Manfred H. Rückert
Merlins Mörder Professor Zamorra Hardcover Band 5
ZAUBERMOND VERLAG
Ein Sprichwort besagt, dass jeder Mensch irgendeine Leiche im Kel ler hat. Professor Zamorra kann über diesen Spruch nicht lachen, denn als er mit einem Begleiter über die Regenbogenblumen vom Zaubergarten Broceliande heimkommt, hat er tatsächlich eine Leiche im Keller, nämlich die seines Mentors Merlin. Für die Polizei ist Za morra der erste Tatverdächtige, da er sich vor seiner Abreise nach weislich mit dem alten Zauberer gestritten hat. Bald zweifelt Zamor ra selbst an seiner Unschuld. Hat er seinen Freund wirklich ermor det? Und was hat der schwarze Blitz, der im Augenblick des Trans ports einschlug, mit diesem Mordfall zu tun? Nicole Duval, die Ge fährtin von Professor Zamorra, versucht das Rätsel zu lösen. Sie alarmiert die engsten Freunde, ihr bei diesem Fall zu helfen. Sogar Asmodis, der ehemalige Fürst der Finsternis, versucht, Licht in das Dunkel zu bringen. Und schlussendlich taucht ein Wesen auf, dem sogar der große Merlin Untertan war …
Vorwort Eine der Figuren, ohne die die Romanserie PROFESSOR Zamorra längst undenkbar ist, ist der legendäre Zauberer Merlin. Der Sage nach ist er das Kind des Teufels, und er soll König Artus geholfen haben, die Tafelrunde der zwölf Ritter aufzubauen. Doch wir kennen die Fakten: Merlin war schon sehr lange vorher auf der Erde aktiv. König Artus war nicht der erste, dem er hilfreich zur Seite stand. Aber Professor Zamorra wird möglicherweise der Letzte sein … Dieser Roman greift einen uralten Konflikt auf, den der ungleichen Brüder. Merlin als Lichtgestalt und Asmodis als der Dunkle gingen Jahrtausende lang getrennte Wege. Aber so wie der eine nicht aus schließlich das Böse in sich birgt, ist der andere nicht der immer währende absolut Gute. »Merlins Mörder« spielt in der Zeit nach Band 755 der Professor ZAMORRA-Heftserie, die seit 1974 14tägig im Bastei-Verlag er scheint. In Band 746 versuchte der oft jähzornige Asmodis, seinen Bruder Merlin zu töten, in Band 750 wurde Asmodis schwer ver letzt, und Merlin gewährte ihm den Aufenthalt in seiner privaten Regenerationskammer, um von diesen Verletzungen wieder zu ge nesen. Kaum wieder fit, wird Asmodis in einen Strudel von Ereignissen gezogen, die mit Merlins Verschwinden ihren Anfang nehmen und ihre Ursache in einem Geschehnis in längst vergessener Zeit haben. Und plötzlich hat der zwischen die Fronten geratende Professor Za morra im wahrsten Sinne des Wortes eine Leiche im Keller! – Vor ei nem Jahr erschien das erste Buch zur Bastei-Kultserie, und nach wie vor sind wir an Ihrer Meinung über unsere Romane interessiert und freuen uns auch über Ideen und Anregungen. Die Bücher sollen er
gänzen und vertiefen, sollen Themen aufgreifen, die in der Heftserie keinen Platz finden oder durch den zügigen Fortlauf der Handlung zwangsläufig vernachlässigt werden müssen. Schreiben Sie uns, entweder per Brief an den Zaubermond-Verlag, oder auch an die Leserbriefseite der Heftserie des Bastei-Verlags – oder per E-Mail an
[email protected]. Und wenn Sie mehr über Professor Zamorra wissen wollen, über bisherige und künftige Bü cher, finden Sie ausführliche Informationen, Autorenporträts, Lese proben usw. im Internet unter http://www.zaubermond.de. Dort finden Sie zudem auch Informationen über das weitergehende, umfangrei che Verlagsprogramm in Sachen Mystery, Grusel und Horror. Tschüss bis demnächst – Ihr und euer Werner K. Giesa Alten Stadt, im März 2003
Meiner Frau Dagmar gewidmet; ohne sie wäre diese Geschichte nicht geschrieben worden.
»Wenn der Himmel grau ist und der Mond Hass verstrahlt, werde ich kommen um dich zu holen, die Erde wird in ihren Grundfesten erschüttert …« Creedence Clearwater Revival, 1969: ›Sinister Purpose‹ »Tod auf zwei Beinen, du reißt mich auseinander. Tod auf zwei Beinen, du hattest niemals ein eigenes Herz …« (Du hattest keim von Anfang an) Queen, 1975: ›Death on 2 legs (Dedicated to …)‹ Der EINBEINIGE: »Das ist schön von Dir, Beckmann. Dann kann man doch in Ruhe tot sein, wenn wenigstens einer an mich denkt, wenigstens mein Mörder – hin und wieder nur – nachts manchmal, Beckmann, wenn du nicht schlafen kannst. Dann kann ich wenigs tens in aller Ruhe tot sein.« Wolfgang Borchert * 1921, † 1947: ›Draußen vor der Tür‹
Einstimmung Unruhige Feuer waberten hin und her und sorgten jeden Augen blick für neue Lichtverhältnisse. Dicker, schwarzroter Rauch quoll empor, der von Blut gefärbt schien. Schmerzensschreie, die niemals enden wollten, erfüllten diesen Ort. Sie hallten von den Wänden wi der und kamen als vielfaches Echo zurück. Gwin saß auf einem Felsen, der sich hoch über den Tümpeln der brennenden Seelen erhob. Der übergroße Stein, den sie Jahrtausende nicht mehr besuchen konnte, war ihr Lieblingsplatz. Wenn sie hier oben hockte, trieben ihre Gedanken in die Unendlichkeit, und sie spürte einen Hauch von Macht. Sie lächelte, während ihr Blick über die schier endlose Ödnis bis an den Horizont schweifte. Über ihr er streckte sich ein glühender Himmel ohne Sonne. Unter ihr befanden sich tausende Meter hohe Berge, an deren Grund niemals die Seelen feuer erloschen. Wie lange war sie nicht mehr hier gewesen, und wie sehr hatte sie diesen Ort vermisst. Sie war überglücklich, diesen in ihren Ohren wunderschönen Tönen zu lauschen. Sie genoss die Qual der verlore nen Sünder, die im Seelenfeuer brannten. Hier war sie zuhause. Hier fühlte sie sich wohl. Im Gegensatz zu den gequälten Wesen, die sich unter ihr befan den. In jener Sphäre, die Gwin ihre Heimat nannte, glühten verlorene Seelen und schrien um Erlösung von ihrer Qual. Gespenstische Schemen huschten einher und verwirrten die Ewigverfluchten da mit; lenkten sie auf diese Weise ein wenig von ihren Schmerzen ab. Zeit und Raum spielten hier nur eine untergeordnete Rolle. Diese
Welt war instabil und damit ständigen Veränderungen unterworfen. Der unübersehbar große Canyon, über dem Gwin thronte, war einer der wenigen wirklich festen Bereiche. Gwin schenkte den schreienden Seelen nur einen spöttischen Blick. Dann schloss sie die Augen und seufzte wohlig dabei. Sie ge noss die Klagen und das Wimmern, als wären sie wohlklingende, glücklich machende Musik. Jetzt konnte sie wieder Freude daran finden, nach diesen unzähli gen Jahren voller Schmerzen … Sie wirkte dabei wie eine Menschenfrau mit ihrer dunkelbraunen Haut, den schwarzroten Augen und den hüftlangen, lockigen schwarzen Haaren. Einzig die gewaltigen Schwingen, die aus ihrem Rücken empor wuchsen, sowie spitze, gewundene Hörner aus beiden Seiten der Stirn verrieten, dass sie einer fremden Spezies angehörte. Sie war kein Mensch. Bis auf das Aussehen besaß sie nicht viel Menschliches. Dabei hät te sie auf der Erde als beispiellose Schönheit gegolten. Sie war das Böse an sich. Menschen nannten die Welt, in der sie sich befand, ahnungslos die Hölle, und sie erzählten schaurige Legenden um sie herum. Nur we nige Wesen gab es, wie Professor Zamorra und seine Gefährtin Ni cole Duval oder die Silbermond-Druiden Gryf ap Llandrysgryf und Teri Rheken, die jemals aus den Schwefelklüften, den sieben Kreisen der Hölle, wieder zurückgekehrt waren in die Sphäre der Lebenden, und auch sie vermochten nicht genau zu sagen, worum es sich bei dieser Welt wirklich handelte. Richtungen spielten keine Rolle, und Zeit war ohne Bedeutung. Sie existierte, sie verstrich, aber sie war unwichtig. Das, was die Men schen Hölle nannten, war eine in sich geschlossene, komplexe Welt. Sie existierte am gleichen Ort und war doch nur für wenige erreich bar, die wussten, wie diese Barriere zu überwinden war. Für die we
nigen, die die Tore zu den Schwefelklüften kannten. Die Hölle war teilweise instabil und variabel, veränderte ihr Aussehen und ihre Struktur ständig. Wo heute noch Wege waren, konnte morgen das absolute Nichts sein, und übermorgen konnte dort eine Stadt em porwachsen … Hier war die Welt der Dämonen und Teufel. Hier residierten die Clanführer der Schwarzen Familie. Von hier aus zog Rico Caldero ne, Satans Ministerpräsident, der neue Herr der Schwefelklüfte, die Fäden, an denen die Menschen zappelten wie Marionetten, wenn sie einmal der dunklen Seite verfielen. Und hier lebte die Geflügelte Gwin, die Uralte, die den Chor der brennenden Seelen so sehr ge noss. Tief atmete sie durch und sog dabei den Schwefeldampf ein, der Sekunden später wieder durch die Nase ausgestoßen wurde und da bei eine grünliche Färbung annahm. Bevor sich der ausgeatmete Schwefeldampf völlig verflüchtigte, schlug er sich ein bisschen auf den Felsen über ihrem Kopf nieder und verlieh ihnen kurz ein glänzendes Aussehen. Bei den hier herr schenden, ständig wechselnden Licht- und Schattenverhältnissen wirkte es faszinierend und unheimlich zugleich. Sie summte mit, als wäre das Schreien rhythmische, trotzdem me lodienreiche Musik. Nach kurzer Zeit öffnete sie den Mund und ersetzte das Summen durch drohendes Fauchen. Zuerst nur leise, fast schon zärtlich, dann immer lauter werdend, schließlich zum Crescendo steigernd. Die einher huschenden Schemen unterbrachen für Sekunden ihre Arbeit. Sie blickten zu Gwin empor, die weit über ihnen thronte. Als sie bemerkten, dass ihnen keine Gefahr drohte, wandten sie sich wieder ihrer Aufgabe zu. Die brennenden Seelen hingegen schrien umso mehr. Sie winselten verstärkt um Gnade, obwohl sie wussten, dass es keine Erleichte rung für sie geben würde. Nie mehr.
Dafür hatten sie in ihrem vorherigen Leben zuviel Schuld auf sich geladen. Gwin kümmerte sich weder um die Schemen noch um die Seelen. In diesen Augenblicken war sie mit ihren Gedanken weit von hier entfernt. Sie hielt immer noch die Augen geschlossen, und trotzdem konnte sie alles erkennen, was in dieser manchmal nach oben offenen Höhle vor sich ging. Doch das wollte sie überhaupt nicht. Der Chor der Brennenden diente nur dazu, dass sie Kräfte sammeln und sich besser auf ihr Vorhaben konzentrieren konnte. Sie lächelte auf eine Art, die nichts Gutes verhieß. So lange hatte sie warten müssen. Jahrtausende glaubte sie nicht mehr daran, dass sich ihr sehnlichster Wunsch erfüllen würde. Und jetzt war es so weit, dass sie die nächste Phase ihres Planes starten konnte. Die ersten leichten Angriffe hatte sie in den vergangenen Tagen vollführt. Jetzt war die Zeit reif für weitere Attacken. Sie spürte, dass ihr Opfer seine Behausung verließ. Es wollte einen geheimen Ort aufsuchen, an dem es vor Gwins Rache sicher war. Obwohl es nicht wissen konnte, dass Gwin hinter den kleinen Ge meinheiten steckte. Mit einem bedauernden Blick sah sich Gwin um. Sie würde ihrem Opfer zu seinem Zufluchtsort folgen müssen und sie vermisste den Seelenchor schon jetzt. »Aber ich werde schon bald wieder zurück sein«, flüsterte sie ih ren Lieblingen zu. Und dabei wirkte sie wie eine Mutter, die sich um ihre ungerate nen Sprösslinge sorgte.
Obwohl Wärme den Saal des Wissens erfüllte, schien ein eiskalter
Wind durch den Raum zu wehen, in dem die große Bildkugel über einem Sockel frei in der Luft schwebte. Nur Unsterbliche waren in der Lage, diesen riesigen Saal ungefährdet zu betreten; jeder Sterbli che verlor auf der Stelle sein Leben. Es war eine Absicherung, die keiner von Merlins Freunden verstand, die aber zuverlässig verhin derte, dass Unbefugte den Saal und seine magischen Einrichtungen missbrauchten. Ein etwas mehr als sechs Fuß großer Mann in nacht schwarzer Kleidung, den man als gutaussehenden Mittvierziger mit den strengen Gesichtszügen eines südländischen Machos eingestuft hätte, materialisierte vor der Bildkugel, mit der jeder Ort und jede Person auf der Erde beobachtet werden konnten. Das dunkle Haar trug er glatt nach hinten gekämmt und in einem kurzen Zopf en dend, der von einem schwarzen Lederriemen zusammengehalten wurde. Das Gesicht des Mannes wurde dominiert von tiefschwarzen Augen, die alles Licht zu schlucken schienen, und von dichten Au genbrauen, die wie zwei Bürsten aussahen, von der jede bei Bedarf ein Eigenleben zu führen vermochte. Schmale, zu einem überhebli chen Lächeln verzogene Lippen und eine etwas zu groß geratene Adlernase rundeten den düsteren Eindruck ab. Einst war dieser Mann der Fürst der Finsternis gewesen. Er hatte länger auf dem Höllenthron gesessen als jeder andere vor oder nach ihm. Damals nannte er sich Asmodis … Doch diesen Namen hatte er schon vor vielen Jahren abgelegt. Langsam und nachdenklich blickte Sid Amos – so nannte sich der ehemalige Höllenfürst nach seiner Abdankung, nur nannten ihn fast alle anderen noch bei seinem Höllennamen – in die Bildkugel hin ein. Er hoffte, eine Spur seines Bruders Merlin zu finden. Unter normalen Umständen hätte die Bildkugel sofort anzeigen müssen, wo sich der uralte Zauberer befand. In diesem Fall jedoch blieb sie grau. Asmodis zog fragend eine Augenbraue hoch. Schon alleine dadurch wirkte er düsterer und gefährlicher, als es jeder Mensch vermocht hätte. Er verzog missmutig den Mund und schüttelte den Kopf.
»Was soll das denn bedeuten?«, fragte er sich im Selbstgespräch. Erneut versuchte er telepathisch, die Bildkugel zu aktivieren. Suche Merlin, dachte er. Ich muss wissen, wo er sich befindet. Und er musste ihn schnell finden. Die Regenerationskammer in Caermardhin hatte ihren Dienst eingestellt, und nur der alte Zaube rer konnte sie wieder aktivieren. Diese Kammer hatte ihm und Mer lin schon das Leben gerettet, und sie konnte nur von ihnen beiden betreten werden. Für Menschen, selbst für jene, die zu den Unsterb lichen gehören, war dies hier nicht geschaffen. Selbst Merlin wusste nicht, warum, denn nicht er, sondern der Wächter der Schicksals waage hatte einst diesen Teil der Einrichtung der unsichtbaren Burg Caermardhin geschaffen. Das Grau, das die Bildkugel erfüllte, begann sich zu drehen. Es wirkte, als hätte ein Maler verschiedene Grautöne verwendet und würde nun anfangen, mit einem überdimensionalen Pinsel die Far ben zu vermischen. Die Bildkugel drehte sich unaufhörlich, das Rauschen schien nicht mehr aufhören zu wollen. Das Grau schmerz te in den Augen, schon nach kurzer Zeit konnte es einen Menschen nervös und aggressiv machen. Doch der ehemalige Fürst der Finsternis war kein Mensch. Er war ein Gestaltwandler, wie es ihn kaum ein zweites Mal gab. Wie er wirklich aussah, wusste vermutlich nur sein Bruder. Zum wiederholten Male schüttelte Asmodis den Kopf. Diesmal eher aus Hilflosigkeit heraus. Er fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. Dann befahl er der Bildkugel, die Suche einzustel len. »Hat ja doch keinen Zweck«, knurrte er erbost. »Wenn ich ihn ein mal brauche, dann ist er unauffindbar.« Er wusste selbst, dass diese Aussage ungerecht war, doch in sei nem Zorn darüber, dass er seinen Bruder nicht fand, nahm er es, wie so oft, nicht so genau mit seinen Worten. »Und dabei gehört die Regenerationskammer noch nicht einmal
mir, und ich mache nur die Drecksarbeit für ihn.« Das stimmte so auch nicht ganz, aber Asmodis war auf seine eige ne Art dankbar dafür, dass sein Bruder ihn vor kurzem mittels der Regenerationskammer gerettet hatte. Damals brachte Asmodis Pro fessor Zamorra und dessen Gefährtin Nicole Duval direkt in die Hölle. Sie wollten herausfinden, ob Astardis, Satans ehemaliger Mi nisterpräsident, nicht ein Doppelgänger der DYNASTIE DER EWI GEN war, denn es hieß, dass der echte Astardis von Nicole Duval umgebracht worden wäre. Rico Calderone, Astardis' Nachfolger auf dem Höllenthron, ver letzte Asmodis dabei durch einen Schuss aus seiner dämonentöten den Spezialwaffe lebensgefährlich. Nicole Duval brachte Asmodis dann nach Caermardhin, wo er von Merlin in die Regenerations kammer gebracht wurde. Nach wochenlanger Genesungszeit war der Ex-Teufel wieder einsatzbereit. Es war also kein Wunder, dass Asmodis sich um die Kammer sorgte. Wieder spürte er den eiskalten Wind, oder eher einen eisigen Hauch, der durch Caermardhin zu wehen schien. Er drehte sich um und wollte wissen, woher dieses Gefühl kam, doch da war das Phä nomen schon wieder fort. »Sehr seltsam. Was soll man davon halten?« Er konnte sich keine Antwort auf die selbst gestellte Frage geben. Asmodis befahl der Bildkugel, die Insel Anglesey im Nordwesten von Wales zu zeigen. Dort lebte der Silbermond-Druide Gryf ap Llandrysgryf, einer der wenigen, der eine Generalerlaubnis zum Aufenthalt in Caermardhin besaß. Es gab nur wenige Wesen, die Merlin als Freunde bezeichnete. Ei ner davon war Gryf. Vielleicht besaß der Druide Informationen über Merlins derzeitigen Aufenthaltsort. In der Bildkugel erschien das Abbild von Gryfs Hütte. Nach einem zweiten Befehl konnte Asmodis in das Innere der Hütte sehen. Was er sah, war, wenn man Gryf kannte, alles andere als ungewohnt. Der über 8000 Jahre alte Silbermond-Druide lag, zusammen mit ei
ner attraktiven Frau, auf seinem Lager aus zahlreichen übereinander gepackten Fellen. Beide waren unbekleidet und sehr miteinander beschäftigt. Es handelte sich um die Art von Beschäftigung, die man normalerweise nicht im TV-Nachmittagsprogramm sehen sollte. Gryf zuckte zusammen, als habe er einen körperlichen Schlag er halten. »Was hast du?«, fragte die attraktive Brünette, die in seinen Ar men lag. »Ich weiß nicht genau«, bekannte Gryf nach einigen Sekunden. »Mir kam es so vor, als würde uns jemand beobachten …« »Wer sollte das schon tun?« Die Frau lachte und umarmte den Druiden. Asmodis ließ die Bildkugel-Verbindung zu Gryf deaktivieren. Es war logisch, dass Gryf seine Anwesenheit bemerkte, schließlich wa ren sie beide magische Wesen. Der ehemalige Fürst der Finsternis fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht. Obwohl er mit einem solchen Anblick in Gryfs Be hausung rechnen musste, war er doch erstaunt. Während er so da stand, hatte seine ganze Figur etwas von einer gespannten Bogen sehne, die schon im nächsten Augenblick losschnellen konnte. Selbst im Ruhezustand wirkte er gefährlich. »Da ist er also auch nicht«, stellte er grimmig fest. Ratlos setzte er sich vor der Bildkugel auf dem Boden nieder. Dann atmete er tief durch und schloss die Augen. Er benötigte eini ge Sekunden, bis er sich auf sein Ziel konzentrieren konnte. Er ließ seine übernatürlichen Sinne streifen. Zuerst in der näheren Umge bung der Burg Caermardhin, dann immer weiter fort. Nach einer halben Stunde schien ihn ein geistiger Blitz zu treffen. Er empfing eine Telepathiesendung höchster Stärke. Die Botschaft war so stark, dass selbst er Schmerzen beim Empfangen litt. ›Nun, wie findest du das, mein Freund? Mein ehemaliger … Freund … Ich habe dich selbst in deinem Heiligtum gefunden und niedergerungen.
Und das war noch nicht einmal alles. Ich habe nur einen Bruchteil meiner wirklichen Macht eingesetzt!‹ Asmodis' dunkle Augen waren mit einem Mal weit geöffnet, Un glaube stand in seinem Gesicht geschrieben. Für wen war diese Botschaft gedacht? Für Merlin? Und wer hatte sie gesandt? Asmodis war sicher, dass er den Absender der Botschaft kannte. Er musste diese Stimme schon einmal vernommen haben. Aber wann?, fragte er sich. Vor unendlich langer Zeit!, schienen seine Gedanken zu antworten. Zeit! Zeit! Zeit! Unendlich lange Zeit, echote es in ihm. Er kniff die Lippen zusammen und wirkte dabei wie ein Raubvo gel, der auf Beutejagd war. »Bruder, wo bist du?«, fragte er, doch er erhielt keine Antwort.
1. Die Stimme der Qual Es traf ihn wie ein Blitzschlag aus heiterem Himmel! Die Augen des am Zeitbrunnen stehenden Mannes weiteten sich vor Entsetzen, als hätten sie etwas Unglaubliches gesehen. Dann wurden sie aus druckslos; er starrte in die Unendlichkeit. Da war es schon wieder! Dieses Gefühl, als würde er auseinander gerissen. Der uralte Mann zuckte zusammen und presste die Hände gegen die Schläfen, als könnte er so die Schmerzen vertreiben. Er konnte ein Stöhnen nicht unterdrücken. Feuer schien, von seinem Kopf ausgehend, durch seinen Körper zu jagen, bis es alles in Sekundenschnelle erfüllte. Millionen winziger unsichtbarer Nadeln quälten ihn fast bis zur Bewusstlosigkeit. Der Schmerz raubte ihm schier den Atem. Jeder folgende Atemzug brannte wie Feuer in seinen Lungen. Dann glaubte er, dass er ersti cken müsste. Verzweifelt versuchte er mehrmals vergeblich, Luft in seine Lungen zu pumpen. Er öffnete den Halsverschluss seiner weißen, kapuzenlosen Kutte, als könnte er so mehr Luft bekommen. Natürlich wusste er, dass das nur eine Selbsttäuschung war, doch sah er im Augenblick keine an dere Möglichkeit, sich zu helfen. Er stützte sich mit einer Hand am Rand des Zauberbrunnens ab, doch war der magische Inhalt des Brunnens unerreichbar für ihn. Er krümmte und wand sich wie ein Wurm, der unter dem Absatz eines Menschen verendete. Sekunden erschienen ihm in diesem Zu stand wie Jahrhunderte. Die Schmerzen ließen nicht nach. Wellen von Übelkeit durchflute ten ihn. Er spürte, dass er sich nicht mehr lange auf den Beinen hal ten konnte.
Dann lag er übergangslos am Boden. Er hatte das Gefühl, dass sein Körper zerrissen war. Seine verzweifelten Gedanken konzentrierten sich auf das Zauberwasser im Brunnen. Es erschien ihm als letzte Hilfe. Doch nichts geschah. Vorerst nichts. Nach wenigen Sekunden hörte er das Klatschen von Wasser an den Innenrand des Brunnens und das Brausen des Windes. Oder war es der Luftmangel, der ihm dieses Brausen vorspiegelte? War es vielleicht nur das Rauschen in seinen Ohren? Magisches Wasser aus dem Zauberbrunnen schwappte hin und her, bis die Wellenbewegung so stark wurde, dass es über den Rand trat und eine Handvoll des kühlen Nasses auf sein Gesicht klatschte. Obwohl es nicht viel Wasser war, es half ihm, endlich seine Ab wehrkräfte einzusetzen. Ein tiefer Atemzug brachte Luft und damit Erleichterung im Kampf gegen den unbekannten Feind. Endlich brachte er die Kraft auf, sich mittels Magie zu wehren. Seine zitternden Hände beschrieben einen Halbkreis, der nach un ten geöffnet war. Um ihn herum entstand eine grünlich schimmern de Wand. Dies symbolisierte eine Schutzkuppel, unter der er sich verbergen konnte. Dazu murmelte er uralte Zaubersprüche, die hel fen sollten, diese Kuppel zu verstärken. Der Angriff war abgewehrt, der Schutz hielt stand, doch sein Kör per schmerzte so, als wäre er ausgepeitscht worden. Wie aus weiter Ferne vernahm er zuerst Gelächter und danach eine Stimme, aber das Pochen seines Herzens war so stark, dass er die telepathischen Worte zuerst nicht richtig verstehen konnte. ›Nun, wie findest du das, mein Freund? Mein ehemaliger … Freund … Ich habe dich selbst in deinem Heiligtum gefunden und niedergerungen. Und das war noch nicht einmal alles. Ich habe nur einen Bruchteil meiner wirklichen Macht eingesetzt!‹
Erneut ertönte das hämische Lachen, das in einem irremachenden Echoeffekt endete. Nun erst realisierte er, dass er diese Stimme nicht hören konnte. Sie entstand in seinem Geist. Eine Telepathiesendung, erkannte der alte Mann und strich sich rat los mit beiden Händen über die langen weißen Haare und den lan gen Vollbart. Seine Augen, die sonst immer ewig jung funkelten, wirkten stumpf und müde. »Woher kenne ich bloß diese Stimme?«, überlegte er laut und krächzend. Da entstand wieder der Echohall in seinem Geist. Dies mal war er so stark, dass dem Mann die Augen aus den Höhlen tre ten wollten. ›Du fragst dich, wer ich bin und was das soll? Eines Tages wirst du es erfahren …‹ Die Stimme legte eine Kunstpause ein. Sie schien genau zu wissen, wie sehr der Mann jetzt litt. Er konnte noch nicht einmal sagen, ob ein Mann oder eine Frau zu ihm sprach. ›Aber wenn du es erfährst, lasse ich dich wissen, weshalb du sterben sollst!‹ Stille folgte dieser Ankündigung. Eine Stille, die sowohl Labsal als auch Qual zugleich war. Labsal, weil er sich erholen konnte. Qual, weil er die nächste Ankündigung fürchtete. Und wiederum fragte er sich, wie jemand in dieser Art und Weise in seinem Zauberwald Broceliande fast ungehindert wüten konnte. Schließlich hatte es eine Weile gedauert, ehe die Magie des Zauber waldes in diesen Kampf eingegriffen und die Position des Mannes damit gestärkt hatte. Schwarzmagische Angriffe, besonders dieses Kalibers, wurden sonst sofort von der Zauberwaldmagie abgewehrt. Broceliande, das in der Bretagne bei Paimpont lag, war erst vor zweieinhalb Jahren wieder aufgebaut worden. Das geheimnisvolle Wasser des Zeitbrun nens gab es erst seit einigen Monaten wieder. Beides zusammen soll
te genügen, jedem schwarzmagischen Wesen in der kürzestmögli chen Zeit Paroli zu bieten. Der Mann schüttelte den Kopf, dabei trat wieder Glanz in seine Augen. Er wollte sich gegen den unbekannten Angreifer wehren. Und er wollte nicht länger den Gejagten spielen. Mit dem Zauberwasser und der grünlich schimmernden Schutzwand konnte er dem An greifer widerstehen. Und trotzdem: Myrddhin Emrys, der Falke des Lichts, war so ratlos wie nie zuvor in seinem äonenlangen Leben.
Kurz zuvor Gwin wollte nicht glauben, was sie spürte. Der Wald, vor dem sie stand, war wie ein einziges Lebewesen! Und dieses Lebewesen schi en etwas gegen ihre, Gwins, Anwesenheit zu haben. Fakt war, dass sie den Wald nur unter Lebensgefahr betreten konnte. Sie ahnte, dass sie beim Eindringen höchstwahrscheinlich unter Qualen gestor ben wäre. Je weiter sie sich von der Baumgrenze entfernte, umso leichter konnte sie die Ausstrahlung ertragen. Es handelte sich dabei um die sogenannte M-Abwehr, die Broceli ande ebenso wie Zamorras Château Montagne vor schwarzmagi schen Angriffen schützte. Jedes Höllenwesen starb daran innerhalb kürzester Zeit und unter unsagbaren Schmerzen. Gwin bildete eine Ausnahme, jeder andere Höllenbewohner wäre schon tot gewesen, doch das wusste sie nicht. Sie fühlte nur die Ausstrahlung der MAbwehr, und das reichte ihr, um nicht weiter vorzudringen. »Schlau eingefädelt, mein Lieber«, brummte sie. »Aber das hilft dir auch nichts. Ich kriege dich doch!«
Es klang nicht nur wie ein grimmiges Versprechen – es war ein Höllenschwur! Sie war keine Närrin. Selbstverständlich hatte sie sich vor ihrem Herkommen davon überzeugt, dass niemand hier wartete. Erst da nach hatte sie sich von den Schwefelklüften hierher versetzt. Sie war überzeugt davon, ihr Opfer mit einem geistigen Überraschungsan griff töten zu können. Doch war ihr nicht daran gelegen, dass es einen schnellen Tod fand. Im Gegenteil! Langsam, unendlich langsam sollte es für seine Un taten büßen. So schwer büßen, wie es sich selbst Gwin kaum vorstellen konnte. Unwillig schnaubte sie über ihre Gedanken. Sie musste vorsichtig sein, damit sie nicht selbst zum Opfer wurde. Zum Opfer meiner eigenen Dummheit!, dachte sie verärgert. Die Erfahrung hatte gezeigt, dass schon oft in der Vergangenheit Jäger zu Gejagten wurden. Und das nur, weil sie nicht genügend Geduld und Intelligenz mitgebracht hatten. Dieses Schicksal wollte Gwin nicht teilen. Schon gar nicht nach dem, was sie durchgemacht hatte. Durchmachen musste! Und das war nur seine Schuld! Seine! Ganz allein … Gwin biss sich auf die schmalen, dunklen Lippen. Sie durfte sich nicht von ihren Gefühlen überwältigen lassen. Sonst hatte sie schon vor dem Angriff verloren. Kühl bleiben, redete sie sich selbst zu. Zuerst wissen, wie das Schlachtfeld aussieht, nachdenken und dann erst reagieren. Nur war das leichter gesagt als getan. Ihr heißes schwarzes Blut hatte sie schon öfter in gefährliche Situationen gebracht. Trotz allergrößter Selbstbeherrschung spürte sie, wie es in ihren
Ohren rauschte. Das war ein schlechtes Zeichen. Immer dann, wenn dieser Fall eintrat, verlor sie die Kontrolle über sich. Sie ging in die Hocke und versuchte verzweifelt, ihre Gedanken zu ordnen. Es durfte einfach nicht sein, dass sie so kurz vor ihrem Ziel versagte. Das hätte sie sich nie verziehen. Nicht unter normalen Um ständen und schon gar nicht nach der langen Wartezeit. Langsam, ganz langsam, bloß nicht unüberlegt vorpreschen, versuchte sie ein zweites Mal, sich zu beruhigen. Nach knapp einer Minute hatte sie sich wieder in der Gewalt. Sie atmete tief durch und erhob sich wieder. Wer sie nun anblickte, hät te sich sehr gewundert, denn sowohl die gewaltigen Schwingen an ihrem Rücken als auch die gewundenen Hörner an ihrer Stirn waren verschwunden. Sie sah nun aus wie eine normale, unbekleidete Menschenfrau mit dunkler Hautfarbe, jedoch ohne negroide Merkmale. Trotzdem hätte jeder Beobachter anhand ihrer übermächtigen beklemmenden Aus strahlung bemerkt, dass er es nicht mit einem normalen Wesen zu tun hatte. Die Größe dieses Waldes, der neben der normalen Welt lag, als wäre er in eine andere Dimension eingebettet, konnte Gwin nicht genau bestimmen. Es war ihr auch egal. Sie hatte hier ihre selbstge wählte Aufgabe zu erfüllen, und alles weitere berührte sie nicht. Was sie für wichtig hielt, war der Zugang zu dem Wald. Sie spür te, dass sie auf normalem Weg nicht hineinkam, doch wollte sie nichts unversucht lassen, um sich Zutritt zu verschaffen. Am Waldrand wallte Nebel auf und versperrte die Sicht auf die Welt draußen. Gwin bezweifelte, dass jemand sehr weit gelangen konnte. Irgendwo in dieser Nebelwand war Schluss mit der realen Welt, dessen war sie sicher. Ausprobieren, ob ihre Vermutung stimmte, wollte sie nicht. So wichtig erschien ihr das nicht. Wichtiger hingegen schienen ihr die seltsamen Blumen, die am
Rand von Broceliande standen. »Was sind denn das für seltsame Gewächse?«, murmelte sie er staunt. So etwas hatte sie noch nie gesehen. Es handelte sich um eine Kolonie von großen Blumen mit manns großen Blütenkelchen, die, je nach Beleuchtung und Betrachterper spektive, in allen Farben des Regenbogens schillerten. Wer zwischen die Blumen trat und eine exakte Vorstellung von seinem Zielort oder seiner Zielperson hatte, trat zwischen den dorti gen Blumen wieder ins Freie – es erfolgte ein zeitlos kurzer Trans port. Dabei war es unerheblich, ob sich das Ziel in der gleichen Welt befand oder in anderen Dimensionen. Die Blumen erfassten eine Zielumgebung von etwa fünfhundert Metern Radius. Befanden sich in der Nähe des Ziels oder der Zielperson keine Regenbogenblu men, fand ein Transport natürlich nicht statt! Ihre Herkunft war bisher ungeklärt. Bekannt war nur, dass das Volk der Unsichtbaren überall im Universum Regenbogenblumen an pflanzte. Und auch Professor Zamorra und seine Gefährtin Nicole Duval spielten bisweilen »Gärtner«. Zu Château Montagne, dem Schloss von Professor Zamorra, exis tierte von hier aus eine Verbindung; dort stand eine Blumenkolonie in einem hohen Kuppeldom. Auch in Baton Rouge, Florida, Alaska, Australien, zu Merlins Burg Caermardhin, zu Gryfs Hütte in Angle sey; sogar zu den Planeten K'oandar oder Tharon, zur Koboldwelt und zum Silbermond existierten Verbindungen. Und das waren nur die bekannten Zielorte der Blumen. Niemand konnte erahnen, welche Orte noch erreichbar waren. Zum Glück verfügte die irdische Industrie nicht über ein ver gleichbares Transportmedium, sonst wäre das Gesicht der Welt nicht mehr das gleiche geblieben. Welch ungeahnte Möglichkeiten für Ganoven und legale Verbrecher würden sich eröffnen, wenn es beliebig viele solcher Zielorte gäbe? Dem Verbrechen würde Tür und Tor geöffnet. Von all dem wusste die dunkle Frau mit der mörderischen Aus
strahlung nichts. Und wenn sie davon erfahren hätte, würde sie sich nichts draus machen. Ihr standen andere Möglichkeiten der Fortbe wegung zur Verfügung. Sie würde die phantastischen Möglichkei ten der Blumen nur nutzen, wenn sie in ihre Pläne gegen die Sterbli chen gepasst hätten. Gwin ging bis dicht an die Regenbogenblumen, um sie aus der Nähe zu betrachten. Sie hob eine Hand und strich über einen Blü tenkelch. Das heißt, sie wollte über einen Blütenkelch streichen. Wenige Mil limeter trennten ihre Hand noch von besagtem Kelch, als sich dieser von ihr fortbewegte. Er schwenkte einfach etwas zur Seite, damit Gwin ihn nicht berühren konnte! Es handelte sich nur um ein paar Zentimeter, doch Gwin hatte so fort bemerkt, dass sich die Pflanze gegen sie wehrte. Sie verzog die grausam hübschen Lippen zu einem spöttischen Lächeln. »Oho«, lachte sie derb, »da mag mich jemand nicht besonders. Du bist klug, meine Liebe, wenn du Angst vor mir hast. Aber«, und sie griff so schnell zu, dass die Blume keine Anstalten machen konnte, auszuweichen, »du bist dumm, wenn du mir das so offen zeigst.« Sie glaubte, ein angstvolles Keuchen in ihrem Kopf zu hören. Es war unglaublich, aber die Regenbogenblume fürchtete sich vor ihr! Dann ließ sie blitzschnell wieder los und verpasste dem Blüten kelch einen Hieb mit geöffneten Krallen. Ein Riss von knapp 30 Zen timetern zog sich längs über den Kelch. Wieder wich er einige Zenti meter zurück. Es wirkte, als wollte er sich in Sicherheit bringen. Ein schmerzhafter, klagender Laut entstand in ihrem Kopf. Sie grinste eine Spur breiter. »Na so was«, kicherte sie mit einem gehässigen Unterton in ihrer dunklen, gleichzeitig heiser klingenden Stimme. »Glaubst du mir, wenn ich dir sage, dass ich das nicht wollte?« Die Blumen wiegten sich im lauen Wind. Es sah aus, als würden sie zu Gwins Frage nicken. Die Frau grinste immer noch, dann wur
de sie schlagartig ernst. Sie hob die Hand, erneut wich der Kelch zu rück. »Dummes Gemüse«, murmelte Gwin. »Weshalb gebe ich mich überhaupt mit dir ab?« Sie überlegte, ob sie die Blumenkolonie zerstören sollte. Schließlich entschied sie sich dagegen. Erstens hätte ihr die Vernichtung keinen Nutzen gebracht, und zweitens war sie nicht sicher, ob eine solche Aktion unbemerkt geblieben wäre. Also verschob sie die Vernich tung der Blumen auf später. Stattdessen begann sie mit der nächsten Phase ihres Planes. Gwin konzentrierte sich auf die nächste Botschaft, die sie ihrem Feind senden wollte. Und dann war es so weit! Sie konnte fühlen und aus seinen Augen sehen, was Myrddhin jetzt machte. Und sie griff ihn mit der Kraft ihrer Gedanken an. ›Nun, wie findest du das, mein Freund? Mein ehemaliger … Freund … Ich habe dich selbst in deinem Heiligtum gefunden und niedergerungen. Und das war noch nicht einmal alles. Ich habe nur einen Bruchteil meiner wirklichen Macht eingesetzt!‹ Sie spürte seine Verwirrung und seinen Schmerz, und sie weidete sich daran. Dann setzte sie ihr Psychospiel fort. ›Du fragst dich, wer ich bin und was das soll? Eines Tages wirst du es erfahren …‹ Das saß. Er wälzte sich vor Schmerz und Überraschung am Boden. Gwin strahlte, als habe sie gerade in der Lotterie gewonnen. So weit wollte sie ihn haben. Und sie wollte noch viel mehr. Er sollte um seinen Tod betteln, weil ihm dieses Leben vor Pein nichts mehr wert war. Und würde er erst tot sein, dann sollte seine Seele ewig im Höllenfeuer brennen. Als Strafe für das, was er der dunklen Familie, ihr allen voran, ange tan hatte. ›Aber wenn du es erfährst, lasse ich dich wissen, weshalb du sterben
sollst!‹ Ja, das war es! Sie malte sich diese Szene lebhaft in ihrer Phantasie aus. Sie würde ihm erst im Zeitpunkt seines Todes offenbaren, wer sie war. Bestimmt hatte er sie schon längst vergessen … Sie riss sich mit Gewalt zusammen. Nicht übermütig werden!, warn te sie sich. Dazu habe ich später noch genug Zeit. Vorerst habe ich noch ein anderes Problem … »Wie komme ich bloß in diesen verdammten Wald?«, überlegte sie laut. Doch selbst nach angestrengtem Nachdenken fand sie keine Ant wort darauf.
»Wer trachtet mir nach dem Leben? Wer ist so mächtig, dass er mit Geisteskraft in Broceliande eindringen kann?« Myrddhin Emrys strich sich mit der Hand durch den langen wei ßen Bart. Er hatte sich von dem Angriff erholt, doch war das für ihn noch kein Grund zur Freude. Jeden Augenblick konnte eine neue Attacke erfolgen, und er wäre ihr hilflos ausgeliefert. Mehrere Minu ten würden vergehen, bis er wieder genug Kraft und Zeit für eine Gegenreaktion fand. Und er konnte nicht sicher sein, welche Waffe sein Gegner als nächstes benutzen würde. Eins war sicher: Der Brunnen war der sicherste Platz für ihn. Mit tels des einzigartigen Wassers konnte er sich stärken. Als er an das Wasser dachte, erinnerte er sich unwillkürlich daran, wie es dazu kam, dass der Brunnen wieder seine vorbestimmte Funktion erfüllte. Broceliande gab es schon seit vielen tausend Jahren. Der Wald hat te eine einzigartige Flora und Fauna besessen. Bäume, die lebten und angreifen konnten; Früchte, die sich mit Tieren oder Menschen unterhielten; Tiere, die es nur hier gab und nirgendwo sonst im
Multiversum. Der Wald stellte, insgesamt gesehen, ein komplexes Lebewesen dar. Passierte etwas Einschneidendes oder Bedrohliches im einen Teil von Broceliande, so half der andere Teil, damit wieder Ruhe herrschte. In seltenen Fällen wandte sich der Wald gegen seine Be sucher, so wie es bei der russischen Hexe Baba Yaga geschehen war. Anfang Dezember 1998 hatte Baba Yaga den Zauberwald und die meisten seiner Bewohner vernichtet und das Brunnenwasser bis auf wenige Tropfen ausgetrunken. Und Asmodis half ihr sogar noch dabei – gegen Merlins Willen. Es war eine billige Rache gewesen, für eine Aktion, die Merlin schon vor mehr als zehn Jahren gestartet hatte. Damals hatte er seinem Bruder über lange Zeit Kraft entzogen, um den Silbermond in einem gigantischen Zeitparadoxon zu retten. Doch Asmodis hatte das nicht vergessen, wie er so vieles nicht vergaß, was in seine Pläne passte. Seitdem konnte Merlin nicht mehr nach Avalon gelangen. Dies war nur mittels des Zeitbrunnenwassers möglich, das als Merlins persönlicher Schlüssel zur Feeninsel fungierte. Unter anderem besaß dieses wundersame Nass die Fähigkeiten, Wunden und Krankheiten zu heilen sowie eine Verjüngung zu bewirken, allein dadurch, dass ein Schluck davon getrunken wurde. Doch Baba Yaga hatte dafür gesorgt, dass der Brunnen versiegt war und das Wasser sich nicht mehr erneuern konnte. Dies traf Mer lin schlimmer als alles andere, das er jemals zuvor erlebt hatte, denn der wichtigste aller Wege war ihm damit versperrt worden. Ein Jahr später musste Asmodis, auf Drängen der drei Thessali schen Hexen, Broceliande wieder aufforsten. Ihm gelang es, die Pflanzen wieder zum Wachsen zu bringen, wenngleich sie nur noch teilweise Ähnlichkeit mit ihren Vorgängern hatten. Doch das wun derte niemanden, schließlich steckte ein Anteil von Asmodis' geisti ger Kraft darin, und der ehemalige Fürst der Finsternis war meistens radikaler und kompromissloser als sein Bruder. Denn auch wenn Broceliande jetzt wieder existierte, der gleiche
Wald wie vor der Zerstörung würde er nie wieder sein. Am 31. Dezember 2002 opferte sich der Gesichtslose Caltar An'de an, der von seiner Heimatwelt K'oandar geflohen war, zusammen mit zwei von D'Halas Seelen-Tränen, magischen Hilfsmitteln seines Planeten, und einem geheimnisvollen Armband, das er als Katalysa tor benutzte, um den Brunnen wieder zu reaktivieren. Zu diesem Zeitpunkt versuchten die beiden Brüder, jeder für sich, den Brunnen wieder zu aktivieren. Darüber gerieten sie so sehr in Streit, dass sie einander töten wollten. Im letzten Augenblick konnte Asmodis vor dem Brudermord bewahrt werden. An diesem Tag entdeckte er, dass sogar einige ehemalige Elfen die Zerstörung des Waldes überlebt hatten. Nur waren die nicht mehr so friedlich wie ihre Vorfahren, sie sahen auch verändert aus, und sie nannten sich jetzt Tonkan, was in ihrer Sprache »die Dunklen« bedeutete. Die Tonkan standen unter Asmodis' Schutz; er übernahm die Patenschaft für die wenigen überlebenden Schwarzelfen. Mit der Erlaubnis von Merlin bekamen sie eine Art Reservat in Broceliande zugewiesen, innerhalb dessen sie sich bewegen durften. Der Brunnen besaß einen unsichtbaren Schutz. Die Tonkan durf ten sich nur im Brunnengebiet aufhalten, solange sie keine bösarti gen Gedanken hegten. Seit diesem Tag war es Merlin wieder möglich, nach Avalon zu ge langen. Bis jetzt hatte er niemandem verraten, ob die Verbindung nach Avalon wieder offen war. Auch seinem Bruder nicht. Gerade ihm nicht. Myrddhin setzte sich direkt vor dem Brunnen auf das Gras. Er hielt die Augen geschlossen und versuchte zu meditieren, um so Kraft zu sammeln. Nach wenigen Minuten gelang ihm das auch. Langsam hob und senkte sich sein Brustkorb, das einzige Zeichen dafür, dass er lebte. Für geraume Zeit schaltete er seine Gedanken perfekt ab. Jeder Te
lepath scheiterte sowieso daran, seine Gedanken lesen zu wollen. So konnte er noch nicht einmal vom fähigsten Gedankenleser geortet werden. Doch konnte er diesen Zustand nicht endlos lange aufrecht erhalten. Ihm reichte diese kurze Spanne, um wieder klar denken zu kön nen. Aber nach dem Auftauchen in die Realität holte ihn seine Sorge wieder ein. »Wer trachtet mir nach dem Leben? Wer kann das sein?«
Château Montagne, südliches Loire-Tal »Und du willst dir das wirklich antun?« Nicole Duval, Professor Za morras Lebensgefährtin, Sekretärin und Partnerin im Kampf gegen die Dunkelmächte, kniff die Augen zusammen. Ihr Blick sagte mehr als viele Worte; selbst jemand, der sie nicht kannte, sah, dass sie skeptisch war. »Ich kann es zumindest versuchen«, antwortete Zamorra und ver suchte, seiner Stimme einen optimistischen Unterton zu geben. Es gelang ihm nicht ganz. Jemand anderen hätte er bestimmt überzeu gen können, aber nicht Nicole. Sie kannten sich seit gut 30 Jahren, und jeder wusste die Reaktion des anderen genau zu deuten. Dazu hatten sie gegenseitig vollstes Vertrauen, jeder hätte dem anderen bedenkenlos sein Leben anver traut. Anders hätten sie den langen Kampf gegen die Mächte der Finsternis auch nicht überleben können. »Willst du es dir nicht noch einmal überlegen?« Nicole legte die Stirn in Falten. Ihre braunen Augen blickten Zamorra bittend an. Sie erhob sich aus dem Sessel und ging auf ihren Gefährten zu. »Es hat einfach keinen Zweck, diesen Bittgang zu unternehmen.«
Zamorra stellte das Glas mit Fruchtsaft auf den Tisch und erhob sich ebenfalls. Sie befanden sich im Kaminzimmer von Château Montagne, Zamorras Schloss an der südlichen Loire. Dieser Frühlingstag brachte feuchtkaltes Wetter mit sich, darum brannte Holz im Kamin und verbreitete wohlige Wärme. An und für sich ein Tag, um die Füße vor dem Kamin auszustre cken und ein Glas Rotwein zu genießen. Das hatte Zamorra auch für den Abend geplant, falls nichts dazwischen kam. Vorher aber wollte er noch etwas anderes erledigen. »Ausgerechnet zu Merlin willst du?« Es klang mehr wie eine An klage denn wie eine Frage. An ihrem Tonfall bemerkte der Meister des Übersinnlichen, dass Nicole ganz und gar nicht mit seinem Vor haben einverstanden war. Es galt als offenes Geheimnis, dass große Unstimmigkeiten zwischen Zamorras Gefährtin und dem alten Zau berer bestanden. Was ganz allein die Schuld des Alten war. Er verlangte immer nur, dass seine Freunde Aufträge erledigten und für ihn die Kastanien aus dem Feuer holten. Zeitliche Aufschübe für seine Order gestatte te er nicht. Alles hatte jetzt, sofort und auf der Stelle zu geschehen. Seltsamerweise kam er immer erst im letzten Augenblick mit diesen Aufträgen zu seinen Freunden. Doch Erklärungen über die Hinter gründe seiner Missionen blieben aus. Auf entsprechende Fragen rea gierte Merlin ungehalten, schroff und abweisend. »Was sollte es zu besprechen geben?«, fragte er stets zurück. »Es wurde doch schon alles gesagt. Wenn, dann werdet ihr alles erfah ren, wenn es an der Zeit ist.« War es da ein Wunder, dass sich Zamorra, Nicole Duval und die Silbermond-Druiden oft genug ausgenutzt vorkamen? Doch sämtliche Vorhaltungen tropften an ihm ab, er schien sie nicht ernst zu nehmen. »Zur Kenntnis genommen und in der Schublade unwichtig abge legt«, hatte Nicole einmal gesagt. Ob das so stimmte, wusste sie
selbstverständlich nicht, aber sie nahm es an. »Ja, zu Merlin will ich«, wiederholte Zamorra lächelnd. Er fand Nicole in ihrem Unmut hinreißend. Goldene Tüpfelchen tanzten in ihren Augen und bewiesen ihm, dass ihre Entrüstung nicht gespielt war. »Und ich empfinde nicht als Bittgang, was ich unternehme. Ich werde ihn nicht bitten, sondern dieses Entgegenkommen fordern.« »Lass mich mitkommen«, bat sie resignierend. »Vielleicht kann ich mehr erreichen als du …« Der Parapsychologe lächelte. »Das glaubst du selbst nicht, cheri.« Er hob abwehrend die Hände, als er die Empörung in ihrem Gesicht sah. »Du verträgst dich mit Merlin in den letzten Monaten noch schlechter als ich«, fügte er schnell als Erklärung dazu. Sie sah ein, dass sie ihn nicht umstimmen konnte, und begleitete ihn hinunter in den Keller. Dort gab es ein Kuppelgewölbe, in dem Regenbogenblumen wuchsen. Diese fantastischen Pflanzen tauchten in keinem biologischen Lehrbuch auf. Ihre Blüten welkten nie, sie befanden sich das ganze Jahr über in voller Pracht. Wie das funktio nierte, war ein Rätsel, ebenso, wer die freischwebende Mini-Sonne hier unten installiert hatte, die unter dem Kuppeldach ihr warmes Licht verstrahlte. Die Kelche schlossen sich normalerweise bei Dun kelheit, um sich wieder zu öffnen, wenn Licht sie erreichte – hier brannte das Licht der künstlichen Mini-Sonne das ganze Jahr über. Woher nahmen die Blumen die Kraft für diese gewaltige biologische Daueranstrengung? Zamorra und Nicole hatten es aufgegeben, sich darüber Gedanken zu machen. In all den Jahren, die ihnen die Blumen zur Verfügung standen, hatten sie nie herausgefunden, wer die Unbekannten wa ren, die die Regenbogenblumen und die Mini-Sonne in das Kellerge wölbe gebracht hatten. Und auf unabsehbare Zeit würde das auch so bleiben. Zamorra küsste Nicole, bevor er zwischen die Blütenkelche trat. Er konzentrierte sich auf sein Ziel, Caermardhin, Merlins Burg. Die auf einem Berggipfel in Wales nahe dem kleinen Ort Cwm Duad gelege
ne Burg war unsichtbar und auch nicht zu ertasten, gerade so, als befände sie sich in einer anderen Welt. In dieser Burg hatte er vor vielen Jahren Ableger der Regenbogenblumen gepflanzt. Im gleichen Augenblick kam er an seinem Zielort an. Er blickte sich um, konnte jedoch niemanden sehen. »Keiner da«, murmelte er und wunderte sich nicht über diese Tat sache. Er konnte nicht damit rechnen, dass sich Merlin oder sein Bruder Asmodis in der Burg aufhielten. Beide waren des öfteren für Tage oder Wochen abwesend. Trotzdem war Zamorra enttäuscht. Sie befanden sich nicht einmal im Zentrum der Burg, dem Saal des Wissens. Minutenlang stand er überlegend da. »Wo kann er sich aufhalten?« Er kratzte sich ratlos am Kinn. Theo retisch konnte er versuchen, alle bekannten Regenbogenblumenver bindungen abzusuchen. Er verwarf diese Idee rasch wieder. Es war nicht gesagt, dass der Zauberer per Regenbogenblumen gereist war. Merlin kannte und benutzte andere Verbindungen, vielleicht zu un bekannten Welten. Ihm standen viele Möglichkeiten offen. Zamorra hatte einen Verdacht, wo sich der Zauberer befinden konnte. Einen einzigen Ort wollte er aufsuchen, um nach Merlin zu suchen. »Ist er vielleicht an seinem Lieblingsplatz?«, überlegte er laut. »Soll ich wieder zurück zu Nicole oder nach Broceliande?« Er griff in die Hosentasche und holte eine Münze hervor. Nach denklich wog er das Erinnerungsstück in der Hand. »Zaubergarten oder Château Montagne?«, fragte er sich selbst. Dann bestimmte er: »Kopf heißt Château, Zahl heißt Zaubergarten.« Dann warf er die Münze in die Luft, streckte die geöffnete Linke aus, fing die Münze auf und hieb mit der Rechten darauf. Schließ lich zog er die Rechte weg. »Zahl!«, murmelte er. »Auf nach Broceliande.« Wieder trat er zwischen die mannshohen Blütenkelche und kon
zentrierte sich auf seinen Transitort. Und wieder erfolgte ein zeitlos kurzer Transport. Die Regenbogenblumen standen direkt am Eingang zu Merlins Wald. Zamorra presste die Lippen zusammen. Bis vor fünf Monaten hatte er keine Berechtigung besessen, Broceliande zu besuchen. Das hatte sich erst mit der Wiederherstellung des Brunnens geändert. Vorher hätte er den Wald nie betreten können. Doch mit seinem Amulett, dem Haupt des Siebengestirns von Myrrian-ey Llyrana, besaß er quasi eine Eintrittskarte zu Merlins Reich. Zamorra verließ langsam die Blütenkelche und wollte gerade den Wald betreten. Während dieser kurzen Strecke hatte er das Gefühl, dass ihn jemand beobachtete. Blicke schienen wie Messer in seinen Rücken geworfen zu werden. Er versuchte, sich deswegen keine großen Gedanken zu machen; schließlich wusste er darum, dass viele Lebewesen den Zauberwald beobachteten und als Wächter fungierten. Doch auch als er sich bereits einige Meter innerhalb der unsichtba ren Grenze Broceliandes befand, ließ das Gefühl nicht nach. Und seltsamerweise hatte Zamorra den Eindruck, dass sich der Beobach ter nicht im Wald befand, sondern ihn von außerhalb der Grenze aus betrachtete. Der Zauberwald schien nur die ersten zwanzig Meter von seinem Rand bis ins Innere so dunkel zu sein. Mit jedem Meter, den Zamor ra weiter hineinging, kam er ihm heller und freundlicher vor. Bevor er den ersten Schritt in den Wald hinter sich bringen konnte, fühlte er, dass er irgendwie geistig abgetastet wurde. Wie schon vor einigen Monaten durchzog ihn ein Fluidum der Gewissheit, dass er anerkannt und berechtigt war, den Wald zu betreten. Er wusste im mer noch nicht, dass dies eine Art Auszeichnung darstellte, die nur den wenigsten Wesen zuteil wurde. Diejenigen, die aufgrund ihrer Ausstrahlung nicht in den Zauber wald durften, hätten noch so viele Versuche unternehmen können, einzudringen; Merlins Magiebann hätte sie nicht hineingelassen.
Und wenn er sie aus einem unbekannten Grund eingelassen hätte, der nur dem Zauberer bekannt war – und wenn es nur der Läute rung der betroffenen Person diente –, dann wären sie auf die sich verändernden Pfade gelenkt worden. Es war möglich, dass Wege ständig andere Positionen einnahmen, die den Besucher vielleicht im Kreis führten, ohne dass er es be merkte. In einer Umgebung, die ständig neues, verändertes Ausse hen vorgaukelte, weil auch die Bäume und Büsche sich jeweils an ders gruppierten. Zamorra hatte schon munkeln gehört, dass das eine der Abwehrmaßnahmen gegen unbefugte Eindringlinge sein sollte. Und zu Silvester 2002 hatte er auch zwei Bewohner von Bro celiande kennen gelernt, die auf den ersten Blick harmlos erschie nen, gegen die er und seine Gefährtin Nicole Duval nichts hätten ausrichten können. Es handelte sich dabei um eine seltsame spre chende Frucht, die sich selbst Früchtchen nannte, und um eine Phö nix, die immer wieder neu erstand. »Aber vielleicht hat sich da ja inzwischen noch anderes Geviech gebildet. Ist ja schon eine ganze Weile her«, ulkte Zamorra im Selbstgespräch. »Zeit genug für Rülpsdrosseln, Vlatscheks, Bollina toren, Fiederboas, Dottermolche, Mamageien, Kralligatoren, Augen schleichen, Humpenschlinger, Wergolfwürger, Schläferhunde, Kriechadler, Schleichhasen und Bemeisen, sich zu ent- und verwi ckeln. Nicht zu vergessen die marsianischen Blitzmotten, die schwarmweise auftreten und speziell über Damenkleidung herfallen …« Die Ausmaße des Waldes waren ihm unbekannt. In diesem Punkt konnte er sich aus Gryfs und Teris Erzählungen kein Bild machen. Entweder war er in seiner magischen Ausdehnung unendlich groß, trotz seiner normalweltlichen geografischen Begrenztheit, oder die Pfade veränderten sich ständig. Auch das hatte er damals gesehen. »Logischerweise müsste sich ein Wächter innerhalb der Grenze von Broceliande befinden«, knurrte Zamorra. »Anders ergibt das
keinen Sinn.« Er beschloss, den kürzesten Weg zum Zeitbrunnen einzuschlagen. Dieser stellte den Mittelpunkt des Gartens dar. Falls Merlin sich hier befand, dann würde er ihn am ehesten beim Brunnen finden. Außerdem lebten die Tonkan in der Nähe des Brunnens. Bei den Elfenabkömmlingen würde er bestimmt näheres in Erfahrung brin gen. Aus Erfahrung wusste er, dass die Schwarzelfen heimtückisch und unehrlich waren, aber er fürchtete sich nicht davor. Sie wussten, dass er unter Merlins Schutz stand, und würden ihn respektieren. Außerdem hatte der seelische Reinigungsprozess damals ihre Ge danken und Wünsche geläutert. Sie würden innerhalb ihres Lebens raumes keine bösartigen Aktionen unternehmen können. Zumindest hoffte er das. Er würde es herausfinden.
Zamorra war keiner Einbildung erlegen. Außerhalb des Waldrandes befand sich eine düstere Gestalt, die ihn beobachtete. Ihre glühen den Augen fixierten ihn, als müssten sie ihn durchleuchten. Gwin aus der Hölle! Die schwarzblaue, unbekleidete Frau knirschte mit den Zähnen, als sie bemerkte, wie Zamorra, scheinbar ohne aufgehalten zu wer den, den Zauberwald betrat. Weshalb wird der nicht auch von dieser seltsamen Macht abgewiesen?, dachte sie voller Zorn und Neid. Abgewiesen, so wie ich! Es nagte an ihr, dass sie nicht in der Lage war, den Wald zu betre ten, aber dieser durchtrainierte, hochgewachsene dunkelblonde Mann konnte es. Wer ist das? Jeder andere Bewohner der Hölle hätte ihr von Professor Zamorra erzählen können und eine lange Liste der Dämonen und Hilfskräfte parat gehabt, die von Zamorra im Laufe der letzten 30 Jahre getötet
worden waren. Und diese Liste wäre mit hundertprozentiger Sicher heit unvollständig gewesen. Wahrscheinlich wusste nicht einmal der Meister des Übersinnlichen selbst, gegen wie viele Höllenkreaturen er bestanden hatte. Bei Gwin war das etwas anders. Sie befand sich erst seit sehr kurz er Zeit wieder in den sieben Kreisen der Hölle. Jahrtausende war sie nicht mehr dort gewesen. Zwar hatte sie bei ihrem letzten Besuch den Namen des Dämonenjägers gehört, aber es verband sich kein Bild für sie damit. Sie wusste also nicht, wer der Fremde war, aber er gefiel ihr vom äußeren Erscheinungsbild her. Der Dreitagebart verlieh dem Mann etwas Abenteuerliches. Sieht nicht schlecht aus, der Knabe, spottete sie in Gedanken. Einmal könnte man ihn benutzen und dann ab ins Seelenfeuer mit ihm! Sie starrte ihm hinterher, wie er die ersten Meter in den Garten hinter sich brachte, und ließ ihre Telepathiekräfte folgen. So sanft und behutsam, wie man es ihr nie zugetraut hätte. Ihre Gedanken umflossen Zamorra. Der Parapsychologe bemerkte dies, er hatte den Eindruck, dass er beobachtet wurde, aber der Be obachter sich nicht im Wald befand, sondern ihn von außerhalb der Grenze aus betrachtete. Gwin bemerkte ihrerseits, dass eine große Macht in diesem Mann steckte. Eine Macht, die gefährlich auf schwarzmagische Beeinflus sung reagierte. Eine Kraft, die alles Höllische zerstören konnte. Sie erschrak dermaßen, dass sie sofort aufhörte, telepathisch vor zudringen. Was ist das? Was hat der Bursche an sich, das mir gefährlich werden kann? Sie kannte Merlins Stern nicht, jenes Amulett, das der Zauberer vor fast einem Jahrtausend aus der Kraft einer entarteten Sonne geschaffen hatte, indem er einen Stern vom Himmel holte. Es handelte sich um eine handtellergroße Silberscheibe, die Zamorra an einer silbernen
Halskette vor der Brust trug, und die per Schnellverschluss rasch ein- und ausgehakt werden konnte. In der Mitte befand sich ein stili sierter Drudenfuß, der bei der Zeitschau auch als Mini-Bildschirm diente. Um diesen zog sich ein Kreis mit den Symbolen der 12 Tier kreiszeichen. Den äußeren Rand bildete ein Silberband mit bisher unentzifferbaren hieroglyphischen Zeichen, die etwas erhaben gear beitet waren. Die an sich fest erscheinenden Hieroglyphen ließen sich mit leich tem Fingerdruck millimeterweit verschieben, um einzeln oder in Kombination bestimmte magische Funktionen auszulösen – von de nen Zamorra bislang nur einen winzigen Bruchteil enträtselt hatte. Sofort danach glitten die Hieroglyphen wieder in ihre alte Position zurück und waren wieder fest. Eine andere Möglichkeit, Funktionen des Amuletts zu aktivieren, war ein gezielter Gedankenbefehl. Mit Hilfe der Silberscheibe waren Zamorra und Nicole unter ande rem in der Lage, eine Zeitschau durchzuführen. Man versetzte sich dabei in eine Art Halbtrance und war in der Lage, bis zu 24 Stunden in die Vergangenheit der unmittelbaren Umgebung des Amuletts zu schauen. Die Bilder erschienen dabei wie auf einem Mini-Bildschirm in seiner Mitte und konnten auch von anderen Personen gesehen werden. Dieser Prozess war allerdings sehr kraftraubend, daher stellten die 24 Stunden eher eine physische Grenze dar. Außerdem versuchte das Amulett, seinen Träger vor Angriffen feindlich gesinnter Magie durch eine Art grünlich wabernden Ener gieschirm zu schützen, der den Körper des Trägers umfloss und bei Körperkontakt auch eine zweite Person mit einbeziehen konnte. Dies funktionierte nicht bei normalen Waffen oder neutraler Magie. Bei Schwarzer Magie funktionierte es – fast – immer. Auch versuchte das Amulett oft, als drohend gefährlich eingestuf te Gegner anzugreifen. Die magischen Schläge in Form silberner Blitze waren meist verheerend. Auch vom Träger gesteuerte Angrif fe ließen sich durchführen. Eine weitere wichtige Eigenschaft des Amuletts war, dass es sich sowohl von Zamorra als auch von Nicole
Duval per Gedankenbefehl herbeirufen ließ. Es landete dann inner halb von Sekunden in der Hand des Rufers. Wände oder Entfernun gen spielten dabei keine Rolle, lediglich vor Dimensionsgrenzen musste es kapitulieren. Was ist das? Ich habe noch nie vorher etwas dermaßen Starkes verspürt. Davor muss ich mich in Acht nehmen!, dachte Gwin erschrocken. Ihre Sinne waren wie abgeschaltet. Sie hoffte, dass sie das Amulett damit täuschen könnte. Doch Merlins Stern verhielt sich ruhig, als hätte er überhaupt nichts von der Aura der schwarzen Frau gespürt. Vielleicht lag es auch an der friedvollen Ausstrahlung von Broceliande, die Gwins Höllenaura überstrahlte. Bei LUZ1FER! Warum hat mir niemand in den sieben Kreisen der Hölle davon erzählt?
»Wr bischt dnn dou?« Nach Zamorras Empfinden war er bestimmt schon einen Kilome ter weit in Broceliande eingedrungen und befand sich auf einem kaum ausgetretenen Pfad, da hörte er eine bekannte Stimme. Erstaunt hielt der Meister des Übersinnlichen inne. Er blickte sich im hohen Gras um, konnte jedoch niemanden erkennen. Dann besah er das Geäst über sich, stemmte beide Hände in die Hüften und verbiss sich ein Grinsen. »Als ob du das nicht wüsstest«, lachte er. »Dabei kennst du mich doch.« »Hä? Was hast du gsagt? Mir kännä uns?«, kam die ungläubige Antwort. »Früchtchen, Früchtchen«, tadelte Zamorra. »Du besitzt ja immer noch diesen seltsamen Dialekt.« »Isch koin sltsamr Dialäkt«, beschwerte sich die Stimme lauthals.
»Mr rädä sou.« »Wir reden so?«, erkundigte sich Zamorra. »Wirklich wir beide?« »I räd sou«, verbesserte sich das eigenartige Wesen, das sich im mer noch nicht zeigte. »Und du hast dich wieder einmal verkrochen«, stellte der Parapsy chologe fest. »Wo bist du überhaupt?« »Na hier, übr dir«, lautete die Antwort. Der unsichtbare Sprecher hörte sich sehr erstaunt ob dieser Frage an. Langsam drehte Zamorra sich nach der Stimme um. Er sah ein merkwürdiges Gebilde in vier Metern Höhe über seinem Kopf schweben und dann auf einem Ast landen. Ein Ding mit mindestens 30 Zentimetern Durchmesser, mit Stiel und Blättern daran, das ständig seine Form veränderte. Sah es im einen Augenblick einer Melone ähnlich, so wurde im nächsten Mo ment eine Pampelmuse daraus. Auch die Farbe veränderte sich mit der Form. Das einzig Beständige war, dass das Ding durchscheinend war, ähnlich einer Weintraube. Die Hälfte dieses Dinges schien nur aus einem großen Maul mit einer Doppelreihe scharfer Zähne zu beste hen. Blau blinkende Glupschaugen sahen den Dämonenjäger an. »Aaah!«, machte das von Zamorra als Früchtchen angesprochene Wesen, und es hörte sich an, als habe es Schmerzen, als es ihn er blickte. »Dr Typ mit der Aintrittskart vom Maistr. Du bist's nur!« Zamorra zuckte zusammen; er verzog das Gesicht zu einer Gri masse. »Ja, ich bin es nur«, bestätigte er, wobei er das letzte Wort be sonders betonte. Das lebende Früchtchen hatte seine eigene Art, zu sprechen. Dazu kam noch etwas sehr Unappetitliches: Während des Redens sabberte es unaufhörlich. Aus diesem Grund ging Zamorra zwei Meter zur Seite; schließlich wollte er nicht von oben bis unten vom Sabber des Früchtchens nass werden. »Nur du«, bestätigte das Früchtchen, ohne auf Zamorras Ton ein
zugehen. »Niemand sonst …« »Wo ist überhaupt deine Freundin?«, wollte der Parapsychologe wissen. »Froindin?« »Na, die Phönix«, erklärte Zamorra. »Die uns fressen wollte, mit dir zusammen …« »Ach die!«, sagte die Frucht. »Bai dr ist's komisch. Mal labt sie, mal wiedr nit.« Sie schmatzte laut, dabei landete eine gehörige Menge Sabber ne ben dem Meister des Übersinnlichen. Zamorra ging noch einen Schritt zur Seite. Er verzog angeekelt das Gesicht. »Bäh, das stinkt ja abscheulich«, murmelte er. »Was hast du gsagt?«, wollte das sprechende Obst wissen. »Ach, nichts«, antwortete der Dämonenjäger. Wie sollte er dem seltsamen Wesen klarmachen, dass es erbärmlich stank? Vielleicht war es ihm egal, vielleicht aber fühlte es sich auch dadurch belei digt. Also hielt er lieber den Mund über dieses Thema. »Da fhlt ja jmand«, stellte Früchtchen fest. »Tatsächlich?« Zamorra hob eine Augenbraue. Er wusste genau, auf wen das sprechende Obst anspielte, doch er stellte sich absicht lich dumm. »Wer sollte denn fehlen?« Eine Hand wuchs aus einem der Blätter über Früchtchens Kopf. Die Hand griff dorthin, wo das Kinn des Wesens zu vermuten war. Sie kratzte ein paar Mal hin und her. Es wirkte, als würde Frücht chen angestrengt nachdenken. »Gnau, dainä Gfährtin, die fhlt«, stellte es fest und strahlte über das ganze Gesicht. Dabei klatschte es mit der Hand an die Stirn. »Meine Gefährtin?«, wiederholte Zamorra lächelnd. »So isss!« »Nun«, sagte Zamorra, dabei betrachtete er angestrengt seine Fin gerspitzen, als könnte er dort etwas Interessantes finden, »sie wollte
nicht mit, sie hat nämlich Urlaub …« »Ur-was? Also, Laub habn wir doch wohl gnug in unsrm Wald!«, ereiferte sich Früchtchen. »Bai Mrlins hohlm Backnzahn!« Zamorra hob nun beide Augenbrauen. Eigenartig, dass das Sprich wort auch hier bekannt ist, wunderte er sich. »Apropos Merlin«, versuchte er, das Gespräch in eine andere Rich tung zu lenken. »Weißt du, ob er sich in Broceliande befindet?« »Mrlin?«, hauchte das Früchtchen verwundert. »Dr Maistr?« »Genau der«, lachte Zamorra. Früchtchen kniff ein Auge zusammen und stellte sich leicht schräg. »Was willstn von ihm?« »Och, weißt du …« Zamorra hob die Schultern etwas und zeigte beide Handflächen. »Ich wollte mich nur einmal erkundigen, wie es ihm geht.« Alles brauchst du auch nicht zu wissen, dachte er. Sonst bringst du mich vielleicht nicht zu ihm hin. »Mrlin ghts guuut«, behauptete die sprechende Frucht, wobei sie das letzte Wort unendlich lange dehnte. Sie hatte die Augen ge schlossen und wippte vor und zurück. Es sah aus, als würde sie be stätigend zu den eigenen Worten nicken. »Shr gut.« Der Meister des Übersinnlichen blickte Früchtchen scharf an. Er glaubte ihm kein Wort. Merlin ging es schon einige Jahre nicht mehr gut. Seine Gesundheit und sein Geisteszustand hatten in den letzten Jahren sehr gelitten. Oft fühlte sich der alte Zauberer innerlich wie ausgebrannt und kraftlos. Dazu kam manchmal eine geistige Ver wirrtheit, bei der er seine Freunde nicht mehr erkannte; sogar sei nem Bruder wollte er Hilfe verweigern. Als Krönung des Ganzen hatte er Nicole Duval gleichzeitig mit seiner Tochter Sara Moon und mit einer alten Bekannten verwechselt. Zamorra holte tief Atem, wobei er sein Gegenüber immer noch scharf musterte. Er räusperte sich. Einmal. Zweimal. Früchtchen fing an, etwas herumzueiern, es schien sich
nicht wohl zu fühlen. Es spürte, dass der Fremde mit dem Amulett des Meisters seine Sprüche durchschaut hatte. Nach endlos erscheinenden Sekunden sagte Zamorra: »Lüge mich nicht an!« Sonst sagte er nichts, aber das reichte schon. Früchtchen zog sich zusammen, wie ein Mensch, der eine Strafpredigt erhielt. »Is ja gut«, brachte es nach einiger Zeit hervor. »Mrlin is am Brunnn …« »Und es geht ihm nicht gut«, mutmaßte Zamorra. Bitteres Lachen erfüllte die Luft. »S ght ihm sauschlcht«, bestätigte das Sprechobst. »Kannst auch sagn, dass s ihm bschissn ght!« »Das dachte ich mir«, murmelte Zamorra. Laut fragte er: »Kannst du mich zu ihm bringen?« Früchtchen blickte sich lauernd nach allen Seiten um. »Abr du vrrätst mich nit?«
Vor dem Zeitbrunnen, der im Schatten dreier Bäume stand, hockte ein alter Mann, der in eine weiße, kapuzenlose Kutte gekleidet war, im Gras. Der Brunnen selbst sah aus wie viele normale Brunnen auf der Erde; er besaß die Gestalt einer hochgemauerten Röhre von etwa zweieinhalb Meter Durchmesser. Er war bis in die Höhe von knapp einem Meter vierzig aus Backstein gebaut. »Dr Maistr«, hauchte Früchtchen, als hätte es Angst, dass es gehört werden konnte. Zamorra kniff beide Augen etwas zusammen. Er konnte auf den ersten Blick sehen, dass sich der uralte Druide in einem schlechten körperlichen Zustand befand. »Was ist nur mit dem alten Knaben los?«, fragte er seinen Beglei ter.
»Kain Ahnung«, antwortete Früchtchen. Dann machte es sich wie der klein und blickte Zamorra ängstlich an. »Was ist los?«, erkundigte er sich leise. »Kann nit längr hier blaibn«, nuschelte es unbehaglich. Es wand sich hin und her. »Hast du Angst, dass er böse auf dich sein wird, weil du mir den Weg gezeigt hast?« Früchtchen wiegte sich langsam vor und zurück, als müsste es überlegen, ob es Zamorras Vermutung zugab. Der kniff ein Auge zusammen und grinste. »Ich werde ihm kein Sterbenswörtchen verraten«, flüsterte er. Im nächsten Augenblick befand sich das exotische Wesen nicht mehr neben ihm. Zamorra zuckte die Schultern. Das hätte ich mir denken können, dachte er. Dann trat er hinter dem Gebüsch hervor, das ihn so gut vor den Blicken des Alten verborgen hatte. Er ging langsam auf den Brunnen zu. In Broceliande herrschte immer Frühling und Sommer. Vom blau en, wolkenlosen Himmel schien die Sonne so heiß, dass Zamorra seine Jacke auszog und über die Schulter legte. Kurz bevor er Merlin erreichte, verlangsamte er seinen Schritt noch mal. Er betrachtete den Mann am Boden, dann besah er sich die Umgebung, schließlich kehrten seine Blicke wieder zu Merlin zurück. Der zeigte nicht, ob er seinen Besucher erkannt hatte. Die Tonkan sind nicht zu sehen, fiel dem Meister des Übersinnlichen auf. Sie scheinen sich wirklich an die Abmachung von damals zu halten. Respekt, das hätte ich ihnen nicht zugetraut. Einen Meter bevor er den Mann vor dem Brunnen erreicht hatte, ging Zamorra in die Hocke. Er sah seinem Gegenüber in die Augen, doch dieser erkannte ihn nicht. Der Mann mit dem langen weißen Bart schien mit seinen Gedan ken lichtjahreweit entfernt zu sein. Nichts deutete darauf hin, dass
er trotz offener Augen seine Umgebung wahrnahm. Zamorra biss sich auf die Unterlippe. Sein Verhältnis zu Merlin war in den letzten Jahren nicht sehr gut. Sie stritten sich, wann im mer sie sich sahen, was besonders auf das seltsame Gebaren des Dieners des Wächters der Schicksalswaage zurückzuführen war. Wann immer der sogenannte König der Druiden einen Auftrag für Zamorra und seine Freunde hatte, teilte er ihnen nur das Notwen digste mit. Er gab kaum Hintergrundinformationen über seine Be fehle. War es da ein Wunder, dass das Verhältnis zwischen Merlin und seinen Freunden getrübt war? Trotzdem machte sich der Parapsychologe Sorgen um den Drui den. Ist es schon so weit mit ihm, dass er keinen Bezug mehr zur Realität hat?, fragte er sich. Er zeigt mit keiner Bewegung, dass er mich wahrnimmt. Er hob eine Hand und vollführte Kreisbewegungen vor Merlins Augen. Keine Reaktion. »Merlin, hörst du mich?« Wiederum zeigte der Zauberer nicht, ob er Zamorra registrierte. Verdammt, was soll ich tun? Ich kann ihn doch nicht so lange schütteln, bis er aufwacht! Er konnte. Nach kurzem Nachdenken legte er beide Hände auf die Schultern des alten Mannes. Zuerst rüttelte er ihn sachte, dann immer stärker. Es war wie verhext! Merlin zeigte immer noch keine Reaktion auf Zamorras Anwesenheit. Dass ihn der Mann im blauen Jeansanzug schüttelte, schien er nicht einmal zu bemerken. »Merlin!«, schrie Zamorra erbost. »Wach auf, Merlin Ambrosius!« Als das immer noch nichts nutzte, verwendete er Merlins walisi schen Namen. »Aufwachen, Myrddhin Emrys!«
Täuschte er sich, oder kehrte ein Hauch von Leben in das Gesicht des Zauberers von Avalon zurück? Ihm schien, dass dessen Augen klarer wurden. Er atmet doch schneller, oder leide ich unter Halluzinationen? Und wirklich, die Brust des Druiden hob und senkte sich schneller als vorher. War das eine Reaktion auf Zamorras Weckversuch? Oder wäre Merlin sowieso bald aus seiner Trance erwacht? Der Meister des Übersinnlichen war sich nicht sicher, ob seine An nahme stimmte. Trotzdem setzte er sein Rütteln und Schütteln für kurze Zeit fort. Immer wieder rief er: »Wach endlich auf, Myrddhin Emrys!« Nichts passierte. Zamorra stand wieder auf und blickte ratlos auf die drei Bäume, die um den Zauberbrunnen standen, als könnten diese ihm eine Lö sung auf sein Problem geben. »Was soll ich denn noch anfangen? Vielleicht Nicole holen, damit sie seine Gedanken liest. Oder Teri Rheken und Gryf ap Llandrys gryf?« Letztgenannte besaßen als Silbermond-Druiden ebenso wie Zamorras Gefährtin die Gabe der Telepathie. Ein langgezogenes Stöhnen machte ihn wieder auf Merlin auf merksam. »Das würde ich nicht tun«, sagte der Zauberer. Übergangslos kehrte er wieder in die Realität zurück. Sein Blick, der eben noch in lichtjahreweiten Fernen weilte, fixierte Zamorra. »Und weshalb nicht?«, wollte der Professor wissen. »Weil ich etwas dagegen habe!«, lautete die Antwort in bissigem Tonfall. Dann sagte der Alte etwas, das Zamorra die Fassung raubte: »Wer sind Sie? Kennen wir uns?«
Zamorra erstarrte. Er wollte nicht glauben, was er eben gehört hatte. Merlin wollte ihn nicht erkannt haben? War es mit ihm noch schlim mer gekommen als befürchtet? Was war der Auslöser für ein solches Verhalten? Und wie konnte ihm geholfen werden? »Nun«, begann er mit heiserer Stimme, »wir kennen uns seit vie len Jahren …« »Ach ja?« »Ach ja«, bestätigte Zamorra. »Du bist Merlin Ambrosius …« »Das weiß ich selbst«, unterbrach ihn der Alte kühl. »… und du wurdest früher Myrddhin Emrys genannt …« »Auch das weiß ich besser als jeder andere …«, fauchte Merlin. »Und mein Name ist Zamorra deMontagne«, stellte sich der Pro fessor vor. Ein verständnisloser Blick traf ihn. »Und dich sollte ich kennen?«, fragte der Druide mit arrogantem Tonfall. Er betrachtete Zamorra abschätzend von oben bis unten. Der konnte deutlich erkennen, dass die Besichtigung Merlins Missfal len erregte. »Bist du es wert, dass ich deinen Namen wissen sollte?« In Zamorra brodelte es innerhalb weniger Sekunden vor Zorn. Äu ßerlich ließ er sich nichts anmerken. Verwirrter Zauberer hin oder her, was bildete sich Merlin ein, in diesem Ton mit ihm zu sprechen? »Bisher war ich es immer wert, dass du mir Aufträge gabst, die mich fast das Leben gekostet hätten«, antwortete er so ruhig und be herrscht wie möglich. »Und du hast schon oft Château Montagne, mein Zuhause, besucht …« »Château Montagne?« Der Druide presste beide Hände fest gegen den Kopf, er lauschte dem Nachhall seiner Stimme. Er wirkte nach denklich, als hätte ihn der Name des Schlosses an etwas erinnert. »Nun dann …« Merlin stand auf, unendlich langsam. Dabei stützte er sich am Brunnenrand ab. Es war ersichtlich, dass seine Kräfte noch nicht vollständig zurückgekehrt waren. Er taumelte, als er den Brunnen
rand loslassen wollte. Zamorra hielt beide Hände hoch, bereit, den Zauberer zu stützen, falls dieser sich nicht auf den Beinen halten konnte. Merlin strich sich mit einer Hand über die Stirn, er drehte sich zu Zamorra herum und erstarrte. »Was suchst du denn hier?« Der Meister des Übersinnlichen fühlte sich, als habe man ihm den Magen vereist. Kälte breitete sich über seinen Oberkörper aus und schien besonders die Herzgegend zu erfassen. »Danke für die freundliche Begrüßung«, sagte er im überfreund lichsten Tonfall. »Erkennst du mich endlich?« »Weshalb endlich?« Der König der Druiden grummelte und blickte unfreundlich drein. »Ich erkenne dich immer.« »Bis auf eben«, verbesserte der Professor. »Was redest du für einen Unsinn! Du warst auf einmal da, als ob du aus dem Nichts gekommen wärst. Und ich habe dich sofort er kannt!« Zamorra ballte die Hände zu Fäusten. Er atmete langsam ein und aus. Dabei schloss er die Augen und zählte still bis zehn. Ruhig, ganz ruhig bleiben, sprach er sich innerlich Mut zu. Er ist ver wirrt, und sobald er meiner Bitte zugestimmt hat, bin ich … »Was also soll die dämliche Frage, ob ich dich endlich erkenne?«, wurde sein Gedankengang unterbrochen. »Willst du mir vielleicht unterstellen, dass ich an Amnesie leide?« Zamorra hielt den Atem an. Er überlegte die nächsten Schritte ge nau, damit ihm kein Fehler unterlief. Schließlich wollte er etwas von dem Zauberer, und er wollte es sich nicht weiter mit ihm verderben. Merlin war ungewöhnlich aggressiv, das bewies die Schärfe in sei nem Ton. »Ich unterstelle dir nichts«, antwortete Zamorra langsam. »Aber eben fragtest du mich noch, wer ich bin und ob wir uns kennen.« Merlin zuckte zusammen. Seine gefurchte Stirn bewies, dass er
kein Wort glaubte. »Das glaubst du doch selbst nicht!«, entfuhr es ihm. »Alles Lüge! Genau wie bei Nicole und bei meinem Bruder!« Abwehrend hielt der Professor ihm beide Hände entgegen. »Moment, Merlin«, sagte er. »Ich lüge dich nicht an. Du erkanntest mich eben wirklich nicht.« »Pah, Geschwätz!« »Das ist die Wahrheit. Aber was meintest du mit genau bei Nicole und bei Asmodis?« Die Augen des Zauberers funkelten Zamorra böse an. »Was geht dich das an?«, schimpfte er. »War es nicht so, dass du Nicole mit deiner Tochter Sara verwech seltest?« »Das kann zwar nicht sein, aber wenn du es so siehst …« Der Meister des Übersinnlichen schüttelte den Kopf. Merlin würde sich nicht ändern, einen Fehler konnte er nie zugeben. Höchstens anderen die gemachten Fehler unter die Nase reiben! »Und was ist mit Asmodis?« Der Druide verzog das Gesicht. »Du lässt wohl nie locker«, be schwerte er sich. »Immer wieder Fragen, Fragen und noch mal Fra gen!« Zamorra konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Dann beantworte meine Fragen, und ich lasse dich in Ruhe«, sag te er. Merlin winkte ab. »Und dann hast du schon wieder neue Fragen«, behauptete er. »Tja, es ist nicht leicht, ein Gott zu sein«, murmelte Zamorra und grinste dabei. Und wenn ich einmal Zeit habe, bedauere ich dich. Bloß gut, dass ich nie Zeit habe. Laut fragte er: »Und was ist mit deinem Bruder?« »Ach der!« Schon wieder winkte der Alte ab. »Ständig hängt er
mir in den Ohren und macht mir Vorwürfe. Manchmal frage ich mich …« »Was?« Merlin schüttelte den Kopf. Er bewegte sich ein paar Meter vom Zauberbrunnen weg und schaute sich ungläubig um. »Wann kommt der nächste Angriff?«, fragte er übergangslos, und sein Gesicht sah dabei aschfahl aus. »Welcher Angriff?« Zamorra war ratlos, er wusste nicht, auf was der Zauberer anspielte. »Ich denke, in Broceliande herrscht immer Frieden?« Er blickte Merlin auffordernd an, von seiner Befürchtung zu er zählen, obwohl er schon im Voraus wusste, dass der sich nicht dazu äußern würde. Im Gegenteil, der alte Mann mit den ewig jungen Augen legte die Arme um den Oberkörper, als wollte er sich wärmen. Er sah hilflos aus wie noch nie. Wenn ich dir nur helfen könnte, durchfuhr es Zamorra, dem dieser Anblick unangenehm war. Aber du lässt ja niemand an dich heran. »Ich habe auch immer gedacht, dass mein Garten ein friedlicher Ort wäre«, erzählte Merlin. Nach einer kurzen Pause fügte er leise hinzu: »Bis vor kurzem …« Zamorra sagte nichts dazu. Er hoffte, dass er so mehr erfahren würde, als wenn er jetzt drängelte. Er blickte weiter auffordernd, als Zeichen dafür, dass er zuhören würde. »Jemand hat es auf mich abgesehen«, erklärte Merlin. »Jemand, den ich vor langer Zeit kannte, glaube ich. Aber ich habe vergessen, wer er oder sie sein könnte. Ich erhalte telepathische Schmerzen zu gesandt, gegen die ich mich kaum zur Wehr setzen kann.« »Und du hast keine Ahnung, wer das sein könnte?« Verwundert blickte ihn der Druide an. »Nein, und es geht dich auch nichts an. Das ist alleine meine Sache.« Zamorra schwieg konsterniert. Die Sprunghaftigkeit von Merlins
Gemütszustand kostete ihn Nerven. Es hätte ihm nichts ausgemacht, wenn sich der Alte nur ablehnend verhielte, aber erst Vertrauen, dann Hass. Er wusste nicht, auf was er sich einstellen sollte. Im einen Satz Hüh, im nächsten Hott, wer soll das verstehen? »Was willst du hier?« Merlins Stimme klang wie brechendes Eis. Im gleichen Augenblick, als Zamorra antworten wollte, fügte er hin zu: »Was willst du hier von mir?« Der Dämonenjäger presste kurz die Lippen zusammen, dann ent schloss er sich dazu, auf dem direkten Weg vorzugehen. »Ich wün sche eine Generalaufenthaltserlaubnis auf Caermardhin. Zumindest, dass ich mich ständig im Saal des Wissens aufhalten kann.« »Und deshalb reist du mir extra nach?« Die Skepsis in Merlins Stimme war unüberhörbar. »Alleine deshalb«, bestätigte Zamorra. »Außerdem machte ich mir Sorgen und wollte wissen, wie es dir geht. In den letzten Jahren hat ten wir kaum Gelegenheit, miteinander zu reden und da dachte ich …« »… schaue ich doch einmal nach, ob ihn die Angriffe schon umge bracht haben.« Zamorra war so perplex über das eben Gesagte, dass er einige Se kunden nichts sagte. Stattdessen starrte er den Zauberer mit offe nem Mund an. »Was redest du da? Ich wusste bis eben nichts davon, dass du an gegriffen wurdest«, verteidigte er sich. »Das habe ich erst eben von dir erfahren.« »Aber diese Stimme, die mich quält, kann nur von dir stammen, Zamorra«, lautete die Anklage ohne irgendeinen Beweis. »Wer au ßer dir und deiner Gefährtin stellt sonst meine Aufträge infrage?« Merlins Augen verloren von einer Sekunde auf die nächste ihren Glanz. Dadurch wirkte er so alt, wie er in Wirklichkeit war. Er wischte sich mit der Hand über die Stirn, als könnte er so die Schat ten vertreiben, die über ihm lagen.
»Ist ja auch egal. Was soll's«, klagte er. »Selbst wenn du daran Schuld wärst …« Er ließ offen, was er damit meinte. Ein bitterer Zug lag um Zamorras Mund. Er schloss die Augen und schüttelte den Kopf. Schade, dass man die Ohren nicht genauso wie die Augen schließen kann, dann würde man weniger Schwachsinn hören, und man hätte bessere Nerven, dachte er resigniert. Der Vorwurf, dass er an einer ominösen Stimme schuld sein sollte, welche Merlin quälte, hatte ihn tief getroffen. Doch er verkniff sich die Frage, was diese Stimme gesagt haben sollte. »Verschieben wir das Gespräch. Es hat keinen Sinn, dass wir uns heute unterhalten«, sagte er und wandte sich zum Gehen. Schon nach wenigen Metern stellte er fest, dass ihm der Herr über Broceli ande wortlos folgte. Und das fand er bemerkenswert. Sonst ließ Merlin keine Gelegen heit zu streiten aus, und hier folgte er ihm willig wie ein Hündchen dem Herrn. Das wiederum unterstrich, dass er sich in einer großen Krise befand. Zamorra hatte sich zu früh gefreut, denn der Druide legte nun erst richtig los mit seinen Vorhaltungen.
Das Warten hatte sich gelohnt. Mit weitausgreifenden Schritten be wegte sich der große dunkelblonde Mann auf die Regenbogenblu men zu. Ihm folgte Myrddhin Emrys mit zwei oder drei Meter Ab stand. Sie waren in ein Gespräch vertieft, aber Gwin bemerkte selbst auf diese Entfernung, dass es sich um ein Streitgespräch handelte. Der junge Mann schüttelte mehrmals den Kopf, er schien nicht mit dem einverstanden zu sein, was Myrddhin von sich gab. Seine Gesten sagten mehr als genug, aber der Zauberer wirkte nicht minder aufgeregt. Alles in allem eine Konstellation, die Gwin gefiel.
Deine Feinde sind meine Freunde, freute sie sich. Und je mehr du dich mit anderen streitest, umso besser für mich. Alles in ihr drängte danach, den Alten sofort anzugreifen. Sobald er aus dem Wald und vor die Regenbogenblumen trat, war die Gele genheit, ihm Gerechtigkeit zuteil werden zu lassen. Trotzdem schreckte sie davor zurück, und das nicht nur wegen der seltsamen Macht, die über Broceliande lag und ein Eindringen ihrerseits unmöglich machte. Sie wusste auf der einen Seite nicht, wie der Begleiter mit dem starken Amulett reagieren würde. In stinktiv spürte sie, dass sie einen Angriff nur ohne die Anwesenheit von Merlins Stern durchführen konnte, ohne selbst in Gefahr zu ge raten. Auf der anderen Seite wollte sie sich mit der Strafe unendlich lan ge Zeit lassen. Soviel Zeit, bis sie seiner Qualen überdrüssig wurde. Und das sollte lange dauern. Eine Ewigkeit lang. Reiß dich zusammen, beschwor sie sich. Gleich sind sie an den eigenar tigen Riesenblumen. Der unbekannte, dunkelblonde Mann stand vor den Regenbogen blumen. Obwohl er knapp einmeterfünfundachtzig groß war, über ragten ihn die Blütenkelche noch um einiges. Myrddhin, nur wenig kleiner als der Fremde, sprach erregt auf diesen ein. Der Fremde winkte ab, er verzog das Gesicht, als habe er etwas Schlechtes gegessen. »Es hat doch keinen Zweck, wenn du mir auf der einen Seite miss traust und auf der anderen Seite Aufträge erteilst, die ein großes Maß an Vertrauen enthalten«, schleuderte er dem Zauberer entge gen. »Aber das liegt alleine an dir und an Nicole«, beharrte Myrrdhin auf seiner Meinung. »Lass uns das vertagen, Merlin.« Merlin? Weshalb nennt er ihn nicht bei seinem richtigen ›Namen‹!
Gwin war verwirrt. »Nein!«, widersprach der Alte. »Ich will das ein für alle Mal ge klärt wissen. Aus diesem Grund begleite ich dich beim Transport zurück ins Château.« Welcher Transport? Und was ist ein Château? Gwin fragte sich, wes halb beide Männer zwischen die Blüten traten. Im nächsten Augen blick wusste sie, welchem Zweck die Blumen dienten. »Die können sich damit transportieren«, flüsterte sie ungläubig. »Bei LUZIFER, wer hat sich das ausgedacht?« Der Fremde schloß die Augen, um sich so besser konzentrieren zu können. Gleich würde er verschwunden sein. Er und Myrddhin mit ihm. Das durfte nicht geschehen! In diesem Augenblick war er schutz los ihrer Kraft ausgesetzt. Seine Strafe sollte endlich beginnen! Trotz aller guten Vorsätze, nicht zu früh zu agieren, konnte sich die schwarze Frau nicht zurückhalten. Myrddhin drohte ihr wieder zu entwischen. Sie wusste, dass sie ihn innerhalb kurzer Zeit wieder finden würde, aber die so lange aufgestauten Emotionen brachen sich Bahn. Nein, das darf nicht sein!, hämmerte es hinter ihrer Stirn. Du ent wischst mir nicht mehr! Und sie setzte ihre übernatürlichen Kräfte ein. Diesmal nicht ge nau berechnet wie vorher, sondern mit aller verfügbaren Wucht. Im gleichen Augenblick, in dem die beiden Männer entmateriali sierten, schlug ein schwarzer Blitz bei ihnen ein, der alles veränder te. Merlins Stern, der seinem Meister Gwins Gegenwart seltsamer weise nicht angezeigt hatte, versuchte noch, das grünliche wabernde Energiefeld aufzubauen und den alten Zauberer mit einzubeziehen, aber es war zu spät.
2. Eine Leiche im Keller Ströme von Schmerz breiteten sich unaufhaltsam wie fließende Lava durch Zamorras Adern und Nerven aus, folterten dabei jeden Mus kel, ließen seine Kräfte schwinden. Es schmerzte dermaßen, dass er den Kopf hob und versuchte, sei ne Qual hinauszuschreien. Mehr als ein Röcheln brachte er jedoch nicht zustande. Er fühlte sich erschlagen wie noch nie in seinem Le ben. Aber von was? Ich habe mich doch nur von den Regenbogenblumen transportieren lassen, wie schon hunderte Male zuvor! Schwarze und gelbe Kreise tanzten vor seinen Augen. Dazu kam ein unaufhörliches grünes Wabern, das ihn in diesem Zustand fast verrückt machte. Er versuchte, die Schmerzen und die Erschöpfung zu ignorieren und sich wieder zu erheben. Er schnappte nach Luft und hoffte, dass er endlich die Besinnung verlieren möge. Als er endlich imstande war, seine Augen zu öffnen, nahmen die Schmerzen ab, bis sie ein erträgliches Maß erreicht hatten, doch die Mattigkeit blieb. Seine Sehfähigkeit nahm mit jeder weiteren Sekunde zu. Gleichzei tig damit nahm das grünliche Wabern an Intensität ab, bis es schließlich ganz erlosch. Der Energieschirm! Das Amulett hat versucht, mich vor einem schwarz magischen Angriff zu schützen. Er hatte noch Schwierigkeiten beim Denken, es ging alles so furchtbar langsam. Ein schwarzmagischer Angriff? Von wem? Wo war ich überhaupt? Die Erkenntnis, dass etwas verdammt schief gegangen war beim letzten Transport mit den Regenbogenblumen, setzte sich in ihm fest.
Aber warum? Was war der Auslöser dafür gewesen? Ich habe mich doch allein auf Château Montagne konzentriert und alles andere außen vorge lassen. Die Zweifel waren berechtigt, schließlich waren sie schon mehrere Male dadurch in Nöte geraten, dass derjenige, der den Blumen den Transport mit einem Gedankenbefehl gab, an andere Dinge dachte. Vor einiger Zeit waren sie zum Beispiel durch Asmodis auf die Rat tenwelt geraten. Vor etwa zweieinhalb Jahren entdeckten sie auf die se Weise die Spiegelwelt, ein Ereignis, das sie heute noch beschäftig te, und als Krönung des Ganzen landeten Zamorra und Nicole vor über vier Jahren in der Hölle und brannten im Seelenfeuer. Den Meister des Übersinnlichen schauderte noch heute, wenn er daran dachte; es war das Schlimmste, was er jemals erlebt hatte, und er wünschte sich keine Fortsetzung dieser unendlichen Qual. Er setzte sich auf, darauf bedacht, nicht zu schnell aufzustehen, damit ihm nicht schwindelig wurde. Seine Sehfähigkeit war wieder vollständig zurückgekehrt. Mit einem Blick erfasste er, wo er sich befand. »Der Kuppeldom von Château Montagne«, knurrte er. »Aber ver dammt noch mal, was ist da schief gegangen?« Dieses Gewölbe im Kellerlabyrinth des Schlosses war vom Durch messer her relativ klein, es mochte allerhöchstens zwanzig Meter durchmessen. Die Höhe des Saales betrug bestimmt sechzehn Meter. Jetzt wusste Zamorra auch, was die schwarzen und gelben Kreise von vorhin waren: Er hatte in halbbewusstlosem Zustand gerade wegs in die freischwebende Mini-Sonne geblickt. Was man nicht allzu lange tun sollte, überlegte er. Wie lange kann man in diese Sonne blicken, bevor das Augenlicht geschädigt ist? Dann fiel ihm ein, dass er zum Zeitpunkt des Transports einen Be gleiter hatte. »Wo ist Merlin?«, fragte er sich. Er drehte sich zur Seite und sah eine Gestalt verkrümmt am Boden liegen. Es handelte sich um einen vollbärtigen Mann, der eine weiße,
kapuzenlose Kutte trug. »Merlin«, stieß Zamorra hervor. »Was ist mit dir?« Er stand auf und bewegte sich torkelnd, als hätte er ein paar Glä ser zuviel getrunken, auf den am Boden liegenden Zauberer zu. Bei ihm angekommen, bemerkte er, dass der Zauberer in einer eigenar tigen Art und Weise dalag. Seine Glieder wirkten verkrümmt oder verrenkt, als wären diese von einem unbekannten Angreifer nach siegreichem Kampf verbogen worden. Zamorras schluckte, seine Kehle war trocken. Sein Herz schlug hart gegen die Rippen, dass es schmerzte. Er kniete sich vor Merlin hin und berührte ihn an der Schulter. Er rüttelte ihn so sachte, als ob er ein zerbrechliches Kleinod wäre. Der Zauberer hatte die Augen halb offen. Kein Laut entwich dem geöffneten Mund, die Brust hob und senkte sich nicht zum Atmen. Zamorra versuchte, Merlins Puls zu fühlen, doch er fand ihn nicht. Panik drohte ihn zu übermannen. Obwohl sich alles in rasender Schnelligkeit abspielte, schienen Jahrhunderte zu vergehen. Tausend Gedanken schossen durch Zamorras Kopf. Er versuchte, so ruhig wie möglich zu bleiben, sich nicht dem Chaos seiner Gefüh le hinzugeben. Er überlegte kurz, was bei Erster Hilfe in einem sol chen Fall zu tun ist. Dann übte er sich in Wiederbelebungsversu chen. Mund-zu-Mund-Beatmung und Herzmassage blieben jedoch ohne Erfolg. Château Montagne besaß eine interne Bildsprechanlage, Visofon genannt, die über Tastatur oder Spracheingabe sowohl als Haustele fon und Überwachung wie auch als externes Telefon von allen ange schlossenen Räumen des Châteaus aus benutzbar war. Auch von hier aus. Automatisch stand Zamorra auf und ging an die Visofonverbin dung. Ohne groß zu überlegen aktivierte er die Bildsprechanlage. William, der schottische Butler, erschien auf dem Bildschirm. »Monsieur, Sie wünsch …«, begann er, wurde aber sogleich von seinem Chef unterbrochen. Zamorra selbst begriff seine eigenen
Worte erst, nachdem er sie William förmlich entgegengeschleudert hatte: »Rufen Sie schnellstens einen Notarzt, William! Merlin ist ent weder tot oder liegt im Sterben!«
Merlin tot?, hämmerte es hinter Zamorras Stirn. Das darf nicht sein! Er saß erschöpft neben dem Zauberer, an dem Nicole Duval gera de Wiederbelebungsversuche vornahm, und wollte nicht wahrha ben, dass es Merlin nicht mehr gab. Wie viele Feinde hatten seit Jahrtausenden versucht, den König der Druiden zu ermorden! Keinem war es gelungen, alle waren an seiner Macht gescheitert. Und jetzt war eine Regenbogenblumenverbindung schuld an sei nem Tod? Unglaublich! Zamorra befand sich im Schockzustand. Sein Blick ging ins Leere, er knetete die Finger, ohne zu bemerken, was er tat. Er war nicht in der Lage, Nicole bei den Erste-Hilfe-Maßnahmen zu unterstützen, die sie sofort nach Betreten des Kellergewölbes begonnen hatte. Bis zum Eintreffen des Notarztes konnte sie nicht untätig bleiben. Sie hoffte, dass ihre Bemühungen von Erfolg gekrönt sein würden. Der Blitz!, fiel es Zamorra ein. Dieser eigenartige Blitz! Er konnte seine Gedanken zu diesem Thema nicht fester eingren zen. Da war etwas gewesen. Etwas Außergewöhnliches, das er noch nicht in Worte fassen konnte. Er stand auf, ging einige Schritte weiter und setzte sich mit dem Rücken zur Wand. Den Kopf in den Nacken gelegt, starrte er zur Decke hoch an der Mini-Sonne vorbei und überlegte verzweifelt, was er übersehen hatte. Was war das nur gewesen? Seine Erinnerung war wie blockiert, wenn er sich den Transportvorgang vor Augen führen wollte. Es war ein Ding der Unmöglichkeit! Aber was war es nur gewesen? Was?
Als ihm einfiel, was so unmöglich an der ganzen Sache war, traf ihn fast der Schlag. Dieser Blitz war »schwarz« gewesen!
Irgendwo, außerhalb des Lebens Das Wesen spürte seinen Körper nicht mehr, es schien nur als Geist zu existieren, und doch konnte es die Grenzen seines eigenen Kör pers nicht überwinden. Sein Zeitgefühl existierte nicht mehr, es wusste nicht, wie lange es sich schon in diesem Zustand befand. Es musste sich um eine Art Verbannung handeln, denn es fühlte sich dahintreiben wie ein Staubkorn in der Unendlichkeit; ohne Aussicht, jemals wieder unter Lebewesen zu geraten. Es hätte nicht zu sagen vermocht, was schlimmer war: die Stille, die Düsternis oder die Bewegungslosigkeit. Warum war es abgeschnitten von allem? Wer hatte es in diesen perfekten Mikrokosmos gesperrt? Für welche Untat musste es diese unvorstellbar grausame Strafe erleiden? Verbannung! Unter solchen Umständen! Warum? Nach dem Aufwachen aus tiefer Bewusstlosigkeit schien die Zeit stillzustehen. Wie in Zeitlupe schienen die Gedanken träge dahinzu tropfen. Erst nach einem Punkt, der ebenso Minuten wie Jahre betra gen konnte, kam es vollends zu sich. Traurig und verzweifelt dachte es daran, dass der Denkprozess seine einzige Lebensfunktion blieb. Vieles ist zu ertragen, und wenn man dem Wesen erklärt hätte, wofür es bestraft wurde, hätte es das vielleicht auch eingesehen. Wenn man ihm gesagt hätte, wie lange die Zeit der Läuterung sein
sollte, hätte es sich darauf eingestellt. Aber dass es ohne ein Wort in diese Hölle geworfen wurde, brachte es an den Rand des Wahn sinns. Die Qualen, die das einsame, ausgestoßene Wesen litt, waren un vorstellbar. Schließlich mündete seine grenzenlose Verzweiflung in blanken Hass. Hass auf jene, die es in die Verbannung geschickt hatten. Wel ches Gericht hatte es verurteilt, und wo war es? Der Hass des Wesens wuchs, bis er schließlich das einzige ihn be herrschende Gefühl war. Und dieses Gefühl war so überstark, dass es fast daran zugrunde gegangen wäre.
Gwin raste vor Zorn, sie war böse auf sich selbst. Sie konnte es sich nicht verzeihen, dass sie Myrddhin und den Fremden angegriffen hatte. Meine Rache habe ich mir mit einem Schlag zerstört! Ich wollte ihn nicht mehr entkommen lassen und habe alles zunichte gemacht! Sie stand vor den Regenbogenblumen und zitterte vor Wut. Zwei der Blütenkelche hatte sie bei ihrem magischen Angriff zerstört. Die restlichen Blumen ließen die Köpfe hängen. Der Angriff hatte natür lich auch sie getroffen. Heute konnten sie bestimmt nur noch einfa che Transporte ausführen, Teleportationen mit zwei oder mehr Per sonen waren vorerst nicht drin. »Aber was zählt das schon, wenn ich meine Rache nicht ausführen kann«, zeterte Gwin. Sie hatte nicht geglaubt, dass der Transport mittels der Regenbogenblumen so schnell gehen würde, und war selbst vollkommen überrascht. »Am besten, ich zerstöre den Rest dieser eigenartigen Blumen«, überlegte sie laut. Nach einigem Nachdenken entschied sie sich da gegen. »Unnütze Kraftvergeudung. Wer weiß, für was sie noch gut
sein können.« Außerdem hatte sie nicht vor, lange am Eingang zu Broceliande zu verweilen. Ihr Plan war gewesen, dass sie Myrddhin Emrys, den der Fremde aus einem unbekannten Grund Merlin genannt hatte, zuerst mürbe machen wollte. Sie war schon so nahe dran gewesen, ihn zur Verzweiflung zu bringen, und alles war umsonst gewesen! Sie hatte gespürt, wie ihn die Unsicherheit erfüllte. Sie hätte alles dafür gegeben, ihn um Erbarmen winseln zu hören. Das war ihr Traum gewesen. »Verdammt noch mal, und jetzt war alles umsonst, was ich begon nen habe!« Ihre Schreie hallten am Waldrand von Broceliande wider. Sie tobte und schien am Rande des Wahnsinns zu stehen. Als sie sich nach einer halben Stunde wieder einigermaßen in der Gewalt hatte, bemerkte sie, dass eine Veränderung mit dem Wald vor sich gegangen war. Dies ließ sich nicht an Äußerlichkeiten fest stellen, denn die Bäume und Büsche sahen von hier draußen aus wie zuvor – jedenfalls so weit sie durch die Regenbogenblumen hinein blicken konnte. Dieser Wald besaß etwas wie einen Geist oder ein Gewissen. Genau konnte Gwin das auch nicht erklären, aber sie spürte, dass Broceliande einen Wächter geistiger Natur besaß. Und dieser Wäch ter schien den Wald nach Myrddhins Tod stärker denn je zu schüt zen. Es handelte sich um eine M-Abwehr, eine Art weißmagischer Schutzkuppel, die kein schwarzmagisches Wesen lebend durchdrin gen konnte. Sie konnte nicht wissen, dass Merlin selbst die Magie, die Broceli ande innewohnte, zu diesem Zweck eingesetzt und im Laufe der Jahre perfektioniert hatte. Verstärkt wurde dieser Schutz durch den ehemaligen Gesichtslosen An'dean, der mittels einiger Seelen-Tränen die Funktion des Zauberbrunnens wieder instand gesetzt hatte. Der Caltar fungierte seit dieser Zeit als eine Art Guter Geist von Broceli
ande. Es war eigenartig. Sie hatte es mittels Gedankenbotschaften ge schafft, Myrddhin zu quälen und an den Rand seiner Beherrschung zu bringen. Und der unsichtbare Wächter des Zaubergartens hatte sich nur darauf beschränkt, ihren Angriff abzumildern. Doch er hat te ihr unmissverständlich klar gemacht, dass sie Broceliande nie le bend würde betreten können. Für was gibt es den besten Wächter, wenn er so versagt, dachte Gwin. Nicht dass sie böse gewesen wäre über den Ausfall des Guten Geis tes, aber ihr erschien Myrddhins Tod als zu einfach. Ein einfacher magischer Angriff, und schon gab es ihn nicht mehr? Das kann es doch nicht gewesen sein, zweifelte sie. Unter normalen Umständen wäre ich ihm weit unterlegen gewesen. Wie viele Jahrtausende musste sie auf ihre Rache warten. Seit da mals, als Myrddhin sich von der Hölle abgewandt und sie an den Rand des Nichtexistierens gebracht hatte. Er war den thessalischen Hexen begegnet und hatte dann sein Leben als Merlin Ambrosius aufgebaut, wo er als Mentor im Hintergrund die ersten beiden »Ta felrunden« gründete – und sie beide wieder durch Verrat verlor. Er wurde ein Diener des Wächters der Schicksalswaage, der nicht nur über die Erde wachte, sondern über verschiedene Welten, auf denen er überall Stützpunkte wie Caermardhin besaß. Aber davon wusste Gwin nichts, zu kurz weilte sie erst wieder unter den Lebenden. Sie hatte die Grenze des Lebens überschritten. Außer einem »Schattenfragment« hatte nichts mehr von ihr existiert … Gwin schloss die Augen, als sie an diese Zeit dachte. Wie jedes Mal, so überkam sie auch jetzt Angst und Abscheu beim Gedanken an das Nichts. Sie ballte die Hände zu Fäusten und schüttelte den Kopf, sie vergoss dunkelrote Tränen. »Niemals wieder«, keuchte sie, »soll es so sein! Ich will nie mehr so hilflos sein!« Reiß dich zusammen, beschwor sie sich. Es nutzt nichts, wenn du ver rückt spielst.
Als sie die Augen wieder öffnete, glühten sie dunkelrot; eine deut liche Warnung an alle, ihr fernzubleiben. Und es gelang ihr: nach kurzer Zeit hatte sie sich wieder soweit beruhigt, dass sie zu logischem Denken imstande war. »Selbst wenn er verbrannt ist, so müsste noch Asche oder Ruß als Überrest von ihm vorhanden sein! Aber ich sehe nichts davon … Wo ist seine sterbliche Hülle?« Und was war dieses grünliche Wabern um die beiden Männer gewesen? Es baute sich im gleichen Augenblick auf, als ich sie angriff, es wollte auch zurückschlagen, das habe ich gespürt, aber dadurch, dass sie verschwan den, fühlte ich nur ein leichtes Unbehagen. »Was bedeutet das?« Sie war misstrauisch geworden. Und sie nahm sich vor, diesen Fall noch einmal mit ihren über sinnlichen Kräften zu untersuchen.
Keine fünfzehn Minuten nach Williams Anruf traf schon der Not arzt ein. Es handelte sich um Doktor Renoir, einen älteren, vertrauenerwe ckenden Herrn mit Stirnglatze und einem silbergrauen Haarkranz. William geleitete ihn vom Hof bis in den Kellersaal, was nochmals drei Minuten dauerte. Renoir wirkte auf den ersten Blick gemütlich. Die Schnelligkeit, mit der er zusammen mit William das Gewölbe betrat, passte nicht zu seinem Aussehen. Aber als Arzt wusste er, dass in einem solchen Fall jede Sekunde zählte und gewisse Nachfragen erst später gestellt werden sollten. Wie er bekundete, hatte er es so schnell geschafft, von seiner Pra xis in Feurs hierher zu kommen, weil er ohnehin einige Hausbesu che machen wollte und deshalb gerade in der Nähe war, als er von seiner Praxis per Handy über den Notfall informiert wurde. Ansons ten hätte es ein wenig länger dauern müssen. Dennoch wäre er alle
mal schneller vor Ort gewesen als der Kollege vom Krankenhaus in Roanne. Doktor Renoir stellte seine Medikamententasche ab und kniete sich vor den Patienten, den Nicole und Zamorra vorsorglich auf eine Decke gebettet hatten. Die wasserblauen Augen des Arztes blickten fragend durch die Gläser der Nickelbrille. Er schüttelte verständnislos den Kopf, wäh rend er mit der Untersuchung des Patienten begann. »Was ist, Monsieur?«, erkundigte sich Nicole. »Es ist schon etwas eigenartig, aber kommt der Patient von einem Kostümfest oder ist er ein Mitglied der Kirche?« Zamorra blickte Nicole und William vielsagend an. Es war logisch, dass der Mediziner das bemerken musste. Mit einer solchen Kutte fiel jeder auf. Dann beachtete der Arzt Merlins Kleidung nicht mehr, er konzen trierte sich auf seine Arbeit. Er zog alle Register seines Könnens, und er war nicht der Schlechteste seines Standes. Wie schon Zamorra und Nicole vor ihm, versuchte er, den Patien ten zu reanimieren. Jedoch genauso erfolglos. Doktor Renoir gab sein Bestes. Eine halbe Stunde lang versuchte er alles, um den Patienten dem Tode zu entreißen. Doch es gelang ihm nicht einmal, Merlins Herz zum Schlagen zu bewegen, oder ihn zum Atmen zu bringen. Zum Schluss hatte er seine Jacke ausgezogen und die Ärmel hoch gekrempelt. Sein Kopf glühte, der Schweiß rann ihm über das Ge sicht. Schwer atmend stand er da, die Hände in die Seiten gelegt. Er schüttelte traurig den Kopf und sagte mit heiserer Stimme: »Tut mir Leid, da ist nichts mehr zu machen!« »Sie meinen …« Zamorra getraute sich nicht, die Frage auszuspre chen, doch der Arzt hatte ihn auch so verstanden.
»Ja, ich meine«, antwortete er und nickte dabei langsam. »Der Pati ent ist tot!« Zamorra schüttelte den Kopf. Obwohl er vor wenigen Minuten erst fast dieselben Worte gebraucht hatte, so drang ihm die Gewiss heit jetzt erst zu Bewusstsein. Merlin ist tot, dachte er, während er stumm auf die Leiche starrte. Und das, ohne dass wir uns richtig aussprechen konnten. Er spürte, wie sich Leere in ihm ausbreitete. Noch nie hatte er so klar wie in dieser Minute erkannt, was er seinem Mentor zu verdan ken hatte. Auch wenn er sich in den letzten Jahren oft über ihn geär gert hatte. Wie oft hatte er über den störrischen Alten geschimpft, über seine Weigerung, ihn gleichberechtigt zu behandeln oder auch nur Infor mationen herauszugeben. Oder über die beispiellose Arroganz, mit der Merlin seine Aufträge vergab. Manchmal kam er sich dabei schlimmer behandelt vor als ein Sklave. Trotzdem, der Zauberer von Avalon hatte auch seine guten Seiten gehabt. Und wenn er oft ruppig wirkte, so mochte es daran liegen, dass er als Diener des Wächters der Schicksalswaage eine enorme Ver antwortung übernommen hatte. Zamorra hatte sich sogar schon einmal mit seiner Gefährtin dar über unterhalten, ob Merlin und Asmodis in Kürze sterben würden, aber das war nur graue Theorie gewesen. Die Realität hingegen an zunehmen war weitaus schwerer … Während sich Nicole und William mit Doktor Renoir unterhielten, stand Zamorra immer noch stumm da und blickte auf Merlins Leichnam. Er beschloss, dem Toten die Augen zu schließen. Seine Hand zit terte dabei, und es gelang ihm erst beim vierten Versuch. »Warum nur? Kannst du mir das verraten?«, flüsterte er so leise, dass es die anderen nicht hören konnten. Wie konnte das geschehen? Das muss ich schleunigst untersuchen!
Er ahnte nicht, dass er genau dazu nicht mehr kommen sollte. Aus weiter Ferne erklangen fragende Rufe. Nach dem Arzt hatte offenbar noch jemand das Château betreten. William beeilte sich, die Besucher zu empfangen oder abzuwimmeln. Je nachdem, wer gera de draußen stand. Schon nach kurzer Zeit kam er wieder zurück, in Begleitung zwei er Männer, die Nicole Duval kannte. »Monsieur Zamorra, Mademoiselle Duval, die Polizei!«, meldete William. Zamorra hing immer noch seinen Gedanken nach. Er wurde erst auf die beiden Männer aufmerksam, als seine Gefährtin leise zischte: »Ach du liebes bisschen, die beiden kennen wir!« Er hob den Kopf und blickte die Ankömmlinge an. Dann atmete er tief durch, verzog den Mund und schloss die Augen. Ausgerechnet die! Das hätte wirklich nicht sein müssen!
Ausgerechnet die! Nun, man kann sich nicht aussuchen, wen die Poli zei zur Klärung eines Falles schickt. Doch wenn Nicole und Zamor ra die Wahl gehabt hätten, zumindest diese beiden Herren hätten sie abgelehnt. »Bitte, Sie wünschen?«, fragte Nicole trotzdem im unschuldigsten Ton. »Mordkommission Roanne. Ich bin Kommissar Charbon«, stellte sich der dickere der beiden vor. »Und das ist mein Assistent, Mon sieur Dent.« »Wir kennen uns«, nickte Zamorra gottergeben, nachdem er die Augen wieder öffnete. »Oh ja«, bestätigte Charbon. »Nur hoffe ich, dass es diesmal ohne abgetrennte Arme, die kurz danach verschwunden sind, oder ohne entfernte Blutspuren abgeht.«
Dies war ein deutliches Zeichen dafür, dass Charbon sich noch gut an den damaligen Fall erinnerte. Damals hatten sie einen abgetrenn ten Unterarm im Safe von Zamorras Arbeitszimmer gefunden. Der Arm löste sich kurz darauf in Rauch auf, und die Blutspuren, die vorher die Tapete verunzierten, waren kurz darauf ebenfalls nicht mehr zu sehen. Zamorra hatte daraufhin die Mordkommission gerufen, genau jene zwei Männer, die nun vor ihm standen. Und sie waren ver ständlicherweise alles andere als erfreut gewesen, einen Unsichtba ren zu jagen, der zudem keine Spuren hinterließ. Sie waren sogar ziemlich sauer gewesen. »Mein Bester, das bringt Ihnen nicht gerade Pluspunkte ein«, hatte der Kommissar damals geschimpft. Nicole und Zamorra konnten ihm das noch nicht einmal verden ken. Er hätte sie schlussendlich auch wegen groben Unfugs oder Ir reführung der Behörde belangen können. Bisher war das noch nicht erfolgt, Zamorra konnte also davon aus gehen, dass die Polizisten ihm trotzdem positiv gegenüberstanden. Er blickte die beiden wortlos an und wartete darauf, wie ihre wei tere Reaktion sein würde. Seit ihrem Eintreten erfüllte ihn eine selt same Unruhe, die er sich selbst nicht erklären konnte. Ruhig bleiben, redete er sich ein. »Guten Tag, Doktor Renoir«, wandte sich der Kommissar an den Arzt. Sie kannten sich beide seit langem sehr gut. Sie schätzten sich über die Arbeit hinweg; privat dachte einer vom anderen, dass er bald in Rente geschickt werden sollte. »Guten Tag, Herr Kommissar. Nett, dass Sie rasch kommen konn ten«, erwiderte Renoir mit leiser Stimme. Der Arzt fühlte sich nie dergeschlagen, wie jedes Mal, wenn ein Patient starb. Er hatte dem Mann nicht mehr helfen können, und das empfand er als persönli che Niederlage. »Sie haben die Polizei alarmiert, Doktor?«, fragte Nicole über
rascht. »Natürlich. Erstens sprach Ihr Butler am Telefon von einem Unfall. Da muss so oder so die Polizei eingeschaltet werden. Und zweitens hat es sich auch bis zu mir herumgesprochen – wenn hier im Château Montagne so etwas passiert, hat es doch sicher keine natür liche Ursache, oder?« Zamorra sah ihn verdrossen an. Der Arzt hatte zwar Recht, aber seine Entscheidung, gleich die Polizei hinzuzuziehen, erschien ihm doch sehr voreilig. Außerdem, wieso hatte William es einen Unfall genannt? Davon war von Seiten Zamorras überhaupt nicht die Rede gewesen. Im Gegenteil, er hatte nur verlangt, dass ein Notarzt herbeigerufen wurde. Offenbar hatte William das gleich selbst interpretiert. Darüber werden wir noch reden müssen, dachte Zamorra. »Wie sieht es aus?«, lautete die erste Frage von Charbon. »Was ist mit diesem Mann?« Dabei deutete er auf Merlin, der im Hintergrund auf dem Boden lag. Der Mediziner hob seine Brille etwas an und setzte sie sich auf den Kopf. Dann wischte er sich mit der Hand über die Augen. »Exitus«, sagte er mit müder Stimme. »Woran ist er gestorben?« Charbon sah mit durchdringendem Blick von einem der Versammelten zum anderen. Renoir verzog das Gesicht und zuckte die Schultern. »Glauben Sie mir, wenn ich sage, dass ich es nicht weiß?«, fragte er vorsichtig. Charbon hielt den Atem an, er sah dem Arzt in die Augen. »Nun, dieser Mann sieht aus, als hätte er einen Kampf hinter sich«, sagte er langsam und richtete seinen Blick auf Zamorra. Wortlos starrten sich die beiden Männer an. Sekundenlang.
Der nimmt doch wohl nicht allen Ernstes an, dass ich Merlin getötet habe …?, durchfuhr es Zamorra. Eine eiskalte Hand griff nach sei nem Magen und schien zu versuchen, ihn umzudrehen. Der Kommissar deutete auf ihn, sein Gesicht war ausdruckslos da bei. »Genau wie der Professor«, brachte er Zamorras Befürchtung auf den Punkt. Der Meister des Übersinnlichen blickte an sich herunter. So un recht hatte Charbon nicht, er sah wirklich aus, als hätte er gerade eine Keilerei hinter sich. Aber das kann doch nicht gegen mich sprechen! Konnte es anscheinend aber doch. »Wissen Sie, wie der Mann heißt?«, stellte Pierre H. Dent, der As sistent des Kommissars, seine erste Frage. Nicole übernahm die Beantwortung, nachdem sie sich per Blick kontakt mit Zamorra verständigt hatte. »Dieser Mann heißt Merlin.« Dent zog die Stirn in Falten. Er hatte ein Notizbuch gezogen und war dabei, alles Wissenswerte aufzuschreiben. »Merlin?«, echote er ungläubig. »Ach, wie in den Sagen? Dazu passt auch seine Kleidung … Einfach nur Merlin, oder besitzt er auch einen Vor- oder Nachna men?« Genau wie in den Sagen, dachte Zamorra bitter. Nur ist er keine Sage, wenigstens bis jetzt nicht. Bis vor kurzem hat er noch gelebt, und das tun Sagengestalten nicht. »Ambrosius«, antwortete Nicole. »Sein vollständiger Name lautet Merlin Ambrosius.« Dent notierte auch dieses, diensteifrig wie immer. »Nun, ich empfehle mich«, sagte Doktor Renoir, noch während er seine Jacke wieder anzog. Zu William gewandt fragte er: »Würden Sie mich bitte wieder nach oben bringen?«
Der schottische Butler nickte. »Wenn Sie mir bitte folgen wollen.« Im Gehen begriffen drehte Renoir sich noch einmal um. »Sie erhalten den Bericht, wie gewohnt, Herr Kommissar. Aber Sie waren unwahrscheinlich schnell hier.« Charbon brachte ein schiefes Lächeln zustande. Renoir interpre tierte es als eine Entschuldigung, aus welchen Gründen auch immer. »In und um Château Montagne sind schon so viele ungewöhnliche Dinge passiert, dass wir sehr sensibel auf solche Vorfälle reagieren. Und wenn dann plötzlich ein Unfalltoter in einem Kellergewölbe liegt, dann …« Er zuckte mit den Schultern, als würde das alles sagen. »… dann kommt die Mordkommission anstelle der normalen Poli zei«, vollendete Nicole den Satz. »So ist es!«, bestätigte Charbon im gleichen Augenblick, als Wil liam den Arzt nach oben begleitete. »Und weshalb dieses?«, ereiferte sich Duval. »Wird die Mordkom mission nicht erst dann hinzugezogen, wenn bewiesen ist, dass es sich um einen Mord handelt?« »In normalen Fällen ja«, sagte Charbon. Er verschränkte die Finger ineinander, drehte die Handflächen von sich weg und ließ die Kno chen knacken. Nicole verzog das Gesicht. Sie mochte dieses Geräusch nicht, be sonders dann, wenn es wie in diesem Fall absichtlich gemacht wur de. »Aha, in normalen Fällen«, wiederholte sie. »Und das hier …« »Scheint uns kein normaler Fall zu sein, Mademoiselle Duval.« Die Augen des Kommissars blickten sie kalt an, wie eine Schlange, die das Kaninchen vor sich betrachtet. Er hatte die Befürchtung, dass auch dieser Fall so enden könnte, wie der letzte im Château. Allerdings fühlte er sich durch den An blick Nicole Duvals schon im Voraus etwas entschädigt. Professor Zamorras Gefährtin präsentierte sich in fesselhohen Stiefeletten, ei
nem bis zur Hüfte an beiden Seiten geschlitzten Nichts von einem Rock und einer Bluse, die nicht allzu viele Fragen offen ließ. »Nein?« »Nein!«, bestätigte er. »Schauen Sie, wir befinden uns in einem Kellergewölbe«, er winkte ab, als er sah, dass sie zu einer Antwort ansetzte, »und vor uns liegt ein toter Mann. Dieser Unbekannte sieht aus, als habe er eine Prügelei hinter sich. Es kann sein, dass er die Handgreiflichkeiten begann. Ich halte es sogar für wahrscheinlich, denn dem Professor traue ich so etwas nicht zu … Aber das ist nur meine unmaßgebliche Meinung. Aber Monsieur Zamorra sieht ebenfalls sehr, sagen wir, zerrupft aus.« »Und was liegt da näher«, mischte sich Pierre Dent, der eifrig alles notierte, in das Gespräch ein, »als dass er darin verwickelt ist.« »Und das«, sagte Charbon stirnrunzelnd, »bedarf allerdings einer eingehenden Erklärung.« Zamorra war dem Gespräch nur gefolgt, ohne sich einzumischen. Er kam sich vor, als befände er sich im falschen Film. Es war alles so unwirklich. Er wollte doch nur mit dem Zauberer reden, und jetzt lag der tot vor ihm. Und die Polizei tat so, als wäre er der Schuldige! Und warum nicht?, fragte ein kleiner Teufel hinter Zamorras Stirn. Ich würde es an ihrer Stelle genauso halten, bis ich Beweise vorliegen hätte. Er wusste, was Charbon jetzt sagen würde, sagen musste, und doch drangen seine Worte nicht zu ihm vor: »Professor Zamorra, ich nehme Sie fest. Sie stehen in Verdacht, Merlin Ambrosius ermordet zu haben. Alles, was Sie sagen, kann gegen Sie verwendet werden …«
»Wo zum Erzengel steckt der alte Knabe? Sonst hinterlässt er we nigstens eine Nachricht, wo er sich aufhält, aber seit einiger Zeit wird er immer wunderlicher.« Asmodis befand sich wieder im Saal des Wissens, wie schon vor
kurzem. Er hatte versucht, seinen Bruder zu erreichen. Doch bis jetzt hatte er keinen Erfolg. »Als ob er vom Boden verschluckt worden wäre«, murrte er. Auch wenn ich ihn nicht finde, so müsste die Bildkugel seinen Aufent haltsort anzeigen. Aber bis jetzt weigert sich dieses verfluchte Ding, über haupt etwas zu zeigen. »Als ob jemand sie blockiert hätte«, folgerte er laut weiter. Er war versucht, die Bildkugel magisch zu beeinflussen. Vielleicht hätte er das auch gemacht, wenn dadurch eine Besserung eintreten würde. Doch hatte er selbst Zweifel daran. Wie kann ich etwas durch Magie verbessern, wenn es nicht imstande ist, jemand zu finden? Das Objekt, das ich finden will, existiert also nicht auf der Erde, überlegte er. Es konnte demnach nicht an der Bildkugel lie gen, wenn er seinen Bruder nicht fand. Er setzte sich auf den blanken Boden, die Hände neben sich aufge stützt, den Kopf in den Nacken gelegt. Wieder versuchte er durch telepathische Sondierung, Merlin zu finden. Er war nicht sonderlich beunruhigt, dass sein Bruder sich auf einer anderen Welt befand, die zu seinem Zuständigkeitsbereich gehörte. Zumindest ging er von dieser Möglichkeit aus. Es war auch nicht so, dass sie verstärkte Bruderliebe untereinan der hegten. Im Gegenteil, sehr oft waren sie verschiedener Ansicht. Manchmal herrschte offener Streit, um nicht zu sagen Krieg zwi schen ihnen. Und einmal hatte Asmodis sogar versucht, seinen Bruder zu töten, indem er ihm das Genick brechen wollte. Von daher hatte der ehemalige Fürst der Finsternis keine Beden ken und keine Sorgen um den König der Druiden. Schließlich laute te sein eigener Wahlspruch: »Mit Schwund muss man leben …« Doch er hatte ein Problem, bei dessen Lösung ihm, seiner Meinung nach, nur Merlin helfen konnte. Und dieses Problem hätte er gerne so schnell wie nur möglich gelöst.
Er schickte seine Gedanken nach Broceliande. Vielleicht konnte er dort eine Spur finden. Sollte dem so sein, würde er sich zu den Ton kan begeben, die unter seinem Schutz standen. Als er den Zaubergarten gedanklich erreicht hatte, bemerkte er eine Unmöglichkeit: Einen schwarzen Blitz, der von einem grünen Wabern abgewehrt wurde. »Ein schwarzer Blitz? Was soll der Blödsinn?«, knurrte er. Er woll te es nicht glauben. Doch das grünliche Wabern ging ihm nicht aus dem Sinn. Er wusste, dass er es schon oft gesehen hatte. Bloß wann? Und bei wem? Als er nach einigen Minuten des Nachdenkens herausgefunden hatte, bei wem er so etwas gesehen hatte, musste er wider Willen grinsen. »Merlins Stern?«, murmelte er. »Zamorras Waffe?« Doch dann schüttelte er den Kopf. »Nein, das ist unmöglich.«
Nicole blickte dem wegfahrenden Polizeiwagen stumm hinterher. Sie wunderte sich über sich selbst. Unter normalen Umständen hätte sie so lange gegen Zamorras Festnahme protestiert, dass sie am Ran de der Beamtenbeleidigung und des Widerstands gegen die Staats gewalt gestanden hätte. Zamorra und William hatten auf sie eingeredet, dass sie vorerst nachgeben sollte. Sie rief zuerst einen Anwalt an, der sich für Za morra einsetzen sollte. Noch bevor der Wagen die Polizeistation er reichte, wusste der Anwalt in groben Zügen Bescheid. Natürlich konnte Nicole nicht alles erzählen. Wer hätte ihr ge glaubt, wenn sie allen Ernstes behauptete, dass die Regenbogenblu men Transportmittel waren? Sie wäre im besten Fall ausgelacht wor den. Im schlimmsten Fall hätte man sie in eine Irrenanstalt einge wiesen.
Da hat sich immer noch nichts seit dem Mittelalter geändert, dachte sie. Was nicht sein kann, darf nicht sein. Sie biss sich auf die Lippen. Da war Zamorra in einen schönen Schlamassel geraten. Doch wie konnte sie ihm am besten wieder heraushelfen? Es gab schließlich so viele Ungereimtheiten in diesem Fall, dass sie nicht wusste, wo sie anfangen sollte. Obwohl sie wusste, dass Kommissar Charbon und sein Assistent kaum anders handeln konnten, war sie stinksauer auf die beiden. Was hätte dagegen gesprochen, Zamorra auf dem Revier zu verneh men und dann vorerst gegen Kaution freizulassen? Auf der anderen Seite musste sie zugeben, dass der Fall mehr als mysteriös war. Sie hatte kaum Gelegenheit gehabt, mit Zamorra über Merlins Tod zu reden. Sie versuchte in Gedanken, das Erlebte nachzuvollziehen. Was passierte, nachdem Zamorra William und mich über Visofon anrief? Denk nach, damit du nichts vergisst! Alles könnte wichtig sein. Da waren die Wiederbelebungsversuche gewesen, die sie an dem Zauberer probiert hatte, während William oben auf das Eintreffen des Arztes wartete. Dann war Zamorra so erschlagen gewesen, als hätte er drei Tage lang Überlebenstraining gemacht. Schließlich wa ren Doktor Renoir und die beiden Polizisten kurz hintereinander an gekommen. Sie hatte überhaupt keine Zeit zum Nachdenken gefunden und war auf der einen Seite froh, dass alle, bis auf Zamorra, weg waren. Andererseits … Wer könnte mir dabei helfen, Zamorra zu entlasten? Sie zerbrach sich den Kopf und kam zuerst nicht auf das Nächstliegende. Sie wusste, dass sie etwas übersehen hatte. Bloß, was kann das sein? Was? Sie hatte ein ungutes Gefühl und konnte nicht sagen, woher es kam.
Dann fiel ihr jemand ein, der helfen konnte. Sie besaßen einen Freund bei der Polizei, und zwar den Chefinspektor und Leiter der Mordkommission in Lyon. Direkt übernehmen konnte er den Fall nicht, weil für das Dorf und Zamorras Château die Polizei in Feurs und die Staatsanwaltschaft in Roanne zuständig waren; Lyon lag in einem anderen Departement. Aber er konnte sich einschalten und in seiner Freizeit auf eigene Faust ermitteln. Das würde den Kollegen natürlich nicht gefallen, und seinem Staatsanwalt Gaudian noch viel weniger. Doch dazu mussten sie ihn erst einmal erwischen. Das heißt: falls er mitspielte! »Pierre«, murmelte sie. »Pierre Robin. Wenn jemand bei der Poli zei etwas erreichen kann, dann er.« Und sie nahm Verbindung mit dem Chefinspektor auf.
3. Ein Amulett verschwindet Das Telefon klingelte schon zum fünften Mal, aber das schien den dunkelhaarigen, schnauzbärtigen Mann nicht im Geringsten zu stö ren. »Wollen Sie nicht rangehen, Pierre?«, erkundigte sich Joel Wiss laire bei seinem Vorgesetzten. Ihn nervte das Klingeln erheblich, sei nen Chef augenscheinlich nicht. Sein Vorgesetzter winkte ab und begann umständlich, sich eine Pfeife zu stopfen. Wisslaire verdrehte die Augen und starrte auf das Telefon, als ob er es dadurch zum Verstummen bringen könnte. Da er keine teleki netischen Kräfte besaß, war diesem Unterfangen natürlich kein Er folg beschieden. Er zog die Mundwinkel nach unten und erkundigte sich bei sei nem Chef: »Wie sieht es aus, sind wir im Dienst …?« »Sie schon«, lautete die Antwort. »Ich habe Pfeifenpause … ich habe Pause, und es ist bestimmt eine Pfeife, die anruft. Das höre ich schon am Klingeln.« »… oder lassen wir durchläuten?« Die Antwort bestand aus einem Schulterzucken. Pierre hätte eben so gut sagen können: »Mach doch, was du willst, aber lass mir um Gottes willen meine Ruhe.« Schließlich gewann die Neugier die Oberhand. Joel Wisslaire, von seinen Freunden Jo genannt, konnte nicht widerstehen und hob beim 20. Klingeln den Hörer ab. Er hätte schon viel früher abheben und sich melden müssen, schließlich arbeitete er in der Lyoner Mordkommission, und ein Anruf hier konnte nur bedeuten, dass je mand mit Gewalt ums Leben gebracht wurde. Da die Untat schon
geschehen und nicht rückgängig zu machen war, leisteten er und seine Kollegen sich öfters die Freiheit und Frechheit, die ersten Klin geltöne zu überhören. »Mordkommission Lyon, Joel Wisslaire am Apparat«, meldete er sich. Als er den Namen des Anrufers vernahm, zuckte er zusammen. Pierre sah ihn auffordernd an, Joel formte lautlos mit den Lippen einen Namen und senkte den Daumen einer Hand nach unten. »Ja, sicher doch, Herr Staatsanwalt«, antwortete er fast schon un terwürfig. Dabei zog er ein Gesicht, als ob er sich jeden Augenblick übergeben müsste. »Arhg, schon wieder dieser Schwachkopf«, stöhnte Pierre Robin so leise, dass der Anrufer es nicht mitbekommen konnte. »Staatsanwalt Gaudian!« Und es klang wie ein Todesurteil! Dabei konnte er sonst nicht über den Staatsanwalt klagen. Der war ihm wohlgesonnen und hielt seine Hand über ihn, wenn er sein un konventionelles Vorgehen wieder einmal übertrieben hatte und Be schwerden kamen. Und doch, manchmal gab es Tage, an denen Ro bin am Verzweifeln war wegen Gaudians störrischen Verhaltens. »Ja doch, wir kamen gerade zur Tür herein, deshalb dauerte es ein wenig«, entschuldigte Wisslaire sein Zögern. »Ja, er ist hier …« Robin wusste sofort, dass er damit gemeint war. Er inhalierte einen tiefen Zug und ließ den Rauch gemächlich ent weichen, dann erst forderte er Wisslaire mit einer Handbewegung auf, ihm das Telefonat rüberzustellen. Er hatte einen besonderen Grund, weshalb er seine Ruhe haben und intensiv nachdenken wollte. Dieser Grund hieß Professor Za morra. Dessen Gefährtin Nicole Duval hatte vor einer knappen Stunde angerufen und Robin die Geschichte von Merlins Tod und Zamorras Festnahme geschildert. Robin hatte sich Bedenkzeit erbe ten, er wollte zuerst einmal inoffiziell die Beweise sichten. Vorher
konnte er nichts unternehmen, um dem Meister des Übersinnlichen zu helfen. Und das kostete Zeit. Aber wenn der Staatsanwalt anrief, musste es dringend sein. We gen Unwichtigem würde er sich erst gar nicht melden. Robin dachte an alles Mögliche, einen Bezug zu seinem inoffiziellen Fall schloss er kategorisch aus. Was wollte Jean Gaudian bloß von ihm? Entweder handelte es sich um weitere Anfragen nach Beweisen, oder die Mordkommission be kam wieder eins auf den Deckel wegen diverser Versäumnisse. Dachte Pierre Robin. Und lag damit total daneben. »Robin hier«, meldete er sich, nachdem ihm Wisslaire das Ge spräch durchgestellt hatte. »Bitte? Ja doch, das sagte mein Assistent eben schon. Wir sind gerade wieder angekommen … Aber bitte, wir würden Sie doch niemals warten lassen.« Dabei zwinkerte er Wisslaire vertraulich zu. Der hielt eine Hand mit der Innenseite nach oben, dann machte er, als ob er damit etwas über die Schulter werfen wollte. Abfälliger und gleichzeitig ehrli cher konnte eine Geste kaum sein. Besonderer Beliebtheit erfreute sich Jean Gaudian, der zuständige Staatsanwalt, nicht bei den Beamten. Aber das schien ihn nur zu rei zen, auf dem eingeschlagenen Weg weiterzugehen. »Wie bitte? Was sagen Sie? Mein Freund Zamorra deMontagne?« Robin hörte dem Staatsanwalt ruhig zu. Als Wisslaire eine Frage stellen wollte, wehrte er mit einer Hand ab. »Ja und? Also, ich bitte Sie, Herr Staatsanwalt …« Schon wieder obsiegte die Neugierde bei Wisslaire. Er stellte die Mithörgelegenheit auf Laut, so dass auch er mitlauschen konnte, was der Teilnehmer am anderen Ende der Leitung zum Glück nicht bemerkte. »Wessen beschuldigt man ihn?«, fragte Pierre Robin, obwohl er den Sachverhalt mittlerweile genauer kannte als Gaudian.
»… wiederhole noch einmal: Ihr Freund, Professor Zamorra, wur de heute Nachmittag unter Mordverdacht festgenommen. Er soll einen Fremden namens Merlin Ambrosius umgebracht haben.« »Das ist doch ein schlechter Witz«, ereiferte sich Robin. »Ist es nicht. Und wissen Sie, aus welchem Grund ich Sie anrufe, verehrter Herr Chefinspektor und Leiter der Mordkommission?« Gaudians Tonfall wurde schärfer. Wisslaire schüttelte eine Hand aus – das bedeutet Ärger sollte seine Geste heißen –, mit der anderen zeigte er dem Telefon den Vogel. »Sie werden es mir gleich sagen.« Robin schnaufte schwer und schüttelte den Kopf. »Sie halten sich aus diesem Fall heraus! Haben Sie mich verstan den?« »Ja, aber …« »Nichts aber!« Nun brüllte der Staatsanwalt. Robin hielt den Telefonhörer mit der einen Hand zu und steckte den kleinen Finger der anderen Hand ins Ohr. Er kam aus dem Kopfschütteln nicht mehr heraus. »Noch gehöre ich nicht zu den Schwerhörigen im Lande«, be schwerte er sich, nachdem er den Hörer wieder ans Ohr legte. »Aber wenn Sie weiter so brüllen …« Für einige Sekunden herrschte Schweigen. Robin wusste bloß nicht, ob aus Staunen darüber, dass er Gaudian Paroli geboten hatte oder aus der Erkenntnis, dass nicht derjenige automatisch Recht hat, der am lautesten ist. »Also gut.« Deutlich war zu hören, dass der Staatsanwalt tief Luft holte. »Noch ein letztes Mal, zum Mitschreiben oder was auch im mer.« Er setzte eine kleine Kunstpause, dann fuhr er mit eisiger Stimme fort: »Sie, Herr Chefinspektor, halten sich aus diesem Fall heraus. Sie werden nichts unternehmen, was die Mordsache tangiert.« Wisslaire hob anerkennend beide Augenbrauen, er hob die Hand
mit dem Daumen nach oben. Ob das dem Fremdsprachtalent Gau dians galt, verriet er nicht. Robin biss sich auf die Unterlippe und winkte ab. Diskutieren konnten sie nach Beendigung des Anrufes immer noch. »Sie und ihre Leute unternehmen nichts, was in den Mordfall Za morra eingreift. Das ist einzig und alleine Sache Ihrer Kollegen aus Roanne. Kommissar Charbon und sein Assistent Dent kümmern sich darum. Uns! Geht! Das! Nichts! An!« »Und weshalb sagen Sie mir das?« »Ganz einfach, Sie sind ein Freund von Professor Zamorra und gleichzeitig bekannt für Ihr unkonventionelles Vorgehen. Ich weiß, dass Sie beim ersten pieps versuchen werden, die Arbeit Ihrer Kolle gen zu … beobachten!« Robin spürte, dass Gaudian erst etwas anderes sagen wollte und sich im letzten Augenblick noch zurückgehalten hatte. »So, meinen Sie?« Nun klang auch seine Stimme wie brechendes Eis. Er fühlte sich gleichermaßen durchschaut wie beleidigt. »Das sind schwere Geschütze, die Sie da auffahren. Es ist eine bodenlose Frechheit von Ihnen, mir etwas zu unterstellen, obwohl Sie wissen, dass ich meine Arbeit immer gewissenhafter erledige als meine Kol legen!« »Ich meine es doch nicht böse mit Ihnen, Robin!« Nun klang Gau dian wie ein besorgter Freund. »Ich will nur nicht, dass Sie in einen Zwiespalt zwischen Ihrer Arbeit und der Freundschaft zu Zamorra kommen.« Robin schloss die Augen, der Staatsanwalt schien ihn besser zu kennen, als ihm lieb war. »Sonst noch was?«, wollte er wissen. »Ja! Sollten Sie sich nicht an meine Anweisung halten, so erhält die Mordkommission einen neuen Chefinspektor und Leiter.« Mit einem kurzen »au revoir« verabschiedete er sich. Robin saß noch einige Sekunden mit dem Telefonhörer in der Hand vor sei
nem Schreibtisch. Er blickte Joel Wisslaire an und legte den Hörer wieder auf. »Das ist starker Tobak, Chef«, keuchte Wisslaire. »Aber Sie hatten Recht mit Ihren Worten …« »Mit was?« Der immer etwas nachlässig gekleidete, schnauzbärti ge Chefinspektor mit den pfiffig wirkenden Gesichtszügen blickte erstaunt. »Na, Sie sagten doch: Es ist bestimmt eine Pfeife, die anruft. Das höre ich schon am Klingeln«, rezitierte Wisslaire. »Da unsere Telefo ne so altmodisch sind, dass sie keine Displays besitzen, könnten Sie immer vorher schon sagen, wer sich am anderen Ende der Leitung befindet.« »Wissen Sie was, Joel? Wer Freunde wie Sie hat, der braucht keine Feinde mehr!« »Das stimmt vielleicht«, bestätigte Wisslaire grinsend. »Ich weiß aber noch etwas …« »Und das wäre?« »Gaudian kann viel sagen, wenn der Tag lang ist. Wie ich Sie ken ne, kümmern Sie sich einen feuchten Dreck darum, was er verlangt. Sie haben jetzt zwei freie Tage, weiß der Himmel, wieso …« »… weil Wochenende ist und ich es mir verdient habe«, unter brach ihn der Chefinspektor. »… und die werden Sie garantiert nicht allein mit Spazierengehen verbringen …« Pierre Robin antwortete nichts darauf, aber sein wölfisches Lä cheln sprach Bände.
Vier Stunden später
Es war schon dunkel, als ein dunkler Seat Toledo in den Hof von Château Montagne fuhr. Die Polizei war samt Spurensicherung vor nicht einmal fünf Minu ten verschwunden. Sie hatten das Gewölbe abgesperrt und unter sagt, dass sich jemand dort aufhalten sollte. Nicole hatte dies unbe wegt zur Kenntnis genommen und sich ihren Teil dazu gedacht. Merlins Leichnam wurde gerade abtransportiert. Er sollte nach Ro anne kommen und untersucht werden. Butler William stand frierend vor dem Eingangstor von Zamorras Schloss. Natürlich trug er nur seine Weste über dem Hemd, wie üb lich, wenn er nur innerhalb des Châteaus seine Arbeit verrichtete. Davon, dass man im Freien etwas Dickeres anziehen sollte, oder sich im Notfall im Inneren des Gebäudes aufhalten und erst dann her auskommen sollte, sobald der Besuch da war, hatte er wohl noch nichts gehört. Er hatte den Besucher etwas früher erwartet, aber es war Freitag abend und die Hauptverkehrsstraßen quollen vor Fahrzeugen über. Es schien, als wäre heute die gesamte Grande Nation unterwegs. Nicole Duval hatte es nicht mehr ausgehalten. Als sie den Seat hörte, sprang sie schnell die Treppen zum Eingang hinunter und ge sellte sich neben William. Der strich unauffällig seine dunklen Haa re, bei denen die Geheimratsecken immer besser sichtbar wurden, zurück. Der späte Besucher parkte den Wagen direkt vor den Eingangsstu fen. Weshalb sollte er unnütze Wege gehen? Er verschloss die Zentralverriegelung mittels Knopfdruck auf den Zündschlüssel und hastete die wenigen Stufen zu den Wartenden hoch. »Schneller ging es wirklich nicht«, sagte er anstelle einer Begrü ßung. Danach schüttelte er Nicole die Hand. William trat wie zufäl lig zwei Schritte zurück und streckte eine Hand einladend in Rich
tung Eingang aus. Er war der Ansicht, dass es ihm nicht zustand, Vertraulichkeiten von Gästen zu erwidern. »Ich weiß«, sagte Nicole Duval mit ernstem Gesicht. Sie hatte im Radio den Verkehrslagebericht gehört. William nahm die Lederjacke und das Reisegepäck ab und beglei tete Nicole und Pierre Robin in das Esszimmer. Sie setzten sich, und William servierte das Abendessen. »Bis jetzt habe ich noch nicht viel mehr erfahren können als du«, begann Robin seinen Bericht. »Bevor keine weiteren Erkenntnisse vorliegen, dringt wenig nach außen.« »Selbst nicht zu den Kollegen«, folgerte Nicole, während sie mit der Gabel im Essen herumstocherte. Es schmeckte vorzüglich. Ma dame Claire, die Köchin des Châteaus, hatte sich wieder einmal selbst übertroffen. Nur hatte Nicole aus begreiflichen Gründen kaum Hunger. Der Ärger mit Merlins Tod und Zamorras Verhaf tung schlug ihr auf den Magen. »Selbst nicht zu den Kollegen«, bestätigte Pierre zwischen zwei Bissen. »Dafür kann ich etwas anderes anbieten …« »Und das wäre?« Nicole Duval blickte ihn fragend an. »Einen Maulkorb mit Bewegungsverbot«, sagte Robin mit ernstem Gesicht. »Hä? Bitte? Was soll das schon wieder heißen?« Sie wollte gerade am Rotwein nippen und stellte das Glas wieder auf den Tisch. »Das heißt, dass mein lieber Staatsanwalt Gaudian mir in diesem Fall absolutes Handlungsverbot erteilt hat.« In Duvals braunen Augen tanzten goldene Tüpfelchen, ein untrüg liches Zeichen dafür, dass sie aufgeregt war. »Spinnt der Mann jetzt komplett?« Robin roch am Rotwein und schloss die Augen. Dann nahm er einen kleinen Schluck und nickte anerkennend. Der Wein hatte seine Zustimmung gefunden.
»Was für ein Tropfen.« Er blickte Nicole fragend an. »War was?« »Ich fragte dich, ob der Mann jetzt komplett spinnt«, wiederholte sie. »Das ist 'ne Berufskrankheit«, lachte Pierre und trank noch einen Schluck. »Alle Staatsanwälte haben meiner unmaßgeblichen Mei nung nach einen an der Klatsche.« »Wie wahr«, stöhnte Nicole. Auch sie konnte ein Lied davon sin gen. William räumte nach dem Essen das Geschirr ab und kehrte dann zurück, um eventuell weitere Weisungen entgegenzunehmen. Pierre wollte ihn überreden, ein Glas Wein mitzutrinken. Aber der Butler blieb standhaft. »Darf ich mich nach dem Befinden Ihrer Freundin erkundigen, Monsieur Robin?«, versuchte er stattdessen so weit Geselligkeit zu zeigen, wie sein Beruf es ihm erlaubte. »Diana? Der geht es prächtig«, antwortete Pierre. »Sie hat heute Abend noch einen Termin und will übrigens morgen Früh nach kommen. Sie möchte helfen, falls ihr jemanden braucht.« »Das freut mich«, sagte Nicole ehrlich. »Auch wenn es kein schö ner Anlass für einen Besuch ist.« »Freundschaft erweist sich in schlechten Tagen, nicht in guten«, zi tierte Pierre. »He, hast du eben zugehört?« Nicole wirkte verträumt, als sie Pierre antwortete. »Ich muss die ganze Zeit daran denken, dass ich irgendetwas übersehen habe, mir fällt bloß nicht ein, was das sein könnte.« »Sehen? Erlauben Sie mir, einen Vorschlag zu äußern«, entfuhr es dem Butler spontan. »Was ist los, William?«, fragten Duval und Robin gleichzeitig. »Mademoiselle, mit dem Amulett des Professors kann man doch sehen, was innerhalb des vergangenen Tages geschah«, erinnerte er die beiden. »Und Sie sind imstande, es zu rufen und zu aktivieren!«
»Merlins Stern!«, ächzte Nicole. Ihr Mund stand sekundenlang vor Staunen offen. »Warum bin ich nicht darauf gekommen?« »Zamorras Amulett«, sagte der Chefinspektor. »Die Zeitschau…« »William, Sie sind ein Schatz«, lachte Nicole Duval auf. Der Butler lächelte, als wollte er sich auf der einen Seite für das Kompliment bedanken und auf der anderen Seite sagen: »Das weiß ich doch.« Dann konzentrierte sich Nicole Duval. Sie hob die rechte Hand und rief Zamorras Amulett.
»Merde! So habe ich mir diesen Abend nicht vorgestellt«, murmelte Professor Zamorra. Er hatte geplant, mit seiner Gefährtin in der bes ten, weil einzigen Kneipe ihres Dorfes zu sitzen und zusammen mit Freunden die Nacht zum Tage zu machen. Es ging doch nichts darüber, sich mit Charles, dem Schmied, dem ehemaligen Fremdenlegionär ›Malteser-Joe‹, oder mit Pater Ralph, dem Dorfgeistlichen, zuerst zu streiten und sich bei einem Schoppen wieder zu versöhnen. Er war schon etwas enttäuscht. Zuerst musste er alles abliefern, was sich in seinen Taschen oder an seinem Körper befand, darunter auch Merlins Stern. Jedes einzelne Stück wurde notiert und Zamorra musste zum Schluss unterschreiben, damit alles seine Richtigkeit hatte. Nach einem kurzen Verhör sperrten ihn die Polizisten in eine Ein zelzelle. Es war Freitagabend und da hörten die Herren Verhörspe zialisten wahrscheinlich auf ihre innere Stimme, die verkündete, dass bald Wochenende sei. Zumindest war Zamorra dieser Ansicht. Nicole hatte Erfolg ge habt und einen bekannten Anwalt aufgetrieben. Jules Graton galt als einer der besten Anwälte in Roanne. Zamorra kannte ihn schon viele Jahre und hielt sehr viel von ihm, auch wenn sie bislang noch nicht
das Vergnügen hatten, zusammenzuarbeiten. Graton, knapp einssiebzig groß und dafür etwas breiter um die Hüften, mit kurzen, dunklen zurückgekämmten Haaren, hatte ihm still zugehört und Notizen gemacht. Er besaß die seltene Gabe, im größten Trubel eine Aura der Ruhe um sich zu verbreiten. Nach Beendigung von Zamorras Bericht runzelte Graton die Stirn. Dazu hatte er auch allen Grund. Zamorra hatte ihm nämlich nicht alles erzählt. Wer sollte ihm glauben, was es mit den Regenbogen blumen auf sich hatte? Dass sie Menschen von einem Ort zum ande ren teleportierten? Oder dass Merlin ein Zauberer war? Niemand würde das, der sich nicht mit Magie und Übernatürli chem auseinander setzte. Also ließ Zamorra einiges in seinem Bericht aus. Er achtete darauf, dass er dem Anwalt nichts anderes erzählte als vorher den Polizis ten. »Professor, Sie wollen allen Ernstes behaupten, dass Sie nicht wis sen, wie Monsieur Ambrosius in Ihren Keller kam?« Graton knetete seine Nase, die einen Vergleich mit Gerard Depardieus Riechkolben nicht zu scheuen brauchte. »Aber es ist so. Welchen Grund sollte ich haben, Sie als meinen Rechtsanwalt anzulügen?« »Das können nur Sie selbst wissen, aber es leuchtet ein«, sagte Graton. »Die Polizei hat herzlich wenig gegen Sie in der Hand. Es handelt sich bis jetzt nur um Vermutungen, aber damit werden sie sich natürlich nicht zufrieden geben. Die Untersuchung Ihrer Klei dung und der Kleider von Monsieur Ambrosius … seltsamer Name … ist noch nicht erfolgt. Bis dahin müssen Sie Geduld haben.« »Wie steht es mit einer Freilassung auf Kaution?«, wollte Zamorra wissen. »Da muss ich noch mit dem Staatsanwalt reden.« Graton zuckte mit den Schultern. »Und Freitagabend ist er schlecht zu erreichen.« Das wusste der Meister des Übersinnlichen. Jules Graton ver
sprach Zamorra, sich intensiv um seine Freilassung zu bemühen. Dann nahm er seine Mappe, klemmte sie sich unter den Arm und verabschiedete sich. Zamorra ging noch lange unruhig in dem kleinen Raum hin und her. Er hatte dem Rechtsanwalt verschwiegen, dass er nicht wusste, weshalb Merlin aussah, als wäre er verprügelt worden, und warum er selbst so aussah. In dieser Hinsicht ließ ihn sein Gedächtnis im Stich. Kann es wirklich so sein, dass ich ihn umgebracht habe?, quälten ihn die Gedanken. Was ist wirklich passiert, nachdem ich in Broceliande zwischen die Re genbogenblumen trat? Kurz bevor er endlich einschlief, fragte er sich noch: »Wer hat mir das nur eingebrockt?«
Zu den Gegenständen, die Zamorra bei der Polizei abgeben musste, gehörte auch Merlins Stern. Die diensthabenden Polizisten wunder ten sich zwar über die handtellergroße Silberscheibe, aber täglich hatten sie Kundschaft mit ausgefalleneren Schmuckstücken, so dass sie das Amulett nach dreimaligem Ansehen und Bestaunen zu Za morras übrigen Siebensachen legten und alles in eine Plastiktüte steckten, die anschließend versiegelt wurde. Auf diese Weise sollte sichergestellt werden, dass nichts verloren ging und die Gegenstände bei der Rückgabe vollzählig waren. Zamorras Plastikbeutel, mit dem Amulett obendrauf, lag auf ei nem Tisch neben dem Aufbewahrungsschrank und sollte erst noch eingeräumt werden. Ein Polizist sollte diese Aufgabe erledigen, so bald die nächste Anzeigenaufnahme erledigt war. Nach getaner Arbeit wandte er sich dem Plastikbeutel zu, um ihn zu verschließen. Als oberstes Stück befand sich Merlins Stern in der transparenten Tüte. Er glänzte im Lampenlicht.
Was für ein seltsames Schmuckstück, dachte der Polizist, als er das Glänzen bemerkte. Naja, immer noch besser als ein Zuhälterkettchen. Von einem Augenblick zum anderen befand sich das Amulett nicht mehr im Plastikbeutel! Nicole Duval hatte es gerufen. Aber wo her sollte Louis, der Polizist, das wissen? »Patrick! Das gibt's doch nicht!«, entfuhr es dem Polizisten. »Was ist los, Louis?«, fragte sein Kollege aus dem Nebenzimmer. Statt einer Antwort hörte er Louis fluchen. Er stand auf und begab sich in den Aufbewahrungsraum. »Wo steckt dieses Amulett?«, fragte Louis. Er sagte nichts davon, dass er es eben noch gesehen hatte. Sein Kollege hätte ihn für über geschnappt gehalten. »Welches Amulett?« »Na, diese komische Silberscheibe, die sich bei den Sachen des Professors befinden müsste.« »Hatte der so was dabei?« Patrick war nicht über den Inhalt des Beutels informiert. Louis nickte und reichte ihm jenen Zettel, den Zamorra unter schrieben hatte. Sein Kollege zog die Augenbrauen hoch und stieß die Luft aus. »Ich glaube, jetzt haben wir ein Problem …«
Eine Sekunde nachdem Nicole Duval das Amulett gerufen hatte, be fand es sich in ihrer ausgestreckten Hand. Pierre Robin und William staunten einmal mehr über dieses Wun der. »Ich habe zwar schon oft gesehen, wie Merlins Stern nach dem Ruf erscheint, aber es ist jedes Mal so aufregend wie bei der ersten De monstration«, bekannte der Chefinspektor. »Wir gehen am besten gleich ins Kellergewölbe«, sagte Nicole und
hielt das Amulett triumphierend in der Hand. »Wir sind eh unter uns.« »Wo befinden sich überhaupt die anderen Schlossbewohner?«, er kundigte sich Pierre. »Es fällt mir jetzt erst auf, dass da ein paar Leu te fehlen.« »Lady Patricia ist schon heute Mittag mit Lord Rhett und Fooly zur Familie Lafitte gefahren. Sie waren also vor dem Unglück schon nicht mehr da«, antwortete William, während sie Nicole Duval hin terhertrotteten. Lady Patricia wohnte zusammen mit ihrem Sohn seit vielen Jahren auf Château Montagne. »Da Wochenende ist, wollten sie gemeinsam etwas unternehmen.« »Und Fooly ist dabei? Da werden sie keine große Freude haben«, lachte Robin. Fooly war sozusagen der Hausdrache von Château Montagne. Er wurde von William vor Jahren gefunden und danach heimlich »ad optiert«. Er war ein wenig über hundert Jahre alt, 1,20 Meter groß, sehr massig – um nicht zu sagen fett – und ein liebenswerter Toll patsch. »Mister MacFool ist der liebste Spielkamerad der Lafitte-Kinder«, behauptete der Butler. Robin blickte erstaunt auf. Seines Wissens schimpfte William stets über den Jungdrachen, und jetzt nahm er ihn in Schutz? »Ich wollte ihn nicht beleidigen«, sagte er. »Es ist nur so, dass die Flurschäden von Fooly mittlerweile legendär sind.« William zog eine Augenbraue hoch. Er atmete schwer und nickte. »Oh ja!« Zu weiteren Kommentaren ließ er sich nicht hinreißen. Da hatten sie das Gewölbe auch schon erreicht. Es besaß zwei Ein gänge, einen mit Tür, einen ohne. Den Eingang mit Tür hatten die Polizisten versiegelt. Den ungeschützten Eingang hatten sie mit rot weißem Trassierband in Knie- und Brusthöhe notdürftig abgesperrt. Robin grinste, als er das sah. »Ach ja, die Damen und Herren Kol
legen«, seufzte er. »Wie aufmerksam, da kann jedes Aas rein- oder rausgehen.« Duval zwängte sich zwischen den Bändern durch, ohne sie zu be schädigen. William und Pierre folgten ihr ebenso vorsichtig. »Wir wissen alle, dass wir dran sind, wenn das herauskommt«, sagte Robin. »Ich habe dich nicht hier gesehen und du mich nicht«, erwiderte Nicole. »Und ich geruhe nicht herunterzukommen, solange es von der Po lizei verboten ist«, warf William mit ernstem Gesicht ein. »Na, da bin ich ja zufrieden«, grinste der Chefinspektor. »Mindestens sechs Stunden«, murmelte Nicole Duval. »Bitte?« William wusste im ersten Augenblick nichts mit ihren Worten anzufangen. »Es ist mindestens sechs Stunden her, dass wir Merlin hier fanden«, erläuterte sie. »Das wird mich eine Menge Kraft kosten …« Das stimmte auch, denn je länger ein Ereignis zurücklag, umso mehr Energie holte sich das Amulett von demjenigen, der die Zeit schau benutzte. Sie hielt Merlins Stern in beiden Händen und versetzte sich mit ei nem posthypnotischen Schaltwort in Halbtrance. In der Mitte des Amuletts erschien ein Bild des Gewölbes. Sie ließ die vergangenen Stunden im Schnelldurchlauf Revue passieren. Zumindest die Ar beit der Polizei und den Abtransport des Toten konnte sie getrost außer Acht lassen. Die Wiederbelebungsversuche von ihr, William und Doktor Renoir konnten sie auch nicht weiterbringen. In rasender Schnelligkeit huschten die Ereignisse der vergangenen Stunden über den Mini-Bildschirm. Nicole machte sich nicht die Mühe, sie genauer zu betrachten. Sie benötigte all ihre Kraft für die davor liegenden Ereignisse. Dann war es so weit: Merlin und Zamorra erschienen zwischen den Regenbogenblumen wie aus dem Nichts!
»Stopp!«, unterbrachen William und Robin ihre Konzentration. Doch sie hatte es ebenfalls bemerkt. »Da war doch etwas!«, stieß der Butler hervor. »Etwas wie ein schwarzer Blitz!« »So was gibt's doch gar nicht!«, beschwerte sich der Leiter der Lyoner Mordkommission. »Aber wenn ich es doch gesehen habe«, beharrte William auf sei ner Beobachtung. Nicole sagte nichts dazu, sie wartete, bis sie sich fünf Sekunden vor dem Erscheinen der beiden wieder einklinkte. Dann ließ sie die Ereignisse in Zeitlupe vorwärts ablaufen. Zuerst erkannten sie nur die Regenbogenblumen. Unendlich lang sam materialisierten Zamorra und Merlin, obwohl dieses Ereignis sonst in Nullzeit stattfand. Und dann erkannten sie tatsächlich einen schwarzen Blitz, der sich wie der Tentakel eines Oktopoden aus den Blumen heraus schlängelte und sofort darauf wieder verblasste. Und dann war der Blitz wieder verschwunden. Nicole ließ die Vorführung noch zweimal ablaufen, dann speicher te sie mit einem Gedankenbefehl das Geschehen, so dass ein »Wie dereinstieg« jederzeit möglich war. Dann löste sie sich wieder aus der Halbtrance. Sie atmete tief durch. Auf ihrer Stirn lag ein dünner Schweißfilm. Die Zeitschau hatte sie mehr Energie gekostet als be fürchtet. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn und blickte Robin er wartungsvoll an. Der kannte sie lange genug, um zu wissen, welche Gedanken sie hegte. »Du willst doch nicht wirklich … Nein, das willst du nicht …« Er hob abwehrend beide Hände. Sie nickte, ihre Lippen wirkten wie ein schmaler Strich. »Eigentlich schon!«, bestätigte sie seine Befürchtung. »Einen Moment«, bat er. »Lass uns doch erst einmal überlegen, was das gewesen sein kann.«
»Es sah aus wie ein Blitz«, dozierte William. »Wie ein schwarzer Blitz. Bloß … es kann nicht wirklich real gewesen sein, sonst hätte es hier Beschädigungen gegeben.« »Oder die Regenbogenblumen wären zerstört worden«, sagte Pier re Robin und strich zart mit einer Hand über die Blüten. »Und de nen ist zum Glück nichts geschehen.« »Also?« Nur dieses eine Wort kam von ihr, sonst nichts. »Also was?« »Also werde ich mich dorthin versetzen lassen, wo die beiden her kamen.« »Weißt du, wo sie waren?« Das klang skeptisch. »Zamorra wollte Merlin in Caermardhin besuchen«, memorierte Nicole. »Aber ich werde das so hinbiegen, dass ich daran denken werde, von wo sie herkamen.« »Hm«, brummte William laut. »Mademoiselle Duval, wollen Sie sich so an den unbekannten Ort versetzen lassen?« Nicole betrachtete ihre Kleidung von oben nach unten. Sie musste zugeben, dass Jeans und eine Bluse zwar kleidsam für einen netten Abend waren, aber auf der anderen Seite nicht sehr zweckmäßig für einen Einsatz. »Sie haben recht«, gab sie zu. Dann schlüpfte sie wieder zwischen den Trassierbändern durch. »Wo willst du hin?«, rief ihr Robin hinterher. »Meinen Kampfanzug holen.«
Selbst nach gründlicher Untersuchung konnte Gwin weder Myrd dhins Leiche entdecken, noch waren Spuren von Ruß oder Asche zu sehen. Die schwarze Frau versuchte mittels ihrer übernatürlichen Kräfte, eine Spur von den beiden Männern zu finden.
»Wo sind die bloß hin?«, fragte sie sich zum wiederholten Mal. Dass die seltsamen Blüten Transportmittel waren, wusste sie in zwischen, aber wie sollte sie den Schlüssel finden, damit auch sie dort landete, wo sich Myrddhin jetzt befand? Vielleicht musste man einen speziellen Zauberspruch aufsagen oder vor dem zwischendie-Blumen-Treten beschwörende Handbewegungen ausführen? Sie wusste es nicht, und sie hatte in ihrer Unbeherrschtheit vorhin auch nicht auf entsprechende Gesten bei den Männern geachtet. Wenigstens hatte sie nun herausgefunden, was es mit dem grün lich wabernden Energieschirm auf sich hatte. Er war verwandt mit der M-Abwehr, die wie eine Kuppel um Broceliande herum lag. Davor hatte sie eine Menge Respekt. Dieser Energieschirm war so stark, dass er sogar Dämonen vernichten konnte. Die M-Abwehr um den Zaubergarten endete direkt an den Regenbogenblumen, und sie wagte es nicht, weiter vorzudringen. Seit sie wieder unter den Lebenden weilte, war sie extrem vorsich tig. Er kann nicht tot sein, dachte sie verzweifelt. Er darf nicht tot sein! Sonst würde mein neues Leben keinen Sinn machen. Sie musste sich auf das Wesentliche konzentrieren und durfte nicht in menschliche Panik verfallen. Verdammt, reiß dich zusammen!, beschwor sie sich. Vielleicht habe ich etwas übersehen. Ich muss noch einmal alle Spuren zusammentragen … Sie setzte sich ins hohe Gras und konzentrierte sich. Dann ließ sie ihre übersinnlichen Kräfte um die Regenbogenblumen herum su chen. Sie biss sich vor Anstrengung die Lippen blutig. Einige Trop fen schwarzroten Blutes rannen bis zum Kinn, doch das bemerkte sie nicht. Konzentriere dich! Doch sie fand nichts. Erschöpft hielt sie inne. Vielleicht darf ich nicht die Blumen als Ganzes sehen, sondern nur das
Innere, wo Myrrdhin und der Fremde verschwanden? Erneut sandte sie ihre Magie aus. Nicht so ungestüm wie zuvor, nicht so fordernd, sondern irgend wie sanfter. Und wurde fündig! Die Spur!, jubelte sie überrascht, weil sie schon nicht mehr mit ei nem Erfolg rechnete. Dann fädelte sie sich geistig in diese Spur ein; der Körper blieb vor Broceliande. Unendlich behutsam folgte sie der seltsamen Spur. Sie brachte die Blumen dazu, sich zu »erinnern«. So etwas hatte sie in ihrem ganzen früheren Leben nicht gefunden. Aus diesem Grund ließ sie sich Zeit bei der Suche nach der Empfangsstation des letzten Transports. Der Endpunkt! Dort, wo die Spur endete, fühlte Gwins Geist ebenfalls eine M-Ab wehr. Sie verharrte und wusste nicht, was sie unternehmen sollte. Vorsichtig agieren!, rief sie sich ins Gedächtnis. Kein Risiko eingehen. Als Geschöpf der Dunkelmächte zeichnete sie sich durch übertrie bene Furcht und Feigheit aus. Einige Zeit überlegte sie die nächsten Schritte. Dann entschloss sie sich zum vorläufigen Rückzug. Das ist besser so, entschied sie. Ich kann später immer noch zurückkom men, aber erst muss ich wissen, wie ich die weißmagische Abwehr umge hen kann. Gwin erwachte wieder am Rand von Broceliande, jenseits der für sie gefährlichen Grenze. Sie stand auf und konzentrierte sich erneut, damit sie ihren Zielort anpeilen konnte. Dorthin wollte sie sich ver setzen. Sie konnte jetzt ungefähr abschätzen, wo die Transportverbindung der Regenbogenblumen auf dem europäischen Festland endete. Zwar hatte sie keine Ahnung, was Länder und Grenzen dazwischen sind. Den Begriff Frankreich hatte sie auch noch nie gehört, aber sie bewegte sich mittels ihrer Geisteskraft in Richtung des südlichen Be reichs des Flusses Loire. Dort wollte sie sich weiter orientieren.
Was Nicole Duval ihren Kampfanzug nannte, entpuppte sich als eng anliegender schwarzer Lederoverall. Am Gürtel saß eine Magnet platte, an die sie einen E-Blaster heftete. »Man weiß nie, für was der gut ist«, erklärte sie den Männern. Ro bin und William kannten beide sowohl den Overall als auch den Blaster. Diese Strahlwaffe stammte aus der Produktion der DYNAS TIE DER EWIGEN. Zamorra hatte sie von seinem Freund Ted Ewigk erhalten. »Ich komme lieber mit.« Der Chefinspektor sah besorgt aus. »Ich weiß nicht, was uns auf der anderen Seite erwartet«, sagte Ni cole. »Ich weiß noch nicht einmal, wo ich rauskomme.« »Ich denke, Zamorra war in Merlins Burg?« Robin zog die Stirn in Falten. »Erst sagte er etwas von Caermardhin, und zwar, bevor er sich zu Merlin begab«, gab Duval zu. »Aber dann, kurz bevor ihn deine Kollegen mitnahmen, redete er von Broceliande.« »Der Zauberwald?« Robin zeigte sich gut informiert. »Genau der. Ich schlage vor, dass ich mich von den Regenbogen blumen zuerst dorthin bringen lasse, von wo die beiden herkamen.« Robin verzog die Lippen, ihm gefiel die Idee nicht. »Und wenn du angegriffen wirst und jemand dringend brauchst?«, gab er zu bedenken. »Du kannst mir weder in Caermardhin noch in Broceliande helfen«, antwortete Nicole. »Ich habe eine Berechtigung, an beiden Orten zu weilen, sowohl im Saal des Wissens als auch im Zaubergar ten. Und das nicht nur dank Merlins Stern…« Das sah Robin ein, wenn auch widerwillig. So stellte sich Nicole Duval zwischen die Regenbogenblumen und konzentrierte sich auf den Zauberwald.
Gleich darauf befand sie sich zwischen den Regenbogenblumen von Broceliande. Sie trat zwischen den Blumen hervor und sah sich genau um. Als sie die Blüten betrachtete, fiel ihr auf, dass ein Exemplar einen etwa 30 Zentimeter langen Riss besaß und zwei weitere verbrannt waren. »Da ist es gut, dass ich Pierre nicht mitnahm«, gratulierte sie sich. »Wer weiß, ob die Blumen uns beide hätten transportieren können.« Sie hob eine Hand, um damit über einen Blütenkelch zu streicheln, doch der Stängel zuckte vor ihr zurück. »Was soll denn das?«, wunderte sie sich. »Das gab's ja noch nie, seitdem wir per Regenbogenblumen reisen!« Und das machten sie schon über zehn Jahre. Dann dachte sie dar an, weshalb sie den Transport hierher unternommen hatte. Sie hakte Merlins Stern mittels Schnellverschluss von der Silberkette. Sie über zeugte sich durch einen Blick über diesen Teil des Waldes davon, dass sie allein war. Falls sich schwarzmagische Wesen in der Nähe befanden, hätte das Amulett das dadurch angezeigt, indem es sich erwärmte. Es hat te jedoch schon vor Stunden versagt, als es Zamorra nicht Gwins Aura anzeigte; nur wusste Nicole davon nichts. Sie versetzte sich in Halbtrance und startete auch hier die Zeit schau. In der Mitte des Amuletts erschien wieder der Mini-Bildschirm. Darauf sah sie die Ereignisse der vergangenen Stunden in rasender Schnelligkeit vorbeiziehen. Immer wieder erblickte sie eine schwar ze, konturlose Gestalt. Das Amulett hatte Schwierigkeiten, die Ge stalt abzubilden; es schien, als wäre sie nicht materiell. Als ein schwarzer Blitz erschien, verlangsamte sie das Tempo. Sie sah im langsamen Rücklauf, wie Merlin auf Zamorra einredete, dann liefen sie rückwärts in den Wald hinein. »Nichts Verdächtiges bis jetzt«, murmelte sie. Dann sah sie wieder die schwarze Gestalt in der Nähe der Blumen.
Sie stoppte die Abbildung und fror das seltsame Wesen im Bild ein. »Wer ist das bloß?«, fragte sie sich und blickte sich erneut um, ob dieses Wesen in der Nähe war. Dann ließ sie die Ereignisse lang sam vorwärts ablaufen und starrte gebannt auf die Wiedergabe. Das konturlose Wesen verletzte eine der Regenbogenblumen. Kurz danach kam Zamorra an und betrat den Wald. Da sich dann nichts besonderes tat, befahl Nicole Zeitraffermodus. Als Zamorra und Merlin in Richtung der Blumen kamen, stellte sie mit einem geistigen Befehl wieder auf normale Wiedergabe. Beide Männer schienen uneins zu sein. Deutlich war zu erkennen, wie sie aufeinander einredeten. Als sie zwischen die Regenbogen blumen traten und Zamorra sich auf sein Ziel konzentrierte, baute sich das grünlich wabernde Schutzfeld um die Männer auf. Die kon turlose Gestalt hob beide Hände, aus ihren Fingerspitzen züngelten schwarze Flammen auf die Männer zu. Zwei Regenbogenblumen wurden davon verbrannt. Dann war nichts mehr! Nicole ließ die Ereignisse so weit zurücklaufen, bis Merlin und Za morra aus dem Wald traten, dann speicherte sie die Zeitschau. Sie hängte das Amulett wieder an die Kette unter ihrem Hals. Den E-Blaster verstaute sie ebenfalls unter ihrem Lederoverall. Es erschien ihr sicherer, so konnte sie die Waffe nicht verlieren. Sie fühlte sich schwach. Das war auch kein Wunder, schließlich hatte sie die Zeitschau zweimal gestartet und war jedes Mal über sie ben Stunden in die Vergangenheit gegangen. »Also zurück ins Château«, nahm sie sich vor. Mittlerweile war eine knappe halbe Stunde vergangen, und Pierre und William wür den auf ihre Rückkehr warten. Sie stellte sich wieder zwischen die Blütenkelche, dachte an das Kellergewölbe von Château Montagne und befand sich einen Wim pernschlag später dort. Zwei Überraschungen erwarteten sie.
Die erste war ein ungebetener Besuch. Und die zweite …
Irgendwo, außerhalb des Lebens Der Hass wollte nicht vergehen, sosehr sich das Wesen auch bemüh te, ihn zu unterdrücken. Was habe ich getan?, schrien seine Gedanken in die unendliche Stille hinein. Warum bestraft ihr mich so hart? Aber so sehr es sich auch bemühte, es bekam keine Antwort. Nur die Echos seiner Gedankenschreie hallten zurück, bis sie nicht mehr zu hören waren. Hören? Ich habe doch keinen Körper! Keine Ohren, mit denen ich Ge räusche auffangen kann. Dann stellten sich ihm die nächsten Fragen: Was ist ein Körper? Was sind Ohren? Wer bin ich überhaupt? Wie heiße ich? Jede selbst gestellte Frage warf fünf neue auf. Doch da war nie mand, der auch nur eine der Fragen beantworten konnte. Das We sen wand sich geistig hin und her, es versuchte es zumindest. Doch es konnte nicht erkennen, ob es damit Erfolg hatte. Es wünschte sich so sehr einen Körper – was immer das auch sein soll – mit all seinen Unzulänglichkeiten. Es wusste, dass es ihm dann besser gehen würde. Hören. Sehen? Laufen? Schmecken?
Was war das alles? Leere Worthülsen, um seine innere Leere zu bekämpfen? Woher kannte es diese Begriffe, von denen es nicht wusste, was sie bedeuteten? Die Zeit war ein Rinnsal, das kurz vor dem Versiegen stand und nur noch vor sich hintropfte. Es litt unter Luftmangel. Wie denn, wenn ich keinen Körper mehr habe? Da war er schon wieder, dieser irreale Begriff! Er litt unter geisti gem Luftmangel, obwohl das ein Ding der Unmöglichkeit war. Hass verwandelte sich langsam in Resignation. Es sprach schließlich mit sich selbst. Und dann ersann das Wesen eine Möglichkeit, sich die Zeit zu ver treiben. Um es herum mussten viele andere Wesenheiten sein. Viel leicht hörten sie, wenn es mit ihnen redete. Vielleicht mochten sie keine Schreie. Möglicherweise konnten sie ihm helfen, wenn es sie lockte? Also sendete es seine Gedanken aus und sprach mit jenen da draußen. Es handelte sich dabei um hypothetische Wesen, die vielleicht einen Planeten bevölkerten, der sich in der Nähe seines Verban nungsortes befand. Diese Gespräche waren ausschließlich Monologe, und nach jedem der einseitigen Kontaktversuche wurde das Wesen trauriger. Verdammt! Ihr könnt mich doch nicht hier verrecken lassen!
4. Unerwarteter Besuch »Guten Abend, Mademoiselle Duval! Was machen Sie hier?« Verdammt, was sucht denn der schon wieder im Château? Nicole Duval erschrak, als sie den sowohl unbeliebten als auch un gebetenen späten Gast erkannte. »Kommissar Charbon«, ächzte sie, während sie langsam aus den Regenbogenblumen hervortrat. »Und sein Assistent. Was für ein Zu fall. Sehr erfreut …« … bin ich nicht, fügte sie in Gedanken hinzu, war aber klug genug, ihm das nicht zu sagen. »Ebenfalls, Mademoiselle«, knurrte der Polizeibeamte zurück. Dass er ähnliche Gedanken wie Duval hegte, war ihm am Gesicht abzulesen. »Aber Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet.« »Welche Frage, Monsieur?« Nicole stellte sich dumm. Erst einmal Zeit gewinnen, Erklärungen kann ich später geben. Charbon blickte sie scharf an, er wusste wohl, Nicole einzuschät zen. In seinem Metier brauchte man ein gewisses Maß an Menschen kenntnis. »Ich fragte Sie, was sie hier machen«, wiederholte er unwillig. »Nun«, sagte sie schulterzuckend, und als ob das alles erklären würde, fügte sie hinzu: »Ich bin hier zu Hause…« »Chef, die nimmt uns doch auf den Arm«, mischte sich Pierre H. Dent ein. »Das würde mir im Traum nicht einfallen, Inspektor Dent«, beteu erte Nicole treuherzig. Bei Dents Gewicht würde sie sich einen Bruch heben. Merde, wie komme ich da wieder heraus? Der so Gebauchpinselte grinste wie ein Honigkuchenpferd, wäh
rend sich Charbon laut und vernehmlich mehrere Male räusperte. »Die Antwort, bitte«, verlangte er in scharfem Tonfall. Nicole blickte sich erst unauffällig um, bevor sie antwortete. Wil liam befand sich hinter der Trassierabsperrung. Aber wo ist Robin? Sie konnte den schnauzbärtigen Chefinspektor nicht entdecken. Und das ist auch besser so! Wer weiß, was ihm seine hiesigen Kollegen sonst für Steine in den Weg legen können. Und das mit vollem Recht, denn ein Einsatz von Robin würde als illegal gelten. »Mademoiselle Duval!« Es war unverkennbar und unüberhörbar, dass der Kommissar erzürnt war. »Mir reicht's!« Auch Nicole hatte genug. Sie wusste, dass sie die Geduld von Kommissar Charbon mit ihrem Verhalten auf eine schwere Probe stellte, doch diesen Ton musste sie sich nicht gefallen lassen. »So nicht, Monsieur le commissaire«, sagte sie katzenfreundlich. Sie war noch nicht einmal laut dabei, aber ihre Stimme vibrierte. »Sie können mich etwas fragen, meinetwegen auch verhören, aber weder Sie noch einer Ihrer Leute brüllt mich an. Und hier, wo ich zu Hause bin, schon einmal gar nicht! Haben wir uns verstanden?« Charbon schluckte, seine Augen sprühten vor unterdrücktem Zorn. In diesem Fall hatte ihn seine Menschenkenntnis im Stich ge lassen, aber auch Kommissare sind nur Menschen. »Geben Sie mir bitte Antwort auf meine Frage.« Duval blickte William kurz an, der schloss die Augen und legte einmal kurz den Kopf auf die rechte Seite. ›Alles in Ordnung, die wissen nichts von Robin‹, sollte das bedeuten. Dann stand der Butler wieder genauso da wie vorher, mit geöffne ten Augen und den Kopf gerade gehalten. Nicole atmete auf, sie wollte ihrem Freund keinen Ärger bereiten. »Kommissar Charbon, ich bin hier zu Hause, wie ich eben schon ausführte«, versuchte sie eine Erklärung. Ob die Polizisten ihre Sto ry schlucken würden, musste sich erst noch erweisen. »Ich wohne
also hier und bin für alles verantwortlich.« »Das ist nichts Neues«, brummte Charbon. »Ich bin noch nicht fertig.« Auf Zeit spielen! Sie schürzte die Lip pen. »Und wenn ich etwas vermisse, dann suche ich auch danach.« »Und Sie haben etwas gesucht?« Man konnte nicht behaupten, dass Pierre Dent ihr Glauben schenkte. »Aber natürlich!«, behauptete Nicole mit fester Stimme. Charbon und Dent blickten sich stumm an. Sie kommunizierten ohne Worte, wie das oft bei Leuten ist, die sich gut kennen. Es war ersichtlich, dass sie Duval nicht glaubten. »Was haben Sie denn gesucht?« Nicole fuhr sich mit der Zungenspitze über die trockenen Lippen. Scheiße, in was für eine Situation habe ich mich da wieder bugsiert? Was soll ich den beiden bloß erzählen? »Einen Ring!«, stieß sie hervor, dabei lächelte sie unwiderstehlich. »Ich habe einen Ring gesucht!« Puh, ein Glück, dass mir das auf die Schnelle eingefallen ist. »Soso«, nuschelte Dent. »Einen Ring«, wiederholte Charbon, und es hörte sich an wie ein Vorwurf. »Ein Erbstück«, behauptete Nicole. »Von meiner Großmutter vä terlicherseits.« Charbon blickte sie an, als habe sie behauptet, der Himmel wäre grün. Er schloss die Augen und zählte still bis zehn. Dann hatte er sich wieder ein wenig beruhigt. »Und, haben Sie den Ring gefunden?« »Leider nein.« »Nächste Frage: Woher kamen Sie eben, als Sie zwischen diesen seltsamen Blumen heraustraten?« »Und was sind das überhaupt für Gewächse?«, mischte sich Dent erneut ein.
»Das sind ja gleich zwei Fragen?« Innerlich amüsierte sie sich jetzt. »Welche darf ich zuerst beantworten?« »Meine«, antwortete Charbon mit einem Gesicht, als habe er in eine Zitrone gebissen. »Woher Sie kamen.« »Durch die Tür dahinten.« Und sie wies in die betreffende Rich tung. »Und weshalb haben wir nichts davon bemerkt, wie Sie die Tür öffneten?« Nicole zögerte, ihr fiel nichts ein, was sie den beiden erzählen soll te. »Das ist Teil eines holografischen Tricks«, wurde sie von William unterstützt. »Eines was?« Charbons Teint ging mehr ins Dunkelrote. »Holografischen Tricks, Chef«, echote Pierre Dent. »Das ist …« »Das weiß ich selbst«, fauchte der Kommissar. »Diesen holografischen Trick benutzen wir immer für die Zauber vorstellung, die ein Freund der Familie oft im Zirkus gibt, Mes sieurs«, spann der Butler seine Idee weiter. Nicole fiel ein Stein vom Herzen. »Und diese so genannten Blumen sind selbstverständlich keine echten Pflanzen. Sie gehören zum Zaubertrick und dienen le diglich der Ablenkung des zahlenden Publikums.« »Aha!«, machte Charbon, als könnte er Williams Ausführung fol gen. »Können wir den Trick mal sehen?«, wollte Dent wissen. William blickte ihn lange an, dann zog er indigniert eine Braue nach oben. »Verzeihung, Monsieur, ich sagte zahlendes Publikum…« Dent sog die Luft durch die geschlossenen Zähne ein. »… und das impliziert eine Zirkusmanege und jede Menge Leute, damit man auch das richtige Flair miterleben kann. Außerdem fehlt natürlich der Freund der Familie, der diesen Trick in Szene zu set zen gedenkt«, beendete der Schotte seine Ausführung im für ihn so
typischen gestelzten Stil. Nicole gab sich Mühe, nicht zu lachen. Die Gesichter der Polizisten waren sehenswert. Charbon sah von Duval zu William und zurück. Er verzog das Ge sicht und schüttelte den Kopf. »Und das sollen wir glauben? Aus welchem Grund?« »Weil es die Wahrheit ist«, übernahm William weiterhin den Part des Antwortenden. »Kommen Sie, Dent«, sagte der Kommissar. »Gehen wir, bevor ich Magenschmerzen kriege.« Wortlos trippelte der Assistent hinter ihm her, als Charbon sich durch die Absperrung quälte. Der Leiter der Mordkommission von Roanne drehte sich um. »Und Sie entfernen sich bitte auch vom Tatort«, befahl er Nicole und sah zu, wie sie seinem Beispiel folgte. »Ich habe Sie schon vor hin darauf aufmerksam gemacht, dass niemand Zutritt hat. Zuwi derhandlungen werden strafrechtlich verfolgt.« »Sicher, Monsieur«, gab sich Nicole wieder zahm. »Es ist nur so ungewohnt für mich, dass ich nicht daran dachte.« Vollidiot! »Morgen sind wir eh wieder da«, murmelte Dent so leise, dass es niemand hörte. »Und dann kommt keiner von euch mehr herein.« William und Nicole begleiteten die Polizisten bis zum Tor. Als Charbon in seinen Dienstwagen stieg, erkundigte er sich nach dem schwarzen Seat, der direkt nebenan geparkt war. »Ach der«, sagte Nicole Duval. »Das ist der Wagen eines Freun des, der mit Lady Patricia ausgegangen ist.« Ohne weitere Verabschiedung fuhr Dent los. Nicole blickte ihnen hinterher, bis sie die Lichter des Wagens nicht mehr erkennen konn te. »Ein Glück, dass sie weg sind. Weshalb waren sie überhaupt da?«,
erkundigte sie sich. »Weil sie noch etwas am Tatort suchten«, antwortete William. »Und, wurden sie fündig?« »Ich glaube nicht, Mademoiselle. Aber was ist mit Ihnen?« Nicole öffnete den Reißverschluss bis auf Nabelhöhe, entnahm den E-Blaster und hängte ihn wieder an die Magnetplatte. Sie war heilfroh, ihn zuvor unter dem Overall verborgen zu haben. Die selt same Waffe hätte Charbon und Dent nur noch misstrauischer ge macht. »Ob Sie es glauben oder nicht, William, im gleichen Augenblick, als ich vorhin zwischen den Regenbogenblumen materialisierte, ver schwand Merlins Stern!«
Ich muss hier raus! Unter allen Umständen. Bloß … wie? Um elf Uhr abends war Zamorra aufgewacht. Seitdem versuchte er verzweifelt, wieder einzuschlafen. Aber alle Tricks der Selbstbe einflussung fruchteten nichts, er brachte kein Auge mehr zu. Er saß auf seiner Schlafgelegenheit, die Ellenbogen auf die Knie gestützt und das Gesicht in den Händen vergraben. Rings um ihn herrschte Dunkelheit. »Wenn man wenigstens Licht anschalten könnte«, zischte er. Doch die Beleuchtung war pünktlich um 22:00 Uhr am letzten Abend ge löscht worden. Und sie würde erst um 7:00 Uhr morgens wieder aufflammen. Das durch das Fenster einfallende Mondlicht sorgte wenigstens für einen dämmerigen Schein. Grimmig blickte Zamorra auf die Leuchtziffern seiner Uhr. Erst halb zwölf, und die Nacht nimmt kein Ende, stöhnte er innerlich. Er fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare, dann lehnte er sich zurück, bis beide Schultern die kalte Wand berührten. Den Kopf lehnte er zurück und mit den Händen stützte er sich zu beiden Sei ten ab.
»Wie schaffe ich es, dass ich mit Nicole in Verbindung treten kann?«, fragte er sich. »Telepathie?« Er schüttelte den Kopf. Seine Gefährtin konnte Gedanken lesen, aber dazu musste sie sich in Sichtweite befinden. Lag nur eine Wand dazwischen, funktionierte ihre Gabe nicht. Wer konnte ihm in dieser Hinsicht noch helfen? Zamorra brauchte nicht lange zu überlegen. »Teri Rheken oder Gryf ap Llandrysgryf.« Beides Silbermond-Druiden, beide telepathisch begabt. Doch wie sollte es ihm gelingen, einen von beiden zu erreichen? Er wusste ja nicht einmal, wo in der Welt sie sich gerade herumtrieben. Und sie setzten ihre telepathischen Fähigkeiten nicht 24 Stunden am Tag ein, sondern nur, wenn es erforderlich war. Und bei über sechs Milliarden Menschen war es mehr als unwahrscheinlich, dass sie rein zufällig ausgerechnet seine, Zamorras, Gedanken empfin gen. Aber mit irgendetwas muss ich doch zumindest einen von ihnen errei chen können, grübelte er. Stellt sich die Frage: Womit? Vorsichtig legte er sich wieder hin, in der Hoffnung, dabei den ret tenden Gedanken zu finden. Das Amulett? Nein, das kann nicht hinhauen. Er verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Das konnte es nicht sein. Vielleicht doch? Er erinnerte sich daran, dass es ihm einmal gelungen war, mittels Merlins Stern Nicole Duval und Gryf ap Llandrysgryf zu rufen. Da mals, kurz bevor Broceliande vernichtet wurde. »Und was einmal geklappt hat, kann auch beim zweiten Mal gelin gen«, hoffte er. Dann war er sich wieder unschlüssig. Sollte er es wirklich versuchen?
Eigentlich kann ich dabei nicht verlieren. Also rief er das Amulett und hielt es gleich darauf in seinen Hän den. Es geschah im gleichen Augenblick, als Nicole Duval zwischen den Regenbogenblumen von Château Montagne materialisierte und Kommissar Charbon erblickte. Und jetzt rufe ich zuerst Gryf! Er konzentrierte sich auf den Silbermond-Druiden und formte eine Telepathie-Botschaft für ihn. ›Gryf ich bin's, Zamorra. Ich brauche deine Hilfe. Wenn du mich verste hen kannst, dann peile mich an und komme her.‹ Er versuchte es eine viertel Stunde lang, ohne Erfolg. »Mist!«, zischte er, aber er musste einkalkulieren, dass der Versuch nicht klappte. »Jetzt Teri …« Im Geist sah er das Gesicht der attraktiven Druidin vor sich. Teri Rheken war, ebenso wie Gryf ap Llandrysgryf, seit vielen Jahren mit Zamorra befreundet. Sie war eine bildschöne Frau mit hüftlangem, goldfarbenem Haar. Wer sie sah, schätzte sie auf knapp 20 Jahre, da bei war sie um einiges älter. Wie alt, das hatte Zamorra bis heute noch nicht in Erfahrung bringen können. ›Teri, ich bin's, Zamorra. Ich brauche deine Hilfe. Wenn du mich verste hen kannst, dann peile mich an und komme her.‹ Auch hier versuchte er, über zehn Minuten lang, Telepathiekon takt zu bekommen. Gerade als er aufgeben wollte, hörte er eine Art Raunen. Als ob jemand in Gedanken stöhnen würde. In Gedanken stöhnen?, wunderte er sich. Leide ich schon unter Hallu zinationen? Die Härchen in seinem Nacken richteten sich auf, eine seltsame Unruhe überfiel ihn. Trotzdem beschloss er, einen neuen Versuch zu wagen. ›Teri, bist du es? Ich bin's, Zamorra.‹ Nach kurzer Zeit vernahm er eine dunkle, heisere Frauenstimme
in seinen Gedanken. Sie ließ ihn unwillkürlich frösteln. Er wusste nicht zu sagen wieso, aber diese Gedankenstimme klang gefährlich. ›Zamorra? Ich kenne dich nicht.‹ ›Wer bist du?‹ Kurzes Zögern, als ob die Frau durchatmen musste, dann: ›Ich bin Gwin.‹ ›Gwin?‹ ›Gwin!‹, bestätigte die Stimme. Zamorra war zugleich fasziniert und abgestoßen davon. Fasziniert, weil die Stimme eine unglaubli che Präsenz besaß; sie füllte alles aus. Abgestoßen, weil er bemerkte, welche Gefahr hinter der Person stand, die telepathisch mit ihm sprach. Selbst in seinen Gedanken redete Gwin auf eine eigenartig holpri ge, abgehackte Art und Weise. Das war etwas, was er nie für mög lich gehalten hatte. ›Was bist du?‹ Ein heiseres Kichern entstand in seinem Kopf. Es klang, als wür den zwei Eisenteile aufeinander reiben. ›Du bist ziemlich neugierig, Zamorra. Es ist nicht gut, wenn Menschen zu viel wissen.‹ Ein bisschen mehr an Information hatte er schon erwartet. Statt dessen erhielt er eine klare Drohung. ›Und wo befindest du dich?‹ In diesem Augenblick vermeinte er, einen Luftzug zu spüren. Die Temperatur in diesem Raum schien um mehrere Grade zu fallen. Gleichzeitig stank es penetrant, nur konnte Zamorra nicht erklä ren, wonach. »Hier, neben dir«, antwortete eine kehlige Stimme. Er blickte hoch und bemerkte eine nackte Gestalt im Dämmerlicht. Er kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können, gleich zeitig spürte er, wie sich das Amulett erwärmte. Das bedeutete, dass die Gestalt schwarzmagische Kräfte besaß.
»Du bist Gwin?«, fragte er, obwohl er die Antwort schon wusste. »So heiße ich.« »Was willst du von mir?« Sie trat näher an ihn heran und betrachtete ihn, wie ein Wissen schaftler sein Forschungsobjekt. Selbst im Dämmerlicht erkannte er, dass er noch nie eine so attraktive Frau gesehen hatte. Gwin war eine einzigartige Schönheit, nur spürte er die Gefahr hinter der Fassade. Und das machte ihn vorsichtig gegen alles, was mit der schwarzen Frau zusammenhing. »Ich will mir ansehen, welche Freunde Myrddhin hat.« »Myrddhin?«, echote Zamorra tonlos. Er versuchte zurückzuwei chen, doch da war nur die kalte Wand hinter ihm. »Meinst du Myrddhin Emrys? Den Zauberer Merlin? Merlin Ambrosius?« »Merlin? Nennt er sich jetzt so?« Gwin lachte heiser, ein Geräusch, das Zamorra kalte Schauer über den Rücken laufen ließ. »Merlin … Ambrosius?« »Er nannte sich so«, verbesserte der Meister des Übersinnlichen. »Nannte? Wieso das?« »Er ist tot! Umgebracht durch einen schwarzen Blitz …« Gwin näherte sich Zamorra. Das Amulett erwärmte sich immer mehr. Schließlich bildete sich unendlich langsam ein grünlich wa bernder Energieschirm um den Parapsychologen. Ein silberner Blitz löste sich ebenso langsam von Merlins Stern und flog auf Gwin zu. Sie wusste nicht, was das bedeuten sollte. Den Energieschirm hatte sie vor einem halben Tag am Rand von Broceliande schon einmal gesehen. Davor musste sie sich in Acht nehmen, das wusste sie. Der silberne Strahl verblüffte sie. So etwas kannte sie nicht. Unter nor malen Umständen hätte sie sehr viel schneller reagiert, aus diesem Grund streifte er sie. Sie heulte vor Schmerz auf und war eine Sekunde später ver schwunden, dabei hinterließ sie einen stechenden Geruch.
Danach erlosch der Silberstrahl und der Energieschirm wurde de aktiviert. Zamorra lehnte sich aufatmend zurück. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Es dauerte einige Minuten, ehe er sich beruhigt hatte. Si cher, das war nicht die erste Begegnung, die er mit Dämonen oder anderen Höllenmächten hatte, aber er wusste, dass er knapp am Tod vorbeigeschrammt war. »Das hätte böse ausgehen können«, ächzte er und wischte mit der Hand über die Stirn. Vom Nebenzimmer vermeinte er, eine Stimme zu hören, die sich über nächtliche Ruhestörung beschwerte. Merde, ist das eben nicht ohne Aufsehen ausgegangen? Das war ihm gar nicht recht. Was soll's, entschied er, Hauptsache, dass dieses Dämonenweib weg ist. Er entschloss sich, den unterbrochenen Versuch, Teri Rheken tele pathisch zu rufen, fortzusetzen. ›Teri, ich bin's, Zamorra. Ich brauche deine Hilfe. Wenn du mich verste hen kannst, dann peile mich an und komme her.‹ Schon nach wenigen Versuchen durchzog ihn ein Gefühl der Ge wissheit, dass er Teri gefunden hatte. Kein Gedanke wurde hörbar, doch er war seiner Sache sicher. Und wirklich, etwas wisperte in ihm. Er schloss die Augen und versuchte, sich nur darauf zu konzentrieren. ›Zamorra, bist du das wirklich? Du bist doch kein Telepath … Wo bist …‹ In diesem Augenblick brach der Kontakt ab.
7000 Kilometer weit weg wurde Teri Rheken von Zamorras Telepa thieruf aus dem Schlaf gerissen. Sie hatte am Vorabend mit ein paar Freunden eine Orgie gefeiert und hinterher ihren Favoriten auf dem Rücksitz seines BMW vernascht. Jetzt lag er im Hotelbett neben ihr.
Kein Wunder also, dass es lange dauerte, bis sie durch den telepathi schen Ruf aus dem Tiefschlaf gerissen wurde. Aber das war sowieso egal, denn sie konnte noch nicht klar verste hen, was ihr übermittelt wurde. ›Teri, ich bin's, Zamorra. Ich brauche deine Hilfe. Wenn du mich verste hen kannst, dann peile mich an und komme her.‹ Wer war Teri? Und wer Zamorra? Und was war anpeilen? Sie stützte sich auf und konnte vor Erschöpfung fast nichts sehen. Der Restalkohol schien in ihren Adern die Orgie weiterzufeiern, denn alles drehte sich vor ihren Augen. Sie versuchte, sich aufzusetzen, doch das war ein Fehler. Sie be kam keine Luft mehr, und alles verschwamm vollends, so dass sie nicht mehr klar sehen konnte. »Autsch«, stöhnte sie herzzerreißend. Sie griff mit einer Hand ne ben sich auf den Nachttisch und fand nach dem fünften Anlauf den Lichtschalter. Obwohl es sich nur um das dämmerige Nacht tischlämpchen handelte, glaubte sie, dass ihre Netzhäute explodier ten. »Ah! Verdammt!« Sie hielt beide Arme vor die Augen, dann richtete sie sich ein zweites Mal auf. »Meine Güte, ist mir schlecht!« Ein bekanntes Würgen im Hals machte ihr Angst. Jetzt nur nicht übergeben!, beschwor sie sich. Sie warf einen Blick auf das Bett nebenan. Der Junge, der sie vor hin noch so beglückt hatte, schlief tief und fest. »Du hast es gut!«, seufzte sie zum Steinerweichen. Zum Glück war das Würgegefühl abgeklungen. Da hörte sie es zum zweiten Mal. ›Teri, ich bin's, Zamorra. Ich brauche deine Hilfe. Wenn du mich verste hen kannst, dann peile mich an und komme her.‹
Langsam wusste sie wieder, wer sie war und wer ihr diese Bot schaft schickte. Teri bin ich, erkannte sie mit ihrem benebelten Gehirn. Und Zamor ra ist ein Freund von mir … und ein Feind der Hölle … Zamorra brauchte Hilfe? Der Meister des Übersinnlichen musste sehr in Bedrängnis sein, wenn er nach ihr rief. Aber er musste noch etwas warten, in diesem Zustand war es für die Druidin unmöglich, seiner Bitte gleich nachzukommen. »Nie mehr!«, schwor Teri, obwohl sie wusste, dass sie das Gesagte nicht einhalten konnte und wollte. »Nie wieder werde ich Alkohol trinken.« ›Teri, ich bin 's, Zamorra. Ich brauche deine Hilfe. Wenn du mich verste hen kannst, dann peile mich an und komme her.‹ Schon wieder drängte die Gedankenbotschaft. Teri versuchte, sich zusammenzureißen. ›Zamorra, bist du das wirklich? Du bist doch kein Telepath … Wo bist …‹ Der Alkohol forderte seinen Tribut. Sie schlief mitten im Wort ein. Ihr Kopf sackte vornüber und sie rollte zur Seite. Sie wachte erst Stunden später wieder auf.
»Ich spüre, dass an der Sache weit mehr dran sein muss, als ein nor maler Mord oder Totschlag«, dozierte Kommissar Charbon. »Das glaube ich auch«, pflichtete sein Assistent bei. »Stellt sich die Frage: was?« »Das herauszufinden ist unsere Aufgabe.« »Das weiß ich, aber immer dann, wenn wir mit dem Professor zu sammentreffen, gibt es Geheimnisse, die nicht in unser Weltbild pas sen.« Dent presste die Lippen aufeinander. Es war unverkennbar, dass er über einem Problem grübelte.
Vor einigen Stunden waren sie schon wieder in Charbons Büro zu rückgekehrt. Und seit dieser Zeit dachten sie angestrengt nach, was an diesem Fall so anders war als an anderen Morden. »Wir haben reichlich wenig in der Hand, um Zamorra mehr als 48 Stunden festzuhalten«, erinnerte Pierre H. Dent. »Wenn ich es mir recht überlege, fast nichts.« »Ich weiß«, brummte Charbon, »aber er ist der Einzige, der infrage kommt.« »Der Tote wurde in seinem Kellergewölbe aufgefunden. Er und der Professor sehen aus, als wären sie in eine Schlägerei geraten, aber sonst haben wir nichts gegen ihn in der Hand«, gab Dent zu be denken. »Die Fingerabdrücke an Ambrosius stammen zum Teil von Zamorra, aber der hat angeblich Wiederbelebungsversuche gemacht …« Charbon strich sich fahrig mit der Hand über die Stirn. Er führte eine mit Kaffee halb gefüllte Tasse an den Mund und trank das hei ße Gebräu mit kleinen Schlucken. »Das ist mir alles bekannt, verehrter Herr Kollege«, gab der Kom missar zu, während er die Tasse wieder auf dem Tisch absetzte, »aber ich fühle, dass mehr an diesem Fall dran ist.« »Fragt sich nur: was?« »Das sagten sie eben schon einmal.« »Weil ich irgendwie nicht damit klarkomme«, gab Dent zu. »Da erscheint dieser seltsam gekleidete alte Mann wie aus dem Himmel in Château Montagne, ohne dass die Bewohner etwas davon mer ken. Erinnern Sie sich an die Sache vor eineinhalb Jahren mit dem abgetrennten Unterarm?« Charbon verzog das Gesicht und winkte ab. »Erinnern Sie mich bitte nicht daran. Aber seine Freundin ist auch nicht ganz astrein. Und erst der Butler …« »Sie haben ihm also auch nicht geglaubt?« Der Kommissar grinste und schüttelte den Kopf. Dann drehte er
sich im Kontursessel hin und her. »Kein Wort, aber ich kann ihm das Gegenteil nicht beweisen.« Er legte eine Pause ein und blickte Dent scharf an. »Noch nicht!« »Was machen wir mit der Freundin des Professors?«, wollte Dent wissen. »Sie hat ganz eindeutig unsere Anweisung missachtet. Der Tatort darf auf keinen Fall betreten werden, damit niemand Spuren verwischt.« Charbon überlegte eine Weile mit gerunzelter Stirn. »Unsere Spurenabteilung war ja schon dort«, gab er zu bedenken. »Aber es ärgert mich trotzdem, dass sie auf naiv macht und ver sucht, uns wie kleine dumme Jungs hinzustellen.« Er kratzte sich ausgiebig am Hinterkopf und sah zu, wie Dent auf stand, zur Kaffeemaschine ging und sich den verbliebenen Rest in seine Tasse einschenkte. Dent kam wieder zurück an seinen Schreibtisch, setzte sich und stellte die Tasse demonstrativ ab. »Und, was unternehmen wir gegen sie?« »Vorerst nichts«, sagte sein Chef. »Aber wir merken uns ihr Ver halten, und bei der ersten Chance, die wir erhalten, haben wir etwas gegen sie in der Hand.« Pierre H. Dent führte die Tasse mit dem dampfenden Getränk an den Mund und trank alles in einem Zug aus. Der Kommissar bekam große Augen. War sein Assistent noch zu retten? Er musste sich doch Verbrühungen dabei holen. Anscheinend machte ihm der heiße Kaffee nichts aus. Er verzog keine Miene, als er die Tasse wieder abstellte. »Ob wir unter seinen Habseligkeiten etwas finden?«, überlegte Dent laut. »Sie meinen die Sachen, die er hier abgegeben hat?«, stellte Char bon eine Gegenfrage. »Genau das«, nickte sein Assistent. »Wenn ich nur an diese rätsel
hafte Silberscheibe denke …« »Dann schauen wir uns das doch noch einmal an«, schlug der Kommissar vor. Er erhob sich und winkte Dent, dass der ihm folgte. Bis zur Aufbewahrungskammer war es nicht weit. Sie liehen sich den Schlüssel zu Zamorras Fach aus, der nur gegen Unterschrift zu haben war. Dent las den Zettel mit Zamorras Eigentum vor, und Charbon be sah sich den Inhalt des verschlossenen Beutels. »Stimmt etwas nicht?«, erkundigte sich der Assistent, als er be merkte, wie sein Vorgesetzter die Stirn in Falten legte. »Wo ist dieses Amulett?« Charbons Zähne mahlten aufeinander, er wurde blaß. »Das muss doch dabei …« Dent verstummte, als er einen Blick auf den Beutel warf. Es war unglaublich, aber Merlins Stern war verschwunden. »Wo ist Louis? Er war doch eben so nervös.« Mit einem Schlag wurde Charbon so aufgeregt, als befände sich seine Frau gerade im Kreißsaal kurz vor der Geburt des ersten Kindes. Er lief den Gang bis zu Louis' Büro. Ohne anzuklopfen öffnete er die Tür, trat ein und warf sie hinter sich ins Schloss. Louis kippte fast von seinem Stuhl, als er den Kommissar wie einen Racheengel vor seinem Schreibtisch sah. Seine Augen wurden groß, während er im Stuhl zusammensank. Ohne ein Wort zu sagen, legte Charbon die Tüte auf Louis' Schreibtisch. Er blickte ihn stumm an, seine Augen funkelten gefähr lich. Louis wusste genau, was sein Vorgesetzter von ihm wollte, aber er zog es vor, sich erst einmal dumm zu stellen. Woher weiß der Alte von dem verschwundenen Ding? Ist der neuerdings unter die Hellseher gegangen? Oder hat Patrick etwas verraten? »Hätten Sie die Güte, einen Blick darauf zu werfen?«
Zwei Türen öffneten sich. Durch die eine trat Pierre Dent, der mit dem Kommissar nicht hatte Schritt halten können, durch die andere Louis' Kollege Patrick, der ebenfalls vom Verschwinden des Amu letts wusste. Während Dent seine Tür wieder hinter sich schloss, hielt Patrick das nicht für nötig. Louis schluckte, getraute sich aber nicht, etwas zu sagen. »Wo! Ist! Das! Amulett?« Jedes Wort klang wie ein akustischer Peitschenhieb und tat Louis körperlich weh. Er zuckte kaum merklich die Schultern, während er auf dem Stuhl zu schrumpfen schien. »Ich weiß es nicht«, röchelte er kaum hörbar. »Ist es möglich, dass es sich noch bei Zamorra befindet?«, warf Dent ein. Charbon ging unruhig hin und her, Louis' Kollege dage gen beeilte sich, schnell wieder an seinen Arbeitsplatz zu gelangen. »Das werden wir gleich haben«, bellte der Kommissar. Ohne ein Wort zu sagen drehte er sich um, besorgte sich den Schlüssel zu Za morras Zelle und stand wenige Minuten später davor. Als der Meister des Übersinnlichen hörte, wie der Schlüssel im Schloss knackte, ließ er das Amulett blitzschnell unter seinem Hemd verschwinden. Charbon drückte draußen auf den Lichtschalter. Zamorra lag auf seiner Schlafgelegenheit – Bett konnte und wollte er nicht zu dem wackeligen Ding sagen – und hielt die Hände vor die Augen. »Kann man in diesem Laden nicht einmal in Ruhe schlafen?« Er wirkte sehr verärgert. »Schließlich haben wir noch keine Weckzeit.« »Leibesvisitation, Zamorra!«, fuhr ihn der Kommissar an, ohne sich um seine Worte zu kümmern. Der Professor wurde mit einem Schlag gefährlich ruhig. Auch wenn Charbon vor Wut geladen war, alles brauchte er sich nicht ge fallen zu lassen. »Zuerst einmal einen schönen Guten Morgen«, sagte er leise. »Auch wenn ich hier nicht zu Gast bin, dürfen Sie weiterhin die
schöne Anrede Monsieur oder Professor in Verbindung mit meinem Namen benutzen.« Charbon blickte ihn an, als würde er zum ersten Mal davon hören, dass man Leute auch anders anreden kann. Schließlich bequemte er sich dazu, Höflichkeit zu üben. »Guten Morgen, Professor Zamorra.« Der Parapsychologe nickte als Gruß zurück. Na also, es geht doch, schien sein Gesichtsausdruck zu sagen. »Was möchten Sie?«, fragte er. »Das sagte ich eben schon«, brummte Charbon, »eine Leibesvisita tion.« »Darf ich erfahren, wieso? Sie haben mich gleich gestern nach mei ner Ankunft schon auf den Kopf gestellt«, erinnerte Zamorra. »Nehmen Sie es einfach hin, es geschieht nur zu Ihrem Besten«, lautete die Antwort. »Das sagte die Schlange auch, als sie das Kaninchen verschlang«, konnte sich Zamorra nicht verkneifen zu sagen. Der Kommissar schloss die Tür hinter sich. »Ich muss leider darauf bestehen«, entschuldigte er sich, doch sei ne Miene strafte die Worte Lügen. Der sucht das Amulett! Ich muss vorsichtig sein. Zamorra blickte Charbon direkt in die Augen. Er besaß die ParaGabe der Hypnose. Er konnte fast jeden Menschen hypnotisieren, war aber selbst nicht hypnotisch beeinflussbar. »Um was geht es, Monsieur?«, fragte er nach einigen Sekunden. »Ich suche Ihr Amulett, Monsieur deMontagne«, antwortete der Kommissar bereitwillig. Welch ein Glück, Hypnose klappt bei ihm. Aber wie ist der jetzt bloß dar auf gekommen, dass Merlins Stern hier ist? »Nun, sehen Sie sich bitte um«, sagte Zamorra und zeigte mit der freien Hand auf die Schlafgelegenheit. Es sah aus, als ob er den
Kommissar einladen wollte, in seinem Domizil zu weilen. »Was sehen Sie? Befindet sich das Amulett hier?« »Nein, es befindet sich nicht hier«, wiederholte der Hypnotisierte. »Ich habe das Amulett nicht«, hämmerte ihm Zamorra ein. »Nein, Sie haben es nicht«, echote es tonlos. »Wir haben zwanglos geplaudert, Sie haben mich einer Leibesvisi tation unterzogen und das Amulett nicht in diesem Raum gefunden. Sie verlassen jetzt den Raum. Und wenn Sie die Tür hinter sich ge schlossen haben, dann wachen Sie wieder auf«, befahl der Dämo nenjäger. »Jawohl«, bestätigte Charbon. Dann drehte er sich wieder um, verließ den Raum und bildete sich ein, dass es genau so abgelaufen wäre, wie der Professor ihm sugge riert hatte.
»Zuerst stirbt Merlin, und niemand weiß, woran. Dann wird Zamor ra als sein mutmaßlicher Mörder festgenommen, und schlussendlich verschwindet noch Merlins Stern«, klagte Nicole Duval. Sie wandte sich dem Butler zu. »Und was wird als Nächstes passieren?« William zuckte mit den Schultern. Dabei fiel ihm auf, dass das wohl die zur Zeit meistgebrauchte Bewegung von ihnen beiden war. Nichts konnte ihre Ratlosigkeit besser darstellen. Sie gingen wieder zum Esszimmer. Pierre Robin war heimlich dorthin verschwunden, als vorhin seine Kollegen von der Mordkommission kamen. »Eins steht fest«, sagte William. »Wenn das Amulett wieder ver schwunden ist, dann wird es von Monsieur Zamorra gebraucht. Merlins Stern hört nur auf Sie beide.« Nicole nickte bestätigend. Genau dasselbe dachte sie auch. Im ers ten Augenblick war sie versucht gewesen, das Amulett wieder zu rückzurufen, aber ihr war klar, ihr Gefährte würde den siebten Stern von Myrrian-ey-Llyrana nur im Notfall rufen. Und da sie das Amulett
im Augenblick nicht brauchte, war es sinnvoller, es bei ihm zu belas sen. »Das stimmt, William«, gab sie zu. »Aber wenn er es benötigt, dann doch wohl nur, um einen schwarzmagischen Feind abzuweh ren.« »Oder aber er startet die Zeitschau«, gab Robin zu bedenken. »Ob wohl ich mir nicht denken kann, was sie ihm auf der Polizeistation nützen kann.« »Oder das. Ich gebe zu, dass ich mich nicht sehr wohl fühle.« Ni cole legte die Arme um ihren Oberkörper, sie fröstelte trotz der Wär me, die in diesem Raum herrschte. »Wir fühlen uns alle unwohl bei der Sache«, sagte Robin. »Und wir sind noch nicht viel weitergekommen.« »Sind wir doch«, widersprach Nicole. Als sie die fragenden Ge sichter der beiden Männer sah, erzählte sie, was sie in der Zeitschau in Broceliande gesehen hatte. »Halten wir fest, was dir Merlins Stern zeigte«, fasste Robin ihren Bericht zusammen. »Ein schwarzes Wesen, das sich außerhalb des Zauberwaldrands aufhielt und Zamorra und Merlin mittels Magie während des Transportvorgangs angriff.« »Genau, und das Amulett erzeugte den Energieschirm«, bestätigte Nicole. »Aber wie kommt es dann, dass der Zauberer getötet wurde, wäh rend Monsieur Zamorra überlebte?«, fragte William. »Nicht, dass Sie denken, ich würde mir so etwas wünschen.« »Nein, so etwas würde ich Ihnen nie unterstellen.« Nicole Duval kaute auf ihrer Unterlippe. »Die Frage ist sogar berechtigt, denn Sie sahen die Zeitschau ja nicht.« »Ich nehme an, dass Zamorra sich schon innerhalb der Regenbo genblumen befand und Merlin der Mörderin näher war«, überlegte der Chefinspektor. »Richtig, außerdem war Merlins Stern gerade dabei, den Energie
schirm aufzubauen …« Nicoles Blick ging ins Leere, sie versuchte, sich jede Kleinigkeit ins Gedächtnis zurückzurufen. Alles konnte wichtig sein und zur Klärung des Rätsels beitragen. »Das bedeutet, er war noch instabil«, folgerte William. »Ich weiß nicht, ob man diesen Begriff verwenden kann, aber er trifft es vielleicht am ehesten.« »Und was jetzt?« Robin blickte sie auffordernd an. Er stand auf und streckte sich, dazu gähnte er zum Steinerweichen, ohne sich die Hand vorzuhalten. »Wer könnte uns jetzt weiterhelfen?«, stellte er eine weitere Frage. Nicole erhob sich ebenfalls und trat neben ihn. Ihre Unruhe wollte nicht vergehen. Sie hielt die Hände in die Seiten gestemmt; ihre Lip pen bildeten einen dünnen Strich. »Mir fällt da nur Monsieur Asmodis ein«, meldete sich der Butler zu Wort. »Assi?« Nicoles Stimme schwankte zwischen Hoffnung und Ab scheu, und das alles in nur einem Wort. »Wir wissen, dass du ihn nicht sonderlich schätzt«, gab sich Robin gut informiert. »Aber wenn er unsere einzige Hoffnung im Augen blick ist … Diese Silbermond-Druiden … könnten die uns weiterhel fen?« Nicole wanderte im Raum auf und ab, dann blieb sie vor dem rus tikalen Tisch stehen und hielt sich mit beiden Händen fest. Sie legte den E-Blaster auf dem Tisch ab. Im Château benötigte sie die Waffe nicht. »Teri und Gryf?«, überlegte sie laut. »Nun, das ist keine schlechte Idee. Die beiden haben uns schon sehr oft aus der Patsche geholfen.« Wortlos stand sie einige Sekunden am Tisch, dann stemmte sie sich zurück, drehte sich um und begann wieder ihren Rundlauf. »Aber wenn es um Merlin geht, dann ist sein Bruder wohl die erste Adres se, an die wir uns wenden sollten.« »Fragt sich nur, wie wir diese Leute erreichen sollen«, wandte Pi
erre ein. »Nun, Monsieur Llandrysgryf besitzt einen Telefonanschluss auf der Insel Anglesey«, zählte der Schotte auf. »Mademoiselle Rheken ist ganz selten zu erreichen, denn sie besitzt keinen festen Wohnsitz …« »Das weiß ich inzwischen«, gab Chefinspektor Robin zu. »Und was ist mit Asmodis? Wie bringen wir ihn dazu, uns zu helfen? Wir wissen ja nicht mal, wo er gerade steckt. Er kommt und geht, wie er will«, seufzte er. »Willst du ihm eine E-Mail schicken? E-Mail in die Hölle oder so?« »Du wirst lachen, aber das hatten wir vor einigen Wochen schon einmal. Kurz bevor Assi uns mit in die Hölle nahm, schickte er uns eine Mail. Der Absender dieser Mail war ein gewisser asmodis@hell. gov. Aber es gibt da eine viel bessere Methode«, sagte Nicole. »Den Höllenzwang. Dem unterliegt er meines Wissens immer noch, denn das hat Zamorra einmal vor Wochen nach Erhalt besagter Mail aus probiert. Komm mit.« »Hell-Government«, sagte Robin kopfschüttelnd. »Höllen-Regie rung … Die Domain hell.gov gibt's doch nicht wirklich, oder?« Nicole zuckte mit den Schultern. »Zamorras Antwort-Mail kam je denfalls nicht zurück, in der er sich solche dummen Scherze verbat. Stattdessen erhielten wir eine weitere Mail, in der nochmals mit an derem Text auf das Treffen hingewiesen wurde. Aber seitdem haben wir nichts mehr davon gehört.« Sie suchten Zamorras »Zauberzimmer« auf, den Raum, in wel chem der Professor mit Magie zu experimentieren pflegte. Nicole zeichnete mit magischer Kreide das Sigill des Asmodis auf den Boden, daneben einen Drudenfuß und diverse andere Symbole. So, wie es ihr Zamorra beigebracht hatte. Auf den Schutzkreis konnte sie in diesem Fall verzichten. Zum einen brauchte sie den bei Asmodis nicht, und zum anderen würden andere Dämonen die magische Schutzkuppel um Château Monta gne nicht durchdringen können.
Danach begann sie mit der Beschwörung. Die war alles andere als einfach. Je hochrangiger ein Dämon, desto komplizierter war die Beschwörung, und bei Sid Amos hatte Zamor ra sie bisher höchstens zwei- oder dreimal durchgeführt, und aus schließlich in Extremsituationen wie dieser. Daher musste sie sich intensiv darauf konzentrieren, um keinen Fehler zu machen. Fehler jeglicher Art führten unter normalen Umständen dazu, dass der gerufene Dämon dem Höllenzwang nicht vollständig unterlag und im Normalfall den Magier erschlug, weil er sich durch diesen gestört fühlte. Oder es tauchte ein völlig anderer Dämon auf, der dann ebenfalls nicht recht gehalten werden konnte. So oder so ende te es zumeist tödlich für den Anrufer. Nicole hätte im Zweifelsfall nur die eine Möglichkeit, schnell das Amulett zu rufen, um den An greifer abzuwehren. Andere Dämonen konnten natürlich nicht ins Château vordringen, selbst wenn sie gerufen wurden. Die M-Abwehr hielt sie davor ab. Asmodis konnte die M-Abwehr durchdringen, das hatten die Ereig nisse vor wenigen Wochen gezeigt. Allerdings hatte er mit Schmer zen und Beeinträchtigungen zu kämpfen. Und wenn sie ihn brauch te, um den Fall aufzuklären, musste sie vorsichtig agieren. Deshalb strengte sie sich an, die Beschwörung fehlerlos durchzu ziehen.
Unterdessen befand sich der Leichnam des Zauberers auf dem Weg zur Pathologie. Es sollte in den nächsten Tagen untersucht werden, woran er verstarb. Zwei Männer übernahmen diese traurige Aufgabe des Transports. Sie hatten jeden Tag mit Toten zu tun, aus diesem Grund dachten sie sich nicht viel dabei, als sie den Auftrag erhielten. Neugierhalber fragten sie nach, woran er ums Leben gekommen sein sollte.
»Keine Ahnung«, lautete die Antwort des Pförtners. »Es kann sich genauso um einen Herzinfarkt handeln wie um eine Vergiftung. Aber der alte Knabe sieht sehr merkwürdig aus.« »Merkwürdig? Wie das?« »Schaut ihn euch nur genauer an. Da glaubt man doch, der hätte bei einer Asterix-Realverfilmung als Miraculix mitgespielt.« Die Männer prusteten vor Lachen. Viel Respekt schienen sie den Toten nicht entgegenzubringen, solange keine Trauergemeinde in der Nähe war. Bei einem Blick auf den Leichnam des Druiden mussten sie dem Pförtner Recht geben. Der Tote sah wirklich aus, als wäre er einem Historienfilm entsprungen. »Ich würd's nicht glauben, wenn ich es nicht mit eigenen Augen sehen würde«, entfuhr es dem Fahrer. »Dass sich jemand so in die Öffentlichkeit traut, ist der Wahnsinn«, pflichtete der Beifahrer bei. »Aber das Outfit steht ihm.« »Merkwürdig«, sagte der Fahrer, »aber selbst im Tod strahlt er noch eine gewisse Würde aus. Ich kann's nicht erklären, wieso, aber der war kein kleines Licht.« »Mir ist auf einmal kalt«, murmelte der Pförtner zusammenhang los und zog den Kopf ein, als würde er frieren. »Wie heißt er und wie alt ist er?«, wollte der Beifahrer wissen, ohne auf die Worte einzugehen. Doch die beiden anderen Männer zogen ebenfalls die Köpfe ein. Auch sie bemerkten, dass etwas Ei genartiges in der Luft lag. »Alter ist unbekannt«, antwortete der Pförtner. »Aber der Name lautet Ambrosius. Merlin Ambrosius.« »Nie gehört«, meinte der Beifahrer. »Ich auch nicht«, schloss sich der Fahrer an. »Der kann nicht von hier sein.« »Fällt euch nichts auf an ihm?«, fragte der Pförtner und kniff die Augen zusammen.
Der Beifahrer stutzte, er stieß dem Fahrer in die Seite. »Schau dir mal das Gesicht und die Hände genauer an.« Der Fahrer blickte zuerst auf den Toten, dann auf seine Kollegen. »Der ist schon über 10 Stunden tot«, hauchte er fassungslos. »Da müsste er die ersten Leichenflecken schon bekommen.« »Und er ist auch noch nicht kalt«, behauptete der Pförtner. »Das ist keine normale Leichenstarre …« »Woher weißt du das?« »Greif ihn doch einmal an.« Der Fahrer blickte den Pförtner unsicher an, nach kurzem Zögern legte er dem Toten die Hand auf die Stirn. »Das gibt's doch nicht!«, stammelte er verblüfft. Von einer Sekunde auf die andere schien ein eisiger Hauch über ihnen zu liegen. Ein Hauch, der eine gewisse Beklemmung mit sich brachte. Keiner der drei hätte zu sagen vermocht, was es war, aber alle be kamen ein Gefühl der Angst. Sie froren innerlich und äußerlich. Der Pförtner schloss seine Jacke, und die beiden Leichentranspor teure beeilten sich, in ihren Wagen zu steigen. Dann brachten sie Merlin fort.
Fassungslos blickte Gwin auf ihren rechten Unterarm, dorthin, wo sie der Silberstrahl des Amuletts getroffen hatte. Eine rötlich leuchtende Furche zog sich fast vom Handgelenk zum Ellenbogen. Sie wusste nicht zu sagen, was schlimmer war: der Schreck über den unverhofften Angriff oder die brennenden Schmerzen. Erst jetzt kam sie dazu, auf ihre Umgebung zu achten. Als sie die Attacke des Amuletts bemerkte, hatte sie sich durch Teleportation an einen anderen Ort versetzt. Hätte sie nicht reagiert, wäre sie von
Merlins Stern getötet worden, das wusste sie. Um dem Angriff zu entkommen, musste sie in Sekundenschnelle blind teleportieren, das heißt, ohne sich den Ort der Rematerialisati on vorzustellen. Sie verfluchte ihren Leichtsinn. Sie hatte doch bei Myrddhin dar auf geachtet, dass er mürbe gemacht wurde ohne zu wissen, wer hinter den Attacken stand. Diesen Zamorra kannte sie nicht, aber er war gefährlicher, als sie dachte. Sie hob den Kopf an und schnüffelte. Es roch hier fast so wie in den sieben Kreisen der Hölle. Irgendwie vertraut, aber auch seltsam abstoßend. Als ob etwas faulen und sich dabei zersetzen würde. Aas? Oder eine verwesende Leiche? An diesem Ort herrschte Nacht. Das stellte kein Problem für sie dar, sie konnte im Dunkeln ebenso gut sehen wie am Tag. Der Vor teil war, dass sie nicht von Menschen gesehen werden konnte. Nicht, dass sie deswegen Angst bekam – sie war jedem menschli chen Wesen weit überlegen –, aber als Bewohnerin der Hölle zog sie es vor, unerkannt zu bleiben. So, wie Vampire oder Werwölfe auch. Der Gestank kam von mehreren Gruben, die mit Wasser und Un rat gefüllt waren. Einige einstöckige Gebäude mit Flachdächern standen daneben. Gwins Blick fiel auf ein Schild am Eingang zu diesem seltsamen Ort. Sie beherrschte nicht die Kunst des Lesens, sonst hätte sie fra gend die Augenbrauen gehoben. KLÄRANLAGE ROANNE stand in großen Buchstaben auf dem Schild. Es war also kein Wunder, dass ihr der Gestank heimisch vorkam. Sie strich mit der linken Hand über die Wunde. Dann schloss sie die Augen und konzentrierte sich auf ihre Selbstheilungskräfte. Die leuchtende Furche verlor an Farbkraft, sie wurde heller, fast schon cremefarben.
Nach wenigen Minuten zeigte nur noch ein schmaler Strich an, wo der Strahl von Merlins Stern sie getroffen hatte. Weiter reichte die Selbstheilungskraft nicht, hätte sie auch bei einer anderen Höllen kreatur nicht geholfen. Das Amulett hinterließ seine Spuren. Mit dem Rückgang der Wunde ließen auch die Schmerzen nach. Sie fühlte nur noch ein leises Kribbeln, das ihr angenehm erschien. »Du verfluchtes Dreckstück«, schimpfte sie und meinte Zamorra damit. »Das sollst du mir büßen, so wahr mir LUZIFER helfe!« Wieder spürte sie das Rauschen in den Ohren, das sie jedes Mal bekam, wenn sie die Kontrolle über sich verlor. Sie biss die Zähne aufeinander und ballte die Hände zu Fäusten, dass die spitzen Kral len, die sie statt Fingernägeln besaß, in die Handballen eindrangen. »Nein! Das will ich nicht …«, stöhnte sie auf. Sie wusste um ihre Schwäche, und sie verfluchte sie. Früher war sie anders gewesen, kaltblütiger. Aber die lange Zeit der Regenerati on hatte sie teilweise verändert. Sie empfand sich auf der einen Seite als kräftiger als damals, und auf der anderen Seite wurde eine gewisse Schwäche allgegenwärtig. Sie hasste Schwachheit. Besonders, wenn sie die Leidtragende war! Schwäche war etwas für andere, für Lebewesen, die außerhalb der Hölle existierten. Etwas für Sterbliche! Nichts für sie … Der Chor der gequälten Seelen! Meine Lieblinge, dachte sie, um sich abzulenken. Sie stellte sich vor, auf ihrem Lieblingsplatz über den Höllenklüften zu sitzen und dem Chor zuzuhören. Ihr singt für mich, nur für mich allein. Ich brauche eure wohlklingende Musik. Oh, meine Lieblinge … Sie summte die Melodie nach, die sie vor dem Verlassen der Hölle gehört hatte. Und wirklich, nach kurzer Zeit beruhigte sie sich so weit, dass sie wieder zu klaren, zielorientierten Gedanken fähig war. Sie suchte Myrddhin, beziehungsweise seine Leiche. Sie wollte es trotz allem nicht glauben, dass es ihr gelungen war, den verhassten
Feind zu töten. Gwin wollte mit eigenen Augen sehen und trium phieren. Auch wenn sie böse und enttäuscht war, dass sie ihre Ra che nicht weiter auskosten konnte. Ihre übernatürlichen Sinne such ten die Stadt nach Gedanken ab, die eine Spur zu Myrddhins Auf bahrungsort wiesen. Dies war, trotz ihrer übermenschlichen Kräfte, keine einfache Aufgabe. Roanne im französischen Departement Loire, an der so genannten oberen Loire gelegen, besaß mehr als 60.000 Einwohner. Dass es un ter diesen Umständen nicht einfach sein würde, das Opfer ihrer Be gierde zu finden, dürfte verständlich sein. Sie hatte die Augen weit geöffnet und doch nahm sie nichts von ihrer Umwelt wahr, als sie, wie im Schlafwandlerzustand, das Areal der Kläranlage verließ. Erst als sie auf der Straße unter dem Licht ei ner Laterne stand, kam sie wieder zu sich. Sie brauchte einige Sekunden der Orientierung. Um diese Zeit und in diesem Gebiet herrschte nachts kaum Verkehr. Die Gefahr, von einem Auto überfahren zu werden, war äußerst gering. Eine dunkle Gestalt wankte auf sie zu, die sich als ein in einen schäbigen Mantel gekleideter Mann entpuppte. Ein zerknitterter Hut saß auf seinem Kopf, und augenscheinlich hatte er anständig gebechert, denn er benötigte den Gehsteig in voller Breite. Gwin blickte ihm neugierig entgegen. Straßenlampen waren ihr ebenso fremd wie Autos oder andere technische Errungenschaften. Und Menschen hatte sie zum letzten Mal vor tausenden von Jahren gesehen. Die damaligen Vertreter der humanoiden Rasse trugen Fel le und besaßen nur eine primitive Form der Zivilisation. Innerhalb weniger Sekunden befanden sie sich auf gleicher Höhe, hier der betrunkene Mann auf dem Gehweg, da die Frau aus der Hölle mitten auf der Straße. Aus kleinen, geröteten Augen sah er Gwin ungläubig an. »Das gips doch nich«, nuschelte er undeutlich. Dann grinste er und tor kelte auf sie zu. Mit einmetersiebzig war er einen halben Kopf klei ner als die Dämonin. Dumm grinsend betrachtete er ihren perfekten
schwarzen Körper. »Boah, das glaubt mir keiner«, sprach er zu sich selbst. Der Alko hol machte ihn mutig. Er streckte eine Hand aus, um sie auf Gwins Schulter zu legen. Etwa zehn Zentimeter, bevor er sie berühren konnte, verspürte er ihre Ausstrahlung. Von einer Sekunde auf die nächste war er nüchtern. Stocknüchtern! Aber das half ihm nichts. Während er seine Hand zurückzog, legte ihm Gwin ihrerseits blitzschnell ihre Linke auf die Stirn. Sie saugte damit seine Lebenskraft aus. Es geschah so schnell, dass der Mann keine weitere Gegenwehr leisten konnte. Seine Blicke brachen, und ohne einen weiteren Ton sackte er zusammen. In diesem Augenblick fuhr ein Auto über die ansonsten leere Stra ße. Gwin blickte das lärmende, stinkende Gefährt an. Der Fahrer be merkte, dass sich eine Gestalt auf seiner Fahrbahn befand. Den To ten auf dem Asphalt bemerkte er nicht. Er verringerte die Geschwin digkeit und versuchte, auf die andere Spur auszuweichen. Als der Golf Diesel nur noch zehn Meter von Gwin entfernt war, hob sie blitzschnell den Toten mit beiden Händen auf und warf ihn vor die Vorderreifen. Kein Mensch hätte diese Kraft besessen. Beim Versuch, auszuweichen, gelangte der Golf auf den gegen überliegenden Gehweg. An einem Baum endete der misslungene Bremsvorgang. Die Motorhaube wurde total eingedrückt und klemmte den Fahrer ein. Der Golf-Fahrer war auf der Stelle tot; er hatte einen Genickbruch erlitten. Er teilte das unglaubliche Schicksal des betrunkenen Fuß gängers, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Gwin blickte emotionslos auf die beiden Toten. Sterbliche hatten ihr noch nie etwas bedeutet. Sie besaß auch kein Unrechtsbewusst sein, wenn sie jemanden umbrachte. Es war einfach schon immer so gewesen, dass sich Höllenbewohner allen anderen Wesen überlegen
fühlten. Womit sie nahe Verwandte gewisser Menschen sein konnten. Sie entfernte sich einfach vom Unglücksort, ohne einen Gedanken an ihre zwei Morde zu verschwenden. In der Ferne hörte sie den Motor eines weiteren Autos aufheulen. Der Wagen näherte sich der Unfallstelle mit hohem Tempo. Auf Höhe der beiden Toten trat der Fahrer ruckartig auf die Bremse. Es gab ein helles Quietschgeräusch, bis der Wagen zum Stillstand kam. Er hinterließ Gummiabrieb auf dem Asphalt. Als der Fahrer die beiden Toten sah, versuchte er über Handy, so schnell wie möglich Hilfe herbeizuholen, aber es war zu spät. Gwin hingegen hatte einen Gedankenfetzen empfangen, der sich mit einem Mann namens Merlin Ambrosius beschäftigte. Diesen Na men nannte Zamorra, bevor sein gefährliches Amulett zugeschlagen hatte. Merlin Ambrosius? Ha! Für sie würde er immer und ewig Myrddhin Emrys bleiben … Sie las die Gedanken mehrerer Männer, die sich über einen Toten unterhielten, der transportiert werden sollte. Dann teleportierte sie zu dem Ort, an dem sich die drei Männer befanden. Sie hatte es ex tra so eingerichtet, dass sie mindestens zwanzig Meter entfernt ma terialisierte, um kein Aufsehen zu erregen. Um mehr zu erfahren und heimlich lauschen zu können, hatte sie sich vorher kraft ihrer Magie unsichtbar gemacht. Sie näherte sich den Männern und machte eine erschreckende Ent deckung. Trotz ihres Schutzes, mit dem sie sich vor den Augen der Menschen verbarg, schienen die ihre körperliche Nähe zu spüren. Allen dreien wurde es seltsam zumute, sie zogen die Köpfe ein und blickten sich um. Es handelte sich um einen Pförtner, einen Fahrer und dessen Bei fahrer. Gwin konnte mit all diesen Begriffen nichts anfangen, sie er schienen ihr zu abstrakt.
»Fällt euch nichts auf an ihm?«, fragte der Pförtner und kniff die Augen zusammen. Der Beifahrer stutzte, er stieß dem Fahrer in die Seite. »Schau dir mal das Gesicht und die Hände genauer an.« Der Fahrer blickte zuerst auf den Toten, dann auf seine Kollegen. »Der ist schon über 10 Stunden tot«, hauchte er fassungslos. »Da müsste er die ersten Leichenflecken schon bekommen.« »Und er ist auch noch nicht kalt«, behauptete der Pförtner. »Das ist keine normale Leichenstarre …« »Woher weißt du das?« »Greif ihn doch einmal an.« Der Fahrer blickte den Pförtner unsicher an, nach kurzem Zögern legte er dem Toten die Hand auf die Stirn. »Das gibt's doch nicht!«, stammelte er verblüfft. Von einer Sekunde auf die andere schien ein eisiger Hauch über ihnen zu liegen. Ein Hauch, der eine gewisse Beklemmung mit sich brachte. Keiner der drei hätte zu sagen vermocht, was es war, aber alle bekamen ein Gefühl der Angst. Sie froren innerlich und äußer lich. Der Pförtner schloss seine Jacke, und die beiden Leichentrans porteure beeilten sich, in ihren Wagen zu steigen. Dann brachten sie Merlin weg. Gwin stand nachdenklich vor dem Pförtnerhäuschen. Dieser Mann konnte nicht entfliehen, wie die beiden anderen. Aber auch ihnen nutzte es nichts, wenn die Dämonin sie fangen wollte. Mittels einer Teleportation hätte sie die Männer im Auto in Sekundenschnelle er reicht. Daran dachte sie jedoch nicht. Sie hatte genug erfahren und wollte erst einmal über ihre weiteren Schritte nachdenken.
Erinnerungen. »Wenn du gehst, wird für dich alles anders«, hatte LUZIFER gewarnt, und Asmodis hatte ihn gebeten, seinen Entschluss noch einmal reiflich zu überlegen. Aber es gab für ihn nichts mehr zu überlegen, auch wenn LUZI FER warnte: »Du wirst dann mein Feind sein, den die Hölle be kämpfen wird!« Da hatte Asmodis aufbegehrt. »Das verweigere ich dir, mein Kai ser!«, schrie er. »Nach wie vor ist Merlin mein Bruder, auch wenn er uns verlässt!« LUZIFER runzelte die Stirn. »Du wagst es …?« »Er ist einer von uns und wird es immer bleiben!«, protestierte As modis. »Sein Blut wird schwarz bleiben wie meines, und er wird …« »In tausend Jahren unterhalten wir uns noch einmal darüber«, un terbrach ihn der Höllenkaiser schroff. »Oder in zehntausend Jahren … oder vielleicht auch dann, wenn ich dich auf eine ganz besondere Mission schicken werde.« »Wovon sprichst du, LUZIFER?«, keuchte Asmodis. »Du wirst es wissen, wenn es an der Zeit ist, und bis dahin nicht wieder daran denken.« Seit jener Stunde ahnte Merlin, dass LUZIFER in der Lage war, in die Zukunft zu schauen. Und das ohne jedes Hilfsmittel. Denn durch die Flammenwand, hinter welcher der Kaiser sich verbarg, konnte Merlin nichts dergleichen feststellen. Dort war nur LUZIFER selbst. LUZIFER, der mächtige Kaiser, der nur ihnen beiden jemals eine solche Audienz wie diese gewährt hatte. Der nur Merlin die Ent scheidung über sein eigenes Schicksal überlassen hatte. Jedem anderen hätte er befohlen oder ihn zerstört.
Den Merlin nicht, den Myrddhin. Den Falken unter den Geiern. Asmodis und Merlin waren gegangen. Und ihre Wege trennten sich – nur um sich in all den ungezählten Jahrhunderten immer wieder zu kreuzen. Sie traten gegeneinander an, doch sie respektierten sich. Und als eines Tages Asmodis Merlins Burg betrat und um Asyl bat, gewähr te Merlin es ihm – und als Merlin eines Tages von der ›Zeitlosen‹ in einen Kokon gefrorener Zeit gesponnen wurde, übernahm Asmodis vorübergehend seine Aufgaben! Sie waren und sie blieben Brüder, so unterschiedlich sie längst ge worden sein mochten. Doch in jener Zeit, an welche Merlin sich jetzt erinnerte, war das noch ferne Zukunft. Gegangen war er, verlassen hatte er die Schwefelklüfte, hinter sich zurückgelassen die dunkle Seite der Macht, die so verlockend war, so leicht in ihrer Magie, so zerstörerisch, so fantastisch. Lange hatte er nachgedacht in den letzten tausend Jahren. Viel leicht war er schon immer anders gewesen als jeder andere Dämon, und er war sicher, dass auch in seinem dunklen Bruder ein winziges Samenkorn des Zweifels an den Dingen wuchs. Und … vielleicht sogar in LUZIFER selbst, denn warum sonst hät te der Uralte, der Erste und Einzige, der älter war als die Hölle und den es schon gegeben hatte, ehe die Schöpfung des Universums ge schah, ihn einfach so gehen lassen?
Pierre Robin und William traten einen Schritt zurück. Plötzlich stank es penetrant nach Schwefel. Und im Drudenfuß materialisierte der Ex-Fürst der Finsternis. Er krümmte sich zusammen und presste die Hände gegen die Schläfen. »Du bist eine Vollidiotin, Duval!«, fauchte er wütend. »Musste das
wirklich sein? Das hatten wir doch erst vor kurzem!« »Da du weder Zamorra noch mir leider bis heute deine Fax- oder Telefonnummer gegeben hast, blieb mir wenig anderes übrig.« »Aber ausgerechnet hier ins Château Montagne mit der M-Ab wehr!«, knurrte Asmodis. »Du weißt genau, dass mir das Probleme bereitet. Warte nur, ich tu dir auch mal so einen wundervollen Ge fallen …« »Lass dir damit ruhig Zeit«, konterte die Sekretärin des Parapsy chologen. »Das muss nicht sofort sein.« »Es wird dann geschehen, wenn du schon längst nicht mehr damit rechnest«, versicherte Asmodis. »Da kannst du unbesorgt sein. Also, was willst du?« »Es dreht sich um deinen Bruder Merlin«, antwortete Nicole, ohne auf seine Drohung einzugehen. »Und es geht um Zamorra …« »Merlin suche ich schon eine ganze Weile«, sagte Asmodis. »Doch er ist nirgendwo zu finden. Noch nicht einmal die Bildkugel im Saal des Wissens zeigt, wo er sich aufhält.« Nicole holte tief Atem. Wie sollte sie ihm nur erklären, dass sein Bruder tot und Zamorra Tatverdächtiger war? »Weißt du, wo er sich aufhält?«, fragte Asmodis. William und Ro bin dagegen beachtete er überhaupt nicht. Duval knetete die Finger vor Aufregung. Es fiel bei einem Men schen schon schwer, schonend beizubringen, dass ein naher Ange höriger gestorben war, doch Asmodis und Merlin ließen sich nicht mit menschlichen Maßstäben messen. »Er … er … Verdammt noch mal!«, schrie sie. »Ich kann's einfach nicht!« Asmodis fürchte die Stirn. Er wirkte verblüfft. »Was soll das wieder heißen?«, brummte er mit tiefer Stimme. Nicole blickte bittend zu William und Robin hinüber. Sie wusste nicht, wie sie beginnen sollte. Und einfach nur »tut mir leid, aber dein Bruder ist tot«, wollte sie auch nicht sagen. Trotz aller Feindschaft,
die sie und Asmodis pflegten. »Nun, Mademoiselle Duval meint, dass Ihr verehrter Herr Bruder verstorben ist«, half William ihr aus der Klemme. Kurz und knapp und trotzdem so geschraubt, wie man es von ihm gewohnt war. »Merlin ist was?« Der Ex-Teufel blickte ungläubig von einem zum anderen. »Ihr Bruder starb beim Regenbogenblumen-Transport zwischen Broceliande und Château Montagne«, erklärte der schottische Butler weiter. »Merlin tot?« Asmodis wirkte auf unnatürliche Weise ruhig und nach innen gekehrt. Jeder Mensch reagiert anders auf eine Katastro phennachricht, doch der ehemalige Fürst des Höllenthrons machte den Eindruck eines Vulkans, der kurz vor dem Ausbruch stand. »Das glaube ich nicht«, sagte er, seine Stimme vibrierte dabei. »Das hätte ich spüren müssen.« William und Robin erklärten dem erschütterten dunklen Bruder, wie es zu dem Unglück kam. Asmodis unterbrach sie mit keinem Wort, was mehr als ungewöhnlich war. Die Fragen stellte er erst später. »Und Zamorra gilt offiziell als Tatverdächtiger?« Er schüttelte den Kopf. »Ich glaube ja viel, aber das nicht. Wenn es gegen schwarzma gische Wesen geht, wie Dämonen oder Vampire, dann würde ich es glauben, aber bei Merlin?« »Wenn ich richtig informiert bin, haben Sie auch schon versucht, Ihren Bruder unter die Erde zu bringen«, warf Robin ein. Asmodis verzog verächtlich die Lippen. »Man soll doch nicht alles glauben, was man so hört«, sagte er in jovialem Tonfall. Ihm war nicht anzumerken, ob er um seinen Bruder trauerte, er benahm sich so wie immer. Robin kannte den ehemaligen Dämon zu wenig, um sagen zu können, ob diese Reaktion nach der ersten kurzen Erschütterung normal war, oder ob er sich nur mit aller Ge walt verstellte.
»Ach, dann haben mich Nicole und Zamorra also beschwindelt?« »Drücken wir es so aus: Es handelte sich um eine Ausnahmesitua tion, in der beide falsch reagierten.« »Aha!« Robin nickte, als habe er alles richtig verstanden. »Wir wollten beide dasselbe, aber Merlin wird in den letzten Jah ren immer seniler.« Es fiel dem Chefinspektor auf, dass Asmodis von seinem Bruder sprach, als lebte dieser noch. Hatte er etwa die gleichen Anwandlun gen? Litt er vielleicht unter Realitätsverdrängung? »Das stimmt«, bekräftigte Nicole Asmodis' Worte. »Seit zehn Jah ren hat er so katastrophal abgebaut, dass ich ihn teilweise nicht mehr wiedererkannte.« »Und das Beste dabei ist, dass er selbst das nicht bemerkte. Ich sprach ihn öfters auf sein Gehabe an, aber er meinte stets, dass im mer die anderen Unrecht haben. In letzter Zeit erkannte er mich oft nicht.« »Mir erging es ebenso«, bestätigte Nicole. »Als ich dich nach Caer mardhin brachte, damit er dich in die Regenerationskammer brin gen sollte, lehnte er das ab, nannte dich seinen Mörder und benann te mich mit den Namen Sara und Gwinniss.« »So, machte er das?« Asmodis' Augen wurden etwas größer, sonst zeigte er keine Reaktion. »Ja, das machte er. Mit Sara meinte er seine Tochter Sara Moon, aber wer, zur Hölle, ist Gwinniss?« Sie hoffte auf eine Erklärung, doch Asmodis spielte Auster und gab sich verschlossen. »He, Assi, ich habe dich etwas gefragt«, verlangte sie nach Ant wort, doch der Ex-Dämon reagierte noch nicht einmal auf die sonst von ihm so verhasste Verballhornung seines Namens. »Der ist doch geistig weggetreten«, stellte Pierre fest. »Kein Wunder, der Schock wird jetzt kommen, wo ihm der Tod seines Bruders offenbar wird.« William konnte auch jetzt nicht über
seinen Schatten springen, kein Zweiter konnte einfache Worte so ge stelzt wie er herausbringen. »Eine schöne Hilfe, die wir da geholt haben«, seufzte Robin. Nicole sagte nichts. Sie blickte Asmodis an, in der Hoffnung, dass er sein Schweigen brechen würde. Sie wusste nicht, dass der dunkle Bruder eine Vision hatte, ein Ge dankenbild, ausgelöst durch Robins Bemerkung, dass er Merlin vor einigen Monaten ermorden wollte. Er sah vor seinem inneren Auge noch einmal die Ereignisse von damals vorüberziehen, und seltsa merweise sah er sie von Merlins Warte aus.
– Der Zauberer von Avalon sah mit einem Mal zweigleisig. Was er nicht wusste, war, dass auch Asmodis dasselbe Erlebnis hatte: Einmal sah er sich im Keller eines Schlosses liegen. Zamorra und Nicole sahen ihn an, unfähig sich zu rühren. Sie sprachen stockend miteinander, aber Merlin konnte den Sinn ihrer Worte nicht erfassen. Er vernahm nur drei Worte: »Merlin ist tot!« Zum anderen sah er sich auf dem Wiesenboden liegen. Teri beugte sich über ihn und erkundigte sich, ob alles in Ordnung sei. Gryf und Zamorra zerrten Asmodis weg. An'dean war nicht mehr hier. Wo war der Gesichtslose? Und weshalb konnte Merlin denken, wenn er doch tot war? Sturm kam auf, nicht nur im Wald, sondern auch in ihren Gedan ken. Er löschte das Feuer in der Tonkansiedlung und fegte alle An wesenden zur Seite, so dass niemand in der Lage war, gegeneinan der zu kämpfen. Mit dem Sturm in ihren Gedanken verhielt es sich anders. Er rei nigte die Seelen von allen negativen Gefühlen, die die Anwesenden gegeneinander hegten. ›Hört auf! Es ist genug! Ich dulde nicht, dass hier nur ein weiteres We sen getötet wird!‹, rief ihnen Broceliande entgegen. ›Wer oder was
glaubt ihr, dass ihr seid? Götter oder gottähnliche Wesen? Nein, das seid ihr nicht! Haltet ein in eurem Tun, bevor ich noch mal eure Grenzen auf zeigen muss!‹ Die Magie des Zauberwaldes reagierte allergisch auf den Bruder kampf. Zusammen mit An'deans geistigen Überresten ging Broceli ande gegen die vor, die versuchten, den Garten zu entweihen. Auch gegen seinen Herrn und Meister! Und Merlin erwachte. –
So war das damals gewesen. Damit endete Merlins Vision, die in sei nem Bruder tobte. Asmodis hingegen verharrte regungslos, immer noch in seinen Gedanken gefangen. Selbst, nachdem sich das Gedankenbild seiner Erinnerung auflöste. »Er benötigt noch etwas Zeit«, meinte William. »Das kann schon sein. Ich an seiner Stelle hätte wohl einen Ner venzusammenbruch bekommen«, gestand Nicole. »Aber er ist ein Schwarzblütiger.« »Das stimmt auch wieder.« Nicole berührte ihn an der Schulter. Gleich darauf zuckte sie zurück, als sie ihn reden hörte. »Was ist los? Was willst du?« »Bist du wieder ansprechbar?«, erkundigte sie sich. »Was willst du?«, wiederholte er. Er gab keine Antwort auf ihre Frage. »Ich habe dich gefragt, wer Gwinniss ist.« Sie wusste nicht, ob sie über sein Verhalten erstaunt oder verärgert sein sollte. »Ah, Gwinniss.« Er holte tief Atem, als er diesen Namen aus sprach. »Genau, Gwinniss«, wiederholte Nicole nach einigen Sekunden, als ihr die Pause zu lange dauerte. Sie musste sich beherrschen, um ihm ihre Verärgerung nicht zu zeigen. Doch sie brauchte ihn wahr
scheinlich, wenn sie Zamorras Unschuld beweisen wollte. Wird das heute noch was, oder soll man dem die Würmer einzeln aus der Nase ziehen? »Aber das ist doch schon so lange her, dass sich niemand mehr daran erinnert.« »Wie lange?« Asmodis dachte kurz nach, dann antwortete er: »Über 5000 Jahre, vielleicht auch mehr als 10000. Ich weiß es nicht mehr genau, ich weiß nur noch, dass es damit zusammenhing, weil Merlin die Hölle verließ.« »So lange schon?« Nicole kniff ungläubig die Augen zusammen. Dabei hatte sie bei dem Ex-Teufel keinen Anlass, misstrauisch zu sein; er mochte hart und unnachgiebig sein und seine eigenen Wege verfolgen, aber bisher war er immer ehrlich zu ihnen gewesen. »Und weiter?« »Sie und Merlin waren immer zusammen, bis kurz vor seinem Verschwinden aus der Hölle. Nach der Konferenz mit LUZIFER, un serem Herrn, verabschiedete er sich von ihr.« »Und dann?« Als Antwort erhielt sie ein Schulterzucken. Warum nur habe ich den Eindruck, dass er mir noch nicht einmal ein Viertel gesagt hat? Verschweigt er mir etwas, weil er mich nicht belügen will? Oder steckt wirklich nichts weiter dahinter? Sehnte sich Merlin nach dieser Frau? Wie auch immer, sie wusste, dass sie vorerst nichts darüber in Er fahrung bringen würde. Und Zamorras Freilassung war ihr letzt endlich auch wichtiger. Vielleicht ritt sie sich durch diese äonenalte Geschichte nur in eine Sackgasse, die mit den Umständen um Mer lins Tod und Zamorras Festnahme nicht das Geringste zu tun hatte. »Aber ich glaube nicht, dass wir uns um so alte Kamellen Gedan ken machen müssen«, wischte Asmodis ihre Bedenken beiseite. »Konzentrieren wir uns auf die aktuelle Lage. Erstens, wir wollen
Zammy freibekommen …« Nicole verzog das Gesicht bei der Verniedlichung von Zamorras Namen. Aber sie beschwerte sich nicht deswegen. Schließlich be dachte sie den dunklen Bruder oft mit dem Kosenamen »Assi«. »Zweitens, wir müssen uns Merlin anschauen, und drittens, wir müssen diese ominöse schwarze Gestalt suchen, die den schwarzen Blitz in die Regenbogenblumen sandte.« »Wobei die Reihenfolge der Punkteabwicklung so sein dürfte, wie du sie runtergerasselt hast«, sagte sie. »Die Reihenfolge ist beliebig austauschbar«, knurrte Asmodis. »Hauptsache ist, dass wir den Mörder kriegen und Zamorra frei kommt.« »Das sehe ich auch so«, schloss sich Pierre Robin an. »Ich ebenso, wenn mir die Bemerkung erlaubt ist.« Das konnte nur William sein. Nicole knurrte: »Schau mich nicht so an, Assi. Ich bin ebenfalls deiner Meinung, aber dazu brauchen wir deine Hilfe.«
5. Ein freier Mann Sie saßen zu viert am großen Tisch des kleinen Speisezimmers von Château Montagne und hielten Kriegsrat. Pierre Robin stopfte um ständlich seine Pfeife und entzündete den Tabak. Er machte ein rich tiges Ritual daraus, das für die Anwesenden Ewigkeiten zu dauern schien. Beim ersten Zug an der Meerschaumpfeife flogen winzige Funken umher. Nicole Duval sog die mit Pfeifenqualm durchsetzte Luft ein. »Einen guten Tabak hast du, Pierre. Das muss dir der Neid lassen.« »Im reifen Alter entwickelt man so etwas wie Geschmack«, grinste er zurück, wurde aber gleich darauf wieder ernst. »Wir sollten uns über unser weiteres Vorgehen schnell einig werden. Ich weiß nicht, welche Trümpfe meine Kollegen im Ärmel stecken haben.« »Ob sie überhaupt Trümpfe besitzen?« Asmodis war skeptisch. »Das wissen wir nicht«, gab Nicole zu. »Aber selbst wenn, das können keine großen Dinge sein.« »Es gab keine Kampfspuren und auch sonst waren keine äußerli chen Einwirkungen zu erkennen«, warf Butler William ein. »Also haben sie praktisch so gut wie nichts gegen den Prof in der Hand«, schlussfolgerte Asmodis. »Das kann man so sagen«, bestätigte Nicole. »Und aus welchem Grund halten ihn die Hirnlosen dann noch fest?« »Sie sind noch auf der Suche nach dem Täter, und Zamorra ist ihr einziger Anhaltspunkt«, erklärte Robin die Vorgehensweise seiner Kollegen in diesem Departement.
»Oh LUZIFER, schmeiß Hirn aus der Hölle rauf«, stöhnte der ehe malige Fürst der Finsternis. »Aber bitte mindestens fünf Pfund.« »Nutzt nichts, Monsieur Amos«, sagte William, »das sind Beamte …« »He, was soll das?«, ereiferte sich Robin. »Ich bin auch Beamter …« Der Butler schaute konsterniert drein. »Entschuldigung, Monsieur. Anwesende sind selbstverständlich ausgeschlossen.« »Das wollte ich Ihnen auch geraten haben, William«, lachte der Chefinspektor. »Punkt eins war Zammys Freilassung«, erinnerte Asmodis an sei ne Aufzählung. »Und darum kümmern wir uns unverzüglich.« Nicole stand auf. »Wen willst du anrufen?«, wollte Robin wissen. »Unseren Anwalt, Jules Graton«, antwortete Nicole bereitwillig. »Um diese unheilige Uhrzeit?« Robin schüttelte sich vor Entsetzen, als er auf die Wanduhr blickte. »Wir sind doch auch wach«, behauptete Nicole. »Und da Graton von uns sehr gut bezahlt wird, kann er schon mal mit der Arbeit be ginnen.« »Du bist pervers«, behauptete Asmodis. »Stimmt auffällig«, pflichtete ihm Robin bei. »Am Samstagmorgen soll der Mensch ausschlafen, steht es geschrieben.« »Steht das in der Bibel? Diese Stelle kenne ich noch nicht«, wun derte sich William. »Nein, das steht in meinem Kalender«, antwortete Pierre grinsend. »Nach einer stressigen Woche ruhe ich mich gerne aus – falls ich einmal einen freien Samstag habe.« Nicole stellte sich einige Meter abseits, damit sie durch die ande ren nicht beim Telefonat gestört wurde. Nach kurzer Zeit hatte sie
den Anwalt an der Strippe. Er schien nicht sehr erfreut über die frü he Störung zu sein, doch Nicole verstand es schnell, ihn friedlich zu stimmen. Schon nach wenigen Minuten deaktivierte sie das Visofon und ge sellte sich zu den Gefährten am Tisch. Alle drei sahen sie erwar tungsvoll an. »Hast du etwas erreicht?«, erkundigte sich Pierre Robin bei ihr. »Und ob«, lächelte sie ihn an. »Graton kümmert sich darum, dass Zamorra auf Kaution freigelassen wird.« »Hoffen wir, dass es klappt.« William schaute skeptisch drein. »Ich hoffe es auch.« Nicole sah nicht sehr überzeugt aus. »Aber in der Zwischenzeit könnten wir uns um Punkt zwei auf dem Plan kümmern …« »Die dunkle Gestalt?« Robin zog fragend die Augenbrauen hoch. »Nein, wir sehen uns die Leiche meines Bruders an«, antwortete Asmodis. »Ich habe ein wenig mittels Magie geschnüffelt und her ausgefunden, dass er auf dem Weg zur Pathologie ist.«
Irgendwo, außerhalb des Lebens Warum tut ihr mir das an?, schrien die Gedanken des Wesens. Was habe ich euch getan, dass ihr mich so straft? Es fürchtete nicht mehr um sein Leben. Im Vergleich zu seinem armseligen Dasein wäre ihm der Tod wie eine Erlösung erschienen. Die Zeit, die es hier verbringen musste, schien nach Jahrmillionen zu zählen. Längst schon hatte der Hass nachgelassen, auch die Resigna tion wandelte sich um in flehentliches Bitten. Es erinnerte sich an eine frühe Episode seines Lebens. An einen in stabilen Ort, der von seltsamen Wesen bewohnt wurde, die ähnlich
waren wie es. Dort mussten Seelen in ewigem Feuer brennen. Doch wie wurde dieser Ort wieder genannt? Die Hölle! Genau, das war es: Hölle nannte man diesen unwirtlichen Ort. Und ich stamme von dort?, fragten seine Gedanken ungläubig. Genau!, schien eine Stimme in seinem Geist zu sagen. Dort musst du wieder hin. Es hatte weder Erinnerung an diese Zeit noch an sonstige Bege benheiten. Es wusste auch nicht, ob die Stimme nur eingebildet oder real war. Wer bist du?, wollte es wissen. Erregung hatte es gepackt, sekun denlang drohte Panik, es zu überwältigen. War das der ersehnte Kontakt? Doch es erhielt keine Antwort. Es rief nach dem vermeintlichen Sprecher, flehte ihn an, beschwor ihn, es in seiner unerträglichen Not nicht allein zu lassen. Wenn je eine Seele imstande war zu zittern, so zu diesem Zeit punkt, an einem Ort außerhalb des Lebens. Der Geist des Wesens vi brierte richtiggehend. Es besaß keinen Mund und doch versuchte es, seine Pein hinaus zuschreien. Doch das Einzige, was es bemerkte, schienen die Echos seiner Schreie zu sein. Die Hölle! – Stamme ich von dort? – Dort muss ich wieder hin. – So helft mir doch! – Quält mich nicht so!, echoten seine Gedanken unauf hörlich. Doch es verhielt sich nicht so wie bei einem akustischen Echo, dass der Ton verhallte und leiser wurde. Die geistigen Echos wurden ständig lauter, sie vermischten sich, bis sie einen einzigen, unerträg lichen Schrei bildeten. NEIN! Das könnt ihr mir nicht antun! Und in seinem Zustand besaß es keine Hände, mit denen es sich
die nichtvorhandenen Ohren hätte zuhalten können.
Der Mann in der Zelle verzog angewidert das Gesicht, dann spie er den Kaffee wieder aus. Das Gebräu schwappte über die Tasse und benässte den Boden des Tabletts. »Ich hätte nicht gedacht, dass die französische Polizei so gut ist«, knurrte er als Anspielung auf ein Asterix-Abenteuer und besah sich den Inhalt der Tasse. »Da kann man ja bis auf den Boden sehen«, beschwerte er sich. »Da hat wieder ein Meister vor dem Herrn eine altersschwache Kaf feebohne in einen Liter heißes Wasser gehalten.« Zamorra schüttelte den Kopf. Mit der Verpflegung war er absolut nicht zufrieden. »Von wegen Leben wie Gott in Frankreich. Wenigstens ließen sie mich schlafen«, sagte er gottergeben. »Man sollte auch für solch pro fane Dinge dankbar sein.« Schließlich hätten sie mich auch die ganze Nacht verhören können. Aber da sie auf der einen Seite keine Anhaltspunkte haben, und auf der anderen Seite Mangel an Mitarbeitern, ist der Kelch vorerst an mir vorbeigegan gen. So dankbar Zamorra war, dass er diese Nacht über seine Ruhe hat te – mit Ausnahme von Gwins Besuch –, so unannehmbar war es für ihn, dass bisher nur ein Verhör am vorhergehenden Abend stattge funden hatte. Und dieses Verhör hatte Kommissar Charbon schon nach weniger als drei Stunden beendet. Zamorra wusste bis jetzt nicht, was beim Transport mittels der Re genbogenblumen von Broceliande nach Château Montagne gesche hen war. Er konnte sich noch daran erinnern, dass er mit Merlin ein Streit gespräch führte. Er wusste auch noch, dass sie gemeinsam zwischen die mannshohen Blütenkelche traten, aber dann verließ ihn sein Ge dächtnis.
»Da war noch etwas«, erinnerte er sich. »Ein schwarzer Blitz oder etwas in der Art.« Er verzog das Gesicht und fuhr sich mit beiden Händen über die Augen. Aber das kann es doch nicht geben! Ein schwarzer Blitz? An diesem Punkt seiner Überlegung geriet er stets ins Stocken. Er wusste auch nicht, was dann geschehen war. Seine nächste Erinne rung war, wie er am Boden lag, sich nach Merlin umblickte und den Zauberer dann tot vor sich liegen sah. Ermordet von mir? Könnte es so gewesen sein, wie mir Charbon und Dent einreden wollten? Und wie soll ich meine Unschuld beweisen kön nen? Er biß sich auf die Unterlippe. Das war der springende Punkt da bei. Er wusste nicht einmal, ob er Schuld auf sich geladen hatte. Bin ich überhaupt unschuldig? Seine Gedanken vollführten eine Endlosschleife. Es nagte an ihm, dass er keine Erinnerung an die Ge schehnisse besaß. Schuldig oder unschuldig? Verdammt noch mal, ich weiß es nicht! Er griff mit einer Hand an die Brust. Unter dem geschlossenen Hemd hing Merlins Stern. Zamorra konnte nicht sagen, dass ihn das Vorhandensein des Amuletts beruhigte. Gut, in der Nacht, als ihn Gwin, die dunkle Frau, besuchte, wäre er ohne Merlins Stern verloren gewesen. Aber ansonsten musste er ständig aufpassen, dass niemandem auffiel, dass er das Amulett noch trug. Und ständig Polizisten deswegen hypnotisieren und ihnen einreden, dass er den Stern bei seiner Ver haftung abgegeben hatte und ihn logischerweise nicht mehr besaß, wollte Zamorra auch nicht. Er wusste nicht, dass Nicole Duval den siebten Stern von Myrrianey-Llyrana bei ihrem Besuch in Broceliande dabeihatte. Schlimmer noch, er wusste überhaupt nicht, was seine Gefährten trieben. Ein mentales Raunen erreichte ihn. Er hatte Mühe, die Worte zu
verstehen. ›So helft mir doch!‹ Im ersten Augenblick dachte er, dass er sich verhört hatte. Dann wurde ihm klar, dass sich nur ein Wesen in höchster Not so aus drückte. Kurz darauf erreichte ihn ein weiterer geistiger Hilferuf. ›Quält mich nicht so!‹ Er war tief getroffen, besonders, als er den nächsten telepathischen Schrei vernahm: ›NEIN! Das könnt ihr mir nicht antun!‹ Konnte eine Klage qualvoller sein? Zum Schluss erreichte ihn ein Ruf, der ihn in seinem Innersten erschütterte: ›Verdammt! Ihr könnt mich doch nicht hier verrecken lassen!‹ Damit hörten die mentalen Botschaften so schnell auf, wie sie an gefangen hatten. An den schlecht schmeckenden Kaffee verschwen dete Zamorra keinen Gedanken mehr. »Wer kann das bloß gewesen sein?« Und aus welchem Grund hatte er das Gedankenraunen überhaupt empfangen? Wäre er ein richtiger Telepath gewesen, dann hätte er sich vermutlich kaum Sorgen gemacht, aber mit seinen eher rudi mentären Fähigkeiten in dieser Richtung … War das Zufall? Konnte es einen solchen Zufall geben? Steckte ein Plan dahinter? Oder sollte er durch stete Wiederholungen mürbe gemacht wer den? Aus welchem Grund auch immer? Basierte alles auf einem gut durchdachten Plan? Der schwarze Blitz? Merlins Tod? Gwins Erscheinen und schlussendlich die Ge dankenklagen? Selbst wenn dem nicht so war, Zamorra ging diese Idee nicht mehr aus dem Kopf. Er stand auf und lief nervös im Kreis hin und her, bis der nächste Polizeibeamte kam und die Frühstücksreste wieder mit
nahm.
Eine unbekleidete Frau mit blauschwarzer Hautfarbe und hüftlan gen wallenden Haaren saß auf einem Hügel außerhalb von Roanne. Bei klarem Wetter hatte man von hier oben einen wunderbaren Blick über die Loire. Aber heute nicht. Die Sonne stand schon seit über ei ner Stunde am Himmel und hatte es noch nicht geschafft, sich gegen den Morgennebel durchzusetzen. Es war empfindlich kalt, eine Sel tenheit in Südfrankreich Ende April, aber der nackten Schönheit schien das nichts auszumachen. Sie hätte den Nebel nicht gebraucht, um sich vor den Blicken Neu gieriger zu verstecken. Kraft ihrer Magie schaffte sie es, dass sie von anderen Lebewesen nicht wahrgenommen wurde. Aber aus welchem Grund konnten mich die drei Männer spüren, so wie vorher dieser Zamorra?, überlegte Gwin, ohne auf eine Lösung zu kommen. Hat sich meine Magie im Lauf der vielen Jahre, die ich außer halb der Zeit verbringen musste, so verändert? Das war früher doch anders … Sie entschied, vorerst nicht weiter darüber nachzugrübeln. Sie konnte nicht ändern, dass sie eine gewisse Aura um sich her um verbreitete, deshalb beschloss sie, sich fern von Menschenan sammlungen zu halten. Nicht aus Angst, denn kein Mensch hätte gegen sie bestehen kön nen – Zamorra hatte nur Glück, dass er diese gefährliche Silberschei be besaß. Aber sie wollte sich – auch aus alter Gewohnheit – erst dann zu erkennen geben, wenn ein Opfer keinen Ausweg mehr be saß. Der Schrecken war umso größer, was ihr Vergnügen steigerte. Zurzeit hatte sie niemand, den sie als Opfer bezeichnete. Nach Merlins Tod erschien ihr ein weiteres Vorgehen als sinnlos. Nur ihn wollte sie treffen und nun, da sie ihr Ziel weit vor der Zeit erreicht hatte, breitete sich eine unbekannte Leere in ihr aus. Norma
lerweise hätte sie nach vollbrachter Rache wieder in die sieben Krei se der Hölle zurückkehren können. Sie konnte selbst nicht erklären, aus welchem Grund sie noch auf der Erde verweilte. Bestimmt nicht, weil es ihr hier so gut gefiel. Die vielen Flugzeuge und Autos vor allen Dingen beunruhigten sie. Sie konnte und wollte sich nicht mit solch abstrakten, stinkenden Vehi keln herumschlagen. »Warum gehe ich dann nicht?« Auch diese Frage konnte sie sich nicht beantworten. Vielleicht, weil ich die Hoffnung habe, dass noch etwas von ihm lebt? Dass er nicht wirklich gestorben ist? Oder weil ich mir wünsche, dass es seine Seele ins Höllenfeuer verschlägt? Gwin stand auf, sie drehte sich einmal herum und blickte dabei durch den Nebel. Ihren Augen blieb nichts verborgen, sie sah weit mehr, als es ein Mensch je vermocht hätte. Und trotzdem fühlte sie sich auf eine nicht zu definierende Weise blind. Schluss mit diesem verfluchten Selbstmitleid!, rief sie sich zur Ord nung. So konnten sich vielleicht diese minderwertigen Menschen verhalten, aber sie doch nicht! Sie setzte ihre telepathischen Fähigkeiten ein und lauschte auf die beiden Männer, die den Wagen mit Merlins Leiche zur Pathologie fuhren. Was verwendeten diese Menschen doch für eigenartige Wörter! Pathologie? Was sollte das bloß wieder sein? Überhaupt, wie negativ hatten sich diese Wesen in den vergange nen Jahrtausenden entwickelt? Sie waren stolz auf etwas, das sie Kultur nannten, und doch unter schieden sie sich nach Gwins Ansicht nicht sehr von ihren Urahnen. Der Unterschied zu früher bestand darin, dass sie versucht hatten, sich die Erde untertan zu machen und allen anderen Lebewesen ih ren Willen aufzudrängen.
Damals lebten sie noch in Einklang mit der Natur und beteten die Götter an. Und sie machten diesen Göttern Menschenopfer, etwas, das sie sehr schätzte. Heute hießen ihre Götter Geld und Drogen. Doch wo waren heute die Menschen, die den Göttern und Dämonen geopfert wurden? Sie hatten sich nur in eine abstoßende Richtung gewandt und waren es höchstens wert, im Seelenfeuer zu landen. Sie sind noch nicht einmal verachtenswert! Gwin lief auf und ab, wie ein nervöser Mensch. Sie bemerkte nicht, dass sie, als Höllenkreatur, teilweise in moralischen Bahnen dachte. Vielleicht kennzeichnete das am ehesten ihren verwirrten Zustand. ›So helft mir doch!‹ Gwin zuckte zusammen und blickte sich um. Was war das gewe sen? Hatte jemand etwas gesagt? Sie konnte niemand weit und breit erkennen. Sie war auch nicht si cher, ob sie die Worte gehört oder als Telepathiesendung empfan gen hatte. Dazu war sie zu sehr in Gedanken versunken gewesen. Aber war es nicht egal, ob sie die Worte gehört oder mental emp fangen hatte? Der eine Satz klang, als wäre er echomäßig verstärkt worden. Irgendwie … unnormal. ›Quält mich nicht so!‹ Das war ohne Zweifel ein telepathischer Schrei! Sie wurde unru hig, denn sie glaubte, die Telepathiestimme zu kennen. Das war er doch nicht etwa? Das konnte doch nicht sein! ›NEIN! Das könnt ihr mir nicht antun!‹ Vor Enttäuschung biss sie sich auf die Lippen. Nein, das war er doch nicht; betteln würde er nie, und wenn es ihm noch so schlecht ginge. Eher würde er sterben! Aber wer kann das sein, wenn er es nicht ist? Die telepathischen Rufe wurden immer lauter. Es schien ihr, als würden sie wie ein Echo zurückgeworfen. Es verhielt sich jedoch an
ders als bei einem akustischen Echo, dass der Ton verhallte und lei ser wurde. Die geistigen Echos wurden ständig lauter, sie vermisch ten sich, bis sie einen einzigen, unerträglichen Schrei bildeten. ›Verdammt! Ihr könnt mich doch nicht hier verrecken lassen!‹ Gwin musste sich mit Gewalt gegen das Gewinsel wehren. Es ge lang ihr auch ziemlich schnell, und mit einem Schlag war der Spuk vorbei. »Wer ist imstande, so etwas zu machen?« Sie war ratlos. Nicht nur, weil ihr der Absender unbekannt war, sondern weil sie nicht anpei len konnte, wo sich der Rufer befand. Und das zumindest war ungewöhnlich. Unter normalen Umstän den konnte sie genau bestimmen, wessen Gedanken sie auffing und wo sich diese Person aufhielt. Sie versuchte, sich abzulenken. Es ergab keinen Sinn, nach dem unbekannten Rufer zu suchen, sie hatte keinen Vorteil davon. Und aus reiner Menschenfreundlichkeit würde sie nie einem anderen Wesen helfen.
Ein schwarzer Mercedes-Benz SL 600 parkte vor dem Haus von Staatsanwalt Lemonde. Ein untersetzter Mann mit dunklen, gewell ten, zurückgekämmten Haaren und einem Menjoubärtchen stieg aus und ging auf die Eingangstür des Bungalows zu. In einer Hand hielt er einen grauen Koffer, die andere streckte er aus, um die Klingel zu drücken. Er blickte lächelnd zurück auf das Auto. Es war sein ganzer Stolz, und wer es sah, wusste, dass Jules Gratons Geschäfte glänzend liefen, denn der Wagen aus Stuttgart war eher für die gehobeneren Geldbeutel gedacht. Der zweisitzige Roadster mit 306 PS und 12 Zylindern erreichte über 250 km/h Spit zengeschwindigkeit. Zum Ausfahren des Wagens musste er auf bundesdeutsche Autobahnen ausweichen, dort war schließlich fast jede Geschwindigkeit erlaubt. In Frankreich nicht.
Außerdem kommt mein 600er von dort. Da kann er wenigstens Heimat luft schnuppern. Graton verbiss sich ein Grinsen. Er hatte seinen beamteten Kolle gen vor einer knappen halben Stunde angerufen und sich einen Rüf fel geholt. Nun wollte er ihn nicht durch übertriebene Fröhlichkeit verärgern. »Weißt du überhaupt, wie früh es ist?«, hatte Lemonde gebrüllt. »Um diese unheilige Uhrzeit liegt ein anständiger Franzose noch im Bett!« »Oder schon wieder«, antwortete Graton lakonisch. Danach hatte er nur noch einen Knall gehört. Lemonde hatte das Telefon auf die Gabel geworfen. Mal sehen, ob er sich beruhigt hat, dachte Graton. Was muss Mademoi selle Duval auch jetzt schon nachfragen, ob ihr Freund entlassen werden kann. Der sitzt doch erst einen knappen Dreivierteltag hinter Gittern … Als er das zweite Mal klingeln wollte, meldete sich die Haus sprechanlage: »Ja, wer ist's?« Graton holte tief Atem. Man konnte nicht behaupten, dass Lemon de besonders erfreut klang. Mürrisch ist noch untertrieben. Aber was soll's, da muss ich durch. Zur eigenen Aufmunterung warf er einen letzten Blick auf den Mercedes. Ein solches Gefährt ist jede Anstrengung wert. Er musste jetzt doch grinsen, als er bemerkte, dass er gereimt hatte. »Grüß dich, Alphonse«, sagte er betont ruhig. »Ich bin's, Jules.« »Aaargh, das gibt's doch nicht«, stöhnte der Staatsanwalt. »Hast du dich doch hierher getraut, obwohl ich es dir verboten habe.« Es klang in Gratons Ohren mehr wie eine Feststellung als eine Fra ge. Aus diesem Grund antwortete er mit einem schlichten »Ja!« Daraufhin hörte er ein protestierendes Grunzen und Knurren, das er nicht verstehen konnte. Dann verstummte die Sprechanlage.
»Na, es wird auch nichts Wichtiges sein, und beschimpfen kann ich mich selbst«, murmelte er. Die Haustür öffnete sich im Zeitlupentempo. Staatsanwalt Lemon de stand in persona auf der Haustürschwelle und blickte seinen Kol legen anklagend an. »Du hast sie doch nicht mehr alle, alter Knabe«, zischte er. »Du weißt genau, dass ich Freitagabend Herrenabend habe.« »Mit vielen Damen, ich weiß«, zeigte sich Graton gut informiert. Er deutete auf Lemonde. »Ist das die neue Anwaltsmode?« Lemonde blickte an sich herunter. Er hatte sich einen beigebraun gestreiften Bademantel angezogen, als Graton zum ersten Mal klin gelte. Barfüßig stand er in der Tür und winkte seinen Kollegen ins Haus herein. Graton glaubte, etwas wie »Vollidiot« gehört zu haben, doch er entschloss sich, die Beleidigung zu überhören. Er selbst hätte nicht viel anders reagiert als Lemonde, wenn der um diese nachtschlafen de Zeit zu ihm gekommen wäre. »An einem normalen Samstag vor halbelf aufzustehen grenzt an Körperverletzung«, dozierte Lemonde. Graton blieb ruhig. Was soll te er darauf antworten? Er teilte ja die Meinung seines pensionsbe rechtigten Kollegen. In der Küche angekommen, bot Lemonde ihm Platz an. »Sei nicht so laut, meine Frau schläft noch«, bat er, als er ein Glas Wasser und eine Tablette schluckte. Aspirin!, erkannte Graton mit Fachkennerblick. Auch er war öfters auf dieses Wunder der Medizin angewiesen. Er war auf den ersten Blick ersichtlich als Genießer zu erkennen, und was wollte man ma chen, wenn der Rotwein und der Cognac so gut schmeckten? Lemonde kratzte sich mit beiden Händen die Schläfen entlang zum Hinterkopf. Da er nur noch einen Haarkranz sein Eigen nannte, wurden die wenigen noch verbliebenen Haare dabei nach oben ge legt, was ihm ein lustiges Aussehen verlieh.
Nur konnte er zur Zeit nicht über solche Dinge lachen. »Also, machen wir's kurz«, bat Lemonde. Er blickte Graton auffor dernd an. »Ich will nämlich gleich wieder zurück ins Bett.« Er holte tief Luft, dann sagte er: »Dein Mandant befindet sich gera de etwas mehr als einen halben Tag vorläufig hinter Gittern.« Er hob die Hand, als Graton unterbrechen wollte. »Du kannst gleich deinen Sermon vortragen, Jules. Also, dein Mandant will raus, was ich auch verstehen kann.« »Abgesehen davon, dass ihr kaum etwas gegen ihn vorbringen könnt«, gab Jules zu bedenken. Lemonde krauste die Nase, da hatte Graton den Finger in eine of fene Wunde gelegt. »In Ordnung, Alter, aber könnt ihr nicht noch ein paar Stunden warten? Du weißt, dass Richterin Regnier erst nach zehn Uhr sprechbereit ist, und wer weiß, ob ihr nachher noch eine Kaution löhnen müsst …« Graton zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Alphonse, meine Auftraggeberin …« »… scheint etwas hysterisch zu sein«, unterbrach Lemonde. »Ich bin dagegen!« Graton betrachtete seine Fingernägel. Mit dem kleinen rechten Fin ger versuchte er, nichtvorhandenen Dreck unter den Fingern der lin ken Hand zu entfernen. Dann sah er Lemonde in die Augen. »Und was ist mit dem Amulett?«, fragte er wie beiläufig im un schuldigsten Tonfall. »Welches Amulett?« Lemonde blickte verwirrt drein. Besaß Gra ton Erkenntnisse, die dem Staatsanwalt noch nicht bekannt waren? Er konnte nicht wissen, dass sein besser verdienender Kollege gera de von einer Unterredung mit Zamorra kam. Dann hatte er ein Tele fonat mit Nicole Duval geführt und anschließend seinen Besuch bei Lemonde angekündigt. »Ein Erbstück von Professor Zamorra«, erklärte Jules. »Er musste
es gestern bei seiner Einweisung in die U-Haft abgeben, und jetzt ist es verschwunden …« Alphonse Lemonde saß starr da. Er schien seine Kopfschmerzen vergessen zu haben. »Das ist …«, stotterte er. »Nicht, dass ich jemandem etwas unterstellen möchte, Alphonse.« Graton faltete die Hände, es sah aus, als wolle er beten. »Ich weiß, Jules.« Lemonde zog eine Grimasse und hätte sich am liebsten dafür in den Hintern gebissen, dass er seinen Kollegen her eingelassen hatte.
»Hier stinkt es!« »Etwas leiser!« »Aber wenn es doch stinkt!« »Psst! Du machst noch jemand auf uns aufmerksam.« »Wen denn?« Asmodis streckte beide Hände zur Seite. »Hier ist doch niemand.« Nicole Duval schüttelte den Kopf. Asmodis hatte sie mit der ihm eigenen Methode des Teleports hergebracht. Dabei drehte er sich mehrmals blitzschnell um die eigene Achse und hinterließ beißen den Schwefelgeruch. Merkwürdigerweise fehlte der Schwefelgeruch bei diesem Tele port vollständig. Hatte der Ex-Teufel dazugelernt oder konnte er sich schon immer ohne Gestank versetzen und hatte sie immer nur damit geärgert? Sie blickte sich um. Sie waren in einem Aufenthaltsraum materiali siert, in dem sich niemand außer Asmodis und ihr befand. Ihr Rundumblick endete bei dem ehemaligen Fürsten der Finster nis. »Schau mich nicht so vorwurfsvoll an«, knurrte Merlins Bruder.
»Ich habe selbstverständlich vorher auskundschaftet, ob jemand da ist. Ich weiß, was ich tue …« »Das sagt Sledge Hammer auch immer«, murmelte sie. »Und der hat seine Pistole Suzie genannt«, grinste Asmodis. »Genau.« »Und wir haben mich.« Nicole holte tief Luft. »Oh, ich vergaß, dass wir ja dich als Allzweckwaffe dabeihaben.« »Du klingst wieder so schnippisch und aggressiv«, warf er ihr vor. Sie winkte ab. Sie wollte sich nicht mit Asmodis streiten, sie hatten beide Wichtigeres vor. »Vergiss es«, sagte sie müde. »Ich bin nur etwas durch den Wind …« »Das ändert aber nichts daran, dass es hier stinkt«, beschwerte er sich wieder, ohne weiter auf ihre Entschuldigung einzugehen. Nicole hob den Kopf und sog die abgestandene Luft ein. Assi hat recht, es stinkt wirklich, als wäre die ganze Woche noch nicht gelüftet wor den. Es handelte sich bei dem Gestank um eine Mischung aus kaltem Zigarettenrauch, undefinierbaren Essensresten und den für diese Abteilung typischen Eigengeruch. Obwohl es ihr in den Fingern zuckte, die Fenster zu öffnen, unter drückte sie diese Regung. Niemand sollte von ihrem Hiersein erfah ren. »Dann wollen wir mal«, flüsterte sie und bedeutete Asmodis mit einer Handbewegung, ihr zu folgen. »Pass auf! Weiter vorne ist jemand«, warnte er. Sie furchte die Stirn. Das hatte ihnen gerade noch gefehlt. »Ich denke, du hast alles vorher auskundschaftet«, zischte sie. »Alles habe ich nicht gesagt«, antwortete Asmodis ebenso leise und bösartig. »Aber wir müssen vorsichtig sein. Draußen auf dem Gang läuft jemand.«
»Da müssen wir uns etwas einfallen lassen.« »Ich bin schon dabei.« Er erhob beide Hände und wob einen Zauber. Dazu murmelte er einen magischen Spruch. Nicole verstand seine Worte nicht, aber ihr blieb nichts anderes übrig, als ihm zu vertrauen. Was ihr schwer genug fiel. Solange sie und Asmodis sich kannten, standen sie sich stets feind lich gegenüber. Jeder unterstellte dem anderen immer das Schlimmste, auf einen gemeinsamen Nenner kamen sie fast nie. Dass sie dem ehemaligen Höllenbewohner vertrauen musste, war schon schlimm genug für sie. Doch hatte sich das etwas geändert, seit sie vor einigen Monaten gegen Stygia und Rico Calderone vor gehen mussten. Nachdem Calderone Asmodis lebensgefährlich ver letzte, war es ausgerechnet Nicole Duval gewesen, seine schlimmste Kritikerin, die ihn rettete, indem sie ihn mit zu Merlin nahm und den Alten zwang, seinen Bruder in die Regenerationskammer zu bringen. Damals war der Zauberer so durcheinander gewesen, dass er sie erst nicht erkannte und sich anfangs weigerte, Asmodis in die Rege nerationskammer zu bringen. Seine Ausrede war gewesen, dass sein Bruder sein Mörder wäre. Gut, Asmodis hatte Merlin zu Sylvester 2002 fast ermordet, aber auch nur fast. Der König der Druiden hatte zu diesem Zeitpunkt noch gelebt, also war diese Aussage als Lüge zu betrachten. Oder sollte Assi mit der schwarzen Gestalt identisch sein? Nicole Duval zuckte zusammen. Der spontane Gedanke, dass sie von ihm gelinkt wurde, ließ sich nicht einfach beiseite schieben. Doch dann sagte sie sich, dass er es nicht nötig hatte, heimlich mit ihr durch die Pathologieabteilung zu streunen. »Bleibe nah bei mir«, flüsterte Asmodis. »Das hättest du wohl gerne, du alter Teufel«, antwortete sie. »Idiotin!« Er schüttelte den Kopf. »Ich habe meine Gründe dafür.«
Er öffnete die Tür, blickte einmal rechts, dann links den Gang ent lang und huschte hinaus. Es handelte sich um einen dieser sterilen, unpersönlichen Gänge, wie sie in fast jedem Krankenhaus oder öf fentlichen Gebäude der Welt zu finden sind. Entgegen ihren Worten folgte ihm Duval so nah wie möglich. Sie folgten den Schrifttafeln, bis sie an eine verschlossene Tür ka men. »Merlins Leichnam befindet sich hinter der Tür«, sagte Asmodis. Er ließ sich keine Regung anmerken. Kann er das überhaupt?, fragte sich Nicole. Hat er so was wie Gefühle für andere Personen? Das einzige Wesen, das Asmodis liebte – und das wusste sie todsi cher –, war sein Sohn Robert Tendyke. Doch ausgerechnet der woll te mit seinem Erzeuger, wie er ihn stets nannte, nichts zu tun haben. »Bleib weiter nahe hinter mir und sei so leise wie möglich«, befahl der Ex-Dämon. »Ich habe einen Zauber gewoben, dass wir nicht ge hört oder gesehen werden, und das wirkt auch immer. Aber es ist nicht nötig, dass wir die Leute hier mit Gewalt auf uns aufmerksam machen.« »Okay, Boss.« Nicole hatte vor, sich kooperativ zu verhalten. Doch die Gedanken waren frei. Du brauchst mich nicht wie ein Kind zu be handeln. Das ist schließlich nicht mein erster Einsatz. Asmodis lauschte einige Sekunden, dann öffnete er die Tür. Sie be eilten sich, in den angrenzenden großen Saal zu gelangen. Dort be fanden sich die gekühlten Toten, jeder in einer Art übergroßer Schublade. Von außen fiel kein Licht herein, eine Menge Lampen erhellten den Raum. Nicole schauderte, als sie die Schrankwand betrachtete, hinter der eine unbekannte Menge Toter lagen. Bei jedem der Leichname be stand der Verdacht, dass er nicht auf natürliche Weise vom Leben zum Tode gelangt war. Jeder war ein potenzieller Mordfall.
Asmodis ging die riesige Wand entlang. An einem der Fächer blieb er stehen. »Da drinnen ist er«, sagte er. Nicole konnte keinen Namen erken nen, der darauf hingewiesen hätte, wer sich dahinter befand. Doch sie wusste, dass Asmodis ihr gegenüber weit überlegene Sinne be saß. »Vorsicht!« Er zog sie am Arm einen Schritt zurück. Nicole blickte ihn erst grimmig an, dann bemerkte sie, dass ein Mann mittleren Al ters an ihnen vorbeiging. Er trug einen Kittel, seine halblangen Haa re waren zurückgekämmt. Es mochte sein, dass er sie durch den Zauber nicht sah, aber er konnte immer noch gegen sie stoßen oder im schlimmsten Fall über sie stolpern. Dann wäre ein Alarm fällig gewesen. Aus gutem Grund wollte sie das vermeiden. Der Mann entfernte sich, seine Schritte verhallten. Das Licht wur de auf halbe Stärke heruntergedimmt. Schließlich fiel die Tür, durch die sie hereingekommen waren, ins Schloss. Außer ihnen befand sich niemand mehr im Raum. Nicole atmete auf. Sie blickte Asmodis auffordernd an. Der zuckte mit den Schultern und öffnete die Schublade, in der Merlin lag. Kalter Nebel umhauchte sie, als der alte Zauberer vor ihnen lag. Asmodis schloss die Augen und ließ seine Hände etwa zehn Zenti meter über Merlins sterbliche Überreste gleiten. »Was ist?«, wollte Nicole wissen, die genau bemerkte, wie der ExTeufel zusammenzuckte. »Sein Geist oder seine Seele, nenne es, wie du willst, hat ihn ver lassen«, murmelte er. Dabei biss er sich auf die Unterlippe. »Und sonst?« »Es ist unglaublich, aber so etwas dürfte es überhaupt nicht geben«, krächzte er. »Was?« »Sein Körper ist wie von einer Art Kokon umgeben …«
»Hier sind die Gegenstände, die Sie uns zur Aufbewahrung überga ben, Monsieur Zamorra«, sagte Louis mit heiserer Stimme. Zamorra verglich die wenigen Dinge mit der Liste, die er am Vor tag unterschrieben hatte. Er ließ sich sehr viel Zeit dabei und beob achtete Louis, der rechts von ihm stand, aus den Augenwinkeln. Auf der anderen Seite befand sich Kommissar Charbon. Sein Ge sicht war auffallend bleich, dazu schob er einen Kaugummi von ei ner Seite auf die andere. »Nervös?«, erkundigte Zamorra sich bei dem Kommissar. Es klang mitfühlend, doch er wusste genau, weshalb sich die beiden Männer nicht wohl fühlten. Charbon antwortete nicht, er schien auf etwas zu warten. Zamorra biss sich auf die Lippen, als er die Liste hochzeigte. Ansonsten hätte er lauthals losgelacht. »Darf ich die Herren darauf aufmerksam machen, dass etwas fehlt?«, heuchelte er. Louis und Charbon blickten sich scheinbar verständnislos an. »Es fehlt etwas?« Louis wirkte sehr erstaunt. Respekt, dachte Zamorra, der Junge ist ein guter Schauspieler. »Sie wissen, dass das nicht möglich ist«, behauptete Charbon. Zamorra hielt dem Kommissar die Liste vor das Gesicht. »Mein Amulett fehlt, meine Herren«, sagte er mit harter Stimme. »Und das wissen Sie genau …« »Behauptungen, die bewiesen werden müssen, bevor Sie sie aus sprechen, Zamorra«, höhnte Charbon. Er reagierte so, um seine Un sicherheit zu überspielen. Louis hingegen empfand das Verhalten seines Vorgesetzten als peinlich. Der Meister des Übersinnlichen kniff die Augen zusammen. »Ich sagte Ihnen erst vor wenigen Stunden, dass ich diese vertrau liche Anrede nicht schätze … Charbon«, stieß er hervor.
Der Kommissar wehrte mit beiden Händen ab. »Schon gut, Professor. Ich habe es nicht so gemeint«, entschuldigte er sich. Er klang nicht nur müde, er war es auch. Die letzte Nacht hatte er, im Gegensatz zu Zamorra, nicht geschlafen. »Auf jeden Fall unterschreibe ich nicht, dass ich meine persönli chen Gegenstände vollständig zurückerhalten habe«, stellte der Dä monenjäger klar. »Das werden Sie verstehen.« Charbon hielt die Hände vor das Gesicht. Er rieb sich zuerst die Stirn, dann die brennenden Augen. »Ich verstehe Sie ja, Monsieur«, gab er zu, »aber wir wissen wirk lich nicht, wo sich Ihr Amulett befindet.« »Ich habe schon danach gesucht«, bekannte Louis. »Ach, und da sagen Sie mir nichts davon, sondern warten erst ab, dass ich Sie auf den Verlust meines Familienerbstücks aufmerksam mache?« Zamorra tat sehr erzürnt. »Das hätte ich nicht von der französischen Polizei gedacht …« »Wir suchen so lange, bis wir es gefunden haben, Monsieur«, ver suchte Louis, ihn zu besänftigen. Zamorra nickte mit grimmiger Miene. Da könnt ihr lange suchen, amüsierte er sich innerlich, denn Merlins Stern befindet sich schon nicht mehr hier. Er hatte das Amulett vor knapp zwei Stunden an Jules Graton übergeben. Der Anwalt sollte Merlins Stern an Nicole Duval weiter reichen. Er hatte den siebten Stern von Myrrian-ey-Llyrana in den Kof ferraum seines Mercedes' gelegt und war dann zu seinem Kollegen Lemonde gefahren, um ihn wegen des auf der Polizeistation ver schwundenen Amuletts unter Druck zu setzen. Davon, dass er selbst im Besitz des Amuletts war, hatte er natür lich kein Wort gesagt. Er musste sich ja nicht selbst belasten … »Professor Zamorra, ich entschuldige mich in aller Form bei Ihnen für das Verschwinden Ihres Amuletts. Ich werde dafür sorgen, dass es so schnell wie möglich wieder auftaucht.«
Zamorra wusste, wie schwer Charbon diese Entschuldigung fiel. Er nickte und lenkte ebenfalls ein. »Aber Sie benachrichtigen mich, wenn Sie es gefunden haben?« »Unverzüglich«, versprach der Kommissar. »Da wäre noch etwas«, sagte Louis. »Sie dürfen sich in der nächs ten Zeit nicht von Ihrem Wohnort entfernen und …« »Ich weiß«, unterbrach ihn Zamorra, »und ich verspreche Ihnen, mich daran zu halten.« Den Teufel werde ich tun!, dachte er. Diesen Fall wollte er selbst mit aufklären helfen. Dann verließ er die Polizeipräfektur mit seinen Habseligkeiten. Vor der Präfektur parkte gerade ein schwarzer Mercedes-Benz 600 SL. Darin saß sein Anwalt und hielt beide Daumen nach oben.
Nicoles ungläubiger Blick wanderte langsam von Asmodis zu dem Toten. »Er ist was…?« »Von einer Art Kokon umgeben«, wiederholte der Ex-Teufel. »Ko … kon?« Sie stotterte, brachte das Wort nicht beim ersten Ver such heraus. »Kokon«, bekräftigte er. Sie konnte nicht anders, als ihn anzustarren. »Natürlich ist das kein richtiger Kokon, wie wir ihn aus dem Tier reich kennen«, erläuterte er. »Das ist eine Art Gedankenkrücke, mangels einer anderen Bezeichnung, wenn ich es einmal so sagen darf.« »Du darfst.« Nicole Duval stieß die Luft aus. »Eine Art Kokon! Was es nicht alles gibt …« »Es ist wie eine Strahlung, die ihn umgibt.« Er kratzte sich am Hinterkopf. »Aber wie soll ich dir das genau erklären?«
»Lass nur.« Sie winkte ab und betrachtete das Gesicht des toten Druiden. Wie friedlich er aussieht. So zufrieden, wie ich ihn seit über zehn Jahren nicht mehr sah. Hätte er nicht zu Lebzeiten eine solche Zufriedenheit aus strahlen können? Doch es war zu spät. Merlin war tot, und diese Katastrophe konn te höchstens noch durch ein Zeitparadoxon rückgängig gemacht werden. Doch Nicole würde sich hüten, noch einmal etwas Derarti ges zu unternehmen. Die Entstehung der Spiegelwelt war ihr War nung genug. »Achtung, da kommt schon wieder jemand!« Asmodis schob die Lade mit Merlin darauf wieder zurück in die Schrankwand. Sekunden später betrat jemand den Saal. Dann wur de das Licht wieder höher gedimmt. Auf den zweiten Blick erkannte Duval, dass es sich um den Mann von vorhin handelte. Gerade noch rechtzeitig, dachte Nicole, dann fiel ihr ein, dass der Unsichtbarkeitszauber noch über ihnen lag. Trotzdem beeilte sie sich, wieder einen Schritt zurückzutreten. Nicht auszudenken, wenn man sie aufgrund eines unliebsamen Zwischenfalls hier sah und erkannte. Zauber hin oder her, aber auch da konnten die dümmsten Zufälle passieren. Und sie wollte derartige Risiken ausschließen. Der Mann verglich eine Liste mit den Angaben, die er leise von ei nem Zettel ablas. Dann beeilte er sich, wieder aus dem Saal zu ge langen. Und das Licht wurde erneut herabgedimmt. »So, zumindest der wird uns nicht mehr stören«, grinste Asmodis und trat wieder an die Lade heran, die er vorhin zurück in die Schrankwand gleiten ließ. »Wieso das?« »Er hat Feierabend.«
»jetzt schon?« Er öffnete die Lade wieder. »Ausnahmsweise bin ich nicht daran schuld. Für heute Nachmittag wurde niemand avisiert, außerdem hat der Junge einen Termin. Eine Feier bei 'nem Freund oder etwas in der Art.« »Und sonst? Befindet sich noch jemand im Gebäude?« »Aber sicher doch. Insgesamt halten sich noch fünf Männer und vier Frauen hier auf, alle in verschiedenen Abteilungen.« »Also sollten wir besser vorsichtig sein, trotz des Unsichtbarkeits zaubers?« »Du sagst es. Allerdings bleiben die alle nicht mehr lange hier. Da für sorge ich!« Asmodis ließ erneut seine Hände wenige Zentimeter über dem To ten kreisen. Er schloss seine Augen, die Wangen wirkten eingefallen. Er murmelte Beschwörungen, die den Kokon knacken oder zumin dest auflockern sollten. Gedankenverloren öffnete er die obersten beiden Knöpfe seines Hemdes. Anstrengung und höllische Zaubersprüche ließen Teufels hörner bei ihm wachsen. Das war ein unerwünschter Nebeneffekt, doch da ihn nur Nicole sah, versuchte er nicht, die Dämonenzeichen zu entfernen; das hätte ihn nur in seiner Konzentration gestört. Nicole konnte ihm dabei nicht helfen; so weit reichten ihre Kräfte nicht. Nach wenigen Minuten hielt er erschöpft inne. »Das Mistding lässt sich zumindest auf diese Art nicht knacken«, behauptete er. Sie wusste aus einem unbestimmbaren Gefühl heraus, dass mehr hinter der Sache stecken musste, darum hatte sie sich nicht allzu viel von seinen Beschwörungen versprochen. Trotzdem war sie ent täuscht. »Und was jetzt?« »Vielleicht gelingt es mit einem Dhyarra-Kristall? Das müssten wir
einmal ausprobieren.« »Schlau, wie ich bin, habe ich meinen zu Hause vergessen«, ge stand sie. »Da können wir uns die Hände reichen«, meinte Asmodis. »Es bleibt uns nichts weiter übrig, als einen Dhyarra zu holen und wie der zurückzukommen. Nur eines ist seltsam …« »Und das wäre?« »Ich habe bei der geistigen Sondierung eben einen schwarzen Blitz gesehen …«
6. In fernsten Fernen ›Teri, ich bin's, Zamorra. Ich brauche deine Hilfe. Wenn du mich verste hen kannst, dann peile mich an und komme her.‹ Teri Rheken rieb sich die Augen. Sie war erst vor knapp zehn Mi nuten aufgewacht, und trotz ihres verkaterten Zustandes konnte sie Zamorras Telepathiebotschaft nicht vergessen. »Auauau«, hauchte sie. »Nie wieder Alkohol.« Sie stand mit wackeligen Beinen vom Bett auf und ging zum Bad. Dort hielt sie erst einmal den Kopf unter fließendes kaltes Wasser. Nach einigen Minuten Kaltwassertortur waren ihre Lebensgeister wieder erwacht. »Nie mehr wieder Wein oder Schnaps«, bekräftigte Teri. »Aber ehrlich!« Sie stellte sich ganz unter das kühle Nass und bemerkte erfreut, dass es ihr danach besser ging. »Zumindest nicht bis heute Abend«, schränkte sie den Verzicht auf geistige Getränke ein, nachdem sie bemerkte, dass die Kopf schmerzen auf ein erträgliches Maß zurückgingen. Ihr nächtlicher Bettgefährte hatte das Zimmer verlassen, während sie noch schlief. Das war ihr recht, denn nach Frankreich mitnehmen konnte sie ihn nicht, und dass er von ihren Druidenkräften erfuhr, wollte sie auch nicht. »Ist besser so«, sagte sie. Inzwischen war sie wieder so weit, dass sie feste Nahrung vertra gen konnte. Zumindest ein Brötchen mit Marmelade und eine Tasse starken Kaffees brauchte sie, ehe sie weitere Schritte verfolgte. Mit dem Brötchen war sie innerhalb kürzester Zeit fertig, beim Kaffee hingegen gab sie sich erst nach mindestens einem Liter zu
frieden. Sie trank ihn auf amerikanische Art: so stark, dass ein Huf eisen oben schwimmen konnte, ohne unterzugehen. Zamorras Botschaft ging ihr nicht mehr aus dem Sinn. Zamorra rief sie nicht zum Spaß. »Aber seit wann ist er imstande, Telepathiekontakt mit mir aufzu nehmen?« War das wirklich Zamorra, der mich rief? Gewissheit würde sie erst dann erlangen, wenn sie Kontakt mit ihm aufnahm. »Also auf nach Château Montagne.« Sie konzentrierte sich, stellte sich ihr Ziel, das Schloss an der südli chen Loire, bildlich vor und ging einen Augenblick später in den zeitlosen Sprung. Teri materialisierte direkt vor dem Eingangstor des Châteaus. In Frankreich war es kurz nach 10:00 Uhr, mittlerweile schien die Son ne, und der Frühnebel hatte sich verzogen. Da sie nicht genau wuss te, was los war, zog sie den offiziellen Weg vor. Ansonsten sprang sie auch schon mitten in das Gästezimmer und erschreckte ihre Freunde. Sie klingelte wie jeder andere Besucher auch. Und sie musste nicht lange warten. William öffnete ihr. Der Butler schaute etwas indigniert, als er Teri erblickte. Sie war ihm seit Jahren als Freundin seiner Herrschaften bekannt, und er wusste auch über ihre Vorliebe Bescheid, so wenig Kleidung wie möglich zu tragen und ihren wunderschönen Körper zu zeigen. Das hatte sie mit Nicole Duval gemein. Aber das Eingangstor zu öffnen und einer bis auf einen schmalen weißen Slip nackten Frau gegenüberzustehen, war wieder etwas an deres. »Sie wünschen? Oh, Mademoiselle Rheken.« Er erkannte sie erst auf den zweiten Blick, dann bat er sie mit einer
Handbewegung ins Schloss. In diesem Augenblick fuhr ein schwar zer Mercedes-Benz SL 500 in den Schlosshof. Der Fahrer des Benz parkte direkt neben dem Seat Toledo von Pierre Robin. William wusste selbstverständlich, wer der Fahrer des Wagens war. Seine Miene erhellte sich, als er den Beifahrer erkannte. »Monsieur Zamorra! Willkommen«, sagte er. Der Angesprochene lächelte zurück und kniff die Augen zusam men, um zu sehen, wer sich bei dem Butler befand. Als er Teri er kannte, die neben William stand, winkte er zusätzlich zur Begrü ßung. Zamorra stieg aus und ging zu Teri. Er freute sich, sie zu sehen, und er war froh, wieder zu Hause zu sein. »Hast du doch meinen Ruf empfangen?«, fragte er, als er vor ihr stand. Jules Graton folgte ihm und staunte nicht schlecht, eine der maßen knackige nackte Dame vor sich zu sehen. Er bemühte sich, sie nicht allzu offen anzustarren. Aber genau auf bewundernde Blicke, sowohl von Männern als auch von Frauen, wartete Teri. Einen schönen Körper soll man nicht verstecken, lautete ihre Devise. Zamorra kannte sie schon so lange, dass ihm ihre Nacktheit kaum mehr auffiel. Abgesehen davon, dass seine Gefährtin selbst gerne so herumlief. »Sonst wäre ich nicht hier«, grinste ihn die goldhaarige Druidin an. »Allerdings habe ich eher erwartet, dass du kurz vor dem Ende stehst.« »Nicht ganz, aber fast«, sagte er. »Um was geht es?«, erkundigte sie sich. Zamorra blickte ihr in die Augen und fragte sich, wie er ihr bei bringen sollte, weshalb er sie gerufen hatte. »Gehen wir erst einmal in den kleinen Saal.« Er nickte William zu, der inzwischen das Tor geschlossen hatte. Der Butler wusste schon, dass er Erfrischungen auftischen sollte.
Dabei brauchte ich selbst eine Erfrischung, dachte er müde. Schließlich bin ich die ganze Nacht nicht ins Bett gekommen. Doch die Erschöpfung hätte er sich nie anmerken lassen, das verbot sein Berufsethos. Schließlich sagte Zamorra: »Merlin ist tot!« »Und?« Teri stellte die Frage automatisch, noch ehe sie begriffen hatte, was Zamorra erzählte. Der Schock kam erst später. »Und mich hält die Polizei für den Mörder!« Dann berichtete er ihr alles, was seit dem vorigen Mittag vorgefal len war.
Erinnerungen In den Höllenschlünden, in der Nähe des Seelenfeuers, standen sich zwei Wesen gegenüber. »Sag, dass das nicht wahr ist«, schrie Gwin niss. Ihre Haut war vor Erregung fast tiefschwarz, die Augen glüh ten in einem gefährlichen Rotton. »Aus welchem Grund sollte ich dich belügen?«, sagte Myrddhin. »Aber … das kannst du nicht machen.« Sie war völlig außer sich. Hinter ihnen spritzte flüssiges Gestein in die Höhe, heiße Lava wurde umhergeschleudert. Dort begann die instabile Region. Das Zischen, das dabei veranstaltet wurde, schien ihr angemessen als Hintergrundmusik für das eben gehörte. »Du willst uns verlassen? Uns, die Schwarze Familie?« Ihre Stim me wurde heiser, drohender. »Ich verlasse euch nicht«, antwortete Myrddhin. »Ich gehe nur meinen eigenen Weg …« »Und was sagt LUZIFER dazu?« »Der Kaiser läßt mich ziehen. Er weiß, dass er mich nicht halten kann.«
Sie zitterte vor unterdrücktem Zorn. Am liebsten hätte sie ihn auf der Stelle umgebracht. »Du erbärmlicher Feigling!«, brüllte sie ihn an. »Und was ist mit mir?« Er sah hinüber zu dem flüssigen Gestein und überlegte kurz, dann antwortete er: »Du gehst deinen Weg, ich den meinen.« Sie war fassungslos, wollte nicht glauben, was er ihr gesagt hatte. »Und wo willst du hingehen?« »Das sage ich dir, wenn es an der Zeit ist …« Doch er sagte es ihr nie. An diese Begebenheit dachte Gwin, als sie sich mittels Teleport in die Pathologie versetzte. Wie sehr hatte er sie damals verletzt. Und wie oft hatte sie ihm danach den Tod gewünscht. So, wie er dann auch ihren Tod in Kauf genommen hatte. Als er … Nein, sie wollte nicht mehr daran denken. Zu sehr schmerzte sie noch alles, obwohl es Äonen her war. Abgesehen davon, dass ihr ihre Grenzen vor Augen geführt wurden. Gwin hatte sich vor dem Teleport unsichtbar gemacht. Sie lauschte telepathisch, ob sich jemand in der Gerichtsmedizin aufhielt. Sie konnte die Gedanken einiger Menschen auffangen, die hier ar beiteten. Doch die stellten kein Risiko für sie dar. Sie spürte eine Aura, die teils dämonisch, teils auch … ja, was ei gentlich war? Menschlich? Gab es so etwas? Konnte es das geben? »Egal, ich sehe mir an, wer das ist«, fauchte sie. Dann ging sie auf die Tür zu, hinter der die gekühlten Leichen auf bewahrt wurden und wo sich Asmodis und Nicole aufhielten. Sie versetzte sich in den Teleport, tauchte im gleichen Augenblick hinter der Tür auf und sah, wie sich ein dunkelhaariger Mann mit Teufelshörnern über den toten Myrddhin Emrys beugte. Ach nein, Merlin Ambrosius nannte er sich ja die letzten paar tau send Jahre. Aber das hatte keine Bedeutung mehr, jetzt, da er tot
war. Der Mann kam ihr bekannt vor, sie hätte nur nicht zu sagen ver mocht, woher. Die dunkelblonde Frau an seiner Seite hingegen kannte sie nicht. Fast jeder Höllenbewohner hätte ihr sagen können, dass es sich bei beiden um Asmodis und Nicole Duval handelte. Das war Gwin egal. Keine fünf Sekunden, nachdem sie materiali siert war, hob sie beide Hände und ließ zerstörerische Magie auf die beiden zurasen.
Irgendwo, außerhalb des Lebens Die geistigen Echos schienen von überall her zu kommen. Das We sen wartete darauf, dass sie wieder nachließen, doch seine Hoffnung erfüllte sich nicht. Es wimmerte und versuchte, sich in geistigem Zustand einzuigeln. Als auch das nicht half, beschloss es, seine Gedanken abzuschal ten. Es versuchte, an nichts mehr zu denken und nur noch als Be wusstsein zu existieren. Und wirklich, nach endlos erscheinender Zeit ließen die Echos sei ner Gedanken nach. Und dann herrschte nur noch Stille. Das Wesen empfand die Lautlosigkeit als Wohltat. Ich darf mich nicht mehr so gehen lassen, erkannte es. Dabei wusste es um die Aussichtslosigkeit eines solchen Unterfangens. Irgendwann würde es durch die Stille und die fehlende Bindung zur Außenwelt – Außenwelt? Welch irrealer Begriff! – wieder so weit sein, dass es kurz vor dem Wahnsinn stand. Die Hölle!, durchzuckte es wieder der Gedanke. Ich muss zurück.
Aber wie sollte das funktionieren? Es wusste ja noch nicht einmal, wie es sich aus diesem Gefängnis befreien sollte. Mitten im Grübeln geschah etwas Eigenartiges. Es spürte, dass es sich bewegte! Das kann nicht sein! Dann wurde ihm wärmer. Die Temperatur stieg nicht langsam, sondern mit einem Schlag, als wäre eine Bombe explodiert. Das ist unmöglich! Ich glaube es nicht. Das musste es sein. Die alten Freunde aus der Hölle, die ihm ein Entkommen ermöglichen wollten und gegen seine Bestrafer kämpf ten. Doch wie konnte es seinen Höllenfreunden helfen? Mit welchen Aktionen konnte es sie unterstützen? Das sind sie, war es sicher. Sie müssen es sein. Alles andere ergab keinen Sinn. Es wollte keinen anderen Gedan ken gelten lassen, aus Angst davor, enttäuscht zu werden. Es klam merte sich regelrecht an den Wunsch, aus der jahrmillionenlangen Verbannung befreit zu werden. Dabei wusste es noch nicht einmal, welche Wesen in der Hölle leb ten und welcher Gesinnung sie waren. Das war ihm egal. Es hätte je den Preis gezahlt, um seiner Strafe zu entgehen. Egal, was ein Wesen angestellt hat, dachte es voller Selbstmitleid, aber so etwas Grausames hat es nicht verdient. Schon wieder verspürte es eine Erschütterung. Die Hilfe konnte nicht mehr weit sein! Ungeduldig wartete es darauf, dass endlich die Hilfe käme. Helft mir!, schrien seine Gedanken. Ich bin hier! Doch dann herrschte wieder Ruhe. Die Temperatur sank wieder, und keine Erschütterung zeigte an, ob Hilfe für das Wesen unter wegs war. Rechtsanwalt Graton verließ Château Montagne nach einer Vier
telstunde. Seine Arbeit war fürs Erste erledigt. Zum Abschied über reichte er Zamorra mit einem Lächeln Merlins Stern. »Passen Sie gut auf, dass das Amulett nicht von der Polizei gefun den wird«, riet er ihm, den Schalk in den Augen. »Ich werde mich nach Kräften bemühen und Ihren Rat beherzigen«, lachte Zamorra zurück, als Graton in seinen Wagen stieg. Nachdenklich blickte er dann dem davonfahrenden Mercedes hin terher. Nicole und Asmodis befanden sich in der Pathologieabteilung, um mehr über den rätselhaften Vorfall in Erfahrung zu bringen. Er wusste nicht, wie lange sie dazu brauchen würden, doch er nahm sich vor, ihnen spätestens in einer Stunde zu folgen. Auf dem Weg zurück in den kleinen Saal überlegte er sich die nächsten Schritte. Er hatte mit Rheken, Robin und Graton darüber diskutiert. Teri konnte ihn mit einem zeitlosen Sprung unbemerkt in die Ge richtsmedizin bringen. Die Silbermond-Druidin wurde über die bis herigen Vorkommnisse informiert und über die Fragen, die noch of fen waren. Ihr war selbst daran gelegen aufzuklären, was geschehen war. Za morras Eröffnung hatte ihr einen riesigen Schock beschert. Sie war seit vielen Jahren mit Merlin vertraut, deshalb war sie neben Gryf die Einzige, die eine Generalaufenthaltserlaubnis in Caermardhin erhielt. Auch Zamorra hatte den Schock über das Ableben des Zauberers noch lange nicht verdaut. Das war kein Wunder. Allein wenn er sein Amulett betrachtete, wurde er an den Alten erinnert. So viele Jahre gemeinsamer Abenteuer legte man nicht einfach ad acta, selbst wenn man sich noch so sehr über den anderen ärgern musste. Als Zamorra gedankenversunken den kleinen Saal wieder betrat, klingelte Robins Handy. Der Chefinspektor holte es aus seiner Gür
teltasche. Nach einem Blick auf das Display wusste er sofort, wer ihn sprechen wollte. »Hallo cherie«, meldete er sich. »Ja, ich befinde mich im Château … Zamorra ist auch da … Ja, wirklich … Nicole? Nein, die befindet sich in der Pathologie … Du kommst hierher? Es wird etwa eine hal be Stunde dauern? … In Ordnung … Ja, ich dich auch. Bis bald.« Mit einem gehauchten Kuss verabschiedete er sich von seiner Freundin. Er blickte die Gefährten an, sein pfiffiges Grinsen war breiter und ausgeprägter. »Das war Diana«, erklärte er überflüssigerweise, als er die fröhli chen Gesichter der anderen sah. »Das haben wir gemerkt«, kicherte Teri. Sie hielt eine Handfläche geöffnet vor ihren Mund, hauchte ein Küsschen darauf und blies es dann zu Robin hinüber. »Damit du nicht einseitig wirst.« »Biest«, knurrte Robin, aber sein Schmunzeln bewies, dass er seine Worte nicht ernst meinte. Er wusste, dass Teri den Nonsens nur machte, um ihren Schreck über Merlins Ableben zu überspielen. Die Hiobsbotschaft hatte sie tief getroffen und sie schwankte zwischen Traurigkeit und gespiel tem Übermut hin und her. »Mal ohne Blödsinn, Leute«, sagte Teri mit ernstem Gesichtsaus druck, »wollen wir es so halten, dass Zamorra und ich in spätestens einer halben Stunde zur Gerichtsmedizin springen und Robin und Diana als stille Eingreifreserve hier bleiben? Bevor wir springen, er kunde ich natürlich telepathisch das Gebäude …« »Das wollte ich gerade vorschlagen«, pflichtete Zamorra bei. Er legte Merlins Stern auf die nebenan stehende Kommode. Pierre nickte zu ihrem Vorschlag. Er hatte sowieso nicht vorge habt, aktiv einzugreifen, oder wenn, dann nur im Notfall. Wenn ihn jemand identifizierte, konnte er seinen Job an den Nagel hängen. Also war es besser, wenn er im Hintergrund blieb.
Nicole Duval hob den Kopf und stieß Asmodis an die Schulter. Eine unbekannte, nackte Frau mit schwarzblauer Haut befand sich in die sem Saal. Von einer Sekunde auf die nächste. Und als sie materialisierte, er füllte ein eiskalter Hauch den Saal. Wie machte sie das bloß? »Wer ist …«, begann Nicole, da streckte die Unbekannte beide Hände aus und ließ ihre Energie auf Asmodis und Duval zurasen. Der Ex-Dämon hob abwehrend blitzschnell beide Hände. Er ver suchte, einen Gegenzauber zu weben, doch mittendrin traf ihn Gwins magischer Stoß. Nicole befand sich, von Gwin aus gesehen, hinter Asmodis. Der schirmte sie unbewusst gegen den Angriff ab. Im gleichen Augen blick rief Zamorras Gefährtin Merlins Stern. Das Amulett erschien gleich darauf in ihrer Hand. Es erwärmte sich als Zeichen dafür, dass hier schwarzmagische Beeinflussung herrschte. Als ersten Feind machte das Amulett Asmodis aus, der sich direkt neben ihm befand. Ein grünliches Flimmern entstand um Nicole herum, etwas Silber nes funkelte vom siebten Stern von Myrrian-ey-Llyrana auf den ExTeufel zu. Asmodis blickte Nicole ungläubig an, dann drehte er sich um die eigene Achse und verschwand. Gwin lachte kehlig auf, sie ging drei Schritte näher auf Duval zu. »Einen schönen Helfer hast du, kleines Mädchen«, höhnte sie. »Haut beim ersten bisschen Kampf gleich ab.« Ihre Augen wurden dunkelrot, als sie Merlins Stern sah. War das die gleiche Waffe wie jene, die Zamorra gegen sie angewandt hatte? Erneut hob sie beide Arme, um Nicole mit ihrer Energie anzugrei fen. Flammen umloderten die Französin, wurden aber von dem grünlich wabernden Energieschirm neutralisiert.
Gwin verstärkte ihre Bemühungen, ein Knistern erfüllte den Raum. Verdammt, warum beschränkt sich die blöde Silberscheibe nur auf die Defensive?, dachte Nicole erstaunt. Alles geschah so schnell, dass sie keine Zeit zur Furcht fand. Warum greift das Amulett nicht an? Assi wollte es schliesslich auch angreifen! Die Dämonin trat noch zwei Schritte näher. Da materialisierte As modis drei Meter hinter ihrem Rücken. Er schnellte nach vorne und warf Gwin zu Boden. Sie wurde von der Attacke überrascht, da sie sich voll auf Duval und die seltsame Silberscheibe konzentrierte. Blitzschnell rollte sie sich ab, sprang auf und wollte erneut einen Zauber gegen ihre bei den Gegner weben. Bei einem Seitenblick auf Merlins Stern bemerkte sie, dass er erneut ein silbernes Funkeln zeigte. Diesmal eindeutig in ihre Richtung. Sie war durch die Ereignisse der Nacht vorgewarnt. Zwar wusste sie nicht, wie viele es von diesen Silberscheiben gab, aber seit sie Za morra begegnet war, hatte sie einen Riesenrespekt vor diesen Amu letten. Sie rettete sich durch einen Teleport-Sprung.
»Muss das heute noch sein? Das können wir doch auch noch nach dem Wochenende erledigen!« Doktor Vaillant war nicht sehr erfreut über das eben gehörte. »Herr Kollege, wir wurden darum gebeten.« Sein Kollege, Doktor Noir, hörte sich nicht minder angesäuert an. »Soll das nicht eher heißen gezwungen?« »Sagen wir lieber: auf vielfachen Wunsch eines Einzelnen.« »Die soll doch der Blitz beim Sch …« »Ich weiß, aber was sollen wir tun?« Doktor Noir hob ratlos die Schultern und fuhr sich mit der Hand über seine vollendete Glatze.
»Befehl ist Befehl.« »Ich denke, wir wurden gebeten?« Vaillant lachte, als er das Gesicht seines Kollegen sah. »Mit sanfter Gewalt. Am liebsten würde ich den Toten erst am Montag obduzieren.« »Dann machen wir das auch erst am Montag. Schließlich ist Wo chenende, und wir haben noch einige Fälle, die dringlicher sind«, er eiferte sich Stephané Vaillant. »Ist eh keiner mehr da außer uns und dem Pförtner«, sagte Noir. »Vor ein paar Minuten sind die Letzten gegangen.« »Jetzt schon? Feierabend ist für die doch erst in drei Stunden …« Vaillant dachte kurz nach, dann hatte er einen Entschluss gefasst. »Na komm, schauen wir zumindest nach dem Miraculix-Double.« »Stephané, es ist Wochenende«, erinnerte Noir. Als sein Kollege winkte, seufzte er auf und folgte ihm durch die Korridore. »Der Knabe soll ja interessant aussehen«, spottete er. Vor der Tür zu den gekühlten Leichen blieben sie stehen. Vaillant drückte die Klinke herunter und öffnete die Tür. Etwa eine Minute vorher war Gwin verschwunden. Nicole und Asmodis knieten vor dem toten Merlin. Nachdem Gwin verschwun den war und Asmodis wieder in seiner Menschengestalt auftrat, wandte sich das Amulett nicht mehr gegen ihn. Ein weiteres Rätsel, das die Silberscheibe umgab. Einmal funktionierte sie beim gerings ten Widerstand, dann wieder versagte sie in größter Not. »Was soll das?«, fragte Noir, als er die beiden sah. Asmodis hob den Kopf, streckte eine Hand aus und hypnotisierte beide Männer. »Was wollen Sie hier?«, wollte er wissen. »Wir sollen Herrn Ambrosius obduzieren«, antwortete Vaillant be reitwillig. »Das eilt nicht«, sagte Asmodis. »Verstehen Sie? Das hat noch Zeit. Mindestens bis nach dem Wochenende.«
»Das hat noch Zeit«, echote Vaillant. »Mindestens bis nach dem Wochenende«, wiederholte auch Noir. »Befindet sich noch jemand hier?«, erkundigte sich der Ex-Dämon. »Und wie lange haben Sie heute Arbeitszeit?« »Nur wir beide und der Pförtner«, antworteten beide gleichzeitig. »Und wir wollten sowieso bald Feierabend machen …« »Herr Ambrosius kann bis nach dem Wochenende warten. Es ist alles in Ordnung mit ihm. Sie haben sich den Feierabend mehr als verdient«, schmunzelte Asmodis. »Gehen Sie. Sie kennen uns nicht und haben uns nie gesehen. Vergessen Sie, dass es uns gibt.« Die Ärzte drehten sich um und verließen den Raum, ohne noch ein Wort zu sagen. »Puh, das war knapp«, keuchte Nicole. »Erst dieses dreckig brau ne Miststück, dann die beiden Jungs.« »Vorerst haben wir unsere Ruhe, zumindest vor den Medizinmän nern«, behauptete Asmodis. »Und unsere Freundin? Kennst du sie?« »Ich glaube schon. Es ist zwar viele tausend Jahre her, aber sie hat eine große Ähnlichkeit mit jemand, den ich kannte.« »Dabei macht Zeit doch nur vor dem Teufel halt, wie Ricky Shay ne einst sang«, frotzelte Nicole. Asmodis verzog das Gesicht, als habe er einen Schluck Weihwas ser getrunken. »Wenn sie noch genauso aussehen würde wie früher, hätte ich sie gleich erkannt. Aber da sie anscheinend von den Toten auferstanden ist, habe ich einige Schwierigkeiten.« »Aber du bist sicher, du weißt, wer sie ist?« Er nickte bedeutungsschwer. »Ja, ich glaube schon. Und wenn sie wieder hier ist, dann hat es mein Herr Bruder«, er schaute auf den in der Lade liegenden, toten Merlin, »wirklich nicht besser verdient. Nach allem, was er ihr antat
…« »Du meinst …?« »Gwinniss!« Und er sprach den Namen aus, als wäre er ein Fluch.
Eine andere Welt, viele Lichtjahre entfernt Munar, der vierte von sechs Planeten der Sonne Kahon, durchmaß nur 9148 Kilometer. Die eiserstarrte Welt besaß eine dünne, für Menschen tödliche Atmosphäre. Die Gravitation des Planeten be trug 0,92 Gravos. Stürme, wie sie noch kein Mensch erlebte, fegten über die Oberflä che. Kein menschliches oder menschenähnliches Wesen hätte sich ohne ausreichende technische Schutzmaßnahmen auf diese Welt be geben können. Und doch gab es Geschöpfe, die sich hier aufhielten und unter ver gleichsweise einfachen Verhältnissen überlebten. Munar hatte noch keine Intelligenzwesen hervorgebracht, die Werkzeuge verwendeten. Hayan, bärenähnliche Tiere von einein halb Metern Größe, stellten die intelligenteste Spezies des Planeten dar. Außer ihnen hielt sich ein fremdes Wesen auf Munar auf. Es kam von Kemran, dem zweiten Planeten. Dort hatte es seinen ständigen Aufenthaltsort. Diese Entität verspürte nicht sehr viel von den nicht enden wollen den Todesstürmen. Ihr Denken und Fühlen spielte sich auf einer an deren Dimensionsebene ab. Doch war sie auch fähig, unsere Dimen sion wahrzunehmen. Die Entität hatte den Status eines Wächters. Ihr Name bestand aus einer Lautfolge, die es Menschen unmöglich machte, sie auszusprechen.
In einer eisumschlossenen Höhle, die am Grund eines Berges ent standen war, schlief die Entität. Die Wände ihrer Behausung waren fast vollkommen von Eis ge schützt. Nur durch eine kleine Öffnung konnte man durchschlüp fen, doch das war dem Wächter egal. Ihn kümmerte auch das Geheule der Tiere außerhalb der Höhle nicht. Es handelte sich um an Wölfe erinnernde Raubtiere. Sie jaul ten vor Enttäuschung darüber, dass sie nicht an ihre Beute heranka men. Er war während des Schlafes geschützt und besaß in wachem Zu stand seine eigene Art der Fortbewegung, die schneller war als jede körperliche Bewegung. In den frühen Morgenstunden des 26. April 2003 erreichte Merlins Todesimpuls den dritten Planeten. Die auf höherdimensionaler Ba sis liegende Impulsflut durchdrang mühelos die Eismassen. Der Wächter lag in einer muldenartigen Vertiefung im Boden auf einer Ruheplatte. Seit einigen Tagen befand er sich in einem regene rierenden Tiefschlaf. Sämtliche Körperzellen des halbmateriellen Wesens wurden durch eine totale Strukturumwandlung unempfind lich gegenüber allen äußeren Einflüssen unserer Dimension ge macht. Ein heftiger Impuls erreichte seinen schlafenden Geist. H'gan, sein symbiotischer Mental-Partner, versuchte den ruhen den Wächter aufzuwecken. Zuerst ohne erkennbaren Erfolg. Der letzte Einsatz hatte seine Spuren hinterlassen, selbst bei einem so mächtigen und unsterblichen Wesen wie dem Wächter. Und doch würde einmal auch dessen Wirken vorbei sein. Vergan gen, wie alles andere im Multiversum. Auch er würde einen Nach folger benötigen, und wenn es noch zigtausende oder gar Millionen Jahre dauerte. »Wach auf!«, sendete der Mental-Partner. Einzelne Willensstörungen, wie eine Art gedankliches Wetter
leuchten, antworteten ihm auf seine Versuche. Der Wächter stöhnte leise, mental, wie es seine Art war. Erste, noch unklare Gedanken er füllten ihn. Er bewegte sich in der Mulde. »Sofort aufwachen«, sendete H'gan. »Etwas Schreckliches ist pas siert!« Wie alle anderen Mental-Partner bestand auch er aus einem Be wusstsein, das quasi als Untermieter bei seinem Wirt lebte und in den meisten Fällen von ihm abhängig war. Die Körper der geistigen Symbionten waren schon lange vergangen, ihre Seelen durch eine spezielle Behandlung vor dem Abgleiten in die Hölle oder ins Nichts bewahrt worden. So konnte die Kraft und die Erfahrung die ser Wesen auch nach ihrem körperlichen Tod genutzt werden. Als Nebeneffekt dieser Behandlung konnten die Seelen für kurze Zeit auch ohne Wirt durch das Universum reisen und Aufträge er füllen oder Botschaften überbringen. Der Wächter erhob sich aus der Mulde. Dabei schwebte er auf sei ner ovalen Ruheplatte. Ein Beobachter hätte nicht zu sagen ver mocht, welche äußere Gestalt er besaß. Durch den halb materiellen Zustand befand sich alles an ihm in ständiger Bewegung. »Hat man denn nie seine Ruhe?«, beschwerte er sich. »Was ist denn nun wieder passiert?« »Ich … ich …« H'gan war nicht in der Lage, seine Botschaft zu überbringen. Der Wächter spürte die Erregung des Symbionten. Er wirkte mit besänftigenden Gedanken auf ihn ein. Die Klumpen unter seiner Haut trieben dabei langsamer umher. Obwohl H'gan körperlich nicht mehr existierte, vermeinte der Wächter, ein Atemholen zu vernehmen. »Dein Diener …« Der Wächter lachte lautlos. »Welchen meinst du? Ich habe dermaßen viele …«
»Merlin!«, kreischte der Mental-Partner. »Ich meine deinen Diener Merlin!« »Merlin? Was ist mit ihm?« H'gan sammelte all seinen Mut zusammen. »Er ist tot!«, stieß er schließlich hervor. »Tot?« Der Wächter zeigte nicht, ob ihn die Hiobsbotschaft ver letzte, doch mit einem Mal wirkte er sehr nachdenklich. »Er starb auf dem Planeten Erde«, erklärte H'gan. »Eine der schlimmsten Welten seines Einflussbereichs … wenn nicht gar die schlimmste Welt.« Wie lange würde es dauern, ein Wesen zu finden, das die verant wortungsvolle Aufgabe eines Dieners übernahm? Und ein Diener musste mehr als eine Welt beschützen. Nur Unsterbliche waren dazu in der Lage, und die waren dünn gesät. Und nicht jeder Unsterbliche verspürte den Drang, dermaßen en gagiert zu kämpfen wie Merlin. Merlin, der Diener des Wächters der Schicksalswaage.
Welch eine Schmach! Du bist schon wieder geflohen! Wie lange willst du dir das noch gefallen lassen? Zeige ihnen endlich deine Macht! Gwin war mehr zornig auf sich als auf die beiden Personen in der Pathologie. Der Mann musste Asmodis sein. Zumindest besaß er einen Teil der Aura des Dämons. Aber wer war die Frau mit der Silberscheibe? Das ist doch vollkommen egal. Nur drei Augenblicke länger, und du hättest beide vernichten können! Sie wusste nicht, ob ihre innere Stimme Recht hatte. Sie wusste nur, dass sie es hätte riskieren müssen. Welch eine Schande, vor zwei Wesen zu fliehen, obwohl du doch am Zug warst!
Sie schloss die Augen und ballte die Hände zu Fäusten. Je mehr sie das Geschehene verdrängen wollte, umso stärker arbeitete es in ihr. Es war richtig, was du getan hast, sagte eine andere Stimme. Sonst wärst du vielleicht schon tot. Aber die aggressive Stimme war stärker. Erinnere dich daran, was er mit dir machte! Und die beiden haben das selbe vor. Sie beschützen Myrddhins Überreste! Und obwohl das eine mit dem anderen nichts zu tun hatte, glaubte sie den Einflüsterungen ihres verletzten Egos. Da war noch etwas, sie wurde überschwemmt von –
Erinnerungen Das letzte Zusammentreffen würde sie nie vergessen. Sie fand Myrddhin in einer der fast nie begangenen Bezirke der Hölle. Hier, wo alles ständiger Instabilität unterworfen war. »Ich verlasse die Hölle jetzt«, hatte er gesagt, ohne sie groß anzuse hen. »Und wo willst du hingehen? Sage es mir jetzt«, bat sie ihn fle hentlich. Er musste doch wissen, dass sie ihm hörig war, nicht nur in sexu eller Hinsicht. Sie konnten nicht miteinander sein, aber auch nicht ohne einander. Irgendetwas hielt sie bei ihm fest, doch sie konnte nicht sagen, was es war. »Ich sagte es dir schon beim letzen Mal: Das sage ich erst dann, wenn es an der Zeit ist …«
»Ich habe ein Recht darauf!«, schrie sie ihn an. »Du hast keine Rechte mehr auf mich«, lautete seine Antwort. Ihre Augen wurden dunkelrot, sie flackerten; ein deutliches Zei chen dafür, dass sie am Rande ihrer Beherrschung war. »Wenn ich dich nicht haben kann, soll dich niemand haben!«, stieß sie hervor. »Das habe ich mir schon gedacht«, sagte er. »Und ich habe vorge sorgt für einen solchen Fall …« Sie erstarrte, wollte nicht glauben, was er eben gesagt hatte. Er hob seine Hände. Blitze züngelten daraus hervor, fraßen sich ih ren Weg zu Gwinniss. Sie versuchte, seine Magie abzublocken, sich gegen die zerstörenden Gewalten zur Wehr zu setzen. Doch es war zu spät. Er tötete sie und hörte nicht eher mit seinem Werk auf, bis fast die letzten körperlichen Überreste von ihr verbrannt waren. Dann verließ er die Hölle für alle Zeit.
– Sie wollte es nicht, aber sie musste ständig an diese Ereignisse den ken. Sein Verrat schmerzte sie immer noch. Und dass er sie, die vor her seine Vertraute war, töten wollte, verzieh sie ihm über seinen Tod hinaus nicht. Wie sollte er auch wissen, dass sie nicht ganz gestorben war. Es rauschte wieder in ihren Ohren. Sie konnte sich nicht mehr zu rückhalten, sie wollte es auch nicht. Kurz zuckte der Gedanke an ihre Lieblinge im Seelenfeuer auf, doch der Wunsch nach Vergeltung war stärker.
Diana traf noch vor Ablauf der von Teri vorgeschlagenen Wartezeit mit ihrem Citroën AX im Château Montagne ein. Die sonst stürmische Begrüßung fiel angesichts der Sachlage etwas gedämpfter aus. Diana kannte Merlin zwar nicht persönlich, aber sie wusste, welche Bedeutung er für Zamorra besaß. »Du kommst gerade rechtzeitig«, sagte der Meister des Übersinnli chen nach der Begrüßung. »Teri und ich wollen per zeitlosem Sprung zur Gerichtsmedizin.« »Da könnte ich euch doch begleiten«, erwiderte Robins Freundin. »Pierre muss sowieso hier bleiben. Falls ihn jemand erkennen wür de, könnte er nur noch als Putzfrau bei der Polizei arbeiten.« »He, etwas mehr Respekt bitte«, beschwerte sich der Chefinspek tor. »Haben wir doch«, behauptete Diana. »Du bekommst auch eine erregende Schürze umgebunden und einen feschen Hut auf.« »Lachmuskelerregende Schürze mit Aufschrift Mamis Liebling oder so …«, lachte Robin. »Ich weiß nicht, ob das in Ordnung ist. Je mehr Menschen sich in der Pathologie befinden, desto schlechter kann es sein«, gab Teri zu bedenken, die Diana kaum kannte. »Oh, ich kann mich sehr gut meiner Haut wehren, wenn du das meinst«, versicherte Diana ernst. Wie so oft spielte sie auch jetzt mit einem Medaillon, das sie um den Hals trug. Es war uralt und diente ihr schon seit langer Zeit als Glücksbringer. Zamorra hatte Teri von Robins Freundin erzählt. Sie wusste, dass Diana eine Meisterin der Selbstverteidigung war. Sie war eine gute Kämpferin; ihre Schule war der jahrhundertelan ge Aufenthalt auf einem Geisterschiff voller Piraten gewesen, bis Za morra und Nicole sie vor fünf Jahren befreien konnten. Sie stammte praktisch aus einer vergangenen Epoche, hatte sich aber längst sehr gut in der modernen Welt eingelebt, und nebenbei hatte es zwischen Robin und ihr gefunkt und gezündet. Allerdings war noch nicht be
kannt, ob ihre normale Alterung nach dem Verlassen des Geister schiffes wieder eingesetzt hatte. »Hm.« Teri presste die Lippen zusammen, sie dachte nach. »Diana geht immer umsichtig vor, du kannst dich auf sie verlas sen.« Zamorra stellte sich als Fürsprecher zur Verfügung. Teri zog die Augenbrauen hoch. Sie knetete ihr Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger. »Also gut«, gab sie schließlich nach, »ich nehme sie mit in den zeit losen Sprung. Hast du alles dabei, was du brauchst, Zamorra?« »Ich nehme meinen Einsatzkoffer, den Dhyarra und das Amulett mit«, antwortete er. Dann blickte er auf die Kommode. Merlins Stern fehlte. A-ber seit wann? Ich habe sein Verschwinden gar nicht bemerkt! Er machte seine Gefährten darauf aufmerksam. »Dann sollten wir uns beeilen«, meinte Teri. »Ohne Grund wird Nicole das Amulett nicht gerufen haben.« »Dann muss es ohne Einsatzkoffer gehen«, sagte Zamorra. Es blieb keine Zeit, ihn zu holen und seinen weißmagischen Inhalt auf die Si tuation abzustimmen. Teri nahm ihn und Diana an die Hand, konzentrierte sich auf ihr Ziel, und gleich darauf waren die drei Personen aus Château Monta gne verschwunden. Sie wurden in der Gerichtsmedizin wieder stoff lich. In genau dem Saal, in welchem sich Asmodis und Nicole befan den. Etwa fünf Meter vor ihnen, auf einer Art übergroßer Schublade, la gen Merlins sterbliche Überreste. Teri ließ die Hände von Diana und Zamorra los und ging auf den Leichnam zu. Sie schien die Anwesenheit von Duval und dem ExDämon nicht zu bemerken. Ihre Blicke hatten nur ein Ziel. Stumm starrte sie auf den Toten. Es war ein Riesenunterschied, vom Ableben eines Wesens zu hö ren oder aber den Toten direkt vor sich zu sehen. Nur Teris Wan
genmuskeln bewegten sich, ansonsten schien sie einer Statue gleich. Es fehlte sogar der Glanz in ihren Augen. Dann senkte sie den Kopf und atmete tief ein. Schließlich wandte auch sie sich Nicole und Asmodis zu, die inzwischen beide von Za morra und Diana begrüßt wurden. Nicole war natürlich glücklich, ihren Gefährten wieder in die Arme zu schließen. Sie war sensibel genug, Teri in diesen Minuten alleine zu lassen. Deshalb wandte sie sich Diana zu, die sie längere Zeit nicht gesehen hatte. Beide Frauen standen etwas abseits von den anderen. Nicole er zählte Diana gerade, was sie herausgefunden hatten. Kälte erfüllte den Saal, von einem Augenblick auf den nächsten. Ohne Vorwar nung, ohne einen rationalen Grund. »Das ist doch …«, begann Zamorra, aber da war es zu spät. Hinter ihnen materialisierte eine Frauengestalt. Sie war schwarz blau, unbekleidet und knapp zwei Meter groß. »Gwinniss!«, stieß Asmodis hervor. Er wollte einen Gegenzauber starten, doch Gwin war schneller. Auf eine Handbewegung von ihr verschwanden Asmodis, Teri und Zamorra. Diana und Nicole waren allein mit dem Toten.
7. Die Frage des Wächters Michelle Regnier blickte voller Unwillen das Telefon auf ihrem Schreibtisch an. Das ist schon der siebte Anruf innerhalb von nur einer halben Stunde! »Man sollte nicht glauben, dass heute Samstag ist«, zischte sie. »Normalerweise sollte man dich klingeln lassen, bis du schwarz wirst.« Nun war ihr Diensttelefon schon schwarz, also konnten ihre Worte nicht so böse gemeint sein, wie sie klangen. Es war nur so, dass sie in Ruhe ihre Arbeit erledigen wollte und durch die ständigen Tele fonate davon abgehalten wurde. Doch sie konnte es sich nicht erlauben, ein Telefonat zu ignorieren. Wenn sie angerufen wurde, dann war es wichtig. Sehr wichtig sogar, denn in gewissen Fällen galt sie als letzte In stanz. Nur mit ihrer Zustimmung konnten bestimmte Rechtswege eingehalten werden. Michelle Regnier war nicht irgendjemand Unbedeutendes. Sie war Richterin in Roanne. Als solche hatte sie Einblick in sämtliche Strafverfahren. Und sie wurde natürlich auch aus erster Hand über die aktuellen Fälle infor miert. Selbstverständlich wusste sie auch über die Tat Bescheid, die Pro fessor Zamorra vorgehalten wurde. Er sollte einen entfernten Be kannten, der merkwürdige Kleidung trug, ermordet haben. Merlin Ambrosius sollte sein Name angeblich lauten. Die Nationalität konnte nicht festgestellt werden, es schien, als wäre dieser Mann nirgends gemeldet.
Zamorra war bekannt in der Umgebung, besonders in Polizei- und Gerichtskreisen, aber etwas Derartiges hätte ihm niemand zuge traut. Bisher hatte dieser Mann doch immer geholfen, ungeklärte Fälle aufzuklären. Was konnte in ihn gefahren sein – falls er der Schuldige war? Für Richterin Regnier bestanden etliche Unklarheiten bei diesem Fall. Wo lag das Motiv für einen Mord? Was und wo war die Tat waffe? Konnte dem Professor vor Ablauf von 48 Stunden etwas nachgewiesen werden? Waren nach Ablauf dieser Zeit keine Beweise vorhanden, dann musste er sowieso entlassen werden. Wenn sie sich selbst gegenüber ehrlich war, dann musste sie zugeben, dass sie kläglich wenig gegen den Professor in der Hand hatte. Das Opfer und der Tatverdächtige hatten zwar ausgesehen, als wären sie in eine Schlägerei geraten, doch dann hätte man zumindest Blutergüsse oder Hautfetzen unter den Fingernägeln finden müssen. Doch beides gab es nicht. Richterin Regnier hatte deshalb nach Anfrage von Rechtsanwalt Graton vor zwei Stunden veranlasst, dass Zamorra auf Kaution frei kam. Obwohl sie sich nicht erklären konnte, weshalb sie gegen ihre sonstigen Prinzipien verstieß, erst die ganze Macht des Gesetzes auszunutzen, ehe ein Verdächtiger auf freien Fuß gesetzt wurde. Nach dem dritten Klingelton hob sie den Hörer mit der linken Hand ab. Wenn sie telefonierte, dann immer mit links. »Mit dem lin ken Ohr höre ich besser als mit dem rechten«, erklärte sie auf Anfra gen. Da sie Rechtshänderin war, konnte sie auf diese Weise besser mitschreiben. »Regnier«, meldete sie sich mit fester Altstimme. Sie war eine Frau Mitte fünfzig, einssechzig groß und achtzig Kilo schwer. »Jules Graton«, meldete sich Zamorras Anwalt am anderen Ende der Leitung. »Frau Richterin, es gibt ein kleines Problem …« »Ach Jules, Ihr Mandant ist doch schon frei«, erwiderte Michelle Regnier. Ihr Tonfall klang gereizt. Am liebsten hätte sie Graton ge sagt, dass er sie nicht belästigen sollte, da sie mehr als genug Arbeit
auf dem Schreibtisch hatte. Sie wusste nicht, weshalb sie das nicht tat. Ein Gefühl riet ihr, erst noch abzuwarten, was der Anwalt wollte. »Das stimmt, Madame«, antwortete Graton, »aber in der Präfektur kam ihm etwas abhanden.« »Wie, abhanden? Drücken Sie sich bitte klar und deutlich aus, Ju les!« Die Verärgerung in ihrer Stimme über das Ratespiel des An walts war unüberhörbar. Graton räusperte sich. Es schien, als habe er einen Riesenspaß dar an, die Richterin auf die Folter zu spannen. »Mein Mandant, Professor Zamorra, wie Sie ja wissen«, begann er langsam und umständlich, worauf Regnier flehend zur Zimmerde cke sah und innerlich zu beten begann, dass Graton endlich zur Sa che käme, »hat gestern Nachmittag, bei seiner Festnahme, seine per sönlichen Dinge auf dem Revier abgegeben …« »So ist es üblich«, unterbrach ihn Regnier. Sie hatte ihre hellblauen Augen geschlossen, die rechte Hand strich durch die kurz geschnit tenen rotblonden Haare. Ihr rundliches Gesicht verzog sich vor Är ger. Es war nur eine Frage der Zeit, ehe sie Graton zurechtwies. »… aber als er vorhin entlassen wurde, fehlte etwas, und zwar …« »Jules, fassen Sie sich bitte kurz! Ich habe jede Menge Arbeit!«, fuhr sie ihn an. »… und zwar ein ziemlich teures, silbernes Amulett«, beeilte sich Graton hinzuzufügen. »Es handelt sich um ein kostbares Stück Fa milienschmuck.« Regnier schüttelte den Kopf. »Das ist nicht wahr«, flüsterte sie. »Sagen Sie mir, dass das nicht wahr ist.« »Leider doch«, bestätigte Graton. »Mir wäre auch lieber, wenn der rechtmäßige Besitzer dieses Amulett wiederhätte.« Regnier legte die Stirn auf die rechte Handfläche, den Ellenbogen stützte sie dabei auf der Schreibtischfläche auf.
»Ich … kümmere … mich … darum«, versprach sie dem Anwalt und warf ihn kurz und bündig aus der Leitung. Sie erhob sich aus dem Sessel, trat ans große Panoramafenster und blickte über die Stadt. Ihren Ausspruch »Sagen Sie mir, dass das nicht wahr ist« hatte sie zweideutig gemeint. Auf der einen Seite hatte jeder Verdächtige den Anspruch, dass er sein Eigentum wieder zurückerhielt. Auf der anderen Seite wollte sie es nicht glauben, dass sie deswegen gestört wurde. Die Wieder beschaffung des verschollenen Amuletts war vorerst Sache der Poli zei. »Kein Wunder, dass es mit Frankreich bergab geht«, murmelte sie.
Asmodis blickte Teri und Zamorra böse an. »Kaum seid ihr hier, be ginnt sie mit faulem Zauber.« »He, Alter, wir sind unschuldig«, verteidigte Teri sich. Der Ex-Fürst winkte ab. »Ist ja auch egal.« »Was soll das überhaupt?«, erkundigte sich Zamorra. »Was hat sie vor?« »Siehst du das nicht?«, fuhr ihn Asmodis an. »Sie hat eine Art Di mensionsblase erschaffen. Wir können Diana und deine Mätresse se hen …« »Moment, sie ist nicht …« »Leg doch nicht immer jedes Wort auf die Goldwaage.« »Wir können die anderen sehen, wenn auch wie durch Milchglas.« Teri nahm wieder aktiv an ihrer Umwelt teil. »Aber die sehen uns nicht«, behauptete Asmodis. »Das war's, was ich erklären wollte.« »Woher willst du das wissen?«, fragte Teri. »Schau sie dir doch einmal an, sie blicken in eine andere Richtung.
Sie haben uns bisher nicht bemerkt, selbst eben, als Diana dich an schaute.« »Gwin wollte uns voneinander trennen. Wahrscheinlich, damit sie jede Gruppe für sich erledigen kann«, vermutete Zamorra. »Gwin? Ich denke, sie heißt Gwinniss«, wunderte sich die Silber mond-Druidin. »Sie behauptete mir gegenüber, dass sie so heißt«, sagte Zamorra. In diesem Augenblick tauchte die schwarz-blaue Frau bei Nicole und Diana wieder auf. Sie streckte die Arme aus. Kleine Flammen züngelten daraus hervor, auf das Amulett zu. Nicole hielt Merlins Stern in die Höhe. Sie wollte sich und Diana vor den gewaltigen Energien schützen und gleich darauf zurück schlagen. Doch es baute sich nur der wabernde grünliche Energieschirm um die Frauen auf und ließ Gwins Strahlen verpuffen. »Verdammtes Scheißding!«, fluchte Nicole. »Wenn man dich ein mal braucht, läufst du nur mit halber Kraft.« »Was soll das?«, wunderte sich Zamorra in der Dimensionsblase. »Weshalb beschränkt Merlins Stern sich nur auf die Abwehr? Nor malerweise müsste er schon lange zum Angriff übergehen …« »Vielleicht kann er Gwin nicht richtig einordnen? Eventuell hat sie keine hundertprozentige schwarzmagische Aura?«, vermutete Teri. Da kann etwas dran sein, dachte Zamorra. Er erinnerte sich daran, wie das Amulett in der Nacht mit Verspätung reagierte. Dann geschahen zwei Dinge gleichzeitig: Gwin ließ eine zweite Energiesalve auf Nicole zurasen, diesmal fast doppelt so stark wie beim ersten Mal und – – ein unbeschreibliches Wesen tauchte innerhalb der Dimensions blase auf. Sie vermochten nicht zu sagen, welche äußere Gestalt es besaß. Es legte eine Art rötlichen Energieschirm um sich und Asmo dis.
Dann verschwand es zusammen mit ihm vor den Augen von Teri und Zamorra. Es passierte innerhalb nur einer Sekunde, viel zu schnell, als dass die beiden in der Dimensionsblase befindlichen Per sonen eingreifen konnten.
Irgendwo, außerhalb des Lebens Das Wesen resignierte. Es wollte nicht glauben, dass doch keine Hil fe von außen kam. Wie sehr hatte es darauf gehofft! Warte nur noch ein bisschen, sagte eine innere Stimme zu ihm. Die Freunde können nicht mehr weit sein. Gerne hätte es daran geglaubt, aber nach der enttäuschten Hoff nung verfiel es regelrecht. Sie können nicht mehr kommen, erklang eine zweite Stimme in ihm. Entweder wurden sie zurückgeschlagen, oder sie haben dich aufgegeben. Nein, das wollte es nicht glauben. Höre nicht darauf, sagte die erste Stimme. Vertraue auf deine Freunde. Ja, das war sicher vernünftig. Auch wenn es nicht wusste, wer die se Freunde – schon wieder so ein nie gehörter Begriff – sein sollten. Wenn sie deine Freunde wären, dann hätten sie dich schon lange befreit. Das war wieder die zweite Stimme. Dass sie das nicht vollbrachten, be deutet nur, dass du nicht auf sie zählen kannst. Auch diese Begründung schien absolut logisch zu sein. Doch Stim me Nummer zwei legte noch eins drauf. Und wer dich enttäuscht, verdient nicht, dass er weiterlebt! Wer dein Vertrauen missbraucht und dich quält, hat nur ein langsames, qualvolles Dahinsiechen im Seelenfeuer verdient. Das Seelenfeuer!
Oh ja, daran erinnerte es sich. Wenigstens ein Begriff, mit dem es etwas anfangen konnte. Dieses Feuer gehörte vor langer Zeit zu sei nen Favoriten, bis … Ja, bis was? Es grübelte weiter. Was geschah damals? Hatten die damaligen Ereignisse Einfluss auf das Heute? Und trugen sie vielleicht die Schuld an seinem grausamen Schick sal? Ich will zurück! Zurück in die Hölle! Es malte sich eine Rückkehr in den glänzendsten Farben aus. Es würde in seine Heimat zurückkehren, und seine Freunde würden jubeln. Sie würden ein riesiges Fest feiern, mit … Ja, womit eigentlich? Sei vorsichtig, du weißt nicht, was auf dich zukommt, warnte die erste Stimme. Warte zuerst, sieh nach, was geschieht, und handle dementspre chend. Das klang vernünftig. Pfeife auf die Vernunft! Stimme zwei gab keine Ruhe. Das Wesen schien in zwei Komponenten aufgespalten zu sein, von denen jede über es bestimmen wollte. Wenn du gleich mit harter Hand zuschlägst, dann gerätst du schnell wieder in eine solch erniedrigende, demütigende Lage … Dieser Logik konnte es sich nicht entziehen. Die zweite Stimme siegte über die erste. Der Wunsch nach Hass und Vergeltung wurde übermächtig. Es konnte und es wollte sich dem Statement der zweiten Stimme anschließen. Eine Bemerkung dieser Stimme hallte in ihm nach: Und wer dich enttäuscht, verdient nicht, dass er weiterlebt! Wer dein Vertrauen missbraucht und dich quält, hat nur ein langsames, qualvolles
Dahinsiechen im Seelenfeuer verdient. Genau das war es. Es verspürte einen Stoß, eine riesige Erschütterung. Gleichzeitig mussten gewaltige Energien auf seinen Verbannungsort einwirken. Das Wesen vibrierte. War die Befreiung nicht mehr weit? Konnte es sein, dass es bald frei war? Ich muss versuchen, meinen Befreiern entgegenzukommen! Und es setzte alle Energie in seine Gedanken, um das Gefängnis von innen heraus zu zerbrechen.
Was war das eben gewesen? Gwin hatte kurz die Ausstrahlung ei nes unglaublich mächtigen Wesens wahrgenommen. Aber gleich darauf war dieses Wesen zusammen mit Asmodis aus der Dimensi onsblase verschwunden. Gwin konnte sowohl Nicole und Diana sehen als auch die beiden Insassen der Blase, die sie geschaffen hatte. Nur Zamorra und Teri Rheken befanden sich noch in der Blase. Das erhöhte ihre Überlebenschancen, denn Asmodis konnte ihnen keinen Sauerstoff wegnehmen. Sie hatten nur den Vorrat in der knapp zehn Meter durchmessenden Blase zur Verfügung. Sollten sie nicht innerhalb einer bestimmten Frist aus der Dimensionsblase ent kommen, würden sie an Sauerstoffmangel ersticken. Das war kein sehr angenehmer Gedanke. Für Teri und Zamorra. Gwin hingegen war egal, was mit ihren Widersachern geschah. Hauptsache, es dauerte lange und war qualvoll. Sie hatte sich vor Überraschung auf die Unterlippe gebissen. Als sie das bemerkte, wischte sie sich mit der Hand darüber. Erstaunt sah sie, dass es sich um schwarz-rotes Blut handelte. Das kann nur mit der Metamorphose nach meinem Tod zusammenhän
gen! Sie wollte sich gerade in die Blase versetzen, als ein silberner Strahl aus dem Amulett direkt auf sie zukam. Der Strahl bahnte sich seinen Weg im Zeitlupentempo. Gwin konnte durch einen Teleport sprung schnell genug ausweichen. Sie tauchte hinter den beiden Frauen auf, doch es schien, als habe sich das Amulett eingeschossen. Ein erneuter Strahl kam auf die Dä monin zu, diesmal erheblich schneller. Sie versetzte sich in die Blase hinein. Dort wurde sie von Zamorra erwartet, der sie mittels Dhyar ramagie angriff. Um Teri Rheken und sich selbst nicht zu gefährden, musste er ex trem vorsichtig agieren, weshalb er dem Dhyarra nur gedrosselte Energie abverlangen durfte. Die Dämonin lachte über seine hilflosen Versuche. Ehe er sich auf sie eingestellt hatte, sprang sie mittels Teleport zur Seite. Dann ver änderte sie die Form der Dimensionsblase. Diese war nicht mehr rund, sondern sie wurde niedriger und bekam ein ovales Aussehen. Dann wieder beulte sich hier etwas ein, oder die Außenwand der Blase raste auf die Insassen zu. Zamorra musste sich alleine auf den Dhyarra und Gwin konzen trieren, was gar nicht so leicht war, wenn er die Illusion hatte, dass er von der elastischen Außenwand getroffen wurde. Teri versuchte, mittels ihrer Druidenkräfte einzugreifen, doch sie konnte Gwin nicht überwinden, obwohl die Frau aus der Hölle nicht mehr vollständig dämonisch war. Gwin ließ die Dimensionsblase schrumpfen, damit ihre Widersa cher früher ersticken sollten. Während ihr Gefängnis schrumpfte, versetzte sich die Dämonin wieder in die Gerichtsmedizin.
Nachdem sie dreimal vergeblich versucht hatte, Doktor Noir oder seinen Kollegen Vaillant telefonisch zu erreichen, fuhr Richterin
Regnier in die Pathologie. Gut, es war Samstagnachmittag, und Frankreich befand sich mit ten im Wochenende. Aber nach ihrem letzten Kenntnisstand sollten die beiden Herren den Leichnam des geheimnisvollen Merlin Am brosius obduzieren. Trotzdem hätte zumindest einer von beiden antworten müssen. Sie machte sich wegen der fehlenden Rückmeldung Sorgen. Aus diesem Grund fuhr sie mit ihrem Porsche Turbo zur Gerichtsmedi zin. Normalerweise zählte das nicht zu ihren Aufgaben, doch sie hatte ein eigenartiges Gefühl bei der Sache. Dieses Gefühl vergrößerte sich, je näher sie der Pathologie kam. Sie stellte ihren Porsche Turbo auf den dem Eingang nächstgelege nen Parkplatz. Richterin Michelle Regnier gehörte zu den Zeitgenos sen, die mit ihrem Auto zum nächsten Zigarettenautomaten gefah ren wären, oder sogar bis auf die Toilette – wenn sie gekonnt hätten. Es kam ihr auf den ersten Blick sonderbar vor, dass sich nur ein Auto auf dem Parkplatz befand, nämlich das des Pförtners. Der ant wortete bereitwillig auf ihre Frage, wo die Leute wären, dass die ge samte Belegschaft der Samstagschicht drei Stunden früher als ge plant heimgefahren wäre. Dies kam der Richterin mehr als seltsam vor. Sie eilte die Stufen zum Eingang hinauf. Die Zeit verging ihr unerträglich langsam, bis sie die Abteilung für tiefgekühlte Leichen erreichte. Hinter der Tür befanden sich Nicole und Diana. Sie hatten den to ten Merlin auf der Lade wieder zurück in die Schrankwand gescho ben. Gwin war verschwunden, sie kämpfte in der Dimensionsblase ge gen Zamorra und Teri Rheken. »Da ist jemand an der Tür«, zischte Diana. Sie versuchte, sich im nächsten Seitengang zu verstecken. Nicole folgte ihr, und als die Tür geöffnet wurde, konnten sie von dort aus nicht gesehen werden. Michelle Regnier blickte sich suchend um. Sie glaubte, Geräusche
gehört zu haben, war sich ihrer Sache aber nicht ganz sicher. Vielleicht liegt das nur an meiner Müdigkeit oder an der Überarbeitung, dachte sie. Diana suchte in ihrer Hosentasche nach einem Gegenstand, den sie werfen konnte. In Ermangelung von etwas Geeigneterem musste sie eine Euromünze verwenden. Sie warf die Münze auf den Hauptgang hinaus. Richterin Regnier hörte nur das Geräusch. Sie blickte auf das Geldstück und bückte sich, um es aufzuheben. Diesen Augenblick nutzte Diana. Sie verstand es, sich katzengleich leise anzuschleichen. Mit drei schnellen Sätzen war sie bei der Rich terin. Noch bevor Regnier wusste, was geschah, hatte Diana sie mit einer kurzen Bewegung außer Gefecht gesetzt. Sie fing die bewusst lose Frau auf, damit sie nicht auf den Boden aufprallte. Nicole öffne te den Reißverschluss ihres Overalls und hakte das Amulett an die silberne Halskette, damit sie die Hände frei hatte. Dann schloss sie den Reißverschluss wieder und half Diana, Regnier vorsichtig hin zulegen. »Was schätzt du, wie lange sie schlafen wird?«, fragte Nicole. Diana dachte kurz nach. »Sagen wir, eine halbe Stunde, plus zehn Minuten vielleicht«, ant wortete sie. »Das wird verdammt knapp.« »Im Zweifelsfall muss ich ihren Schlaf eben noch einmal verlän gern.« Nicole blickte auf. Sie wusste nicht, ob die Bemerkung ernst ge meint war. »Geht das?« »Selbstverständlich. Du musst nur wissen wie.« »Den Trick musst du mir unbedingt beibringen.« Beide Frauen zuckten zusammen, ein seltsames Gefühl durch
strömte sie, als würden sie unter Strom stehen. »Hast du das auch verspürt?«, fragte Diana. Sie stand in Abwehr position da. »Merlin! Das muss mit ihm zusammenhängen«, antwortete Nicole. Sie lief schnell zur Lade. »Was macht dich so sicher, dass es nicht diese dunkle Frau ist?« »In diesem Fall hätte Merlins Stern angezeigt, dass schwarzmagi sche Beeinflussung im Spiel ist«, sagte sie, obwohl sie nach den letz ten Aussetzern der Silberscheibe nicht sicher sein konnte. Die Frauen öffneten gemeinsam die Schrankwand. Der Zustand des toten Druiden hatte sich nicht verändert. Es waren noch nicht einmal Leichenflecken zu sehen, aber Merlin konnte selbst im Tod nicht mit normalen Wesen verglichen werden. Diana kniff die Augen zusammen, sie war nicht sicher, ob das stimmte, was sie sah. »Um ihn herum flimmert die Luft«, behauptete sie. »Siehst du das auch?« Nicole brauchte länger, um zu sehen, was ihre Freundin meinte. »Das ist … das kann nur der Kokon sein, von dem Assi sprach!«, stieß Nicole hervor. »Kokon?« Diana schüttelte den Kopf. »Das ist nicht so einfach zu erklären. Ich hab's ja selbst nicht ganz verstanden.« Das Flimmern bewegte sich kreisförmig über Merlin, bis es in ei ner Art Windhose endete. Nicole öffnete den Reißverschluss und holte das Amulett aus ihrem Overall heraus. Die flimmernde Wind hose bemerkte diese Bewegung. Sie setzte sich spiralförmig in Bewe gung, in Richtung auf Merlins Stern. Mit Diana wollte sie ersichtlich nichts zu tun haben. Vielleicht noch nicht. Nicole hielt unschlüssig das Amulett in der Hand. Es hatte keine
schwarzmagische Beeinflussung angezeigt, doch war sie nicht si cher, ob von dem spiralförmigen Etwas Gefahr drohte. In Sekundenschnelle hatte das Etwas Zamorras Gefährtin erreicht. Als es Merlins Stern berührte, durchzuckte die Französin ein Schlag. Sie versuchte krampfhaft, das Amulett festzuhalten, doch die frem de Gewalt war stärker. Die Silberscheibe fiel zu Boden, das spiralförmige Etwas drehte sich um das Amulett herum, als würde es einen Eingang suchen. In diesem Augenblick wurde die Dimensionsblase sichtbar. Diana und Nicole erkannten, dass die beiden Insassen nicht lange überle ben würden. Die Blase wurde schnell kleiner, bis sie einen Durch messer von nur noch zweieinhalb Metern besaß. Die Frauen waren zu Tode erschrocken. Sie überlegten verzweifelt, wie sie den beiden helfen konnten, aber es fiel ihnen nichts ein. Diana griff sich an den Hals. Ihr Medaillon begann zu glühen. Es war das erste Mal, dass so etwas geschah. Da erschien Gwin wieder und griff an.
Es geschah so schnell, dass sogar Asmodis überrascht wurde. Er hat te keine Zeit zur Gegenwehr gefunden, oder um einen Zauber zu weben. Auf einmal war dieses riesige Wesen vor ihm. Fast zeitgleich um gab beide ein rötliches Wabern und im selben Augenblick waren sie beide verschwunden. Das rötliche Wabern, das auf einen Energieschirm schließen ließ, flimmerte und verschwand kurz danach. Asmodis blickte sich um. Sie befanden sich auf einer fremden Welt. Unbekannte Sterne glitzerten am nächtlichen Himmel. Die Luft war eiskalt, und in der Ferne sah er schneebedeckte Gipfel. Er atmete tief ein und aus. Die Luft war atembar, also wollte man ihn nicht töten.
Zumindest noch nicht. Die Kälte konnte ihm nichts anhaben, er konnte sich mittels Magie davor schützen. »Was sollte diese Aktion bedeuten?«, fragte er seinen Entführer, und am Tonfall seiner Stimme konnte man hören, dass er wütend war. »Wer bist du?« Er konnte nicht im Gesicht seines Gegenübers lesen, wie es bei Menschen der Fall war. Es handelte sich um eine für ihn absolut fremdartige Wesenheit. ›Was ist mit Merlin passiert? Weshalb ist er tot? Und wer hat ihn getö tet?‹, lauteten die Fragen des Wächters anstelle einer Antwort. Asmodis machte mit den Händen vor seinem Brustkorb Kreisbe wegungen. Da ihm das eigenartige Wesen keine Antwort geben wollte, musste er es mit Magie versuchen. ›Lass es sein!‹, warnte ihn der Wächter. ›Du hast keine Chance gegen mich. Eine solche Handlung wäre überflüssig. Spare also deine Kraft.‹ Asmodis blickte ihn kühl an, er hatte gleich die unglaubliche Stär ke des Fremden gespürt. Er hielt die Hände trotzdem auf Brustkorb höhe. »Du hast mir noch nicht gesagt, weshalb ich hier bin.« ›Ich werde dir einige Fragen stellen.‹ »Toll, das hättest du auf der Erde einfacher haben können.« ›Wer weiß‹, lautete die Antwort des Wächters. »Ich höre …« ›Ich bin der Wächter der Schicksalswaage.‹ Es geschah nicht oft, dass Asmodis sprachlos war, aber dieser sel tene Fall trat jetzt ein. ›Dein Bruder Merlin war einer meiner Diener …‹ »Das ist mir ebenfalls bekannt.« ›Asmodis, wo ist dein Bruder Merlin?‹ Er glaubte, nicht richtig gehört zu haben.
»Was heißt das, wo ist mein Bruder. Hast du ihn nicht in diesem riesigen Saal gesehen?« ›Nur den Körper, nicht den Geist. Also, wo ist er?‹ Der ehemalige Fürst der Finsternis schnaubte vor Zorn. »Soll ich meines Bruders Hüter sein?« Der Wächter konnte mit der Antwort nichts anfangen. Er sendete Unverständnis aus. »Wir wissen noch nicht, was mit ihm geschah«, erklärte Asmodis voller Widerwillen. Ihm gefiel nicht, dass er von dem Wächter quasi verhört wurde. »Ich war gerade dabei, Untersuchungen durchzu führen, ehe du kamst.« ›Es ist eigenartig‹, erklärte der Wächter, ›aber ich spürte, dass sein Geist gefangen ist.‹ »Na prima«, sagte Asmodis lakonisch. »Da weißt du einiges mehr als ich.«
8. Staub zu Staub Die Dimensionsblase wurde sichtbar, und mit ihr die beiden Perso nen, die sich darin befanden. Diana und Nicole waren durch das un verhoffte Auftauchen so abgelenkt, dass sie ihre Umwelt nicht wei ter beachteten. Das spiralförmige Etwas drehte sich um Zamorras Amulett, gleichzeitig tauchte Gwin auf. Die Dämonin wirkte für wenige Se kunden verblüfft ob der seltsamen Konstellation. Die Gelegenheit ist günstig, um die beiden aus dem Weg zu räumen, so lange die Silberscheibe außer Gefecht gesetzt ist. Sie wob mit den Händen ein Zaubernetz, das für die beiden Frau en zum Verhängnis werden sollte. Dann ließ sie eine Energiesalve auf Diana und Nicole zurasen. Aus dem Amulett stoben silberne Blitze hervor und zerstörten die Energiesalve. »Was ist das?« Die Dämonin erstarrte vor Schreck. Währenddes sen liefen Nicole und Diana schnell zu Merlins Stern. Das Amulett baute den grünlich wabernden Schutzschirm wieder auf und hielt so Gwins Energie von ihnen fern. Der Saal besaß eine Höhe von knapp vier Metern. Zwei Wesen materialisierten aus dem Nichts, direkt hinter Diana und Nicole. Das eine Wesen war unbeschreiblich, niemand kannte es. Es hatte Asmo dis vor wenigen Minuten entführt. Sie vermochten nicht zu sagen, welche äußere Gestalt das Wesen besaß. Bei dem anderen Wesen handelte es sich um Asmodis. »Halte ein!«, rief der ehemalige Fürst der Finsternis. »Weshalb sollte ich? Ich bin so nah an meinem Ziel«, antwortete Gwin. »Und die beiden Personen in diesem Ballon?«
»Sie sind mein Faustpfand. Solange sie dort drin sind, seid ihr machtlos gegen mich.« »Da wäre ich mir nicht so sicher«, antwortete der Ex-Teufel. »Nichts als Worte«, höhnte Gwin. »Machtlose, harmlose, hilflose Worte.« »Glaubst du? Erkennst du mich nicht?« Die Dämonin blickte ihn forschend an. »Irgendwoher kenne ich dich, aber du musst dich sehr verändert haben.« »Du wolltest meinen Bruder töten.« Gwin streckte eine Hand aus. »Dann bist du Asmodis!« »Der bin ich«, sagte der ehemalige Fürst. »Dann weißt du, dass meine Rache gerecht ist.« »Das weiß ich wohl, doch bringst du Unschuldige damit in Ge fahr.« Während des Gesprächs zwischen Asmodis und Gwin kümmerte sich Diana um Merlin. Sie legte ihm das Amulett und, aus einer Ein gebung heraus, die sie sich selbst nicht erklären konnte, ihr Medail lon auf die Brust. Innerhalb von Sekunden stieg die Körpertempera tur des Königs der Druiden an. Dann geschah das Unfassbare: Er öffnete wieder die Augen, und in diesem Augenblick hörte das spiralförmige Etwas auf, sich um das Amulett zu drehen. Der Blick, den Merlin den Versammelten zuwarf, wirkte voller Staunen, wie bei einem kleinen Kind, wenn es etwas Faszinierendes sieht. »Befinde ich mich nicht mehr im Amulett?«, fragte er mit heiserer Stimme. »Wie viele Millionen Jahre habe ich dort drin zugebracht?« »Einen ganzen Tag«, antwortete Nicole. »Nicht länger?« Der Alte wollte es nicht glauben. »Nicht länger!«, sagte sie kühl. »Wichtiger ist jetzt, dass Zamorra
und Teri aus diesem komischen Ballon geholt werden.« »Auf keinen Fall. Ich lasse mein Faustpfand nicht gehen.« Merlin gab das Medaillon an Diana weiter und setzte sich auf. Er hielt das Amulett in einer Hand und winkte Nicole herbei. Dann drückte er ihr die Silberscheibe in die Hand. Für Duval war das wie ein Zeichen, Merlins Stern gegen die Dimensionsblase einzusetzen. Gwin versuchte noch, die Blase in die Höhe steigen zu lassen und sie wieder in die andere Dimension zu versetzen, doch das Amulett war schneller. Ein silberner Strahl schoss auf die Dimensionsblase zu und um hüllte sie. Dann ging ein Riss durch das magische Gebilde, und Za morra und Teri Rheken stürzten aus einer Höhe von knapp zwei Metern hinunter. Teri verstauchte sich dabei das Fußgelenk und Zamorra prellte sich einen Unterarm. Gwin wusste, dass sie verloren hatte. Der Gigant im Hintergrund hielt sich zwar aus allem heraus, aber Asmodis und das Amulett ge meinsam waren stärker als sie. Mit stockender Stimme erzählte sie eine Geschichte aus uralter Zeit.
Erinnerungen Nachdem Myrddhin sein tödliches Werk vollbracht hatte, kehrte er der Hölle den Rücken. Er würde nie wieder zurückkommen. Er leb te von nun ab nur noch unter dem Namen Merlin, wanderte durch die Welt und traf die Drei Schwestern des Schicksals, jene Nornen am Urdbrunnen, die die Schicksalsfäden webten. Zu jener Zeit hatte er sehr viel vergessen, was seine Vergangenheit
in der Hölle betraf. Alles lag wie dunkle, verdrängte, verkapselte Schatten hinter ihm. Erinnerungen, die nicht an die Oberfläche ge langen durften. Erinnerungen aber auch an eine dunkle Zeit, die nicht mehr gültig war. Er hatte es so gewollt, denn für ihn galt nur der neue Anfang, sein neues Leben. An Gwinniss dachte er nicht mehr, er hatte mit seiner Magie dafür gesorgt, dass sie aus dem wenigen seiner Erinnerung an die Hölle entfernt wurde. Erst in den letzten Wochen dachte er wieder an sie, doch er konnte nicht sagen, warum. Nach der Ermordung von Gwinniss floh Myrddhin regelrecht in sein neues Leben hinein. So bekam er auch nicht mit, dass einige von Gwinniss' Irrwischen, höllische Hilfsgeister, das Feuer löschten, mit dem Myrddhin die Dämonin verbrannte. Die Irrwische trugen die Überreste ihrer Herrin zusammen, und sie versuchten, sie wieder zum Leben zu erwecken. Ein Unterfan gen, das unter normalen Umständen unmöglich erscheint. In diesem Fall war das nicht anders. Trotz aller Bemühungen der Irrwische verfielen die sterblichen Überreste immer mehr. »Es hat keinen Zweck«, jammerte einer von ihnen. »Was sollen wir nur tun?« »Da ist doch noch Leben in ihr«, behauptete ein anderer. »Nicht nur im Körper, sondern auch in ihren Gedanken.« »Woher willst du das wissen?« »Spürst du es nicht?« Und die Irrwische brachten alles, was von der mächtigen Dämonin übrig war, in eine Höhle, einen der instabilen Bereiche der Hölle. Dann pressten sie sich eng zusammen und versuchten, mit dem bisschen Magie, das ihnen zu Eigen war, auf Gwinniss' Überreste einzuwirken und sie zu umhüllen. Der Plan der Irrwische gelang, doch hatten sie nicht bedacht, dass sie dabei sterben mussten, und dass ihre Magie auf das kümmerli
che Etwas überging, das von Gwinniss übrig blieb. Als sie ihre wiedererwachende Kraft fühlte, lockte sie andere hölli sche Hilfskräfte heran, um sich auch deren Lebenskraft einzuverlei ben. Und so wuchs auch ihr Körper wieder heran, jedoch war sie anfäl liger als früher. Sie wollte es nur nicht wahrhaben. Da es sich um einen externen Ort in der Hölle handelte, an dem sie einigermaßen geschützt war, wuchs die Dämonin so wieder heran, doch dauerte dies unendlich lange. Viele tausend Jahre, eine Zeit spanne, die ein Mensch normalerweise nicht überblicken kann. Seit wenigen Monaten erst befand sie sich wieder im Besitz ihrer früheren Kräfte, seitdem versuchte sie einen Weg zu finden, Merlin zu vernichten. Da sie sich nur noch als einen Teil ihres früheren Ichs empfand, nannte sie sich nur noch Gwin. Die alte Gwinniss existier te nicht mehr für sie. Doch hatte sie sich verändert, nicht nur geistig, sondern auch kör perlich: sie besaß nicht mehr nur schwarzes Blut, wie alle Höllenbe wohner. Das war einer der Gründe, weshalb Merlins Stern Schwie rigkeiten hatte, sie einzuordnen.
»Nun wisst ihr, weshalb ich jedes Recht des Multiversums hatte, mich an Myrddhin, oder Merlin, wie ihr ihn nennt, zu rächen.« Gwins Blick fiel auf den unheimlichen Fremden. »Hilf mir«, befahl sie dem Wächter. ›Ich darf nicht, denn es ist mir verboten‹, lautete seine Antwort. ›lch helfe weder dir noch den anderen. Ich kann dir nur anbieten, dass du mich begleitest. Auf meiner Welt kann ich dir Schutz versprechen.‹ »Das ist unannehmbar für mich. Ich muss meine Rache durchfüh ren. Wenn ich das nicht kann, hat mein Leben keinen Sinn«, fauchte sie. Eine unnatürliche Ruhe durchzog die Dämonin. Sie wusste, was
sie zu tun hatte. Ihr blieb nur ein Ausweg, wollte sie das Gesicht be wahren. Sie richtete sich auf und streckte die Arme aus. Ihr Körper zerbrö ckelte regelrecht von außen nach innen. Vor den Augen der Anwe senden zerfiel sie zu grauem Staub. Dieser Prozeß dauerte nur wenige Sekunden. Ein Fenster ging auf, und das, ohne dass es jemand geöffnet hätte. Wie auf ein geheimes Signal kam in diesem Augenblick Wind auf. Er erfasste die feine Substanz und wirbelte sie blitzschnell davon. ›lch sterbe vor Gram! Und ich bin stolz darauf!‹, zischte sie telepa thisch. Das war das Letzte, was sie von Gwin hörten. Obwohl diese Gefahr vorbei war, konnte Zamorra sich nicht dar über freuen. Er blickte Nicole an und fühlte dabei, dass sie ebenso empfand. Wo Zamorra die Chance hatte, gegen Dämonen zu kämpfen, ver suchte er alles, das Höllengezücht zu vernichten. Dies war eines der ganz wenigen Male, dass er Mitgefühl und Verständnis für ein sol ches Wesen hatte, auch wenn er einer der Leidtragenden war. Er hätte nicht gedacht, dass Merlin einer Vertrauten gegenüber so falsch sein konnte. Aber vielleicht erklärte das zum Teil auch sein Verhalten. Der Alte hatte während und nach Gwins Bericht keinen Ton von sich gegeben. Er hatte es noch nicht einmal gewagt, seine frühere Gefährtin anzusehen. Er machte nur seinem Bruder später Vorhaltungen, dass er durch seine Versuche, ihn in der Pathologie aufzuwecken, versucht hätte, ihn umzubringen. »Du bist mein Mörder«, hielt er ihm vor. Und dann behauptete er noch: »Dieses Medaillon aus der Vergangenheit war meine Ret tung.« Zamorra dachte an Gwin. Sie hatte letztlich keine Chance gehabt, ihre Rache durchzuführen. Wie lauteten ihre letzten Worte?
›lch sterbe vor Gram! Und ich bin stolz darauf!‹ Zamorra nickte, er verstand es sehr gut, und in diesem unfassba ren Augenblick fühlte er es sogar! Im Tiefkühlsaal der Pathologie war es längst schon wieder ruhig. Alle vorher so aktiven Personen hatten sich entfernt. Asmodis ver schwand mit Zamorra per Teleport, Teri nahm Nicole und Diana wieder mit einem zeitlosen Schritt mit nach Château Montagne. Und der Wächter der Schicksalswaage reiste wieder auf seine viele Lichtjahre entfernte Welt. Nachdem er sich überzeugt hatte, dass Merlin doch lebte, sah er keinen Grund mehr, länger auf dem Plane ten dieser seltsamen Menschen zu verweilen. Merlin ließen sie zu rück. Er sollte der Richterin beweisen, dass er nur scheintot gewesen war. Danach konnte er sich per Teleport entfernen. Richterin Regnier erwachte, kurz nachdem die letzten Personen den Saal verlassen hatten. Diana hatte sie vorher nur schnell hinter dem Ohr berührt, aber das langte bei einer so erfahrenen Kämpferin, um den Gegner für längere Zeit auszuschalten. Das offene Fenster klappte durch den Luftzug öfters auf und zu. Das Geräusch und der Wind brachten die Richterin schneller wieder zur Besinnung. Sie rieb sich den schmerzenden Nacken mit den Händen und be wegte den Kopf hin und her. »Aaah«, stöhnte sie. »Was war das gewesen? Wie ein Schatten, der auf mich zusprang.« Leider konnte sie die Person nicht erkennen, der sie die Bewusstlo sigkeit verdankte. Bei einem Blick zur Seite sah sie, dass eine der Laden offen war, in denen die Toten lagen. Eine Gestalt stand direkt vor ihr. Regniers Blick wanderte an einer kapuzenlosen weißen Kutte aufwärts. Ihre Augen wechselten ständig von dem Mann zur Lade und zurück. »Ambrosius?«, stammelte sie. »Merlin Ambrosius?« »Der bin ich«, bekräftigte der alte Zauberer. »Was tue ich hier?«
»Sie waren tot.« Michelle Regnier sagte die Worte, dann erst be merkte sie, dass unmöglich war, was sie ihm antwortete. »Ich lag hier in diesem sargähnlichen Ding«, beschwerte Merlin sich. »Sie sind in der Gerichtsmedizin«, erklärte Regnier. »Da ist das so.« Das gibt's doch nicht, dachte sie. Das ist doch unmöglich! Ich glaube, ich flippe gleich aus. Sie beruhigte sich dann doch schneller, als sie dachte. Sie rief die Ärzte Vaillant und Noir, damit sie den alten Mann untersuchen soll ten. Ein dritter Arzt gesellte sich hinzu, den keiner der anderen kannte. Er stellte sich vor: »Mein Name ist Amos. Doktor Sid Amos. Ge richtsmediziner.« Niemand fragte, woher der Arzt kam. Es schien, als habe Doktor Amos die Menschen hypnotisiert. Die voneinander unabhängige Diagnose der drei Herren lautete: Scheintod. Weshalb Merlin einen ganzen Tag tiefgekühlt überlebte, fragte nie mand. Kraft seiner Magie und der von Doktor Amos sorgten sie da für, dass die Ärzte und die Richterin die Frage vergaßen. Seltsam war nur, dass Merlin Ambrosius gleich nach dieser Diagnose ver schwand. Niemand sah, wie er das vollbrachte. Noch seltsamer war, dass auch Doktor Amos mit verschwunden war. Dass es sich bei ihm um Merlins Bruder Asmodis handelte, er fuhr niemand. Michelle Regnier musste die Anklage gegen Zamorra wegen ver suchten Mordes fallen lassen. Das machte ihr nichts aus. Was ihr mehr zu schaffen machte, war die Tatsache, dass Nicole Duval mehr als einmal anrief und das Amulett zurückverlangte. Unter dem Fenster lag eine weißliche Substanz, die vom Wind hin ausgewirbelt wurde. Binnen kurzer Zeit befand sich nichts mehr da
von im Saal. »Was ist das?«, fragte Richterin Regnier. Noir und Vaillant blickten sich an. »Asche«, antwortete Noir, und sein Kollege nickte beistimmend. Michelle Regnier musste sich damit zufrieden geben. Aber wo sollte hier Asche herkommen? Ein absurder Gedanke.
Ausklang
Sonntag, 27. April 2003, spätabends Gedämpfte Musik klang aus einem Radio. Zamorra und Asmodis saßen am Ufer der Loire. Einige Meter hinter ihnen feierten ihre Freunde ein Grillfest. Die Stimmung war gedämpft, aber nach eini gen Flaschen Rotwein würde sich das ändern. Sie hatten einen Grill aufgebaut und sowohl alkoholische als auch nichtalkoholische Getränke mitgenommen. Selbst Lady Patricia, ihr Sohn Rhett und Fooly, der Jungdrache, waren hergekommen. Pierre Robin und Diana schmusten im Gras, bis sie von Nicole und Teri gestört wurden. »Die Zeit verging so langsam für Merlin, weil während seines Auf enthalts im Amulett die Zeitschau benutzt wurde«, erklärte Asmo dis. »Das ergab dann eine Art Rückkopplung, denn Merlins Stern funktionierte von da an noch schlechter als sonst.« Im Hintergrund spielte das Lied »I WANT IT ALL« von der Grup pe Queen. Zamorra hörte den Refrain, er wollte ihm nicht mehr aus dem Sinn gehen. »I want it all, I want it all, I want it all, And I want it now!« »Ich will alles, und ich will es jetzt!« Wahrscheinlich war das Gwins Fehler gewesen. Mit etwas mehr Geduld hätte sie ihr Ziel ga rantiert erreicht. Zamorra war sich im Klaren darüber, dass das eine
Katastrophe gewesen wäre. Merlin war als Diener des Wächters der Schicksalswaage nicht zu ersetzen. Zamorras Gesicht blieb ausdruckslos, er sah seine Freunde in die sen Augenblicken nicht. Seine Gedanken waren weit entfernt. Er konnte sich noch nicht freuen, zu sehr hatte ihn Gwins Geschichte gefesselt. Normalerweise stand er auf der anderen Seite, doch die Dämonin hatte etwas in ihm geweckt, das er selbst noch nicht kann te. Mitgefühl mit einer Höllenkreatur? So konnte man es nicht ganz nen nen. Oder eher eine Abneigung gegen Merlin? Zamorra trank gedankenverloren einen Schluck Rotwein. Viele tausend Jahre – für nichts!, dachte er. So viele umsonst gelebte Jahre der Hoffnung, den Peiniger zu erwischen. »Aber selbst zehntausend Jahre und mehr sind nicht mehr als eine Sekunde in der Geschichte des Multiversums«, sagte Asmodis, als habe er seine Gedanken erraten. Zamorra blickte auf. Er lächelte. »Du erstaunst mich«, bekannte er. »Solltest du menschliche Sensi bilität besitzen?« »Wer weiß«, antwortete der uralte Ex-Teufel. »Vielleicht mehr als manche, die sich selbst als Mensch bezeichnen. Vielleicht aber auch nicht.« Zamorra nahm erneut einen Schluck. Er blickte auf die still dahin plätschernde Loire; Lichter brachen sich in der Dunkelheit darin. Es war schon paradox: Der Frühling hatte Einzug gehalten, alles stand in voller Blüte. Die Menschen erfreuten sich der wieder erwa chenden Natur, und er hegte melancholische Gedanken, anstatt sich seines Lebens zu erfreuen. »Wofür hat sie überlebt?«, stieß er hervor. »Für den kurzen Au genblick ihrer Rache?« Asmodis wandte sich zu ihm um. »Wer kann das beantworten? Vielleicht hat sie nur überlebt, um
uns zu zeigen, wie klein wir manchmal sind.«