, auf den Anspruch auf psychosoziale Beratung nach § 2 SchKG hinzuweisen und im Einvernehmen mit der Schwangeren Kontakte zu Beratungsstellen nach § 3 SchKG sowie zu Selbsthilfegruppen und Behindertenverbänden zu vermitteln. Gerade durch diese Hinweis- und Vermittlungspflicht ist eine Verbesserung der Situation zu erwarten. Eine erhöhte Informiertheit der Schwangeren soll letztlich 65 66 67
Vgl. dazu 3. Kapitel B. Klügel (Donum vitae), Protokoll 16/81, 2009, S. 7; EFD/EFHID, Positionspapier 2007, S. 7 f. BT-Drs. 16/11106, S. 8.
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4. Kapitel: Verfassungsmäßigkeit der Rechtslage zum Spätabbruch
Monstervisionen von einem behinderten Kind vermeiden und sie zur Austragung eines behinderten Kindes ermutigen. Verstößt der Arzt gegen seine Beratungspflicht nach § 2a Abs. 1 und 2 SchKG, so handelt er nach dem neuen § 14 Abs. 1 Nr. 1 SchKG ordnungswidrig. Eine ausreichende Beratung wird auf diese Weise sichergestellt. Insgesamt dienen diese Regelungen dem Würde-, Lebens- und Gleichheitsschutz des nasciturus. Wie gezeigt, kann eine psychosoziale Beratung die Schwangere durchaus zur Austragung des Kindes ermutigen. Wenn eine solche Beratung aber den Schutz des ungeborenen Lebens verbessern kann, so ist die Frage zu stellen, ob ein freiwilliges Beratungsangebot überhaupt im Hinblick auf die Hochrangigkeit der in Frage stehenden Rechtsgüter, nämlich Menschenwürde, Lebensrecht und Benachteiligungsverbot, zu einem hinlänglichen Schutz im Sinne des Untermaßverbots beitragen kann, oder ob nicht mindestens eine psychosoziale Pflichtberatung von Seiten der Schwangeren eingeführt werden müsste. Dies ist im Folgenden zu prüfen. aa) Beratungspflicht versus freiwilliges Beratungsangebot Der von der CDU/CSU im Jahr 2004 in den Bundestag eingebrachte Antrag „Vermeidung von Spätabtreibungen – Hilfen für Eltern und Kinder“ sah nach einer pränatalen Diagnose mit pathologischem Befund als Voraussetzung für einen gerechtfertigten Abbruch sowohl eine Pflichtberatung durch den Arzt als auch eine psychosoziale Pflichtberatung als Voraus-setzung für einen gerechtfertigten Abbruch vor.68 Erfahrungen von Beratungsstellen hatten gezeigt, dass das Angebot der psychosozialen Beratung vorwiegend von Personen mit mittleren und höheren Einkommen angenommen wurde, die sich in einem unterstützenden sozialen Umfeld befanden. Durch eine Pflichtberatung erhoffte man sich, die Entscheidungssituation der Frauen verbessern zu können, denen ein solches Umfeld fehlte.69 Als positiver Effekt einer Beratungspflicht wurde außerdem gewertet, dass der Staat dann ein entsprechendes Beratungsangebot gewährleisten und das bestehende Angebot umfangreicher und qualifizierter gestalten müsste, was auch im Interesse der Schwangeren liege.70 Strikt gegen eine Beratungspflicht sprachen sich schon damals diejenigen aus, die psychosoziale Schwangerschaftskonfliktberatung selbst vornahmen. Die Einführung einer Pflichtberatung wurde als Entmündigung der Frauen und Missachtung ihrer Entscheidungskompetenz gewertet.71 Ein nicht zu rechtfertigender Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren wurde proklamiert. Diese
68
69 70 71
BT-Drs. 15/3948, S. 3 allerdings erst nach der 24. SSW; unterstützt wurde dieser Vorschlag auch von: Reimers (EKD), Stellungnahme 2005; EFD/EFHID, Positionspapier 2007, S. 7. Wewetzer, in: Wewetzer/Wernstedt, Spätabbruch der Schwangerschaft, S. 27 f. EFD/EFHiD, Positionspapier 2007, S. 8 f. AWO/Paritätischer Wohlfahrtsverband/pro familia, Stellungnahme 2002, S. 1.
B. Verfassungsmäßigkeit des § 218a Abs. 2 StGB auf den zweiten Blick
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müsse selbst entscheiden können, wann sie eine psychosoziale Beratung in Anspruch nehmen wolle und wann nicht.72 Noch schärfer wandte Petersen gegen eine Pflichtberatung ein, dass eine psychosoziale Beratung die schwangeren Frauen stigmatisiere und ein Machtmittel zur Unterdrückung darstelle. Eine Pflichtberatung sei demütigend und verstärke bereits vorhandene Schuldgefühle, so dass eine humane Verarbeitung des Konflikts erschwert oder sogar verhindert werde.73 Es wird deutlich, dass die Pro und Contra Argumente hier relativ einseitig die Rechte des nasciturus oder die Rechte der Frau in den Vordergrund stellen und dementsprechend für oder gegen eine Beratungspflicht argumentieren. Sieht man in der Pflichtberatung einen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren, so stehen sich die Rechtsgüter des nasciturus aus Art. 2 Abs. 2 S. 1, Art. 1 Abs. 1, 3 Abs. 3 S. 2 GG und das Selbstbestimmungsrecht der Frau gegenüber. Rein abstrakt betrachtet wäre aufgrund der beim nasciturus auf dem Spiel stehenden Rechtsgüter ein Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht nicht unverhältnismäßig. Zum Schutz des nasciturus wäre eine Pflichtberatung durchaus möglich. Im Hinblick auf das Wesen und die Ziele psychosozialer Beratung ist aber fraglich, ob überhaupt von einem Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren gesprochen werden kann. Die Fähigkeit, in solch tragischen Situationen, in denen sich die Schwerbehinderung eines Wunschkindes herausstellt, selbstbestimmt handeln zu können, ist äußerst zweifelhaft. Die Schwangere, die von einem pathologischen Befund überrascht wird, steht zunächst einmal unter Schock. Maßnahmen wie die Einführung einer Beratungspflicht dienen nicht der Schikane der schwangeren Frau, sondern bezwecken neben der Verbesserung des Schutzes des nasciturus auch die Ermöglichung einer reflektierten und rationalen bestmöglichen und vor allem tragbaren Entscheidung.74 Eine selbstbestimmte Entscheidung soll daher nicht verhindert, sondern durch umfassende Beratung erst ermöglicht werden. Dass eine selbstbestimmte Entscheidung ausreichend vorbereitet werden muss, ist in der Medizin beispielsweise hinsichtlich des informed consent anerkannt. Nur wenn die Schwangere umfassend über Wirkung und Folgen des pathologischen Befundes aufgeklärt ist, kann sie sich selbstbestimmt für oder gegen die Fortsetzung der Schwangerschaft entscheiden. Betrachtet man die Folgewirkungen eines Schwangerschaftsabbruchs, so stellt man fest, dass Frauen nach Schwangerschaftsabbrüchen häufig an Depressionen erkranken.75 In der medizinischen Fachterminologie ist von einem „Post-AbortionSyndrom“ die Rede. Durch umfassende Beratung wird das Treffen tragfähiger Entscheidungen ermöglicht, so dass möglicherweise mit der Entscheidung besser gelebt werden kann.76 Berücksichtigt man diese Aspekte, so wird deutlich, dass die psychosoziale Beratung nicht nur einseitig dem Schutz des nasciturus dient, sondern ebenfalls dem 72 73 74 75 76
Marks, Protokoll 16/81, 2009, S. 21. Petersen, Frauenarzt 1993, S. 1039. EFD/EFHID, Positionspapier 2007, S. 8; Duttge, Protokoll 16/81, 2009, S. 4, 33. Kentenich, Protokoll 16/81, 2009, S. 18. Kentenich, Protokoll 16/81, 2009, S. 18; Römelt, in: Römelt, Spätabbrüche, S. 35.
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4. Kapitel: Verfassungsmäßigkeit der Rechtslage zum Spätabbruch
Schutz der Schwangeren. Festzuhalten ist daher zunächst, dass die Einführung einer Pflichtberatung keinen unverhältnismäßigen Eingriff in die Rechtsgüter der Schwangeren darstellen würde. Im Hinblick auf § 218a Abs. 1 StGB, der innerhalb der ersten 12 Wochen eine Pflicht der Schwangeren zur psychosozialen Beratung anordnet, erscheint es zunächst unverständlich, warum bei der medizinisch-sozialen Indikation auf eine Beratungspflicht verzichtet wurde. Im Hinblick auf das Schutzkonzept des § 218a Abs. 1 StGB und die Tatsache, dass bei einer medizinisch-sozialen Indikation, die auf einem embryopathischen Befund basiert, die Konfliktlage noch weit größer ist, wird daher gefordert, auch bezüglich der medizinisch-sozialen Indikation eine Beratungspflicht einzuführen.77 Es drängt sich zudem die Frage auf, warum der Schwangeren bei der medizinisch-sozialen Indikation die freiwillige Inanspruchnahme psychosozialer Beratung zugetraut wird und bei § 218a Abs. 1 StGB nicht. Das Bundesverfassungsgericht hält die Beratungs- und Indikationsregelung für zwei grundlegend verschiedene Schutzkonzepte. Im zweiten Urteil zum Schwangerschaftsabbruch führt es aus, dass es „[…]dem Gesetzgeber verfassungsrechtlich grundsätzlich nicht verwehrt [sei], für den Schutz des ungeborenen Lebens zu einem Schutzkonzept überzugehen, das in der Frühphase der Schwangerschaft in Schwangerschaftskonflikten den Schwerpunkt auf die Beratung der schwangeren Frau legt, um sie für die Austragung des Kindes zu gewinnen, und dabei im Blick auf die notwendige Offenheit und Wirkung der Beratung auf eine Feststellung von Indikationstatbeständen verzichtet.“78 Darüber hinaus führt das Bundesverfassungsgericht aus, dass es die Schutzpflicht des Staates bei Vorliegen einer rechtfertigenden Indikation gebiete, der Frau Rat und Hilfe anzubieten und ihr dadurch beizustehen.79 Angebot und Beistand sind aber gerade nicht mit einer Pflicht der Schwangeren zur Beratung gleichzusetzen. Die unterschiedlichen Rechtsfolgen – das Beratungskonzept der ersten 12 Wochen führt zur Straflosigkeit, die Indikationsstellung des § 218a Abs. 2, 3 StGB darüber hinaus zur Rechtfertigung der Handlung – unterstreichen die grundlegende Unterschiedlichkeit der Konzepte. Allein die Tatsache, dass § 218a Abs. 1 StGB eine Beratungspflicht enthält, macht aufgrund der unterschiedlichen Konzeption nicht zugleich eine Beratungspflicht in Abs. 2 erforderlich. In den Fällen des § 218a Abs. 2 StGB wurde der Schwangeren schließlich eine freiwillige Inanspruchnahme psychosozialer Beratung deshalb zugetraut, weil es sich in den Fällen des § 218a Abs. 2 StGB, anders als in den Fällen des § 218a Abs. 1 StGB, um Wunschkinder handelt, die man nicht leichtfertig abtreibt. Im fortgeschrittenen Stadium der Schwangerschaft ist eine Entscheidung besonders schmerzlich, da die Schwangere sich auf das Kind gefreut, vorbereitet und eine enge Beziehung zum Kind aufgebaut hat.80 Dass sich die Erwartung einer häufigen Inanspruchnahme psychosozialer Beratung schließlich nicht erfüllte, wird zu
77 78 79 80
Hepp, Protokoll 16/81, 2009, S. 27. BVerfGE 88, 203 (264). BVerfGE 88, 203 (257). Notz, Protokoll 16/81, S. 32.
B. Verfassungsmäßigkeit des § 218a Abs. 2 StGB auf den zweiten Blick
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Recht auf die bislang mangelnde Kenntnis des psychosozialen Beratungsangebots zurückgeführt. Im Hinblick auf das Wesen der psychosozialen Beratung ist schließlich zweifelhaft, ob eine Pflichtberatung den Schutz des nasciturus wesentlich verbessern würde. Eine psychosoziale Beratung zielt darauf, gemeinsam mit der Schwangeren Lebensperspektiven zu erarbeiten und ihre Entscheidungskompetenz zu stärken. Dazu ist ihre Mitwirkungsbereitschaft erforderlich. Sie muss beispielsweise darlegen, weshalb sie einen Schwangerschaftsabbruch erwägt. Eine solche Mitwirkungsbereitschaft lässt sich aber nicht erzwingen, was § 5 Abs. 2 Nr. 1 SchKG bestätigt. Jede Beratung erfordert daher ein grundlegendes Vertrauensverhältnis, das die Rechte der Frau, nämlich das Recht auf Nichtwissen und das Recht sich für oder gegen das Kind zu entscheiden respektiert und Offenheit voraussetzt. Diese Offenheit besteht nur dann, wenn die Beratung freiwillig erfolgt,81 insbesondere da die Beratung nach einem pathologischen Befund aufgrund des Schocks und des Zeitdrucks unter noch schwierigeren Bedingungen stattfindet als eine Beratung im Rahmen des § 218a Abs. 1 StGB.82 Eine Pflichtberatung, bei der sich die Schwangere passiv verhält und sie lediglich erduldet, würde den Lebens-, Würde- und Gleichheitsschutz nicht verbessern. Ziel muss es daher sein, eine Inanspruchnahme der Beratungsstelle durch Einsicht zu erreichen. Ein weiteres Argument gegen die Einführung einer Pflichtberatung kann man der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entnehmen. Hinsichtlich der allgemeinen Notlagenindikation führte das Bundesverfassungsgericht im zweiten Urteil zum Schwangerschaftsabbruch aus, „dass selbst eine mit der Beratung nicht verbundene, sondern ihr nachfolgende, personell und institutionell von ihr getrennte Indikationsfeststellung eine ungünstige Vorwirkung auf die Beratung ausübt und deren Wirkungschancen wesentlich beeinträchtigt, indem die Frau auf den festzustellenden Indikationstatbestand fixiert und eine offene Erörterung des Schwangerschaftskonflikts verhindert wird.“83 Bei einer Notlagenindikation spielen vielfältige Faktoren eine Rolle, die dann sowohl bei der Indikationsstellung und bei psychosozialer Beratung aufgedeckt werden müssen. Anders beurteilte das Bundesverfassungsgericht die Fälle der medizinischen, embryopathischen und kriminologischen Indikation. „Die Notlage ist hier greifbar, wenn ärztlich festgestellt ist, dass sich die Frau mit der Fortführung der Schwangerschaft einer beachtlichen Gefahr für ihre Gesundheit aussetzt oder die erhebliche Gefahr einer schweren Schädigung des Kindes besteht, oder wenn die Frau Opfer einer Straftat ist.“ 84 Der vorgegebene objektive Sachverhalt verändere die Thematik und die Funktion der Beratung so, dass Frauen kaum Anlass hätten, ei-
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AWO/Paritätischer Wohlfahrtsverband/pro familia, Stellungnahme 2002; Netzwerk gegen Selektion durch PND 2004, S. 3 f.; 2006, S. 13; Notz, Protokoll 16/81, 2009, S. 33. Netzwerk gegen Selektion durch PND 2004, S. 3 f.; ablehnend auch 2006, S. 13. BVerfGE 88, 203 (268, 269). BVerfGE 88, 203 (268, 269).
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4. Kapitel: Verfassungsmäßigkeit der Rechtslage zum Spätabbruch
ner solchen Indikationsfeststellung auszuweichen oder die Beratung nicht mit der notwendigen Offenheit anzunehmen.85 Die medizinisch-soziale Indikation, die auf einem pathologischen Befund basiert, lässt sich keinem der beiden Lager so richtig zuordnen. Der embryopathische Befund gibt zwar einen objektiven Sachverhalt vor, zugleich basiert die medizinisch-soziale Indikation aber, wie die Notlagenindikation auch, auf vielen verschiedenen anderen Faktoren. Es ist daher durchaus vorstellbar, dass die Schwangere sich auch in diesem Fall auf die Indikationsfeststellung des Arztes fixiert und die psychosoziale Beratung an Wirkungskraft verliert. Daher spricht auch die negative Vorwirkung einer Indikation auf die Beratung gegen die Einführung einer psychosozialen Beratungspflicht. Nur wenn die Schwangere die Beratung aus Einsicht in Anspruch nimmt, ist von deren Wirksamkeit auszugehen. Die Einführung einer psychosozialen Pflichtberatung würde den Würde-, Lebens- und Gleichheitsschutz des nasciturus somit nicht verbessern. bb) Beratungs- und Vermittlungspflicht des Arztes Aus dem vorher Gesagten ergibt sich, dass eine freiwillige psychosoziale Beratung den Schutz des nasciturus verbessern kann. Durch umfassende Informationen kann die werdende Mutter zur Austragung des Kindes ermutigt werden. Aufgrund der nur vereinzelten Inanspruchnahme psychosozialer Beratung war aber eine Bekanntmachung und Aufwertung des Anspruchs auf psychosoziale Beratung dringend erforderlich. Der neue § 2a Abs. 1 SchKG sieht zur Aufwertung des psychosozialen Beratungsangebots dementsprechend eine Beratungspflicht des Arztes über den bestehenden psychosozialen Beratungsanspruchs gemäß § 2 SchKG vor. Darüber hinaus muss er Kontakte zu Beratungsstellen vermitteln. Teilweise wird unterstellt, dass durch die Beratungs- und Vermittlungspflicht des Arztes eine psychosoziale Beratungspflicht der Frau durch die Hintertür eingeführt und dadurch ihr Selbstbestimmungsrecht verletzt werde.86 Die Einführung einer Beratungspflicht von Seiten des Arztes führe dazu, dass die 1995 eingeführte weite medizinisch-soziale Indikation durch eine Beratungslösung ausgeglichen und der damals erzielte Kompromiss revidiert werde.87 Die Rechtslage habe sich durch die Einführung einer Beratungspflicht des Arztes verschärft, so dass zu befürchten sei, dass die Schwangeren die gewollten Abbrüche im Ausland durchführen lassen. Generell wird kritisiert, dass sowohl dem Arzt als auch der Schwangeren ein erhebliches Misstrauen entgegengebracht werde und die Schwangere keine Bevormundung durch den Staat brauche.88 Von anderer Seite werden die gesetzlichen Regelungen für überflüssig gehalten. Zum einen deshalb, weil das meiste bereits nach allgemeinem Medizinrecht verpflichtend sei89 und die Ärzte bei einem ausreichenden Beratungsangebot gerne
85 86 87 88 89
BVerfGE 88, 203 (269). Humme, Protokoll 16/81, 2009, 44. Frommel, Protokoll 16/81, 2009, S. 32. Tackmann, Protokoll 16/81, 2009, S. 40. Frommel, Protokoll 16/81, 2009, S. 32.
B. Verfassungsmäßigkeit des § 218a Abs. 2 StGB auf den zweiten Blick
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ohne Pflicht auf dieses zurückgriffen.90 Eine Kriminalisierung der Ärzte sei dazu nicht erforderlich. Darüber hinaus werde die Qualität einer Beratung durch die gesetzliche Verpflichtung zu einer solchen nicht besser.91 Diese Kritik scheint erheblich überzogen. Durch umfassende Beratung will man nicht in das Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren eingreifen, sondern eine selbstbestimmte Entscheidung erst ermöglichen. Dass ein Beratungsdefizit in emotionalen Fragen besteht und die Lage daher gerade nicht zufriedenstellend ist, zeigen die oben genannten Studien.92 Ob die Einführung einer Beratungs- und Vermittlungspflicht den Kompromiss von 1995 in Frage stellt, ist zudem äußerst zweifelhaft. Teilweise wird die neue Regelung sogar als Unterstützung der damaligen Absicht des Gesetzgebers gewertet. 93 Es wird nämlich nochmals verdeutlicht, dass der Abbruch nicht durch die Behinderung des Kindes gerechtfertigt, sondern ausschließlich auf die mütterliche Situation abzustellen ist. Durch die Aufwertung der Beratungssituation wird die Entscheidungsbildung der Frau in den Mittelpunkt gestellt.94 Von einer Unterstellung, dass die Schwangere und der Arzt leichtfertig abtreiben, kann außerdem keine Rede sein. Im Hinblick auf das Recht auf Leben und die Menschenwürde des nasciturus sowie im Hinblick auf die Gesundheit der Frau und die Folgewirkungen des Abbruchs sind die freiwilligen Beratungsangebote unverzichtbare Hilfen und keine Hürden.95 Für die Beratungs- und Vermittlungspflicht des Arztes sprechen auch die folgenden Aspekte: Die Ärzte sind häufig nicht überzeugt, dass eine psychosoziale Beratung sinnvoll oder nötig ist, so dass bislang nur selten ein Hinweis auf die Möglichkeit psychosozialer Beratung erfolgte. Mit der Hinweispflicht des Arztes wird nun die Erwartung verbunden, dass er dadurch erkennt, dass er allein durch die Bereitstellung einer psychosomatischen Grundversorgung eine psychosoziale Beratung nicht leisten kann.96 Studien zufolge ist der Arzt, genauer gesagt der Gynäkologe, bei dem die Schwangere die Schwangerschaftsvorsorge durchführen lässt, die wichtigste Beratungsperson in der Schwangerschaft.97 Ärztliche Informationen wurden von 89 % der Frauen als besonders wertvoll eingeschätzt. Auch auf die Inanspruchnahme einer psychosozialen Beratung hat der Arzt erheblichen Einfluss. Festgestellt wurde, dass die Bereitschaft der schwangeren Frauen, eine solche Beratung in Anspruch zu nehmen, entscheidend dadurch gesteigert werden kann, dass der behandelnde Arzt auf dieses Angebot hinweist und konkrete Ansprechpartner benennt oder Kontakte vermittelt.98 90 91 92 93 94 95 96 97 98
Schulz, Protokoll 16/81, 2009 , S. 13. Schulz, Protokoll 16/81, 2009, S. 13; Notz, Protokoll 16/81, 2009, S. 43. Vgl. 3. Kapitel B II. Griese, Protokoll 16/81, 2009, S. 38. Woopen, Protokoll 16/81, 2009, S. 47 f. Woopen, Protokoll 16/81, 2009, S. 15. Nicklas-Faust, Protokoll 16/81, 2009, S. 39. BZgA, Repräsentativbefragung 2006, S. 24 f. Rohde/Woopen, Psychosoziale Beratung, S. 5 f.
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4. Kapitel: Verfassungsmäßigkeit der Rechtslage zum Spätabbruch
Es ist daher richtig, den Arzt als beratende Person einzusetzen. Durch die vorgesehenen Beratungs- und Vermittlungspflichten des Arztes wird die Schwangere im Übrigen keinesfalls in einen Beratungsmarathon gezwungen, da sich aus § 2a Abs. 3 SchKG ergibt, dass sie auf die ärztliche Beratung und Vermittlung verzichten kann. Die Einführung der ärztlichen Beratungs- und Vermittlungspflicht ist daher zu begrüßen. Sie dient dem Lebens-, Würde und Gleichheitsschutz des nasciturus. b) Unterstützung der Beratungssituation durch Informationsmaterialien der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung Die Informiertheit der Schwangeren wird auch durch die Informationsmaterialien der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung verbessert. Inhaltlich enthalten diese Informationsmaterialien einen Hinweis auf den Anspruch auf psychosoziale Beratung. Sie informieren darüber hinaus ausführlich über das Leben mit einem geistig oder körperlich behinderten Kind, weisen auf die Wertigkeit dieses Lebens hin und enthalten umfangreiche Angaben über Hilfsangebote. Insgesamt tragen diese Informationsmaterialien dazu bei, der Schwangeren die Angst vor einem behinderten Kind zu nehmen und sie zur Austragung der Schwangerschaft zu ermutigen. Sie dienen daher dem Würde-, Lebens- und Gleichheitsschutz des nasciturus.99 c) Überarbeitung der Mutterschaftsrichtlinien und des Mutterpasses Während das Informationsmaterial der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung der Schwangeren vom Arzt gemäß § 1 Abs. 1a S. 3 SchKG bei der Beratung nach einem pränataldiagnostischen Befund ausgehändigt wird und dementsprechend die Beratungssituation erst nach einem solchen Befund verbessert wird, wirken die geplanten Änderungen des Mutterpasses100 und der Mutterschaftsrichtlinien früher und ergänzen damit § 15 Abs. 2 GenDG, der nicht alle Formen der pränatalen Diagnose erfasst. Den Mutterpass erhält jede schwangere Frau und trägt ihn in der Regel für die Dauer der Schwangerschaft bei sich, so dass Ergänzungen des Mutterpasses ihre Wirkung zu einem früheren Zeitpunkt entfalten. Er eignet sich daher nicht nur als medizinisches Dokument für die Ärzte, sondern auch als Informationsdokument für die Schwangere.101 Der Mutterpass sollte daher einen Hinweis auf den Rechtsanspruch gemäß § 2 SchwKG auf psychosoziale Beratung in einer unabhängigen Beratungsstelle und umfassende medizinische Beratung durch den behandelnden Arzt enthalten. Außerdem sollte auf die von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung angebotene Internetseite www.schwanger-info hingewiesen wer-
99 100
101
Duttge, Stellungnahme zu BT-Drs. 16/11106, S. 11. Befürwortet beispielsweise von: BT-Drs. 15/3948, S. 3; BT-Drs. 16/11342, S. 5; AWO/Paritätischer Wohlfahrtsverband/pro familia, Stellungnahme 2002, S. 2; Netzwerk gegen Selektion durch PND 2004, S. 4. BT-Drs. 16/11342, S. 5.
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den.102 Teilweise wurde auch die Benennung der behandlungsunabhängigen psychosozialen Beratungsangebote der Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen und der Behinderten-Selbsthilfeorganisationen gefordert.103 Damit können bereits im Vorfeld Konfliktsituationen für die werdenden Eltern vermindert und Spätabtreibungen vermieden werden. Diese Änderungen wurden bereits in dem vom BMFSFJ in Auftrag gegebenen Modellprojekt „Entwicklung von Beratungskriterien für die Beratung Schwangerer bei zu erwartender Behinderung des Kindes“ angeregt und für wirkungsvoll befunden.104 Zur Vernetzung der ärztlichen und psychosozialen Beratungsangebote trägt auch die geplante Überarbeitung der Mutterschaftsrichtlinien bei. Der Gemeinsame Bundesausschuss wurde aufgefordert, die Mutterschaftsrichtlinien in dem Sinne zu überarbeiten, dass die Trias aus ärztlicher Beratungspflicht vor und nach pränataler Diagnostik, Hinweispflicht auf psychosoziale Beratung und Sicherung einer fachlich qualifizierten Beratung verankert wird.105 Konkrete Vorschläge wurden nicht unterbreitet. Denkbar wäre aber beispielsweise eine Ergänzung des Abschnitts A Ziff. 1 der Mutterschaftsrichtlinien. Bislang findet sich hier der Hinweis, dass die Schwangere über ihren Rechtsanspruch auf Beratung gemäß § 2 SchKG informiert werden soll. Man könnte hier beispielsweise explizit darauf hinweisen, dass die Inanspruchnahme psychosozialer Beratung gemäß § 2 SchKG vor und nach Durchführung pränataldiagnostischer Maßnahmen möglich ist. Die Mutterschaftsrichtlinien gelten zwar nur für die Schwangeren, die über die gesetzliche Krankenversicherung versichert sind. Dennoch fördert eine solche Ergänzung der Mutterschaftsrichtlinien die Kooperation zwischen Ärzten und psychosozialen Beratungsstellen. Für die Ergänzung der Mutterschaftsrichtlinien spricht darüber hinaus, dass man sie schneller an den aktuellen Stand der Medizin anpassen kann.106 Im Ergebnis sind daher auch die geplanten Überarbeitungen des Mutterpasses und der Mutterschaftsrichtlinien zu begrüßen. Sie tragen zu einer besseren Informiertheit der Schwangeren bei und können sie dadurch zur Austragung des Kindes ermutigen. Lebens- und Würdeschutz sowie der Schutz vor Benachteiligung des nasciturus werden auf diese Weise verbessert. d) Bedenkzeit § 2a Abs. 2 S. 2 SchKG sieht nun vor, dass zwischen Mitteilung des Befundes oder ärztlicher Beratung und Indikationsstellung eine Bedenkzeit von drei Tagen liegen muss.107 Eine Ausnahme sieht § 2a Abs. 2 S. 3 SchKG allerdings dann vor, 102 103 104 105 106 107
BT-Drs. 16/11342, S. 5, Netzwerk gegen Selektion durch PND 2004, S. 4. AWO/Paritätischer Wohlfahrtsverband/pro familia, Stellungnahme 2002, S. 2; AWO, Stellungnahme 2008. BMFSFJ, Modellprojekt „Entwicklung von Beratungskriterien“, S. 21 f. BT-Drs. 16/11342, S. 4 f. v. Loewenich, Protokoll 16/81, 2009, S. 30. Eine dreitägige Bedenkzeit war vorgesehen in den Entwürfen: BT-Drs. 15/3948 S. 4; BT-Drs. 16/11106, S. 3, 9; BT-Drs. 16/11347, S. 4, 5; BT-Drs. 16/11330, S. 2, 3, 5; Gefordert wurde eine dreitägige Bedenkzeit von Seiten der Ärzte. Vgl nur: DGGG, Positionspapier 2003, S. 19; BÄK/DGGG 2006, S. 125 f.; DGGG, Positionspapier 2004,
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4. Kapitel: Verfassungsmäßigkeit der Rechtslage zum Spätabbruch
wenn eine gegenwärtige erhebliche Gefahr für Leib oder Leben der Schwangeren durch einen Schwangerschaftsabbruch abgewendet werden muss. Die Einführung einer dreitägigen Bedenkzeit stieß vielfach auf Widerspruch. Eingewandt wurde, dass diese dem Selbstbestimmungsrecht der Frau widerspreche. Die Entscheidung, wann ein Abbruch erfolge, solle allein den Ärzten und der Schwangeren obliegen.108 Zur Begründung wurde folgender Beispielsfall angeführt: Wenn eine Frau, die bereits eine Totgeburt aufgrund eines thanatophoren Zwergenwuchses hinter sich hat, erneut ein Kind erwartet, das an derselben mit dem Leben nicht vereinbaren Krankheit leidet, soll sie nicht drei grausame Tage gequält werden, bevor sie die Schwangerschaft abbrechen darf.109 Man habe festgestellt, dass sich die Frauen am schnellsten entschieden, die schon ein behindertes Kind hätten und bei denen von vornherein das Risiko einer monogenen Störung bestehe.110 Es wird behauptet, dass Frauen sich bereits im Vorfeld die Frage stellten: „Was wäre wenn?“ und diese Frage bereits im Vorfeld entschieden. Darüber hinaus wird argumentiert, dass eine Frau auch vor Ablauf von drei Tagen ausreichend informiert sein könne und man sie daher nicht zwingen könne, länger zu warten, obwohl sie aus verständlichen Gründen den Schwangerschaftsabbruch so schnell wie möglich durchführen lassen wolle.111 Eine pauschale Regelung für eine am Einzelfall orientierte Entscheidung wird aus diesen Gründen für problematisch gehalten.112 Vorgeschlagen wurde daher keine dreitägige, sondern nur eine angemessene Bedenkzeit festzuschreiben.113 Ein weiterer Teil der Bundestagsabgeordneten sprach sich generell gegen die Einführung einer Bedenkfrist aus, da dadurch nur eine weitere Hürde in einer ohnehin schon bestehenden emotionalen Grenzsituation aufgerichtet würde. Dies könne zu einer Gefährdung der seelischen Gesundheit der Schwangeren führen.114 Es wurde bestritten, dass Schwangerschaftsabbrüche nach Pränataldiagnostik übereilt erfolgen und darauf hingewiesen, dass Panikabbrüche durch die unbefristet geltende medizinisch-soziale Indikation verhindert würden.115 Dass zumindest teilweise übereilte Entscheidungen getroffen werden, legt aber die Studie „Qualifikationssicherung im Rahmen genetischer Beratung und Diagnostik am Beispiel ausgesuchter Testverfahren – eine interdisziplinäre prospektive Untersuchung“ nahe. Hier wurde anhand von 214 Schwangerschaftsabbrüchen festgestellt, dass in der Praxis in 64,5 % der Fälle die Schwangerschaft nach mehr
108 109 110 111 112 113 114 115
S. 16; bereits in DÄBl. 1998, A-3016 forderte die BÄK eine angemessene Bedenkzeit zwischen Beratung und Schwangerschaftsabbruch; Nippert, Ausschuss-Drs. 16(13)439k, S. 4; Woopen, Ausschuss-Drs. 16(13)439c, S. 8 f. Unterstützung fand diese Forderung auch von Seiten der Kirchen: Reimers (EKD), Stellungnahme 2005, S. 2. Kentenich, Protokoll 16/81, 2009, S. 12. Frommel, Protokoll 16/81, 2009, S. 3; BT-Drs. 16/11342, S. 3. Nippert, Protokoll 16/81, 2009, S. 24. Schulz, Ausschuss-Drs. 16(13)439i, S. 6. pro familia, Ausschuss-Drs. 16(13)439e, S. 3. BT-Drs. 16/11342, S. 3. BT-Drs. 16/11377, S. 2. Frommel, Ausschuss-Drs. 16(13)439a, S. 9 f.
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als drei Tagen nach Befundmitteilung abgebrochen wurde. Mehr als ein Viertel aller Schwangerschaftsabbrüche wurden zwischen null und zwei bis drei Tagen durchgeführt. Dabei handelte es sich vor allem um Schwangerschaftsabbrüche, die durch autosomal-numerische Chromosomenstörungen ausgelöst wurden, wie die Trisomie 21, 18, 13. Teilweise wurde ein Schwangerschaftsabbruch aber auch am gleichen Tag der Befundmitteilung vorgenommen, teilweise erst nach 43 Tagen nach Befundmitteilung.116 Eine schnelle Entscheidung ist in der konkreten Situation auch verständlich. Muss den Eltern mitgeteilt werden, dass ihr Kind schwer krank oder behindert ist, so empfinden die Eltern ein „Schockerlebnis“, eine „Ausnahmesituation“ oder eine „traumatische Erfahrung“ verbunden mit dem Gefühl von Hilflosigkeit.117 Die Frauen sind in diesem Moment mehr von Emotionen und intrapsychisch ablaufenden Mechanismen gesteuert als von ihrem Willen.118 Denk-, Wahrnehmungs- und Empfindungsfähigkeit sind beeinträchtigt. In dieser Situation soll nun von den Betroffenen eine Entscheidung getroffen werden.119 Ein Abtreibungsautomatismus liegt nahe. Die Gefahr eines Abbruchsautomatismus verschärft sich in der Spätphase dadurch, dass der Zeitpunkt der extrauterinen Lebensfähigkeit naht. Die Frau empfindet einen Druck zur schnellen Durchführung eines Schwangerschaftsabbruchs. Schon nach Überschreiten der 12 Wochen Frist des § 218a Abs. 1 StGB entsteht die Gefahr übereilter Entscheidungen. Die Situation muss daher entschleunigt werden, damit nicht spontane Impulse die Handlung bestimmen oder eine traumatische Entwicklung nach einem Stress- oder Schockzustand ihren Lauf nimmt, sondern andere Entscheidungswege überdacht und Informationen auch durch die Inanspruchnahme psychosozialer Beratung gesammelt werden können. Dadurch kann eine gefestigte Überzeugung entstehen und einem bewussten oder unbewussten Automatismus entgegengewirkt werden.120 In der Regel besteht ein hoher Bedarf an Orientierungshilfen und ein hohes Informationsbedürfnis, so dass eine Mindestbedenkzeit von drei Tagen die Paare dabei unterstützt, eine tragfähige Entscheidung zu treffen.121 Eine dreitägige Bedenkzeit ist folglich sinnvoll für die seelische Verarbeitung der werdenden Eltern.122 116
117
118 119 120
121 122
Vgl. dazu Nippert, Ausschuss-Drs. 16(13)439k, S. 4. In einer europäischen Studie über Spätschwangerschaftsabbrüche, die auf einer fetalen Erkrankung basieren, wurde allerdings festgestellt, dass in den 12 untersuchten europäischen Ländern zwischen Diagnose und Abbruch durchschnittlich zwei Wochen liegen. Vgl. Garne/Khoshnood/Loane/ Boyd/Dolk, BJOG 2010, S. 665. BZgA, IQZ in der PND, S. 15; Fahr/Link/Schild, in: Wewetzer/Wernstedt, Spätabbruch der Schwangerschaft, S. 193; Nicklas-Faust, Protokoll 16/81, 2009, S. 10, 24; BÄK/ DGGG 2006, S. 124 f.; Woopen, Ausschuss-Drs. 16(13)439c, S. 8. Nicklas-Faust, Protokoll 16/81, 2009, S. 24. BZgA, IQZ in der PND, S. 15. Duttge, Ausschuss-Drs. 16(13)439j, S. 14 f.; Charbonnier, in: Wewetzer/Wernstedt, Spätabbruch der Schwangerschaft, S. 77; donum vitae, Ausschuss-Drs. 16(13)439h, S. 8; Lebenshilfe, Ausschuss-Drs. 16(13)439g, S. 12, 13. Nippert, Ausschuss-Drs. 16(13)439k, S. 4. DGGG, Positionspapier 2003, S. 19; BÄK/DGGG 2006, S. 124 ff.
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Die Notwendigkeit einer Bedenkzeit zeigt sich auch im Hinblick auf die Notlagenregelung des § 218a Abs. 1 StGB, in der eine Bedenkzeit von mindestens drei Tagen geregelt ist. Schon bisher wurde eine dreitägige Bedenkzeit in § 218 b Abs. 1 Nr. 1 a.F. für angemessen gehalten, so dass hier eine gesetzgeberische Wertentscheidung vorliegt.123 Hinsichtlich der Regelung des § 218a Abs. 1 StGB konnte man feststellen, dass sich eine Zeit des Überdenkens positiv auswirkt. Nach ärztlicher Erfahrung werden diese drei Tage in der Tat genutzt, um die Gründe für und gegen einen Schwangerschaftsabbruch nochmals zu reflektieren und die Entscheidung breiter zu fundieren. Hierin liegt eine positive Chance im Hinblick auf die Entscheidungssicherheit.124 Widersprüchlich ist es, dass bei einem medizinisch indizierten Abbruch eine solche Bedenkzeit nicht vorgesehen ist, obwohl in diesen Fällen ein Bedenken der Situation viel dringender erforderlich ist.125 Im Gegensatz zu § 218a Abs. 1 StGB stellt man sich nicht nur die Frage, „Bin ich in der Lage das Kind auszutragen oder nicht?“, sondern es sind zudem medizinische Fragen und deren Auswirkung auf die Lebenssituation zu bedenken, wie beispielsweise: Was bedeutet ein behindertes Kind für die Familie? Will man diese Fragen klären, ist es häufig erforderlich, Ärzte anderer Fachrichtungen und psychosoziale Beratung in Anspruch zu nehmen, was Zeit kostet. Darüber hinaus benötigt auch der Arzt Zeit, um den anfänglichen Schockzustand der Frau nicht vorschnell als Grundlage für die Beurteilung des seelischen Zustandes der Frau und die daran anknüpfende Indikationsstellung zu verwenden.126 Der Behauptung, die Einführung einer Bedenkzeit würde einen unverhältnismäßigen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren darstellen, ist entschieden zu widersprechen. Die Bedenkzeit dient dem gleichen Zweck wie die Beratungspflicht des Arztes, nämlich die Schwangere zu einer selbstbestimmten Entscheidung zu befähigen. Die betroffenen Frauen berichten selbst, dass diese Bedenkzeit angesichts der emotionalen Ausnahmesituation unerlässlich ist und halten selbst meistens eine Zeit von 1 bis 1, 5 Wochen für angemessen.127 Die Fälle der Schwangerschaft auf Probe sind bei weitem nicht der Normalfall. Meistens werden die Frauen von einer Diagnose überrascht, von der sie nicht wissen, was sie bedeutet. Der Behauptung, Frauen würden vorab entscheiden, was sie im Falle einer Behinderung des Kindes tun würden, wird mit dem Verweis auf Studien widersprochen, die zeigen, dass eine solche Antizipation gerade nicht stattfindet.128 Selbst wenn man der Auffassung ist, dass das Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren durch die Einführung einer dreitägigen Bedenkzeit betroffen ist, ist 123 124 125 126 127 128
Duttge, Ausschuss-Drs. 16(13)439j, S. 15. BÄK/DGGG 2006, S.125; so auch BT-Drs. 16/11330, S. 5. Kentenich, Protokoll 16/81, 2009, S. 7. BT-Drs. 16/11106, S. 9 f.; Woopen/Rummer, MedR 2009, S. 135. Woopen, Ausschuss-Drs. 16(13)439c, S. 8. Loewenich, Protokoll 16/81, 2009, S. 10 f.
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zu bedenken, dass es dadurch lediglich zu einer kleinen Verlängerung der ohnehin bestehenden Bedenkzeit käme, die daraus resultiert, dass grundsätzlich ein Zweitgutachten erstellt wird. Auch die Suche nach Informationen durch ärztliche oder psychosoziale Beratung führt dazu, dass automatisch eine Bedenkzeit entsteht.129 Die Einführung der Bedenkzeit dient letztlich der Erfüllung der Schutzpflicht des Staates gegenüber dem nasciturus aus Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 2 S. 1, 3 Abs. 3 S. 2 GG und ist damit zu begrüßen. Das Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren, sofern man es als betroffen ansieht, muss hinter diesen Rechtsgütern zurücktreten. e) Regelungsort Die Konfliktlage zwischen Interessen der Mutter und dem Leben des Kindes ist in den hier vorliegenden Konstellationen so stark, dass die grundlegenden Pflichten, wie Beratungs-, Hinweis- und Vermittlungspflichten des Arztes und die Einhaltung einer Bedenkzeit, gesetzlich geregelt werden mussten. Untergesetzliche Regelungen reichten zur Regelung dieser Konfliktlage aufgrund der fehlenden Verbindlichkeit und Sanktionslosigkeit nicht aus.130 Zur Unterstützung der gesetzlichen Regelungen sind Änderungen des Standesrechts allerdings zu begrüßen. Die Ausgestaltung der Beratung in Form von Richtlinien, Leitlinien und Zertifizierungsvoraussetzungen kann darin festgelegt werden.131 Nachdem die Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung geklärt ist, stellt sich die Frage, ob das Schwangerschaftskonfliktgesetz der richtige Regelungsort ist, oder ob nicht eine Änderung des Strafgesetzbuchs hätte erfolgen müssen. Der von der Bundesärztekammer und der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe unterbreitete Vorschlag zur Ergänzung des Schwangerschaftsabbruchsrechts aus medizinischer Indikation sah eine Änderung der §§ 218a ff. StGB vor. § 218a StGB sollte danach durch einen neuen Absatz 2b ergänzt werden, der eine ärztliche Beratungspflicht der Schwangeren vorsah. Die Ausgestaltung der Beratung sollte in einem neuen § 219a StGB geregelt werden. Der beratende Arzt wurde dadurch unter anderem verpflichtet, auf § 2 SchKG hinzuweisen. § 219a Abs. 1 S. 4 StGB des Vorschlags enthielt außerdem einen Verweis auf das Schwangerschaftskonfliktgesetz, das die Beratung detailliert regeln sollte. Begründet wurde der Regelungsort des StGB damit, dass durch die Änderung des StGB die Beratungspflicht entfallen sei, das Defizit folglich durch eine Neuregelung im StGB verursacht worden sei. Durch eine erneute Änderung des StGB könne dieses Defizit dort wieder behoben werden, wo es entstanden sei.132 Die im Bundestag behandelten Gesetzesentwürfe beschränkten sich allerdings auf eine Änderung des Schwangerschaftskonfliktgesetzes. Begründet wurde die Wahl dieses Regelungsortes damit, dass das Schwangerschaftskonfliktgesetz die Rechtsgrundlage für das Beratungsangebot darstelle, das jeder Frau und jedem
129 130 131 132
pro familia, Ausschuss-Drs. 16(13)439e, S. 3. Kentenich, Protokoll 16/81, 2009, S. 7. Woopen, Protokoll 16/81, 2009, S. 15. BÄK/DGGG, Ausschuss-Drs. 16(13)439f, S. 25.
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Mann bei Fragen bezüglich der Schwangerschaft oder eines Schwangerschaftskonfliktes zur Verfügung stehe.133 Anhaltspunkte dafür, in welchem Gesetz die Verbesserung der Beratungssituation vorgenommen werden sollte, lassen sich möglicherweise aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gewinnen. Nach den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts dient das Strafrecht dazu, Rechtsgüter von besonderem Rang und in einer besonderen Gefährdungslage zu schützen. Es prägt am deutlichsten das allgemeine Bewusstsein von Recht und Unrecht.134 Dem Staat obliegt als elementare Aufgabe der Schutz menschlichen Lebens, so dass das Strafrecht im Rahmen der Verhältnismäßigkeit eingesetzt werden muss. Das Strafrecht ist daher regelmäßig der Ort, das grundsätzliche Verbot des Schwangerschaftsabbruchs und die darin enthaltene grundsätzliche Rechtspflicht der Frau zum Austragen des Kindes gesetzlich zu verankern.135 Dementsprechend finden sich außerhalb der Vorschriften zum Schwangerschaftsabbruch ausschließlich strafbewehrte Sanktionsnormen. Zu § 218c StGB, der die Beratungspflicht des abbrechenden Arztes regelt, führte das Bundesverfassungsgericht aus, dass eine Verortung der Beratungspflicht in berufsrechtlichen Regelungen der Schutzpflicht des Staates gegenüber dem nasciturus nicht genüge, sondern eine Regelung im StGB erforderlich sei. Verwiesen wird zudem auf die bisher defizitäre Beratungspraxis. Hinsichtlich der Beratung in den Fällen, in denen ein Indikationstatbestandgegeben ist, führte das Bundesverfassungsgericht aus, dass der Staat der Frau durch Rat und Hilfe beistehen solle.136 Ein Teil der bisher bekannten Beratungsvorschriften ist nun im StGB geregelt, wie beispielsweise § 219 StGB, der die Schwangerschaftskonfliktberatung in den Fällen des § 218a Abs. 1 StGB betrifft. Da der Kern der Pflichtberatung im StGB niedergelegt ist, könnte man die Regelung der Beratung hinsichtlich § 218a Abs. 2 StGB ebenfalls im StGB ansiedeln. Verfassungsrechtlich erforderlich ist eine solche Regelung aber nicht, da das Bundesverfassungsgericht strikt zwischen Beratungs- und Indikationsmodell unterscheidet.137 Darüber hinaus ist auch aus Gründen der Zweckmäßigkeit eine Regelung im Schwangerschaftskonfliktgesetz besser. Die Beratung bezüglich § 218a Abs. 1 StGB konnte nicht umfassend im StGB geregelt werden, vielmehr blieb die Regelung dort unvollständig und musste auf ergänzende Regelungen im SchKG verweisen. Wesentlich übersichtlicher ist es, die gesamte Beratung in einem Gesetz zu regeln.138 Dadurch wird die Einheitlichkeit des Regelungszusammenhangs gewahrt.139 Darüber hinaus finden sich im StGB ansonsten keine verwaltungsähnlichen Regelungen über Beratungsverfahren 133 134 135 136 137 138 139
BT-Drs. 16/11106, S. 2. BVerfGE, NJW 1993, S. 1758. BVerfGE 88, 203 (258). BVerfGE 88, 203 (257). BVerfGE 88, 203 (264). Duttge, Stellungnahme zu BT-Drs. 16/11106, S. 14. Duttge, Stellungnahme zu BT-Drs. 16/11106, S. 14.
B. Verfassungsmäßigkeit des § 218a Abs. 2 StGB auf den zweiten Blick
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und Zuständigkeiten.140 Das Schwangerschaftskonfliktgesetz ist daher der geeignete Regelungsort. f) Ergebnis Die Änderungen des Schwangerschaftskonfliktgesetzes sind geeignet, einem Abbruchsautomatismus entgegenzuwirken und verbessern den Würde-, Lebens- und Gleichheitsschutz des behinderten nasciturus. Alle geltend gemachten Regelungsmängel wurden durch die vom Bundestag beschlossenen Schutzmaßnahmen jedoch bei weitem nicht ausgeräumt. Ob ein hinlänglicher Schutz des nasciturus im Sinne des Untermaßverbots erreicht wurde, kann aber, wie bereits gesagt, erst entschieden werden, nachdem alle möglichen Regelungsmängel des § 218a Abs. 2 StGB in den Blick genommen und alle Regelungsalternativen umfassend betrachtet wurden. 5. Weitere Regelungsmängel Im Folgenden soll untersucht werden, welche weiteren Regelungsmängel bestehen und wie diesen gegebenenfalls abgeholfen werden kann. a) Bestimmtheit, Kompetenz und Kontrollierbarkeit Die medizinisch-soziale Indikation wird vielfach wegen ihrer Unbestimmtheit und mangelnden Kontrollierbarkeit kritisiert. Grundsätzlich gilt, dass alle für den Staat und seine Bevölkerung wesentlichen Probleme parlamentsgesetzlich geregelt werden müssen. In einem Schwangerschaftskonflikt sind sowohl Grundrechte des nasciturus als auch Grundrechte der Schwangeren betroffen. Aus diesem Grundrechtsbezug ergibt sich die gesetzliche Regelungsbedürftigkeit. Durch die Regelung des § 218a Abs. 2 StGB hat der Gesetzgeber die Rechtspositionen der Schwangeren und des ungeborenen Kindes einander zugeordnet. Der Gesetzgeber erfüllt seine Pflicht aber nicht schon durch den Erlass irgendeines Gesetzes. Das Gesetz muss vielmehr hinreichend bestimmt sein. Bloße generalklauselartige Formulierungen, die die sachliche Entscheidung dem Gesetzesanwender überlassen - mit anderen Worten eine vollständige Entscheidungsdelegation darstellen - genügen der Wesentlichkeitslehre nicht.141 Die Regelung des § 218a Abs. 2 StGB stellt auf den unbestimmten Rechtsbegriff der „Unzumutbarkeit“ ab. Wann die Austragung der Schwangerschaft mangels anderer Alternativen „unzumutbar“ ist, hängt entscheidend von subjektiven Erwägungen der Schwangeren ab. Die Berücksichtigung „gegenwärtiger und zukünftiger Lebensverhältnisse“ in der ärztlichen Prognose wird darüber hinaus für äußerst problematisch gehalten, da sie den Kreis denkbarer, die Unzumutbarkeit begründender Anknüpfungspunkte nahezu bis zur Grenzenlosigkeit erweitere und das ungeborene Leben daher schutzlos preisgebe.142 Beide Aspekte führen dazu, dass das Vorliegen der Voraussetzungen des § 218a Abs. 2 StGB nur äußerst schwer von einer externen Stelle kontrolliert wer140 141 142
Duttge, Stellungnahme zu BT-Drs. 16/11106, S. 14. Huster/Rux, in: Epping/Hillgruber, GG Kommentar, Art. 20 Rn. 163 ff., 167. Duttge, in: Schumann, Verantwortungsbewusste Konfliktlösungen, S. 99.
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4. Kapitel: Verfassungsmäßigkeit der Rechtslage zum Spätabbruch
den kann. Duttge charakterisiert § 218a Abs. 2 StGB daher als „die Übertragung einer Tötungsermächtigung an die Schwangere ohne effektive externe Kontrolle“ und sieht darin einen Verstoß gegen die Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 i.V.m. Art. 1 Abs.1 GG.143 Sind nun aber die Anforderungen an das Bestimmtheitsgebot und die grundrechtliche Schutzpflicht tatsächlich nicht erfüllt? § 218a Abs. 2 StGB erfordert für das Vorliegen einer medizinisch-sozialen Indikation zusätzlich eine schwerwiegende Gesundheits- oder Lebensgefahr. Ob eine schwerwiegende Gesundheits- oder Lebensgefahr vorliegt, kann von einer externen Person, nämlich dem Arzt, grundsätzlich festgestellt werden.144 Die Schwierigkeiten der Unbestimmtheit werden durch diese Anforderungen relativiert. Um beurteilen zu können, ob die Regelungen nun ausreichend bestimmt und objektiv sind und der Gesetzgeber seine Schutzpflicht gegenüber dem nasciturus erfüllt, muss der hier in Frage stehende Regelungsbereich in den Blick genommen werden. Zu fragen ist, wie detailliert der Gesetzgeber die verschiedenen Belastungssituationen bei einer Schwangerschaft überhaupt erfassen kann. Schwangerschaftskonflikte stellen in jedem Fall Extremsituationen dar, die sich einer verallgemeinernden Schematisierung entziehen. Nicht nur physische Konflikte sondern auch psychische Ausnahmesituationen, die sich auch im Hinblick auf zukünftige Lebensperspektiven ergeben und schwer nachprüfbar sind, können hier vorliegen. Eine präzisere Vertextung hätte zwar den Vorteil, die einzelnen Fälle genauer zu erfassen. Zugleich müsste sie dafür aber den Preis zahlen, andere Konfliktsituationen, die sich bei einer wertenden Betrachtung kaum von den ausdrücklich erwähnten Fällen unterscheiden, nicht zu erfassen. Will der Gesetzgeber alle vergleichbaren Konfliktfälle erfassen, so hat er nur die Möglichkeit, mit unbestimmten Rechtsbegriffen wie der Unzumutbarkeit zu arbeiten, die von subjektiven Wertungen der Schwangeren abhängen.145 Eine ausreichende Verobjektivierung stellt es dar, wenn der Gesetzgeber das (künftige) Vorliegen schwerwiegender Gesundheits- oder Lebensgefahren fordert, die vom Arzt festgestellt werden können. Lässt der Gesetzgeber aber in diesen Ausnahmefällen richtigerweise Schwangerschaftsabbrüche zu, so ist es im Rahmen eines solchen Schutzkonzepts erforderlich, dass eine verlässliche Diagnose solcher psychischer Gesundheitsgefahren gestellt werden kann und die Lebensumstände der Schwangeren zuverlässig ermittelt werden können. Der Gynäkologe oder Humangenetiker, der die Indikation stellt, ist für die Feststellung psychischer Gesundheitsgefahren und zu einer umfassenden Würdigung der Lebensumstände zweifelsohne nicht hinreichend qualifiziert. Schon 1998 hielt die Bundesärztekammer eine interdisziplinäre Begutach143 144
145
Duttge, in: Schumann, Verantwortungsbewusste Konfliktlösungen, S. 99; so auch: v. Dewitz, ZfL 2009, S. 84. Durch das Abstellen auf die „ärztliche Erkenntnis“ stellt der Gesetzgeber die Entscheidung über Leben und Tod nicht vollständig zur Disposition des Arztes. Die ärztliche Diagnose stellt richtig verstanden nur das Material zur Konkretisierung der normativen Begrifflichkeit zur Verfügung. Wann eine Gesundheitsgefahr letztlich unzumutbar ist, ist normativ zu beantworten. Vgl. Augsberg, in: Weilert, Spätabbruch, S. 275. Augsberg, in: Weilert, Spätabbruch, S. 273.
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tung der Situation für sinnvoll und schlug vor, bei Bedarf Ärzte oder Berater spezieller Fachgebiete hinzuzuziehen und die Indikation durch mindestens zwei der beratenden Ärzte zu bescheinigen.146 Am Universitätsklinikum Erlangen wurde zu Beginn des Jahres 2002 ein Klinisches Ethikkomitee gegründet. Eine Arbeitsgruppe dieses Komitees beschäftigt sich mit Ethikberatung in der Klinik und unterstützt die Pränatalmediziner bei der Entscheidungsfindung, ob eine medizinisch-soziale Indikation besteht. Der Pränatalmediziner informierte ab Frühjahr 2003 bei einer Anfrage nach einem späten Schwangerschaftsabbruch die Ethikberatung und beriet zusammen mit der Ethikberatung über weitere notwendige Fachkonsile, so dass häufig Mitglieder der Abteilungen für Psychosomatik, Humangenetik, Pädiatrie, Neurochirurgie, Kinderchirurgie, Kinderintensivmedizin, des sozialpädiatrischen Zentrums sowie Hebammen, Gynäkologen und Klinikseelsorger hinzugezogen wurden.147 Durch persönlichen Kontakt zu dem betroffenen Paar, durch Einzelgespräche oder Teilnahme des Paars an einer großen Beratungsrunde konnten alle hinzugezogenen Vertreter der unterschiedlichen Fachrichtungen ihren Eindruck der Situation schildern. Fachinformationen über das Fehlbildungssyndrom, die Situation des Paares und mögliche zukünftige Szenarien konnten besprochen werden. Der Pränatalmediziner bekam auf diese Weise eine Entscheidungshilfe für das Stellen einer medizinisch-sozialen Indikation.148 Zugleich konnten auch die betroffenen Frauen und ihre Partner diesen Prozess nutzen, um ihre Entscheidung zu überdenken, Alternativen in Betracht zu ziehen und Informationen zu prüfen.149 Im Unterschied zur Schwangerschaftskonfliktberatung, die eine Entscheidungshilfe für die Schwangere geben soll, ist vorrangiges Ziel dieser Ethikberatung, Informationen zu gewinnen, die für die Beratung der beteiligten Ärzte bedeutend sein können.150 In den Jahren 2005 und 2006 wurde dieses Beratungsmodell weiterentwickelt. Der Beratungsablauf stellte sich ab diesem Zeitpunkt folgendermaßen dar: Der Schwangeren wurde zunächst dringend eine Schwangerschaftskonfliktberatung empfohlen. Danach wurde ein Gespräch mit einer Fachärztin für Psychosomatik geführt, um die psychische Situation des Paares herausarbeiten zu können. Anschließend fand ein Gespräch mit der Ethikberatung statt, das einen strukturierten Eindruck von der Schwangeren oder dem Paar vermitteln sollte. Inhaltlich ging es dabei um die Ermittlung der Motive des Abbruchwunsches, der Informiertheit und der religiösen und ethischen Überzeugung der Schwangeren.151 Die mit der Schwangeren oder dem Paar befassten Ärzte und Ethikberater kamen anschließend zusammen, reflektierten die Erfahrungen mit der Schwangeren und dem Paar und entwickelten so ein umfassendes Bild von deren Person sowie deren Lebens146 147 148 149 150 151
BÄK, DÄBl. 1998, S. A-3015. Wernstedt, in: Wewetzer/Wernstedt, Spätabbruch der Schwangerschaft, S. 174 f. Wernstedt, in: Wewetzer/Wernstedt, Spätabbruch der Schwangerschaft, S. 175 f.; Fahr/Link/Schild, in: Wewetzer/Wernstedt, Spätabbruch der Schwangerschaft, S. 192. Fahr/Link/Schild, in: Wewetzer/Wernstedt, Spätabbruch der Schwangerschaft, S. 191. Fahr/Link/Schild, in: Wewetzer/Wernstedt, Spätabbruch der Schwangerschaft, S. 191. Fahr/Link/Schild, in: Wewetzer/Wernstedt, Spätabbruch der Schwangerschaft, S. 193 ff.
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4. Kapitel: Verfassungsmäßigkeit der Rechtslage zum Spätabbruch
umständen.152 Die Entscheidung verblieb aber letztlich allein beim behandelnden Gynäkologen. Es wird deutlich, dass die Lebensumstände und das Vorliegen psychischer Gesundheitsgefahren der Schwangeren auf diese Weise zuverlässig ermittelt und die Voraussetzungen des § 218a Abs. 2 StGB damit angemessen beurteilt werden können. Einem leichtfertigen Umgang mit der medizinisch-sozialen Indikation wird durch eine interdisziplinäre Begutachtung entgegengewirkt. Der Lebensschutz des ungeborenen Kindes wird verbessert. Auch einem Abtreibungsautomatismus und damit einem Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG kann auf diese Weise entgegengewirkt werden, da die Gesundheit und Lebenssituation der Schwangeren in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt und nicht die Behinderung zum Anknüpfungspunkt der Indikationsstellung wird. Als negativer Aspekt des Erlanger Beratungsmodells ist zu erwähnen, dass die Teilnahme an den Beratungsrunden äußerst belastend für die werdenden Eltern war, da sich der Eindruck nicht vermeiden ließ, sich vor einem „Krankenhaustribunal“ rechtfertigen zu müssen. Durch ein weiteres Ethikgespräch wurde den Betroffenen schließlich § 218a Abs. 2 StGB erläutert, um Verständnis dafür zu wecken, warum die Fachkonsile für notwendig erachtet wurden.153 Ein Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht erscheint hier anders als bei einer psychosozialen Beratung möglich, da die Beratung in erster Linie dem Informationsgewinn zur Stellung der Indikation dient. Dennoch muss das Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren oder des Paares gegenüber den in Frage stehenden hochrangigen Rechtsgütern des nasciturus zurücktreten. Im Ergebnis ist es daher erforderlich, dass der Gesetzgeber auf eine interdisziplinäre Begutachtung hinwirkt. § 2a Abs. 1 SchKG, der bei der ärztlichen Beratung die Hinzuziehung von Ärzten vorsieht, die mit der Gesundheitsschädigung bei geborenen Kindern Erfahrung haben, stellt bereits einen ersten Schritt in Richtung interdisziplinäre Zusammenarbeit zumindest im Rahmen der Beratung der Schwangeren dar. Bei Indikationsstellung ist eine interdisziplinäre Begutachtung bislang aber nicht vorgeschrieben. Die Etablierung von Beratungsmodellen wie in Erlangen ist wünschenswert,154 wird sich mangels personeller und auch zeitlicher Ressourcen aber nicht überall verwirklichen lassen.155 Zur Feststellung des seelischen Gesundheitszustands und der persönlichen Lebensumstände müsste aber zumindest ein Psychiater, Psychologe oder ein Facharzt für Psychosomatik hinzugezogen werden.156 152 153 154 155
156
Fahr/Link/Schild, in: Wewetzer/Wernstedt, Spätabbruch der Schwangerschaft, S. 196 f. Wernstedt, in: Wewetzer/Wernstedt, Spätabbruch der Schwangerschaft, S. 175, 181. Für die Möglichkeit des Arztes, eine Ethikberatung in Anspruch zu nehmen, plädiert auch Simon, in: Wewetzer/Wernstedt, Spätabbruch der Schwangerschaft, S. 65. Die Beratungsrunden erforderten einen hohen Zeitaufwand. Insgesamt ist für die Paare mit einem Zeitaufwand von drei Stunden zu rechnen. Die einzelnen Gespräche dauerten etwa eine ¾ Stunde. Vgl. Wernstedt, in: Wewetzer/Wernstedt, Spätabbruch der Schwangerschaft, S. 181 f., 199. Gefordert wird dies auch von: v. Dewitz, ZfL 2009, S. 84; Fahr/Link/Schild, in: Wewetzer/Wernstedt, Spätabbruch der Schwangerschaft, S. 194. Die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe forderte 2003 die Wiedereinführung der embryopa-
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Nur durch eine gemeinsame Begutachtung der Schwangeren bekommt der indikationsstellende Arzt einen fundierten Einblick in die psychische Situation der Schwangeren und in ihre Lebensverhältnisse und wird in die Lage versetzt, die Indikation zu stellen.157 Es bietet sich an, nach § 2a Abs. 2 S. 1 SchKG folgenden zweiten Satz einzufügen: Vor Indikationsstellung ist ein Facharzt für Psychiatrie oder Psychosomatik oder ein Psychologe hinzuzuziehen.
b) Kind-als-Schaden-Rechtsprechung Vielfach wird geltend gemacht, dass die so genannte „Kind-als-Schaden-Rechtsprechung“ einen Automatismus zwischen der Erhebung pränataldiagnostischer Befunde und nachfolgendem Schwangerschaftsabbruch fördere und den Selektionsdruck auf das ungeborene Kind erhöhe, da dem behandelnden Arzt bei Fehlbildung des Kindes eine Haftung für den Unterhalt drohe.158 Vermutet wird eine Defensivmedizin, die die seelischen Gesundheitsgefahren der Schwangeren aufgrund der diagnostizierten Fehlbildung hoch einschätzt159 und auch schon bei geringen Zweifeln an der Gesundheit des Kindes zu einem Schwangerschaftsabbruch rät.160 Anstelle dieser Rechtsprechung wird vorgeschlagen, einen Familienlastenausgleich durch die Einführung eines „Pränatalen Hilfefonds“ für Eltern mit schwerstbehinderten Kindern einzuführen, der auch den Eltern zugute kommen würde, die eine Abtreibung aus Gewissensgründen abgelehnt hatten.161 Ob ein solcher Selektionsdruck, der dem Schutz der Menschenwürde, dem Lebensrecht und dem Gleichheitsgebot aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG entgegenlaufen würde, tatsächlich besteht, soll im Folgenden durch eine nähere Begutachtung dieser Rechtsprechung überprüft werden. aa) Voraussetzungen für eine Ersatzpflicht des Arztes Die Kind-als-Schaden-Rechtsprechung betrifft ganz grundsätzlich die Haftung des Arztes, wenn aufgrund eines ärztlichen Fehlverhaltens ein Kind zur Welt kommt, das ohne diesen Fehler nicht geboren worden wäre.
157
158 159 160
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thischen Indikation und befürwortete diesbezüglich ebensfalls eine Indikationsstellung von einer fallbezogenen interdisziplinären Kommission von Mitgliedern aus den Fachbereichen Frauenheilkunde, Kinderheilkunde, Humangenetik sowie Psychatrie oder Psychotherapie. Vgl. DGGG, Positionspapier 2003, S. 40. Eine gemeinsame Indikationsstellung wie sie in der Erklärung der Bundesärztekammer zum Schwangerschaftsabbruch nach Pränataldiagnostik vorgeschlagen wird, ist nicht erforderlich, käme aber alternativ in Betracht. Strafrechtliche Risiken für den Arzt könnten durch eine gemeinsame Indikationsstellung zudem vermindert werden. v. Dewitz, ZfL 2009, S. 87; Duttge/Bernau, ZfL 2009, S. 43; Büchner, ZfL 2009, S. 42; Schmidt-Recla, in: Schumann, Verantwortungsbewusste Konfliktlösungen, S. 87. v. Dewitz, ZfL 2009, S. 87. Duttge/Bernau, ZfL 2009, S. 43; DGGG, Positionspapier 2003, S. 35; Hepp, in: Rager, Beginn, Personalität und Würde des Menschen, S. 164 f.; Riha, in: Schumann, Verantwortungsbewusste Konfliktlösungen, S. 62 f. Schimmelpfeng-Schütte, MedR 2003, S. 403.
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Voraussetzung für diese vertragliche Haftung ist zunächst, dass der Arzt bei seiner Behandlung den Qualitätsstandard unterschreitet.162 Zweitens muss das ärztliche Handeln rechtmäßig sein.163 Eine Haftung für unterbliebene Schwangerschaftsabbrüche kommt daher nur dann in Betracht, wenn eine den strafrechtlichen Vorschriften entsprechende Indikation gegeben ist. Nach aktueller Rechtslage ist das Vorliegen einer medizinisch-sozialen oder kriminologischen Indikation erforderlich.164 Ein Schwangerschaftsabbruch gemäß § 218a Abs. 1 StGB ist lediglich straflos, aber dennoch rechtswidrig, so dass ein Unterbleiben dieses Abbruchs keine Schadensersatzpflichten auslösen kann.165 Dritte Voraussetzung ist, dass der Schutz vor Belastungen mit Unterhalt Zweck des Behandlungs- oder Beratungsvertrags war.166 Eine solche am Vertragszweck ausgerichtete Haftung hat der BGH zunächst in dem Fall einer fehlgeschlagenen Sterilisation aus Gründen der Familienplanung angenommen.167 Darüber hinaus bejahte er eine solche Haftung auch in Fällen einer fehlerhaften Beratung über die Sicherheit der empfängnisverhütenden Wirkung eines vom Arzt verordneten Hormonpräparates,168 bei fehlerhafter genetischer Beratung vor Zeugung des Kindes,169 bei fehlgeschlagenen170 oder unterbliebenen Schwangerschaftsabbrüchen wegen einer Verletzung der Vertragspflichten im Schwangerschaftsbetreuungsvertrag.171 bb) Einwände des Bundesverfassungsgerichts Der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts hatte im zweiten Urteil zum Schwangerschaftsabbruch Einwände dagegen erhoben, das Dasein eines Kindes rechtlich als Schadensquelle zu qualifizieren und die Unterhaltspflicht für ein Kind als Schaden zu begreifen. Beides sei mit Art. 1 Abs. 1 GG nicht vereinbar.172 Diese Aussage bezog das Gericht ausdrücklich auf fehlgeschlagene Schwangerschafts162 163 164 165
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168 169 170 171 172
Müller, NJW 2003, S. 698. St. Rspr. vgl. nur BGHZ 89, 95 (107); BGHZ 129, 178 (185); BGH, NJW 2002, 886; BGH, NJW 2002, 1489 (1490); BGH, MedR 2002, 640. Müller, NJW 2003, S. 700. Zu Recht wurde daher kürzlich vom OLG Nürnberg ein Schadensersatzanspruch in Höhe der Unterhaltskosten gegen den Arzt wegen eines allein auf § 218a Abs. 1 StGB gestützen, misslungenen Schwangerschaftsabbruchs abgelehnt. OLG Nürnberg, ZfL 2009, S. 57 ff. BGHZ 143, 389. In diesem Fall wurde ein Zusammenhang verneint. Bei einer orthopädischen Operation wurde eine Schwangerschaft übersehen. Hier bestand kein sachlicher Zusammenhang zwischen der Operation und der Geburt des Kindes. Eine Sterilisation dient aber der Verhinderung der Zeugung eines Kindes. Hier kann der Zusammenhang beispielsweise bejaht werden. BGHZ 76, 249. BGHZ 76, 249; Bestätigung dieser Rechtsprechung in folgenden Urteilen: BGHZ 76, 259; BGH, VersR 1980, 719; BGH, NJW 1981, 630; BGH, NJW 1981, 2002; BGH, NJW 1984, 2625; BGH, NJW 1992, 2961; BGH, NJW 1995, 2407. BGH, NJW 1998, 155. BGHZ 124, 135. BGHZ 129, 178 (185). BGHZ 86, 240; BGHZ 89, 95; BGH, MedR 2002, S. 640; BGH, NJW 2006, S. 1660. BVerfGE 88, 203 (295 f.).
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abbrüche und Sterilisationen sowie auf fehlerhafte genetische Beratungen. Pflichtverletzungen im Rahmen von Schwangerschaftsbetreuungsverträgen, die zu einem Unterbleiben des Schwangerschaftsabbruchs führen, wurden nicht ausdrücklich erwähnt. Da Schwangerschaftsbetreuungsverträge nach der Rechtsprechung des BGH aber in engen Bezug zu den Abbruchverträgen gesetzt werden, ist zu vermuten, dass der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts dieser Fallgruppe ebenfalls ablehnend gegenübersteht.173 Am 16. November 1993 bezog der BGH in einem Urteil über eine fehlerhafte genetische Beratung zu den Ausführungen des BVerfG Stellung.174 Den verfassungsrechtlichen Bedenken hielt er entgegen, dass zwischen der Existenz des Kindes und dem Wert seiner Person einerseits und den Unterhaltsbelastungen der Eltern andererseits unterschieden werden müsse.175 Die Begriffe Schaden und Schadensersatz seien unverzichtbare juristische Begriffe des Haftungsrechts und enthielten bei sachlicher und emotionsfreier Betrachtung kein Unwerturteil. Der Entscheidung des 1. Senats des BVerfG vom 12. November 1997 hielt die Rechtsprechung des BGH stand.176 Der erste Senat vertrat die Auffassung, dass in der Anerkennung der Unterhaltspflicht als Schaden keine Kommerzialisierung liege, die den Eigenwert des Kindes missachte.177 Die Anknüpfung eines Schadensersatzanspruchs an die Existenz eines Menschen bewirke nicht zugleich eine Herabwürdigung zum Objekt. Es gehe vielmehr um einen gerechten Lastenausgleich. Nicht die Existenz des Kindes sei der Schaden, sondern die damit verbundenen Unterhaltskosten.178 cc) Urteil des BGH vom 18. Juni 2002 Am 18. Juni 2002 hatte der BGH erstmals über die zivilrechtliche Haftung aufgrund eines Schwangerschaftsbetreuungsvertrags nach dem SFHÄndG von 1995 zu entscheiden.179 Im zugrunde liegenden Sachverhalt hatte der Beklagte trotz mehrerer Ultraschalluntersuchungen Fehlbildungen des Fötus nicht erkannt. Auf173
174 175 176
177 178 179
1. Senat des BVerfG, NJW 1998, S. 519, 522: „Soweit der Zweite Senat seine Aussage auch auf Fälle rechtmäßiger ärztlicher Tätigkeit ohne Bezug zu einem Schwangerschaftsabbruch erstreckt haben sollte, weicht die vorliegende Entscheidung davon ab.“ BGHZ 124, 128. BGHZ 124, 128, (140 f.). BVerfG, NJW 1998, S. 519-523, 521; der 2. Senat des BVerfG hatte bereits am 22.10.1997 in einem Beschluss ausgeführt, dass es sich hinsichtlich der Qualifikation der Unterhaltspflicht für ein Kind als Schaden um eine Rechtsauffassung handelt, die eine tragende Rechtsansicht ist. „Ob eine Rechtsauffassung tragend sei, müsse vom Plenum des Gerichts entschieden werden, wenn der früher entscheidende Senat ihr tragende Bedeutung zugesprochen hat.“ (BVerfGE, NJW 1998, S. 523, 524) Demgegenüber qualifizierten der 1. Senat des BVerfG und das juristische Schrifttum im Allgemeinen die Ausführungen des 2. Senats in der 2. Abtreibungsentscheidung als obiter dictum und damit als eine nicht tragende Bemerkung. Eine Vorlage an das Plenum erfolgte nicht. Vgl. die Ausführungen von Deutsch, NJW 1998, S. 510. BVerfG, NJW 1998, S. 521. 1. Senat des BVerfG, NJW 1998, S. 521; eine explizite Bezugnahme auf Pflichtverletzungen in Schwangerschaftsbetreuungsverträgen fand aber auch hier nicht statt. BGH, MedR 2002, S. 640-643.
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grund der schuldhaften Verletzung des ärztlichen Schwangerschaftsbetreuungsvertrags, der, wie der BGH ausführt, auch auf das Vermeiden von Gefahren durch das Haben des Kindes gerichtet sei, sprach er den Eltern, die ansonsten einen Schwangerschaftsabbruch auf der Grundlage von § 218a Abs. 2 StGB hätten durchführen lassen, einen Anspruch auf Ersatz des gesamten Kindesunterhalts und Schwangerschaftsgeld gegenüber der behandelnden Ärztin zu.180 dd) Erstattungsfähigkeit des Unterhalts Hinsichtlich der vormals geltenden embryopathischen Indikation hatte der BGH angenommen, dass die Unzumutbarkeit aus den Belastungen durch die Verantwortung für das behinderte Kind folgen könne und daher jede denkbare Belastung durch das Haben des Kindes ein Vermögensschaden sei.181 Bezüglich der medizinischen Indikation nach § 218a Abs. 2 StGB a.F. nahm der BGH demgegenüber lange Zeit an, dass sich der Schutzumfang im Allgemeinen nicht auf die Bewahrung vor Unterhaltsbelastungen erstrecke, da die Gefahr nicht im Haben des Kindes, sondern im Fortbestehen der Schwangerschaft liege. Da die geltende Rechtslage ebenfalls auf die Lebens- oder Gesundheitsgefahr der Mutter abstellt, wird teilweise vertreten, dass vom Schutzzweck des Vertrages nur die Belastungen der Schwangeren aufgrund ihrer eigenen Krankheit erfasst seien und daneben ein Ausgleich des immateriellen Schadens gemäß § 253 Abs. 2 BGB möglich, nicht aber die gesamte Unterhaltsverpflichtung erstattungsfähig sei.182 Diese Betrachtungsweise erscheint für die medizinisch-soziale Indikation aber zu eng. Wenn gegenwärtige und zukünftige Lebensverhältnisse die Grundlage für die Gesundheits- oder Lebensgefahr der Schwangeren und damit für die medizinisch-soziale Indikation bilden, so ist bei interessengerechter Auslegung der vertragliche Schutzzweck auch auf die Vermeidung dieser Gefahren gerichtet. Es ist daher nur folgerichtig, dass die aus der Vertragsverletzung resultierende Ersatzpflicht auch die Unterhaltsbelastung mit umfasst.183 Der Schadensersatzanspruch erstreckt sich auf die gesamte Unterhaltsbelastung und nicht nur auf den behinderungsbedingten Mehraufwand.184 ee) Erfolgsaussichten der Klagen - Rechtsprechungsübersicht Bei weitem nicht alle Klagen auf Unterhalt waren erfolgreich. Bereits in den Urteilen zur vormals geltenden Rechtslage zeigte sich eine Scheu der Zivilrichter, Unterhaltsansprüche zu bejahen.
180 181 182
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BGH, MedR 2002, S. 643. BGH, NJW 1984, S. 660; BGH, NJW 1987, S. 2923 f. Schmidt-Recla, in: Schumann, Verantwortungsbewusste Konfliktlösungen, S. 89, 91; OLG Koblenz, NJW-RR 2006, S. 967 (968); dieser Auffassung zuneigend auch: Mörsdorf-Schulte, NJW 2006, S. 3107. Müller, NJW 2003, S. 704; v. Dewitz, ZfL 2009, S. 87; BGH, MedR 2002, S. 640 (643); in diese Richtung auch schon zuvor: BGH, NJW 2002, 886 (887); BGH, NJW 2006, S. 1660 (1661); BGH, NJW 2002, 1489 (1491). Müller, NJW 2003, S. 705.
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Im Hinblick auf die Bedenken des Bundesverfassungsgerichts wurden beispielsweise 1995 strengste Maßstäbe an die damals noch geltende Notlagenindikation gestellt. Ein Überlastungssyndrom der Mutter wurde für nicht ausreichend befunden.185 Auch im Dezember 2001 lehnte der BGH einen Anspruch auf Unterhalt ab. Im März 1995 kamen eineiige Zwillinge zur Welt. Das eine Kind war gesund, wohingegen bei dem zweiten Kind das rechte Bein fehlte, das linke verkümmert und der rechte Arm steif war. Bei richtig durchgeführter Pränataldiagnostik wäre die Fehlbildung erkannt worden. Weder das Vorliegen der medizinischen Indikation noch das Vorliegen der embryopathischen Indikation wurde bejaht, da die zumutbare Opfergrenze der Schwangeren vor allem im Hinblick auf das zweite gesunde Kind nicht überschritten worden sei. Angstzustände und Beeinträchtigungen ihrer Leistungsfähigkeit wurden nicht für ausreichend erachtet.186 Mit der neuen Rechtslage haben sich die Anforderungen an einen rechtmäßigen Schwangerschaftsabbruch verändert. Im Vergleich zur früheren Rechtslage scheint ein Unterhaltsbegehren der Eltern noch weniger Erfolg versprechend zu sein. Konnte das Vorliegen einer embryopathischen Indikation mehrfach in Fällen eines Down-Syndroms bejaht werden,187 ist demgegenüber die Annahme einer medizinisch-sozialen Indikation problematischer, da zumindest eine schwerwiegende Gesundheitsgefahr der Mutter nachgewiesen werden muss.188 Nimmt man die Urteile der Zivilgerichte in den Blick, so zeigt sich, dass diese (zu) hohe Anforderungen an das Vorliegen einer medizinisch-sozialen Indikation stellen, neben der bereits in § 218a Abs. 2 StGB vom Gesetzgeber vorweggenommenen Güterabwägung eine erneute Güterabwägung vornehmen oder den Schweregrad der Behinderung berücksichtigen. (1) Urteil des OLG Hamm vom 5. September 2001 In dem vom OLG Hamm am 5. September 2001 entschiedenen Fall189 nahm der Vater des ohne die linke Hand und ohne die Hälfte des linken Unterarms geborenen Kindes den behandelnden Arzt auf Schadensersatz in Anspruch, nachdem ihm seine Frau ihre Ansprüche abgetreten hatte. Trotz mehrerer Ultraschalluntersuchungen hatte der Beklagte diese Fehlbildung des Kindes nicht erkannt. Der Kläger behauptet, dass sich seine Frau und er bei Kenntnis dieser Fehlbildungen für einen Abbruch entschieden hätten. Das OLG Hamm hielt die Klage für unbegründet, da die Voraussetzungen für eine medizinisch-soziale Indikation nicht vorgelegen hätten. 185 186 187 188
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BGH, NJW 1995, 1609. BGH, NJW 2002, 886. Vgl. nur BGHZ 89, 95; BGH, NJW 1987, S. 2923. Beispielsweise wurde am 5. November 2002 eine Klage abgewiesen, da die Mutter eines Kindes mit Down-Syndrom nicht in ausreichendem Maße belastet war und auch nach der Geburt keine psychischen Beeinträchtigungen von Krankheitswert erkennbar waren. BGH v. 5. 11. 2002 – VI ZR 69/02; Ablehnung fanden aus solchen Gründen auch weitere Klagen. Vgl. nur: OLG Hamm, NJW 2002, 2649, mit NAB des BGH vom 23. 4. 2002 – VI ZR 363/01; OLG Hamm, Urteil vom 6. 3. 2002 – 3 U 134/01. OLG Hamm, NJW 2002, S. 2649 ff.
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Eine Gefahr für die Gesundheit oder das Leben der Schwangeren konnte das Gericht nicht feststellen. Die psychische Belastung der Schwangeren, die daraus resultiert, dass die Schwangere mit der Behinderung des Kindes umgehen und erkennen muss, dass das Kind in eine nicht immer freundliche Umwelt hineinwächst, sah das Gericht angesichts des konkreten Behinderungsgrads nicht als schwerwiegend an.190 Darüber hinaus ließ es offen, inwieweit die vormals embryopathische Indikation in die medizinisch-soziale Indikation miteinzubeziehen sei. Aufgrund des mangelnden Schweregrads der Behinderung könnte auch über den embryopathischen Aspekt keine medizinisch-soziale Indikation bejaht werden.191 Das OLG Hamm verkannte, dass die Schwere der Behinderung für das Vorliegen einer medizinisch-sozialen Indikation gerade nicht mehr entscheidend ist. (2) Urteil des OLG Düsseldorf vom 10. Januar 2002 Die klagenden Eltern, deren Sohn aufgrund eines Down-Syndroms mit erheblichen körperlichen und geistigen Behinderungen zur Welt kam, machten in einem Fall, den das OLG Düsseldorf am 10. Januar 2002 entschied, geltend, dass sie aufgrund der bestehenden Verwandtschaftsbeziehungen und des Alters der Schwangeren über mögliche Geburtsschädigungen hätten früher belehrt werden müssen. Bei Kenntnis der Behinderung des Kindes hätten sie sich für einen Schwangerschaftsabbruch entschieden, der gemäß § 218a Abs. 2 StGB rechtmäßig gewesen wäre. Die Klägerin litt nun tatsächlich vermehrt unter depressiven Verstimmungen.192 Die Voraussetzungen der medizinisch-sozialen Indikation waren nach Ansicht des OLG trotz depressiver Verstimmungen der Frau in Anknüpfung an die Entscheidung des BGH vom 4. 12. 2001193 nicht erfüllt. „Der BGH hat betont, dass es konkreter Feststellungen für eine gravierende Ausnahmesituation der Schwangeren bedarf, um einen Abbruch der Gravidität zur Vermeidung gesundheitlicher Gefahren für die Mutter rechtfertigen zu können.“194 Die Wortwahl macht deutlich, dass das Gericht hohe Anforderungen an das Vorliegen einer schwerwiegenden Gesundheitsgefahr stellt. (3) Urteil des BGH vom 18. Juni 2002 In einem Fall, den der BGH am 18. Juni 2002 entschied,195 nahmen die Eltern den behandelnden Frauenarzt auf Schadensersatz in Anspruch, weil er während der von ihm durchgeführten Pränataldiagnostik die Fehlbildungen des Kindes pflichtwidrig nicht erkannt hätte. Bei dem Kind waren beide Oberarme nicht ausgebildet, der rechte Oberschenkel verkürzt, der linke fehlte. Die Füße wiesen eine KnickHackfußstellung auf. In diesem Urteil knüpfte der BGH an das Urteil vom 4. De190 191 192 193 194 195
OLG Hamm, NJW 2002, S. 2650. OLG Hamm, NJW 2002, S. 2651. OLG Düsseldorf, VersR 2003, S. 1544. BGH, NJW 2002, S. 886 ff. OLG Düsseldorf, VersR 2003, S. 1544. BGHZ 151, 133 ff.
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zember 2001 an und nahm eine schwerwiegende Beeinträchtigung des seelischen Gesundheitszustandes nur dann an, wenn sie „die insoweit zu ziehende Opfergrenze für den Ausnahmetatbestand der Rechtfertigung der mit dem Tod des Embryos verbundenen Abtreibung aus medizinischer Indikation“ überschreitet. Zu dieser Beurteilung sei eine Güter- und Interessenabwägung erforderlich.196 Der BGH bejahte die Möglichkeit eines rechtmäßigen Schwangerschaftsabbruchs, da sowohl eine Suizidgefahr der Schwangeren als auch eine schwerwiegende Gefahr für den seelischen Gesundheitszustand der Schwangeren zu befürchten gewesen seien. Diese Prognose könne dadurch gestützt werden, dass nun Depressionen vorlägen, die einen deutlichen Krankheitswert erreichten. In dieser Formulierung spiegelt sich die Tendenz wider, schwerwiegende Beeinträchtigungen des Gesundheitszustandes nur dann anzunehmen, wenn sie in ihrem Schweregrad Krankheitsbildern entsprechen und damit überhöhte Anforderungen an die medizinisch-soziale Indikation zu stellen.197 (4) Urteil des OLG Stuttgart vom 25. März 2003 Auch das OLG Stuttgart stellte im Urteil vom 25. März 2003198 an das Vorliegen der medizinisch-sozialen Indikation hohe Anforderungen. In diesem Fall verlangten die Eltern eines mit Trisomie 21 und einem Herzfehler geborenen Kindes Schadensersatz vom behandelnden Arzt mit der Begründung, dass bei ordnungsgemäßer Durchführung einer pränatalen Diagnostik die Behinderung erkennbar gewesen sei und sie bei Kenntnis der Behinderung die Schwangerschaft abgebrochen hätten. Ein rechtmäßiger Schwangerschaftsabbruch auf der Grundlage der medizinisch-sozialen Indikation wäre möglich gewesen. Die Klägerin erlitt bei der Geburt des Kindes einen Schock, aus dem sich eine Depression entwickelte. Aufgrund dessen lehnte die Schwangere drei Monate lang das Kind völlig ab, litt unter wochenlangen Weinkrämpfen, Schlaflosigkeit und Kopfschmerzen und hatte massive Suizidgedanken. Obwohl diese Beeinträchtigungen aufgrund der Schwere der Behinderung auch ex ante zu befürchten waren, reichten sie nach der Ansicht des Gerichts nicht aus, um eine medizinisch-soziale Indikation zu bejahen. „Depressionen mit Weinkrämpfen, Schlaflosigkeit und Kopfschmerzen sind noch nicht als so schwerwiegend anzusehen, dass sie unter Berücksichtigung des Lebensrechts des
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BGHZ 151, 133 (141). Die Forderung nach einer Güter- und Interessenabwägung irritiert, da das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber aufgegeben hat, Rechtfertigungsgründe zu normieren, in denen der Schwangeren aus der Schwangerschaft wie in den Fällen der medizinischen und embryopathischen Indikation eine Belastung erwächst, die so schwer und außergewöhnlich ist, dass sie die zumutbare Opfergrenze übersteigt. Vgl. BVerfG 88, 203 (272). Bei Vorliegen der medizinisch-sozialen Indikation ist die Opfergrenze überschritten. Eine erneute Bestimmung der Opfergrenze durch den Zivilrichter ist verfehlt. Vgl. Hillenkamp, FS Amelung, S. 438. Im Urteil vom 31. 1. 2006 stellt der BGH allerdings klar, dass der Gesetzgeber die Abwägung zwischen dem Lebensrecht des Kindes und den Belangen der Mutter in § 218a Abs. 2 StGB bereits vorweggenommen habe und es einer zusätzlichen Abwägung nicht bedürfe. Vgl. BGH, NJW 2006, S. 1661 f. OLG Stuttgart, NJW-RR 2003, S. 1256 f.
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Kindes der Schwangeren nicht mehr zugemutet werden können.“199 Die Anforderungen an das Vorliegen einer schwerwiegenden Gefahr für den Gesundheitszustand der Schwangeren wurden hier überspannt. Es wird ein erheblicher Schweregrad der seelischen Beeinträchtigung verlangt, der an manifeste Krankheitsbilder heranreicht. (5) Urteil des BGH vom 15. Juli 2003 In dem Fall, der dem Urteil des BGH vom 15. Juli 2003 zugrunde lag,200 verlangte die Mutter des mit einer Spina bifida geborenen Kindes vom behandelnden Arzt Unterhalt und Schmerzensgeld, da dieser bei den durchgeführten Sonografien pflichtwidrig die Fehlbildung des Kindes nicht bemerkt habe und deshalb eine Abtreibung unterblieben sei. Die Schwangere litt unter Depressionen und hatte drei Jahre zuvor zwei Wirbel gebrochen, weshalb sie keine schweren Lasten tragen durfte. Durch die Austragung des Kindes verschlechterte sich ihr Zustand und es wurde eine Operation erforderlich. Trotz dieser Darlegungen verneinte das Berufungsgericht das Vorliegen einer medizinisch-sozialen Indikation. Der BGH trug dem Berufungsgericht auf, sich durch Einholung von sachkundigem Rat davon zu überzeugen, ob diese Beeinträchtigungen für eine medizinische Indikation ausgereicht hätten.201 Die Zweifel des BGH an der Verneinung der medizinisch-sozialen Indikation hätten hier ruhig noch stärker ausfallen dürfen. (6) Urteil des BGH vom 31. Januar 2006 Am 31. Januar 2006 hatte der BGH einen Fall zu entscheiden, in dem das Kind mit einer Spina bifida, einer beiderseitigen Hüftdysplasie, einer vom Knie abwärts laufenden Querschnittslähmung und Inkontinenz auf die Welt gekommen war.202 Der behandelnde Frauenarzt hatte während der Schwangerschaftsbetreuung die Fehlbildungen des Kindes pflichtwidrig nicht erkannt. Die Eltern machen geltend, dass sie einen durch § 218a Abs. 2 StGB erlaubten Schwangerschaftsabbruch durchgeführt hätten und forderten hier wiederum Ersatz des Unterhalts. Die Schwangere litt an einer posttraumatischen Belastungsstörung, die kausal auf die Geburt des behinderten Kindes zurückzuführen war. In ihrer Ausprägung ging diese Belastungsstörung in Richtung auf eine krankhafte Neurose. Die Mitteilung des embryopathischen Befundes hatte eine Weltuntergangsstimmung und ein inneres Chaos bei der Schwangeren verursacht.203 Trotz dieser schwerwiegenden Beeinträchtigungen sah das Berufungsgericht die Anforderungen an eine medizinisch-soziale Indikation nicht als erfüllt an, da die Behinderung des Kindes nicht besonders schwer war. Der BGH hat das Urteil schließlich zu Recht aufgehoben und zurückverwiesen, mit der Begründung, dass der Gesetzgeber bereits in § 218a Abs. 2 StGB eine Interessenabwägung vorge-
199 200 201 202 203
OLG Stuttgart, NJW-RR 2003, S. 1256, 3. Ls. BGH, NJW 2003, S. 3411 f. BGH, NJW 2003, S. 3412. BGH, NJW 2006, S. 1660. BGH, NJW 2006, S. 1660 (1661).
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nommen habe und weitere Aspekte, wie der Grad der zu erwartenden Behinderung, daneben unbeachtlich seien.204 (7) Bewertung der zivilgerichtlichen Rechtsprechung Bei der Durchsicht dieser Urteile wird deutlich, dass die Zivilrechtsprechung dazu tendiert, eine schwerwiegende Beeinträchtigung des Gesundheitszustands erst dann anzunehmen, wenn sie in ihrem Schweregrad einem Krankheitsbild entspricht. § 218a Abs. 2 StGB erfordert das Vorliegen einer Krankheit aber wie bereits dargelegt nicht. Verständlich, wenn auch nicht korrekt, wird die Zivilrechtsprechung dann, wenn man Folgendes bedenkt: Im Strafrecht führt eine weite Auslegung des § 218a Abs. 2 StGB zu einer selteneren Strafbarkeit des Arztes, da ein Schwangerschaftsabbruch dann vielfach gerechtfertigt ist. Eine enge Auslegung der Indikation führt dementsprechend zu einer häufigeren Strafbarkeit des Arztes, da der Schwangerschaftsabbruch seltener gerechtfertigt ist. Legt man die Vorschrift im Zivilrecht weit aus, so sind Schwangerschaftsabbrüche häufiger rechtmäßig und die Unterhaltsansprüche können eher geltend gemacht werden. Legt man die Norm dagegen eng aus, so scheiden Unterhaltsansprüche eher aus. Während eine enge Auslegung im Strafrecht folglich nachteilig für den Arzt ist, ist sie im Zivilrecht vorteilhaft für den Arzt. Es darf vermutet werden, dass es Ziel der Zivilrechtsprechung ist, den Arzt vor überzogenen Unterhaltsansprüchen zu schützen.205 ff) Änderungsbedarf? Dadurch dass die Zivilgerichte sehr strenge Maßstäbe an das Vorliegen einer medizinisch-sozialen Indikation knüpfen, waren bei weitem nicht alle Klagen erfolgreich, in denen durch eine Pflichtverletzung innerhalb des Schwangerschaftsbetreuungsvertrags ein Schwangerschaftsabbruch unterblieb. Der behauptete Selektionsdruck auf die Ärzte hat sich daher mit der neuen Rechtslage stark vermindert. Eine gesetzliche Festlegung dahingehend, dass die Unterhaltspflicht eines Kindes niemals ein Schaden sein kann, lehnt selbst die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe ab, da eine solche Regelung dazu führte, dass selbst grobe ärztliche Pflichtverletzungen mit schweren Folgen für die Schwangere nicht ausreichend sanktioniert würden.206 Für überlegenswert hält die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe aber eine Haftungsbeschränkung bei Nichterkennung einer Behinderung des Kindes auf grobe Fahrlässigkeit wegen der Unsicherheiten einer Diagnostik.207 204 205
206 207
BGH, NJW 2006, S. 1660 (1661 f.). Hillenkamp, FS Amelung, S. 429. Auch erlaubt diese Deutung die Prognose, dass zukünftig denkbare Entscheidungen von Strafgerichten die dem Arzt günstigere Art der Deutung bevorzugen werden. Dafür spricht auch, dass in der strafrechtlichen Literatur die großzügigere Interpretation namentlich des Gesundheitszustands herrschend ist. DGGG, Positionspapier 2003, S. 35. DGGG, Positionspapier 2003, S. 36.
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4. Kapitel: Verfassungsmäßigkeit der Rechtslage zum Spätabbruch
Als Alternative zur Haftung des Arztes für den Unterhalt werden auch Fonds- oder Versicherungslösungen diskutiert.208 Eine Einschränkung der Haftung des Arztes ist aber nicht erforderlich, um einen Selektionsdruck auf die Ärzte zu vermindern. Eine Haftung kommt nur in Betracht, wenn ein Fehlverhalten des Arztes vorliegt. Für eine Pflichtverletzung des Behandlungsvertrags muss ein Arzt immer einstehen. Entspricht die pränatale Diagnostik dem medizinischen Standard und findet eine ordnungsgemäße Aufklärung und Beratung statt, so ist eine Haftung des Arztes ausgeschlossen. Eine Qualitätssicherung von Aufklärung, Beratung und pränataler Diagnostik ist daher, wie die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe zu Recht feststellt, das nächstliegende Mittel, um eine Haftung des Arztes zu minimieren.209 Eine Aufklärung der Ärzte darüber, dass sie bei ordnungsgemäßem Verhalten kein Haftungsrisiko eingehen, dürfte einen eventuell bestehenden Selektionsdruck beseitigen.210 c) Begrenzung der Pränataldiagnostik Vereinzelt wird gefordert, einem eventuell bestehenden Abbruchsautomatismus durch eine Begrenzung der Pränataldiagnostik entgegenzuwirken. Vor allem von Seiten des Netzwerks gegen Selektion durch Pränataldiagnostik wird gefordert, das Angebot der Pränataldiagnostik durch standesrechtliche oder gesetzliche Regelungen zu begrenzen. Screeningmethoden, mit denen die statistische Wahrscheinlichkeit für die Geburt eines behinderten Kindes berechnet wird, sollten beispielsweise aus der regulären Schwangerenvorsorge herausgenommen werden.211 Kritisiert wird, dass die Pränataldiagnostik auf der gesellschaftlichen Überzeugung basiere, dass ein behindertes Kind vermieden werden solle. Sie sei Ausdruck einer in den kulturellen Werten unserer Gesellschaft tief verankerten Geringschätzung von behinderten Menschen. Um diese Abwertung zu vermeiden, sei eine Beschränkung des Angebots der Pränataldiagnostik erforderlich.212 Ein generelles Verbot von pränataldiagnostischen Maßnahmen wird vom Netzwerk gegen Selektion durch Pränataldiagnostik nicht gefordert und wäre auch sicherlich nicht wünschenswert. Gerade in Fällen, in denen die Erkrankung oder Behinderung des Kindes intrauterin behandelt oder für eine rechtzeitige postnatale Therapie gesorgt werden kann, ist eine pränatale Diagnostik sinnvoll.213 Letztlich stellt die Pränataldiagnostik einen Informationsgewinn für die Schwangere dar. Meistens kann der Schwangeren dadurch die Angst vor einem behinderten Kind genommen werden. Wird eine Erkrankung des Kindes festgestellt, so können Maßnahmen getroffen werden, wie beispielsweise eine spezielle 208 209 210 211 212 213
Schimmelpfeng-Schütte, MedR 2003, S. 403; dem zuneigend Schmidt-Recla, in: Schumann, Verantwortungsbewusste Konfliktlösungen, S. 93. DGGG, Positionspapier 2003, S. 35; ebenso: Netzwerk gegen Selektion durch PND 2004, S. 3. Charbonnier, in: Wewetzer/Wernstedt, Spätabbruch der Schwangerschaft, S. 80 f. Netzwerk gegen Selektion durch PND 2004, S. 2, 3; Netzwerk gegen Selektion durch PND 2006, S. 22 ff. Netzwerk gegen Selektion durch PND 2006, S. 23. Vgl. BÄK, DÄBl. 1998, S. A-3241.
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Entbindungsklinik gewählt oder Umbauarbeiten vorgenommen werden. Die Schwangere selbst kann sich auf ein Leben mit einem behinderten Kind vorbereiten. Unbestreitbar führt ein pathologischer Befund in der Pränataldiagnostik in letzter Konsequenz häufig zu einem Schwangerschaftsabbruch. Zu einer Selektion kommt es aber letztlich nur dann, wenn man mit den pränataldiagnostischen Informationen in rechtswidriger Weise umgeht. Ein Abbruch ist schließlich nur dann möglich, wenn die Mutter durch den Befund Depressionen bekommt oder in Suizidgefahr gerät. Nicht eine generelle Begrenzung bestimmter pränataldiagnostischer Untersuchungen, wohl aber ein sorgsamer und verantwortungsbewusster Umgang mit der Pränataldiagnostik ist daher zu fordern. Einer übertriebenen Durchführung von Untersuchungen, die letztlich in der Tat einen vermeintlichen Anspruch auf ein gesundes Kind in der Gesellschaft begründet, ist eine Absage zu erteilen. Eine generelle gesetzliche Regelung, die bestimmte Diagnoseverfahren verbietet, erscheint aber aufgrund der Vielgestaltigkeit der pränatalen Diagnostik schwierig. Ein Appell an das Verantwortungsgefühl der Ärzte von Seiten der Bundesärztekammer oder der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe wäre aber sicherlich zu begrüßen. Eine gute Beratung und Information der Schwangeren vor, während oder nach Pränataldiagnostik kann der Schwangeren darüber hinaus helfen, die durch pränatale Diagnostik gewonnenen Informationen sinnvoll zu nutzen und sich auf ein Leben mit einem behinderten Kind vorzubereiten. Die am 13. Mai 2009 vom Bundestag beschlossenen Maßnahmen gewährleisten bereits eine solche angemessene Beratung der Schwangeren. d) Statistik Im Bundestag diskutiert wurde ebenfalls eine Verbesserung der Statistik. Beschlossen wurde eine solche Änderung am 13. Mai 2009 jedoch nicht. aa) Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht Die verfassungsrechtliche Schutzpflicht zugunsten des ungeborenen Lebens erfordert eine hinreichende hoheitliche Kontrolle der Abbruchssituation.214 Der Statistik kommt im Hinblick auf die dem Gesetzgeber vom Bundesverfassungsgericht aufgegebene Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht erhebliche Bedeutung zu.215 Zur Beobachtungspflicht gehört nach den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts, „daß der Gesetzgeber im Rahmen seiner Kompetenz dafür sorgt, daß die für die Beurteilung der Wirkung des Gesetzes notwendigen Daten planmäßig erhoben, gesammelt und ausgewertet werden. Verläßliche Statistiken mit hinreichender Aussagekraft, wie über die absolute Zahl der Schwangerschaftsabbrüche, über die relativen Quoten, die sich aus dem Verhältnis der Abbruchszahl zur Gesamtbevölkerung, zur Zahl der Frauen im gebärfähigen Alter, zur Zahl der 214 215
Duttge, Ausschuss-Drs. 16(13)439j, S. 8. Ausführlich zur Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht des Gesetzgebers vgl. Hillenkamp, FS Eisenberg, S. 301 ff.
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4. Kapitel: Verfassungsmäßigkeit der Rechtslage zum Spätabbruch
Schwangerschaften oder der Lebend- und Totgeburten insgesamt errechnen, sowie über die Verteilung der nicht mit Strafe bedrohten Abbrüche auf die verschiedenen gesetzlichen Grundlagen, sind dazu unerläßlich.“216 Erachtet der Gesetzgeber es für sinnvoll, weitere Merkmale zu erfassen, wie beispielsweise Mehrfachabbrüche oder das Alter der Frau, so kann er auch diese Merkmale statistisch erfassen. Die Schutzpflicht ist dann verletzt, wenn der Gesetzgeber für keine staatliche statistische Erfassung sorgt, da er sich dadurch des Erfahrungsmaterials beraubt, das unverzichtbar ist, um die Auswirkungen des Schutzkonzepts beobachten zu können.217 Zu überprüfen ist im Folgenden, ob die bestehende statistische Erfassung dem Gesetzgeber eine hinreichende Beobachtung der Abbruchssituation ermöglicht. bb) Was wird bisher statistisch erfasst? § 16 Abs. 1 SchKG regelt, was in Bezug auf Schwangerschaftsabbrüche statistisch erfasst wird: x Statistisch erfasst wird nach Nr. 1 die Anzahl der Schwangerschaftsabbrüche im Berichtszeitraum (auch Fehlanzeige), x nach Nr. 2, ob der Schwangerschaftsabbruch auf § 218a Abs. 1 oder § 218a Abs. 2 StGB basiert, x nach Nr. 3 der Familienstand und das Alter der Schwangeren sowie die Zahl ihrer Kinder, x nach Nr. 4 die Dauer der abgebrochenen Schwangerschaft, x nach Nr. 5 die Art des Eingriffs und beobachtete Komplikationen, x nach Nr. 6 das Bundesland, in dem der Abbruch vorgenommen wurde, und das Bundesland oder der ausländische Staat, in dem die Schwangere wohnt, x nach Nr. 7, ob der Abbruch in einem Krankenhaus oder in einer Arztpraxis vorgenommen wurde und wie lange ein eventueller Krankenhausaufenthalt dauerte. Diese Aspekte sind dem Statistischen Bundesamt gemäß Abs. 2 vierteljährlich zum jeweiligen Quartalsende mitzuteilen. cc) Änderungsbedarf Die Statistik wurde und wird vielfach für unzureichend befunden.218 Die Bundesärztekammer hielt bereits 1998 eine Erweiterung der Statistik um die noch darzustellenden Aspekte durch eine Ergänzung des § 16 SchKG für erforderlich.219 Die Forderungen der Ärzteschaft hinsichtlich der Statistik wurden in mehreren Ge-
216 217 218
219
BVerfGE 88, 203 (310 f.). BVerfGE 88, 203 (311). Vgl. nur BT-Drs. 16/11106, S. 3, 5, 10 f.; BT-Drs. 16/11330, S. 2, 3, 5 f.; BÄK, DÄBl. 1998, A-3016; später bestätigt von: DGGG, Positionspapier 2003, S. 24; BÄK/DGGG 2006, S. 120 f., 129 f.; BÄK/DGGG, Ausschuss-Drs. 16(13)439f, S. 31; Woopen, Ausschuss-Drs. 16(13)439c, S. 11; Reimers (EKD), Stellungnahme 2005. BÄK, DÄBl. 1998, A-3016.
B. Verfassungsmäßigkeit des § 218a Abs. 2 StGB auf den zweiten Blick
219
setzentwürfen berücksichtigt220 und waren Bestandteil des gruppenübergreifenden Gesetzentwurfs vom 5. Mai 2009.221 In einer getrennten Abstimmung entschieden sich die Abgeordneten jedoch mehrheitlich gegen eine Ergänzung der Statistik. (1) Erfassung vorgeburtlicher Fehlbildungen und Befundsicherung Nach dem gruppenübergreifenden Gesetzentwurf vom 5. Mai 2009 sollte in der Statistik zukünftig angegeben werden, ob Fehlbildungen des Embryos oder Fötus oder Auffälligkeiten im Genom vorgeburtlich diagnostiziert wurden.222 Eine solche Ergänzung der Statistik erscheint erforderlich, da nach dem Wegfall der embryopathischen Indikation nicht mehr festgestellt werden kann, in welchen Fällen ein Schwangerschaftsabbruch auf einer diagnostizierten Behinderung des Kindes basierte.223 Festgestellt werden kann nur noch, ob der Schwangerschaftsabbruch aufgrund einer medizinisch-sozialen Indikation erfolgte. Auf den ersten Blick erscheint es zwar verständlich, dass in der Statistik auf die Angabe diagnostizierter Krankheiten des Fötus verzichtet wird, da ein Schwangerschaftsabbruch nach geltender Rechtslage nicht allein aufgrund einer Auffälligkeit des Fötus gerechtfertigt sein kann. Allerdings bilden die durch Pränataldiagnostik festgestellten Fehlbildungen häufig den Ausgangspunkt für eine schwere Konfliktlage der Frau, so dass zu vermuten ist, dass die meisten Fälle der medizinischsozialen Indikation embryopathisch motiviert sind.224 In den embryopathisch motivierten Fällen der medizinisch-sozialen Indikation droht aber, wie bereits dargestellt, ein Abtreibungsautomatismus, der mit der Menschenwürde und dem Lebensrecht des nasciturus sowie mit Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG nicht vereinbar ist. Ein solcher Abtreibungsautomatismus kann nur durch eine exakte statistische Erfassung mit Sicherheit festgestellt werden. Wird bei dieser Erfassung ein Abbruchsautomatismus festgestellt, so muss der Gesetzgeber auf diesen reagieren und die Wirksamkeit weiterer Schutzmaßnahmen anhand der Statistik kontrollieren. Im Hinblick auf die genannten Grundrechte des nasciturus ist es daher unbedingt erforderlich, in der Schwangerschaftsabbruchsstatistik anzugeben, ob ein embryopathischer Befund vorlag.225 Vorgeschlagen wurde daher zu Recht, nach § 16 Abs. 1 Nr. 7 SchKG folgende Nr. 8 einzufügen: 8. vorgeburtlich diagnostizierte Fehlbildungen des Embryos oder des Fötus oder Auffälligkeiten im Genom.226
220 221 222 223 224 225 226
BT-Drs. 15/3948, S. 5; 16/11106, S. 3, 5, 10 f.; 16/11330, S. 2, 3, 5. Vgl. Anhang 1, S. 3. Vgl. den gruppenübergreifenden Gesetzentwurf vom 5. Mai 2009 in Anhang 1, S. 3. BÄK, DÄBl. 1998, S. A-3016. BÄK/DGGG 2006, S. 123. Zur Qualitätssicherung der pränatalen Diagnostik wäre es – soweit feststellbar – auch sinnvoll anzugeben, ob sich der pathologische Befund bestätigt hat. Vgl. den gruppenübergreifenden Gesetzentwurf vom 5. Mai 2009 in Anhang 1, S. 3.
220
4. Kapitel: Verfassungsmäßigkeit der Rechtslage zum Spätabbruch
(2) Erfassung der Schwangerschaftsdauer Nach dem Gesetzentwurf vom 5. Mai 2009 sollte die Schwangerschaftsdauer zukünftig in vollendeten einzelnen Wochen angegeben werden.227 Die Schwangerschaftsdauer wurde schon bisher gemäß § 16 Abs. 1 Nr. 4 SchKG statistisch erfasst. Unklar war innerhalb der Ärzteschaft aber beispielsweise, wie die Schwangerschaftsdauer angegeben werden sollte, wenn 21 Wochen und fünf Tage vergangen waren. Vorhandene Fehlermöglichkeiten und Unklarheiten sollten durch die genaue Zeitangabe minimiert werden.228 Auf der Grundlage des § 16 Abs. 1 Nr. 4 SchKG wurde nun der Erhebungsvordruck zur Schwangerschaftsabbruchsstatistik dahingehend präzisiert, dass die Dauer der Schwangerschaft in vollendeten Wochen anzugeben ist.229 Die Forderung nach einer genauen Angabe der Schwangerschaftsdauer hat sich damit erledigt. Eine Ergänzung des § 16 Abs. 1 Nr. 4 SchKG ist nicht mehr erforderlich. Aus Gründen der Klarheit ist diese Ergänzung des Erhebungsvordrucks zu begrüßen. (3) Angabe eines Fetozids Darüber hinaus sollte nach dem Gesetzentwurf vom 5. Mai 2009 in der Statistik angegeben werden, ob ein Embryozid oder Fetozid bei Mehrlingsschwangerschaften oder in sonstigen Fällen erfolgte.230 Entsprechend § 16 Abs. 1 Nr. 5 SchKG wurden im Erhebungsbogen des statistischen Bundesamtes unter Art des Eingriffs bislang die folgenden acht Methoden des Schwangerschaftsabbruchs angegeben: Curettage (Ausschabung), Vakuumaspiration (Absaugung), abdominale Hysterotomie (Gebärmutterentfernung), vaginale Hysterotomie, abdominale Hysterektomie (Gebärmutterschnitt), vaginale Hysterektomie, medikamentös und Mifegyne/Wirkstoff Mifepriston. Der Fetozid wurde statistisch zunächst weder bezüglich eines Spätschwangerschaftsabbruchs noch bezüglich der Reduktion von Mehrlingen erfasst. Die bislang fehlende Erfassung des Fetozids mag daran liegen, dass sich der Gesetzgeber zunächst weigerte, die Praxis des Fetozids anzuerkennen. Bereits bei der 1996 stattfindenden Anfrage, ob bei möglicher Lebensfähigkeit ein Fetozid angewendet werden dürfe, antwortete die Bundesregierung, dass das Ziel der Behandlung die Beendigung der Schwangerschaft, nicht aber die Tötung der Leibesfrucht sei. Die Anwendung der Methode des Fetozids entziehe sich im Übrigen der Kenntnis der Bundesregierung.231 Auf der Grundlage des § 16 Abs. 1 Nr. 5 SchKG wurde der statistische Erhebungsbogen hinsichtlich der Art des Eingriffs mittlerweile um zwei Aspekte ergänzt: Fetozid bei Mehrlingsschwangerschaften und Fetozid bei sonstigen Fällen,232 so dass sich auch dieses Anliegen erledigt hat. Eine Ergänzung des § 16
227 228 229 230 231 232
Vgl. den gruppenübergreifenden Gesetzentwurf vom 5. Mai 2009 in Anhang 1, S. 3. BÄK/ DGGG 2006, S. 133. Vgl. Anhang 5, S. 3. Vgl. den gruppenübergreifenden Gesetzentwurf vom 5. Mai 2009 in Anhang 1, S. 3. BT-Drs. 13/5364, S. 13, 16. Vgl. Anhang 5, S. 3.
B. Verfassungsmäßigkeit des § 218a Abs. 2 StGB auf den zweiten Blick
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Abs. 1 Nr. 5 SchKG ist nach der Präzisierung des Erhebungsbogens nicht mehr nötig. Insgesamt ist diese Änderung im Erhebungsbogen zu begrüßen. Nach Expertenaussagen erfolgen Fetozide und Embryozide häufiger als die Methoden der Hysterektomie und der Hysterotomie.233 Da für den Arzt nicht erkennbar war, unter welcher der acht Rubriken er den Fetozid eintragen sollte, war zu befürchten, dass die tatsächliche Anzahl der Spätabbrüche statistisch nicht vollständig erfasst wurde.234 Darüber hinaus ist zu bedenken, dass nach Vornahme des Fetozids die darauf folgende Totgeburt des Kindes erst mit einem zeitlichen Abstand erfolgt. Möglich ist, dass der Fetozid in einer Arztpraxis durchgeführt wird, die Geburt aber anschließend in einem Krankenhaus stattfindet. Dadurch bestand bislang die Gefahr, dass lediglich eine Fehlgeburt oder eine Totgeburt, je nach Entwicklung des Kindes, und kein Schwangerschaftsabbruch durch Fetozid gemeldet wurde.235 (4) Überschneidung zwischen statistischer Erhebung des Schwangerschaftsabbruchs und Personenstandsrecht In ihrem Vorschlag zur Ergänzung des Schwangerschaftsabbruchsrechts weisen die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe und die Bundesärztekammer ausdrücklich auf Überschneidungen zwischen der statistischen Erhebung des Schwangerschaftsabbruchs und des Personenstandsrechts hin. § 29 PersStdGAV bestimmt in Abs. 1, dass die Anzeige und Eintragung der Geburt dann notwendig ist, „wenn bei einem Kind nach der Scheidung vom Mutterleib entweder das Herz geschlagen, die Nabelschnur pulsiert oder die natürliche Lungenatmung eingesetzt hat.“ § 29 Abs. 2 PersStdGAV definiert als Totgeburt eine Leibesfrucht, die keine Merkmale einer Lebendgeburt aufgewiesen hat und ein Gewicht von mindestens 500g hat. Sie ist in den Personenstandsbüchern zu beurkunden. Um eine Fehlgeburt handelt es sich gemäß § 29 Abs. 3 PersStdGAV dann, wenn sich keine Lebensmerkmale zeigen und ein Gewicht von 500g nicht erreicht wurde. Eine Fehlgeburt wird in den Personenstandsbüchern nicht beurkundet. Gerade bei Schwangerschaftsspätabbrüchen kann es Totgeborene von mindestens 500g geben, die bei der Geburt verstorben sind. Darüber hinaus gibt es Kinder, die zum Zeitpunkt der Geburt Lebenszeichen hatten, die allerdings nach einigen Minuten sistieren. Folglich wären diese Kinder Lebendgeburten. Die Bundesregierung sieht in diesen Fällen aber keinen Anlass für die Beurkundung im Sinne des Personenstandsrechts, da ein Schwangerschaftsabbruch nicht eine Geburt im Sinne des staatlichen Beurkundungsrechts darstelle und der Zweck der Beurkundung, beweiskräftige Unterlagen über den Namen einer Person und über den Personenstand zu schaffen, in diesem Fall nicht greife. Zugleich weist die Bundesregierung aber auf die gegenteilige Auffassung hin.236 233 234 235 236
BT-Drs. 16/11106, S. 10. BT-Drs. 16/11106, S. 10. BT-Drs. 16/11106, S. 10. BT-Drs. 15/3155, S. 20 f.
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Die Bundesregierung führt allerdings auch aus, dass im Rahmen der beabsichtigten Reform des Personenstandsgesetzes mit den Ländern geprüft werde, ob eine Klarstellung in den personenstandsrechtlichen Vorschriften erforderlich sei.237 Die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe und die Bundesärztekammer halten eine solche Klärung zu Recht unbedingt für erforderlich, da die Schwangerschaftsabbruchsstatistik sonst ungenau ist und es Widersprüche zum Personenstandsrecht geben kann.238 Eine diesbezügliche Klarstellung wäre in der Tat zu begrüßen. dd) Bedenken gegen eine Erweiterung der Statistik Eine Ergänzung der Statistik um die erörterten Aspekte wurde von Trägern staatlich anerkannter Schwangerschaftsberatungsstellen abgelehnt. Argumentiert wurde, dass eine Erweiterung der Statistik den Würde- und Lebensschutz des nasciturus nicht verbessern könne.239 Eine genauere statistische Erfassung diene lediglich einer wachsenden Kontrolle der Ärzteschaft.240 Sowohl dem Arzt als auch der Patientin werde ein Misstrauen entgegengebracht, das allein auf Unterstellungen und nicht auf rechtfertigenden Belegen basiere. Der indikationsstellende Arzt gerate durch eine solche Ergänzung der Statistik unter Druck, so dass das Stellen einer medizinischen Indikation erschwert werde.241 Die betroffenen Frauen seien auf Empathie und professionelle psychosoziale Fürsorge angewiesen. Ergänzungen der Statistik würden sie nicht von einem Schwangerschaftsabbruch abhalten, sondern lediglich dazu veranlassen, ins Ausland auszuweichen. Darüber hinaus werden datenschutzrechtliche Bedenken erhoben. Aufgrund der geringen Fallzahlen seien Rückschlüsse auf die betroffenen Frauen zu befürchten.242 Eine verbesserte statistische Erfassung wird teilweise auch schlicht für unnötig befunden. Es könne auf die Erfassung im Rahmen der Diagnoseschlüssel und Leistungserfassung durch Krankenkassen/KV wie bei anderen medizinischen Vorgängen zurückgegriffen werden.243 Diese Bedenken führten letztendlich dazu, dass am 13. Mai 2009 eine Ergänzung der Statistik im Bundestag nicht beschlossen wurde und auch nach der Änderung des statistischen Erhebungsbogens nicht feststellbar ist, ob ein Abbruch embryopathisch motiviert war.
237 238 239 240 241 242 243
BT-Drs. 15/3155, S. 20 f. BÄK/DGGG 2006, S. 136. AWO, Stellungnahme 2008, S. 2; pro familia, Ausschuss-Drs. 16(13)439e; Schulz, Ausschuss-Drs. 16(13)439i, S. 9. pro familia, Ausschuss-Drs. 16(13)439e, S. 2; Frommel, Ausschuss-Drs. 16(13)439a, S. 4. Frommel, Ausschuss-Drs. 16(13)439a, S. 5. AWO, Stellungnahme 2008, S. 2 Schulz, Ausschuss-Drs. 16(13)439i, S. 9.
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ee) Stellungnahme Die verfassungsrechtliche Schutzpflicht zugunsten des ungeborenen Lebens erfordert, wie gezeigt, eine hinreichende Kontrolle.244 Auf der Grundlage der vorhandenen Statistik konnte der Gesetzgeber seiner verfassungsrechtlichen Beobachtungspflicht nicht in ausreichendem Maße nachkommen.245 Insbesondere kann mangels gesonderter statistischer Erfassung embryopathisch motivierter Abbrüche immer noch nicht kontrolliert werden, ob auch nach den am 13. Mai 2009 beschlossenen Änderungen ein Abbruchsautomatismus besteht, der mit Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 2 S. 1, 3 Abs. 3 S. 2 GG nicht vereinbar wäre. Eine Änderung der Statistik ist daher nicht durch ein Misstrauen gegenüber den Ärzten veranlasst, sondern hat ihren Grund in der verfassungsrechtlichen Beobachtungspflicht des Gesetzgebers. Datenschutzrechtliche Bedenken überzeugen demgegenüber nicht. Es findet eine kumulative Erfassung statt, so dass eine Rückführung auf die einzelne Frau nicht möglich ist.246 Die individualisierte Datenpreisgabe ist gemäß § 16 Abs. 1 S. 2 SchKG ausdrücklich verboten. Dadurch ist der Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung der Schwangeren deutlich beschränkt.247 Vergleichsweise wird auf existierende Register wie Ausländerzentralregister, Bundeszentralregister, Krebsregister und Schuldnerverzeichnis verwiesen, gegenüber denen zu Recht keine begründeten verfassungsrechtlichen Zweifel erhoben werden.248 Eventuell bestehende datenschutzrechtliche Bedenken können darüber hinaus im Hinblick auf den hohen Rang der Rechtsgüter des nasciturus, nämlich Lebensrecht und Menschenwürde, ohnehin nicht durchgreifen. Warum eine verbesserte statistische Erfassung die Schwangere veranlassen sollte, im Ausland einen Schwangerschaftsabbruch durchführen zu lassen, ist letztlich nicht ersichtlich. Die Bundesvereinigung für Lebenshilfe e.V. weist sogar darauf hin, dass eine detailliertere Statistik durchaus positiv für die Schwangere sein könne. Die betroffene Frau könne nämlich aus der Statistik erkennen, wie ähnliche Fälle von anderen Paaren gehandhabt wurden. Dies könne sogar entlastend wirken.249 Aus Gründen der verfassungsrechtlichen Beobachtungspflicht ist daher unbedingt erforderlich, statistisch zu erfassen, ob ein Schwangerschaftsabbruch embryopathisch motiviert war. e) Dokumentation des Arztes Der von Johannes Singhammer ausgehende Gesetzentwurf sah in einem neuen § 2a Abs. 3 SchKG vor, dass der Arzt die Erfüllung seiner Verpflichtungen bezüglich des Inhalts und Umfangs der Beratung nach Abs. 1 oder Abs. 2 in erforderlichem Umfang und nach allgemein anerkanntem Stand der medizinischen Wissen244 245 246 247 248 249
Duttge, Ausschuss-Drs. 16(13)439j, S. 9. In diese Richtung auch: Hillenkamp, FS Eisenberg, S. 319. Lebenshilfe, Ausschuss-Drs. 16(13)439g, S. 15. Duttge, Stellungnahme zu BT-Drs. 16/11106, S. 15. Duttge, Stellungnahme zu BT-Drs. 16/11106, S. 15. Lebenshilfe, Ausschuss-Drs. 16(13)439g, S. 15.
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schaft dokumentieren und diese Dokumentation der zuständigen Behörde auf Verlangen zur Auswertung vorlegen muss. Die Dokumentation darf allerdings keine Rückschlüsse auf die Identität der Schwangeren zulassen. Bei einem Verstoß gegen die Dokumentationspflicht handelt der Arzt gemäß einem neuen § 14 Abs. 1 Nr. 2 SchKG ordnungswidrig. Gegen eine solche Dokumentations- und Vorlagepflicht wurde eingewandt, dass sie in das schützenswerte Vertrauensverhältnis von Arzt und Schwangeren eingreife. Darüber hinaus wurden datenschutzrechtliche Einwände geltend gemacht, da aufgrund geringer Fallzahlen möglicherweise eine Anonymisierung nicht sichergestellt werden könnte. Da die Vorlagepflicht eine Meldepflicht für diejenigen Ärzte impliziere, die eine medizinische Indikation ausgestellt hätten, wird schließlich befürchtet, dass durch diese Form staatlicher Überwachung die Ärzte keine medizinische Indikation mehr stellten.250 Aufgrund dieser Bedenken war die Dokumentations- und Vorlagepflicht im gruppenübergreifenden Gesetzentwurf, über den am 13. Mai 2009 beschlossen wurde, nicht mehr enthalten. Diese Bedenken überzeugen zunächst nicht. Die verfassungsrechtliche Schutzpflicht impliziert eine hinreichende hoheitliche Kontrolle, um eine bestimmte Beratungsqualität sicherzustellen.251 Eine Dokumentations- und Vorlagepflicht ermöglicht eine solche hoheitliche Kontrolle. Datenschutzrechtliche Bedenken greifen nicht, da der Gesetzentwurf ausdrücklich beinhaltete, dass keine Rückschlüsse auf die Frau möglich sein dürfen. Aufgrund der zu schützenden Rechtsgüter des nasciturus müssten diese Bedenken im Übrigen grundsätzlich zurücktreten. Allerdings ist fraglich, ob nach der jetzigen Lage eine gesetzliche Regelung der Dokumentations- und Vorlagepflicht überhaupt noch erforderlich ist. Nach § 10 der Musterberufsordnung ist die ärztliche Dokumentationspflicht bereits geregelt.252 Mittlerweile wurde ein Formular entwickelt, das der eigenen Dokumentation des Arztes dient und an den indikationsstellenden Arzt weitergegeben werden kann.253 Eine gewisse Kontrolle erfährt die Beratungsqualität des Arztes auch dadurch, dass die Schwangere bestätigen muss, dass eine ordnungsgemäße Beratung stattgefunden hat.254 Dadurch wird der Arzt in ausreichender Weise zur Einhaltung seiner Beratungspflichten angehalten. Eine zusätzliche Dokumentationspflicht würde die Beratungsqualität wohl kaum steigern. Lebens-, Würde- und Gleichheitsschutz des nasciturus würden nicht weiter verbessert.
250 251 252 253 254
pro familia, Ausschuss-Drs. 16(13)439e, S. 2; Frommel, Ausschuss-Drs. 16(13)439a, S. 5. Duttge, Ausschuss-Drs. 16(13)439j, S. 8. Vgl. dazu die Ausführungen von Kentenich, Protokoll 16/81, 2009, S. 18. Vgl. Anhang 4, S. 1. Vgl. Anhang 4, S. 2.
B. Verfassungsmäßigkeit des § 218a Abs. 2 StGB auf den zweiten Blick
225
IV. Menschenwürde und gleichbleibender einfachgesetzlicher Schutz des nasciturus Nach geltender Rechtslage ist bei Vorliegen einer medizinisch-sozialen Indikation der Schwangerschaftsabbruch gerechtfertigt. An späte Abbrüche werden nach dem Gesetzeswortlaut keine höheren Anforderungen gestellt als an frühe. Vielfach werden Spätabbrüche aber nicht nur ethisch, sondern auch rechtlich für bedenklicher gehalten als Abbrüche zu einem früheren Zeitpunkt,255 und es werden Versuche unternommen, den nasciturus in der Spätphase der Schwangerschaft stärker zu schützen als in der Frühphase. Einerseits wird das Gesetz restriktiv ausgelegt, andererseits werden Gesetzesänderungen für erforderlich gehalten. Ob die Menschenwürdegarantie einen stärkeren Schutz in der Spätphase der Schwangerschaft tatsächlich gebietet und ob ein stärkerer Schutz des nasciturus durch die sogleich darzustellenden Regelungsalternativen überhaupt erreicht werden könnte oder ob nicht bereits die geltende Rechtslage, die in zeitlicher Hinsicht nicht differenziert, mit der verfassungsrechtlichen Schutzpflicht des Staates in Einklang steht, soll im Folgenden überprüft werden. 1. Strengere Voraussetzungen bei Spätabbrüchen Teilweise wird vertreten, dass die bei Fortbestehen der Schwangerschaft drohenden Gesundheitsbeeinträchtigungen umso schwerwiegender sein müssen, je später der Abbruch erfolgt.256 Begründet wird diese Modifikation damit, dass die Schwere der drohenden Gesundheitsbeeinträchtigung zu den mit dem Abbruch der Schwangerschaft verbundenen Risiken in einem angemessenen Verhältnis stehen müsse. Andererseits wird an das Kriterium der Unzumutbarkeit anderer Abwendungsmöglichkeiten angeknüpft. Wie bei jeder Interessenabwägung hänge die Frage, was der Schwangeren unter Berücksichtigung des Lebensrechts zugemutet werden könne, von den Umständen des Einzelfalls ab. Je weiter fortgeschritten die Schwangerschaft sei, desto mehr könne der Schwangeren zugemutet werden.257 Auch die Bundesärztekammer und die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe halten späte Schwangerschaftsabbrüche für problematischer als frühe. Sie schlugen daher beispielsweise im Jahr 2006 vor, in § 218a StGB folgenden neuen Abs. 2a einzufügen, um die gesetzlichen Anforderungen an einen Abbruch bei extrauteriner Lebensfähigkeit zu verschärfen: „Ist die Schwangerschaft so weit fortgeschritten, dass die Möglichkeit extrauteriner Lebensfähigkeit des Kindes anzunehmen ist, ist der Schwangerschaftsabbruch dann nicht rechtswidrig, wenn nach ärztlicher Erkenntnis unter Berücksichtigung des Alters des ungeborenen Kindes und seiner extrauterinen Lebensfähigkeit eine Gefahr für das Leben oder eine 255 256 257
Beckmann, MedR 1998, S. 157; Tröndle, FS Müller-Dietz, S. 922 ff. Rudolphi/Rogall, SK-StGB, § 218a Rn. 42. Eser, in: Schönke/Schröder, § 218a Rn. 34; Lackner/Kühl, § 218a Rn. 13; Kröger, in: LK-StGB, § 218a Rn. 53; Merkel, in: NK-StGB § 218a Rn. 107.
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4. Kapitel: Verfassungsmäßigkeit der Rechtslage zum Spätabbruch
unzumutbare Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren besteht und die Gefahr auf andere für die Frau zumutbare Weise nicht abgewendet werden kann.“258
Die Annahme, das menschliche Leben sei vor Erreichen der extrauterinen Lebensfähigkeit weniger schutzwürdig als danach, kommt hier zum Ausdruck. Oben wurde den gestuften Würde- und Lebensschutzkonzepten bereits eine Absage erteilt und der Zäsur der extrauterinen Lebensfähigkeit keine ausschlaggebende Bedeutung im Entwicklungsprozess des nasciturus beigemessen. Es wurde festgestellt, dass es Grundrechtsträger erster und zweiter Klasse nicht gibt. Würde- und Lebensschutz des nasciturus sind vielmehr zu jedem Zeitpunkt der menschlichen Entwicklung in gleichem Maße zu gewährleisten. Eine in zeitlicher Hinsicht differenzierende Interpretation des § 218a Abs. 2 StGB ist mit diesem Ergebnis nicht zu vereinbaren. 2. Wiedereinführung einer befristeten embryopathischen Indikation Nachdem die embryopathische Indikation auf Initiativen von Kirchen und Behindertenverbänden gestrichen wurde, um das Missverständnis zu vermeiden, eine zu erwartende Behinderung des Kindes könne einen Schwangerschaftsabbruch rechtfertigen,259 wird nun teilweise die Wiedereinführung einer auf 20-22 Wochen befristeten embryopathischen Indikation gefordert.260 Bei mangelnder Lebensfähigkeit oder bei schwerster unbehandelbarer Krankheit oder Entwicklungsstörung soll, im Gegensatz zur alten Rechtslage, ein Abweichen von dieser zeitlichen Begrenzung möglich sein.261 Die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe forderte darüber hinaus, dass das Vorliegen der embryopathischen Indikation von einer „fallbezogenen interdisziplinären Kommission von Mitgliedern aus den Fachbereichen Frauenheilkunde, Kinderheilkunde, Humangenetik sowie Psychiatrie oder Psychotherapie zu prüfen“ sei.262 Begründet wird die Forderung nach einer Befristung embryopathisch motivierter Abbrüche damit, dass durch die Abschaffung der embryopathischen Indikation im Jahre 1995 der Schutz Behinderter im Ergebnis verschlechtert worden sei, da Spätabbrüche nun bis unmittelbar vor der Geburt möglich seien.263 Die zeitliche
258
259 260
261 262 263
BÄK/DGGG 2006, S. 118. Unerfindlich bleibt dabei allerdings, dies sei schon an dieser Stelle erwähnt, wie das Entwicklungsstadium des Nasciturus die Lebensgefahr der Schwangeren beeinflussen kann. Wenn sich die Schwangere in Lebensgefahr befindet, so besteht ein dringender Handlungsbedarf. Ob der Nasciturus bereits extrauterin überleben kann oder nicht, kann hierbei nicht von Belang sein. BT-Drs. 13/1850, S. 25 f. Czerner, ZRP 2009, S. 235; Deutsch, ZRP 2003, S. 335, 336; DGGG, Positionspapier 2003, S. 11; 37 ff.; Mattisseck-Neef, Schwangerschaftsabbrüche kranker Föten, S. 118; Schumann-Schmidt-Recla, MedR 1998, S. 504. Deutsch, ZRP 2003, S. 335; DGGG, Positionspapier 2003, S. 40; Katzenmeier, Anm. zum Urteil des BGH v. 18. 6. 2002, JR 2003, S. 71. DGGG, Positionspapier 2003, S. 40. Eine Verschlechterung der Situation sieht auch Tröndle, NJW 1995, S. 3015.
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Schranke von 22 Wochen soll den Schutz des nasciturus aus Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 2, 3 Abs. 3 GG in der Spätphase verbessern. Die Sichtbarmachung des embryopathischen Aspektes wird aus folgenden Gründen für erforderlich gehalten. Aus dem Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 103 Abs. 2 GG folge, dass ein Rechtfertigungsgrund zu Gunsten einer Indikation zum Schwangerschaftsabbruch explizit in den betreffenden Strafrechtsbestimmungen verankert sein müsse, weil in diesem Zusammenhang die fundamentale Entscheidung um Leben und Tod des nasciturus im Mittelpunkt stehe. Durch die stillschweigend verwässernde Implementation der embryopathischen Indikation in die medizinisch-soziale Indikation werde dem Bestimmtheitsgrundsatz nicht genügt.264 Die Abschaffung der embryopathischen Indikation und die gleichzeitige Implementierung dieser Indikation in die medizinisch-soziale Indikation sei schlicht unehrlich und lasse nicht erkennen, dass die Behinderung des Kindes zum Gegenstand der Interessenabwägung gemacht werde.265 Durch den Wegfall der embryopathischen Indikation würde das Bewusstsein für diese Selektion immer mehr schwinden.266 Fraglich ist zunächst, ob sich das Problem embryopathisch motivierter Spätabbrüche durch die Wiedereinführung der embryopathischen Indikation tatsächlich effektiv bekämpfen ließe. Ein Blick auf die Rechtslage und Abtreibungswirklichkeit in den europäischen Nachbarländern zeigt, dass die Wiedereinführung einer befristeten embryopathischen Indikation kaum den erhofften Erfolg bringen würde, sondern vielmehr Mittel und Wege gefunden werden, um die strengen Voraussetzungen der gesetzlichen Regelung und die bestehenden Fristen zu umgehen. Beispielhaft in den Blick genommen werden sollen im Folgenden die Rechtslage und die Rechtswirklichkeit in Polen, Spanien und den Niederlanden. Die Rechtslage in Polen stellt sich folgendermaßen dar:267 Schwangerschaftsabbrüche sind bei Vorliegen einer kriminologischen Indikation bis zur 12. Woche und bei Vorliegen einer embryopathischen Indikation bis zur 22. Schwangerschaftswoche erlaubt. Medizinisch indizierte Schwangerschaftsabbrüche sind demgegenüber zeitlich unbegrenzt möglich, wobei die medizinische Indikation sehr restriktiv gehandhabt wird. Embryopathisch motivierte Spätabbrüche sind in Polen demnach ausgeschlossen. Amtlich festgestellt werden jährlich insgesamt circa 200 bis 300 Abbrüche. Bis 1990 existierte in Polen noch eine unbefristet geltende Notlagenindikation, die Schwangerschaftsabbrüche bei Vorliegen „schwieriger Lebensumstände“, deren Feststellung der Schwangeren oblag, erlaubte. Jährlich fanden circa 140.000 Abbrüche statt.
264 265 266 267
Czerner, ZRP 2009, S. 234; Mattisseck-Neef, Schwangerschaftsabbrüche kranker Föten, S 118. Czerner, ZRP 2009, S. 234, 235. Hepp, in: Schumann, Verantwortungsbewusste Konfliktlösungen bei embryopathischem Befund, S. 73. Vgl. dazu: Duttge, in: Wewetzer/Wernstedt, Spätabbruch der Schwangerschaft, S. 100 f.; Eser/Koch, Schwangerschaftsabbruch und Recht, S. 34 f.
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4. Kapitel: Verfassungsmäßigkeit der Rechtslage zum Spätabbruch
Die gravierende Differenz in der Abbruchsstatistik legt das Bestehen eines Abtreibungstourismus und einer erheblichen Dunkelziffer nahe.268 Sowohl die strengen Voraussetzungen der gesetzlichen Regelung als auch die Frist, die keinesfalls in allen europäischen Ländern gilt, werden durch diesen Tourismus umgangen. Der spanische código penal lässt wie in Polen medizinisch indizierte Abbrüche zeitlich unbefristet, Abbrüche aus kriminologischer Indikation bis zur 12. und Abbrüche aus embryopathischer Indikation bis zur 22. Schwangerschaftswoche zu. Die medizinische Indikation wird aber weit weniger strikt gehandhabt als in Polen. Circa 85 % der Abbrüche werden auf die zeitlich unbegrenzt geltende medizinische Indikation gestützt und hauptsächlich mit psychischen Gesundheitsgefährdungen begründet.269 In Deutschland sind nur etwa 2,5 % der Abbrüche medizinisch indiziert. Daher ist für Spanien von einem gravierenden Missbrauch bei der Auslegung der medizinischen Indikation auszugehen.270 Nach Ablauf der 22Wochen-Frist kann ein Abbruch wegen psychischer Gesundheitsgefahren, die aus einem embryopathischen Befund resultieren, auf der Grundlage der medizinischen Indikation vorgenommen werden. In den Niederlanden sind embryopathisch indizierte Abbrüche grundsätzlich ebenfalls nur bis zum Zeitpunkt der extrauterinen Lebensfähigkeit zulässig. Allerdings werden Abbrüche auch jenseits dieser Grenze geduldet.271 Erforderlich ist ein Ansuchen einer interministeriellen Arbeitsgruppe, die das Ausmaß der zu erwartenden Fehlbildung und der Überlebenswahrscheinlichkeit klassifiziert. Ist kein Überleben zu erwarten, so ist der Spätabbruch zulässig. Bei Vorliegen schwerer Fehlbildungen, die in der Regel nicht tödlich sind, ist der Abbruch an sich strafbar. Eine Strafverfolgung ist jedoch äußerst selten, da sich der Arzt auf eine Pflichtenkollision berufen kann.272 Letztlich werden jährlich etwa 150 Spätaborte durchgeführt.273 Die drei angeführten Beispiele zeigen, dass sich das Problem embryopathisch motivierter Spätabbrüche durch eine zeitliche Befristung nur unzureichend lösen ließe. Die Befristung oder generell strenge Anforderungen an die Zulässigkeit des Abbruchs werden schlicht umgangen, entweder wie in Polen durch einen Abtreibungstourismus ins benachbarte Land, das eine zeitliche Befristung gerade nicht vorsieht, durch eine weite Interpretation der medizinischen Indikation wie in Spanien oder durch die Duldung von Rechtsbrüchen wie in den Niederlanden. Eine zeitlich befristete embryopathische Indikation wäre auch in Deutschland ohne weiteres umgehbar. Psychische Gesundheitsgefahren, die aus einem embryopathischen Befund resultieren, könnten unter die zeitlich unbefristet geltende medizinisch-soziale Indikation subsumiert werden.
268 269 270 271 272 273
Duttge, in: Wewetzer/Wernstedt, Spätabbruch der Schwangerschaft, S. 100 f. UNO Studie zu Spanien, S. 103. Duttge, in: Wewetzer/Wernstedt, Spätabbruch der Schwangerschaft, S. 103. Mattisseck-Neef, Schwangerschaftsabbrüche kranker Föten, S. 203. Mattisseck-Neef, Schwangerschaftsabbrüche kranker Föten, S. 203 f. Mattisseck-Neef, Schwangerschaftsabbrüche kranker Föten, S. 203.
B. Verfassungsmäßigkeit des § 218a Abs. 2 StGB auf den zweiten Blick
229
Begegnen könnte man einer solchen Umgehung einerseits damit, dass man die medizinisch-soziale Indikation ebenfalls befristet. Dann müsste man aber zugleich schwerwiegende physische Gesundheits- und Lebensgefahren der Schwangeren in Kauf nehmen. Zu Recht wird dies von niemandem gefordert. Oder man müsste aus der medizinisch-sozialen Indikation die embryopathisch veranlassten Abbrüche ausklammern. Diese Problematik hat die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe wohl erkannt, wenn sie in ihrem Positionspapier als Regelungsalternative die Ergänzung des § 218a Abs. 2 StGB um folgenden zweiten Satz vorschlug: „Kommt eine extrauterine Lebensfähigkeit des Ungeborenen in Betracht, was in der Regel nach 20-22 Wochen nach Empfängnis anzunehmen ist, und steht die Indikation nach Satz 1 im Zusammenhang mit einer Erkrankung oder Entwicklungsstörung des Ungeborenen, darf ein Abbruch nur vorgenommen werden, wenn eine Gefahr für das Leben oder die physische Gesundheit der Mutter besteht oder das Ungeborene voraussichtlich nicht lebensfähig sein wird oder beim Ungeborenen eine unbehandelbare Krankheit oder Entwicklungsstörung vorliegt.“274 Der Missbrauchsgefahr, die durch die Berücksichtigung psychischer Gesundheitsgefahren in der Tat existiert, würde dadurch zwar wirksam begegnet. Gleichwohl erscheint es nicht sachgerecht, psychische Gesundheitsgefahren, die ebenso gravierend sein können wie physische Gesundheitsgefahren, bei leichteren Behinderungen des Ungeborenen nicht zu berücksichtigen. Missbrauchspotential bietet übrigens weiterhin die Auslegung, was unter einer unbehandelbaren Krankheit oder Entwicklungsstörung zu verstehen ist. Neben mangelnder Effektivität sprechen auch verfassungsrechtliche Aspekte gegen die Etablierung eines solchen Schutzkonzeptes. Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG verbietet dem Gesetzgeber Benachteiligungen wegen einer Behinderung. Eine embryopathische Indikation würde nun aber an das Vorliegen einer schwerwiegenden Behinderung ausdrücklich nachteilige Rechtsfolgen knüpfen. Sowohl bei Zugrundelegung eines Kausalitätsmodells als auch eines Anknüpfungsverbotsmodells wäre eine embryopathische Indikation nicht mit Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG vereinbar.275 Die Forderung nach einer Wiedereinführung der embryopathischen Indikation basiert letztlich auf der Annahme, dass die medizinisch-soziale Indikation die Fälle der embryopathischen Indikation vollständig auffängt, was wie gezeigt nicht stimmt. Darüber hinaus ist zu bedenken, dass eine Befristung im Ergebnis den Schutz behinderter Föten auch verschlechtern könnte. Wird in der 21. Schwangerschaftswoche eine Behinderung des Kindes festgestellt, so wird die Schwangere, unter Umständen aus Angst, zukünftig keinen Abbruch mehr vornehmen zu können, einen Abbruch sofort durchführen lassen, ohne zu reflektieren, ob sie sich ein Leben mit einem behinderten Kind vorstellen könnte. Panikabbrüche, die nicht auf der 274 275
DGGG, Positionspapier 2003, S. 39. Zu der Frage, wann eine Benachteiligung „wegen“ einer Behinderung vorliegt vgl. 2. Kapitel E II 3.
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4. Kapitel: Verfassungsmäßigkeit der Rechtslage zum Spätabbruch
Grundlage einer tragfähigen wohlüberlegten Entscheidung beruhen und aus selektiven Erwägungen vorgenommen werden, drohen und führen dann zu einer Verschlechterung des Lebens- und Würdeschutzes behinderter Föten. Entschieden gegen die Setzung einer Frist von 22 Wochen spricht, dass ein solches Konzept auf der Annahme basierte, dass der Schutzanspruch des nasciturus vor dem Erreichen der extrauterinen Lebensfähigkeit signifikant geringer zu bewerten wäre als nach Erreichen dieser Eigenschaft. Wie bereits dargestellt, sind Würde- und Lebensschutz des nasciturus zu jedem Zeitpunkt der menschlichen Entwicklung in gleichem Maße zu gewährleisten. Ein drohender Abbruchsautomatismus stellt in der frühen Schwangerschaft ebenso eine Gefährdung der Menschenwürde und des Lebens sowie des Gleichheitsgebots aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG dar wie in der Spätphase und bedarf ebenso einer Reaktion des Gesetzgebers. Eine Befristung der Schwangerschaftsabbrüche wäre mit diesem Abstufungsverdikt nicht vereinbar und ist daher aus verfassungsrechtlichen Gründen abzulehnen. 3. Anwendung der §§ 211 ff. ab extrauteriner Lebensfähigkeit Teilweise wird es für unzeitgemäß erachtet, die Grenze zwischen Tötungs- und Schwangerschaftsabbruchsdelikten im Zeitpunkt der Eröffnungswehen zu sehen und es wird de lege ferenda eine Ausdehnung der §§ 211 ff. StGB auf den Zeitpunkt der extrauterinen Lebensfähigkeit befürwortet.276 Begründet wird dies damit, dass mit der heutigen Entwicklung der pränatalen Diagnostik und der Fetaltherapie die Geburt an Bedeutung verloren habe. Früher sei die Leibesfrucht unsichtbar und die Schwangere eine Art „Wundertüte“ gewesen, bei der man nicht gewusst habe, was zum Vorschein kommen werde. In der heutigen Zeit sei das Ungeborene aber gerade kein Unbekannter mehr.277 De lege ferenda sei es angesichts dieser modernen Entwicklung sinnvoller, eine Abgrenzung nach der Lebensfähigkeit und nicht nach dem Beginn der Geburt vorzunehmen. Für vorteilhaft wird befunden, dass bei einer solchen Regelung die Versuchung zum Spätabbruch beseitigt würde.278 Außerdem wird argumentiert, dass der Zeitpunkt des Geburtsbeginns durch den mütterlichen Organismus oder durch einen medizinischen Eingriff ausgelöst werde. Ein solcher Prozess, der unabhängig vom Schutzobjekt sei, könne keine geeignete Zäsur für die Abgrenzung von Schwangerschaftsabbruchs- und Tötungsdelikten darstellen. Vielmehr sei der Reifegrad des Ungeborenen geeigneter Anknüpfungspunkt.279 Zum einen basiert dieser Vorschlag wiederum auf der fehlerhaften Annahme, dass das ungeborene Leben vor Erreichen der extrauterinen Lebensfähigkeit weniger schutzwürdig ist als nach Erreichen dieser Eigenschaft.
276 277 278 279
Gropp, GA 2000, S. 1 ff.; ähnlich: Hirsch, JR 1985, S. 340; Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht BT 1, § 1 Rn. 9; Satzger, Jura 2008, S. 427. Gropp, GA 2000, S. 9. Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht BT 1, § 1 Rn. 9. Lüttger, JR 1971, S. 134.
&bQGHUXQJVEHGUIWLJNHLWGHV$EV6FK.*
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Zum anderen ist nochmals darauf hinzuweisen, dass die gesamte Phase der Schwangerschaft durch die besondere Situation der Zweiheit in Einheit gekennzeichnet ist, die bis zum Beginn der Geburt besteht und nicht schon mit einer rein theoretisch bestehenden extrauterinen Lebensfähigkeit endet. Die §§ 218 ff. StGB tragen dieser besonderen Situation in angemessener Weise Rechnung. Eine Gesetzesänderung dahingehend, dass die §§ 211 ff. ab extrauteriner Lebensfähigkeit anzuwenden sind, ist daher abzulehnen. 4. Ergebnis Der nasciturus ist vor und nach Erreichen der extrauterinen Lebensfähigkeit in gleichem Maße schutzwürdig. § 218a Abs. 2 StGB differenziert daher zu Recht nicht zwischen frühen und späten Schwangerschaftsabbrüchen und steht mit dem Abstufungsverdikt des Bundesverfassungsgerichts im Einklang.
V. Fazit Im Ergebnis ist die in § 218a Abs. 2 StGB vorgenommene Abwägung der Rechtsgüter von Mutter und Kind, die in zeitlicher Hinsicht nicht differenziert, im Kern nicht zu beanstanden. Der verfassungsrechtlich gebotene Schutz des nasciturus erweist sich allerdings insofern als nicht hinreichend effektiv, als die Indikationsstellung mangels hinreichender Kompetenz des Gynäkologen nicht zuverlässig vorgenommen werden kann. Die Hinzuziehung eines Facharztes für Psychiatrie, Psychosomatik oder eines Psychologen ist daher unbedingt erforderlich. Die Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht des Gesetzgebers erfordert es weiterhin, statistisch zu erfassen, ob ein Abbruch auf einem embryopathischen Befund basierte. Darüber hinaus ist eine Normierung des Fetozids mit vorangehender Narkose schon aus Gründen der Humanität geboten.
C. Änderungsbedürftigkeit des § 12 Abs. 2 SchKG Abschließend soll die Änderungsbedürftigkeit des § 12 Abs. 2 SchKG in den Blick genommen werden. Nicht die Schutzbedürftigkeit des nasciturus, sondern die Schutzbedürftigkeit des die Schwangerschaft abbrechenden Arztes steht hier im Vordergrund. Das Fünfte Strafrechtsreformgesetz von 1974280 beinhaltete eine Fristenregelung mit Beratungspflicht und stellte daher Schwangerschaftsabbrüche, die von einem Arzt vorgenommen wurden, in wesentlich weiterem Umfang als bislang straflos. Den daraus resultierenden Befürchtungen der Ärzteschaft wurde durch Art. 2 des Fünften Strafrechtsreformgesetzes Rechnung getragen, der folgendermaßen lautete: 280
BGBl. I S. 1297.
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„(1) Niemand ist verpflichtet, an einem Schwangerschaftsabbruch mitzuwirken. (2) Absatz 1 gilt nicht, wenn die Mitwirkung notwendig ist, um von der Frau eine nicht anders abwendbare Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung abzuwenden.“
Straf-, zivil-, arbeits- und öffentlich-rechtliche Folgen für den betroffenen Personenkreis sollten durch diese Norm vermieden werden.281 Man wollte die Ärzte zu nichts verpflichten, was sie vor ihrem Gewissen nicht verantworten konnten. Das Schwangeren- und Familienhilfegesetz aus dem Jahr 1992282 ließ diese Norm unberührt. Durch das Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz aus dem Jahr 1995283 wurde dieser Artikel durch den gleichlautenden § 12 des Schwangerschaftskonfliktgesetzes ersetzt. Die Begründungen der Gesetzesentwürfe enthielten hierzu lediglich den Hinweis, dass § 12 SchKG dem Artikel 2 des 5. StrRG entspreche. Sinn und Zweck dieser Norm erläuterte auch das Bundesverfassungsgericht im zweiten Urteil zum Schwangerschaftsabbruch: „Der Arzt kann die ihm im Schutzkonzept einer Beratungsregelung zukommende Funktion nur zuverlässig wahrnehmen, wenn ihm aus seiner Weigerung, Schwangerschaftsabbrüche vorzunehmen, grundsätzlich keine rechtlichen oder tatsächlichen Nachteile erwachsen. Auch fällt das Recht, die Mitwirkung an Schwangerschaftsabbrüchen – mit Ausnahme medizinisch indizierter – zu verweigern, in den Schutzbereich seines durch das ärztliche Berufsbild geprägten Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 12 Abs. 1 GG). Dem hat der Gesetzgeber mit Art. 2 des 5. StrRG Rechnung getragen. Diese Vorschrift ist bei Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Regelung des Schwangerschaftsabbruchs vertraglich nicht abdingbar. Die §§ 627, 628 BGB sind unter Berücksichtigung des Weigerungsrechts anzuwenden. Auch wenn ein Arzt in abhängiger Stellung sich generell weigert, nicht medizinisch indizierte Schwangerschaftsabbrüche vorzunehmen, dürfen sich für ihn daraus regelmäßig keine beruflichen Nachteile ergeben; eine Kündigung des Arbeitsverhältnisses kann auch dann nur ausnahmsweise in Betracht kommen, wenn der Arbeitgeber keine andere Möglichkeit hat, den Arzt zu beschäftigen. Die fachärztliche Ausbildung darf an der Weigerung des Arztes, sich in dem beschriebenen Umfang an Schwangerschaftsabbrüchen zu beteiligen, nicht scheitern.“284
Das Bundesverfassungsgericht leitet das Weigerungsrecht erstaunlicherweise ausschließlich aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 12 Abs. 1 GG ab und nimmt nicht auf die Gewissenfreiheit des Art. 4 Abs. 1 GG Bezug, obwohl sich dieser Bezug geradezu aufdrängt.285 In der Regel wird das Weigerungsrecht wegen einer Gewissensnot geltend gemacht. Von einer Pflicht, die Gewissensgründe darzule-
281 282 283 284 285
Nachweis bei Maier, NJW 1974, S. 1404 ff., 1405 Fn. 11. BGBl. I S. 1398. BGBl. I S. 1050, Art. 1 und 9 Abs. 3. BVerfGE 88, 203 (294). Büchner, ZfL 2008, S. 4; Im Gesetzgebungsverfahren des 5. StrRG wollte man der Gewissensfreiheit des Arztes Rechnung tragen. Vgl. dazu: Maier, NJW 1974, S. 1404 ff.
&bQGHUXQJVEHGUIWLJNHLWGHV$EV6FK.*
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gen, hat der Gesetzgeber allerdings bewusst abgesehen, so dass eine Weigerung unabhängig vom Motiv begründungslos möglich ist.286 Eingeschränkt wird das Weigerungsrecht des § 12 Abs. 2 SchKG aber dann, wenn die Mitwirkung notwendig ist, um von der Frau eine anders nicht abwendbare Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung abzuwenden. Da eine bereits übernommene Behandlung der Schwangeren eine Garantenpflicht begründet, kann eine Weigerung eine Strafbarkeit nach §§ 211 ff., 223 ff. StGB auslösen. Liegt eine Garantenstellung nicht vor, kommt eine Strafbarkeit gemäß § 323c StGB in Betracht.287 Nach der gesetzgeberischen Konzeption erfasst § 12 Abs. 2 SchKG die Fälle des § 218a Abs. 2 StGB. Eine Lebens- und Gesundheitsgefahr im Sinne des § 218a Abs. 2 StGB ist aber nicht nur in den Fällen einer engen medizinischen Indikation gegeben, sondern auch dann, wenn aus einer diagnostizierten Behinderung des Kindes oder aus sonstigen Lebensumständen eine schwerwiegende psychische Gesundheitsgefahr oder Suizidgefahr resultiert. Bei stringenter Anwendung des § 12 Abs. 2 SchKG wäre das Weigerungsrecht des Arztes in all diesen Fallkonstellationen beschränkt. Entgegen dem Wortlaut der Norm wollen die Kommentierungen das Weigerungsrecht des Arztes nur in den Fällen der engen medizinischen Indikation beschränken, bei denen eine akute Gefahr droht.288 Embryopathisch motivierte Schwangerschaftsabbrüche, die auf der Grundlage der medizinisch-sozialen Indikation vorgenommen werden und häufig im Spätstadium der Schwangerschaft durchgeführt werden, zählen dazu in der Regel nicht. Auf verfassungsrechtlicher Ebene stehen bei Vorliegen einer medizinischsozialen Indikation die Gewissensfreiheit des Arztes und sein Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 12 Abs. 1 GG dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit der Schwangeren gegenüber. Die Gewissensfreiheit ist durch kollidierende Verfassungsgüter wie beispielsweise durch die infrage stehenden Rechtsgüter der Mutter einschränkbar.289 286 287 288 289
Maier, NJW 1974, S. 1406. Fischer, § 218a Rn. 11. Fischer, § 218a Rn. 11; Kröger, in: LK-StGB, § 218a Rn. 78; Merkel, in: NK-StGB, § 218a Rn. 165; Wirth, Spätabtreibung, S. 34. Büchner geht jedoch davon aus, dass sich ein Vorrang der Gesundheit und des Lebens der Schwangeren vor der Gewissensfreiheit des Arztes nicht begründen lasse, da es um eine Gewissensentscheidung gehe, die es verbiete, das vor unserer Verfassung gleichwertige Leben eines ungeborenen Kindes zu töten, um das eines anderen Menschen zu retten. Vgl. Büchner, ZfL 2008, S. 8. Berücksichtigt man jedoch die gesetzgeberische Wertentscheidung, die aufgrund der Singularität des Schwangerschaftskonflikts in den Fällen schwerwiegender Gesundheitsgefahren der Gesundheit der Mutter den Vorrang vor dem Schutz des ungeborenen Lebens einräumt, so erscheint es durchaus legitim, die Gewissensfreiheit des Arztes hinter dem Recht der Frau auf Leben und körperliche Unversehrtheit zurücktreten zu lassen. Kröger, in: LK-StGB, § 218a Rn. 79. Klarstellend ist hier nochmals darauf hinzuweisen, dass diese Wertentscheidung nicht eine geringere Schutzwürdigkeit des ungeborenen Lebens im Vergleich zum geborenen Leben bedeutet.
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Zu beachten ist allerdings, dass zwischen den verschiedenen Fallgruppen der medizinisch-sozialen Indikation Unterschiede bestehen, denen Rechnung getragen werden muss. Zum einen gibt es zweifelsohne Fälle, in denen eine akute Gefahr für das Leben der Schwangeren besteht, die ein unverzügliches Handeln des Arztes erforderlich macht. Vor allem in Fällen, in denen eine Behinderung des Kindes festgestellt wurde, ist es aber möglich, dass die Frau mit der Pflege des Kindes derart überfordert ist, dass sich eine physische Gefahr erst mit dem Geborensein des Kindes manifestiert, aber bereits während der Schwangerschaft absehbar ist. In diesen Fällen ist ein sofortiges Tätigwerden des Arztes nicht erforderlich und es ist der Schwangeren zumutbar, einen anderen Mediziner aufzusuchen.290 Die Gewissensfreiheit und das Persönlichkeitsrecht des Arztes wären verletzt, wenn er dennoch zu einem Schwangerschaftsabbruch gezwungen wäre. Zu beachten ist allerdings, dass im Einzelfall eine akute Lebensgefahr auch aus einem embryopathischen Befund resultieren kann. Auch in diesen Fällen muss das Weigerungsrecht des Arztes ausgeschlossen sein. Aus diesen verfassungsrechtlichen Überlegungen werden die Kommentierungen verständlich, die § 12 Abs. 2 SchKG nur auf die Fälle der engen medizinischen Indikation anwenden wollen, in denen in der Regel eine akute Lebens- oder Gesundheitsgefahr besteht. Aus dem Gesetzestext ergibt sich eine Beschränkung auf akute Gefahren jedoch nicht, was zu einer Verunsicherung der Ärzte führt. Von Seiten der Ärzteschaft wurde bereits 1998 gefordert, dass die gesetzlichen Voraussetzungen dafür geschaffen werden sollen, „dass das Weigerungsrecht, an einem Schwangerschaftsabbruch mitzuwirken, ausschließlich für die Fälle „unmittelbarer“ Lebensgefahr der Schwangeren aufgehoben ist“.291 In dem Antrag der CDU/CSU „Vermeidung von Spätabtreibungen – Hilfen für Eltern und Kinder“ aus dem Jahr 2005 wurde angeregt, das Weigerungsrecht der Ärzte nur für die Fälle „unmittelbarer“ Lebens- und Gesundheitsgefahr zu beschränken.292 Der Antrag fand allerdings keine Mehrheit. Die Bundesärztekammer und die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe forderten in ihrem Vorschlag zur Ergänzung des Schwangerschaftsabbruchsrechts aus medizinischer Indikation den Bundestag erneut auf, § 12 Abs. 2 SchKG dahingehend zu ergänzen, dass das Weigerungsrecht an einem Schwangerschaftsabbruch mitzuwirken nur dann aufgehoben ist, wenn eine „unmittelbare“ Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung besteht.293 Bislang konnte sich diese Ergänzung des § 12 Abs. 2 SchKG nicht durchsetzen. Im Hinblick auf die Gewissensfreiheit und das Persönlichkeitsrecht des medizinischen Personals erscheint eine solche Klarstellung aber unbedingt erforderlich.
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Hofstätter, Der embryopathisch motivierte Schwangerschaftsabbruch, S. 339. BÄK, DÄBl. 1998, S. A-3016; ebenso Reimers (EKD), Stellungnahme 2005. BT-Drs. 15/3948, S. 5. BÄK/DGGG 2006, S. 120, 129.
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D. Ergebnis Aufgrund der einzigartigen Situation der Zweiheit in Einheit während der gesamten Dauer der Schwangerschaft ist es aus verfassungsrechtlicher Sicht richtig, im Falle einer Lebens- oder schwerwiegenden Gesundheitsgefahr der Mutter von einer Austragungspflicht des Kindes abzusehen, wie es § 218a Abs. 2 StGB vorsieht. Diese einzigartige Konfliktsituation der Schwangerschaft könnte man dadurch betonen, dass man die Regelungen der §§ 218 ff. StGB aus dem Abschnitt der Tötungsdelikte ausgliedert und in einem gesonderten Abschnitt des Strafgesetzbuchs würdigt. Die an sich in § 218a Abs. 2 StGB richtige Ausbalancierung der Grundrechte des Fötus und der Schwangeren gerät aber ins Wanken, wenn das Gesetz durch Private missachtet wird und in der Praxis ein embryopathischer Befund automatisch zu einem Schwangerschaftsabbruch führt. Diese Selektion wird zum einen durch behindertenfeindliche Einstellungen in der Gesellschaft begünstigt. Zum anderen vermitteln die vielfältigen pränatalen Diagnosemöglichkeiten den Schwangeren einen vermeintlichen Anspruch auf ein gesundes Kind. Ein solcher Abbruchsautomatismus bedeutet einen Verstoß gegen die Menschenwürde, gegen das Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG und das Lebensrecht des nasciturus. Zeigt sich ein solcher Automatismus, ist der Gesetzgeber gefordert, hinreichend effektive Schutzmaßnahmen zu Gunsten des nasciturus zu treffen. Am 13. Mai 2009 hat der Gesetzgeber auf diesen Misstand bereits reagiert. Die beschlossenen Maßnahmen bewirken eine bessere Informiertheit der Schwangeren in Bezug auf das Leben mit einem behinderten Kind und bestehende Hilfsangebote und führen durch eine verstärkte psychosoziale Beratung zu einer Entlastung der Schwangeren im emotionalen Bereich. Die Einführung einer dreitägigen Bedenkzeit dient schließlich der Informationsverarbeitung und verhindert im Schockzustand getroffene Entscheidungen. Insgesamt sind diese Maßnahmen, die nicht zwischen frühen und späten Abbrüchen differenzieren, geeignet, die Schwangere zur Austragung eines behinderten Kindes zu ermutigen. Sie verbessern den Lebens- und Würdeschutz des behinderten Föten und wirken Verstößen gegen das Benachteiligungsverbot entgegen. Ob durch diese Maßnahmen ein hinreichend effektiver Schutz im Sinne des Untermaßverbots erreicht wurde, konnte nur durch eine umfassende Prüfung von weiterhin bestehenden Regelungsmängeln und der Erörterung von Regelungsalternativen beurteilt werden. Als änderungsbedürftig erwiesen sich die folgenden Aspekte: Festgestellt wurde, dass die nach § 218a Abs. 2 StGB erforderliche Beurteilung des Bestehens einer schwerwiegenden psychischen Gesundheits- und Lebensgefahr unter Berücksichtigung der gegenwärtigen und zukünftigen Lebensverhältnisse dem Gynäkologen oder Humangenetiker, der die Indikation stellt, allein nicht möglich ist. Die Hinzuziehung eines Facharztes für Psychiatrie, Psychosomatik oder eines Psychologen ist für eine korrekte Indikationsstellung im Sinne des § 218a Abs. 2
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StGB unbedingt erforderlich und durch die verfassungsrechtliche Schutzpflicht des Staates aus Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 2 S. 1, 3 Abs. 3 GG geboten. Nach § 2a Abs. 2 S. 1 SchKG ist daher folgender Satz 2 einzufügen: „Vor Indikationsstellung ist ein Facharzt für Psychiatrie oder Psychosomatik oder ein Psychologe hinzuzuziehen.“
Um einen vermeintlichen Anspruch auf ein gesundes Kind nicht zu fördern und den gesellschaftlichen Druck auf die Schwangere nicht zu verstärken, sind die Ärzte durch standesrechtliche Regelungen zu einem verantwortungsbewussten Umgang mit der Pränataldiagnostik zu mahnen. Regelungsmängel bestehen weiterhin bezüglich der Statistik, die für die Kontrolle des gesetzgeberischen Schutzkonzepts unerlässlich ist. Um das Bestehen eines Abbruchsautomatismus nach einem pathologischen Befund bei Pränataldiagnostik zu erkennen und gegebenenfalls nachbessern zu können, ist es unerlässlich, statistisch zu erfassen, ob ein Abbruch auf einem embryopathischen Befund basierte. § 16 Abs. 1 Nr. 7 SchKG ist daher um folgende Nr. 8 zu ergänzen: 8. vorgeburtlich diagnostizierte Fehlbildung des Embryos oder des Fötus oder Auffälligkeiten im Genom.
Einer in der Spätphase wahrscheinlich bestehenden Schmerzempfindlichkeit des Föten sollte bei embryopathisch motivierten Schwangerschaftsabbrüchen, bei denen der Tod des Fötus gewollt ist, schon aus Gründen der Humanität durch eine standesrechtliche oder gesetzliche Etablierung des Fetozids mit vorangehender Narkose Rechnung getragen werden. Da ein Schwangerschafts(spät)abbruch eine enorme psychische Belastung für den behandelnden Arzt darstellt, sollte in § 12 Abs. 2 SchKG klargestellt werden, dass nur eine akute Gefahr für die werdende Mutter den Arzt zur Vornahme eines Schwangerschaftsabbruchs verpflichtet. Die vom Bundestag beschlossenen Änderungen zur Vermeidung von Spätabbrüchen und die hier ergänzenden Vorschläge ändern an der grundsätzlichen Erlaubtheit der Spätabbrüche bei Vorliegen einer medizinisch-sozialen Indikation nichts. Der Kern der bestehenden Rechtslage blieb unberührt. Da das Tötungsgeschehen in der Spätphase der Schwangerschaft sichtbarer ist und Spätabbrüche „schlimmer“ zu sein scheinen als Abbrüche zu einem früheren Zeitpunkt, ist zu erwarten, dass weiterhin auf einer sehr emotionalen Ebene ein Verbot oder eine Einschränkung von Spätabbrüchen gefordert werden wird. Diese Forderungen basieren aber letztlich auf der Annahme, dass das ungeborene Leben vor Erreichen der extrauterinen Lebensfähigkeit weniger schutzwürdig ist als danach. Mit dem Verfassungsrecht sind diese Forderungen nicht in Einklang zu bringen. Wie gezeigt gründet sich der Grundrechtsstatus des Menschen allein auf seine Spezieszugehörigkeit. Bereits ab Befruchtung ist er als Würdeträger und als Träger des Lebensrechts anzusehen. Darüber hinaus wird er vor Benachteiligungen i. S. d. Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG geschützt. Gestufte Schutzkonzepte sind mit dieser Vorstellung nicht in Einklang zu bringen.
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Entschieden zu widersprechen ist daher dem Bestreben, eine befristete embryopathische Indikation wieder einzuführen oder erhöhte Anforderungen an die medizinisch-soziale Indikation in der Spätphase der Schwangerschaft zu stellen. Darüber hinaus ist auch der Vorschlag, die §§ 211 ff. StGB ab Erreichen der extrauterinen Lebensfähigkeit des nasciturus anzuwenden, abzulehnen. Weitere Maßnahmen, die die werdende Mutter durch Beratung und Hilfe zur Austragung des Kindes ermutigen und dadurch den Schutz des nasciturus verbessern, sind zu begrüßen. An der grundsätzlichen Erlaubtheit von Spätabbrüchen bei Vorliegen einer medizinisch-sozialen Indikation sollte sich aber auch in Zukunft nichts ändern.
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