Deutscher Studienpreis (Hrsg.) Mittelpunkt Mensch
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Mittelpunkt Mensch Leitbilder, Mode...
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Deutscher Studienpreis (Hrsg.) Mittelpunkt Mensch
Deutscher Studienpreis (Hrsg.)
Mittelpunkt Mensch Leitbilder, Modelle und Ideen für die Vereinbarkeit von Arbeit und Leben
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
. 1. Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008 Lektorat: Katrin Emmerich / Sabine Schöller VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15716-0
Inhalt Inhalt
Editorial ................................................................................................................ 7 Vorwort................................................................................................................. 9 Leitbilder: Von alten und neuen Arbeitswelten Bianca Koczan Bekleidungsvverk. Mode vermittelt Arbeit........................................................ 15 Michael Knoll „Der Fahrer ist das letzte Glied in der Kette.“ Ergebnisse einer empirischen Studie zum beruflichen Umgang mit Gefährdung am Beispiel der Fernfahrer .. 35 Jakob Schillinger Junge Kulturproduktion – Selbstverwirklichung und Arbeit in Berlin-Mitte .... 61 Modelle: Für eine andere Arbeitsgesellschaft Andreas Knabe und Steffen Rätzel Wie zufrieden macht die Arbeit? Eine neue Quantifizierung der nicht pekuniären Kosten der Arbeitslosigkeit .................................................... 95 Martin Ehlert und Martin Schröder Wenn der Wohlfahrtsstaat die Wohlfahrt mindert. Das deutsche Sozialsystem aus dem Blickwinkel der Zufriedenheitsmaximierung .............. 117 Uta Hanft Hauptsache Arbeit? Hauptsache Freie Zeit! Die Idee der Freien Zeitversicherung oder wie sich durch ein neues Anreizsystem die „Arbeitslosigkeit abschaffen“ ließe.................................................................. 135 Christian Dries Arbeit revisited. Das 2x2-Komponenten-Modell für die Tätigkeitsgesellschaft des 21. Jahrhunderts...................................................... 161
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Inhalt
Ideen: Zur Vereinbarkeit von Arbeit und Leben Axel Bohmeyer Arbeitssucht und Anerkennung. Versuch einer gnadentheologischen Heuristik ........................................................................................................... 189 Tim Heemsoth und Christopher Wratil Diagnose Grenznutzen – Die Vereinbarkeit von Arbeit und Leben aus ökonomischer Perspektive am Beispiel der Klinikärzte................................... 203 Thilo Gamber und Mikko Börkircher Vereinbarkeit von Familien- und Berufsleben bei der Gestaltung flexibler Arbeitszeiten. Agentenbasierter Ansatz zur Modellierung und Simulation persönlicher Präferenzen, beispielhaft aufgezeigt am Krankenhausbetrieb..... 227 Ausblick Thomas Straubhaar Mittelpunkt Mensch – Hauptsache Arbeit. Zum Verhältnis von Arbeit, Mensch und Markt............................................................................................ 251 Die Autorinnen und Autoren ............................................................................. 257
Editorial
Studienmodule, credit points und Pflichtpraktika – die umstrittene BolognaReform hat den Studienalltag an deutschen Hochschulen in kürzester Zeit grundlegend verändert. Angesichts immer straffer organisierter Studiengänge beschäftigt die berühmte Frage nach der Vereinbarkeit von Arbeit und Leben nicht nur Berufstätige. Sie stellt sich mittlerweile bereits den Studierenden, die Studium, Nebenjobs und Praktika sowie Privat- und möglicherweise schon Familienleben unter einen Hut bringen müssen. Für extracurriculare Unternehmungen bleibt folglich immer weniger Zeit. Umso erfreulicher ist es, dass sich im vergangenen Jahr dennoch knapp 500 junge Forscherinnen und Forscher mit rund 400 Beiträgen an der siebten Ausschreibung des Deutschen Studienpreises beteiligt haben. Mit ihrem Forschungswettbewerb ruft die Körber-Stiftung jährlich Nachwuchswissenschaftler aller Fachrichtungen dazu auf, eigene Forschungsprojekte zu aktuellen und gesellschaftlich relevanten Themen zu entwickeln und der kritischen Begutachtung durch die Studienpreis-Juroren vorzulegen. Seit Gründung des Wettbewerbs im Jahr 1996 sind insgesamt 3.500 Teilnehmer dieser Aufforderung gefolgt und haben rund 2.600 Beiträge erstellt – häufig jenseits der traditionellen Fächergrenzen, in interdisziplinär zusammengesetzten Teams und immer mit dem Bewertungskriterium der Verständlichkeit im Blick. Unter der Fragestellung „Mittelpunkt Mensch?“ haben die Teilnehmer der Wettbewerbsrunde 2007 Leitbilder, Modelle und Ideen für die Vereinbarkeit von Arbeit und Leben entwickelt. Der vorliegende Band versammelt die zehn Beiträge, die schließlich im Rahmen einer öffentlichen Tagung in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften mit einem Spitzenpreis ausgezeichnet wurden. Auf engagierte und scharfsinnige Weise haben sich die Studienpreisträger ganz unterschiedlicher Themen angenommen: Sie analysieren die psychischen Folgen von Arbeitslosigkeit und befassen sich mit der zunehmenden Entgrenzung von Arbeit und Leben, sie identifizieren Defizite des deutschen Wohlfahrtsstaats und entwerfen Alternativen zur gegenwärtigen Arbeitsgesellschaft, sie präsentieren innovative Verfahren der Arbeitszeitgestaltung ebenso wie eine Neuinterpretation des Themas Arbeitsbekleidung. Das tun sie mit der gebotenen wissenschaftlichen Tiefenschärfe, ohne jedoch an geeigneter Stelle zu zögern, auch politische Bewertungen und pragmatische Handlungsvorschläge abzugeben.
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Editorial
Der vorliegende Band präsentiert nicht nur die Wettbewerbsbeiträge in überarbeiteter Form. Er belegt auch, dass der Studienpreis mehr ist als ein Wettbewerb: nämlich Plattform und Kontaktbörse für junge Forscher, die quer durch die Republik zusammengearbeitet und in zahlreichen fächerübergreifenden Debatten das Konzept für dieses Buch gemeinsam entwickelt haben. Bei der hoffentlich anregenden und informativen Lektüre des Ergebnisses wünschen wir Ihnen viel Vergnügen! Julia André und Matthias Mayer Körber-Stiftung Deutscher Studienpreis
Vorwort Michael Knoll, Martin Schröder, Thilo Gamber und Martin Ehlert
Dieser Sammelband stellt Forschungsarbeiten junger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vor, die mit dem Deutschen Studienpreis 2007 ausgezeichnet wurden. Mit der Ausschreibung zum Thema „Mittelpunkt Mensch? Leitbilder, Modelle und Ideen für die Vereinbarkeit von Arbeit und Leben“ endete ein dreiteiliger Wettbewerbszyklus. Von 2005 bis 2007 hatte die Körber-Stiftung den Deutschen Studienpreis zu der Frage ausgeschrieben, welche Rolle Arbeit im menschlichen Leben spielen muss und soll. Wie schon zu den beiden vorangegangenen Ausschreibungen „Mythos Markt?“ (2005) und „Ausweg Wachstum?“ (2006) liegen hiermit auch die Arbeiten der Preisträger von 2007 in Form eines Sammelbandes im VS-Verlag vor. Die präsentierten Beiträge stellen die besten zehn von insgesamt rund 400 eingereichten Arbeiten dar. Die Autoren und Autorinnen hinterfragen bestehende Leitbilder kritisch und bieten ungewöhnliche Perspektiven aus den Bereichen Kunst, Ökonomie, Psychologie, Theologie und aus den Ingenieur- und Sozialwissenschaften an. Der erste Teil des Bandes – Leitbilder: Von alten und neuen Arbeitswelten – thematisiert die Schwierigkeit, Arbeit als Leitbild für den Menschen im 21. Jahrhundert zu fassen. In ihrem Beitrag „Bekleidungsvverk“ erteilt Bianca Koczan der Idee eines einzigen kohärenten Leitbilds für Arbeit eine Absage. Stattdessen präsentiert sie das gleichzeitige Bestehen unterschiedlicher Konzepte, Vorstellungen und Assoziationen, die den Arbeitsbegriff im 21. Jahrhundert prägen. Die Überlegungen von Bianca Koczan ergeben sich aus ihrer konkreten gestalterischen Auseinandersetzung mit dem Thema Arbeitsbekleidung. Michael Knoll dagegen hat in seinem Beitrag die Erkenntnisse aus einer empirischen Interviewstudie verarbeitet. In seinem Beitrag „Der Fahrer ist das letzte Glied in der Kette“ stellt er am Beispiel der Fernfahrer dar, wie das subjektive Verhältnis zur Arbeit in der Form des schon überwunden geglaubten Konzepts „Beruf“ einen wichtigen Beitrag zur Konstitution von Identität leisten kann. Er kann zeigen, dass bei Fernfahrern nicht selten eine emotionale Identifikation mit ihrer Tätigkeit als „Berufung“ anzutreffen ist, die nicht ohne Gefahren bleibt. Eine ganz neue Arbeits- und Lebenswelt untersucht Jakob Schillinger. In seinem Beitrag „Junge Kulturproduktion“ – einer Studie zur popkulturellen Szene in Berlin-Mitte – zeigt er auf, wie neue Konfigurationen der Vereinbarkeit
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Michael Knoll, Martin Schröder, Thilo Gamber und Martin Ehlert
von Arbeit und Leben entwickelt und wahrgenommen werden. In seiner ethnographischen Untersuchung beschäftigt sich Schillinger mit der Lebenswelt sogenannter Opinionleader, die aufgrund ihrer Stellung in der Szene der Hauptstadt von großen Bekleidungsfirmen dafür bezahlt werden, ihre Kleidung in Clubs und als Privatpersonen zur Schau zu tragen. Unter dem Titel Modelle: Für eine andere Arbeitsgesellschaft sind im zweiten Teil des Bandes die Beiträge derjenigen Studienpreisträger versammelt, die auf verschiedene Art und Weise Alternativentwürfe für das Verständnis von Arbeit in der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts entwickelt haben. Andreas Knabe und Steffen Rätzel nähern sich dieser Thematik von der ökonomischen Seite. In ihrem Beitrag „Wie zufrieden macht die Arbeit?“ stellen sie dar, welche Auswirkungen es auf die Mitglieder der Gesellschaft hat, wenn sie als Arbeitslose vom Erwerbsleben ausgeschlossen sind. Die individuelle Lebenszufriedenheit, das können sie anhand eines neu entwickelten statistischen Modells zeigen, sinkt durch den Verlust des Jobs so stark, dass nur hohe Transfersummen diesen Verlust theoretisch ausgleichen können. Was dieses Ergebnis für die Bewertung bestehender Sozialpolitik bedeutet, dieser Frage gehen Martin Ehlert und Martin Schröder in ihrem Beitrag „Wenn der Wohlfahrtsstaat die Wohlfahrt mindert“ nach. Sie argumentieren, dass die Lebenszufriedenheitsforschung die Möglichkeit bietet, Sozialpolitik aus einer neuen Perspektive zu betrachten. Sie zeigen, dass der deutsche Wohlfahrtsstaat in seiner derzeitigen Verfasstheit die Lebenszufriedenheit seiner Bürger in bestimmten Bereichen eher verringert als erhöht. Gleichzeitig skizzieren sie mögliche Reformen, welche dieses Problem angehen. Eine Reform auf einem sehr konkreten Feld schlägt Uta Hanft mit ihrem radikalen Modell einer neuen Sozialversicherung vor. Der Kernpunkt ihres Beitrags „Hauptsache Arbeit? Hauptsache Freie Zeit!“ ist, dass die Bürger in dieser neuen Versicherung frei über die Höhe der Ein- und Auszahlungen ihrer Sozialversicherungsbeiträge verfügen können. Sie argumentiert, dass eine solche Umgestaltung zu mehr Entscheidungsfreiheit bei der Vereinbarung von Arbeit und Leben führt. Für eine Reform des Sozialstaates plädiert auch Christian Dries in seinem Beitrag „Arbeit revisited“. Neue Wege in der Sozialversicherung sind für ihn nur ein Teil seines 2x2-Komponenten-Modells für die Tätigkeitsgesellschaft des 21. Jahrhunderts. Neben konkreten Maßnahmen wie der Einführung eines Grundeinkommens erscheint ihm ein Umdenken in der Gesellschaft hinsichtlich der kulturellen Bewertung von Arbeit unerlässlich. Nur wenn das heutige Konzept von „Arbeit“ zur eher an Selbstverwirklichung orientierten „Tätigkeit“ wird, kann seiner Meinung nach die Krise der Arbeitsgesellschaft überwunden werden.
Vorwort
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Im dritten Teil des Bandes sind unter dem Titel Ideen: Zur Vereinbarkeit von Arbeit und Leben Ansätze versammelt, die Lösungsvorschläge für ganz konkrete gesellschaftliche Problemstellungen anbieten. In seinem Beitrag „Arbeitssucht und Anerkennung“ erläutert Axel Bohmeyer, dass das gesellschaftlich häufig geduldete und unterschätzte Phänomen der Arbeitssucht Folge eines Anerkennungsdefizits ist. Der Theologe kritisiert die allgemeine Fokussierung auf Arbeit als Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe und plädiert für eine Orientierung an der christlichen Gnadentheorie als Modell für Anerkennung. Was ist das eigentliche Ziel bei dem oft vergeblichen Versuch, Arbeit und Leben miteinander zu vereinbaren? Ausgehend von dieser Frage haben Tim Heemsoth und Christopher Wratil ein Modell entwickelt, mit dem sich veranschaulichen lässt, wie ein Mensch seine Lebenszeit auf Beruf einerseits und Privatleben andererseits verteilen kann, um seine individuellen Bedürfnisse optimal zu befriedigen. In ihrem Beitrag „Diagnose Grenznutzen“ kombinieren sie dieses abstrakte Modell mit empirischen Erkenntnissen aus der Befragung von Klinikärzten, die sich mit besonders hohen Schwierigkeiten konfrontiert sehen, Arbeit und Privatleben zu kombinieren. Für diese Berufsgruppe haben Thilo Gamber und Mikko Börkircher einen konkreten Lösungsvorschlag für die bessere Balance von Arbeit und Leben vorgelegt. In ihrem Beitrag „Vereinbarkeit von Familien- und Berufsleben bei der Gestaltung flexibler Arbeitszeiten“ stellen sie ein neuartiges Verfahren vor, das individuelle Mitarbeiterpräferenzen bei der Arbeitszeitgestaltung für das ärztliche und pflegerische Krankenhauspersonal miteinander in Einklang bringen soll. Die Modellierung des Krankenhausbetriebs in einem agentenbasierten Simulationsverfahren ermöglicht es ihnen, die Auswirkungen unterschiedlicher Einsatzzeiten zu vergleichen und so sowohl betriebliche Abläufe als auch Arbeitsbedingungen zu optimieren. Den Abschluss des Bandes stellt ein Beitrag von Thomas Straubhaar dar, den der Studienpreis-Kurator anlässlich der Preisverleihung des Deutschen Studienpreises 2007 verfasst hat. In seiner Stellungnahme „Mittelpunkt Mensch – Hauptsache Arbeit. Zum Verhältnis von Arbeit, Mensch und Markt“ ruft der Vorsitzende des Instituts für Weltwirtschaft ins Gedächtnis, dass sich eine Auseinandersetzung mit dem Thema Arbeit globalen Makrotrends nicht verweigern darf. Straubhaar erläutert die Bedeutung von Bildung und Löhnen, von Einkommen und Steuern und plädiert vehement für die Einführung eines Grundeinkommens. Dieser Sammelband wäre ohne das Engagement und die Unterstützung der Körber-Stiftung und des Studienpreis-Teams nicht realisierbar gewesen. Die Preisträger bedanken sich insbesondere bei Julia André und Matthias Mayer für die Unterstützung und Betreuung während des gesamten Prozesses rund um den Deutschen Studienpreis 2007.
Leitbilder: Von alten und neuen Arbeitswelten
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Michael Knoll, Martin Schröder, Thilo Gamber und Martin Ehlert
Bekleidungsvverk. Mode vermittelt Arbeit
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Bekleidungsvverk. Mode vermittelt Arbeit Bianca Koczan
Arbeit ist eines der großen Themen unserer Zeit, eine emotionsgeladene Diskussionsgrundlage. Der Arbeitsbegriff ist dabei, sich grundlegend zu verändern. Arbeit bewegt sich und ist auch deshalb bewegend. Ich habe mich dem Thema aus dem Blickwinkel der Mode genähert. „Bekleidungsvverk“ ist ein Projekt (meine Diplomarbeit), bei dem ich eine Zeitung, eine Modekollektion und ein Label- oder auch Geschäftsmodell zum Thema Arbeit gestaltet habe. Die Zeitung stellt den schriftlichen Teil des Diploms dar, sie ist eine temporäre Standortbestimmung. Das Thema Arbeit ist zentral und wird mit verschiedenen für mich relevanten Themen in Bezug gesetzt. Es entsteht ein aktueller Hintergrund, vor dem sich die Kollektion verdinglicht. Nicht alle Gedanken sollen in die Kollektion einfließen, aber möglichst viele Inspirationsquellen durchdacht verarbeitet werden. Die Kollektion ist der praktische Teil, sie besteht aus drei Komponenten: der Kollektion „Grau“, der Kollektion „Print“ und einem Accessoireteil. Die offensichtliche „Arbeits“-Ästhetik habe ich erzeugt, indem ich verschiedene Inspirationspuzzleteile ausgewählt und zusammengefügt habe. Neben theoretischen Texten finden sich bildhaft-optische Einflüsse. Des Weiteren war die theoretische Recherche Grundstein für die Idee, nicht nur eine Kollektion zu gestalten, sondern dieser Kollektion zusätzlich ein Geschäftsmodell auf den Leib zu schneidern. In diesem Text gebe ich einen Überblick über das Projekt „Bekleidungsvverk“. Ausgehend von der Zeitung1 werde ich darlegen, an welcher Stelle sich Bild oder Text der Zeitung direkt in der Bekleidung und dem Geschäftskonzept als Inspiration wiederfinden. Ich werde zuerst und verstärkt auf die schriftlich-theoretischen Einflüsse eingehen und später verkürzt ausgewählte bildhaft-optische Zitate erläutern. Im Laufe dieser Betrachtungen gehe ich gezielt auf die Kollektion und das Geschäftsmodell ein, werde aber auch Bezugspunkte zum Thema der Ausschreibung aufzeigen. 1
Zu finden unter http://media.nmm.de/06/bekleidungswerk_16188606.pdf
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Schriftlich-theoretische Einflüsse
Eine Modekollektion und ein Labelkonzept zum Thema Arbeit, das heißt, Mode als Medium bespricht Arbeit als Thema. 1.1 Arbeit als Thema für das Medium Mode 1.1.1 Eigenschaften von Arbeit Luxus Aktuell ist Arbeit ein gesellschaftliches Phänomen, das leider durch Abwesenheit glänzt. Sie ist rar und scheint zu einer Art Luxus zu werden. Als das arbeiten zu können, was man möchte, und davon leben zu können, ist Luxus. Es könnte in diesem Sinne also wieder schmückend sein, sich mit dem Thema „Arbeit“ zu bekleiden. Bekleidung Doch wie macht man das Thema Arbeit sichtbar? Macht man Arbeitsbekleidung? Ich habe bewusst keine Arbeitsbekleidungskollektion gemacht, sondern eine Modekollektion zum Thema Arbeit. Die Vereinbarkeit von Leben und Arbeit vollzieht sich hier also nicht im Kontext des Arbeit-Freizeit-LebenProblems, sondern möchte Arbeit als Thema die Möglichkeit geben, sich als modisches Vokabular in das alltägliche Leben von Menschen zu integrieren. Struktur Arbeit ist ein Anliegen von vielen, weil Menschen sich stark über ihre Arbeit definieren. Das liegt auch daran, dass Arbeit dadurch Bedeutung bekommt, dass sie Halt und Struktur gibt. Das wird verstärkt sichtbar, wenn eine Ausgrenzung aus dem Bereich der Arbeitenden stattfindet. Für die Betreffenden ist damit oftmals ein Verlust an Struktur in allen Lebensbereichen verbunden. Im Alltag, aber auch in der Art, sich zu kleiden.2 Die Idee der Strukturgebung findet sich in der Kollektion wieder. Der graue Teil ist schnörkellos, geradezu gerüstartig. Und auch der sehr viel modischere Printteil wirkt kantig geschnitten, strukturiert und klar. Tatsächlich basiert die Kollektion auf einem System aus Grundschnitten: Jacke, Hose, Overall, Kittel und Schürze inspiriert von den Stereotypen der Arbeitsbekleidung. Es tauchen z.B. keine Röcke auf. Es gibt keine verschnörkelten Nahtverläufe. Alle Taschen sind aufgesetzt, sichtbar, nicht versteckt. 2
Bekleidungsvverk; S. 8 Interview mit Johanna Mierendorff
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1.1.2 Arbeit und Individualität Eine spannende Verbindung von Arbeit und Mode ergibt sich auch im Kontext von Individualität und Uniformität. Arbeit ermöglicht Menschen die Herauslösung aus ihren Herkunftsmilieus. Arbeit kann Selbstverwirklichung ermöglichen, man kann zum Autor des eigenen Lebens werden. Die Individualisierung als Ziel und Lebenszweck manifestiert sich. Doch immer öfter wird Individualismus zu Narzissmus, erklärt Gilles Lipovetsky.3 Er behauptet weiterhin, dass die Menschen einander nicht mal mehr Publikum sind, nein, der Sender ist sein Hauptadressat, sein Empfänger. Lipovetskys Erachtens nach besteht Individualisierungszwang, man hat immer weniger die Wahl, wie sehr man sich überhaupt individualisieren möchte. So weit würde ich nicht gehen, für mich entsteht damit aber die Idee, dass Individualisierung als eine Folge von Veränderung von Arbeit kritischer betrachtet werden sollte. Doch Mode ist auf den Drang des Menschen zum Individualismus angewiesen. Mode als Design und Industrie lebt davon, dass viele anders sein wollen als die anderen und kaufen. Oftmals findet aber genau dann – absurderweise – wieder eine unbewusste Uniformierung statt, denn als Masse betrachtet tragen letztlich viele wieder sehr ähnliche Sachen. Ich sehe die graue Bekleidung zum Thema Arbeit in diesem Kontext als eine bewusste, ironische und inhaltlich kontroverse Uniformierung. Vielleicht ist das der einzige Weg, sich heute noch authentisch zu individualisieren? 1.2 Mode als Medium für das Thema Arbeit 1.2.1 Authentizität als Bedürfnis Authentizität ist eines der Schlagworte des Projekts. Authentizität im Modedesign ist für mich ein Anhaltspunkt auf der Suche nach einer befriedigenden Antwort auf das Bedürfnis des Bekleidungsträgers nach Werten, Inhalten oder auch nach Ehrlichkeit und Transparenz im Konsumprozess. Der Konsument sucht nach Ehrlichkeit und Nachhaltigkeit. Mit der voranschreitenden Entwicklung der Medienlandschaft sind immer subtilere Methoden entstanden, welche die Kauflust für ein Produkt beflügeln sollen. Oftmals war aber in der Vergangenheit Schein nicht Sein. Das Image einer Firma hatte selten etwas mit der realen Firma gemein. Verschiedene Skandale, wie z.B. um die Produktionsverhältnisse bei Nike, verstärkten dann das Bedürfnis einerseits nach Trans3
Lipovetsky, Gilles (1995): Narziß und die Leere; Europäische Verlagsanstalt
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parenz im Produktionsprozess und andererseits zu Zeiten des Plagiats auch nach Originalität. Diese Suche nach dem Original erklärt z.B. die Popularität des Manufaktum-Katalogs oder auch des Vintage-Boom (also die Suche nach Original 60er-Jahre-Kleidern) in Secondhandläden. Wie gestaltet man nun authentische Objekte, nach denen es viele verlangt, wie kann man dieses Bedürfnis verantwortungsvoll und ehrlich beantworten? Authentizität im Design beginnt mit einer eigenen Haltung des Gestalters, die sich in seiner Formensprache niederschlägt. Diese Haltung ist kulturell und soziologisch geprägt. In meinem Fall war ehrlich gesagt der Zugang zu Arbeiterbekleidung authentischer als der zu Abendroben. Doch auch Deutschland als meine Heimat ist unter anderem eng mit Begriffen aus der Arbeitswelt verbunden. Interessanterweise steht Deutschland für das Ethos von Arbeit genauso wie für die Strittigkeit dieses Ethos. Plausibel, sich gerade hier berufen zu fühlen, eine von Arbeit inspirierte Modekollektion zu gestalten, die auch international glaubhaft werden kann. Aber Authentizität hört nicht mit dem Entwurf auf, ein Produkt kann auch authentisch produziert werden, z.B. durch eine Zusammenarbeit mit thematisch passenden, lokal ansässigen Herstellern. 1.2.2 Mode als Zugangsmöglichkeit Es hat also einen gesellschaftlich relevanten Sinn, eine Modekollektion zum Thema Arbeit zu gestalten, doch hat es vielleicht noch weitere? Ich denke, Menschen möchten mit komplexen Themen wie der heutigen oder zukünftigen Arbeitsmarktsituation auf Tuchfühlung gehen. Der ästhetische und haptische Bezug z.B. in Form von Bekleidung fällt leicht, ist universell, gibt er doch Menschen die Möglichkeit, sich zu einem Thema auf einer anderen als der argumentativen Ebene zu äußern. Mode gibt dem Träger Möglichkeit zur Teilhabe, zum Erlebnis von Ungreifbarem. Tragbarkeit Genau deswegen habe ich mich darauf konzentriert, die Kollektion sehr tragbar zu halten, denn Tragbarkeit ist eine Voraussetzung, dass Mode als Kommunikationsmittel überhaupt benutzt wird. Gerade ein prekäres Thema wie Arbeit gewinnt durch Tragbarkeit, besteht doch die Provokation im Inhalt und nicht wie so oft darin, dass ich mich traue, auf offener Straße zum Beispiel eine goldene Blüte in Form eines Minikleids zu tragen.
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1.2.3 Mode als Kommunikations- und Gestaltungsmittel Mode verfügt als Medium über verschiedene Eigenschaften. Als Kommunikationsmittel ist sie von Vorteil, da zu Bekleidung fast jeder eine Meinung hat. Sie gibt sich wenig elitär-künstlerischem Anschein hin, denn jeder traut sich, über eine Hose etwas zu sagen. Bekleidung ist näher als jedes andere Designobjekt am Körper, sie ist also immer persönlich und emotional geprägt. Ich lasse nichts, womit ich nicht einverstanden bin, bewusst so nah an mich heran, und so viel über mich aussagen. Als Gestaltungsmittel zur Verstofflichung von komplexen Themen wie z.B. Arbeit ist sie scheinbar von Nachteil, da Mode ein begrenztes Medium ist. Eine Kollektion an sich ist nur widerwillig in der Lage, ausführlich und direkt Zusammenhänge zwischen Politik, Gesellschaft und Arbeitsmarkt zu erläutern. Unkalkulierte Überlastung macht sie fragwürdig als Bekleidungsstück, sie verliert so oft an Ästhetik, sodass das Bekleiden mit einem solchen Bekleidungsstück eher Unbehagen als Vergnügen bereiten würde. Ironie Ich benötige also neben Tragbarkeit ein Stilmittel, welches mir erlaubt, die Kollektion ästhetisch inhaltlich zu belasten – die Ironie. Ironie in der Mode, wie funktioniert das? „Bekanntermaßen ist Ironie eine Redefigur, mit der man das Gegenteil des Gesagten zu verstehen gibt.“ Diese sokratische Definition hilft nicht wirklich weiter. Das eine Gegenteil von einer Adidas-Jacke? Das genaue Gegenteil von einer Seidenschürze? Schwer zu beantworten, gibt es doch, wenn überhaupt, mehrere Gegenteile. Die antike Definition von Ironie hat Erweiterung erfahren, seit der Postmoderne ist sie ein Strukturmittel für den Autor, um meinungsplurale Haltungen zu formulieren.4 In einer Welt, in der das Gegenteil von Etwas gar nicht genau zu bestimmen ist, wird Ironie zu einer der wenigen Möglichkeiten, um Realität überhaupt noch glaubhaft abzubilden. Unter Verwendung von Ironie ist es plötzlich auch möglich, mit Mode über politische Inhalte zu sprechen, ohne in die Untiefen der Propaganda zu fallen, was beim Thema Arbeit ja durchaus eine Gefahr darstellt. Ironie hilft, komplexe Inhalte wie das Thema Arbeit im begrenzten Medium Mode vielschichtig abzubilden, ohne zu überlasten. Konflikte sind demnach nicht nur hilfreich bei der Erstellung einer Kollektion; nein, Widersprüche gewährleisten auch Stabilität innerhalb einer Kollektion. Eindeutigkeiten machen sie instabil. Wiederum ein Impuls, die Kollektion zweizuteilen. 4
Behler, Ernst (1997): Ironie und literarische Moderne; Schöning Verlag
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Doch auch zweigeteilte Kollektion halten die Mode nicht davon ab, große Abneigung gegen pädagogische Ambitionen zu zeigen. Belehren lassen will sich der Träger von seiner Jacke im Leben nicht. 1.2.4 Mode als ein Spiegel der Gesellschaft Mal abgesehen von Gelehrsamkeit, verfügt sie aber über weitere Talente. Mode spiegelt in oftmals verblüffendem Facettenreichtum Ängste, Sehnsüchte, Zustände von Gesellschaft wider. Jeder einzelne Träger projiziert sie auf seinen Körper, und plötzlich, manchmal werden in der Masse Haltungen der Gesellschaft ablesbar, die bis dahin unbemerkt, unformuliert geblieben sind. Doch Malcolm McLaren, ein Journalist, Begründer der SexPistols und Mann von Vivienne Westwood attestierte vor zwei Jahren in der FAZ: „Sehen Sie irgendwo die Mode des 21. Jahrhunderts? Dieses ganze Recyceln alter Dinge zeigt doch nur, dass es keinen Standpunkt, keine Visionen oder Revolution mehr gibt. Das ist in der Kunst genauso wie in der Mode. Wir haben nichts mehr mitzuteilen.“5 Wie ist das zu verstehen? Denn wenn Mode ein Spiegel von Gesellschaft ist und Gesellschaft sich zum Beispiel in Bezug auf Arbeit tief greifend verändert, wieso sieht man das nicht in der Mode? Hat sie als Mittel ausgedient? Oder muss man genauer hinschauen? Schauen wir zuerst in die Gesellschaft. Nach Ulrich Beck, findet heute anstelle von Revolution Umwälzung statt. Das heißt, radikale Modernisierung hat heute zur Folge, dass Arbeit und damit auch Gesellschaft sich zwar verändert, doch gibt es keine klaren Konfliktlinien mehr, kein reales Kampffeld für die Revolution. Die Veränderung ist, laut Beck, eine Umwälzung.6 Sie ist spürbar, aber schlecht verortbar und damit schlecht sichtbar. Was heißt das jetzt für die Mode, was ist im Spiegel zu sehen? McLaren meint, es gibt keine revolutionäre Gestaltung mehr. Wo sind sie heute? – Die, die wie er, McLaren, damals gemeinsam mit Vivienne Westwood das Unmögliche möglich machten und die Antimode, den Punk, in die Welt der Mode integrierten, also allen endgültig zeigten, dass von nun an die Subkultur die Hochkultur beeinflusst und inspiriert. Sicher ist, dass die stattfindenden Veränderungen im 21. Jahrhundert nicht so gut sichtbar sind. Also kein revolutionäres neues Kleid, kein innovativer Schnitt oder Look, der Gesellschaft revolutionär spiegelt. 5 6
Zit. nach: Schipp, Anke (02.05.2004): Blick zurück – ins Glück?; FAZ Beck, Ulrich (1999): Schöne neue Arbeitswelt: Vision: Weltbürgerschaft, Expo 2000 Hannover; Campus Verlag
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Die Veränderungen von Mode heute finden eventuell weniger nach außen, sondern eher im Innern, also strukturell statt, im Dahinter, im Business, in der Struktur einer Modefirma. Das wird deutlich z.B. in der vermehrten Abwesenheit von der Person des charismatischen Créateurs an der Spitze der Modefirma. Relativ anonyme Designteams bestimmen das Bild der heutigen Modewelt. Es finden also strukturelle Veränderungen statt, auf die ich als Jungdesigner keinen direkten Einfluss nehmen kann, in deren Zusammenhang ich aber agieren muss. Das heißt an mich, den Gestalter, gewandt: Mir steht es, wie so oft, frei, den scheinbaren Nachteil in einen Vorteil zu verwandeln: selber strukturieren. Ich kann z.B. ein eigenes Label gründen und habe dann die Möglichkeit, nicht nur das Kleid, sondern z.B. das ganze Label und die Produktion zu designen. Ich kann Themen für die Kollektionen ausrufen, die gesellschaftliche Relevanz haben, kann sozialkritisch sein, kann kontroverse Inhalte und gewagte Standpunkte nominieren, die absatzstrategisch für große Namen den Ruin bedeuten würden, ich kann ja auch davon leben, nur kleinere Zielgruppen ansprechen zu können. Aus diesen Überlegungen heraus ist mein Projekt „Bekleidungsvverk“ entstanden, das ganzheitlich das Thema Arbeit atmet, von der theoretischen Inspiration ausgehend, über ein erklärendes Schriftstück zur Auswahl der Materialien, Drucke und Silhouetten und einer sozialverantwortlichen Produktion.
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1.2.5 Mode als Geschäft Ich nehme an dieser Stelle nochmals Bezug auf das Statement der fehlenden Vision von Malcolm McLaren. Während ich oben auf den Aspekt der gesellschaftlichen Umwälzung eingegangen bin, möchte ich nun eine andere Deutung wagen: Es gibt keine Revolutionen mehr in der Mode, denn Mode ist mehr und mehr Geldverdienen statt künstlerischer Innovation. Gibt es dann überhaupt noch Raum für ambitionierte Visionen? Widerspricht sich Kunst und Kommerz? Um die Facette der gesellschaftlichen Relevanz angereichert, ergab sich aus dieser Ambivalenz folgende Geschäftsidee: Ich habe im Rahmen des Diploms einem lokal ansässigen Arbeitsbekleidungshersteller und einem Arbeitstaschenhersteller eine Zusammenarbeit vorgeschlagen. Viele Arbeitsbekleidungsproduzenten in Deutschland kämpfen um ihre Existenz. Innovation, Impulse und vielleicht sogar ganz konkrete Gestaltungsideen waren mehr als herzlich willkommen. Ich bat im Gegenzug um Produktions- und Material-Sponsoring und Know-how-Sharing. Gesagt, getan. So entstehen zwei mögliche Szenarien für die weitere Zusammenarbeit: a.
b.
Sollte die Kollektion gut ankommen, würden die Arbeitsbekleidungshersteller die Kollektion als Kleinserien für mich und mein Label produzieren. Der Konsument hätte ein authentisch entworfenes und produziertes Kleidungsstück in der Hand. Er würde zusätzlich gesellschaftliches Engagement zeigen, indem er lokale Produktion fördert. Dieses ganzheitliche Konzept ist anspruchsvoll und glaubhaft, nicht platt und durchschaubar wie Verkaufsstrategien à la Jever trinken und damit spenden für die Rettung des Regenwaldes Speziell für einen der Arbeitsbekleidungshersteller, deren Lage relativ prekär ist, habe ich nach Abschluss des Diploms noch einige spezielle Nutzungsvarianten erarbeitet, die wieder mehr in den Arbeitsbekleidungskontext eingebunden sind. Der graue Teil der Kollektion könnte von mir für die Firma zu einer Art Klassikerlinie ausgebaut werden. Der mit Prints versehene Teil war Ausgangspunkt für die Idee, Corporate-Identity-Bekleidung (Klempnerfirma xy) nicht nur über Farben (Rot-Blau oder Gelb-Grün) zu definieren, sondern eigens für die Auftraggeber Muster zu entwickeln und diese dann auf die Kleidung zu drucken.
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Bildhaft-optische Recherche
2.1 Inspiration Farbe Auf der Suche nach anderen Sichtweisen auf Arbeitsästhetik als der meinen bin ich auf Fotobildbände von August Sander, Sebastio Salgados und Richard Avedon gestoßen. Die Entscheidung aller drei Fotografen, in Schwarz-Weiß zu arbeiten, hat mich zu der Überzeugung kommen lassen, dass das Stereotyp von Bekleidung zum Thema Arbeit ebenfalls schwarz-weiß ist oder vielmehr Grautöne besitzt. Die kollektive Erinnerung an Arbeit ist eventuell nicht blau, wie der Blaumann, sondern grau. Also habe ich mich entschlossen, mit drei Grautönen zu arbeiten. Doch auch die Farbigkeit der Prints hat ihren konkreten Ursprung, nämlich in den Farben von Fabrikhallen, z.B. den Lacken von Arbeitsmaschinen, wie das Grün des Overalls. Die Prints sind ebenfalls durch Gegensätze gekennzeichnet. Einerseits finden sich abstrakte, kleinteilige Muster, inspiriert von den Entwürfen der russischen Konstruktivisten der 20er-Jahre; auch ihnen ging es um eine ästhetische Vereinbarung von Arbeit und Leben. Und andererseits tauchen großformatige, fotorealistische Motive von Arbeitern auf, sie entstammen den Bildbänden und sind Ausdruck der ständigen Präsenz, der Hyperrealität, der Übergröße und Ungreifbarkeit des Themas Arbeit. 2.2 Inspiration Form Eine Inspiration für eine der Grundformen der Kollektion, die Arbeitsjacke, waren Fotos und Bilder aus dem Buch „Chinese Propaganda Poster“7 als Quelle natürlich herrlich kontrovers, gaben mir die Bilder von Mao ein Rätsel auf, irgendwie sah seine Arbeitsjacke immer besser aus als die der umstehenden Arbeiter. Um diesen Effekt zu erzeugen, habe ich eine ungewöhnlichen aber simple Form der Schnittkonstruktion angewandt. Ich habe an einen Jackettschnitt einen Hemdkragen angefügt. Der entstandene Arbeiteranzug ist so eine interessante Verbindung zwischen dem Anzug eines Bankers und dem Arbeitshemd eines Mechanikers. 2.3 Inspiration Material Einer der maßgebenden Stoffe der Kollektion heißt Fischgrat-Köper. Es handelt sich um einen klassischen Arbeitsbekleidungsstoff des 20. Jahrhunderts, der 7
(2003): Chinese Propaganda Poster; Taschenverlag
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heute kaum noch hergestellt wird. In der Kollektion erfährt er eine Renaissance, denn für mich verbindet er einzigartig Eleganz mit Robustheit. Abschließend und kurz gesagt habe ich das Bedürfnis des Menschen, mit dem ungreifbaren Thema Arbeit auf Tuchfühlung zu gehen, aktiv teilzuhaben, aufgespürt, analysiert und letztlich versucht, ihm zu entsprechen. Die entstandene Kollektion bietet viele Zugänge, um sich mit dem Thema Arbeit zu bekleiden und damit auszudrücken. Wichtig war mir, als Designer, eine neue, tragbare Ästhetik außerhalb von schon vorhandener Arbeitsbekleidung zu schaffen. Letztlich hieß das, auch das Verhältnis von Arbeit, Markt und Mensch an einem tatsächlich vorhandenen Beispiel innerhalb meiner Branche, der Mode, neu zu definieren. Es war mir ein Anliegen, das Thema Arbeit authentisch und ganzheitlich zu bearbeiten, sodass man nicht nur Besitzer einer schönen, andersartigen Designer-Arbeitsjacke ist, sondern der Kauf auch lokal Arbeitsplätze sichert. Man kann über Mode tatsächlich ganz leicht und unbeschwert teilhaben, etwas bewegen zum Thema Arbeit. Es ist möglich, politisch und bewusst zu handeln, sich nicht nur wohlzufühlen in der Jacke, sondern auch in ihrem Konzept. Fotograf: Nikolaus Brade Layout der Zeitung: Karo Rigaud, Joachim Unterfrauner
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Forschungsfrage und Untersuchungsgegenstand
Aufgrund des hohen Unfallrisikos wird der Fernfahrerberuf als „gefahrengeneigte Tätigkeit“ (Kiegeland 1997, 1) bezeichnet. Da die Fahrer diese Tätigkeit zudem in einem Kontext ausführen, in dem das Unfallrisiko nicht „nur“ sie selbst bzw. ihre Gesundheit bedroht, sondern auch für andere Verkehrsteilnehmer eine Gefährdung darstellen kann, weist ihre Situation besondere gesellschaftliche Relevanz auf und ist seit Langem Gegenstand öffentlicher wie wissenschaftlicher Diskussionen (vgl. Stern 19181; Beierle 1993; Ruziczka 2000; Schlag 2004; Liebl 2005). Maßnahmen zur Minderung des Risikos thematisieren im Wesentlichen zwei Punkte: die (passive) Fahrzeugsicherheit und das Befinden des Fahrzeugführers. Maßnahmen zur Verbesserung der Fahrzeugsicherheit richten sich v.a. auf die Unterstützung von Lenk- und Bremsvorgängen, auf die fahrergerechte Aufbereitung von Informationen sowie generell auf die Mensch-MaschineSchnittstelle zwischen Fahrer und Lkw. Am Befinden des Fahrers ansetzende Maßnahmen widmen sich v.a. Ermüdung, Stress, Ergonomie und Monotonie. Trotz intensiver Bemühungen konnten weder technische Verbesserungen der Fahrzeuge noch rechtliche Eingriffe, etwa zur Beschränkung der Lenkzeiten, Unfälle im Straßengüterverkehr in befriedigendem Maße reduzieren. Während die Fahrzeuglenker auf Maßnahmen zur Erhöhung der passiven Sicherheit der Fahrzeuge mit einer höheren Risikobereitschaft reagierten2, wurden Ansätze, die 1
2
Mit William Stern verwies bereits einer der Pioniere der Verkehrspsychologie auf die Bedeutung der in dieser Arbeit diskutierten Problematik: „(...) denn im Lenkerberuf ist die Wirksamkeit ungeeigneter Personen nicht nur, wie in den meisten anderen Berufen, eine Kraftvergeudung, sondern geradezu eine öffentliche Gefahr“ (Stern 1918, 3; zitiert nach Häcker & Echterhoff 2002, 269). Stern verblieb bei seiner „Eignung des Fahrers“ allerdings auf der individuellen Ebene und vernachlässigte die Rolle des Handlungskontextes. Eine mögliche Erklärung hierfür bieten die Arbeiten zur Risikohomöostase-Theorie von Wilde (1978; 1994). Wilde geht davon aus, dass jede Person ein individuell gesetztes/erwünschtes Risikoniveau besitzt. Ist ein Fahrer z.B. bereit, Risiken bis zu einem bestimmten subjektiven Niveau einzugehen, wird er die Absenkung dieses Risikoniveaus durch Sicherheitsvorrichtungen (ABS, Sicherheitsgurt etc.) durch eine riskantere Fahrweise wieder ausgleichen.
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versuchten, mittels gesetzlicher Normierung von Fahrtzeiten oder Fahrtgeschwindigkeiten die Unfallgefahr zu verringern, häufig von den Fahrern selbst – zu deren Sicherheit sie eigentlich eingeführt wurden – unterlaufen.3 Wegen der Begrenztheit des bisherigen Vorgehens bestand das Ziel der diesem Aufsatz zugrunde liegenden Studie darin, vernachlässigte Ansatzpunkte zur Verminderung der Gefährdungssituation im Straßengüterverkehr herauszuarbeiten. Mittels in der Psychologie bisher wenig beachteter methodischer Ansätze wurden Erleben und Verhalten der Fahrer in ihrer beruflichen Einbindung untersucht. Die Auswertung der in offenen Interviews gewonnenen Daten führte zunächst weg von der Risikothematik. Durch widersprüchliche Aussagen der Fahrer sensibilisiert, identifizierte ich ein besonderes Verhältnis der Fahrer zu ihrem Beruf, die Berufsidentität, als notwendige Vermittlungsinstanz für die Herstellung beruflicher Handlungsfähigkeit. Daran anschließend konnte ich zeigen, dass die Berufsidentität mitsamt den sie konstituierenden Handlungsstrategien sowie dem Kontext, in dem die Fahrer ihrer Arbeit nachgehen, eine latente und verdrängte Ursache für deren Risikoneigung darstellt. 2
Methodisches Vorgehen
Die Angemessenheit der zur Bearbeitung wissenschaftlicher Fragestellungen verwendeten Methoden richtet sich danach, welche Informationen für die Fragestellung relevant und wie diese zu erhalten sind. In der vorliegenden Arbeit wurde untersucht, wie Fernfahrer mit den Risiken ihrer Berufstätigkeit umgehen. Der Verweis auf die Berufstätigkeit legt nahe, dass hier keine isolierte Handlung, sondern diese vielmehr in ihrem Kontext zu verstehen ist. Gemäß ThomasTheorem (vgl. Thomas & Thomas 1928) muss diesem Verständnis der Handlung wiederum ein Verständnis der von den Handelnden vorgenommenen Situationsdefinitionen und -interpretationen vorausgehen. So gilt es zunächst, im kulturellen Setting der Fernfahrer anzutreffende und für die Forschungsfrage relevante Arten der Konstruktion sozialer Realitäten sowie die Prozesse, Motive und Manifestationen der dort herrschenden Sinnzusammenhänge, Strukturen, Akteurskonstellationen etc. herauszuarbeiten. Weiterhin waren die Bedingungen zu untersuchen, unter denen diese Konstruktionen vorgenommen werden, zudem die Folgen, die wiederum aus diesen Konstruktionen für den Kontext und die dort
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Zur Kluft zwischen den gesetzlichen und tariflichen Vorschriften und deren Umsetzung im Arbeitshandeln vgl. Plänitz (1983, 12). Obwohl der Straßengüterverkehr als einer der meistregulierten Arbeitsbereiche gilt, scheint das Bemühen um neue Vorschriften nicht nur nicht zu ermüden, sondern auch weiterhin den Königsweg darzustellen.
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stattfindenden Interaktionen entstehen.4 Da die Fahrer diese Sinnzusammenhänge nicht isoliert voneinander konstruieren, sondern in einem über Symbole vermittelten Interaktionsprozess, galt es auch jene Wirkungen zu berücksichtigen, die das Handeln der Fahrer für die Interpretationen und Reaktionen der Interaktionspartner hat. 2.1 Auswahl und Anwendung der Untersuchungsmethode Um diese Sinnstrukturen erfassen und deren Wirkung einschätzen zu können, erscheint ein normativ-deduktives, an vom Forscher generierten Hypothesen orientiertes Vorgehen ungeeignet. Angebracht sind eher explorative, direkt bei den interessierenden Akteuren ansetzende Methoden. Den Anspruch, mittels eines besonders offenen, ausschließlich an empirisch gewonnenen Daten orientierten Vorgehens „die Fähigkeiten von Sozialwissenschaftlern zu verbessern, Theorien zu generieren“ (Glaser & Strauss 2005, 8)5, erhebt die Grounded Theory. In einem Prozess des iterativen und repetitiven „Hin- und Herspringens“ zwischen den zentralen Aktivitäten Datenerhebung, Datenanalyse und Theoriebildung (vgl. Strauss 2004, 449) werden dabei sämtliche Thesen und Theorien aus dem empirisch erhobenen und vom Forscher codierten Material generiert. Das Ziel der intensiven Auseinandersetzung mit den Daten besteht in der Entwicklung von Kategorien. Diese werden im weiteren Verlauf des Forschungsprozesses durch ständiges Vergleichen (vgl. Glaser & Strauss 2005, 107ff.) mit neu erhobenen Daten sowie etablierten Theorieangeboten spezifiziert, differenziert und integriert. Um in den Daten Zusammenhänge sichtbar zu machen, werden die entwickelten Kategorien in einem Codierparadigma (vgl. Abb. 1) zueinander in Beziehung gesetzt (vgl. Strauss & Corbin 1996, 75ff.). Neben der Kategorie im Zentrum enthält dieses Beziehungsgeflecht die Ursachen für die Kategorie, deren Kontext bzw. die diese Kategorie beeinflussenden Bedingungen, die strategischen Handlungen, mit denen auf das durch die Kategorie abgebildete Phänomen reagiert wird, sowie die Konsequenzen, die aus der Interaktion mit der Kategorie folgen. Im weiteren Verlauf des Kodierprozesses wird die analytische Struktur auf ein zentrales Konzept, die Kernkategorie, hin fokussiert und damit
4 5
Bedingungen können dabei explizit bekannt, wie z.B. Vorschriften und Gesetze, aber auch latent, implizit oder tradiert sein. Theorien sollten nach Glaser und Strauss (2005, 13): a) die Vorhersage und Erklärung von Verhalten ermöglichen, b) den theoretischen Fortschritt des Faches unterstützen, c) für praktische Anwendungen brauchbar sein, d) Verhalten begreiflich machen (d.h. eine Wertung vornehmen) und e) die Untersuchung besonderer Verhaltensbereiche anleiten.
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die verschiedenen Elemente/Kategorien zu einer in sich verbundenen Theorie integriert (vgl. Strübing 2004, 68). Handlungsstrategien
Ursächliche Bedingungen
Kategorie
Konsequenzen
Kontext und intervenierende Bedingungen
Abbildung 1: Codierparadigma (Quelle: modifiziert nach Böhm 2004, 479).
2.1.1 Forschungsdesign und Sampling Nach Mayring (1995, 35) bildet das Forschungsdesign die „gegenstandsspezifische, prozesshafte, aber methodisch kontrollierte Interaktion des Forschers mit dem Gegenstand“ ab. Wegen der datenbasierten Theorieentwicklung im Rahmen der Grounded Theory ist möglichst früh (und unvoreingenommen) Kontakt zum Untersuchungsgegenstand herzustellen, d.h. mit der Datenerhebung zu beginnen. Während der Theorieentwicklung bewegt sich der Forscher, wie auf Abb. 2 zu sehen, zwischen Handlungs- und Kategorienebene. Die Handlungsebene, d.h. die vom Forscher durchgeführten Tätigkeiten Interviewvorbereitung, Interview und Datenanalyse, orientiert sich stets an den Fortschritten auf der Kategorienebene. Diese bildet die inhaltliche Entwicklung der Kategorien und Konzepte ab, welche durch das von der Handlungsebene gelieferte (Roh-)Material vorangetrieben und durch die Integration der in den einzelnen Schritten entwickelten Kategorien in die am Ende des Prozesses stehende Theorie abgeschlossen wird. Da sich die Theorie also sukzessive aus den codierten Daten entwickelt, muss sich auch die Auswahl der Stichprobe (vgl. Tabelle 1) am jeweiligen Stand der Theorie orientieren. Mit dieser theoriegeleiteten Stichprobenauswahl (‚theoretical sampling‘) strebt der Forscher nicht nach (statistischer) Repräsentativität, sondern orientiert
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sich an der „theoretischen Relevanz“ (Strauss & Corbin 1996, 148) der zu untersuchenden Personen, Situationen, Dokumente etc.6 Ich wählte Interviewpartner, die sich als „Lkw-Fahrer“ sahen und vom Stereotyp des Truckers abgrenzten, da die ersten Interviews nahe legten, dass diese die unauffällige Mehrheit bildeten; zudem würde ich durch das Untersuchen alltäglicher, vermeintlich gewöhnlicher Fahrer eine größere Vergleichbarkeit zu Arbeitshandeln über den Straßengüterverkehr hinaus herstellen können. Tabelle 1:
Stichprobe, ausgewählt nach theoretischer Relevanz.
Interview
Alter
Code
Familienstand
Fernfahrer seit 1
HL
55
2
RK
28
3
DC
48
4
AS
50
5
EB
56
verheiratet ledig
10 Jahren
Anz. d. Arbeitsstellen 5. AS
6 Jahren
3. AS
verheiratet geschieden
9 Jahren
2. AS
12 Jahren
2. AS
9 Jahren
2. AS
verheiratet
Firma1
Berufliches Größe1
Sitz
Lkw Standort
große Firma mittelgroße Firma kleine Firma große Firma
500 km entfernt 10 km entfernt 2 km entfernt 700 km entfernt CH 800 km entf., B
in der Firma in der Firma in der Firma zu Hause
große Firma
zu Hause
1
Bei der Größenabstufung galten Firmen als klein, wenn sie unter 10, als mittelgroß, wenn sie zwischen 10 und 50, als groß, wenn sie mehr als 50 Mitarbeiter beschäftigen. In der Spalte Firmensitz wird die Entfernung dargestellt, die zwischen Firmensitz und Wohnort des Fahrers liegt. In der Spalte LKW- Standort ist vermerkt, ob die Fahrer ihren LKW zu Hause parken oder ob sie diesen erst in der Firma abholen müssen.
6
Theoretische Relevanz besteht dann, wenn die durch Vergleiche begründete Vermutung besteht, dass die Merkmale der infrage kommenden Datenquelle charakteristisch sind für einen für die Theorieentwicklung wichtigen Aspekt.
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Berufsidentität als Kernkategorie der Theorieentwicklung
3.1 Riskantes Handeln als Ausgangspunkt Um trotz der offenen methodischen Ausrichtung die Nähe zur Forschungsfrage zu wahren, richtete sich mein Interesse zunächst auf davon abgeleitete Themen wie Risiko, Gefährdung und Unfälle. Relevant erschienen vor dem Hintergrund der Forschung zum Verhalten unter/bei Risiko (vgl. Bechmann 1993; Jungermann & Slovic 1993; Luhmann 1993a; Bonß 1995; Baron 2000; Gigerenzer 2002; Huber 2004) Fragen nach der Bereitschaft, Risiken einzugehen, danach, wie hoch die Unfallgefahr eingeschätzt wurde, ob die Einschätzung der Fahrer mit tatsächlichen Unfallzahlen übereinstimmte, ob diese Schätzungen auf eigener Erfahrung beruhten oder Statistiken entstammten. Tatsächlich wussten die Fahrer um die Gefahren ihres Berufs und auch, dass sie sich Risiken aussetzten, die sie nicht in Gänze würden beherrschen können. Insgesamt erwies sich die direkte Ansprache des Umgangs mit Risiken jedoch als enttäuschend. Die Fahrer maßen der Risikoproblematik zu geringe Bedeutung bei, als dass sich daraus ein relevanter Ansatzpunkt hätte aufbauen lassen. 3.2 Widersprüche und Spannungsfelder Wie in der Grounded Theory nahegelegt, sichtete ich erneut das vorhandene Datenmaterial. Neben dem Thema Risiko hatte ich als zweiten Ansatzpunkt untersucht, welche Möglichkeiten Fahrer haben, sich überzogener Forderungen von Spediteuren oder Disponenten – etwa Geschwindigkeitsüberschreitungen oder besonders lange Fahrten ohne Pausen – durch Ablehnung oder Widerstand zu entziehen. Die aus Antworten wie BEI SO VIELEN ARBEITSLOSEN JA KEINE WAHL7 zu haben bzw. DA HÄNGT JA DER JOB DRAN herausklingenden Ängste um den Arbeitsplatz überraschten mich, hatten dieselben Fahrer doch an anderer Stelle geäußert, dass KRAFTFAHRER IMMER GESUCHT würden und dass z.B. in der Firma eines Fahrers ERST LETZTE WOCHE 15 NEUE LEUTE EINGESTELLT wurden. Um diesen Widerspruch zu verstehen, suchte ich unter Anwendung des Prinzips der „theoretischen Sensibilität“8 (Glaser & Strauss 2005) in bestehenden Theorieangeboten nach möglichen Erklärungen. Einen Anknüpfungspunkt fand 7 8
Aussagen der Fahrer werden im Folgenden in Kapitälchen wiedergegeben. „Theoretische Sensibilität“ bezeichnet innerhalb der Grounded Theory die Einnahme einer Perspektive, die dem Forscher hilft, für die jeweilige Frage relevante Daten und Theorien zu sehen: „Sie stellt gewissermaßen die Fähigkeit des Forschers dar, über empirisch gegebenes Material in theoretischen Begriffen zu reflektieren“ (Kelle & Kluge 1999, 18).
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ich in Becks „Risikogesellschaft“. Ulrich Beck (1986, 219) postuliert dort, dass aufgrund individualisierter Risikozuschreibung bei gleichzeitiger Konstanz bestehender Systemgrenzen (etwa zwischen Familie und Beruf, Arbeit und Privatleben) die Lebensführung „zur biographischen Auflösung von Systemwidersprüchen“ wird. Da ich diesen Ansatz in den Interviews, d.h. darin, wie die Fahrer ihre Situation beschrieben hatten, zu finden glaubte, suchte ich nach weiteren widersprüchlichen Aussagen. Ein Widerspruch war gegeben, wenn zwei gegenläufige Handlungsimpulse bestanden bzw. ein Handlungsimpuls des Fahrers den Erfordernissen seines Berufs entgegenstand. Schließlich „entdeckte“ ich sechs Widersprüche: Widerspruch der Arbeitsplatzsicherheit – Möglichkeit zu wechseln vs. Befürchtungen, den Job zu verlieren: Die Fahrer schätzten zum einen die Möglichkeit, im Straßenfernverkehr eine Arbeitsstelle zu finden, als durchaus positiv ein. Andererseits sahen sie sich nicht außerhalb der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung (5 MILLIONEN ARBEITSLOSE, DA KANNSTE NICH NEIN SAGEN). Widersprüchlich ist, dass die Fahrer gegenüber ihrem Arbeitgeber aufgrund der Nachfragesituation eigentlich eine gute Position innehaben, sich trotzdem aber unter Druck fühlen. Widerspruch in der Autonomie der Arbeitsausführung – Vereinzelung vs. Einbindung: Die Fahrer betonen zum einen die Bedeutung ihrer Unabhängigkeit (WENN ICH VOM HOF FAHR’, BIN ICH CHEF) und beschreiben, wie es auf sie ankommt, wenn der Job gemacht werden muss, und dass alles beim Fahrer hängen bleibe. Trotz dieser Selbstbestimmung weisen sie mehrfach darauf hin, wie sie doch immer auch eingebunden sind in Strukturen, Vollzugsketten und Institutionen.9 Der Fahrer sieht sich also dem Spannungsverhältnis zwischen Vereinzelung bei der Aufgabenbewältigung – inklusive individuell zuschreibbarer Verantwortung – und Einbindung in für ihn nicht beeinflussbare Funktionszusammenhänge. Widerspruch der Sozialität – Unabhängigkeitsbedürfnis vs. Zugehörigkeitsgefühl: Die Fahrer betonen zum einen die Bedeutung von UNABHÄNGIG SEIN und SELBST BESTIMMEN, sehen andere Fahrer der Spedition die ganze Woche nicht (ALLES EINZELSCHICKSALE). Trotzdem lässt sich eine Gemeinschaftlichkeit feststellen, die sich in Gesten (mit Lichthupe dem Überholenden das Einscheren ermöglichen; Grüßen; persönliche Erkennungszeichen an den Trucks) und Ver9
Beispielhaft zu nennen wären „Just-in-Time“-Abläufe. Dazu ein Fahrer: …UND DORT STEH ICH BESTIMMT WIEDER DREI, VIER STUNDEN, UM PAAR PALETTEN LOSZUWERDEN UND DAS RAFFT DICH AUCH A BISSEL. DA SAGSTE DIR, FÜR WAS MUSS ICH JETZE HIER WIEDER SO LANGE WARTEN (…), DAS KANN ICH NICHT EINORDNEN. ALLE HAMSE ZEITDRUCK, UND WEGEN ZWEI PALETTEN LASSEN SE DICH VIER STUNDEN STEHEN. (…) UND JETZT KOMMSTE NATÜRLICH AUCH IN SCHWULITÄTEN ALS FAHRER, ABER WAS WILLSTE DENN MACHEN, DU KOMMST NICHT RAN. Für eine ähnliche Aussage vgl. Zvonkovic et al. (2001, 153).
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halten (Hilfe und Privates über Funk austauschen; unkomplizierte Gespräche an Verladeplätzen oder an Raststätten) zeigt.10 Fraglich ist hier, woraus sich diese Sozialität speist und in welchem Verhältnis sie zu dem Bedürfnis nach Unabhängigkeit zu sehen ist. Widerspruch im Verhältnis zur Familie – hohe Wertschätzung bei gleichzeitiger berufsbedingter Trennung: Die Familie ist den Fahrern sehr wichtig. Alle befragten Fahrer lebten in langfristigen Beziehungen oder bedauerten die aufgetretenen Trennungen (FERNFAHRERKRANKHEIT), betonten zudem ihre Ernährerfunktion. Dieses Familienbild entspricht ihrer Herkunft im traditionellen Arbeitermilieu (vgl. Brock & Vetter 1982; Geißler 2006, 189ff.). Gleichzeitig erfordert ihr Beruf, die ganze Woche von der Familie getrennt zu leben. Trotz der Bedeutung, die die Fahrer ihrer Familie beimaßen, verzichten sie auf die Versetzung in den Nah- oder Werksverkehr. Neben der Zeit, die die Männer unterwegs sind, verläuft auch die gemeinsam zu Hause verbrachte Zeit problematisch. Indem die Fahrer in ihrer Zeit zu Hause jeden Streit vermeiden wollen (vgl. Zvonkovic et al. 2001, 155), verschleppen sie notwendige Konfliktlösungen. Die berufsbedingte Trennung beeinflusst zudem die Vorstellungen von den gemeinsamen Wochenenden und fordert das traditionelle Familienbild heraus.11 Widerspruch der Vorschriften – funktional vs. hinderlich: Beim Straßengüterverkehr handelt es sich um einen zumindest offiziell stark regulierten Tätigkeitsbereich. Lenk- und Ruhezeiten, Geschwindigkeits- und Gewichtsbeschränkungen sowie besondere Anstellungsverhältnisse (Subunternehmertum, Praktikantenvereinbarung) durchziehen „das bißchen Fahren“ (Plänitz 1983) mit einer zusätzlichen, normativen Ebene. Von den Fahrern werden die Gesetze und Vorschriften zum einen als hinderlich12 bei der Ausübung der Tätigkeit, teilweise auch als Willkür13, empfunden. Andererseits helfen die Reglementierungen dem Fahrer, sich maßloser Forderungen vonseiten des Vorgesetzten zu erwehren14 10
11
12 13 14
Vgl. Zvonkovic et al. (2001, 153): „Although they drove alone, they could choose to be socially connected via the CB radio. Many friendships were formed and maintained over the radio. In a sense, the radio provided them with a notion that they were in a community, and not solitary ‚highway cowboys‘ (Moon 1998), though many wifes reported a strong identification with the cowboy mystique“. Während die Frauen die ganze Woche zu Hause waren und am Wochenende etwas unternehmen wollen, freuen sich die Fahrer nach sechs Tagen unterwegs auf einen Rückzugsort. Zur Situation der Frauen vgl. Zvonkovic et al. (2001, 153): „I can’t be a shrinking vine when you’re here and Miss Independence when you’re gone (…).“ POLIZEI/STAAT MACHT’S JA SO, DASS DIE SCHEIBEN NICHT STIMMEN; NACHTFAHRVERBOT WEGEN VIER STUNDEN (…) STAAT WILL NUR KASSIEREN. DIESE 40-T-GRENZE IST ’NE WILLKÜRLICHE FESTLEGUNG, WEGEN ÜBERLADUNG IST NOCH NICHTS PASSIERT. DA GEH ICH MIT DEM STUNDENZETTEL ZUM ARBEITSGERICHT UND DA SEHEN DIE, DASS ICH SOWIESO ZU VIEL ARBEITE; DA DRÄNGELT KEIN DISPONENT, WEIL DIE GANZ GENAU WISSEN, DU
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oder die Vorschriften strategisch zu nutzen (GEWISSES ERPRESSUNGSPOTENZIAL). Auch die Polizei wird als hilfreich – Kontrollen sorgen dafür, dass die Fahrzeuge Sicherheitsstandards genügen müssen – und schikanierend – überflüssige Kontrollen – zugleich empfunden. Widersprüchliches Verhältnis zum Vorgesetzten – Verbündeter vs. Gegner: Der Fahrer erhält seine Aufträge vom Spediteur selbst oder einem zwischengeschalteten Disponenten, arbeitet diese klar umgrenzten Aufgaben dann relativ selbstständig ab. Der Vorgesetzte überwacht dies aus der Distanz, fragt höchstens bei Zeitverzögerung nach der Position des Fahrers. Insoweit ist der Vorgesetzte zuständig für Termindruck und Sanktionen, nimmt diese Funktion auch für den Kunden/Auftraggeber wahr. Trotzdem empfinden die befragten Fahrer ihre Vorgesetzten oft als Partner (ICH SACH MIR, WENN’S MEI’M CHEF GUT GEHT, GEHT’S MIR AUCH GUT). Sie leisten schon mal mehr als vorgeschrieben (DU WILLST JA AUCH, DASS ES VORWÄRTSGEHT), erwarten dafür aber auch ein gewisses Entgegenkommen.15 3.3 Vom Widerspruch zur Ambivalenz Befände sich eine Person über einen längeren Zeitraum in Konflikten, wie sie die widersprüchlichen Aussagen nahelegen, wäre diese handlungsunfähig. Für die Fahrer hieße das, sie könnten ihren Beruf nicht ausüben. Dies entsprach aber weder den Aussagen noch dem Handeln der Fahrer. Die Handlungsfähigkeit sowie die Selbstverständlichkeit, mit der die Fahrer die Widersprüche, die mir aufgefallen waren, hinnahmen, wiesen auf eine subjektive Sinngebung hin, die ihnen das Auflösen der Widersprüche ermöglichte. Um diese Sinngebung unter Anwendung des kategorienorientierten Vorgehens der Grounded Theory zu erschließen, setzte ich die Widersprüche als Kategorie in das Codierparadigma ein (vgl. Abb. 2 links).
15
KANNST DORT BLOSS DEINE NEUN STUNDEN FAHREN, MUSST DU DEINE PAUSEN ZWISCHENDRIN MACHEN, DAS GEHT NICHT ANDERS, ANSONSTEN KOMMT SO VIEL GELD AUF DIE ZU AN STRAFE. ES IST UNTERSCHIEDLICH, MANCHE WOLLEN, UND MANCHE WOLLEN NICHT. FÜR MANCHE BISTE E ARBEITER BLOß, UND DIE ANDEREN DA, MERKSTE SCHON, DIE HABEN EIN KAMERADSCHAFTLICHES VERHÄLTNIS MIT DIR, UND DA IST SCHON ETWAS ANDERES.
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Wie oben beschrieben, fasste ich die Widersprüche als Symptome gesellschaftlicher Veränderungen im Sinne der Beck’schen Gesellschaftsdiagnose auf. Die „Risikogesellschaft“ setzte ich deshalb als Ursache ein. Als Kontext wählte ich den Straßengütertransport, der nach mehreren Deregulierungsschüben in den letzten 20 Jahren als dynamischer, internationalisierter, von vielen kleinen und wenigen großen Unternehmen konstituierter Verhaltensschauplatz beschrieben werden kann. Die dort anzutreffenden Arbeitsbedingungen wurden in einer von der Europäischen Stiftung zur Verbesserung von Lebens- und Arbeitsbedingungen durchgeführten Untersuchung als besonders schlecht eingestuft (vgl. EUF 2001). Insbesondere die atypischen und langen Arbeitszeiten, die Umwelteinflüsse, ergonomischen Bedingungen, Kontrollmöglichkeiten, Anspruch sowie Abwechslung der Tätigkeit gelten als problematisch (vgl. EUF 2004, 17; Reisinger & Rieger 2003). Da die Fahrer ihren Beruf ausüben konnten, steht Handlungsfähigkeit als Konsequenz im Codierparadigma. Fraglich blieb, mittels welcher Handlungsstrategien diese hergestellt wird. Wie Beck in seiner Risikogesellschaft nahelegt, muss der Fahrer selbst/individuell die Widersprüche, von der seine Lebenssituation gekennzeichnet ist, auflösen. Geschieht dies, wie oben beschrieben, durch die subjektiven Sinnstrukturen der Fahrer, sollten die (vermeintlichen) Widersprüche auf ebendieser subjektiven Ebene durch die Fahrer reinterpretiert werden. Das subjektive Erleben von Widersprüchen beschrieb Bleuler (1911) als Ambivalenz. Er bezeichnete damit einen Zustand, in dem aufgrund einer „unerledigten Situation“ (Freud 1913; zit. nach Luthe & Weidenmann 1997, 18) widersprüchliche Gefühle, die unbeeinflusst nebeneinander bestehen bleiben (vgl. Graf-Nold 2002, 148), das Handeln und die Weiterentwicklung einer Person blockieren. In jüngeren sozialwissenschaftlichen Ansätzen (bspw. Bauman 1991; Luthe & Weidenmann 1997; Berkel 1997, 270) ist der Begriff der Ambivalenz nicht mehr derart negativ besetzt. Er bezeichnet nun (auch) einen „Mangel an Eindeutigkeit der rollenspezifischen Verhaltenserwartungen (...), eine Chance zur kreativen Ausgestaltung oder Transformation der Situation“ (Luthe & Weidenmann 1997, 14). Dieses Verständnisses von Ambivalenz eingedenk, räumten die von mir aufgezeigten Widersprüche in ihrer subjektiv reinterpretierten Form dem Fahrer also „sowohl Distanzierungs- wie Entfaltungsmöglichkeiten ein“ (ebd.). 3.4 Arbeit als Orientierungspunkt der Identitätsbildung Die Fahrer nutzen diese Möglichkeiten und bewältigen die Ambivalenz mit Handlungsstrategien wie MEINE ARBEIT MACHEN und ZU HAUSE KONFLIKTE MEIDEN. Gleichzeitig sind diese aber nur sichtbare Äußerungen im subjektiven
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Empfinden der Fahrer liegender Sinnstrukturen. Meine These ist deshalb, dass sich die Fahrer aufgrund des für die Risikogesellschaft konstitutiven Wegbrechens äußerer Garantien in ihrem Verhältnis zum eigenen Beruf einen Orientierungs- und Haltepunkt16 suchen. Dass die Fahrer gerade auf einen Aspekt ihrer Arbeitstätigkeit zurückgreifen, legt zunächst ihr individueller Hintergrund im Arbeitermilieu (vgl. Brock & Vetter 1982) nahe. Arbeit ist aber für die meisten Menschen ein wichtiger Aspekt von Lebensgestaltung und Selbstverständnis. Als Erwerbstätigkeit ist sie zum einen „das Mittel, durch das die große Mehrheit der Menschen ihren Lebensunterhalt verdient; und zum anderen zwingt sie, als ein unbeabsichtigtes Nebenprodukt ihrer Organisationsform, denjenigen, die daran beteiligt sind, bestimmte Kategorien der Erfahrung auf. (...) Sie gibt dem wach erlebten Tag eine Zeitstruktur, sie erweitert die Bandbreite der sozialen Beziehungen über die oft stark emotional besetzten Beziehungen zur Familie und zur unmittelbaren Nachbarschaft hinaus; mittels Arbeitsteilung demonstriert sie, daß die Ziele und Leistungen eines Kollektivs diejenigen des Individuums transzendieren; sie weist einen sozialen Status zu und klärt die persönliche Identität; sie verlangt regelmäßige Aktivität“ (Jahoda 1983, 136). Das Maß, in dem Erwerbstätigkeit Bedeutung für den einzelnen Menschen, dessen Lebensstil und Identität hat, ist sehr unterschiedlich. Bellah et al. (1996, 65ff.) unterscheiden drei Typen: Als Job ist Arbeit ein Mittel, um Geld zu verdienen und Lebensbedürfnisse zu befriedigen; austauschbar, sobald sich etwas Besseres ergibt (vgl. Oser 2003, 6). Als Karriere hat Arbeit keinen Wert an sich, ist nur von Interesse, insofern sie andere Dinge, bspw. Konsum, ermöglicht. Der Erfolg des eigenen Lebensweges wird vom Erreichen einer bestimmten Position, von Ansehen und Macht in einer Anstellung abhängig gemacht. Obwohl Arbeit hier auch moralisch entwurzelt und an das Ökonomische gebunden ist, so generiert sie doch Selbstachtung (vgl. ebd.). Schließlich kann Arbeit noch die Form der Berufung – eines gelebten Ideals der Verbindung von Tätigkeit und Charakter, welche keine moralische Trennung von Privat und Beruf zulässt – annehmen. Ein solches Verständnis von Arbeit subsumiert das Individuum unter eine gemeinschaftliche, disziplinierte Tätigkeit, in welcher der Wert in der Tätigkeit an sich und nicht nur im daraus resultierenden ökonomischen Nutzen besteht. So tue man das, „was man am besten kann, selbst wenn man nicht der Beste ist“ (Bellah et al. 1996; zit. nach Oser 2003, 6f.), um damit etwas für die Gesellschaft beizutragen. Wegen des erheblichen Anteils, den die Erwerbsarbeit in ihrem Leben
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Nach Rieger (2002, 82) besteht die „Gefahr, dass in der permanenten Vervielfältigung der Bezüge die Möglichkeit eines Haltepunktes und damit das Individuum sich selbst verloren geht. Man muss also (…) Haltepunkte einbauen, die einen solchen Selbstverlust verhindern.“
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einnimmt17, wegen der Spezifik ihrer Arbeitssituation18 sowie dies nahelegender Aussagen19 ordnete ich die Fernfahrer dem Typus „Berufung“ zu, postuliere also eine Verbindung von Tätigkeit und Charakter. In der jüngeren sozialwissenschaftlichen Forschung wurde der statische Begriff des Charakters zugunsten aktiverer, entwicklungsoffenerer Konzepte wie dem der Identität aufgegeben. Entscheidend ist dabei, dass sich kein vorgefertigter und kaum veränderlicher Charakter eines Menschen mit der Welt auseinandersetzt, sondern dass die Identität eines Menschen durch diesen selbst aus seinen vielfältigen Beziehungen zur Welt und zu sich selbst erst konstituiert wird (vgl. Mead 1973; Luhmann 1993b; Bruner 1997). Zur Beantwortung der Frage, wie die Fernfahrer mit den oben angeführten Widersprüchen umgehen, bedeutet dies Folgendes: Die Arbeit, die ein Verhältnis des Fahrers zur Welt und zu sich selbst darstellt, fungiert als wichtiger Bezugspunkt für die Identitätsbildung. In der Form des Berufs20 dient sie als „Vermittlungsinstanz“ (Voß 1997) und „Kupplungssystem“ (Bolte 1988) zwischen Individuum und Gesellschaft. Sie bewirkt, dass die Pluralität von Identitätsangeboten und -entwürfen nicht in einer Anhäufung zusammenhangloser Bilder zerfasert (vgl. Baethge et al. 1989, 243f.). Auch die Widersprüche werden also von den Fahrern subjektiv so reinterpretiert, dass sie sich in ihre Berufsidentität integrieren lassen.21 17 18
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Da die Fahrer die gesamte Woche allein unterwegs sind, bieten sich kaum Möglichkeiten, die Rolle, die sie mit der Berufstätigkeit ausfüllen, zu verlassen bzw. abzulegen. Es dürfte den Fahrern schwerfallen, sich auf die anderen von Bellah et al. (1996) angebotenen Typen zu berufen. Wie die EUF beschreibt, ist es Fernfahrern u. a. aufgrund ihrer Qualifikation nicht möglich, ihren Beruf wie einen „Job“ beliebig zu wechseln. Zwar wechseln sie die Arbeitgeber, der Beruf aber bleibt der gleiche. Auch in Hinblick auf „Karriere“, die zweite vorgeschlagene Alternative, bieten sich für Fernfahrer kaum Möglichkeiten. Die geringen Verdienstmöglichkeiten und geringen Aufstiegschancen (vgl. EUF 2001) lassen den Fahrern letztlich nur die „Flucht“ in die Berufung offen. Diese Einschätzung stützen Verweise auf die persönliche Verbundenheit mit der Tätigkeit (ICH MÖCHTE PERSÖNLICH KEIN’ ANDERN JOB MACHEN. ICH FÜHL MICH SCHON ALS DER MANN, DER DAS IST. ABER DAS RESULTIERT DARAUS, WAS ICH SCHON FRÜHER GERN GEMACHT HAB. MANCHE MACHEN’S NUR, UM GELD ZU VERDIENEN, UND MANCHE, DAS IST IHR HOBBY (...) UND ICH MÖCHTE NICHTS MEHR ANDERES MACHEN UND SO LANGE DAS GEHT. ICH MÖCHTE MICH AN KEINE WERKBANK MEHR STELLEN) sowie die Herausstellung der Nützlichkeit für die Gesellschaft (IN MEINEN AUGEN IST JEDER, DER ES NÖTIG HAT SEINE TÄTIGKEIT MIT MÖGLICHST VIELEN WORTEN ZU RECHTFERTIGEN, ALSO NICHT EINFACH SAGEN KANN, WAS ER NÜTZT, DER SOLLTE SEIN DASEIN IN DER JETZIGEN WELT ÜBERDENKEN). Vgl. zum Konzept des Berufs bspw. Beck, Brater und Daheim (1980), Bolte, Brater und Beck (1988), Voß (1997) und Kurtz (2005). Von Berufsidentität spreche ich dann, wenn Berufe nicht mehr Positionen und Tätigkeitsfelder bezeichnen, die von der technisch-ökonomisch bedingten Arbeitsteilung gesellschaftlich vorgegeben wurden, sondern auf der Ebene der Individuen angesiedelt und vor dem Hintergrund personenbezogener Voraussetzungen und Folgen betrachtet werden (vgl. Voß 1997, 206). Dies bedeutet freilich nicht, dass „primär das einzelne Individuum und seine je persönlichen Fähig-
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3.5 Berufsidentität als vermittelnde Instanz Die Vorgaben der Grounded Theory erlauben zwar, relevant erscheinende Konzepte aus der Literatur in die Theorieentwicklung einzubeziehen, unerlässlich ist dabei jedoch, diese anhand empirischer Daten zu belegen. Dazu müssen sie zunächst spezifiziert und prüfbar gemacht werden. Ich hatte Identität in Anlehnung an das Konzept des „self“ bei Mead als auf sich selbst bezogenes, zwischen dem menschlichen Organismus und seiner sozialen Umgebung vermittelndes Zentrum verstanden, welches zum Zwecke der Herstellung einer Einheit Erfahrungen, Gedanken, Motive und Vorhaben des Individuums organisiert und integriert (vgl. Münch 2002, 277). Bei Vorhandensein einer Berufsidentität müsste der Beruf den zentralen Bezugspunkt in diesem Vermittlungsprozess einnehmen. Neben Organisation und Integration, Leistungen, die es für den Identitätsinhalt erbringen muss, wird dem Individuum zusehends zugemutet, sich durch Bezug auf seine Individualität zu identifizieren (vgl. Luhmann 1993b, 154). Es handelt sich dabei um die soziokulturelle Erwartung der Unterscheidung (vgl. Hillmann 1994, 350f.), d.h. sich aktiv von anderen abzugrenzen: „Selbstbeobachtungen und Selbstbeschreibungen können sich jetzt nicht mehr, oder allenfalls äußerlich, an soziale Positionen, Zugehörigkeiten, Inklusionen halten“ (Luhmann 1993b, 154). Der hier verwendete Identitätsbegriff konstituiert sich demzufolge aus den Kriterien Inhalt und Abgrenzung. Meine These von der Berufsidentität der Fernfahrer als Vermittlungsinstanz wäre bestätigt, formulierten die Fahrer „durch Selbstverweise und durch die Versuche der Selbstunterscheidung von anderen (…) eine exklusive Identität“ (Kruse 2004, 26). In Hinblick auf das Inhaltskriterium konnte ich die Konzepte Unabhängigkeit, Männlichkeit, Leistungsfähigkeit, Ausführen einer sinnvollen Tätigkeit und Verlässlichkeit als von den Fernfahrern wahrgenommene Identifikationsangebote nachweisen.22 Eine Abgrenzung nahmen die Befragten auf horizontaler Ebene23
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keitspotentiale“ (ebd.) im Mittelpunkt ständen. Vielmehr stellen Berufe „sozial typisierte und institutionalisierte überpersonale ‚Muster der Zusammensetzung und Abgrenzung spezialisierter Arbeitsfähigkeiten’ (Brater & Beck 1982, 209)“ (ebd.) dar. Männlichkeit beschreibt Facetten männlicher Arbeitskultur – körperliche Ausdauer, Unempfindlichkeit gegenüber Müdigkeit und Schmerzen, bedenkenloser Einsatz des eigenen Körpers sowie unbändiger Leistungswille auch unter widrigen Bedingungen, Mann als Ernährer (vgl. Florian 1994, 13ff.) – wie sie u. a. von Brock und Vetter (1982) beschrieben wurde. Unabhängigkeit bezeichnet nicht die romantische Verklärung des Highway-Helden, sondern bezieht sich auf die Abwesenheit direkter Kontrolle i. S. v. KEINEN CHEF HINTER SICH HABEN. Über den Nachweis der eigenen Leistungsfähigkeit kann der Fahrer Qualifikation und Tüchtigkeit unter Beweis stellen. Begünstigt wird dies im Fernfahrerberuf dadurch, dass Fahrtzeiten, Routen schaffen, Kilometer etc. in quantitativer und damit objektiv demonstrierbarer und rückmeldetauglicher Form vorliegen. Weiterhin trägt der Fahrer mit seiner Leistung entscheidend zu Gelingen oder Scheitern des Auftrags bei. Verlässlichkeit ist deshalb relevant, weil die pünktli-
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sowohl gegenüber Fabrikarbeitern als auch gegenüber anderen Fahrern (KIPPERvor, beriefen sich dabei auf die langen Arbeitszeiten, Zeitdruck und die Anstrengungen der zu bewältigenden Aufgaben. Auf vertikaler Ebene grenzten sie sich sowohl nach oben (gegenüber der Verwaltung: FAHRER MUSS FÜR DIE OBEN MIT ERWIRTSCHAFTEN; TEIL DES WASSERKOPFS, DEN IN DEUTSCHLAND DIE ARBEITENDEN FINANZIEREN MÜSSEN) als auch nach unten (gegenüber Zwischenhändlern: GEBEN AUFTRÄGE WEITER UND VERDIENEN SO IHR GELD) von anderen Berufsgruppen ab, beriefen sich dabei auf die Nützlichkeit und Produktivität ihrer Tätigkeit (vgl. EUF 2004, 26). Das Erfüllen beider Kriterien bestätigt die Tragfähigkeit des Konstrukts Berufsidentität. Diese wird auf der subjektiven Ebene genutzt, um die Widersprüche (Ursache) aufzulösen und Handlungsfähigkeit (Konsequenz) herzustellen. Die dazu von den Fahrern verwendeten Handlungsstrategien – DEN AUFTRAG ERLEDIGEN, den LKW BEHERRSCHEN, zu Hause KONFLIKTE MEIDEN, Leistungsfähigkeit darstellen etc. – sind dabei nicht nur Ausdruck der Berufsidentität auf der Handlungsebene, sondern (re)produzieren diese – mit neuer Bedeutung (z.B. Selbstaufopferung) – auch auf der subjektiven Ebene. Die Fahrer versuchen damit, „selbst“ gesteckten Ansprüchen, etwa Verlässlichkeit und Leistungsfähigkeit beim Kunden nachzuweisen, zu genügen. Die Aufrechterhaltung der Berufsidentität ist wiederum konstitutiv für die Handlungsfähigkeit der Fahrer und ermöglicht die Ausübung ihres Berufs (vgl. Abb. 3). FAHRER, DIE HERDENTIERE)
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Fazit: Risiko und Gefährdung als latente Konsequenz
Vor dem Hintergrund der Intention der Studie möchte ich aus dem eben dargestellten Nachweis der Berufsidentität der Fernfahrer mitsamt der diese konstituierenden Handlungsstrategien folgende These ableiten: Ein Teil der im Straßen-
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che Auftragserledigung eine der wenigen Möglichkeiten darstellt, in denen der Fahrer soziale Anerkennung (vgl. Holtgrewe et al. 2000) erringen kann. Die Sinnhaftigkeit der Tätigkeit betonen die Fahrer dann, wenn sie gegen Angriffe bzgl. ihrer Fahrweise etc. darauf verweisen, dass sie „Güter für andere“ (Plänitz 1983, 6) transportieren und den WASSERKOPF (Zwischenhändler, Büro) mit erwirtschaften. Eine Identifikation stiftende Funktion der Stellung im Straßenverkehr oder des Lkw, wie sie Florian (1994) nahelegt, konnte ich nicht nachweisen. Sich durch Bemalung oder zahlreiche Lichter als Trucker zu präsentieren, lehnten die von mir befragten Fahrer einheitlich ab. Die Größe des Lkw wird zwar zur Kontrolle gefährlicher Situationen genutzt, dient aber nicht zur aktiven Herstellung von Identität. Die Einschätzung ist selbstverständlich vor dem Hintergrund meiner Stichprobe zu betrachten. Horizontal bezeichnet dabei eine Abgrenzung gegenüber Berufstätigkeiten der gleichen Ebene des Produktionsprozesses resp. Berufstätigen mit ähnlichem Status wie die Fahrer; vertikale Abgrenzung bezeichnet Differenzierungen nach „oben“ – bspw. Verwaltung, Management, Vorgesetzte – oder nach „unten“, – bspw. minderwertiger eingeschätzte Handlangerarbeiten.
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verkehr durch Fernfahrer verursachten Risiken und Gefährdungen lässt sich als verdrängte und/oder latente Konsequenz des in dieser Arbeit herausgearbeiteten Beziehungsgeflechts erklären. Latent sind die Konsequenzen insofern, weil sie von den Fahrern nicht und von der Verkehrsforschung nicht an dieser Stelle des Beziehungsgeflechts (vgl. Abb. 3) gesehen werden. Ich hatte bereits darauf hingewiesen, dass die Fahrer zu den Risiken, mit denen sie jeden Tag zu tun haben, keinen wirklichen Bezug herstellen (können). Sie wissen zwar um die Unfälle von Kollegen, tabuisieren das Thema aber für sich selbst und können den Beitrag, den sie selbst mit ihren Handlungen zum Entstehen von Risiken und den für andere daraus resultierenden Gefährdungen leisten, nicht wirklich in diese Beziehungen einsetzen. Der folgende Interviewausschnitt gibt die besondere Konstellation, in der sich die Fahrer befinden, wieder: MK: IST ES EHER SO, DASS DRUCK AUFGEMACHT WIRD? GEHT DAS DANN VON DEM FAHRER AUS ODER IST DER FAHRER BLOSS DAS ARME SCHWEIN, DAS LETZTENDLICH DIE TOUR MACHEN MUSS, WEIL ER DAZU GEZWUNGEN WIRD? FAHRER: ALSO SAGEN WIR MAL SO, DIE FAHRER STEH’N SCHON UNTER DRUCK. MEISTENS IST ES SO, ICH KANN’S NICHT VERSTEHEN, WENN DU EENE FIRMA HAST, DIE SCHON SCHLECHT ZAHLT, UND DANN DU NOCH GETRIEBEN WIRST. WEIL DANN KANN ICH SAGEN, DU KANNST MICH MAL. ICH SUCH MIR ’NE ANDERE FIRMA. WENN ICH ABER ’NE FIRMA HAB, DIE GUT ZAHLT UND DANN TREIBT, DANN ÜBERLEGT SICH’S JA JEDER NOCHMAL. HÖRSTE OFF, ODER NIMMSTE DAS LIEBER IN KAUF, UND DANN LOCKT JA MEISTENS DER ALTE NOCH UND SAGT: DU, DEINE STRAFE ZAHL ICH. UND DANN IST DAS IMMER SO. UND HINTENNAUS BLEIBT’S AUF DEM FAHRER HÄNGEN. WENN DER FAHRER DANN MAL EINNICKT UND IRGENDWO NEINFÄHRT, IST DER FAHRER DER DUMME. MK: DAS IST JA DAS INTERESSANTE: DU TRIFFST JA DEINE ENTSCHEIDUNG LETZTENDLICH NICHT NUR FÜR DICH SONDERN DU GEFÄHRDEST JA AUCH ANDERE DAMIT. F: DAS ISS’ ES. UND DAS WIRD ABER GERNE ÜBERSEHEN. MK: VOM FAHRER ODER VOM SPEDITEUR? F: VOM SPEDITEUR UND VOM FAHRER. WEIL ES IST JA MANCHMAL AUCH, DU ÜBERSCHÄTZT DICH JA AUCH. DU DENKST, DU BIST NOCH MUNTER, UND HINTENNAUS BISTES ABER NICHT MEHR. HINTENNAUS KANN ICH MIR KEEN’ VORSTELLEN, DER DAS IN SEINER BERUFSZEIT, DIE ER FÄHRT, NOCH NICHT GEMACHT HAT. IRGENDWANN IST IMMER MAL A PUNKT, WO DU SAGST, DU MUSST HEEM, IRGENDWAS IST, DU MUSST HEEM. UND DANN ISSES JA MEIST FREITAG, WO’S BRENNT. UND DANN
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Michael Knoll KANN ES EBEN MAL PASSIEREN, DU HAST 14 ODER 15 STUNDEN AUF DER SCHEIBE. (...) DAS WIRD JEDER SCHON GEMACHT HABEN, ALSO, ICH KANN MIR DAS NICHT VORSTELLEN. UND DANN IST ES ABER AUCH SO: DU MERKST DANN WIRKLICH, DU KOMMST BIS ZU EINEM BESTIMMTEN PUNKT, DA MERKST DU, DASS DU MÜDE BIST, UND DANN MIT EINEM MAL DENKST DU, DU BIST MUNTER. DAS IST ABER, MEINES ERACHTENS NACH IST DAS ’NE TÄUSCHUNG, DAS KANN NICHT ANDERS SEIN. DAS IST, DANN MACHST DU ALLES MIT ROUTINE, DU FÄHRST DANN, UND ICH WÜRD’ AUCH SAGEN, DU BREMST AUCH. ABER OB DU DANN SO NOCH BREMSEN KANNST, DAS GLAUB ICH NICHT. MK: SELBER SCHON MAL SO ERLEBT? F: NA JA, DAS NICH. ALSO, ICH MUSS GANZ EHRLICH SAGEN, ICH BIN VON DER SACHE HER NI, ICH MUSS SO SAGEN ICH HAB’S AUCH SCHON GEMACHT, WEIL MAL SONNABEND FRÜH WAS VORGEHABT UND NOCH IN ITALIEN GEWESEN. WIE WILLST’EN DA HEEME, DA MUSSTE DANN IRGENDWO MAL (...). ABER EIN UNGUTES GEFÜHL HAB ICH DA IMMER DABEI.
Wenn ich gemäß meiner These Risiko und Gefährdung als (latente) Konsequenzen der Handlungsfähigkeit der Fahrer in das Codierparadigma (Abb. 3 rechts) einfüge, wie wirken dann Kontext und Handlungsstrategien, was folgt für Fahrer und Gesellschaft? 4.1 Gefährdungen aus Kontext und intervenierenden Bedingungen Lohnsystem: Insbesondere leistungsbezogene Entlohnung nach gefahrenen Kilometern oder Stunden stellt wegen des sonst eher geringen Verdienstes immer wieder eine Versuchung für die Fahrer dar. Verschärft wird die Situation dadurch, dass viele Fahrer aus der Arbeitslosigkeit rekrutiert werden oder die Fahrerei nur kurz machen wollen, um etwa Schulden oder Kredite abzubauen. Für Speditionen sind v.a. solche Entlohnungssysteme „interessant“, die bzgl. Gebühren, Lohnsteuer und Sozialversicherungsbeiträgen „Spielraum“ erlauben (vgl. Hofer 1994, 88ff.). Besonders Drittstaatenlenker werden oft in der Grauzone beschäftigt. Entgrenzung beruflicher und privater Interessen: Der Fahrer will seiner Familie etwas bieten, wenn er schon selten zu Hause ist. Zudem wird er Möglichkeiten, zusätzliches Geld zu verdienen, wahrnehmen, wenn für den Feierabend ohnehin nur die Dusche auf dem Rastplatz und ein Schlafplatz in einem Gewerbegebiet in Aussicht sind. Ignorieren körperlicher Anzeichen von Müdigkeit: Aufgrund stets langer und häufig atypischer Arbeitszeiten haben die Fahrer bereits Erfahrung im Be-
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kämpfen von Müdigkeit. Denkbar ist, dass sie einer Kontrollillusion unterliegen und die tatsächliche Gefahr, am Steuer einzuschlafen, nicht wahrnehmen (wollen).24 Leistungsfähigkeit unter schwierigen Bedingungen ist zudem konstitutiv für die Berufsidentität der Fernfahrer (vgl. Abb. 3). Verzerrte Einschätzung von Risiken: Die Einschätzung von Risiken wird durch zahlreiche Einflussfaktoren vermittelt und teilweise auch verfälscht (vgl. Jungerman & Slovic 1993). Anhand der Einschätzung der Fahrer zur Selbstbestimmung ihrer Tätigkeit liegt das Auftreten von „Double Standard“ (vgl. Luhmann 1993a, 330) nahe. Demgemäß gehen die Fahrer dann höhere Risiken ein, wenn ihnen die Entscheidung darüber selbst übertragen wird, als wenn die Zuweisung durch den Disponenten erfolgt. Wie im Interviewausschnitt ersichtlich, unterscheiden sie nicht wesentlich zwischen Gefährdungen für die eigene Gesundheit und denen für andere Verkehrsteilnehmer. Stress durch empfundenen Kontrollverlust: Als besonders belastend erleben die Fahrer den Zeitdruck aus der Einbindung in Produktions- und Lieferketten. Ob Beanspruchungen als Stress empfunden werden, hängt dabei eher von der subjektiv erlebten Bedrohung durch diese denn von objektiv als beanspruchend feststellbaren Arbeitsbedingungen ab (vgl. Richter & Hacker 2000; Frese & Semmer 1991). Bedrohung besteht dann, wenn aus stark aversiven und (wahrscheinlich) nicht zu vermeidenden Situationen Anforderungen bzw. Belastungen resultieren, die mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen scheinbar nicht bewältigt werden können (vgl. Ulich 2001, 453). Das Selbstverständnis der Fahrer als selbstbestimmt und leistungsfähig, als „eigener Chef“ und damit im Besitz der Kontrolle erklärt, warum sie zahlreiche Beanspruchungen als nicht so belastend einstufen, wie dies zu vermuten wäre. Es verdeutlicht zudem, dass die Entwicklungen der letzten Jahre – bspw. die durch engere Disposition hervorgerufene Verringerung des Vorlaufs, die größere Verdichtung der Arbeitsabläufe und zusätzlich zu bearbeitende Aufgaben – für die Fahrer zu einer geringeren Vorhersehbarkeit und damit zwangsläufig zu Kontingenzerfahrungen führen. So wird durch die neuen Arbeitsbedingungen nicht nur der Druck auf die Fahrer erhöht, es werden zudem die Stress reduzierenden Ressourcen der Fahrer ständig verringert. Die Fahrer sollen den verschärften Wettbewerb und die neuen Rationalisierungspotenziale auffangen, können die damit einhergehende Verschlechterung der Arbeitsbedingungen aber nicht kompensieren (vgl. Hermann 2004, 33).
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Eine Studie zum Auftreten von Sekundenschlaf bei Fernfahrern (vgl. Universitätsklinikum Tübingen 2004) stützt diese These.
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4.2 Gefährdungen aus den Handlungsstrategien Dispositionsspielräume der Arbeitstätigkeit: Die Zustellung der Fuhren ist Teil der mit dem Fernfahrerberuf verbundenen Anforderungen. Dispositionsspielraum besteht dann, wenn über die vertraglich vereinbarten Leistungen des Fahrers hinausgehende Handlungen gefordert werden. Der Fahrer kann diese ablehnen, müsste dann aber wohl die Firma wechseln. Gegen das TREIBENLASSEN wird er sich entscheiden, wenn die Bezahlung schlecht ist; ist sie gut, DANN ÜBERLEGT SICH’S JA JEDER NOCH MAL. HÖRSTE OFF, ODER NIMMSTE DAS LIEBER IN KAUF. Er entscheidet also selbst. Vor dem Hintergrund der eigenen Berufsidentität sieht der Fahrer die zusätzliche Tour neben finanziellen Aspekten evtl. als Herausforderung an und kann damit seine Leistungsfähigkeit unter Beweis stellen. Stille Arbeitsbündnisse: Der direkte Vorgesetzte ist während der Arbeitswoche neben dem Kunden einziger Bezugspunkt für den Fahrer, damit auch eine der wenigen Quellen sozialer Anerkennung (vgl. Holtgrewe et al. 2000). In einem „stillen Arbeitsbündnis“ (Billerbeck 1998, 116) weiß der Vorgesetzte um die Einstellung des Fahrers zur Arbeit (keine Scheu vor harter Arbeit, sich auch mal fordern gehört dazu) und kann auf die Bereitschaft des Fahrers rechnen, ein gewisses Maß an Mehrarbeit zu leisten und gegebenenfalls Vorschriften zu übertreten. Im Gegenzug erwartet der Fahrer, dass ihm der Disponent/Spediteur gewisse Freiheiten zugesteht – bspw. werden nicht alle Kontrollmöglichkeiten (etwa Ortung via Satellit) ausgeschöpft –, sowie die Würdigung seines Beitrags.25 In einem solchen „Verhältnis persönlich-sachlicher Verstrickung“ (Glißmann 2002, 250) kann es dem Vorgesetzten gelingen, das Bestreben der Fahrer, ihre tägliche Arbeit auch nicht nur als „Dienst nach Vorschrift“ zu sehen, in eine Selbstverpflichtung zu lenken. Die Forderung des „Alten“ wird dann als Sachzwang erlebt, als Fuhre, die „eben noch gemacht werden muss“. Weil feste und objektive Grenzen fehlen, kann der Fahrer nie sagen: „Jetzt habe ich genug gearbeitet.“ Da er direkt angesprochen wird, fühlt er sich „als Person gefordert“ (ebd.), was wiederum seine Berufsidentität thematisiert. Die so erzeugte Selbstverpflichtung führt nicht selten zu Selbstaufopferung und -ausbeutung. Während diese Selbstaufopferung in anderen Tätigkeitsbereichen vornehmlich den Arbeitnehmer selbst schädigt (vgl. Glißmann & Peters 2001; Peters & Schmitthenner 2003), wird die Situation für Fernfahrer dann problematisch, wenn sich die Verbrüderung mit dem Chef unwillentlich gegen das Gemeinwohl richtet.26 Dies 25 26
Dass die Fahrer auf Anzeichen von Geringschätzung empfindlich reagieren, zeigte sich darin, dass fast alle von mir befragten Fahrer entweder bereits einmal aus derlei Gründen gekündigt oder zumindest die ernsthafte Absicht deutlich gemacht haben. Eine ähnliche Problematik sprechen Breitscheidel (2005) in seiner Untersuchung zum Alltag in Pflegeheimen und Hofer (1994) bei Busfahrern an.
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trifft dann zu, wenn Selbstaufopferung den Fahrer dazu bringt, trotz Ermüdung zu fahren, gilt aber auch dann, wenn die Verbrüderung andere Fahrer/Firmen wegen des so verschärften Wettbewerbs dazu zwingt, ebenfalls mit derlei Praktiken zu arbeiten. Das je individuelle Handeln wird so zum Sachzwang des gesamten Systems und fällt als solcher wieder auf den einzelnen Fahrer zurück. Ohne dies zu erkennen, ist der Fahrer in diesen „von selbst ablaufenden Prozessen Subjekt und Objekt zugleich“ (Glißmann 2002, 253). 5
Diskussion
Mit der diesem Aufsatz zugrunde liegenden Studie konnte ich zeigen, dass die von Fernfahrern ausgehenden Gefährdungen nicht allein auf intendiertes oder fehlerhaftes Handeln zurückgeführt werden können. Das sie selbst und andere gefährdende Handeln konnte ich anhand von Interviewdaten als latente Konsequenz eines funktionsfähigen Beziehungsgeflechts identifizieren, als dessen zentrale Kategorie die Berufsidentität der Fernfahrer fungierte. Dass dieses besondere Verhältnis zur Arbeit dem Fahrer als Vermittlungsinstanz jener Widersprüche dient, die aus seinen Arbeitsanforderungen und von seinem soziokulturellen Umfeld an ihn gestellt werden, spricht gegen ein „Ende der Arbeitsgesellschaft“ (Gorz 1989). Es scheint vielmehr so, dass an Veränderungen im Bereich der Arbeit, ihrer Organisation und Ausgestaltung gesellschaftliche Entwicklungen beobachtbar seien. Sich mit den Vorgesetzten zu arrangieren und aus der eigenen Leistungsund mitunter Leidensfähigkeit Identifikationspotenziale zu ziehen, hat für Fernfahrer Tradition. Die Vereinzelung in ihrer Arbeitstätigkeit und die damit einhergehenden, direkt aus der Bewältigung der Arbeitstätigkeit entspringenden Identitätsangebote sowie soziale Anerkennung, die personspezifisch zurückgemeldet wird, erschweren traditionelle, insbesondere kollektive Ansätze zur Verbesserung ihrer Situation. Die Nische, in der sich die Fernfahrer eingerichtet haben, wird allerdings zusehends durch die Verdichtung der sie umgebenden Strukturen und Prozesse, zudem die Verwissenschaftlichung ehemals auf persönlichen Kontakten basierenden Beziehungen bedroht. Der Fahrer sieht sich als „letztes Glied in der Kette“, das zwischen widersprüchlichen Anforderungen vermittelt. Die Notwendigkeit zur Vermittlung kann in Verbindung mit dem in Abschnitt 3 beschriebenen ambivalenten und damit ein Stück weit offenen Charakter der Situation aber auch Chance sein, neue Kompetenzen und damit neue Möglichkeiten zur Bestimmung ihrer Berufsidentität zu entwickeln (vgl. Baitsch 1985). Voraussetzung dafür ist, dass die Fahrer erkennen, dass sie ihre schwierige Situation mit ihrem Handeln selbst (mit) herstellen und aufrechterhalten, sie in
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diesem schwierigen Beziehungsgeflecht „Opfer und Täter zugleich“ (vgl. Hoff 1985, 16) sind. Erschwert wird dies durch jene Managementpraktiken, die auf die Subjektivität – z.B. Gefühle, Bedürfnis nach Anerkennung und Orientierung – der Fahrer zugreifen (vgl. Schmidt 2001; Moldaschl & Voß 2002). Wenn die Auseinandersetzung auf diese Ebene getragen wird, kann Widerspruch auch nur dort entstehen. Die sich andeutende Ausweitung der Aufgaben der Fahrer, v.a. jene, die eine Zunahme sozialer Kontakte ermöglichen, kann zur Ausbildung einer reklamierenden Subjektivität (vgl. Peters 2001; Kleemann, Matuschek & Voß 2002, 83) und zur Überwindung der von starren Leistungsprinzipien geprägten Berufsrolle beitragen. Die Studie zeigte zudem, dass neben psychologischem Fachwissen auch Offenheit für soziale, institutionelle und ökonomische Bedingungen unserer Gesellschaft (vgl. Bierhoff & Auhagen 2003, 14) Voraussetzung dafür ist, „dem gesamten System Straßenverkehr [gerecht zu werden] und nicht nur der Aufgabensetzung, übriggebliebene technische, juristische oder menschliche Probleme zu eliminieren“ (Häcker & Echterhoff 2002, 270). Ich hoffe, mit dieser Studie einen Beitrag dazu zu leisten, das Verhalten der Fahrer, die mir bei meiner Arbeit sehr geholfen haben, etwas besser zu verstehen und sog. Entscheidungsträger für derzeit beobachtbare Entwicklungen, die über den hier untersuchten Bereich des Straßengüterverkehrs hinausgehen, zu sensibilisieren. 6
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Michael Knoll
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Junge Kulturproduktion – Selbstverwirklichung und Arbeit in Berlin-Mitte
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Junge Kulturproduktion1 – Selbstverwirklichung und Arbeit in Berlin-Mitte Junge Kulturproduktion – Selbstverwirklichung und Arbeit in Berlin-Mitte
Jakob Schillinger
Gegenstand des Projekts „Junge Kulturproduktion“ ist eine lokale popkulturelle Szene, die mit dem Berliner Bezirk Mitte assoziiert wird. „Junge Kulturproduktion“ setzt sich auf mehreren Ebenen mit den sozialen, ökonomischen und psychologischen Prozessen auseinander, die diese Szene konstituieren. Im Zentrum dieser Prozesse steht die Figur des Lifestyle-Produzenten, der sich einer spezifischen Ästhetik der Existenz verschreibt. Weil er darin gesellschaftliche Paradigmen – insbesondere das der Individualität – verkörpert, bemühen sich viele, seinem Vorbild nachzueifern. Der Lifestyle-Produzent wiederum ‚professionalisiert‘ diese Funktion, widmet sich ihr voll und ganz, sodass in seiner Lebensweise gesellschaftliches und ökonomisches Agieren zusammenfallen. Sie umfassen seine gesamte Existenz, kondensieren sie zum Image, das als Chiffre in den kommunikativen Kreisläufen der Image-Produktion und -Reproduktion zirkuliert. Der Lifestyle-Produzent bewegt sich mithin an der Schnittstelle zweier Ökonomien: Dabei handelt es sich einerseits um jene Marktökonomie, deren funktionalistische Rationalität den vorherrschenden Ideen von Effizienz, Nutzen und Arbeit als Ursprung und Referenzpunkt dient. Andererseits geht es um eine symbolische Ökonomie zwischenmenschlicher und gesellschaftlicher Hierarchien, Zugehörigkeiten und Begehrlichkeiten. In Letzterer zirkulieren nicht nur andere ‚Währungen‘; sie gehorcht einer eigenen Logik, die sich der Tauschlogik des Marktes bisweilen widersetzt. Der Lifestyle-Produzent vereint diese beiden Logiken in sich. Indem er sich gänzlich der im Folgenden behandelten Ästhetik der Existenz verschreibt, beschreibt er den Raum ihres Zusammenwirkens und schreibt sich in ihn ein – eröffnet und besetzt ihn zugleich. Die Integration der gegensätzlichen Logiken kann jedoch nur in der Vermittlung, nie in 1
Mein besonderer Dank gilt Immo Lüdemann. Wir entwickelten die dritte Phase des Projekts – den Film Junge Kulturproduktion gemeinsam. Außerdem danke ich den übrigen Mitwirkenden an diesem Film: Markus Ruff (Ton, Kamera), Lisa Rave (Kamera), Jochen Jezussek (Tonmischung), Ivonne Dippmann (leitende Assistentin am Set), Universität der Künste Berlin, Agentur Typeface und den Darstellern: Jonas, Vladimir, Stiliana, Kevin, Karo, Janine, Martin, Sascha, Linda, Jade.
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Übersetzung oder ‚Umrechnung‘ ihrer ‚Währungen‘ bestehen. So ist der Lifestyle-Produzent gezeichnet durch einen latenten Zwiespalt, der stets aufzubrechen droht. Der Lifestyle-Produzent ist eine prekäre Figur.
Abbildung 1:
VIP-Party
Indem sich in meiner Arbeit analytische Methodik und künstlerisches Verfahren wechselseitig informieren, entfaltet „Junge Kulturproduktion" die angedeutete Problematik auf ästhetischer Ebene: Zum einen gestalte ich Konstellationen und Situationen, die neben mir eine Reihe von Akteuren aus dem Umfeld der Szene einbeziehen. Zum anderen halte ich die darin stattfindenden Interaktionen und Dynamiken in Dokumenten fest – Text, Fotografie, Video. Der folgende Text ist Kommentar, Ergänzung und Lektüre einer künstlerischen Arbeit im Hinblick auf das Thema Arbeit.
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Der erste Teil beleuchtet die Figur des Lifestyle-Produzenten und seinen Aktionsraum, die Berliner Szene. Ausgehend von Gesprächen mit Protagonisten der Szene und darauf aufbauenden Recherchen will ich hier die verschiedenen Aspekte der Thematik auffächern und für die Fragestellungen sensibilisieren, die den Ausgangspunkt meiner künstlerischen Arbeit bilden. Der Schwerpunkt liegt dabei auf dem Begriff der Individualität: Dieser dient als Kristallisationspunkt zur Problematisierung einer „Selbstverwirklichungs“- und „Selbstbestimmtheits“Dogmatik, deren Wirkmacht sich weit über die Grenzen der beobachteten Szene hinaus erstreckt. Die soziologischen und kulturkritischen Überlegungen des ersten Teils stehen von vornherein unter einem Vorbehalt, der die künstlerische Bearbeitung, die Zuspitzung der Problematik auf ästhetischer Ebene verlangt. Der zweite Teil dokumentiert diese beispielhaft anhand von Fotos und eines Transskripts des Films Junge Kulturproduktion. Der dritte Teil behandelt die Entwicklung meines künstlerischen Verfahrens. Teil I Michel ist Anfang dreißig. Tagsüber ist er in den Berliner Szene-Cafés, nachts auf allen wichtigen Partys anzutreffen. Er trägt hippe Klamotten, besitzt über 100 Paar Turnschuhe und scheint nichts zu vermissen. Eine Anstellung hat er allerdings nicht. „Wir machen nichts, hängen den ganzen Tag rum und werden gesponsert“, erklärt er vergnügt. Hier enden seine Erklärungen aber auch schon: „Wie das funktioniert, (...) sag ich dir nicht. (...) das ist unser Geheimnis.“ Die Antwort ist rasch gefunden: Michel ist Teil einer popkulturellen Szene, die wie viele andere zum Trend geworden ist. Medial vervielfältigt durch Fernsehen und Magazine, findet das Szene-Treiben von Berlin-Mitte in der deutschen Provinz wie in internationalen Metropolen Publikum und Nachahmer. Das macht seine Protagonisten interessant für Marketingagenturen, die ständig darum bemüht sind, die Produkte ihrer Auftraggeber mit „Bedeutung“ aufzuladen. In einem Schauspiel, das vor allem Lifestyles und die dazugehörigen Gadgets verkaufen soll, sind Menschen die wichtigsten Medien. „Das globale Netzwerk aus Opinionleadern, Artists und kreativen Zellen ist das Tool zur Umsetzung einer erfolgreichen und trendorientierten Markenführung“, formulierte die Agentur Movement Marketing einst auf ihrer Webseite. Kaum verwunderlich also, wenn dieses Netzwerk großzügig unterstützt und, wo nötig, so Michel, „in eine bestimmte Richtung gelenkt“ wird. Textilkonzerne finanzieren schon einmal den Betrieb einer „illegalen Bar“ in einem Abbruchhaus, zu der 200 Schlüsselfiguren der Szene einen symbolischen Schlüssel (anstatt des Eintrags auf der Gästeliste)
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bekommen. Einzige Auflage: Ein Kreis von Freunden, die dort regelmäßig „abhängen“, trägt die Klamotten des Sponsors zur Schau. Das Prinzip des Sponsoring, aus Sport und Popkultur wohlbekannt, wird hier auf die Mikroebene übertragen. Below-the-line-Marketing oder Individual Sponsoring nennen die Agenturen solche Praktiken, über die sich der Lifestyle von Michel und anderen finanziert: der Lifestyle von Lifestyle-Produzenten.
Abbildung 2:
Multiplikatoren im Club „Cookies“
Lifestyle-Produzenten – „das sind beispielsweise Clubbesitzer oder eben einfach Leute, die in der Szene rumhängen, die man immer und immer wieder sieht – Leute, die halt was machen“, so Michel. Allgemeiner erklärt Inga: „... wir sind hier in Berlin (...) alle schwer verbunden – irgendwie so szenemäßig miteinander oder auch arbeitsmäßig oder freundschaftsmäßig. Wir würden auch alle für uns alleine glänzen, aber zusammen glänzen wir noch heller.“ In der Gleichsetzung der Begriffe Arbeit, Freundschaft, Szene definiert Inga den LifestyleProduzenten; mit „glänzen“ bestimmt sie das wesentliche Prinzip seines Wirkens – vielmehr muss man sagen: ihres Wirkens, denn wie aus beider Aussagen her-
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vorgeht, gibt es Lifestyle-Produzenten nicht im Singular. Der Lifestyle der Lifestyle-Produzenten ist identisch mit der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft; sie bilden ein Netzwerk, sind Opinionleader eben nur als Szene. Konstitutivum dieser Szene und zentrales Kriterium der Zugehörigkeit ist laut Inga „Arbeit“ und auch Michel subsumiert in seiner Aufzählung „Leute, die halt was machen“. Diese „Arbeit“ wiederum ist untrennbar verknüpft mit dem „Glänzen“; die „Leute, die halt was machen“, sind „Leute, (…) die man immer und immer wieder sieht“. Arbeit, Szene und Glänzen sind nur in ihren Wechselwirkungen und nur von ihren Verknüpfungen her begreifbar. Der folgende Versuch einer isolierten Betrachtung dieser drei Aspekte muss schnell an seine Grenzen stoßen. Im Aufzeigen dieser Unmöglichkeit entfaltet sich die Problematik, die Junge Kulturproduktion auf ästhetischer Ebene zuspitzt.
Abbildung 3:
Inga
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Arbeit Inga betreibt ein Musiklabel, das unter anderem die erfolgreiche Band Mia unter Vertrag hat. Sie ist Kulturschaffende, oder „Kulturproduzentin“, um im Vokabular der Szene zu sprechen. In diesem Selbstverständnis identifiziert sie Erwerbsarbeit und Selbstverwirklichung. In Ingas Fall leuchtet das ein. Auch verwundert es wenig, dass Sponsoring-Aktivitäten sich längst nicht mehr auf Popstars beschränken, sondern eben auch Persönlichkeiten aus deren Umfeld – gewissermaßen aus der ‚zweiten Reihe‘ – miteinbeziehen. Michel allerdings beansprucht das gleiche Selbstverständnis des Quasi-Celebrity und bekommt diesen Status auch zugesprochen. Auf die Frage, was man denn tun müsse, um als Opinionleader gesponsert zu werden, entgegnet er süffisant: „Man muss viel Zeit verbringen und sich im Park herumlümmeln und in Cafés und so. Weißt du, man muss halt arbeitslos sein.“ Tatsächlich benennen Inga und Michel dasselbe Prinzip. Der vordergründige Widerspruch verweist auf den Kern der Sache. Inga meint mit „Arbeit“ nämlich keineswegs nur ihre Tätigkeit als Musikproduzentin und LabelManagerin. Offensichtlich geht es ihr gar nicht so sehr darum, für ein Publikum zu produzieren, sondern vielmehr darum, dafür – oder zumindest davor – zu existieren, zu „glänzen“. Inga produziert eben nicht nur Musik, sondern vor allem Lifestyle. „Arbeitslos sein“ wiederum heißt für Michel keineswegs Nichtstun, sondern ist vielmehr die Voraussetzung, „was [zu] machen“. Unternehmungsfreudige Geschäftigkeit setzt er voraus; ‚Macher‘ zu sein ist für LifestyleProduzenten eine Selbstverständlichkeit. Es geht, mit anderen Worten, weniger darum, was die Lifestyle-Produzenten tun, als vielmehr darum, was sie nicht tun. Tätigsein wird vorausgesetzt – Nichtstun bezieht sich auf den klassischen gesellschaftlichen und kulturellen Rahmen des Tätigseins, bezeichnet eine Absage an fremdbestimmtes Arbeiten, an feste Arbeitszeiten, Anstellungsverhältnisse, aber auch an die damit verbundene ‘Sicherheit’. An ihre Stelle treten Selbstbestimmtheit und eine radikal verstandene Selbstverwirklichung. Weil die LifestyleProduzenten darin dem gegenwärtigen Individualitätsdogma in beispielloser Konsequenz entsprechen, orientiert sich die „Sekundärzielgruppe“ – die Konsumenten – an ihnen. Als Alltags-Celebrities geben sie dem abstrakten Selbstverwirklichungsimperativ Gestalt, rücken seine Erfüllung in greifbare Nähe. Werden die Lifestyle-Produzenten selbst diesem Anspruch gerecht? Begeben sich die Gesponserten nicht zwangsläufig in die Abhängigkeit straff kalkulierender Konzerne? Die vermeintliche Instrumentalisierung aber ist im Selbstverständnis der Lifestyle-Produzenten wesentlicher Bestandteil der Selbstverwirklichung. Die Widersprüchlichkeit dieser Struktur scheint auf, wenn Michel immer wieder seine Ausführungen unterbricht: „Die Sponsoren legen großen Wert darauf, dass wir nicht bekannt machen, dass wir gesponsert werden.“ Wieso erzählen die Opinionleader dann überhaupt davon? Wie erklärt sich der Stolz,
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der ihre Rede begleitet? Inga beispielsweise hat es finanziell keineswegs nötig, sich von Textilunternehmen ausstatten und das Outfit vorschreiben zu lassen – sie besteht sogar darauf, sehr „eigenwillige Kreationen“ zu tragen. Auf ihre pinke Nike-Jacke angesprochen, erzählt sie dennoch voller Begeisterung, diese sei ein Prototyp, den sie von einer Marketingagentur bekommen habe. Inga betont, „dass die froh sein können, dass ich diese Jacke trage, denn danach wird der Umsatz auf jeden Fall in die Höhe schnellen. Ich bin eine absolute Trendsetterin. Weil ich nichts kopiere, sondern immer nur ich selbst bin.“ Das Sponsoring hat hohe Suggestivkraft. Wer das Ideal verkörpert, wird gesponsert; gesponsert zu werden wird im Umkehrschluss zum Indiz, dann zum Platzhalter und schließlich selbst zum Ideal – das Indiz wirkt konstitutiv. Nicht umsonst übertreiben die Opinionleader offensichtlich gern bei der Schilderung der Sponsorenleistungen: Nur die wenigsten kommen nämlich ohne zusätzliche Verdienstquelle aus. Solche „Gelegenheitsjobs“ mögen sehr zeitintensiv und materielle Existenzgrundlage sein; sie erzeugen aber keine Identifikation. Das Sponsoring hingegen verbrieft die Vorbildfunktion und wirkt damit identitätsstiftend. Die materielle Entlohnung wird zur Nebensache. Etliche „Opinionleader“ gehen durchaus ‚Brotjobs’ nach, um in der verbleibenden Zeit ihre Position in der Szene auszubauen. Anscheinend sind sie dabei viel glücklicher als die, die im ‚Brotjob’ ihre eigentliche Arbeit sehen und denen das so verdiente Geld zur zufriedenstellenden Freizeitgestaltung oft ungenügend scheint. Der Vergleich eines individualgesponserten Gelegenheitsjobbers mit einem deprimierten Hartz-IVEmpfänger macht die große Bedeutung immaterieller Aspekte von (Erwerbs-) Tätigkeit klar. Glänzen Michel kokettiert zwar mit einem müßiggängerischen Habitus; tatsächlich hat er aber alle Hände voll zu tun, um durch ständige Präsenz und innovatives Auftreten seinen Status in der Szene zu halten. Sein Gestus ist kalkulierte Zurschaustellung einer idealen Selbstbestimmtheit und Selbstverwirklichung, die sich einzig als Gestus äußern, die nur als Idee – oder passender: als Image – und in dessen Verkörperung bestehen können. In der wesentlichen Verknüpfung mit Bildhaftigkeit und Publikum wird jede Tätigkeit der Lifestyle-Produzenten zur Darstellung oder vielmehr zur Performance. Die Idee der performativen Selbstverwirklichung verdichtet sich in einem Begriff: „Individualität ist sehr wichtig“, sagt Inga. „Individualität“ markiert im Diskurs der Szene jene aporetische Konstruktion, die Selbstverwirklichung und Selbstbestimmtheit – verstanden als Opposition zu gesellschaftlichen Erwartungen – mit dem Wunsch nach gesellschaftlicher Valorisierung vereint. „Individua-
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lität“ funktioniert als Chiffre für das Ideal, das auch Inga nicht anders denn als Geste in einem Zusammenhang von Darstellung und Publikum zu bestimmen vermag. Einzig in den Schilderungen ihrer Funktion als Opinionleader gewinnt der Begriff Kontur: „Ich bin eine absolute Trendsetterin. Weil ich nichts kopiere, sondern immer nur ich selbst bin.“ Diese Konstruktion – die performative Hervorbringung von Individualität vor anderen – tritt explizit hervor, wenn Inga zuletzt Individualität ex negativo durch ihren Gegenpol – „Masse-Sein“ – bestimmt.
Abbildung 4:
Eingang zum Club „Cookies“
Szene Die Szene ist die Instanz, die zwischen absoluter Individualität und Masse lokalisiert ist und beide vermittelt. Sie steht für einen Mechanismus, der LifestyleProduzenten und Publikum zueinander positioniert, Blickachsen organisiert und die Zirkulation der Images durch mediale Vervielfältigung beschleunigt. Die Szene ist Katalysator der Image-Produktion und -Reproduktion. Die Szene ver-
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dichtet zuallererst die Lebensweise, Gesten und Attitüden ihrer Protagonisten zur Zeichenhaftigkeit.
Abbildung 5:
Schild am Eingang zum Club „Cookies“
Das Prinzip, das die einzelnen Akteure verbindet und ihre Beziehungen organisiert, heißt „Freundschaft“. „wir sind (...) alle schwer verbunden (...) arbeitsmäßig oder freundschaftsmäßig …“ Ingas Rhetorik entspricht einem fest etablierten Code: „Nur für Freunde“ stand stets an der Eingangstür zum berühmten SzeneClub „Cookies“ – und machte damit eine Abgrenzung der Lifestyle-Produzenten explizit, die die Öffnungszeiten (dienstags und donnerstags spät nach Mitternacht) ohnehin implizierten. Personal wie Gäste haben – wie Türsteher Michel – nur Vornamen; man kennt und hilft einander. Die Vermittlungstätigkeit von Marketingagenturen fügt der privaten und der sozialen Ebene eine ökonomische hinzu: Mit ihrer Hilfe finden auch Trendscouts und Marketingleiter großer Unternehmen Zugang zum Freundeskreis. Konsequenterweise bevorzugt die Agentur Häberlein und Maurer die Bezeichnung „Freunde von Adidas“ für die individualgesponserten Opinionleader.
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Im Freundschaftsbegriff der Lifestyle-Produzenten lediglich euphemistische Rhetorik zur Verschleierung cleverer Marketingstrategien zu sehen, griffe zu kurz. Vielmehr setzt sich hier konsequent die Entgrenzung von Arbeit und Privatleben fort, die den Lifestyle-Produzenten ausmacht. Schon Michels oben behandelte Gleichsetzung von „arbeitslos sein“ mit „was machen“ stellt nicht nur den herrschenden Begriff von Arbeit nebst den dadurch strukturierten gesellschaftlichen Kategorien grundsätzlich infrage. Er evoziert ein Tätigsein, das die ‚Arbeit’ ersetzt, ohne an ihre Stelle zu treten – ein Tätigsein, das nicht zuletzt die Trennung von Arbeit und Freizeit oder Privatleben aufhebt und diese Kategorien hinfällig macht. Damit ist das Gravitationszentrum der Szene formuliert: Dasein als Lifestyle-Produktion, das heißt Lifestyle als Erwerbsarbeit. Das ist der Lifestyle der Lifestyle-Produzenten. Lifestyle-Produzenten können durch ihre identitätsstiftende Tätigkeit die negativen Effekte von Arbeitsplatzunsicherheit oder geringem Einkommen zumindest ausgleichen. Angesichts der Debatte um Bürgergeld und Hartz IV, die sich unausgesprochen längst auch um den Aspekt der Zufriedenheit dreht, stellt sich die Frage nach dem Modellcharakter dieses Phänomens. Michel sagt zu Recht: „Wenn das jeder machen würde, würde es nicht mehr funktionieren.“ Der Lifestyle-Produzent kann keine Massenerscheinung sein, weil er die Masse als „Sekundärzielgruppe“ braucht, als Endverbraucher, die seinen Lifestyle zu reproduzieren suchen. Erst die Vorbildfunktion verdichtet seine Lebensweise zur Bildhaftigkeit. Erst die Nachahmung macht sie zum Produkt und ihn zum Produzenten. Dennoch lässt sich ein rapider Bedeutungszuwachs der im Phänomen des Lifestyle-Produzenten zutage tretenden immateriellen oder symbolischen Ökonomien konstatieren. Kann man einen historischen Vorläufer des LifestyleProduzenten in der marginalen Figur des Hofkünstlers erkennen, so bildet er heute in unterschiedlichsten Kontexten und Skalierungen bis zum Celebrity einen wichtigen Wirtschaftsfaktor. Dieser Bedeutungszuwachs legt einen erweiterten Arbeitsbegriff – oder zumindest eine Überprüfung der Kategorien – nahe. Im Feld der Lifestyle-Produktion beschäftigen Tätigkeiten, die sich dezidiert nicht als Arbeit deklarieren und kaum materiell fassen lassen, breite Schichten und ziehen als Ideal weite Kreise.
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Teil II
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Transkript des Films Junge Kulturproduktion
WORKSHOPLEITER: Hallo, zusammen. Ich freu mich, euch heute begrüßen zu können zu unserem Workshop. Wir werden uns beschäftigen mit junger Kulturproduktion in Mitte, und wir wollen so Wege und Möglichkeiten aufzeigen oder vielleicht einfach entdecken, wie wir Teil dieser jungen Kultur werden können. Bevor wir uns jetzt alle vorstellen, sag ich mal kurz was zur Vorgehensweise. Wir haben ’ne ganze Menge Material vorbereitet und zusammengetragen und in so ’nem Pool aufbereitet. Und da können wir alle jederzeit drauf zugreifen, aber Ausgangspunkt sollten halt eure Fragen, Interessen, Anliegen, Stichpunkte von euch einfach sein. Schreibt, wenn ihr eure Zettel habt, immer einfach vielleicht schon mal auf, was euch eigentlich an dieser Kultur interessiert. (sammelt Zettel ein und geht zum Flipchart.) Okay. Danke. Adidas haben wir, Koks haben wir, Musik haben wir. Lodown – wer hat denn Lodown geschrieben? (Eine Teilnehmerin hebt die Hand.) Ist das allen ein Begriff? TEILNEHMERIN (1): Ist das nicht irgend so ein – ja – Skatermagazin, oder? TEILNEHMERIN (2): Nee, das ist nicht wirklich irgendein Skatermagazin, nee. WORKSHOPLEITER: Vielleicht kannst du kurz sagen, warum dich das interessiert. TEILNEHMERIN (2): Die sind ein Lifestyle-Magazin, was aber sehr allumfassend ist. WORKSHOPLEITER: Wie würdest denn du diesen Lifestyle beschreiben? TEILNEHMERIN (2): Lebensgefühl. Von Sneakern bis Musik. WORKSHOPLEITER: Vielleicht gibt’s irgendwelche Vorschläge, was wir hier irgendwie schon mal so zusammenfassen können? Ich fänd gut, wenn wir einfach redundante Sachen schon mal loswerden. TEILNEHMERIN (3): Also, Mode ham wir doppelt. WORKSHOPLEITER: Mode ham wir doppelt? TEILNEHMERIN (1): Ist auch sehr wichtig. WORKSHOPLEITER: Wo haben wir das? Ah ja. TEILNEHMERIN (3): Man könnte Mode und Trend auch zusammenfassen. Und Design. TEILNEHMER (4): Gästeliste und Türsteher sind auch bei Clubs. TEILNEHMERIN (3): Prestige bei Mode. WORKSHOPLEITER: Vielleicht Exklusivität würd ich jetzt auch erst mal runterhängen. Vielleicht auch zu Mode und Prestige. TEILNEHMER (5): Trendsetting kannst du dann auch da runterhängen. TEILNEHMERIN (1): Szene … WORKSHOPLEITER: Und da würd ich auch gern gleich was anschauen, und zwar haben wir einen Clip von ’ner Ausstellungseröffnung von ’ner Circle Culture
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Ausstellung im Cc-Room. (VIDEOCLIP: FEIERNDE SZENE-LEUTE, MUSIK) Okay. Ihr müsst entschuldigen die Qualität – der Clip ist von der Circle Culture-Website. Was haltet ihr denn davon? TEILNEHMERIN (3): Kannst du vielleicht noch mal was zum Cc-Room sagen? WORKSHOPLEITER: Das wollt ich grad sagen: Also, wenn euch irgendwelche Begriffe oder Namen nichts sagen, dann schauen wir uns das nochmal genauer an. Also, Cc-Room ist so ein Projektraum von Circle Culture. Circle Culture ist so ne Kultur/Marketingagentur in Mitte. Cc-Room ist deren Projektraum, und auf der Website erklären die auch so dieses Konzept von diesem Cc-Room. Und zwar: „Wir featuren und betreuen junge Projekte. Cc-Room ist Showroom und Galerie für Arbeiten aus der neuen Kultur und Kunst. Modedesigner, Fotografen, Autoren, Videokünstler und andere Kunst- und Kulturschaffende aus einem internationalen Kreativnetzwerk präsentieren hier. Ein Raum für Dialog, Inspiration und Bewusstseinsbildung.“ Wir hatten gesagt – o.k. – Vernissage und Ausgehen, dann hatten wir uns diesen Cc-Room angeschaut. Vielleicht können wir noch mehr Begriffe da anordnen. Also: Gibt’s Vorschläge? TEILNEHMERIN (3): Dann ja Kunst. TEILNEHMERIN (2): Street-Art war dabei. WORKSHOPLEITER: Genau. O.k., die haben wir jetzt eh schon zusammen. Das passt eigentlich hier ganz gut dazu. Kunst TEILNEHMERIN (1): Kultur? Hatten wir Kultur, Kulturschaffender? WORKSHOPLEITER: Kultur, Kulturschaffender kann ich mal grade aufschreiben. TEILNEHMER (5): Kulturmanagement. TEILNEHMERIN (3): Ich find Bewusstseinsbildung auch noch wichtig. WORKSHOPLEITER: Bewusstseinsbildung, o.k. TEILNEHMERIN (3): Soll ich’s mal dahin machen? Oder vielleicht dorthin? WORKSHOPLEITER: Ach so, ja genau. Das ist super. Was ich grade auch ’nen echt guten Begriff fand, ist Netzwerk, weil – das ist ja schon so ein bisschen, weil eben ... diese ganze kulturelle Netzwerk, oder eben da, wo diese Kultur stattfindet, das ist organisiert wie so ein Netzwerk, und das ist im Prinzip ja genau die Frage, wo wir ansetzen können: Wer ist dieses Netzwerk? Wie sieht das aus? Auch dieser Begriff Kulturschaffender ist gerade gefallen. Wir haben eine Kulturschaffende aus diesem Netzwerk, die Teil davon ist, gefragt, und die wird selbst erklären, wer sie ist und was sie macht. INGA (VIDEOCLIP): Ich hab mein Musiklabel ROT – Respect or tolerate. Und da hab ich fünf verschiedene Acts drauf, und wir alle zusammen ergeben ’ne Gemeinschaft und natürlich auch noch all die Menschen, die da drum arbeiten. Ich
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mein, wir sind hier in Berlin auch zum Teil alle schwer verbunden, irgendwie so szenemäßig miteinander oder auch arbeitsmäßig oder freundschaftsmäßig – und wir würden auch alle für uns alleine glänzen, aber zusammen glänzen wir noch heller. TEILNEHMERIN (1): Ich glaube, sie macht ihren Lifestyle zum Job. WORKSHOPLEITER: Ja? Lifestyle zum Job – ist eigentlich ganz – willst du Lifestyle vielleicht grade mal aufschreiben? (PAUSE) Im Prinzip geht’s, wenn du sagst Lifestyle, vielleicht kann man auch einfach sagen: dieser Lifestyle des Kulturproduzenten oder so. (PAUSE) Also „Kulturproduzent“ – da haben wir auch mal noch ’nen anderen Kulturschaffenden aus diesem Netzwerk zu gefragt, um das so ein bisschen zu präzisieren. Das ist Michel. Der ist Türsteher auf ’ner ganzen Menge wichtiger Partys und, äh, ja. Das können wir uns ja jetzt mal anschauen. TEILNEHMERIN (2): Also, ich versteh überhaupt nicht, wieso ein Türsteher jetzt Kulturschaffender sein soll. WORKSHOPLEITER: Äh. O.k. TEILNEHMERIN (2): Also, in meinen Augen ist kein Türsteher Kulturschaffender. TEILNEHMERIN (1): Gibt’s keinen präziseren Begriff? Weil ich bin damit auch nicht so glücklich. WORKSHOPLEITER: O.k, also das ist auf jeden Fall ein Punkt, also ... TEILNEHMERIN (2): Der schafft ja nicht wirklich irgendwas in dem Sinne. Also was hat er denn kulturell beizutragen? TEILNEHMERIN (3): Aber er ist der Schlüssel, dass andere Leute an dieser Kultur teilhaben können. TEILNEHMERIN (2): Na super! WORKSHOPLEITER: Ich setz mal „Kulturschaffender“ in Anführungszeichen. Vielleicht einigen wir uns erst mal auf einen anderen Begriff, wie du gerade vorgeschlagen hast. Und zwar, also, was ich vorschlagen würde, ist vielleicht Protagonist. Was auf jeden Fall, glaub ich, stimmt, ist, dass er Teil dieser kulturschaffenden Szene ist. Und, äh, insofern weiß ich nicht, ob man ihn jetzt unbedingt selbst als Kulturschaffenden [bezeichnen kann], aber Protagonist ist auf jeden Fall nicht verkehrt, denk ich. Und – schauen wir uns doch einfach den Clip erst mal an.
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Abbildung 6:
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Junge Kulturproduktion (Filmstill)
MICHEL (VIDEOCLIP): Das ist, äh, also, was soll ich denn dazu sagen? Das sind meistens so Leute, guck mal, das sind Clubbesitzer, Leute, die in der Szene rumhängen, die man immer und immer wieder sieht, und so funktioniert das halt, dass so Leute, die irgendwas machen, dann halt, also, gesponsert werden. Eben so. Mit wahrscheinlich auch deswegen, weil – keine Ahnung. WORKSHOPLEITER: Das beantwortet ja vielleicht zum Teil auch schon so ein bisschen die Frage. Es geht zumindest in die Richtung. Eigentlich beschreibt er ja genau: Was sind das für Leute? Er sagt halt: Leute, die in der Szene rumhängen, die man immer und immer wieder sieht und die halt was machen. Aber wie ... TEILNEHMERIN (1): Wozu hat der sich geäußert? Zu Sponsoring? WORKSHOPLEITER: Nee. Also, im Prinzip ging’s darum ein bisschen präziser mit diesem Begriff Kulturschaffender oder Kulturproduzent umzugehen. Vielleicht kann man es auch einfach so sehen, dass Kultur, in dem Fall, letztendlich einfach jegliche Aktivität in diesem Netzwerk bezeichnet, von Freunden oder diesem kulturellen Netzwerk.
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Aber – vielleicht ist diese ganze Frage nach diesem Kulturbegriff ist ja vielleicht auch eher so philosophisch. Vielleicht können wir da einfach mal später darauf eingehen und jetzt erst mal was versuchen, was uns so konkret weiterbringt. Also: Ich fand ganz gut von dir grade diesen Punkt mit dem Sponsoring. MICHEL (VIDEOCLIP): Tatsächlich legen die Sponsoren Wert darauf, dass wir das eben nicht bekannt machen, dass wir gesponsert werden von denen. Ist wirklich wahr. WORKSHOPLEITER: Ich weiß auch nicht. Was war jetzt eigentlich genau deine Frage zu dem Sponsoring? TEILNEHMERIN (1): Er hat’s einfach auf einmal so gesagt. In Bezug auf Szene und Ausgehen. WORKSHOPLEITER: Gehen wir einfach mal weiter, vielleicht erfahren wir ja noch ein bisschen mehr. FRANK (VIDEOCLIP): Na ja, also die Mode, die wird ja so von den Sponsoren der Veranstaltungen bestimmt. Also, ich sag nur: Häberlein und Maurer, rock on! Weil: Die statten einen ja aus. Das ist so wie bei TV B am Schluss, da kommt dann so der Abspann, wer einem alles die Klamotten sponsert Das ist gut, weil – hier, Nike ist ja auch ein netter Sponsor. Und zwar Nike, da kann ich die WBM empfehlen, die macht Mitte Mai – wenn ich das gewusst hätte, dass wir uns heute sehen, dann hätt’ ich doch viel mehr Plakate mitgebracht! WORKSHOPLEITER: Inga haben wir ja grade schon gesehen, die hat da auch was zu zu sagen. INGA (VIDEOCLIP): Nee, ach, Quatsch. Das war abzusehen. Also, ich hab die Jacke … – Aber seine ist mit Perwoll gewaschen; deine nicht. – Nee, meine ist schon sechs Monate alt, Bob. – Dann bist du also richtig früh dran gewesen! Wo hast du die her? – Ja, also, ich hab die bekommen, als die grade prototypmäßig draußen war, da hat mein Freund die mir rausgeholt bei Nike, weil er genau wusste, dass das meine Jacke ist. Und hat richtig Ärger dafür bekommen von Nike. Und da hab ich zu ihm gesagt: Pass auf, also, wenn die dich das nächste Mal volllabern, dann kannste ihnen sagen, dass sie froh sein können, dass ich diese Jacke trage, weil danach wird der Umsatz auf jeden Fall in die Höhe schnellen. – Bist du eine Protagonistin der Jugendkultur? – Ich würd’ sagen, ich bin ’ne absolute Trendsetterin. – Opinionleader? - Ja. TEILNEHMERIN (2): Also, irgendwie– ich dachte, hier geht’s um Kultur, gerade Kultur in Mitte. Und jetzt dreht sich echt alles nur noch um Marketing.
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TEILNEHMERIN (3): Aber das sind ja alles Prozesse, die in Mitte ablaufen, und damit sind sie auch Teil der Kultur. Also, da muss man schon drüber reden. WORKSHOPLEITER: Ich würde auch sagen … TEILNEHMERIN (2): Ja, aber das muss ja nicht so umfangreich sein. WORKSHOPLEITER: Also gut, wir haben ja gesagt, es geht um Kulturproduktion. Aber ich halt’ vielleicht einfach mal diesen Punkt „Kultur“ fest genauso wie wir „Kulturschaffender“ wollten wir ja auch irgendwie klären. Aber ich würde das wirklich gern später machen. Wir sind ja grade wirklich ganz am Anfang. Und äh, ich weiß nicht, gab’s vielleicht ... TEILNEHMERIN (3): Kann ich vielleicht auch noch ’ne Frage stellen? Also, Häberlein und Maurer sagt mir gar nichts. Kannst du dazu noch mal was sagen? WORKSHOPLEITER: Ja. Klar. Also Häberlein und Maurer ist eine „Agentur für Public Relations“. Und damit meinen sie, sie machen „Marken erlebbar“, und das machen sie durch „Sponsoring“ und „Trendmarketing“. Da fällt ja jetzt auch schon wieder dieser Begriff – was sie eigentlich anbieten, ist, dass sie in dieser „Gegenwartskultur“ über dieses „Netzwerk an persönlichen Kontakten“ verfügen, und dieses Netzwerk bieten sie einfach ihren Kunden an. Und eine konkrete Leistung aus deren Leistungskatalog ist eben dieses „Individual-Sponsoring“, von dem die alle grade die ganze Zeit geredet haben. Individual-Sponsoring. Wo hatten wir denn Sponsoring? Hatten wir gar nicht. Ist auch egal. Also auf jeden Fall ... TEILNEHMER (5): Doch da unten! TEILNEHMER (6): Da bei … bei … WORKSHOPLEITER: Stimmt. Stimmt. Äh, gut. Also, so wirklich, also, die Frage ist schon berechtigt, weil auch bis dahin mir nicht so wirklich klar war, um was es eigentlich ging. Also, man bekommt halt, wenn man sich mit diesen Leuten unterhält, langsam immer so ein bisschen mehr eine Idee. Also, wenn man dann Michel konkret fragt zu diesem Individual-Sponsoring MICHEL (VIDEOCLIP): Weil’s irgendwelche – nee, ich will ja eigentlich nicht drüber reden, aber weil’s irgendwelche Läden gibt, die angeblich – eigentlich fängt das damit an, dass man sagt, o.k., man will keine offensichtliche Werbung machen. Sondern man will irgendwie, äh. Es gab doch diese Läden, die halb legal waren, oder illegal. Und dann hat man gemerkt, dass die Leute, die da hingehen, die sind sehr trendy an sich so, und dann hat man angefangen, die Leute, die da arbeiten, auszustatten, um das Ganze in so ’ne bestimmte Bahn zu lenken. Und so hat das angefangen, dass es dann Läden gab, die komplett von irgendeiner Firma outfitmäßig ausgestattet wurden, beziehungsweise Mitarbeiter. – Und was für Firmen machen das zum Beispiel? – Da weiß ich nicht, ob ich drüber
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reden kann. (ZU GÄSTEN, DIE DEN CLUB BETRETEN MÖCHTEN:) Mögt ihr hier kurz vorbei? WORKSHOPLEITER: O.k. Also, was da vielleicht ganz interessant ist, ist, äh, also erst mal einfach diese Verbindung von Sponsoring und Clubkultur. Und das ist vielleicht auch insofern interessant, weil Michel – vielleicht häng ich den – vielleicht hängen wir einfach die Leute auch alle mal da mit drauf, damit wir auch so ’nen Überblick haben, was wir eigentlich gesehen haben. Also, Michel – oh, Inga, super! Ach wir hängen die jetzt einfach irgendwo hin. Auf jeden Fall: diese Verbindung zur Clubkultur. Und was er sagt, ist halt, man will keine offizielle oder offensichtliche Werbung machen, und deshalb dient dann einfach die Clubkultur als Medium. Und da haben zum Beispiel auch Häberlein und Maurer wieder konkrete Beispiele auf ihrer Website, und zwar zum Beispiel so ein Projekt für Smirnoff, wo sie, „Citymanager“ werden die genannt, einsetzen, und die „kommen selbst aus der Zielgruppe“ und verschaffen dadurch eben der Marke Smirnoff „glaubwürdig Zutritt in die sonst eher verschlossenen Outlets“. TEILNEHMERIN (3): Also, der Begriff ist mir nicht klar, Outlets. WORKSHOPLEITER: Was hattest du? TEILNEHMER (4): Citymanager. WORKSHOPLEITER: Citymanager … Das ist halt allgemein so ein bisschen das Ding, dass alles so sehr vage gehalten wird. Also auf dieser Website und auch die ganzen Leute, die wir gefragt haben, sich so unheimlich schwertun, mal echt konkret zu werden. LEILA (VIDEOCLIP): Ich habe registriert, dass Nike seine grauenhaften Klamotten damals im WBM beworben hat, aber … WORKSHOPLEITER: O.k. Was jetzt hier zum Beispiel auch ist: Hier ist jetzt zum zweiten Mal der Begriff WBM und Nike gefallen. TEILNEHMERIN (2): Ich hab jetzt ein ganz anderes Problem, ehrlich gesagt. Ich weiß nicht, ob die jetzt wirklich für mich Mitte repräsentieren können. WORKSHOPLEITER: Mhm. TEILNEHMERIN (2): Auf keinen Fall. Weil die ist so untrendy. Das ist halt so ’ne Partymaus, die gern selber prominent wäre. Also, ich weiß nicht. Die ist nicht wirklich cool, und Mitte ist sie auch nicht wirklich, daher … WORKSHOPLEITER: Das ist vielleicht ein ganz interessanter Punkt. Also generell: Uns geht’s ja auch ein bisschen so darum, eben das alles so ein bisschen zu klären: Was genau ist eigentlich diese junge Kultur, was gehört vielleicht auch nicht dazu? Und wie kann man da auf eine gute Art auch dazugehören und vielleicht auch davon profitieren? Auch vielleicht bei den richtigen Leuten mitmischen. Deshalb ist so was schon ganz wichtig. Und vielleicht: Wie findet man solche Sachen auch heraus? Also, weil zum Beispiel
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TEILNEHMERIN (1): Ja, vielleicht ist Leila zwar in Mitte unterwegs, aber da möchten sich auch viele von ihr abgrenzen. WORKSHOPLEITER: Abgrenzen? TEILNEHMERIN (1): Ja, abgrenzen. WORKSHOPLEITER: Ich schreib das jetzt einfach mal auf. Abgrenzen ist sozusagen – das kann ich mal zu Individualität hängen. Wir dürfen jetzt nicht den Überblick verlieren. Grade gab’s diese Frage nach der WBM noch. Das war sozusagen ’ne illegale Bar, ja? TEILNEHMERIN (1): In einem Abrisshaus war das. WORKSHOPLEITER: O.k. Also es war eine illegale Bar in einem Abrisshaus, und du hast gesagt, es war irgendwie so ’ne exklusive Sache? Oder elitäre Sache eigentlich so ein bisschen. TEILNEHMERIN (7): Ja, es gab keine Gästeliste, es gab diesen Schlüssel, also ... WORKSHOPLEITER: Schlüssel. TEILNEHMERIN (7): Den Schlüssel haben auch nur bestimmte Leute bekommen. WORKSHOPLEITER: Also, was sind das für Leute, die diesen Schlüssel bekommen, bzw. gesponsert werden? …O.k. TEILNEHMERIN (3): Ich schreib’s schon mal auf. WORKSHOPLEITER: Ja, das ist vielleicht ganz gut. Weil wir hatten ja vorher schon so ein bisschen Zoff wegen „Kulturschaffender“, und dann hab ich gesagt: O.k., vielleicht können wir die Protagonist nennen. Er hat jetzt ’nen neuen Begriff: Opinionleader. Das sind ja im Prinzip, wenn ich’s zusammenfassen kann, Meinungsführer TEILNEHMERIN (3): Meinungsmacher. WORKSHOPLEITER: Also sozusagen Leute, an denen sich andere orientieren. TEILNEHMERIN (3): Also, es klingt manipulativer als beispielsweise Trendsetter. WORKSHOPLEITER: Gut, das ist halt ein sehr struktureller Begriff. Also, ich find ja zum Beispiel auch Kulturschaffender schöner, deswegen hab ich jetzt den Begriff hier benutzt. Das war ja auch unser Ausgangspunkt, so ein bisschen. Jetzt schreibst du Qualifikationen. Ja, „was für Qualifikationen?“ haben wir Michel grade gefragt. MICHEL (VIDEOCLIP): Was für Qualifikationen braucht man denn, um zu dieser Superprimärzielgruppe der Opinionleader zu gehören? – Man muss viel Zeit verbringen und sich im Park herumlümmeln und in Cafés und so. Weißt du, man muss halt arbeitslos sein. WORKSHOPLEITER: Arbeitslos sein. Das hört sich natürlich jetzt so ein bisschen fragwürdig an. Ich glaub, das ist halt so ’ne Definitionsfrage. Er sagt das ja auch so leicht ironisch. Worauf er heraus will, also ich mein: Arbeitslos heißt ja nicht
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nichts tun. Ich glaub, die Tätigkeit findet halt einfach auf einer anderen Ebene statt. Vielleicht geht’s auch einfach darum, wem man was anbietet. Bei dieser Frage. Aber vielleicht lohnt es sich auch, da mal einzuhaken. MICHEL: Nein, das sag ich dir nicht. Weil das wäre einfach zu schade. Weißt du, das ist unser Geheimnis hier. TEILNEHMERIN (2): Entschuldigung. Also, ich versteh eigentlich gar nicht, warum wir dieses Thema jetzt so ausarten müssen. WORKSHOPLEITER: Tja, du, ich, äh. Also – worum’s hier eigentlich ging, ist einfach, die Möglichkeiten aufzuzeigen, die sich in diesem Netzwerk bilden. Und so ein bisschen Bewusstsein für solche Strukturen zu entwickeln, damit man darin dann seine Sachen machen kann. TEILNEHMERIN (2): Ich dachte, das Ding hat mit Kultur zu tun. Und nicht über irgendwelche komischen Marketingstrategien. WORKSHOPLEITER: Also, äh: „Zusammenarbeit mit Protagonisten kreativer Disziplinen.“ Da kannst du ja echt nicht sagen, das hat nichts mit Kultur zu tun. TEILNEHMERIN (2): Ja, also, äh. Bei Circle Culture sag ich da ja auch gar nichts dagegen, aber zum Beispiel Häberlein und Maurer – also, was war denn zuerst da? Sind wir doch mal ehrlich: Zuerst war die Kunst da. Bei Circle Culture wird es ja gut umgesetzt, aber Häberlein und Maurer? WORKSHOPLEITER: Aber das ist ja interessant. Wonach definierst du denn dann, wo das gut umgesetzt wird? Und außerdem ist, find ich auch so ein bisschen, du tust halt so, als ob sich das so ausschließt. Und du sagst ja selber: Bei Circle Culture wird das gut umgesetzt. Und dann schauen wir doch vielleicht einfach mal da: Die „arbeiten mit den Agenten der Verbraucherkommunikation“ halt auch zusammen, das sind so Marketingabteilungen. Aber eben ... Auch mit diesem „Netzwerk kultureller Meinungsführer“. Genau darum geht’s ja hier. Also, ich mein, darum soll’s ja auch in diesem Workshop gehen, dass in Mitte Kultur und Marketing oder Kultur und Business einfach zusammenspielen und sich ergänzen und sich gegenseitig pushen, und dass eben so überhaupt auch ganz viel erst entstehen kann. Gut, vielleicht machen wir einfach mal … (GEHT ZUM FLIPCHART UND BEGINNT ZU ZEICHNEN) Also, halten wir noch mal fest, was Circle Culture eigentlich genau macht: Also: Die sagen, die arbeiten mit den kulturellen Protagonisten zusammen, das sind, haben sie gesagt, Fotografen und Leute, die Musik machen. Und, äh, da gehören vielleicht auch solche Türsteher und so was dazu. Und gleichzeitig arbeiten sie zusammen mit den Agenten der Verbraucherkommunikation. Das sind
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also die Marketingabteilungen von Firmen wie Nike. Und, äh … Dann reden sie von diesem Netzwerk der Kulturschaffenden. Also sprich, irgendwie stellen sie auch Verbindungen her, zwischen all diesen und auch zwischen diesen. Und das alles machen sie, damit die Botschaften von denen im Medium, also diese Kulturszene wird sozusagen das Medium, damit die dort wirken können, und wenn die das Medium sind, das unterstellt, dass hier auch noch Leute, Zuschauer oder Konsumenten oder was auch immer, sind, die die Botschaften empfangen. Das ist im Prinzip, was Circle Culture macht. Und das eröffnet natürlich einfach dieser ganzen Kultur, die hier drin ist, super Möglichkeiten. Ist das irgendwie nicht – ist irgendwas nicht klar von dem, was ich grad gesagt hab? (PAUSE) Dann würd’ ich vielleicht vorschlagen, dass wir, bevor wir jetzt immer über so abstrakte Modelle reden, vielleicht einfach mal dieses Modell, was ja irgendwie ganz stimmig ist, einfach mal auf diese konkrete Situation übertragen. Also auf diese Map oder Karte von dem Mitte oder der Kultur, die wir da kennen. Vielleicht nehmen wir als Ausgangspunkt grade mal diesen Cc-Room. Weil, das haben wir ja vorher schon gesehen, dass der schon ziemlich viele von den Begriffen, die wir mit Kultur verbinden, so vereint. Und vielleicht können wir gemeinsam so die anderen dazu in Bezug setzen. Vielleicht kann mir jemand dabei helfen? TEILNEHMERIN (3): Cc-Room ... locations WORKSHOPLEITER: Genau: Locations. Ja, und wenn du WBM zum Beispiel jetzt hierhin hängst, dann sind wir auch schon wieder da, was du meintest, dass da dann Nike dazugehört, als die Verbindung. TEILNEHMERIN (3): Zusammen … Kulturmanagement, Netzwerke als … WORKSHOPLEITER: Ja. Oh, Nike ham wir zweimal. Wenn wir jetzt hier Nike haben, dann können wir vielleicht auch Adidas daneben hängen. Und so wie Nike eben die WBM oder den Spiritroom hat, so hat natürlich auch Adidas sein Outlet. Das ist der Adidas Originals Store. Vielleicht kann das grade mal jemand aufschreiben, dann such ich mal Material dazu. Äh. TEILNEHMERIN (3): Ich schreib’s auf.
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Abbildung 7:
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WORKSHOPLEITER: Und zwar. Also, was wir hier sehen, ist die Eröffnung von ’ner Ausstellung von ’nem Fotografen. In diesem Adidas Store. Und es ist irgendwie große Party, also, es kommen nur eingeladene Gäste rein, und das sind eben diese ganzen Protagonisten eigentlich, also alle Personen, die wir hier so versammelt haben, um diesen Cc-Room. Und die sind dort alle zusammen zum Feiern versammelt. Ähm – TEILNEHMER (6): Das hat irgendwie was von einem Aquarium. TEILNEHMERIN (1): Und das Licht auch. WORKSHOPLEITER: Ja. Aquarium ist gar nicht schlecht. Weil im Prinzip, wenn man noch mal zu unserem Modell zurückgeht, dann heißt das im Prinzip, dass dieses ganze kulturelle Geschehen in so ’ner Art Aquarium eigentlich – und dann macht das auch mit den Zuschauern wieder mehr Sinn. TEILNEHMERIN (3): Aber – WORKSHOPLEITER: Also, im Prinzip: Die werfen ja hier immer Futter rein, das machen die ja nur, weil hier welche zuschauen. Und deswegen wird natürlich
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auch immer dafür gesorgt, dass Zuschauer da sind. Also, auch wenn eben, also auf den Club bezogen, dass man eben, wenn man davorsteht, immer das Gefühl von so ’nem Fortschritt hat. TEILNEHMERIN (1): Zum Greifen nah. WORKSHOPLEITER: Ja. Also, ich mein, wichtig für uns ist: Hier ist ’ne Menge möglich, und hier können wir irgendwie das machen, was wir wollen, deswegen müssen wir irgendwie da reinkommen. TEILNEHMERIN (1): Da kann man sich entfalten. WORKSHOPLEITER: Es fängt einfach damit an, dass du irgendwie was machst. Und hier drin können wir eben was machen. Im Moment sind wir aber noch hier davor, und da sind wir auch noch überhaupt nicht drauf. Deswegen würd ich vorschlagen, wir gehen jetzt einfach mal zum praktischen Teil über. Und jetzt schreibt einfach mal jeder auf ’nen Zettel seinen Namen und kurz ein paar Stichpunkte, was ihr so macht, und vor allem auch, wo ihr Potenzial seht, also was man noch entwickeln könnte, also welche Stärken ihr so habt, die ihr noch ausdifferenzieren könnt, damit ihr besser in dieses Netzwerk passt. Und dann werden wir euch da mal so anordnen und konkret für jeden überlegen: Wo in dem Netzwerk könnte der andocken, und auch so euer Profil richtig rausarbeiten, dass ihr halt so wisst, was ihr sagen müsst, wisst, was ihr tragen müsst, dass ihr einfach da super reinpasst und die Sprache, sozusagen die richtige, sprecht. Ich hol jetzt dafür einfach mal noch so ein paar Magazine, Lifestyle-Magazine, damit wir Inspiration haben. Die hol ich kurz aus dem Auto, dann bin ich wieder da, und dann machen wir das. Jakob verlässt den Raum, die Teilnehmer schreiben. Die Kamera hält auf die Folienprojektion, wo noch immer die letzte Folie (die Circle-Culture-Website) zu sehen ist: „Ohne Stil- und Authentizitätsverlust im Medium wirken“. Nach drei Minuten ist Jakob noch immer nicht zurück, schwarz, Abspann.
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Abbildung 8:
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Teil III Junge Kulturproduktion bearbeitet eben jene aporetische Konstruktion, die der Begriff der Individualität markiert. Das künstlerische Verfahren geht der intuitiven Forderung nach Authentizität nach, die die im Konzept des performativen Hervorbringens vollzogene Gleichsetzung von Darstellen und Realisieren aufruft (siehe Teil I). Die Erörterung dieser Thematik läuft zwangsläufig Gefahr, sich in der grundsätzlichen Problematik von Sein und Schein zu verstricken. Entscheidend aber ist, ob in Bezug auf Lifestyle überhaupt ein Unterschied besteht zwischen Verkörpern, Realisieren und Darstellen und welcher Art diese Unterschiede sind – nicht auf begrifflicher Ebene, sondern im Erleben der Beteiligten. Ambivalenz – einerseits des Wunsches nach Selbstverwirklichung und Selbstbestimmtheit, andererseits ökonomischer, aber auch psychologischer Abhängigkeit von gesellschaftlicher Valorisierung – kennzeichnet zunächst sowohl
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die Lebenswirklichkeit der „Sekundärzielgruppe“ als auch die der „Opinionleader“. Das Ideal ihrer Überwindung bezeichnet, wie oben beschrieben, der abstrakte Begriff der „Individualität“. Im Marketing-Schema präsentiert sich die grundsätzliche Differenz von Ideal und Lebenswirklichkeit nun aber als eine bestimmte hierarchische Beziehung von Elite und Masse. Vokabular und Leistungen der Marketingagenturen bewirken also, indem sie das Wirken dieses Schemas konstatieren und die entsprechenden Funktionen zuschreiben, eine Verschiebung, die ihrerseits die Figur des Lifestyle-Produzenten und ihre Begehrlichkeit überhaupt erst hervorbringt. Der Lifestyle des Lifestyle-Produzenten konstituiert somit ein Feld, das von einem Ideal einerseits und dessen Verkörperungen andererseits markiert wird. Die Differenz zwischen dem Ideal und den vielen Lebenswirklichkeiten erzeugt eine enorme Spannung. Diese ist die Triebkraft für eine endlose soziale Dynamik, die beide Seiten verbindet: nämlich das Verkörpern des Ideals in einem kontinuierlichen Spiel kommunikativer Akte. Das so beschriebene Terrain ist beim Projekt „Junge Kulturproduktion“ nicht nur Gegenstand der Analyse, sondern zugleich Ort – man könnte sagen ‚Medium‘ – künstlerischer Gestaltung. Das hier eingesetzte Verfahren macht die Figuration ‚Lifestyle des Lifestyle-Produzenten‘ erfassbar, indem es die Dynamik unterbricht, so die Spannung intensiviert und ihre Pole sichtbar macht. Das geschieht im Wesentlichen durch die Erzeugung von Interaktions-Situationen (Interview, Workshop, Filmdreh), die fünf Prinzipien folgen: 1. 2. 3.
4.
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Ich nehme selbst an allen Aktionen als Initiator, Gegenüber, Moderator teil. Das Publikum ist beteiligt und befindet sich in einer mehrwertigen Position als Zuschauer, Gegenstand und Mitwirkenden. Die Situationen sind zwar hochartifiziell, aber aus Sicht der Beteiligten keineswegs als Kunstwerk, Vorführung oder Ähnliches zuzuordnen. Die Gestaltung des ‚institutionellen‘ Rahmens, der sie zu ‚Ausnahmesituationen‘ – gewissermaßen Heterotopien – macht, ist wichtiger Teil der künstlerischen Arbeit. Die Situationen sind von hoher Bildlichkeit. Sie übersetzen das in Teil 1 behandelte Schema in räumliche Dimension, metaphorische Sprache und weitere ästhetische Parameter; sie vervielfältigen und überspitzen Rhetorik und Metaphorik der Szene. Identifikation und Ablehnung der angebotenen und entstehenden Metaphern und Rollen spiegeln und brechen die mit den Beteiligten analysierten Positionen in und zu der Szene. In den Situationen entsteht eine Dialektik von Immersion und Reflexion. Sie ermöglicht es den Beteiligten, ihre entsprechende Rolle (Lifestyle-Produzent oder Sekundärzielgruppe) mit großer Bestimmtheit und Entschiedenheit auszufüllen, sich vollständig damit zu identifizieren (zum einen dadurch, dass sie mit ihrem Gegenüber konfrontiert werden; zum anderen durch das Artifi-
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zielle der Situation, durch Kameras etc.). Das Auftreten der Beteiligten bewegt sich so stets zwischen dem Verkörpern einer sozialen Rolle und einem Rollenspiel. Zugleich sind die Situationen von vornherein – durch ihre Thematik, durch ihr Zustandekommen, den ‚institutionellen‘ Rahmen, durch die von mir gelenkte Diskussionsstruktur – auf einen Zustand der Reflexion, der Selbstbetrachtung und -kritik hin angelegt. Interview Die erste dieser Situationen sind ‚Interviews‘ mit Opinionleadern und LifestyleProduzenten. Sie haben lockeren Gesprächscharakter und entstehen spontan: Inga beispielsweise begegne ich auf einer Veranstaltung zum 1. Mai, Michel treffe ich bei seiner Arbeit an der Tür eines Clubs. Ich habe keine vorbereiteten Fragen, gebe mich höchst interessiert – ich verkörpere das Publikum, den Aspiranten, die Sekundärzielgruppe. Videokamera und Mikrofon steigern meine Wirkung.
Abbildung 9:
Workshop-Performance
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Workshop Die zweite Performance konzentriert sich auf diese Sekundärzielgruppe. Die Sekundärzielgruppe, das sind all diejenigen, die (noch) nicht zum engeren Kreis der Szene gehören, die sich aber an deren Protagonisten orientieren. Sie bemühen sich, am Szene-Geschehen teilzuhaben – allerdings nur gegen Eintrittsgeld und mittels Merchandise. Einige von ihnen werden eines Tages selbst auf den Gästelisten der wichtigen Clubs stehen, Drinks und Klamotten umsonst bekommen – und auf allen Partys anwesend sein müssen, um diesen Status zu halten. Die Sekundärzielgruppe ist das Publikum, das es geben muss, damit die Primärzielgruppe überhaupt als Medium dienen kann – und dafür gesponsert wird. Für sie veranstalte ich in den Räumen eines Clubs einen Workshop, in dem man lernen kann, Opinionleader zu werden. Ich verteile im Vorfeld einige Flyer mit der Aufschrift „Money for nothing and the drinks for free“. Sieben Teilnehmer erscheinen. Wieder mache ich das Publikum zu Beteiligten, und wieder wird deren Position betont, indem ich sie mit ihrem Gegenüber kontrastiere. Diesmal bedeutet das, sie mit den teils sehr überheblichen Statements der Opinionleader zu konfrontieren, die ich bei den Interviews aufgezeichnet habe. Ich selbst wirke dabei als affirmativer Moderator. Um zu erklären, wie man Opinionleader wird, komprimiert der Workshop einen sozialen Lernprozess, der sich gewöhnlich über lange Zeiträume erstreckt, auf zwei Stunden. In der gewaltsamen Verdichtung werden die sonst unbewusst ablaufenden Schritte – das Lernen der Codes, deren Anwendung auf die eigene Person, die Profilierung des eigenen Image und die Positionierung im System – vollständig expliziert. Institutionen, Vorbilder und Lebensweisen werden einzig unter dem Gesichtspunkt ihrer strukturellen Funktion analysiert. Das führt zu großem Unmut seitens der Teilnehmer, der sich gegen die Instrumentalisierung durch Marketingagenturen richtet. Diese sei unvereinbar mit Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung.
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Abbildung 10: Workshop-Flyer
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Die Workshopteilnehmer reagieren also vollkommen anders als die Opinionleader auf das gleiche Wissen. In den Interviews wurde deutlich, dass in der Figur ‚Selbstverwirklichung als Erwerbsarbeit‘ der Erwerbsaspekt keineswegs nur ein notwendiges Übel darstellt, dass es um Verwirklichung und Valorisierung des Selbst geht. Deren Gewichtung und Beziehung verhandelt der Workshop. Ich verschiebe ganz explizit den Schwerpunkt der Bemühungen – weg von der Selbstverwirklichung, hin zur Frage, wie man es erreicht, gesponsert zu werden. Das ist ein absolutes Tabu. Anerkennung scheint als Zweck illegitim, denn sie scheint Selbstverwirklichung von vornherein zu korrumpieren. Diese aber gilt als einziges legitimes Ziel und legitimer Inhalt allen Handelns. Daran halten alle fest, obwohl es offensichtlich schwerfällt, den Raum zu füllen, den der abstrakte Begriff Selbstverwirklichung eröffnet.
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Abbildung 11: (sowie die drei vorangegangenen) Workshop-Performance Die Suche nach der identitätsstiftenden „kulturschaffenden“ Tätigkeit konzentriert sich bald auf die doppelte Frage, was Arbeit wertvoll macht und welchen Wert Arbeit hat. Die Antwort scheint zu lauten: Arbeit ist dann wertvoll, wenn sie der Selbstverwirklichung dient. Selbstverwirklichung ist dann wertvoll, wenn sie als Erwerbsarbeit valorisiert ist. Es bleibt die Frage: Was ist Selbstverwirklichung? Sie wird nicht gelöst – aber suspendiert vom Lifestyle des LifestyleProduzenten, der das Indiz der gelungenen Identifikation in den Privilegien der Opinionleader sieht. Diese Erkenntnis ist unbefriedigend. Entsprechend verläuft der Workshop: Drei Teilnehmer brechen vorzeitig ab, die verbleibenden distanzieren sich – bis auf einen – von der ursprünglichen Zielsetzung und üben leidenschaftliche Kritik. Diese Verschiebung ihrer eigenen Position wirkt wie ein Befreiungsschlag, wenngleich sie nur momentan und nur symbolisch innerhalb des WorkshopSetups gelingen kann. Die Position des unbeteiligten kritischen Beobachters ist außerhalb dieser Veranstaltung – im Alltag – kaum haltbar.
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Film Die dritte Performance spitzt diese Problematik zu. Gemeinsam mit dem Experimentalfilmer Immo Lüdemann plane ich die Wiederholung des Workshops als Film; die Teilnehmer wählen wir diesmal gezielt aus – sie sind Amateur-Models bei einer Agentur, die eng mit der Szene verflochten ist. Die Teilnehmer wissen lediglich, dass es sich um ein Kunstprojekt handelt, bei dem sie an einem Workshop zu Jugendkultur teilnehmen und dabei gefilmt werden sollen. Alle arbeiten unentgeltlich. Es ist anzunehmen, dass sie mitmachen, weil sie ihren Platz in der Szene finden wollen, weil sie die Valorisierung ihres Lifestyles suchen. Wir erstellen eine nonlineare Dramaturgie, die ihnen eigenständiges Agieren und Argumentieren abverlangt, uns aber dennoch ermöglicht, den Verlauf weitgehend vorherzubestimmen und zu lenken. Die Reaktionen sind heftiger als beim ersten Workshop; eine Teilnehmerin verlässt wütend den Set, eine andere beginnt verzweifelt zu weinen, beschließt aber letztendlich, doch zu bleiben. Der fertige Film kombiniert Teile aus zwei Takes, montiert und lässt aus. Er ist ein Konstrukt, für das wir als Autoren verantwortlich zeichnen. Dennoch bleibt deutlich spürbar, dass die Teilnehmer keine Schauspieler sind, sondern Darsteller. Die Frage, inwiefern sie sich selbst darstellen oder einem vorgegebenen Skript folgen, ist während des ganzen Films unausweichlich. Sie bleibt ungeklärt. Der Film verhandelt also auf mehreren Ebenen die Frage nach Eigenoder Fremdbestimmtheit: im Inhalt des Workshops und im unklaren Status der Agierenden, der verstärkt wird durch die Ästhetik des Films, die Elemente des Dokumentarischen und der Fiktion verwebt. Der Film spitzt so die inhaltliche Problematik auf ästhetischer Ebene zu.
Modelle: Für eine andere Arbeitsgesellschaft
Modelle: Für eine andere Arbeitsgesellschaft
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Wie zufrieden macht die Arbeit? Eine neue Quantifizierung der nicht pekuniären Kosten der Arbeitslosigkeit Andreas Knabe und Steffen Rätzel
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Einleitung
Die hohe Arbeitslosigkeit stellt nach wie vor eines der größten Probleme der deutschen Wirtschaftspolitik dar. Zur Bewertung der volkswirtschaftlichen Kosten der Arbeitslosigkeit werden dabei, neben den fiskalischen Belastungen, vor allem die direkten Kosten infolge individueller pekuniärer Einkommensverluste durch Arbeitslosigkeit herangezogen. Ein weiterer bedeutender Effekt, der bisher insbesondere im Fokus der soziologischen und der psychologischen Forschung stand, aber in den letzten Jahren auch in der ökonomischen Wissenschaft zunehmend Beachtung findet, ist, dass Arbeitslosigkeit zusätzlich indirekte, nicht pekuniäre Kosten verursacht. Diese entstehen in Form eines individuellen Verlusts an Lebenszufriedenheit, der nicht durch den reinen Einkommensverlust erklärt werden kann. Arbeitslosigkeit führt bei den unmittelbar Betroffenen zu bedeutenden Verlusten ihrer Lebensqualität: sinkendes Selbstwertgefühl, Zukunftsunsicherheit, soziale Isolation, Stigmatisierung, Verschlechterung des Gesundheitszustandes und psychische Störungen sind häufige Begleiter der Arbeitslosigkeit. Ein neuer Zweig der empirischen Wirtschaftswissenschaft, die sogenannte Glücks- und Lebenszufriedenheitsforschung, ermöglicht es, diese bisher nur schwer zu erfassenden nicht pekuniären Kosten zu quantifizieren. Alle bisherigen Studien, die sich dieses neuen Lebenszufriedenheitsansatzes bedienen, zeigen, dass sich die Lebenszufriedenheit von Arbeitslosen und Beschäftigten stark unterscheidet. Arbeit ist ein wichtiger Bestandteil der individuellen Lebensqualität und -zufriedenheit.1 Während ein Teil der Differenz durch den Einkommensunterschied zwischen Beschäftigten und Arbeitslosen erklärt werden kann (pekuniärer Effekt), zeigen empirische Studien jedoch, dass sich die Lebenszufriedenheit eines Individuums selbst dann reduziert, wenn man diesen Einkommensunterschied vollständig kompensieren würde. Dieser zusätzliche negative Effekt ent1
Vgl. Gerlach und Stephan (1996), Winkelmann und Winkelmann (1998), Argyle (1999), Frey und Stutzer (2000), Blanchflower und Oswald (2004).
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spricht den nicht pekuniären Kosten der Arbeitslosigkeit.2 Durch die Verwendung ökonometrischer Schätzverfahren kann der nicht pekuniäre vom pekuniären Effekt separiert werden. Dadurch ist es möglich, die hypothetische monetäre Kompensation zu berechnen, die notwendig ist, um ein Individuum für die nicht pekuniären Kosten zu entschädigen. Die Resultate geben Aufschluss über den „wahren“ Wert der Arbeit für den Menschen, unabhängig von dem Einkommen, das er daraus bezieht. Das primäre Ziel unseres Artikels liegt in der monetären Quantifizierung der nicht pekuniären Kosten der Arbeitslosigkeit. Die wissenschaftlichen Artikel, die unserer Zielsetzung nahekommen, stammen von Winkelmann und Winkelmann (1995, 1998) sowie Blanchflower und Oswald (2004). Winkelmann und Winkelmann (1995, 1998) haben als Erste die nicht pekuniären Kosten der Arbeitslosigkeit mithilfe deutscher Daten bestimmt. Sie zeigen, dass die nicht pekuniären Kosten deutlich stärker als die Zufriedenheitseinbußen durch Einkommensverluste sind. Blanchflower und Oswald (2004) bestätigen für die USA und Großbritannien die Bedeutung der nicht pekuniären Effekte der Arbeitslosigkeit. Eine Schwäche der bisher durchgeführten Studien ist es, dass sie nicht zwischen den Zufriedenheitswirkungen des momentanen Einkommens eines Individuums und seines durchschnittlichen Lebenseinkommens (permanentes Einkommen) unterscheiden. Wenn vergangenes oder zukünftiges Einkommen einen Einfluss auf die gegenwärtige Lebenszufriedenheit eines Individuums hat, dann würde das Fehlen einer solchen Unterscheidung zu einer Fehlspezifizierung des ökonometrischen Schätzmodells und damit zu verzerrten Ergebnissen führen. In dem vorliegenden Aufsatz erweitern wir daher die bisherige Schätzmethode um die Unterscheidung zwischen temporären und permanenten Einkommensänderungen und entwickeln dadurch ein genaueres monetäres Äquivalenzmaß zur Bestimmung der nicht pekuniären Effekte der Arbeitslosigkeit. Wir zeigen, dass die bisher verwendete Schätzmethode zur Überschätzung der nicht pekuniären Effekte der Arbeitslosigkeit führt. Die Ergebnisse belegen dennoch, dass die Arbeit eine herausragende Rolle für die Lebenszufriedenheit der Menschen spielt. Für unsere empirische Analyse verwenden wir Daten des deutschen sozioökonomischen Panels (SOEP) für den Zeitraum von 1992 bis 2005. Damit steht uns ein rund 150000 Beobachtungen umfassender Datensatz zur Verfügung, wodurch wir in der Lage sind, eine der bisher umfangreichsten empirischen Untersuchungen unter Einsatz des Lebenszufriedenheitsansatzes durchzuführen. Wir werden wie folgt vorgehen: In Kapitel 2 geben wir eine kurze Zusammenfassung der bisherigen Erkenntnisse über die mit der Arbeitslosigkeit einhergehenden Zufriedenheitseffekte. Die Methodik des Lebenszufriedenheitsansatzes 2
Vgl. Winkelmann und Winkelmann (1995, 1998), Blanchflower und Oswald (2004).
Wie zufrieden macht die Arbeit?
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wird in Kapitel 3 vorgestellt. Hier gehen wir insbesondere auf die existierenden Schwierigkeiten bisheriger Studien und auf die von uns vorgenommenen Erweiterungen ein. Kapitel 4 präsentiert die zugrunde liegenden Daten und deskriptive Statistiken. Die Ergebnisse aus den ökonometrischen Analysen werden in Kapitel 5 ausgewertet. Zum Abschluss liefert Kapitel 6 eine Zusammenfassung der Resultate und eine abschließende Diskussion der gewonnenen Erkenntnisse. 2
Arbeitslosigkeit und Lebenszufriedenheit
Das Interesse an den Auswirkungen von Arbeitslosigkeit auf das menschliche Wohlbefinden hat in der wissenschaftlichen, insbesondere in der psychologischen Literatur eine lange Geschichte. Eisenberg und Lazarsfeld (1938) waren die ersten Psychologen, die mithilfe einer deskriptiven Studie die negativen emotionalen Auswirkungen von Arbeitslosigkeit dokumentierten. Seitdem beschäftigten sich zahlreiche Psychologen mit den Effekten eines Arbeitsplatzverlustes zum Beispiel auf die psychische Verfassung (Feather, 1990; Darity and Goldsmith, 1996; Björklund und Eriksson, 1995), das Glück und die Lebenszufriedenheit (Fryer und Payne, 1986; Argyle, 2001; Lukas et al., 2004) und die Gesundheit (Wilson und Walker, 1993; Jin, Shah und Svoboda, 1995). Die Ergebnisse der psychologischen Forschung veranlassten einige Ökonomen, eigene empirische Untersuchungen anzustellen. Hierfür bedienten sich die Wirtschaftswissenschaftler in den letzten Jahren der Methodik der subjektiven Befragungen. Diese Methode ist in der Psychologie üblich, stieß aber bei Ökonomen lange Zeit auf Ablehnung, da man Zweifel hinsichtlich der Objektivität, Validität und Reliabilität der Ergebnisse hatte. Zum einen waren die gesammelten Datensätze oft zu klein, um detaillierte Untersuchungen durchzuführen und verlässliche Ergebnisse ableiten zu können, und zum anderen war die Gültigkeit und Zuverlässigkeit der Ergebnisse ungenügend untermauert. Beide Probleme konnten jedoch gelöst werden. Es existieren mittlerweile umfangreiche Datensätze mit Hunderttausenden Individualdaten, die über mehrere Jahrzehnte gesammelt wurden und eine hervorragende Basis für ökonometrische Analysen bieten. Hinsichtlich des Vorbehalts der Ökonomen gegen die Verwendung subjektiver Daten ist anzumerken, dass eine starke Korrelation der subjektiven Lebenszufriedenheitsdaten mit objektiven medizinischen und physiologischen Maßen sowie mit objektiven Charakteristika der Individuen nachgewiesen werden konnte.3 Auch die Neurophysiologie bestätigt den objektiven Charakter von 3
Vgl. Oettingen und Seligman (1990), Sandvik et al. (1993), Cohen et al. (2003).
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Andreas Knabe und Steffen Rätzel
Glück und Wohlbefinden und ebenso den Zusammenhang zwischen subjektiv geäußerten Empfindungen und objektiv gemessenen Gehirnaktivitäten und unterstreicht damit die Validität und Reliabilität der Daten.4 Die Akzeptanz des Lebenzufriedenheitsansatzes eröffnete die Möglichkeit, intangible Güter und Effekte zu quantifizieren. Ganz nach psychologischer Tradition untersuchten die Ökonomen Oswald und Clark (1994) die Auswirkungen von Arbeitslosigkeit auf das mentale Wohlbefinden. Es folgten weitere Arbeiten zu diesem Thema, z.B. von Korpi (1997), Clark et al. (2001) und Lucas et al. (2004). Winkelmann und Winkelmann (1995) waren die ersten Autoren, die direktes Interesse an der Quantifizierung der nicht pekuniären Kosten der Arbeitslosigkeit durch äquivalente Einkommenskompensationen zeigten. Sie schätzen unter Verwendung des deutschen sozioökonomischen Panels (SOEP) für den Zeitraum 1984–1989, dass die Kompensation, die einen Mann für den nicht pekuniären Effekt des Arbeitsplatzverlusts entschädigen würde, bei ca. 277 Prozent seines Einkommens liegt. Bei einer Frau wären dafür etwa 80 Prozent ihres Einkommens notwendig. Winkelmann und Winkelmann (1995) unterstellen, dass der durchschnittliche Einkommensverlust durch Arbeitslosigkeit bei 40 Prozent liegt, sodass sich die individuellen Kosten der Arbeitslosigkeit bei Männern zu 13 Prozent in pekuniäre und zu 87 Prozent in nicht pekuniäre Kosten aufteilen. Bei Frauen entspricht die Aufteilung 33 Prozent pekuniäre und 67 Prozent nicht pekuniäre Kosten. In einer weiteren Studie bestätigen Winkelmann und Winkelmann (1998) diese Ergebnisse auch unter Einsatz anderer Schätzverfahren. Blanchflower und Oswald (2004) verwenden amerikanische Querschnittsdaten und berechnen eine notwendige Kompensation von 60000 Dollar, um eine männliche Person für die nicht pekuniären Kosten der Arbeitslosigkeit zu entschädigen. Die vorliegenden Studien zeigen somit eindeutig, dass die Arbeitslosigkeit, neben dem reinen Einkommensverlust, eine starke nicht pekuniäre Wirkung auf die Lebenszufriedenheit hat. 3
Methodologie
Die individuelle Lebenszufriedenheit ist nicht direkt beobachtbar. Um sie zu quantifizieren, muss auf die von Individuen angegebenen Einschätzungen ihrer Lebenszufriedenheit zurückgegriffen werden. Dabei wird das wahre Maß der Lebenszufriedenheit in skalierte Größenangaben (z.B. Werte auf einer Skala von 0 bis 10) übertragen. Der grundlegende Zusammenhang zwischen wahrer und
4
Vgl. Shizgal (1997), Davidson et al. (2000) und Schultz et al. (2005).
99
Wie zufrieden macht die Arbeit?
angegebener Lebenszufriedenheit kann dabei durch eine „reported well-being function“ dargestellt werden5:
LZ
h (u ( X )) H .
(1)
LZ kennzeichnet den angegebenen individuellen Level der Lebenszufriedenheit auf einer beschränkten Skala von 0 bis 10. Die 0 entspricht dabei „ganz und gar unzufrieden“ und die 10 „ganz und gar zufrieden“. u(.) ist die wahre, aber unbeobachtbare Lebenszufriedenheit als Funktion verschiedener persönlicher sozioökonomischer Faktoren X (Einkommen, Familienstand, Erwerbsstatus usw.), und h(.) ist eine stetige, nicht differenzierbare Funktion, die die wahre Lebenszufriedenheit mit der angegebenen Lebenszufriedenheit in Bezug bringt. Die zufälligen, nicht systematischen Einflüsse werden durch den Störterm İ erfasst. Um Gleichung (1) einer empirischen Untersuchung zugänglich zu machen, muss sie in eine ökonometrische Schätzgleichung überführt werden. Dazu schreiben wir sie in folgender Weise um: LZ it
D E1 ln Yit E 2 ln Yi E 3 ALit E 4 LZALit JX it Q i P t H it . (2)
In der Schätzgleichung (2) bezeichnet der Index i ein bestimmtes Individuum und der Index t ein bestimmtes Jahr. Yit ist das Nettoeinkommen des Individuums i im Jahr t. Yi bezeichnet das Durchschnittseinkommen des Individuums i über den gesamten Betrachtungszeitraum (permanentes Einkommen).6 ALit zeigt an, ob das Individuum im Jahr t arbeitslos ist, und LZALit zeigt an, ob eine Person darüber hinaus langzeitarbeitslos ist (> ein Jahr).7 Der Vektor Xit enthält Angaben über sonstige, die Lebenszufriedenheit erklärende Faktoren. D repräsentiert eine Konstante, Qi ist ein individualspezifischer Effekt, der über die Zeit konstante Differenzen zwischen den Individuen auffängt, Pt ist ein zeitvariater Effekt, der alle Individuen gleichmäßig betreffende Einflüsse zu den verschiedenen Befragungszeitpunkten aufnimmt, und Hit ist ein zufälliger Störterm. Die im Rahmen der Schätzung zu ermittelnden E- und J-Koeffizienten geben an, wie stark sich eine Änderung der jeweiligen Variable, bei Konstanz aller 5 6
7
Vgl. Blanchflower und Oswald (2004). Wir verwenden logarithmierte Einkommensgrößen, um den nicht linearen Einfluss des Einkommens auf die individuelle Lebenszufriedenheit zu berücksichtigen. Eine solche Spezifikation folgt der üblichen Vorgehensweise in der ökonomischen Happiness-Forschung (vgl. Winkelmann und Winkelmann, 1995, 1998; Gerlach und Stephan, 1996; Frijters et al., 2004). AL und LZAL sind Dummy-Variablen, d.h., sie nehmen den Wert 1 an, wenn die Person arbeitslos bzw. langzeitarbeitslos ist, und haben ansonsten den Wert 0.
100
Andreas Knabe und Steffen Rätzel
anderen Faktoren, auf die Lebenszufriedenheit auswirkt. Dies soll am Beispiel der verschiedenen E-Koeffizienten kurz erläutert werden. E gibt an, wie stark sich eine Erhöhung des momentanen Einkommens, bei konstantem Permanenteinkommen Yi , auf die Lebenszufriedenheit auswirkt. E hingegen gibt an, wie stark sich eine Erhöhung des durchschnittlichen Lebenszeiteinkommens, bei konstantem gegenwärtigem Einkommen, auf die momentane Lebenszufriedenheit auswirkt. Aus der Summe (EE2) ergibt sich dann die Wirkung einer permanenten Einkommenserhöhung (über die gesamte Lebenszeit) auf die Lebenszufriedenheit. Der Koeffizient E gibt an, um wie viel sich die Lebenszufriedenheit einer (kurzzeit)arbeitslosen Person von der einer beschäftigten mit ansonsten gleichen Charakteristika, insbesondere mit gleichem momentanen und permanenten Einkommen, unterscheidet. Die zusätzliche Wirkung, die die Langzeitarbeitslosigkeit auf die Lebenszufriedenheit ausübt, wird durch E geschätzt. Die im Vektor J enthaltenen Koeffizienten messen den Einfluss sonstiger exogener Größen und dienen als Kontrollvariablen (z.B. Alter, Geschlecht, Familienstand und Gesundheit), die die Vergleichbarkeit der untersuchten Personen sicherstellen.
Der nicht pekuniäre Wert der Arbeit Zur Bestimmung der nicht pekuniären Kosten der Arbeitslosigkeit unterscheiden wir zwischen zwei verschiedenen Schätzspezifikationen. Im Gegensatz zur Spezifikation des Schätzmodells in Gleichung (2) wird in den bisherigen Studien, die den nicht pekuniären Wert der Arbeit quantifizieren (Winkelmann und Winkelmann 1995, 1998; Blanchflower und Oswald 2004), das durchschnittliche Lebenszeiteinkommen vernachlässigt.8 Die damit auferlegte Restriktion E führt dazu, dass das entstehende Schätzmodell im Vergleich zu Gleichung (2) verkürzt ist. Diesem verkürzten Modell werden wir das um das Permanenteinkommen erweiterte Schätzmodell (2) gegenüberstellen. Die Schätzergebnisse der E-Koeffizienten erlauben es, den nicht pekuniären Wert der Arbeit zu quantifizieren. Der Koeffizient E gibt an, um wie viel sich die Lebenszufriedenheit einer Person ändert, wenn sie arbeitslos wird. Im verkürzten Schätzmodell stellt Edie zusätzliche Lebenszufriedenheit dar, die durch eine Einkommenserhöhung erzeugt wird. Somit kann durch den Quotienten EE ermittelt werden, wie hoch die notwendige Einkommenskompensation sein 8
Van Praag et al. (2003) bilden eine Ausnahme und benutzen das durchschnittliche Lebenszeiteinkommen in ihrer Schätzung, die aber nicht dafür geeignet ist, den nicht pekuniären Wert der Arbeit zu bestimmen.
101
Wie zufrieden macht die Arbeit?
müsste, die den Lebenszufriedenheitseffekt des Beschäftigungsverlusts genau ausgleicht. Im verkürzten Schätzmodell entspricht diese Größe damit den nicht pekuniären Kosten der Arbeitslosigkeit. Im erweiterten Schätzmodell (2) ist die Rückwirkung einer solchen Kompensation, die nur während der Dauer der Arbeitslosigkeit gezahlt wird, auf das Durchschnittseinkommen zu allen anderen Zeitpunkten zu beachten. Die notwendige Kompensation kann dann über folgenden Ausdruck bestimmt werden:
WE3
NW · § W E1N h¨ E 2 ¸ . h ¹ ©
(3)
N bezeichnet die zu bestimmende Kompensation, W die Dauer der Arbeitslosigkeit und h den Betrachtungshorizont eines Individuums. Die linke Seite von Gleichung (3) stellt den Zufriedenheitsverlust dar, den eine Person durch eine Arbeitslosigkeitsepisode der Länge W erfährt.9 Die rechte Seite der Gleichung gibt den Zufriedenheitsgewinn an, den die Person aus einer Kompensation der Höhe N erhält. Der erste Summand auf der rechten Seite gibt dabei die zusätzliche Zufriedenheit an, die die Person aus der Erhöhung ihres Momentaneinkommens durch die Kompensation N während der Dauer der Arbeitslosigkeit W zieht. Der zweite Summand hingegen spiegelt den durch die Steigerung des Permanenteinkommens entstehenden Zufriedenheitsgewinn wider. Die Person teilt die während der Arbeitslosigkeit erhaltene Gesamtkompensation WN vollständig auf den Betrachtungshorizont h auf und erfährt somit während des gesamten Betrachtungszeitraums h einen Zufriedenheitszuwachs von E 2 NW / h .10 Durch Vereinfachen der Gleichung (3) erhält man einen expliziten Ausdruck, mit dessen Hilfe die nicht pekuniären Effekte der Arbeitslosigkeit im erweiterten Schätzmodell bestimmt werden können: 9
10
Gemäß Schätzgleichung (2) sollte die linke Seite der Gleichung (3) auch den Koeffizienten E4 berücksichtigen, wenn die Arbeitslosigkeit länger als ein Jahr anhält. Wie unsere empirischen Schätzungen aber zeigen, ist E4 nicht von null verschieden, sodass wir E4 aus Gründen der anschaulicheren Darstellung schon hier nicht mehr berücksichtigen. Bezüglich des Betrachtungshorizonts h könnte man entweder unterstellen, dass jedes Individuum antizipiert, dass es im Fall einer zukünftigen Arbeitslosigkeit monetär kompensiert wird. In diesem Fall wird die Erhöhung des durchschnittlichen Lebenszeiteinkommens über die gesamte Lebenszeit des Individuums zufriedenheitswirksam (h entspricht der Lebenserwartung). Es ist aber auch denkbar, dass eine Person die Erhöhung ihres durchschnittlichen Einkommens, die durch die temporäre Kompensation eintritt, erst ab dem Zeitpunkt wahrnimmt, in dem sie arbeitslos wird und die Kompensation tatsächlich erhält. In diesem Fall umfasst der Betrachtungshorizont h die restliche Lebenszeit ab dem Eintritt in die Arbeitslosigkeit. Beide Interpretationen werden von Gleichung (3) erfasst.
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N
E3 E1 E 2
.
(4)
Wie bereits erwähnt, vernachlässigen bisherige Studien, die den nicht pekuniären Wert der Arbeit in dieser Weise quantifizieren, das durchschnittliche Lebenszeiteinkommen. Das Auslassen einer relevanten Variablen führt jedoch zu Verzerrungen in den Schätzergebnissen für die anderen Faktoren. Wenn das durchschnittliche Lebenszeiteinkommen einen Einfluss auf die Lebenszufriedenheit hat, sind die bisherigen Quantifizierungen des nicht pekuniären Wertes der Arbeit verzerrt. In der ökonometrischen Literatur wird die Verzerrung, die aufgrund des Auslassens relevanter exogener Faktoren entsteht, als „omitted variable bias“ bezeichnet (vgl. Greene, 2000, 334). Ist die ausgelassene Variable mit den berücksichtigten exogenen Variablen korreliert, dann wird bei Nichtberücksichtigung ihres Einflusses ein Teil ihrer Wirkung den mit ihr korrelierten Variablen zugeschrieben. Die Koeffizienten für die berücksichtigten Variablen sind dann verzerrt, da sie neben dem wahren Einfluss der Variable auch einen Teil des Einflusses der ausgelassenen Variable enthalten. Die Vernachlässigung des Lebenszeiteinkommens wirkt sich bei der Quantifizierung der nicht pekuniären Effekte besonders stark aus, weil die Verzerrung der geschätzten Koeffizienten am stärksten bei dem für die Quantifizierung relevanten Momentaneinkommen sein dürfte. Wenn eine Person zu einem beliebigen Zeitpunkt ein besonders hohes Einkommen erhält, dann kann man erwarten, dass sie, bei Konstanz aller anderen Faktoren, auch im Durchschnitt der anderen Beobachtungszeitpunkte ein höheres Einkommen hat. Ist dies der Fall, dann ist bei der verkürzten Schätzspezifikation der bisherigen Modelle insbesondere der Koeffizient des gegenwärtigen Einkommens verzerrt. Wir werden daher im Folgenden eine Neuquantifizierung dieser Effekte unter Berücksichtigung der separaten Einflüsse des Momentan- und des Lebensdurchschnittseinkommens durchführen. Für die Schätzungen verwenden wir die in der Lebenszufriedenheitsforschung gebräuchliche Ordinary Least Square Regression (OLS) mit individualund jahresspezifischen Effekten, um die Wirkungen der einzelnen exogenen Faktoren auf die Lebenszufriedenheit zu schätzen (vgl. Winkelmann und Winkelmann, 1995, Gerlach und Stephan, 1996). Der Vorteil der OLS-Schätzungen liegt in der Möglichkeit, die Ergebnisse als marginale Effekte interpretieren zu können.11 Diese Methode leidet allerdings unter dem Nachteil, dass sie Kardina-
11
Das bedeutet, dass sich die geschätzten Koeffizienten direkt in Punktänderungen auf einer Zufriedenheitsskala übertragen lassen, sodass zum Beispiel ein Koeffizient der Arbeitslosigkeit
Wie zufrieden macht die Arbeit?
103
lität der Lebenszufriedenheitsangaben unterstellt.12 Während diese Annahme in der Soziologie und Psychologie weitestgehend als unkritisch angesehen wird, vertreten große Teile der Wirtschaftswissenschaft die Auffassung, dass Zufriedenheitsdaten nur ordinal interpretierbar sind, also nur eine Rangfolge auf einer Skala darstellen. Der Vollständigkeit halber führen wir daher zusätzlich eine Ordered-Probit-Schätzung durch, die die ordinale Datenstruktur berücksichtigt. Da die Schätzergebnisse qualitativ denen der OLS-Methode entsprechen, aber keine intuitive Interpretation erlauben, stellen wir sie zu Vergleichszwecken im Anhang dar, gehen im weiteren Text aber nicht näher auf sie ein. 4
Daten
Unsere empirische Analyse basiert auf den umfangreichen Daten des SOEP. Wir greifen auf die langjährige Panelstruktur des Datensatzes zurück und verwenden die Wellen der Jahre 1992 bis 2005, um auch ostdeutsche Haushalte vollständig zu erfassen. Wir begrenzen die Untersuchung auf die Altersgruppe zwischen 21 und 64, da dies die relevanten Jahrgänge für eine Analyse der Effekte der Arbeitslosigkeit sind. Damit ergibt sich eine Stichprobe mit 152411 individuellen Beobachtungen. Der große Vorteil des SOEP liegt in der Panelstruktur der Daten, die es erlaubt, ein Individuum über mehrere Jahre zu beobachten und Veränderungen der Lebenszufriedenheit über die Zeit zu analysieren. Zudem bietet es eine hohe Datenqualität insbesondere hinsichtlich des Einkommens und des Beschäftigungsstatus. Das SOEP verwendet für die Ermittlung der Lebenszufriedenheit folgende Frage: „Zum Schluss möchten wir Sie noch nach Ihrer Zufriedenheit mit Ihrem Leben insgesamt fragen. Antworten Sie bitte wieder anhand der folgenden Skala, bei der 0 „ganz und gar unzufrieden“, 10 „ganz und gar zufrieden“ bedeutet. Wie zufrieden sind Sie gegenwärtig, alles in allem, mit Ihrem Leben?“
12
mit dem Wert -2 bedeutet, dass der Eintritt in die Arbeitslosigkeit die Lebenszufriedenheit einer Person um zwei Punkte auf einer Skala von 0 bis 10 verringert. „Kardinalität“ bedeutet hier, dass Änderungen in den Zufriedenheitswerten direkt vergleichbar sind, unabhängig davon, an welcher Stelle der Skala sie stattfinden. So müsste unter dieser Annahme ein Sprung von 3 auf 4 auf der Zufriedenheitsskala für eine Person den gleichen Zufriedenheitsgewinn darstellen wie ein Sprung von 6 auf 7.
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Andreas Knabe und Steffen Rätzel
Tabelle 1: Relative Verteilung der Lebenszufriedenheit in Deutschland (1992–2005) Lebenszufriedenheit
Angaben in Prozent
Anzahl Individuen
0,5
697
0 – ganz und gar unzufrieden 1
0,4
615
2
1,3
1928
3
2,8
4353
4
3,9
5958
5
12,8
19512
6
12,0
18231
7
23,1
35211
8
29,4
44888
9
10,0
15250
10 – ganz und gar zufrieden
3,8
Beobachtungen durchschnittliche Lebenszufriedenheit
5768 152411 6,88
Quelle: SOEP, eigene Berechnungen. Wir beginnen mit einer deskriptiven Analyse der Daten. Tabelle 1 zeigt die relative Häufigkeitsverteilung der Lebenszufriedenheit für den untersuchten Zeitraum. Die durchschnittliche Lebenszufriedenheit liegt in Deutschland mit 6,88 Punkten im oberen Bereich der Skala. Interpretiert man den Wert 5 als Maß für alle Individuen, die sich weder als unglücklich noch als glücklich einstufen, dann sind lediglich 8,9 Prozent der Befragten eher unzufrieden mit ihrem Leben, wobei 78,3 Prozent eher zufrieden sind. Der signifikante Einfluss der Arbeitslosigkeit auf die Lebenszufriedenheit wird in Abbildung 1 deutlich. Der Verlauf der Kurven zeigt klar, dass sich die Arbeitslosenquote und die durchschnittliche Lebenszufriedenheit entgegengesetzt zueinander bewegen. Abbildung 1 sagt jedoch noch nichts über den Einfluss der eigenen Arbeitslosigkeit auf die persönliche Lebenszufriedenheit aus. Dazu dient Abbildung 2, die die Differenz der Lebenszufriedenheit zwischen
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Wie zufrieden macht die Arbeit?
Nicht-Arbeitslosen und Arbeitslosen, getrennt nach Geschlecht, aufzeigt.13 Hier ist ein deutlicher Rückgang der Lebenszufriedenheit bei den von Arbeitslosigkeit betroffenen Individuen zu erkennen. Die durchschnittliche Lebenszufriedenheit der Arbeitslosen ist um bis zu zwei Punkte geringer als die der NichtArbeitslosen. Zudem zeigt sich, dass die Lebenszufriedenheit von Männern stärker von der Arbeitslosigkeit betroffen ist als die von Frauen. Abbildung 1:
Durchschnittliche Lebenszufriedenheit und Arbeitslosigkeit in Deutschland
12,0
7,2
Arbeitslosenquote
7,1
11,0
10,0
6,9
6,8
Lebenszufriedenheit
9,0
Lebenszufriedenheit
Arbeitslosenquote
7,0
6,7 8,0 6,6
7,0
6,5 1992
1993
1994
1995
1996
1997
1998
1999
2000
2001
2002
2003
2004
2005
Quelle: SOEP, Bundesagentur für Arbeit. Bemerkung: Die Arbeitslosenquote im Jahr 2005 ist bereinigt um den statistischen Einmaleffekt (Hartz IV-Effekt).
13
Auf eine Trennung von Frauen und Männern bei den nicht arbeitslosen Personen haben wir verzichtet, weil die Lebenszufriedenheit beider Gruppen während des Beobachtungszeitraumes nahezu identisch war.
106
Andreas Knabe und Steffen Rätzel
Abbildung 2:
Lebenszufriedenheit in Deutschland nach Beschäftigungsstatus
7,50
nicht arbeitslos
Lebenszufriedenheit
7,00
6,50
6,00 arbeitslos (Frauen)
5,50 arbeitslos (Männer)
5,00 1992
1993
1994
1995
1996
1997
1998
1999
2000
2001
2002
2003
2004
2005
Quelle: SOEP, eigene Berechnungen. 5
Ergebnisse
Die deskriptiven Analysen des vorhergehenden Abschnitts geben nur einen ersten Überblick über den Einfluss der Arbeitslosigkeit. Für eine detaillierte Analyse der differenzierten Einflüsse müssen multiple Regressionsanalysen eingesetzt werden, die verschiedene andere Einflussfaktoren kontrollieren. Tabelle 2 zeigt die Ergebnisse der OLS-Schätzung mit individual- und jahresspezifischen Effekten. Die Spalten 1, 3 und 5 repräsentieren die Ergebnisse bei Verwendung der üblichen, verkürzten Modellspezifikation. Die Spalten 2, 4 und 6 zeigen die Resultate unseres erweiterten Modells aus Kapitel 2.
107
Wie zufrieden macht die Arbeit?
Tabelle 2: Bestimmungsfaktoren der Lebenszufriedenheit (OLS) Gesamt (1) (2) verkürzt erweitert Beschäftigungsstatus (Referenzgruppe: in Vollzeit) arbeitslos -0,695** -0,693** (0,018) (0,018) + langzeitsarbeitslos -0,018 -0,012 (0,024) (0,024) * Teilzeit -0,031 -0,031* (0,015) (0,015) -0,116** Selbstständig -0,108** (0,022) (0,022) ABM -0,372** -0,350** (0,043) (0,043) -0,100** sonstige Beschäftigung -0,093** (0,023) (0,023) -0,046** OLF -0,042** (0,014) (0,014) Einkommen ln(Momentaneinkommen) 0,522** 0,399** (0,012) (0,014) ln(durchschn. LZE) 0,401** (0,022) Familienstand (Referenzgruppe: Single) feste Partnerschaft 0,322** 0,328** (0,018) (0,018) 0,458** verheiratet 0,438** (0,021) (0,021) -0,321** verheiratet, getrennt -0,346** (0,041) (0,041) lebend geschieden -0,093** -0,071* (0,032) (0,032) -0,153** verwitwet -0,171** (0,046) (0,046) Sonstiges Alter -0,064** -0,066** (0,004) (0,004) 0,001** 0,001** Alter2 (0,000) (0,000) 0,125** Zahl der Kinder 0,114** (0,007) (0,007) Bildungszeit -0,001 -0,013** (0,003) (0,003) 0,145** Wohneigentum 0,157** (0,011) (0,011) -0,334** pflegebed. Angehörige -0,339** (0,027) (0,027) persönliche Gesundheit 0,558** 0,554** (0,005) (0,005) 1,275** Konstante 2,968** (0,112) (0,145) R2 0,242 0,243 Beobachtungen 143246 143246
Männer (3) verkürzt
(4) erweitert
Frauen (5) verkürzt
(6) erweitert
-0,808** (0,025) -0,024 (0,034) -0,127** (0,036) -0,157** (0,027) -0,471** (0,062) -0,115** (0,034) -0,190** (0,023)
-0,809** (0,025) -0,021 (0,033) -0,134** (0,036) -0,168** (0,027) -0,450** (0,062) -0,124** (0,034) -0,196** (0,023)
-0,579** (0,027) -0,020 (0,033) 0,008 (0,019) 0,010 (0,035) -0,278** (0,061) -0,077* (0,034) 0,041* (0,020)
-0,575** (0,027) -0,013 (0,033) 0,007 (0,019) -0,013 (0,035) -0,253** (0,061) -0,085* (0,033) 0,035* (0,020)
0,526** (0,017)
0,409** (0,020) 0,381** (0,030)
0,525** (0,017)
0,393** (0,020) 0,430** (0,031)
0,290** (0,024) 0,420** (0,029) -0,661** (0,061) -0,185** (0,048) -0,357** (0,091)
0,295** (0,024) 0,441** (0,029) -0,621** (0,061) -0,168** (0,048) -0,337** (0,090)
0,333** (0,029) 0,413** (0,032) -0,158** (0,057) -0,059 (0,045) -0,152** (0,057)
0,340** (0,029) 0,431** (0,032) -0,149** (0,057) -0,035 (0,045) -0,135* (0,057)
-0,080** (0,006) 0,001** (0,000) 0,124** (0,010) 0,001 (0,004) 0,149** (0,016) -0,296** (0,039) 0,568** (0,007) 3,150** (0,162) 0,259 70064
-0,081** (0,005) 0,001** (0,000) 0,131** (0,010) -0,011** (0,004) 0,137** (0,016) -0,292** (0,038) 0,565** (0,007) 1,535** (0,207) 0,260 70064
-0,055** (0,005) 0,001** (0,000) 0,131** (0,010) 0,092** (0,010) 0,169** (0,016) -0,380** (0,038) 0,549** (0,007) 2,861** (0,159) 0,231 73182
-0,056** (0,005) 0,001** (0,000) 0,107** (0,010) -0,015** (0,004) 0,154** (0,016) -0,373** (0,038) 0,545** (0,007) 1,066** (0,205) 0,234 73182
108
Andreas Knabe und Steffen Rätzel
Bemerkung zur Tabelle auf der vorangegangenen Seite: OLS-Schätzung mit individuellen Random Effects und Jahres-Fixed Effects. Die Standardabweichungen der Schätzer wurden in Klammern angegeben. Mit * gekennzeichnete Werte sind signifikant auf dem 10-Prozent-Niveau, ** auf dem 1-Prozent-Niveau. Beschäftigungsstatus Der Arbeitslosigkeitskoeffizient ist stark negativ und signifikant mit einem Wert von -0,693.14 Die genaue Interpretation ist folgende: Arbeitslosigkeit verringert die Lebenszufriedenheit (gemessen auf einer Skala von 0 bis 10) eines Individuums um 0,693 Punkte bei Konstanz aller anderen Variablen. Anders ausgedrückt, bei einer Betrachtung zweier vollkommen identischer Personen, die sich nur darin unterscheiden, dass eine arbeitslos ist und die andere erwerbstätig, zeigt sich, dass die arbeitslose Person eine um 0,693 Punkte geringere Lebenszufriedenheit besitzt als die beschäftigte. Dieser negative Effekt ist der stärkste aller erklärenden Variablen, und er zeigt deutlich: Arbeit macht glücklich! Individuen, die länger als ein Jahr arbeitslos sind, weisen keinen signifikanten Unterschied in ihrer Zufriedenheit im Vergleich zu Kurzzeitarbeitslosen auf. Unsere Daten enthalten damit keinen Hinweis auf eine Zufriedenheitsadaption an die Arbeitslosigkeit. Eine Person in Teilzeitbeschäftigung hat eine geringere Zufriedenheit, jedoch ist dieser Effekt nur schwach signifikant. Dagegen reduziert die Selbstständigkeit die Lebenszufriedenheit deutlich. Ein sehr interessantes Resultat liefert der ABMKoeffizient. Dieser ist stark negativ, jedoch weit weniger als der Arbeitslosigkeitskoeffizient. Individuen, die faktisch arbeitslos sind, aber an einer öffentlichen Beschäftigungsmaßnahme teilnehmen, sind somit bedeutend zufriedener als Arbeitslose, die zur Inaktivität gezwungen sind, aber deutlich weniger glücklich als im ersten Arbeitsmarkt Beschäftigte mit gleichem Einkommen. Ein weiteres wichtiges Ergebnis betrifft die Zufriedenheit bei Nichtteilnahme am Arbeitsmarkt (out of labor force – OLF). Die Zufriedenheit von Nichtteilnehmern unterscheidet sich nur gering von der Zufriedenheit Vollzeitbeschäftigter, ist aber deutlich größer als die der Arbeitslosen. Dieses Ergebnis deutet darauf hin, das die Arbeitslosigkeit größtenteils unfreiwillig ist. Betrachtet man die Ergebnisse getrennt nach Geschlecht, fällt die Differenz der Auswirkungen der Arbeitslosigkeit auf. Die Erkenntnis aus Abbildung 1, dass Männer stärker betroffen sind als Frauen, wird auch nach Kontrolle aller Variablen bestätigt. Auch die negativen Auswirkungen der Teilzeit, der ABM 14
Die verwendeten Referenzkategorien für die Schätzung sind Vollzeiterwerbstätigkeit und Single, d.h., die Schätzergebnisse beziehen sich immer auf einen Vergleich mit einem Individuum, das Vollzeit erwerbstätig und alleinstehend ist.
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und der OLF sind bei Männern deutlicher ausgeprägt als bei Frauen. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Arbeitslosigkeit einen starken negativen Einfluss auf die Lebenszufriedenheit der Individuen hat, der bei Männern noch größer ausfällt als bei Frauen. Einkommen Die Einkommenskoeffizienten haben das erwartete positive Vorzeichen, d.h., eine Erhöhung des Einkommens steigert die Lebenszufriedenheit der Individuen. Der Koeffizient des momentanen Einkommens sagt aus, dass eine Erhöhung des heutigen Einkommens um 10 Prozent, bei Konstanz des durchschnittlichen Lebenszeiteinkommens, die Lebenszufriedenheit um 0,04 Punkte erhöht. Eine dauerhafte Erhöhung des Einkommens heute und in allen anderen betrachteten Perioden um 10 Prozent hingegen erhöht die gegenwärtige Lebenszufriedenheit um 0,08 Punkte. Die Ergebnisse bestätigen die vermutete Fehlspezifizierung der bisherigen Modelle. Ohne Berücksichtigung des Lebenszeiteinkommens wird der Effekt des Momentaneinkommens deutlich überschätzt, da ein Teil des eigentlich dem Lebenszeiteinkommen zuzuordnenden Effekts fälschlich dem gegenwärtigen Einkommen zugeschlagen wird. Familienstand Eine feste Partnerschaft hat ebenso wie die Ehe einen stark positiven Einfluss. Bisherige Studien haben den positiven Zufriedenheitseffekt immer der Ehe zugeschrieben (vgl. Winkelmann und Winkelmann, 1995, 1998). Unsere Resultate deuten jedoch darauf hin, dass es vielmehr eine feste Beziehung ist, die glücklich macht. Die Stärke der Koeffizienten ist bei Männern und Frauen ähnlich, jedoch zeigt sich eine signifikante Differenz in den anderen drei Variablen des Familienstatus. Trennung, Scheidung und der Tod des Ehepartners haben das erwartete negative Vorzeichen, das aber bei Männern bedeutend stärker ausfällt als bei Frauen. Sonstige Faktoren Das Alter wirkt sich nicht monoton auf die Lebenszufriedenheit aus. Die Lebenszufriedenheit erreicht ihren Tiefpunkt im Alter von etwa 43 Jahren und steigt danach wieder an. Die Anzahl der Kinder erhöht dagegen die Zufriedenheit
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Andreas Knabe und Steffen Rätzel
um 0,125 Punkte pro zusätzliches Kind. Nach Kontrolle des Einkommens und des Beschäftigungsstatus hat die Bildungszeit keinen eindeutigen Einfluss auf die Lebenszufriedenheit. Der Besitz von Wohneigentum, der oft mit einer stärkeren Verwurzelung im sozialen Umfeld einhergeht, wirkt sich positiv auf die Lebenszufriedenheit aus. Die Pflege von Haushaltsangehörigen hat dagegen das erwartete negative Vorzeichen. Der eigene Gesundheitszustand, gemessen auf einer Skala von 1 (sehr schlecht) bis 4 (sehr gut), besitzt nach der Arbeitslosigkeit den stärksten Einfluss auf die individuelle Lebenszufriedenheit. Die Verbesserung der Gesundheit um einen Punkt zieht einen Anstieg der Zufriedenheit um 0,554 Punkte nach sich. Quantifizierung der Kosten der Arbeitslosigkeit Zur Quantifizierung der nicht pekuniären Kosten der Arbeitslosigkeit berechnet man die hypothetische Einkommenskompensation, die ausreichen würde, um die durch die Arbeitslosigkeit verlorene Lebenszufriedenheit wiederherzustellen. Bisherige Studien haben diese Quantifizierung mithilfe des verkürzten Schätzmodells ohne Berücksichtigung des Lebenszeiteinkommens vorgenommen (Tabelle 2, Spalte 1).15 Zu jedem Zeitpunkt, in dem ein Individuum arbeitslos ist, verliert es aufgrund der nicht pekuniären Kosten der Arbeitslosigkeit 0,695 Punkte an Lebenszufriedenheit. Eine 100-prozentige Einkommenserhöhung erhöht die Zufriedenheit um 0,522 Punkte. Daraus folgt, dass eine Einkommenserhöhung um 0,695/0,522 = 133 Prozent für die Dauer der Arbeitslosigkeit notwendig ist, um das Zufriedenheitsniveau eines Individuums nach Verlust des Arbeitsplatzes konstant zu halten. Tabelle 3: Nicht pekuniäre Kosten der Arbeitslosigkeit Männer und Frauen
nur Männer
nur Frauen
Verkürztes Modell
133,1%
153,6%
110,3%
Erweitertes Modell
86,6%
102,4%
69,9%
Bemerkung: Die Werte sind prozentual zum individuellen Einkommen angegeben.
15
Vgl. Winkelmann und Winkelmann (1995, 1998) sowie Blanchflower und Oswald (2004).
Wie zufrieden macht die Arbeit?
111
Wie wir bereits oben erläutert haben, sind diese Schätzergebnisse aufgrund der Fehlspezifikation des verkürzten Schätzmodells verzerrt. Um das erweiterte Schätzmodell zur Quantifizierung der nicht pekuniären Effekte der Arbeitslosigkeit zu nutzen, verwendet man die Schätzergebnisse aus Tabelle 2, Spalte 2 sowie Gleichung (4). Dabei ergibt sich die notwendige Einkommenskompensation durch 0,693/(0,399+0,401) = 86,6%. Dieser Wert ist deutlich geringer als im verkürzten Schätzmodell, da das verkürzte Modell vernachlässigt, dass auch eine zeitlich befristete Kompensation das durchschnittliche Lebenszeiteinkommen einer Person verändert und somit positive Zufriedenheitswirkungen auch außerhalb des Kompensationszeitraums hervorruft. Berücksichtigt man diese Wirkungen, dann genügt eine deutlich geringere Kompensation zum Ausgleich des Zufriedenheitsverlusts durch die Arbeitslosigkeit (s. Tabelle 3). Tabelle 3 fasst alle Ergebnisse, auch getrennt nach Geschlecht, zusammen. Die Ergebnisse zeigen eindeutig, dass eine Vernachlässigung des durchschnittlichen Lebenszeiteinkommens im verkürzten Schätzmodell zu deutlichen Überschätzungen der nicht pekuniären Kosten der Arbeitslosigkeit führt. Die mithilfe des erweiterten Schätzmodells bestimmten Werte liegen durchgängig bei etwa zwei Dritteln der durch die bisher benutzte Methode erhaltenen Kosten. Trotzdem zeigt sich, dass die nicht pekuniären Kosten der Arbeitslosigkeit sehr hoch, und mit durchschnittlich über 80 Prozent des Einkommens deutlich höher als die pekuniären Kosten, sind. Männer leiden deutlich stärker unter Arbeitslosigkeit als Frauen, sodass sie eine mehr als 30 Prozentpunkte höhere Einkommenskompensation benötigen. 6
Fazit
Die Arbeit spielt eine zentrale Rolle für die Lebenszufriedenheit des Menschen. Sie ermöglicht zum einen die materielle Bedürfnisbefriedigung durch den Erwerb von Einkommen, zum anderen bietet sie aber auch immaterielle, nicht pekuniäre Zugewinne an Lebenszufriedenheit durch Sinnstiftung, Teilhabe am sozialen Leben etc. In diesem Aufsatz haben wir mithilfe von Individualdaten des deutschen sozioökonomischen Panels für den Zeitraum von 1992 bis 2005 bestimmt, wie stark sich die Arbeit auf die Lebenszufriedenheit des Menschen auswirkt und wie sich diese Wirkung in pekuniäre und nicht pekuniäre Effekte aufteilt. Unsere Ergebnisse zeigen, dass Arbeitslosigkeit die Lebenszufriedenheit eines Menschen drastisch reduziert. Die Auswirkung der Arbeitslosigkeit auf die Lebenszufriedenheit ist sogar deutlich stärker als die anderer unglücklicher Lebensumstände, wie z.B. die einer Scheidung. Wenn man diesen nicht pekuniären
112
Andreas Knabe und Steffen Rätzel
Zufriedenheitsverlust durch eine hypothetische Einkommenskompensation während der Dauer der Arbeitslosigkeit ausgleichen wollte, müsste das individuelle Einkommen um etwa 87 Prozent zunehmen. Unsere Ergebnisse bestätigen das Resultat, dass der Verlust des Arbeitsplatzes für Männer schwerer wiegt als für Frauen, sodass Männer mit 102 Prozent und Frauen mit 70 Prozent ihres (VorArbeitslosigkeits-)Einkommens kompensiert werden müssten. Die Größenordnung dieser Werte zeigt klar, dass die nicht pekuniären Kosten der Arbeitslosigkeit sehr stark sind und sogar die gewöhnlich mit dem Arbeitsplatzverlust einhergehenden Einkommensverluste deutlich übersteigen. Im Gegensatz zu bisherigen Studien haben wir das zugrunde liegende Schätzmodell um den Einfluss des durchschnittlichen Lebenseinkommens erweitert. Da eine monetäre Kompensation nicht nur das heutige Einkommen erhöhen würde, sondern über ihren Einfluss auf das durchschnittliche Lebenseinkommen auch einen positiven Einfluss auf die Lebenszufriedenheit für den Rest des Lebens hat, führt die Vernachlässigung dieses Effekts zu einer Verzerrung der Ergebnisse. Die in bisherigen Studien verwendete Methode hat damit die nicht pekuniären Kosten der Arbeitslosigkeit deutlich überschätzt. Mithilfe unseres erweiterten Schätzmodells können wir diese Verzerrung beseitigen und erhalten damit vorsichtigere, aber genauere Schätzergebnisse. Aus den gewonnenen Ergebnissen lassen sich klare Politikimplikationen ableiten. Die Vernachlässigung der nicht pekuniären Kosten der Arbeitslosigkeit in Kosten-Nutzen-Analysen der Arbeitsmarktpolitik führt zu einer Unterschätzung des Nutzens Beschäftigung schaffender Maßnahmen. Da die Kosten der Arbeitslosigkeit größtenteils nicht pekuniär sind, reicht es nicht, im Rahmen der passiven Arbeitsmarktpolitik Einkommensverluste auszugleichen. Stattdessen sollte stärker auf aktive Arbeitsmarktpolitik gesetzt werden, die die Menschen wieder in Beschäftigung bringt. Anhang
Tabelle 4 zeigt die Schätzergebnisse des Ordered-Probit-Modells. Ein Vergleich zu Tabelle 2 zeigt aber, dass sich die Schätzergebnisse in ihren Vorzeichen und relativen Größenordnungen kaum unterscheiden. Daher unterstreicht die Ordered-Probit-Schätzung die Robustheit unserer Ergebnisse.
113
Wie zufrieden macht die Arbeit?
Tabelle 4: Bestimmungsfaktoren der Lebenszufriedenheit (Ordered Probit) Gesamt (1) (2) verkürzt erweitert Beschäftigungsstatus (Referenzgruppe: in Vollzeit) arbeitslos -0,520** -0,520** (0,016) (0,016) + langzeitsarbeitslos 0,013 0,017 (0,020) (0,020) Teilzeit -0,017 -0,019 (0,013) (0,013) -0,090** Selbstständig -0,083** (0,019) (0,020) -0,286** ABM -0,301** (0,038) (0,037) -0,071** sonstige Beschäftigung -0,061* (0,020) (0,020) OLF 0,002 -0,004 (0,012) (0,012) Einkommen ln(Momentaneinkommen) 0,443** 0,338** (0,011) (0,012) ln(durchschn. LZE) 0,355** (0,019) Familienstand (Referenzgruppe: Single) feste Partnerschaft 0,277** 0,287** (0,016) (0,016) 0,404** verheiratet 0,381** (0,019) (0,019) -0,206** verheiratet, getrennt -0,232** (0,036) (0,036) lebend geschieden -0,055* -0,034 (0,028) (0,029) ** -0,121** verwitwet -0,145 (0,040) (0,029) Sonstiges ** Alter -0,053 -0,055** (0,003) (0,003) Alter2 0,001** 0,001** (0,000) (0,000) Zahl der Kinder 0,088** 0,099** (0,006) (0,006) Bildungszeit -0,001 -0,012** (0,002) (0,003) Wohneigentum 0,134** 0,124** (0,010) (0,010) pflegebed. Angehörige -0,261** -0,252** (0,024) (0,023) persönliche Gesundheit 0,480** 0,479** (0,005) (0,005) log likelihood Beobachtungen
-232764 143246
-232598 143246
Männer (3) verkürzt
Frauen
(4) erweitert
(5) verkürzt
(6) erweitert
-0,621** (0,022) 0,010 (0,029) -0,010** (0,031) -0,120** (0,024) -0,394** (0,055) -0,077* (0,030) -0,126** (0,021)
-0,625** (0,022) 0,013 (0,029) -0,106** (0,032) -0,129** (0,024) -0,384** (0,054) -0,086** (0,030) -0,132** (0,020)
-0,428** (0,023) 0,016 (0,028) 0,004 (0,016) -0,012 (0,031) -0,228** (0,052) -0,059* (0,029) 0,057** (0,017)
-0,425** (0,023) 0,018 (0,028) 0,005 (0,016) -0,002** (0,031) -0,202** (0,052) -0,066* (0,029) 0,052** (0,017)
0,448** (0,015)
0,346** (0,018) 0,328** (0,028)
0,437** (0,015)
0,327** (0,017) 0,394** (0,028)
0,247** (0,021) 0,370** (0,025) -0,485** (0,054) -0,125** (0,042) -0,290** (0,084)
0,026** (0,021) 0,396** (0,026) -0,436** (0,055) -0,107* (0,042) -0,261** (0,085)
0,283** (0,025) 0,343** (0,028) -0,101* (0,049) -0,033 (0,039) 0,147** (0,050)
0,290** (0,026) 0,361** (0,029) -0,094* (0,050) -0,015 (0,040) -0,132** (0,049)
-0,068** (0,005) 0,001** (0,000) 0,099** (0,009) 0,015 (0,003) 0,135** (0,014) -0,235** (0,034) 0,496** (0,007)
-0,070** (0,005) 0,001** (0,000) 0,104** (0,009) -0,007* (0,003) 0,127** (0,014) -0,225** (0,034) 0,495** (0,007)
-0,043** (0,005) 0,001** (0,000) 0,068** (0,009) -0,002 (0,004) 0,140** (0,014) -0,287** (0,003) 0,463** (0,006)
-0,045** (0,005) 0,001** (0,000) 0,082** (0,009) -0,016** (0,004) 0,128** (0,014) -0,280** (0,033) 0,463** (0,006)
-112673 70064
-112602 70064
-119848 73182
-119749 73182
114
Andreas Knabe und Steffen Rätzel
Bemerkung zur Tabelle auf der vorangegangenen Seite: Ordered-Probit-Schätzung mit individuellen Random Effects und Jahres-Fixed Effects. Die Standardabweichungen der Schätzer wurden in Klammern angegeben. Die Cut-Offs wurden aus Darstellungsgründen ausgelassen. Mit * gekennzeichnete Werte sind signifikant auf dem 10-Prozent-Niveau, ** auf dem 1-Prozent-Niveau. Literatur Argyle, M. (1999): „Causes and Correlates of Happiness“, in: D. Kahneman, E. Diener und N. Schwarz (eds.), Well-Being: The Foundations of Hedonic Psychology, New York: Russell Sage Foundation, 353-373. Argyle, M. (2001): The Psychology of Happiness, 2. ed., repr. – London: Routledge. Björklund, A. und T. Eriksson (1995): „Unemployment and mental health: evidence from research in the Nordic Countries“, Scandinavian Journal of Social Welfare 7 (3), S. 219-235. Blanchflower, D. G. und A. J. Oswald (2004): „Well-being over time in Britain and the USA“, Journal of Public Economics, Elsevier, 88, 1359-1386. Clark, A. E., Y. Georgellis und P. Sanfey (2001): „Scarring: The Psychological Impact of Past Unemployment“, Economica 68, 221-241. Cohen, J. D., A. G. Sanfey, J. K. Rilling, J. A. Aronson und L. E. Nystrom (2003): „The neural basis of economic decision making in the ultimatum game“, Science 300, 1755-1757. Darity, W. und A. H. Goldsmith (1996): „Social Psychology, Unemployment and Macroeconomics“, Journal of Economic Perspectives 10 (1), 121-140. Davidson, R. J., D. C. Jackson und N. H. Kalin (2000): „Emotion, plasticity, context and regulation: Perspectives from affective neuroscience“, Psychological Bulletin 126, 890-906. Eisenberg, P. und P. F. Lazarsfeld (1938): „The psychological effects of unemployment“, Psychological Bulletin 35, 358-390. Feather, N. T. (1990): The Psychological Impact of Unemployment, New York: Springer Verlag. Frey, B. S. und A. Stutzer (2000): „Happiness, Economy and Institutions“, The Economic Journal 110, 918-938. Frijters, P., J. Haisken-DeNew und M. Shields (2004): „Money Does Matter! Evidence from Increasing Real Income and Life Satisfaction in East Germany Following Reunification”, American Economic Review 94, 730-740. Fryer, D. und R. Payne (1986): „Being unemployed: A review of the literature on the psychological experience of unemployment”, International Review of Industrial and Organizational Psychology 1, 235-278. Gerlach, K. und G. Stephan (1996): „A paper on unhappiness and unemployment in Germany“, Economics Letters 52, 325-330. Greene, W. (2000): Econometric Analysis, 4th ed., Upper Saddle River: Prentice Hall.
Wie zufrieden macht die Arbeit?
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Wenn der Wohlfahrtsstaat die Wohlfahrt mindert
117
Wenn der Wohlfahrtsstaat die Wohlfahrt mindert Das deutsche Sozialsystem aus dem Blickwinkel der Zufriedenheitsmaximierung Martin Ehlert und Martin Schröder 1
Einleitung: Der Patient Deutschland
Die Forschung über die Einflussfaktoren individueller Lebenszufriedenheit hat sich mittlerweile als ernst zu nehmender Forschungszweig etabliert (vgl. Diener/ Kahnemann/Schwarz 1999; Frey/Stutzer 2002; Layard 2006). Es wird somit möglich, dessen Ergebnisse zu nutzen, um eine Frage zu beantworten, welche unserer Meinung nach die entscheidende Frage hinter der Konstruktion eines Wohlfahrtsstaates sein sollte: Trägt dieser optimal zur Erhöhung der gesellschaftlichen Wohlfahrt bei? Diese Frage möchten wir für Deutschland – in einem hier möglichen begrenzten Rahmen – beantworten. In einem ersten Schritt stellen wir als Befund wesentliche Vor- und Nachteile des deutschen Wohlfahrtsstaates im Vergleich mit den 20 wirtschaftsstärksten OECD-Staaten heraus.1 Unsere zentrale Aussage ist, dass das deutsche Sozialversicherungssystem zwar im internationalen Vergleich in der Lage ist, eine hohe (Einkommens-)Egalität herzustellen (Kapitel 2.1), dabei jedoch auch eine hohe Arbeitslosigkeit gering Qualifizierter bedingt (Kapitel 2.2). Darauf folgt unsere Diagnose (Kapitel 3), in welcher wir zeigen, wie die beiden herausgestellten Befunde aus dem Sozialversicherungssystem resultieren. Anschließend folgt die Bewertung dieses Befundes. Mittels einer multivariaten Regressionsanalyse unter Nutzung von ALLBUS-Daten ist es uns möglich zu zeigen, dass das deutsche Sozialversicherungssystem über die Herbeiführung von Arbeitslosigkeit zu einer starken Verringerung von Lebenszufriedenheit führt (Kapitel 4). Unsere Regressionsanalyse wird uns auch helfen zu erläutern, wie mögliche Auswege aus diesem Dilemma gefunden werden könnten. Wir werden hier basierend auf unserem Befund darlegen, dass eine Entlastung des Niedriglohnsektors durch Abgaben auf Vermögen und hohe Einkommen zumindest von einem 1
Zehn OECD-Länder konnten wir nicht in unsere Analyse einbeziehen, da für diese, neben ihrer geringen Wirtschaftskraft, auch die Datenlage zu dünn war. Es handelt sich um: die Tschechische Republik, Griechenland, Ungarn, Island, Korea, Luxemburg, Mexiko, Polen, die Slowakische Republik und die Türkei. Alle anderen OECD-Länder sind in unsere Analyse aufgenommen.
118
Martin Ehlert und Martin Schröder
zufriedenheitsmaximierenden Standpunkt her ausschließlich Vorteile hätte (Kapitel 5.1). Mittels eines internationalen Vergleichs argumentieren wir in einem letzten Schritt, dass es gerade für diese Maßnahmen in Deutschland ungenutzten finanziellen Spielraum gäbe (Kapitel 5.2). 2
Befund: Egalitäre Einkommensstruktur und ungleiche Verteilung der Arbeitslosigkeit
2.1 Egalitäre Einkommensstruktur Im Gegensatz zu vielen angloamerikanischen Ländern ist es in Deutschland explizites Ziel, eine möglichst egalitäre Gesellschaft zu schaffen (vgl. GG Artikel 106(3),2). Dies gilt nicht nur für die verschiedenen Regionen, sondern auch für die verschiedenen Einkommensgruppen. Inwiefern Deutschland diesem Ziel nahe kommt, soll die folgende Abbildung verdeutlichen. Abbildung 1:
Einkommensunterschiede im internationalen Vergleich
15
Einkommen der ärmsten 10 im Vergleich zu den reichsten 10 Prozent einer Bevölkerung
10
Einkommen der ärmsten 20 im Vergleich zu den reichsten 20 Prozent einer Bevölkerung
5
USA
Portugal
Australien
Großbritannien
Italien
Neuseeland
Spanien
Irland
Kanada
Frankreich
Niederlande
Belgien
Schweiz
Dänemark
Österreich
Deutschland
Norwegen
Schweden
Japan
Finnland
0
Quelle: Weltbank 2006, Daten erhoben zwischen 1993 und 2000 Die wohlhabendsten 10 Prozent der deutschen Gesellschaft verfügen über finanzielle Mittel, die es ihnen erlauben, 6,9-mal so viel zu konsumieren wie die ärmsten 10 Prozent der Gesellschaft. Die wohlhabendsten 20 Prozent dahingegen verfügen über 4,3-mal so viele Ressourcen (wieder gemessen am Anteil am Kon-
119
Wenn der Wohlfahrtsstaat die Wohlfahrt mindert
sum) wie die ärmsten 20 Prozent der Gesellschaft. Unter den 20 hier verglichenen Ländern steht Deutschland damit auf dem 5. bzw. 6. Platz (10/20 Prozent) bezüglich der materiellen Egalität seiner Gesellschaft. Insofern scheint der deutsche Sozialstaat im internationalen Vergleich gut seinem Anspruch nachzukommen, einheitliche Lebensverhältnisse zu schaffen – zumindest in materieller Hinsicht. Im internationalen Vergleich zeigt sich jedoch auch, dass in Deutschland ein anderes Ungerechtigkeitsproblem besonders stark auftritt: nämlich ungleich verteilte Arbeitslosigkeit. 2.2 Ungleich verteilte Arbeitslosigkeit Für viele überraschend mag der Umstand sein, dass Arbeitslosigkeit nicht ein Problem ist, von dem alle gesellschaftlichen Gruppen betroffen sind. Mag es auch nicht der persönlichen Lebenserfahrung aller Akademiker entsprechen, so kann man doch sagen, dass es für diese Bevölkerungsgruppe relativ konstant annähernde Vollbeschäftigung gibt (definiert als eine Arbeitslosenquote unter 5 Prozent). Abbildung 2:
Qualifikationsspezifische Arbeitslosenquoten im zeitlichen Ablauf
30
Berufliche Ausbildung - Gesamtdeutschland
Prozent Arbeitslosigkeit
25
Hochschulabschluss - Gesamtdeutschland
20
Kein berufsqualifizierender Abschluss Gesamtdeutschland
15
10
5
0 1975
1977 1979
1981 1983
1985
1987 1989
1991 1993
1995
1997 1999
2001
2003
Quelle: Hummel/Reinberg (2002): 27 (IAB Werkstattbericht Nr. 4. 2002) und IAB (2005): Kurzbericht Nr. 9. 13.6.2005. Bis 1991 alte Bundesländer, dann Gesamtdeutschland.
120
Martin Ehlert und Martin Schröder
Betrug die Arbeitslosenquote für Akademiker 1975 noch 1,7 Prozent, so ist bis 2004 ein Anstieg auf 4 Prozent zu verzeichnen. Dieser Wert ist allerdings niedriger, als er z.B. Mitte der 80er-Jahre war. Ein dramatischer Anstieg von 6,1 Prozent (1975) auf 24,6 Prozent (2004) ist jedoch für die Arbeitslosenquote all jener Arbeitnehmer zu verzeichnen, die keinen berufsqualifizierenden Abschluss haben. Dazwischen liegt die Arbeitslosenquote für all jene Arbeitnehmer, die eine Ausbildung absolviert haben; diese ist von 3,9 Prozent (1975) auf 9,9 Prozent (2004) angestiegen.2 Natürlich ist es möglich, auf Globalisierung, Mechanisierung und andere strukturelle Faktoren zu verweisen, um die hohe Arbeitslosigkeit Niedrigqualifizierter zu erklären. Dieses Argument geht jedoch davon aus, dass eine hohe Arbeitslosigkeit Niedrigqualifizierter im Wesentlichen in entwickelten Marktwirtschaften unvermeidlich ist. Doch ein internationaler Vergleich zeigt, dass dies nicht stimmt. Abbildung 3:
Qualifikationsspezifische Arbeitslosenquoten im internationalen Vergleich
Arbeitslosenquoten für gering Qualifizierte (weniger als Sekundarabschluss) Arbeitslosenquoten für mittlere Qualifikationen (mind. Sekundarabschluss, kein Hochschulabschluss)
Prozent Arbeitslosigkeit
20
15
10
Arbeitslosenquoten für Hochqualifizierte (Hochschulabschluss)
5
Spanien
Frankreich
Finnland
Belgien
Kanada
USA
Italien
Österreich
Australien
Dänemark
Irland
Japan Großbritannien
Schweden
Portugal
Schweiz
Norwegen
Neuseeland
Deutschland
Niederlande
0
Quelle: OECD 2005: Education at a Glance. Paris, 113-114. Daten für 2003 (Italien und Holland 2002) Aus der Tabelle wird ersichtlich, dass die hohe Arbeitslosigkeit Niedrigqualifizierter nicht unvermeidlich ist. Im Gegenteil ist Deutschland hier absoluter Au2
Alle Daten entstammen dem IAB (Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung): Hummel/Reinberg 2002 und IAB 2005
Wenn der Wohlfahrtsstaat die Wohlfahrt mindert
121
ßenseiter, denn es weist unter allen hier verglichenen Ländern die höchste Arbeitslosenquote für Arbeitnehmer mit niedrigen und mittleren Qualifikationen auf. Bei der Arbeitslosenquote Hochqualifizierter liegt Deutschland jedoch ‚nur’ im oberen Mittelfeld. Wenn die Arbeitslosigkeit gering und moderat qualifizierter Arbeitnehmer in Deutschland also höher ist als in allen anderen zum Vergleich zur Verfügung stehenden Ländern, so stellt sich die Frage, welche deutsche Besonderheit die Ursache dafür sein könnte. 3
Ursache: Das deutsche Sozialversicherungssystem
Deutschlands Wohlfahrtsstaat wird in der sozialwissenschaftlichen Literatur als ‚konservativ‘ (Esping-Andersen 1990; 1999) bezeichnet, da er – ähnlich wie eine Versicherung – im Falle von Arbeitslosigkeit Lohnersatzleistungen bietet, die sich am vorherigen Einkommen orientieren. Um dieses System sowie die analogen Systeme für den Renten-, Pflege- und Krankheitsfall zu finanzieren, verzichten Arbeitnehmer auf einen prozentuellen Fixteil3 ihres Einkommens. Im Gegenzug erhalten sie im Falle der Arbeitslosigkeit ein sogenanntes Arbeitslosengeld, welches sich an ihrem vorherigen Lohn bemisst und somit im Falle des Arbeitsplatzverlustes eine annäherungsweise Aufrechterhaltung des materiellen Status erlaubt. Zusätzlich wird durch die Sozialhilfe, seit den Hartz-Reformen Arbeitslosengeld II genannt, ein weiteres Sicherheitsnetz gespannt. Das Arbeitslosengeld II wird durch Steuermittel finanziert, seine Höhe berechnet sich nicht wie beim Arbeitslosengeld nach dem vorherigen Lohn, sondern nach Bedürftigkeit und der Aufrechterhaltung eines Mindestlebensstandards. Durch beide Systeme, Arbeitslosengeld und Arbeitslosengeld II, wird effektiv ein Mindestlohn geschaffen. Denn aus individueller Sicht wird es bei einem Lohn unter einem potenziellen Transfereinkommen von den monetären Anreizen her irrational, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Diejenigen Teile der Bevölkerung, die sich nicht selbst versorgen können, sind somit in der Lage trotzdem einen gewissen Lebensstandard zu halten. Sie sind ‚dekommodifiziert‘4, müssen also ihre ‚Ware‘ Arbeitskraft nicht unter jeder Bedingung anbieten. Dies ist durchaus sinnvoll, denn durch eine Lohnuntergrenze können Märkte davor geschützt werden, in ‚Käufermärkte‘ umzukippen, da die Nachfragemacht der Ar3 4
2006 lag dieser Anteil der sog. Lohnnebenkosten bei rund 42 Prozent. Er entspricht also ungefähr der Höhe des Spitzensteuersatzes (wir kommen gleich noch darauf, was das für den individuellen Arbeitnehmer bedeutet). Vgl. Esping-Andersen (1990: 21f. und 37): Decommodification „occurs when a service is rendered as a matter of right, and when a person can maintain a livelihood without reliance on the market.“ „[T]he concept refers to the degree to which individuals, or families, can uphold a socially acceptable standard of living independently of market participation.“
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Martin Ehlert und Martin Schröder
beitgeber die Angebotsmacht der Arbeitnehmer ansonsten übersteigen könnte (vgl. Offe 1984b). Wenn also dauerhaft Arbeitnehmer ihre Arbeitskraft zu einem niedrigen Preis anbieten, könnte es ohne eine Mindestsicherung zu einem Fallen der Löhne kommen, zumindest für jene Gruppen, die auf dem Arbeitsmarkt nur wenig nachgefragt sind. Gerade durch das deutsche Sozialversicherungssystem kann dies jedoch nicht geschehen, es kommt – nicht nur, aber auch deswegen – zu einer geringen Einkommensspreizung. Verfechtern einer egalitären Konzeption von Gerechtigkeit (vgl. zur Terminologie Kersting 2003) mag dieses System somit auf den ersten Blick als normativ wünschenswert erscheinen. Wir argumentieren hier jedoch, dass gerade dieser erste Blick in die Irre führt, denn er verstellt die Sicht auf eine Schattenseite des Systems: die durch das Sozialversicherungssystem bedingte hohe Arbeitslosigkeit bestimmter Bevölkerungsgruppen, wie wir sie in Kapitel 2.2 dargelegt haben. Wieso ist diese Arbeitslosigkeit durch die Struktur der Sozialversicherung bedingt? Durch die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme über Lohnnebenkosten werden alle regulär beschäftigten Arbeitnehmer mit einem (prozentuell) einheitlichen Satz besteuert. Das Problem ist jedoch, dass Niedrigverdienende im Gegensatz zu einem steuerbasierten Finanzierungssystem de facto trotzdem stärker von den Abgaben getroffen werden, da für diese Gruppe der Grenznutzen des abgezogenen Geldes noch recht hoch ist. Dies wird durch ein Beispiel ersichtlich. Einem Arbeitnehmer (keine Kinder), der 1000 Euro Arbeitnehmerbrutto verdient, bleiben netto 770 Euro übrig. Woraus setzen sich die Abzüge zusammen? An Lohnsteuer zahlt unser exemplarischer Arbeitnehmer nur ca. 13 Euro pro Monat. Der Großteil der Abzüge entsteht durch 75,5 Euro Krankenversicherung, 11 Euro Pflegeversicherung, 97,5 Euro Rentenversicherung und 32,5 Euro Arbeitslosenversicherung. Die hier aufgezählten Lohnnebenkosten stellen außerdem nur den Arbeitnehmeranteil dar. Auf die 216,5 Euro, die der Arbeitnehmer zahlen muss, kommt für den Arbeitgeber noch knapp derselbe Arbeitgeberanteil. Damit bei unserem exemplarischen Arbeitnehmer also netto der magere Lohn von 770 Euro ankommt, muss der Arbeitgeber diesem rund 1210 Euro zahlen. Durch das Arbeitslosengeld II hätte derselbe Arbeitnehmer das Anrecht auf eine Wohnung inklusive Nebenkosten plus 345 Euro an verfügbarem monatlichen ‚Einkommen‘. Dieses Transfereinkommen beläuft sich auf einen Nettowert von 645 Euro (wir legen Wohnungskosten inkl. Nebenkosten von 300 Euro zugrunde).5 Es stellt sich nun die Frage, ob es sich für 125 Euro zusätzlich pro Monat (Differenz Netto-Arbeitslohn zu Arbeitslosengeld II) lohnt, ca. 154 Stunden zusätzlich zu arbeiten, denn der marginale Stundenlohn beträgt somit nur 0,82 Euro. Selbst wenn ein Arbeitnehmer in einer solchen Situation zu arbeiten 5
Dies ist eine eher konservative Schätzung. Die Richtwerte für eine Bruttowarmmiete in Berlin für einen Einpersonenhaushalt betragen z.B. 360 Euro.
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bereit sein sollte, was ja in der Tat für immer mehr Arbeitnehmer gilt, wie die steigende Anzahl niedrig entlohnter Beschäftigungsverhältnisse zeigt, so müsste er immer noch einen Arbeitsplatz finden, an dem er mindestens 1210 Euro an Wert pro Monat erwirtschaftet, damit es sich für einen Arbeitgeber lohnt, ihn anzustellen. Die steigende Arbeitslosigkeit Niedrigqualifizierter (vgl. Abb. 2) spricht jedoch dafür, dass dies immer seltener möglich ist. Ganz anders stellt sich das Problem für Besserverdiener. Ein Arbeitnehmer, ebenfalls ledig und nicht verheiratet, der 4000 Euro brutto verdient, zahlt zwar mit 956 Euro monatlich einen überproportional höheren Satz an Steuern, die Lohnabgaben steigen jedoch fast genau proportional, also nicht wie die Steuern progressiv, mit dem Lohn an. So zahlt dieser exemplarische Arbeitnehmer zwar Lohnnebenkosten in Höhe von 827 Euro. Dies lässt ihm aber immer noch rund 2216 Euro netto nach allen Abzügen, womit er zumindest weitaus mehr verdient, als er über Transfereinkommen langfristig beziehen könnte.6 Wir vertreten hier die These, dass diese Diskrepanz – für Hochqualifizierte lohnt es sich trotz der Lohnnebenkosten zu arbeiten, für Niedrigqualifizierte weniger – eine besondere Ungerechtigkeit hervorbringt, die bei einer oberflächlichen Analyse der materiellen Gleichheit, die das deutsche System schafft, leicht aus dem Blick geraten kann: Niedrigqualifizierte werden aus dem Erwerbsleben ausgegrenzt, da es ihnen unter den Konditionen des deutschen Sozialversicherungssystems oft nicht möglich ist, eine Arbeit aufzunehmen, ohne monetär gesehen irrational zu handeln. Dies ist dann auch genau der Sachverhalt, der ins Auge sticht, wenn die deutsche Arbeitslosenquote nach Qualifikation aufgegliedert zeitlich und international verglichen wird (vgl. Kapitel 2.2). Fassen wir also die bisherige Argumentation zusammen. Der deutsche Wohlfahrtsstaat zeichnet sich dadurch aus, dass er Löhne bei Arbeitsplatzverlust über relativ hohe Transfereinkommen konserviert. Dies geht mit einer im internationalen Vergleich egalitären Einkommensverteilung einher. Gleichzeitig hat der Finanzierungsmodus des dahinter stehenden sozialen Sicherungssystems jedoch den Nebeneffekt, dass in keinem anderen der 20 wichtigsten OECDLänder die Arbeitslosigkeit für Niedrig- und Moderatqualifizierte so hoch ist wie in Deutschland. Dies liegt vor allem daran, dass Arbeitskraft über die hohen Lohnnebenkosten so verteuert wird, dass eine Arbeitsaufnahme innerhalb dieser Gruppe unter strikt materiellen Gesichtspunkten irrational wird. Die Beschaffenheit des deutschen Sozialsystems führt also zu einem merkwürdigen ‚Tausch‘: Eine egalitäre Einkommensstruktur wird um den Preis des Ausschlusses niedrig 6
All diese exemplarischen Rechnungen können leicht mittels über das Internet verfügbarer BruttoNetto-Lohnrechner nachvollzogen werden. Siehe z.B. die folgenden Adressen: http://www.sueddeutsche.de/jobkarriere/erfolggeld/special/126/44082/14; http://www.metier2000.de/bnl2000.htm; http://www.all-in.de/redsys/allin/service/lohnrechner.php; http://www.lohn1.de/lobn.htm.
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qualifizierter Arbeitskräfte aus dem Arbeitsmarkt erreicht. Dieser Ansatz war allerdings lange Zeit bewusst verfolgtes Ziel von Sozialpolitik. „Lieber gar kein Job als ein schlecht bezahlter“, so könnte man diese Devise zusammenfassen. Oft ist dabei von ‚amerikanischen Zuständen‘ die Rede, welche im Interesse der Arbeitslosen vermieden werden sollten (vgl. kritisch: Streeck 2004). Das ‚deutsche Modell‘ mit einer hohen Arbeitslosigkeit ist nach dieser Logik dem ‚amerikanischen Modell‘ mit den dort vorhandenen ‚working poor‘ vorzuziehen. Es stellt sich nun aber die Frage, wie dies die Betroffenen sehen. Sind Arbeitslose wirklich zufriedener, oder zumindest nur geringfügig unzufriedener, als Inhaber eines – wenn auch schlecht bezahlten – Jobs? Im nächsten Kapitel werden wir diese Frage thematisieren. 4
Konsequenz: Verringerung der volkswirtschaftlichen Zufriedenheit
Um die Wirkung von Arbeitslosigkeit auf die Lebenszufriedenheit der Betroffenen zu messen, haben wir auf folgende Frage aus der ALLBUS-Umfrage (2004)7 zurückgegriffen: „Denken Sie jetzt einmal an Ihre persönliche Situation: Haben sich – einmal alles zusammengenommen – Ihre Vorstellungen über das, was Sie im Leben erreichen wollten, bisher mehr als erfüllt, erfüllt, nicht ganz erfüllt oder überhaupt nicht erfüllt?“
Während nur 20 Prozent der Arbeitslosen ihr Leben als ‚erfüllt‘ oder ‚mehr als erfüllt‘ ansehen, ist dies für 55,6 Prozent der Nicht-Arbeitslosen der Fall. Dies könnte jedoch auch mit der ökonomischen Situation der Arbeitslosen zusammenhängen: Ein durch Arbeitslosigkeit geschmälertes Budget schränkt die Handlungsmöglichkeiten eines Individuums ein, was seine Lebenszufriedenheit vermindern könnte. Es ist darum wichtig, dass in einer Analyse die Wirkung des Einkommensverlustes kontrolliert wird (Winkelmann/Winkelmann 1998). Als statistisches Modell bietet sich die logistische Regression an, da die Lebenszufriedenheit als abhängige Variable kein metrisches, sondern ein ordinales Skalenniveau aufweist.8 Da die Randkategorien nur schwach besetzt sind, reduzieren wir die Anzahl der Kategorien von ursprünglich vier auf zwei, sodass die Unterschei7 8
Die Umfrage ist unter folgender Adresse im Internet öffentlich zugänglich: http://www.socialscience-gesis.de/Datenservice/ALLBUS/Daten/all2004.htm – 05.09.2006. Das bedeutet, dass die Merkmalsausprägungen der Variable zwar hierarchisch geordnet, aber nicht gleich weit voneinander entfernt sind. Aussagen wie: ‚Person 1 führt ein doppelt so erfülltes Leben wie Person 2’ sind also nicht möglich. Die lineare Regression nimmt jedoch eine solche metrische Ausprägung der abhängigen Variable an, daher könnte ihre Anwendung in diesem Fall zu verfälschten Ergebnissen führen.
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dung nun aus ‚Lebenserwartungen erfüllt‘ und ‚Lebenserwartungen nicht erfüllt‘ besteht. In unser Modell werden, außer dem Nettohaushaltsäquivalenzeinkommen9, noch die soziodemographischen Variablen Geschlecht, Alter, Familienstand, Bildung, Gesundheitszustand und Erhebungsgebiet (alte/neue Bundesländer) aufgenommen, um eine Beeinflussung der Ergebnisse über Drittvariablen auszuschließen. Tabelle 1: Der Einfluss von Arbeitslosigkeit und anderer Faktoren auf Lebenszufriedenheit
Arbeitslos Einkommen in Euro x 500 Alter Erhebungsgebiet (1=Neue Bundesländer) Geschlecht (1=Mann) Bildunga Realschulabschluss
Modell 1 -1,201** 0,301 0,378** 1,459
Lebenszufriedenheit Modell 2 -1,004** 0,366 0,378** 1,460 0,020** 1,021 -0,215** 0,807 -0,033
Modell 3 -0,927** 0,396 0,332** 1,394 0,025** 1,025 -0,203* 0,816 -0,072 -0,125
Abitur/Fachhochschulreife
0,224* 1,251
Gesundheitszustand (1= sehr gut und gut)
0,480** 1,615
Familienstand (1=Verheiratet)
0,463** 1,607
Konstante Log Likelihood n
-0,653** -1590,1819 2434
-1,573** -1555,7622 2434
-1,405** -1525,9323 2434
Anmerkungen: * signifikant auf dem 5%-Niveau ; ** signifikant auf dem 1%-Niveau a Referenzkategorie: Hauptschulabschluss Odds-Ratios kursiv unter den Koeffizienten
9
Das Haushaltsnettoäquivalenzeinkommen gewichtet das verfügbare Einkommen je nach Größe des Haushalts. Dabei wird das erste Haushaltsmitglied mit 1 gewertet, weitere Haushaltsglieder über 15 Jahre mit 0,7, Haushaltsmitglieder unter 15 werden mit 0,5 gewichtet.
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Bis auf Alter und Einkommen wurden alle Prädiktorvariablen dichotomisiert. In Tabelle 1 ist immer eine Ausprägung, für die die Berechnung gemacht wurde, angegeben. Es wird also z.B. der Effekt der Arbeitslosigkeit gegenüber der Nicht-Arbeitslosigkeit angegeben. In Modell 1 werden zunächst nur Arbeitslosigkeit und das Einkommen untersucht. Diese werden dann in Modell 2 durch einfache soziodemographische Merkmale ergänzt. In Modell 3 werden dann schließlich Kontrollvariablen, von denen wir vermuten, dass sie ebenfalls einen Einfluss auf die individuelle Lebenszufriedenheit haben, wie der Gesundheitszustand, hinzugefügt. Am niedrigen Log-Likelihood-Wert10 zeigt sich, dass Modell 3 am besten an die Daten angepasst ist, was nicht verwunderlich ist, da es die meisten Variablen miteinbezieht. In der Tabelle kann man sehen, dass Arbeitslosigkeit in allen Modellen unabhängig vom Einkommen einen relativ gleichbleibenden und stark negativen Einfluss auf die Lebenszufriedenheit hat. Die Interpretation der Regressionskoeffizienten ist bei einer logistischen Regression problematisch, da sie den Effekt auf die logarithmierten Wahrscheinlichkeiten, zu einer Kategorie zu gehören, angeben. Daher greift man auf die Odds-Ratios zurück, welche kursiv unter den Regressionskoeffizienten aufgeführt sind, insofern, als diese signifikant sind. Die Odds-Ratios geben das Verhältnis der Chancen, zur Kategorie ‚Lebenserwartungen erfüllt’ zu gehören, an. Arbeitslose haben demnach in Modell 3 gegenüber Nicht-Arbeitslosen nur eine 0,39-fache Chance, ein erfülltes Leben zu führen, unabhängig von ihrem Einkommen. Die Chance reduziert sich also um über 60%. Diese Zahl wird berechnet, indem der Odds-Ratio des Faktors Arbeitslosigkeit von 1 abgezogen wird. Demgegenüber hat z.B. jemand, der gesund ist, eine 1,61-fache oder um etwa 61% erhöhte Chance, ein erfülltes Leben zu führen. Bei jemandem, der verheiratet ist, erhöht sich die Chance auch um ca. 61%. Dass dieses statistisch gegen den Zufall abgesicherte Ergebnis auch insbesondere für Geringverdiener gilt, wird beim Betrachten der deskriptiven Statistik für Personen mit einem Einkommen bis 1000 Euro deutlich.
10
Der Log-Likelihood-Wert gibt die Wahrscheinlichkeit wieder, mit dem das Modell die beobachteten Daten erklärt. Der Log-Likelihood-Wert wird bei besserer Anpassung geringer.
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Tabelle 2: Kreuztabelle Zufriedenheit und Beschäftigungsstatus Vorstellungen über das, was man erreichen will, haben sich … Arbeitslos Berufstätig
… nicht erfüllt 77,1 %
… erfüllt 22,9 %
56,1 %
43,8 %
Anmerkungen: Berufstätig: Ganztags und Halbtags; Nur Personen mit Einkommen unter 1000 Euro. Quelle: ALLBUS 2004, eigene Berechnung; N = 651 Während immerhin 43,8% der Berufstätigen mit geringem Einkommen angeben, dass sich ihre Vorstellungen über das, was sie im Leben erreichen wollen, erfüllt haben, ist bei den Arbeitslosen ein sehr viel geringerer Anteil der Ansicht, dass dies der Fall ist. Die Wahrscheinlichkeit, ein erfülltes Leben zu führen, ist also durch den Status der Arbeitslosigkeit an sich stark eingeschränkt, nicht nur durch die damit einhergehenden Einbußen an Einkommen. Dieser Effekt wurde auch für andere Länder festgestellt (vgl. z.B. Clark/Oswald 1994 für Großbritannien; Frey/Stutzer 2002).11 Wie unser Modell zeigt, hat jedoch auch das Einkommen einen stark positiven Effekt auf die Lebenszufriedenheit. Eine Person, die ein um 500 Euro höheres Einkommen im Monat aufweist, hat gegenüber jemandem mit entsprechend niedrigerem Einkommen eine 1,39-fache Chance, dass sich ihre Lebenserwartungen erfüllt haben. In Abbildung 4 wird allerdings deutlich, dass dieser Effekt sich bei steigendem Einkommen verringert. Ab einem Einkommen von etwa 4000 Euro sinkt die Steigung der Kurve der vorhergesagten Werte stark, und damit der marginale Effekt zusätzlichen Einkommens auf die Lebenszufriedenheit. Es scheint also einen Sättigungseffekt beim Einkommen zu geben: Ab einer gewissen Höhe trägt es kaum noch zur Steigerung der Lebenszufriedenheit bei. In der Grafik wird außerdem deutlich, dass es einen deutlichen Niveauunterschied zwischen Arbeitslosen und Nicht-Arbeitslosen bei den vorhergesagten Werten in Abhängigkeit vom Einkommen gibt. Ein Arbeitsloser (untere Kurve) ist mit demselben ‚Einkommen‘ unzufriedener als ein Berufstätiger.
11
Es wäre allerdings auch vorstellbar, dass die Wirkungsrichtung dieses Effekts umgekehrt ist: Arbeitslose finden keinen neuen Job, weil sie unglücklicher und damit weniger motiviert sind, Lebenszufriedenheit bedingt also Arbeitslosigkeit. Winkelmann und Winkelmann (1998) zeigen jedoch mit Längsschnittdaten aus dem sozioökonomischen Panel, dass der Rückgang der Lebenszufriedenheit erst nach dem Jobverlust eintritt.
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Vorhergesagte Wahrscheinlichkeit, ein erfülltes Leben zu führen in Abhängigkeit vom Einkommen.
Vorhergesagte Wahrscheinlichkeit .2 .4 .6 .8
1
Abbildung 4:
0
2000
4000 6000 Einkommen in Euro nicht arbeitslos
8000
arbeitslos
Anmerkung: Gepunktete Linien: 95% Konfidenzintervall; Quelle: ALLBUS 2004, eigene Berechnung, N=2434 Wir können also festhalten: Einkommen trägt überraschend wenig zur Zufriedenheit von Individuen bei, vor allem ab einem bestimmten Einkommenslevel. Arbeitslosigkeit jedoch hat, zumindest in unserem Sample, einen starken Einfluss, auch unter Kontrolle aller anderen untersuchten Faktoren. Dies führt zu einem unintendierten Effekt des deutschen Sozialsystems: Die Transferleistungen, welche die Wohlfahrt erhöhen sollten, verringern diese eher – und zwar indirekt – über die Verteuerung von Arbeit und den damit einhergehenden Ausschluss niedrig qualifizierter Bevölkerungsgruppen vom Arbeitsmarkt. Durch diese Analyse, welche den Kernpunkt unserer Arbeit bildet, bietet sich die Möglichkeit, das deutsche Sozialversicherungssystem und seine Folgen normativ unter dem Blickwinkel der Maximierung von Lebenszufriedenheit zu bewerten. Der Leitspruch ‚Lieber keine Arbeit als eine schlechte‘ ist zumindest über unsere Analyse nicht gedeckt. Gemäß unserer logistischen Regression scheint Arbeitslosigkeit vielmehr unabhängig vom Einkommen die Zufriedenheit einzuschrän-
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ken. Dadurch stellt sich die Aufgabe der Herstellung einer hohen Beschäftigung aus einem anderen Blickwinkel dar. Eine niedrige Arbeitslosenquote muss nicht primär einem wirtschaftlichen Imperativ folgen. Vielmehr scheint es, dass vor allem unter sozialen Gesichtspunkten – mit Hinblick auf die Lebenszufriedenheit der Betroffenen – eine niedrige Arbeitslosigkeit wichtig wäre. Umgekehrt kann infrage gestellt werden, ob Deutschland sich im Vergleich zu Ländern wie England, die ihre Bevölkerung weitaus rabiater in das Erwerbsleben drücken, wirklich als sozialer bezeichnen kann. Denn es ist eben für die Betroffenen nicht sozialer, über Transfers in die Arbeitslosigkeit gedrückt zu werden. Das heißt allerdings natürlich nicht, dass die allseits bekannten wirtschaftlichen Faktoren, die üblicherweise gegen Arbeitslosigkeit ins Feld geführt werden, obsolet sind. Vielmehr addieren sich diese Faktoren noch zu dem von uns hier skizzierten Argument. Doch auch der psychologische Effekt von Arbeitslosigkeit, den wir hier skizziert haben, hat für die Volkswirtschaft direkte negative Folgen. Denn durch den negativen Einfluss von Arbeitslosigkeit auf persönliches Wohlbefinden werden die Arbeitslosen weniger arbeitsfähig, da Arbeitgeber darauf achten, möglichst Arbeitnehmer einzustellen, die nicht von der ‚gelernten Hilflosigkeit‘ betroffen sind, die die Arbeitslosen befällt (vgl. Darity/Goldsmith 1996: 133f.). So kommt es dann zu einer Gruppe an permanenten Außenseitern, die Esping-Andersen (vgl. 1999) z.B. das ‚B-Team‘ nennt. Genau das Entstehen einer solchen Gruppe dauerhaft Ausgeschlossener gilt es jedoch zu verhindern. Dabei widersprechen sich in diesem Falle soziale und wirtschaftliche Ziele aber eben nicht, sondern laufen auf dieselben Maßnahmen hinaus, was wir im Folgenden erläutern möchten. 5
Behandlung: Arbeit statt Transfers subventionieren
5.1 Theoretische Herleitung eines Maßnahmenkatalogs Konnte Sozialpolitik früher quasi ‚gegen den Markt‘ (Esping-Andersen 1985) stattfinden, so wird diese heute zu einem Wettbewerbsfaktor, der dazu dient, einen Standortvorteil zu etablieren (vgl. Scharpf/Schmidt 2000a; 2000b). Der Wohlfahrtsstaat gerät dabei unter Druck. Das muss aber nicht zu einem ‚race to the bottom‘ der Sozialstaatsausgaben führen (vgl. OECD 2005). Vielmehr werden Mittel umgeschichtet hin zu ‚enabling‘. Der Einzelne soll durch den Staat fit gemacht werden, um seine eigene materielle Existenz auf Märkten sicherstellen zu können (vgl. Sen 1980; Seeleib-Kaiser 2003; Maydell et al. 2005). Im Zuge dieses Wandels wird nicht der Wohlfahrtsstaat an sich zum Problem, sondern die Frage: „Wofür gibt dieser seine Mittel aus?“ So ist es z.B. möglich, über einen breiten öffentlichen Sektor nicht nur eine hohe Beschäftigung sicherzustellen,
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sondern auch eine exzellente öffentliche Infrastruktur, die nicht zuletzt auch weniger qualifizierten Menschen Arbeit bietet. Ist dies gegeben, kann eine Bevölkerung auch bereit sein, eine hohe Steuerlast zu tragen; diesen Weg gehen im Wesentlichen die skandinavischen Länder. Im Gegensatz dazu kann der staatliche Sektor auch so klein gehalten werden, dass die Abgaben auf Arbeit so moderat sind, dass auch Geringqualifizierte einen zumindest so hohen Nettolohn übrig behalten, dass dieser eine – wenn auch relativ magere – Grundsicherung übersteigt. Diesen Weg zu einer hohen Beschäftigungsquote gehen im Wesentlichen die angloamerikanischen Länder (vgl. Scharpf 1999). Beide Wege bringen es mit sich, dass der Staat den Erfordernissen offener Wirtschaftsräume entspricht. Individuen werden nicht außerhalb des Marktes subventioniert, sondern können Beschäftigungsverhältnisse eingehen und sich somit selbst versorgen. Die deutsche Sozialpolitik sorgt jedoch mit ihren nach dem Versicherungsprinzip verteilten Sozialleistungen eher dafür, dass viele Menschen auf Transfereinkommen angewiesen sind. Dies ist nicht nur mittels der üblichen Argumente kritisch zu sehen (hohe Abgaben für diejenigen, die arbeiten, um die Transfers zu finanzieren, vgl. Streeck/Trampusch 2005) sondern ist, wie unsere logistische Regression zeigt, auch für die betroffenen Arbeitslosen mit einem erheblichen Verlust an individueller Lebenszufriedenheit verbunden. Jedoch hat unsere Analyse auch gezeigt, dass die unzufriedenen Bevölkerungsgruppen über einen minimalen Verlust an Wohlfahrt wieder ins Erwerbsleben eingebunden werden. Denn erstens hat zusätzliches Einkommen ab einem bestimmten Punkt kaum noch positiven Einfluss auf die Lebenszufriedenheit (vgl. Abbildung 4), und zweitens wird eine Einbindung in das Erwerbsleben als persönlich sehr zufriedenstellend empfunden, unabhängig vom (Transfer-)Einkommen. Dies erlaubt uns, sozialpolitische Empfehlungen aus unserer Analyse abzuleiten. In Anbetracht der Maximierung von Lebenszufriedenheit spricht wenig dagegen, höhere (vor allem nichtverdiente, also z.B. geerbte) Einkommen höher zu besteuern und diese Ressourcen zu nutzen, um einen Niedriglohnsektor zu subventionieren, indem dort die hohen Lohnnebenkosten erlassen werden und so Arbeit reizvoller und somit stärker nachgefragt wird (vgl. die in Kapitel 3 skizzierten Effekte von Lohnnebenkosten auf niedrig entlohnte Beschäftigung). Interessanterweise gibt es gerade für diese Maßnahmen in Deutschland erstaunlichen Spielraum, den wir abschließend skizzieren möchten. 5.2 Konkrete Empfehlungen aufgrund der bisherigen Ergebnisse Wie die ‚Arbeitsgruppe Benchmarking‘ des ehemaligen Bündnisses für Arbeit gehen auch wir davon aus, dass „in Deutschland bei den einfachen Dienstleistungen erhebliche Beschäftigungsreserven bestehen, die ausgeschöpft werden
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können und müssen“ (Streeck 1999 et al.: 3f.). Dies verdeutlicht auch die folgende Abbildung. Die Tabelle gibt die Zusammensetzung der öffentlichen Einkünfte der 20 wichtigsten OECD-Staaten wieder. Die öffentlichen Einkünfte dieser Staaten, welche sich in ihrer Gesamtheit immer zu 100 Prozent addieren, wurden von der OECD in fünf Kategorien eingeteilt. Keines der zum Vergleich herangezogenen Länder deckt einen so hohen Anteil seiner öffentlichen Einnahmen über Sozialversicherungsbeiträge wie Deutschland. Dass Deutschland sowohl den höchsten Anteil an Einnahmen durch Sozialversicherungsbeiträge als auch die höchste Arbeitslosigkeit Niedrigqualifizierter hat, ist kein Zufall, vielmehr bedingt Ersteres Letzteres, wie wir in Kapitel 3 gezeigt haben. Unsere Studie knüpft damit von einer individuellen Mikroperspektive (der Betroffenen) an Studien an, die denselben Zusammenhang auf der Makroebene gezeigt haben: Gerade Lohnnebenkosten haben einen depressiven Effekt auf Beschäftigung (vgl. Bach/Steiner/Teichmann 2002; Scharpf 1999). Denn während Lohnnebenkosten direkt Arbeit belasten, besonders niedrig qualifizierte, und nicht progressiv gestaltet sind, speisen sich Steuern aus einem breiteren Bemessungsspektrum. Gerade dieses breite Bemessensspektrum wird jedoch in Deutschland nicht ausgeschöpft. Innerhalb der 20 hier verglichenen führenden OECD-Länder nutzt nur Portugal Unternehmenssteuern noch weniger, um seine öffentlichen Einnahmen zu bestreiten. Die Einkommenssteuer nutzen nur sechs Länder in einem geringeren Maße als Deutschland. In der Nutzung von Steuern auf Güter- und Dienstleistungen liegt Deutschland im Mittelfeld (11. Platz). Jedoch haben wiederum nur vier Länder niedrigere Einnahmen durch alle übrigen Steuern (OECD 2005). Dementsprechend betragen die Staatseinnahmen durch Steuern auf Vermögen in Deutschland nur 0,9 Prozent des BIP. Dieser Wert liegt – mit Ausnahme dreier Länder – in allen anderen OECD-Ländern höher. Der OECD-Durchschnittswert für Einnahmen aus dieser Quelle ist 1,8 Prozent, der EU-Durchschnittswert 2,0 Prozent und der Wert für die USA 3,1 Prozent (Bach/Steiner/Teichmann 2002: 10). Wir belasten also über hohe Lohnnebenkosten ein Gut, welches einen hohen Einfluss auf individuelle Lebenszufriedenheit hat (Arbeit), und besteuern Güter niedrig, die einen geringen Einfluss auf Lebenszufriedenheit haben (sehr hohes Einkommen und Vermögen). Mit einer Umstellung dieser Finanzierung könnte man nicht nur die volkswirtschaftliche Wohlfahrt erhöhen, sondern quasi als Nebeneffekt auch die Arbeitslosigkeit senken.12 12
Hiergegen könnte man natürlich unter Nutzung der Laffer-Kurve argumentieren, dass durch die höhere nominelle Besteuerung dieser Faktoren sich deren Fluchttendenzen so verstärken würden, dass die effektiven Steuereinnahmen daraus sinken würden. Dieses Argument verfängt aber nicht, da es in anderen Ländern auch möglich ist, diese Faktoren einer nicht nur nominell, sondern auch effektiv höheren Besteuerung zu unterwerfen (vgl. Abb. 5).
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Abbildung 5:
Quellen öffentlicher Einnahmen
100%
Übrige Steuern 80%
Unternehmenssteuer
60%
Einkommensteuer
40%
Steuern auf Güter und Dienstleistungen 20%
Sozialversicherungsbeiträge
Deutschland
Japan
Frankreich
Spanien
Schweden
Belgien
Österreich
Portugal
Niederlande
USA
Italien
Schweiz
Finnland
Norwegen
Großbritannien
Irland
Kanada
Dänemark
Australien
Neuseeland
0%
Quelle: OECD in Figures – 2005 edition http://www.oecd.org/infigures 6
Schluss
Wie wir gezeigt haben, ist Deutschland zwar ein egalitäres Land, was die Verteilung des materiellen Wohlstands angeht. Jedoch kann es aus einer vielleicht auf den ersten Blick nicht ganz so naheliegenden, jedoch für die Lebenszufriedenheit wichtigeren Perspektive als besonders unegalitär bezeichnet werden. Denn in keiner der 20 führenden OECD-Nationen werden niedrig qualifizierte Bevölkerungsgruppen so massiv aus dem Erwerbsleben ausgeschlossen wie in Deutschland. Wie wir gezeigt haben, hat aber gerade der Erwerbsstatus massive Auswirkungen auf die persönliche Lebenszufriedenheit. Insofern stellt sich die Frage, ob Menschen bzw. die Erfülltheit deren Lebens in Deutschland wirklich stärker im Mittelpunkt stehen als in anderen Ländern. Obwohl gerade in Deutschland öffentlich der Anspruch des ‚sozial Notwendigen‘ im Gegensatz zum ‚wirtschaftlich Notwendigen‘ gegenüber angloamerikanischen Ländern hochgehalten wird, haben wir hier bestritten, dass dies erstens der deutschen sozialpolitischen Realität entspricht und dass zweitens dieser Widerspruch des sozial und wirtschaftlich Notwendigen überhaupt bestehen muss. Unser Untersuchungsdesign erlaubt somit gleichzeitig auch einen Hinweis, wie das skizzierte Problem gelöst werden könnte. Denn erstens haben wir gezeigt, dass Arbeitslosigkeit unabhängig vom Einkommen einen starken negativen Effekt auf Lebenszufriedenheit hat. Zweitens haben wir verdeutlicht,
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dass zusätzliches Einkommen ab einem bestimmten Punkt kaum einen zusätzlichen Einfluss auf Lebenszufriedenheit hat, und drittens haben wir gezeigt, dass Abgaben auf Vermögen (im Gegensatz zu Abgaben auf Arbeit) in Deutschland unterentwickelt sind. Welche Konsequenzen ergeben sich aus diesen Befunden? Finanzierungsvolumen aus einer stärkeren Besteuerung hoher Einkommen sollte genutzt werden, um die Lohnnebenkosten gering qualifizierter (und damit oft gering verdienender) Arbeitnehmer zu entlasten, was über den Umweg einer niedrigeren Arbeitslosigkeit zu einem Wohlfahrtsgewinn führen würde, ohne dass es in Anbetracht der stärker belasteten Einkommens- und Vermögenswerte zu nennenswerten Wohlfahrtverlusten kommen würde. Quasi als Nebeneffekt könnte so auch die Arbeitslosigkeit reduziert werden, auf jeden Fall stünde aber die individuelle Lebenszufriedenheit der Menschen stärker im Vordergrund. Zumindest im begrenzten Rahmen unseres Untersuchungsdesigns können wir somit sicher sagen, dass wir eine sozialpolitische Alternative darstellen, die im Gegensatz zur derzeitigen Praxis wirklich das Attribut ‚Mittelpunkt Mensch’ verdient. Literatur Bach, Stefan/Steiner, Viktor/Teichmann, Dieter (2002): Gutachten: Berechnungen zum Reformvorschlag ‚Arbeit für viele‘. Berlin: DIW. URL: http://www.diw.de/deutsch/produkte/publikationen/gutachten/docs/diw_spiegel_berech_arbeit200207.pdf – 26.8.2006. Clark, Andrew/Oswald, Andrew (1994): Unhappiness and Unemployment. In: The Economic Journal, 104 (424), 648-659. Darity, William/Goldmith, Arthur (1996): Social Psychology, Unemployment and Macroeconomics. In: The Journal of Economic Perspectives, 10 (1), 121-140. Diener, Ed/Kahneman, Daniel/Schwarz, Norbert (1999): Well-Being: The Foundations of Hedonic Psychology. New York: The Russell Sage Foundation. Esping-Andersen, Gøsta (1985): Politics Against Markets: The Social Democratic Road to Power. Princeton: Princeton University Press. Esping-Andersen, Gøsta (1990): The Three Worlds of Welfare Capitalism. Cambridge: Polity Press. Esping-Andersen, Gøsta (1999): Social Foundations of Postindustrial Economies. New York: Oxford University Press. Frey, Bruno/Stutzer, Alois (2002): Happiness and Economics: How the Economy and Institutions Affect Human Well-Being. Princeton: Princeton University Press. Hummel, Markus/Reinberg, Alexander (2002): Qualifikationsspezifische Arbeitslosenquoten – Reale Entwicklung oder statistisches Artefakt? IAB Werkstattbericht, Ausgabe Nr. 4, 23.4.2002. URL: http://doku.iab.de/werkber/2002/wb0402.pdf – 24.06.2006. IAB (2005): IAB Kurzbericht. Aktuelle Analysen aus dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit, Nr. 9, 13.6.2005. URL: http://doku. iab.de/kurzber/2005/kb0905.pdf – 26.08.2006.
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Martin Ehlert und Martin Schröder
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Hauptsache Arbeit? Hauptsache Freie Zeit!
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Hauptsache Arbeit? Hauptsache Freie Zeit! Die Idee der Freien Zeitversicherung oder wie sich durch ein neues Anreizsystem die „Arbeitslosigkeit abschaffen“ ließe. Auszüge aus dem Konzeptpapier zur Freien Zeitversicherung Uta Hanft Einleitung
„Hauptsache Arbeit?“ ist die Frage und lautet das Thema des Deutschen Studienpreises, und im Mittelpunkt des Themas soll der Mensch stehen. Der Deutsche Studienpreis konstatiert: „Die Arbeitsgesellschaft steckt in der Krise. Trotz der Bemühungen aller politischen Kräfte, Vollbeschäftigung zu schaffen, sind immer mehr Menschen dazu gezwungen – zumindest zeitweise –, ein Leben ohne Erwerbsarbeit zu führen.“ Und so fordert der Deutsche Studienpreis ein kollektives Umdenken, Leitbilder, Modelle und Ideen. In diesem Sinne möchte ich für eine Umgestaltung und Neuordnung des Arbeitsmarktes plädieren. Dies geschieht in Anlehnung an die von mir im letzten Jahr eingereichte Arbeit, denn ich gebe zu, der Gedanke, die Arbeitslosigkeit abzuschaffen13, hat mir keine Ruhe gelassen; und so lautet auch dieses Mal die Antwort auf die Frage: Hauptsache Arbeit? Hauptsache Freie Zeit! Mein Beitrag wird sich wie folgt aufbauen: Zunächst werde ich mich der Fragestellung widmen, wie der derzeitige Arbeitsmarkt geordnet ist. Dann werde ich darlegen, wie sich die Arbeitsmarktsituation gestalten könnte. Des Weiteren erscheint es mir aufschlussreich, den Arbeitsmarkt aus spieltheoretischer Sicht zu beleuchten, um dann unter Zugrundelegung einer Verhaltensannahme zu einem konkreten Lösungsvorschlag zu gelangen. 1
Derzeitige Ordnung des Arbeitsmarktes
Am deutschen Arbeitsmarkt gibt es auf der Seite der Anbieter von Arbeitsleistung derzeit zwei Kategorien: Erwerbspersonen mit Beschäftigung und Erwerbs13
Der Beitrag baut auf der von mir im vorigen Jahr eingereichten Arbeit auf. Siehe: Uta Hanft, „Hauptsache Freie Zeit“ in: Deutscher Studienpreis (Hrsg.) Ausweg Wachstum? Arbeit, Technik und Nachhaltigkeit in einer begrenzten Welt.
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Uta Hanft
personen, die zeitweise ohne Beschäftigung sind. Die Summe der Erwerbspersonen ohne Beschäftigung ist mehr als doppelt so groß wie die Anzahl der offenen Stellen, die das Institut für deutsche Wirtschaft mit 1,7 Millionen beziffert. Am Arbeitsmarkt herrscht ein Ungleichgewicht, und das nicht erst seit gestern. Dieses Ungleichgewicht lässt sich meines Erachtens durch eine Umordnung beseitigen. 2
Mögliche Umordnung des Arbeitsmarktes
Zur Umordnung des Arbeitsmarktes schlage ich die Einführung einer weiteren Kategorie von Erwerbspersonen vor. Während es sich bei den eingangs genannten Erwerbspersonen um Anbieter von Arbeitsleistung handelt, ließe sich eine Kategorie von Erwerbspersonen denken, die keine, zumindest zeitweilig keine, Anbieter von Arbeitsleistung sind. Die Erwerbspersonen, die zeitweilig keine Anbieter von Arbeitsleistung sind, sind mit vollkommen neuen Eigenschaften, d.h. mit anders gearteten Rechten und Pflichten ausgestattete Teilnehmer des Arbeitsmarktes. Ich nenne sie Freie Zeitnehmer.
Abbildung 1:
Neuordnung des Arbeitsmarktes unter Hinzufügung einer neuen Teilnehmerkategorie: der Freien Zeitnehmer
Hauptsache Arbeit? Hauptsache Freie Zeit!
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Freie Zeitnehmer sind Erwerbspersonen, die sich Freie Zeit nehmen. Sie tun das freiwillig oder nicht, mit Einverständnis des Arbeitgebers oder ohne dieses. Wenn Arbeitnehmer sich hinreichend vor allem aber freiwillig Freie Zeit nehmen, entstehen Arbeitsplätze. Diese frei gewordenen Stellen können von Arbeitslosen wieder besetzt werden. Weil Freie Zeitnehmer dem Arbeitsmarkt zeitweilig nicht zur Verfügung stehen, weitet sich die Nachfrage nach Arbeitsleistung im Verhältnis zum Angebot aus. Damit steigen für alle Anbieter von Arbeitsleistung die Gewinnmöglichkeiten. Sie steigen dadurch, dass durch die Ausweitung der Nachfrage nach Arbeitsleistung zunächst einmal der Wettbewerb unter den Anbietern entschärft wird. Das wiederum erhöht die Verhandlungsstärke der Anbieter und versetzt diese gegenüber dem Nachfrager in die Lage, ihre Forderungen und Anliegen in weitaus stärkerem Maße als bisher durchsetzen zu können. Aber nicht nur das: Durch die Ausweitung der Nachfrage nach Arbeitsleistung nimmt das Jobangebot im Verhältnis zur Anzahl der Menschen, die einen Job suchen, zu. Damit steigt die Wahrscheinlichkeit, dass vor allem auch Langzeitarbeitslose einen angemessenen Arbeitsplatz finden. Die mittels ihrer Verhandlungsstärke durchgesetzten Forderungen – z.B. ein Gehalt, welches deutlich über dem Arbeitslosengeld liegt – setzt hinreichenden Anreiz, diesen Arbeitsplatz auch anzunehmen. Rückblickend scheint es zwei Wege zur Senkung der Arbeitslosenquote und zu mehr Wirtschaftswachstum zu geben: Entweder man reduziert die Gewinnmöglichkeiten, die aus Arbeitslosigkeit resultieren – sprich, man senkt die Höhe und/oder die Auszahlungsdauer von Sozialleistungen wie z.B. das Arbeitslosengeld und nötigt die Menschen somit, mehr oder minder direkt einen Arbeitsplatz anzunehmen. Oder man erhöht die Gewinnmöglichkeiten, die aus Arbeit bzw. aus einem Beschäftigungsverhältnis hervorgehen; hierbei ließe sich – um nur ein Beispiel zu nennen – z.B. die Steuer- und Abgabenlast senken. Während man mit den bisherigen Reformen14 durch unterschiedlichste Maßnahmen im Wesentlichen jedoch den ersten Weg eingeschlagen hat, sollen im Gegensatz dazu mit der Einführung des Freien Zeitnehmers die Gewinnmöglichkeiten aus Arbeit bzw. einem Beschäftigungsverhältnis einerseits und die Gewinnmöglichkeiten aus Freier Zeit andererseits erhöht werden. Genauer gesagt: Derweil die Gewinnmöglichkeiten für Arbeitslose unverändert bleiben, ließen sich die institutionellen Rahmenbedingungen dergestalt verändern, dass sie es dem Einzelnen ganz individuell ermöglichen, seine Wertvorstellungen von Leben und Arbeit durchsetzen zu können, seinen wie auch immer gearteten Gewinn, den er aus Arbeit bzw. einem Beschäftigungsverhältnis zu schöpfen vermag, zu erhöhen. Damit habe ich soeben das grundsätzliche und anzustrebende 14
Vor allem im Zusammenhang mit der Agenda 2010.
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Uta Hanft
soziale wie ökonomische Wirkprinzip der Freien Zeitversicherung (FZV) erklärt. Damit erklärt sich jedoch nicht, was die FZV eigentlich ist. Dazu möchte ich im folgenden Abschnitt kommen. 3
Kurze Erläuterung der Freien Zeitversicherung
Die FZV ist eine Institution, mit der sich die Versicherten ihrer Freien Zeit versichern können, indem sie in Form von Guthaben Zeit ansparen. Diese Institution ist eine Alternative zum bestehenden Sozialversicherungssystem. Sie kann parallel zu diesem eingeführt werden, und wenn sie sich bewährt, dieses schrittweise ersetzen. Mit dieser Institution soll die Umverteilung von Zeit und, wenn man so will, implizit „Arbeitsteilung“ erreicht werden. Das Funktionsprinzip der FZV ist ein Rotationsprinzip. Wie gesagt: Am derzeitigen Arbeitsmarkt gibt es einen Mangel an Arbeitsplätzen. Durch Freie Zeitnehmer werden Arbeitsplätze verfügbar. Die wiederum können von Arbeitslosen besetzt werden, wodurch sich in etwa – und entgegen der Intuition – die Zahl der Arbeitslosen um die Zahl der Freien Zeitnehmer reduzieren würde. Da die Freie Zeit an ein Guthaben geknüpft ist, welches endlich ist, sind die Freien Zeitnehmer irgendwann gezwungen, ihre Arbeitskraft am Arbeitsmarkt wieder anzubieten. Dadurch würde die Menge an angebotener Arbeitsleistung wieder zunehmen; der Mangel an Arbeitsplätzen wäre wieder offensichtlich. Wenn jedoch die Zahl der Versicherten zunimmt, die aus dem bestehenden Sozialsystem in das System der FZV übertreten, entstehen potenziell verfügbare Arbeitsplätze. Damit nicht nur die Zahl der Versicherten, sondern auch die Zahl der Freien Zeitnehmer zunimmt, wird beim Wechsel der derzeit bestehende Arbeitslosenund Rentenanspruch in Form eines Guthabens gutgeschrieben. Darüber hinaus fordert die FZV die Versicherten auf, ihren Arbeitsplatz freiwillig zur Verfügung zu stellen. Sie tut das durch Werbung und Aufklärung, vor allem aber durch Anreize, die aus den Regeln resultieren, die ihr zugrunde liegen. Diese werde ich später noch erläutern. Vorerst sei darauf hingewiesen: In Bezug auf den Arbeitsmarkt besteht die Wahl zwischen unfreiwilligen Arbeitslosen oder freiwilligen Freien Zeitnehmern! Je mehr Freie Zeitnehmer, also je mehr Teilnehmer es am Arbeitsmarkt gibt, die zeitweilig ihre Arbeitsleistung nicht anbieten, desto geringer nimmt sich der Mangel an Arbeitsplätzen aus, desto geringer ist die Zahl der Arbeitslosen. Ganz nebenbei erwähnt: Im Rahmen der FZV können die Voraussetzungen für komplementäre Wirtschaftstätigkeit und damit weitere Arbeitsplätze geschaffen werden. Ich nenne hier die Bereiche Bildung, Erziehung, Arbeitsplatzvermittlung, den Freizeit- und Dienstleistungssektor. Auf die Darstellung der hierfür
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notwendigen Maßnahmen verzichte ich an dieser Stelle. Ich will meine Gedanken, bevor ich zur spieltheoretischen Betrachtung des Arbeitsmarktes komme, noch zu Ende führen. Wenn die Zahl der Freien Zeitnehmer die Zahl der Arbeitslosen übersteigt, wäre die Arbeitslosigkeit faktisch abgeschafft. Ich fasse also zusammen: Mit einer Umordnung am Arbeitsmarkt, mit der Einführung des Freien Zeitnehmers – einer Erwerbsperson, die zeitweilig kein Anbieter von Arbeitsleistung ist – könnte sich ein neues Gleichgewicht am Arbeitsmarkt einstellen. 4
Spieltheoretische Grundlagen der Freien Zeitversicherung
Zur spieltheoretischen Betrachtung: In Anlehnung an das Gefangenendilemma15 habe ich folgende Spielsituation konstruiert. Wie beim Gefangenendilemma stehen sich zwei Akteure – z.B. zwei Anbieter von Arbeitskraft, die sich unabhängig voneinander auf einen Arbeitsplatz bewerben – gegenüber. Hierbei haben sie keine Möglichkeit, sich über ihr Entscheidungsverhalten zu verabreden. Jedoch ist die Konsequenz ihres Entscheidungsverhaltens voneinander abhängig. Beide Akteure greifen zeitgleich auf eine knappe Ressource – den angemessenen Arbeitsplatz – zu; sie stehen deshalb zueinander in Konkurrenz. Das ist ihnen vielleicht bewusst; jedoch vollständige Kenntnis haben sie von dem Vorgang nicht.
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Das Gefangenendilemma ist eines von vielen 2x2-Matrixspielen (zwei Personen, die jeweils über zwei Handlungsmöglichkeiten verfügen), mit denen Formen und Strategien kooperativen Verhaltens in Entscheidungssituationen untersucht werden, die simultan ablaufen, wobei die Spieler die Aktionen des anderen nicht kennen, deren Konsequenz jedoch aufeinander bezogen ist. Aus diesem Grund müssen die Spieler versuchen, sich über die potenziellen Züge des Gegenspielers Klarheit zu verschaffen und deren Entscheidungen vorauszusehen. Hierbei zeigt das Gefangenendilemma auf, wie individuell rationale Entscheidungen zu kollektiv schlechteren Ergebnissen führen.
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Abbildung 2:
Uta Hanft
Auszahlungsmatrix in Anlehnung an das Gefangenendilemma; Gewinne werden durch positive Werte, Verluste durch negative Werte dargestellt; Verluste wie auch Gewinne können unterschiedlich hoch sein
Ganz allgemein lässt sich sagen: Strukturen, die dem Gefangenendilemma ähneln, entstehen durch (oder bei Zunahme von) Konkurrenz, z.B. durch die Verknappung einer Ressource. Ist dies der Fall haben die Akteure die Möglichkeit, ihren Einsatz zu erhöhen. Ein höherer Einsatz entspricht im Gefangenendilemma der Handlungsmöglichkeit des Gestehens. Ein bei Verknappung der Ressource unveränderter Einsatz entspricht der Handlungsmöglichkeit des Schweigens. Ich stelle die Konsequenzen des Verhaltens in einer anderen als der üblich verwendeten Auszahlungsmatrix dar (siehe Abb. 2). Die Werte, die Gewinne und Verluste symbolisieren, passe ich meinem Argumentationsziel an. Nun handelt es sich am Arbeitsmarkt um eine sich alltäglich wiederholende Spielsituation. Mit einer Auszahlungsmatrix kann eine Iteration nicht abgebildet werden. Daher verwende ich eine graphische Darstellungsmethode:
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Abbildung 3:
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Graphische Darstellung des klassischen Gefangenendilemmas über mehrere Spielrunden hinweg
In einem Diagramm trage ich waagerecht die Spielrunden und senkrecht die Auszahlung ein. Das Spiel, d.h. die Betrachtung des Arbeitsmarktes, beginnt an einem beliebigen Punkt, an dem ich einen Gleichstand konstatiere. Zunächst möchte ich den freien Markt betrachten. Ein freier Markt ist für mich ein Markt, an dem keine durch Menschen geschaffenen Regeln, Gesetze, keine Absprachen, keine Traditionen oder Konventionen – also keine Institutionen – das Verhalten der Akteure beeinflussen bzw. beschränken. Die Spielsituation des freien Marktes ist eine ideale und keine reelle Situation. Sie dient lediglich der Veranschaulichung. Bei einem beiderseits unveränderten Einsatz wird sich über die Zeit für beide Akteure keine Veränderung einstellen. Werden jedoch die Ressourcen knapper oder/und ist jetzt ein Akteur in der Lage, seinen
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Uta Hanft
Einsatz über den des anderen zu steigern, so geht dieser Akteur aus dem Spiel als Gewinner hervor. Der andere wird zum Verlierer. Im Verlauf des Spiels vergrößert sich der Abstand zwischen dem Akteur, der seinen Einsatz steigert, und dem, der dazu nicht in der Lage ist. Um das zu verhindern, werden Regelungen eingeführt. Unter der Bedingung, dass Regeln existieren und wirkungsvoll sind, ist der Markt kein freier Markt mehr, sondern ein durch Institutionen beschränkter Markt. Dies gilt für jeden Markt, also auch für den Arbeitsmarkt. Der deutsche Arbeitsmarkt ist ein im internationalen Vergleich stark reglementierter Markt. Er ist im Wesentlichen durch Umverteilung gekennzeichnet. Hierbei besteht – stark vereinfacht – die Regel, dass leistungsstarke Gewinner einen Teil ihres Gewinns in Form von Steuern und Sozialbeiträgen abgeben müssen, die die Verluste der Verlierer oder Leistungsschwachen kompensieren sollen. Diese Bestimmung führt dazu, dass sich der Gewinn des Gewinners in jeder Spielrunde reduziert. Hingegen kann der Verlust des Verlierers bzw. Leistungsschwachen ausgeglichen werden. Unter bestimmten, an dieser Stelle nicht näher zu erläuternden Gesichtspunkten wird der Verlust sogar zum Gewinn. In der Auszahlungsmatrix findet die Regelung der Umverteilung in der Form Eingang, als dass sich die Auszahlung bei Gewinn um einen bestimmten Betrag, in diesem Fall um zwei Werteeinheiten, verringert, während sich bei Nicht-Gewinn die Auszahlung um diesen Betrag erhöht. Durch diese Regelung liegt ein Gefangenendilemma insofern nicht mehr vor, als dass es keine dominante Strategie16 mehr gibt, d.h.: Durch ein einseitiges höheres Engagement kann der Gewinn zwar gesteigert werden; dieses Entscheidungsverhalten birgt aber die Gefahr eines noch größeren Verlustes in sich. Kooperatives Verhalten – welches in diesem Fall durch ein beiderseits geringeres Engagement zum Ausdruck kommt – wird dadurch wahrscheinlicher. Schaut man sich die Graphik hinsichtlich der Umverteilung von Gewinnen an, so stellt man fest, dass sich durch diese Regelung – trotz Gewinnabsichten und Maximierungsverhalten der Spieler – die Schere zwischen Gewinnern und Verlierern verkleinert.
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In seinen möglichen Ergebnissen – Auszahlungswerten – ist das Gefangenendilemma gegenüber anderen 2x2-Matrixspielen dadurch gekennzeichnet, dass durch ein höheres Engagement (durch Gestehen) der Gewinn gesteigert bzw. (wenn der Gegenspieler in gleicher Weise denkt und handelt) der größtmögliche Verlust reduziert werden kann. Es sprechen also zwei Argumente für ein höheres Engagement. Mit dieser (Begründung seiner) Spielstrategie macht sich der Spieler zudem unabhängig von dem Entscheidungsverhalten des Gegenspielers. Eine solche Strategie, die ungeachtet der gegnerischen gewählt wird, bezeichnet man in der Spieltheorie als dominante Strategie.
Hauptsache Arbeit? Hauptsache Freie Zeit!
Abbildung 4:
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Graphische Darstellung des in Bezug auf den deutschen Arbeitsmarkt abgewandelten Gefangenendilemmas; hierbei ändert sich die Höhe der Auszahlung um den Wert der Umverteilung
Nun gibt es ein weiteres Prinzip, welches nicht nur in der Wirtschaft, also in ökonomischer Hinsicht, sondern auch im alltäglichen Leben, in sozialen Beziehungen wirksam ist: Ich nenne es das Prinzip der Reziprozität. Reziprozität bedeutet gemeinhin Wechsel- oder Gegenseitigkeit. Bei diesem Prinzip sind Regelungen nicht zwingend notwendig, aber effizienter! Bei diesem Prinzip gibt es keine Gewinner und keine Verlierer. Bei diesem Prinzip kommt es darauf an,
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Uta Hanft
dass der Spieler mit dem höheren Einsatz diesen – freiwillig oder nicht17 – reduziert und beide Akteure in der nächsten Spielrunde ihr Verhalten wechseln.
Abbildung 5:
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Graphische Darstellung der Wirksamkeit des Prinzips der Reziprozität bzw. des Wechselns in Bezug auf das Gefangenendilemma
Freiwillig oder nicht bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die Spieler durch Anreize zu einem bestimmten, wünschenswerten Verhalten aufgefordert sind. Diese Anreize werden wenn nicht durch die institutionellen Rahmenbedingungen gesetzt, so doch idealerweise durch diese verstärkt.
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Durch den Wechsel können die Verluste aus der Vorrunde ausgeglichen werden. Sie verkehren sich in der Summe sogar zum Gewinn. Realisieren die Mitspieler nun, dass dieses Verhalten erfolgreich war, so werden sie es beibehalten.18 Dem18
An dieser Stelle sei erläuternd eingefügt: Die Strategie des Wechsels bzw. des Wechselns in sich wiederholenden Spielsituationen, in denen die Struktur des Gefangenendilemmas vorliegt, wurde durch das Buch von Robert Axelrod „Die Evolution der Kooperation“ als Tit-for-tatStrategie bekannt und durch ihn mittels computersimulierter Experimente untersucht. In diesen Experimenten ließ er unterschiedlichste, zum Teil ausgeklügelte Strategien gegeneinander antreten. Um den Erfolg der einzelnen Strategien zu bestimmen und daraus die beste Verhaltensweise abzuleiten, verwendete er eine einheitliche Messmethode: Er addierte die Werte (Punkte), die er den Handlungskombinationen zugeordnet hatte. Hierbei stellte Axelrod fest, dass die Tit-for-tat-Strategie nicht nur die erfolgreichste, sondern auch eine robuste Strategie ist. Diese Aussage deckt sich mit der Kernaussage dieser Arbeit, die darin besteht, dass eine Strategie des Wechselns die beste Alternative zu jener Strategie ist, in der beide Akteure ihr Engagement senken (d.h. schweigen), dass die Akteure mit dieser Strategie des Wechselns gemeinsam und langfristig den zweithöchsten Gewinn erzielen. Aus seiner Untersuchung leitet Axelrod jedoch nicht die Strategie des Wechselns, wie sie in dieser Arbeit verstanden wird, ab. Vielmehr gibt er die Handlungsempfehlung, das Verhalten des Gegenspielers in der nächsten Spielrunde zu vergelten – besser gesagt, zu kopieren. Diese Handlungsempfehlung hält den Spieler dazu an, in gleicher Weise wie der Gegenspieler eine Spielrunde zuvor – d.h. auf kooperatives Verhalten kooperativ und auf nicht kooperatives Verhalten nicht kooperativ – zu reagieren. Hierbei gilt es allerdings zu beachten, dass das Gefangenendilemma ein theoretisches Konstrukt von Handlungsmöglichkeiten ist. Es zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass die Zahl der Handlungsmöglichkeiten – auf Gestehen oder Schweigen, hohes oder geringes Engagement – beschränkt sind. Dies muss in Bezug auf die Realität in Zweifel gezogen werden, was allerdings hier nicht das Thema sein soll. An dieser Stelle soll lediglich darauf verwiesen werden, dass bei der Strategie des Wechselns, wie auch bei der Tit-for-tat-Strategie, es für keinen Spieler möglich ist, einen dauerhaften Vorteil zu erlangen, gar seinen Vorsprung zu vergrößern. In der Spielanordnung des Gefangenendilemmas und bei dieser Strategie kann ein Spieler nur so gut wie sein Gegenspieler sein; indem die gegnerische Defektion beantwortet wird, hinkt der Gegenspieler immer einen Schritt hinterher und hat am Schluss ein paar Punkte weniger. Beim Versuch, diesen Rückstand aufzuholen, wird der Weg der besten Strategie verlassen; beide Spieler schneiden insgesamt schlechter ab. Damit wäre im Grunde alles gesagt, jedoch nicht erklärt, warum die Strategie des Wechselns, warum Reziprozität nicht zwangsläufig – in der Realität aber auffallend oft – beim Zugriff von zum Teil unterschiedlichen und nicht verwandten Arten von Lebewesen auf begrenzte Ressourcen festzustellen ist: Um im Fall des Gefangenendilemmas die Wirksamkeit der wechselseitigen Strategie und ihren Vorzug gegenüber der Strategie, bei der beide Akteure dauerhaft ihr Engagement senken, besser verständlich zu machen, sei darauf hingewiesen, dass es – vorausgesetzt, der Wechsel hat sich etabliert – zwei Arten des Wechselns gibt, die ihrem Wesen nach gleich erscheinen, aber nicht gleich sind: a) der Wechsel von einem geringeren Engagement zu einem höheren Engagement und b) der Wechsel in die umgekehrte Richtung, von einem hohen zu einem geringeren Engagement. Untersucht man nun in einem Spiel, indem sich – wie gesagt – über mehrere Spielrunden der Wechsel etabliert hat, diese zwei Arten des Wechselns, so wird man feststellen, dass eine Defektion der wechselseitigen Strategie, welche von einem Spieler ausgehen könnte, nur bei einem Wechsel von einem höheren zu einem geringeren Engagement hervorgerufen werden kann, und zwar dadurch, dass der Gegenspieler diesen Wechsel nicht vollzieht: Dabei senkt derjenige Spieler, der aus dem Wechsel aussteigt,
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Uta Hanft
sein Engagement nicht; er tut dies in der Hoffnung, dass der Gegenspieler sein Engagement nicht steigert (oder in der wie auch immer begründeten Erwartung, dass der Gegenspieler sein Engagement nicht steigern kann). Wenn einer der Spieler den Wechsel von einem hohen zu einem geringen Engagement nicht vollzieht, ergeben sich daraus jedoch keine Vorteile (es sei denn, der Gegenspieler kann – wie gesagt – sein Engagement nicht steigern, wovon in diesem Zusammenhang nicht ausgegangen werden soll), denn genau in diesem Moment hat der Spieler – in Erwartung des Gewinns (der seinen Verlust aus der Vorrunde wieder kompensieren soll) – sein Engagement erhöht. In diesem Moment entgeht dem Spieler, der sich an das Wechselprinzip hält, zwar der (erwartete) Gewinn, jedoch profitiert der Gegenspieler nur insofern davon, dass sich der Verlust verringert; auch für ihn stellt sich der erwartete Gewinn nicht ein. Zudem ist es dem Defektanten nicht möglich, durch den Ausstieg aus dem Wechsel seine Position gegenüber dem Mitspieler, vor allem aber nicht gegenüber der (der Entscheidung vorangestellten) Ausgangssituation zu verbessern – im Gegenteil: Gemäß der Auszahlungsmatrix, und wie schon erwähnt, bleibt der Punkteabstand zwischen den Spielern konstant. Welche Möglichkeiten hat nun der Gegenspieler, auf das Verhalten des Defektanten zu reagieren? Kann er die Rückkehr zum wechselseitigen Verhalten erzwingen? Im Grunde nicht. Im Grunde bleibt ihm nur die Möglichkeit, sein Engagement auf unverändert hohem Niveau zu halten. Über diese Möglichkeit verfügt er auch nur dann, wenn er in der Lage ist, seine Leistungsfähigkeit oder seinen Einsatz zu steigern. Solange das Engagement von beiden Akteuren auf einem beiderseits gleich hohen Niveau gehalten werden kann, schmelzen die in den Vorrunden erzielten Gewinne. Solange das Engagement von beiden Akteuren auf einem beiderseits gleich hohen Niveau gehalten werden kann, wird die wechselseitige Strategie lediglich ausgesetzt, und zwar so lange, bis der Defektant sein Verhalten wieder ändert und sein Engagement reduziert. Danach kann der Wechsel fortgeführt werden. Diese Erkenntnis deckt sich mit den Untersuchungsergebnissen Axelrods. Laut Axelrod ist eine Gruppe, die tit for tat spielt, kollektiv stabil: Wenn die Wahrscheinlichkeit, in zukünftigen Spielen Gewinn zu erzielen, ausreichend ist, wird sie zu der Strategie des Wechselns zurückfinden. Am Rande sei erwähnt, dass im umgekehrten Fall, und zwar dann, wenn der Wechsel von einem geringeren zu einem höheren Engagement nicht stattfindet, von einer Defektion bzw. Nicht-Kooperation aus dem Grund nicht gesprochen werden kann, weil dem Gegenspieler daraus kein Verlust entsteht – im Gegenteil. Stellt man die Strategie des Wechselns in den Vordergrund der Betrachtung, und analysiert man das Gefangenendilemma nicht nur mittels einer Spielrunde, so ergeben sich Verschiebungen in Bezug darauf, was Kooperation ist und was nicht. Während bei der Betrachtung von nur einer Spielrunde sich derjenige Spieler kooperativ verhält, der sich für ein geringes Engagement entscheidet, und – im Umkehrschluss – der Spieler nicht kooperativ, der sein Engagement erhöht, – gilt bei mehreren Spielrunden derjenige als Defektant, der sein Engagement nicht senkt. In Abhängigkeit von den zugrunde gelegten Auszahlungswerten tritt antikooperatives Verhalten umso deutlicher hervor, je kleiner der Auszahlungswert bei beidseitig geringem Engagement ist. Aus dieser Erkenntnis folgt, dass die wie auch immer begründete Festsetzung der Höhe der Auszahlung in 2x2-Matrixspielen, wie das Gefangenendilemma, eines unter vielen ist, die Bestimmung dessen beeinflusst, was wir als Kooperation, als kooperatives Verhalten betrachten. Ist die Auszahlung, die über mehrere Spielrunden hinweg in der Summe bei einem beiderseits geringen Engagement erzielt wird, geringer als diejenige, die durch den Wechsel erreicht werden kann, so besteht kooperatives Verhalten vornehmlich im Wechsel und erst an zweiter Stelle in einem beiderseits geringen Engagement. Zusammenfassung: Unter dem Aspekt der Gewinnmaximierung und der rationalen Entscheidung ist die Strategie des Wechselns eine robuste, in geringem Maße für Defektion anfällige Strategie. In Abhängigkeit von der Höhe der Auszahlung ist sie auch die beste Strategie. Ihre
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zufolge ließe sich das Prinzip der Reziprozität bzw. der Wechsel auch ohne explizite Regeln etablieren. Nur leider wissen die Akteure im Allgemeinen nicht, warum sie erfolgreich sind oder erfolglos waren. Die Akteure schätzen sich und den Markt selten richtig ein. Sie haben immer unvollständiges Wissen, subjektive Theorien und ideologisch gefärbte Gedankenmodelle, in denen sie ihre positiven wie negativen Erfahrungen verarbeiten. Erschwerend kommt hinzu, dass Reziprozität in vielen Formen auftritt und Perioden über lange Zeiträume zustande kommen können.
Abbildung 6:
Graphische Darstellung der Formen und Wirkungsmöglichkeiten des Prinzips der Reziprozität bzw. des Wechselns in Bezug auf das Gefangenendilemma
Wirkungsweise besteht in der Koordination des Ressourcenzugriffs, ihr Vorteil in der Entschärfung der Wettbewerbssituation.
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Uta Hanft
Das bedeutet, dass sich das Prinzip der Reziprozität – im Sinne des Wechselns –, auch wenn es robust ist, auch wenn es sich angesichts der Schere als eine effiziente Methode erweist, nicht zwangsläufig etabliert. Aus diesem Grund bedarf es eines neuen Leitbildes und ganz konkret einer Art „Kooperationsinfrastruktur“, die hinreichend Anreize setzt und damit das wechselseitige Verhalten der Akteure begünstigt. 5
Realisierung des Reziprozitätsprinzips durch das Freie Zeitkonto
Wie lassen sich diese spieltheoretischen Überlegungen und erhobenen Forderungen nun praktisch anwenden und umsetzen? Wie könnten Institutionen in Zukunft und in technischer wie formaler Hinsicht gestaltet werden, damit Werte, die die Wohlfahrt des Gegenspielers betreffen, in das Entscheidungsverhalten einfließen? Hierfür sollen in diesem Abschnitt die Funktionsweise der FZV und speziell das Freie Zeitkonto erläutert werden. Die FZV versteht sich als Kooperationsinfrastruktur. Um Erwerbspersonen effektiv zur Reziprozität zu veranlassen, stellen der (oder die) Träger der FZV ihren Mitgliedern das Freie Zeitkonto zur Verfügung. Dieses Konto besteht im Internet und – wie das Herz im Blutkreislauf des Menschen – aus zwei miteinander verbundenen Kammern: den Kontokammern. Die Kontokammern sind virtuell, also im erweiterten Sinne frames. Ihre Inhalte sind jedoch aufeinander bezogen. Mit diesem Konto wird die Lohnbuchhaltung des Arbeitgebers in die Hände des Arbeitnehmers gegeben. Der Versicherte verpflichtet sich, alle Einkünfte aus erwerbsmäßiger Tätigkeit auf dieses Konto überweisen zu lassen. Dazu gibt der Versicherte die Freie Zeitkontonummer seinem Arbeitgeber bekannt. Dieser zahlt dann den gesamten Bruttolohn des Beschäftigten einschließlich des Arbeitgeberanteils darauf ein. Der Versicherte oder die benutzerdefinierte Automation des Freien Zeitkontos überweist im Fall des Falles allmonatlich den Unterhalt auf das Konto eines entsprechenden Empfängers, das in der Höhe frei festsetzbare Kirchengeld an die jeweilige Gemeinde, die Lohnsteuer an das jeweilige Finanzamt, die Krankenversicherungsbeiträge an die jeweilige Krankenkasse. Die Aufgabe des Versicherten besteht lediglich darin, die Höhe seines monatlichen Versicherungsbeitrags zu bestimmen. Dieser wird dann an die zweite Kontokammer überwiesen und addiert sich dort zum Freien Zeitguthaben. Der restliche Betrag, das Nettoeinkommen, geht an das private Bankkonto des Versicherten.
Hauptsache Arbeit? Hauptsache Freie Zeit!
Abbildung 7:
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Funktionsprinzip des Freien Zeitkontos
Möchte der Versicherte nun einen Teil seines Guthabens in Anspruch nehmen, so hat er einmal im Monat die Möglichkeit, sich einen Betrag zur Auszahlung an die erste Kontokammer zu überweisen, woraufhin sich das Prozedere in gleicher Weise wiederholt. Zusammenfassend funktioniert das Freie Zeitkonto folgendermaßen: In der ersten Kontokammer addieren sich die Einkünfte eines Monats (und das gegebenenfalls in Anspruch genommene Freie Zeitguthaben) zum Brutto-Gesamteinkommen. Im Verarbeitungsmodus bestimmt man (sofern man kein Freies Zeitguthaben in Anspruch nimmt) die Höhe des abzuziehenden Freien Zeitversicherungsbeitrags. Am Ende ermitteln sich daraus der Steuersatz und der zu zahlende Steuerbetrag. Die FZV wird also mit dem Steuersystem verbunden, sodass der Beitrag zur FZV vorsteuerwirksam ist. Dadurch können die eingangs erwähnten Anreize geschaffen werden, was aber zu einem späteren Zeitpunkt behandelt werden soll. Zunächst zu Kontokammer II. In der zweiten Kontokammer wird das Freie Zeitguthaben gespeichert. Das Gesamtguthaben umfasst das Ruhestands- und das Freie Zeitgeld. Über Regler kann man die Dauer und Höhe der Auszahlung des Freien Zeitgeldes regulieren. Aus dem verbleibenden Guthaben errechnet sich der jeweilige Rentenanspruch. Ich fasse zusammen: Möglich wird das FZ-Konto durch die Technologie des Internets. Es beruht auf spezifischen Regeln. Diese wiederum beruhen auf Verhaltensannahmen. Zu diesen möchte ich nun kommen.
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Abbildung 8:
Uta Hanft
Konfigurationsmaske der Kontokammer I des Freien Zeitkontos
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Abbildung 9:
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Konfigurationsmaske der Kontokammer II des Freien Zeitkontos
Die der FZV zugrunde liegenden Verhaltensannahmen
In den Mittelpunkt meines Vorschlags zur Umgestaltung des bestehenden Sozialversicherungssystems stelle ich den einzelnen Menschen. Ich unterstelle ihm, dass sein Verhalten ganz allgemein durch Maximierungsbestrebungen gekennzeichnet ist. Dieses Maximierungsverhalten ist jedoch ambivalent, d.h.: bei differenzierter Betrachtung fällen Menschen ihre Entscheidungen im Spannungsfeld aus Wohlfahrt- bzw. Gewinnmaximierung auf der einen Seite und Risikominimierung auf der anderen. Dieses – wie ich es nenne – ambivalente Maximierungsverhalten resultiert meines Erachtens daraus, dass diejenigen Akteure, die dazu neigen, ihre Wohlfahrt zu maximieren, ein höheres Risiko eingehen, denn sie verringern damit die zur Absicherung notwendigen Mittel. Umgekehrt verfügen diejenigen, die in ihre soziale Sicherheit „investieren“, über weniger Mittel, die zum gegebenen Zeitpunkt ihre Wohlfahrt steigern könnten. Durch dieses Verhalten stärken sie ihr Gefühl der Sicherheit und befriedigen dadurch ihr ganz individuelles Bedürfnis.
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Uta Hanft
Abbildung 10: Ambivalentes Maximierungsverhalten im Spannungsfeld unterschiedlicher Interessengruppen und unterschiedlicher, individuell ausgeprägter Sicherheitspräferenzen Doch damit nicht genug: Das Entscheidungsverhalten von Menschen wird von den unterschiedlichsten Interessengruppen beeinflusst. Da sind auf der einen Seite Staat und Wirtschaft und auf der anderen Seite die Solidargemeinschaft, die Familie und nicht zuletzt die jeweilige Glaubensgemeinschaft. Ich unterstelle ihnen, dass ihre Interessen derart gelagert sind, dass der Staat bestrebt ist, seine Steuereinnahmen zu erhöhen, die Wirtschaft an der Stärkung der Kaufkraft interessiert ist, die Solidargemeinschaft an einem hohen Beitragsaufkommen. Davon abgesehen treffe ich die Annahme, dass jeder einzelne Mensch über ein individuell ausgeprägtes Sicherheitsbedürfnis verfügt, das nicht stabil ist, sondern sich über die Zeit hinweg ändert, sich den persönlichen Erfahrungen und den äußeren Gegebenheiten anpasst. Wollte man dieses Sicherheitsbedürfnis kategorisieren, so könnte man von einem hohen, geringen oder durchschnittlichen Sicherheitsbedürfnis sprechen. In meinem Modell kann ein mittleres Sicherheitsbedürfnis mit 25 Prozent des Bruttoeinkommens befriedigt werden. Dieser Wert entspricht ungefähr dem
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derzeitigen Beitragssatz zur Arbeitslosen- und Rentenversicherung und soll als Ausgangswert für die steuerliche Veranlagung dienen. In Abhängigkeit davon, wie der Versicherte seine persönliche Situation jetzt und in Zukunft einschätzt, hat er folgende Möglichkeiten: Er kann, indem er a) seinen Versicherungsbeitrag erhöht, seinem Bedürfnis nach stärkerer sozialer Absicherung nachkommen. Oder er kann, vor allem, wenn sein Sicherheitsbedürfnis gering ist, b) seinen Versicherungsbeitrag reduzieren, damit sein Nettoeinkommen erhöhen und mit diesem seine Wohlfahrt steigern. Im Fall A, der Erhöhung des Versicherungsbeitrags, schwinden Kaufkraft und das Lohnsteueraufkommen des Staates. Für Staat und Wirtschaft bedeutet das, dass, wenn sie ihre Gewinne erhöhen möchten, sie an Sicherheit – vor allem an sozialer Sicherheit – interessiert sein müssen. Alles, was die Menschen verunsichert, führt – da die Menschen entsprechend der Verhaltensannahme bestrebt sind, Unsicherheit zu minimieren und daher Freie Zeitguthaben anzusparen – zum Anstieg der Beitragszahlungen und damit zur Erhöhung der Einnahmen der Solidargemeinschaft. Andererseits steigen im Fall B, dann, wenn die Menschen einen geringeren Anteil ihres Einkommens als Freie Zeitguthaben ansparen, die Kaufkraft sowie das Lohnsteueraufkommen des Staates.19 7
Das der FZV zugrunde liegende Anreizsystem
Das Anreizsystem der FZV kommt den Menschen auf zwei Arten entgegen: Es fördert zunächst die Einzahlung möglichst hoher Beiträge in die zweite Kammer des Freien Zeitkontos. Damit durch übermäßiges Sparverhalten die Nachfrage nicht ausbleibt, werden die Versicherten des Weiteren dazu aufgefordert, ihr Guthaben auch zu beanspruchen. Die Regeln sind dergestalt, dass der Versicherte in der Summe die höchste Auszahlung dann erzielen kann, wenn er im Falle von Erwerbstätigkeit möglichst hohe Versicherungsbeiträge anspart und wenn er im Falle von Erwerbslosigkeit oder eines stark abgeminderten Einkommens von seinem Guthaben über einen möglichst langen Zeitraum allmonatlich einen bestimmten Mindestbetrag in Anspruch nimmt.
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Ein gleichbleibendes Lohnniveau vorausgesetzt.
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Abbildung 11: Anreizsystem und -wirkung der FZV Das Berechnungsverfahren, welches die Anreizwirkung hervorruft, stellt sich wie folgt dar.
Abbildung 12: Berechnungsformel zur Ermittlung des Steuersatzes
Abbildung 13: Rechenweg für die Ermittlung des Steuersatzes
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Die Summe aller externen Eingänge auf dem FZV-Konto wird als Brutto-Gesamteinkommen bezeichnet. Indem dieser Wert um 25 Prozent erhöht wird, vollzieht sich der Rechenweg zur Ermittlung des Steuersatzes. Wie im vorangegangenen Kapitel erwähnt, hat der Versicherte drei Möglichkeiten: 1. 2. 3.
Er spart 25 Prozent seines Brutto-Gesamteinkommens an – dann reduziert sich der Wert wieder auf den Ausgangswert. Er spart mehr als 25 Prozent seines Brutto-Gesamteinkommens an, so fällt der Wert unter den Ausgangswert. Er spart weniger als 25 Prozent seines Brutto-Gesamteinkommens an, so erhöht sich das zu versteuernde Brutto-Gesamteinkommen über dem Ausgangswert.
Wenn der Versicherte jetzt keinen FZV-Beitrag anspart, sondern – im Gegenteil – einen Betrag des FZ-Guthabens in Anspruch nimmt, so erhöht sich dadurch das zu versteuernde um diesen Betrag. Es macht also nur Sinn, sich FZ-Geld auszahlen zu lassen, wenn sich das Einkommen in erheblichem Umfang verringert. Wenn der Versicherte seinen FZV-Beitrag bzw. die Auszahlungshöhe festgelegt hat, wird von diesem Wert der monatliche Grundsteuerfreibetrag von 1000 Euro abgezogen. Der Steuersatz ergibt sich dann, indem man diesen Betrag durch den Progressionswert – von angenommenen 1000 Euro dividiert und zu dem Mindeststeuersatz von angenommenen 15 Prozent addiert. Der Steuersatz wird dann bezogen auf das BruttoGesamteinkommen zuzüglich des in Anspruch genommenen Betrags des FZVGuthabens. Ohne darauf näher einzugehen, sei nur erwähnt: Wesentlich für die Wirksamkeit des Anreizsystems ist zum einen die Steuerprogression, zum anderen der monatlich wirksame Steuerfreibetrag. Steuerfreibetrag bedeutet, dass man erst ab einer bestimmten Schwelle Steuern zahlt. Monatliche Wirksamkeit bedeutet, dass der Freibetrag verfällt, wenn keine Einkünfte auf dem Konto verzeichnet werden – also auch dann, wenn kein Guthaben in Anspruch genommen wird. Hingegen bewirkt die Steuerprogression, dass man Steuern spart, wenn man beim Einkommen einen hohen Versicherungsbeitrag leistet, und ein zweites Mal steuerlich begünstigt wird, je geringer der Betrag ist, den man von seinem Guthaben abhebt. Aus den Regelungen folgt die Konsequenz, dass Versicherte auf Erwerbseinkommen verzichten müssen, wenn sie in den Genuss dieser steuerlichen Vergünstigungen kommen wollen. Sie tun dies, indem sie sich Freie Zeit nehmen.
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Ziel und Wirkung der FZV
Zu dem, was ich mit dieser institutionellen Neuordnung des bestehenden Sozialversicherungssystems erreichen möchte: Ich halte es für wahrscheinlich, dass es im Vergleich zum bestehenden Sozialsystem mehr Gewinner als Verlierer gibt. Doch wer könnten die Gewinner sein?
Abbildung 14: Gewinner-Verlierer-Vergleich vor und nach Einführung der FZV (Skizze) Gewinner sind für mich jene Menschen, die eine Verbesserung ihrer Arbeits- und Lebenssituation registrieren oder Aussicht darauf haben. Da wären zunächst einmal jene zu nennen, die in das System der FZV wechseln. Auch wenn sich durch diesen Schritt in der Lebenssituation der Menschen konkret nichts ändert, so räumt ihnen die Mitgliedschaft im System der FZV einen größeren Gestaltungsspielraum ein. Doch auch in dieser Gruppe wird es Gewinner und Verlierer geben. Zu den Gewinnern zählen im Besonderen die freiwilligen Freien Zeitnehmer, denn es gilt: Sie würden ihre Freie Zeit nicht nehmen, wenn das für sie nicht von
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Gewinn wäre. Ebenso könnten jene hinzugerechnet werden, die nur beabsichtigten, ihre Freie Zeit zu nehmen. Sie sind aus dem Grund Gewinner, weil sich durch die FZV ihre Entscheidungsmöglichkeiten in erheblichem Umfang erweitern. Das gilt zum einen für die Gestaltung des Beitragssatzes. Das bezieht sich zum anderen auf den Wegfall der Sperrzeitregelung. Mit dieser wird im derzeitigen Sozialversicherungssystem die Kündigung eines Beschäftigungsverhältnisses seitens des Arbeitnehmers in der Form sanktioniert, dass ihm das Arbeitslosengeld erst nach einer bestimmten Zeit – der Sperrzeit – ausgezahlt wird und sich die Zahlungsdauer durch diese Frist insgesamt verkürzt.20 Eine Sperrzeit würde bei Eigenkündigung und bei Inanspruchnahme des Freien Zeitgeldes nicht mehr gelten. Dadurch verbessert sich die Verhandlungsposition von Arbeitnehmern – Anbietern von Arbeitskraft – gegenüber dem Arbeitgeber, dem Nachfrager, von Arbeitskraft. Durch eine gestärkte Verhandlungsposition ließen sich Verbesserungen am Arbeitsplatz oder innerhalb eines Beschäftigungsverhältnisses leichter durchsetzten, was die Lebenszufriedenheit der Menschen erhöhen würde. Verbesserung gegenüber dem bestehenden Sozialversicherungssystem erfolgt auch in einem weiteren Punkt, und zwar darin, dass diejenigen, die von einem Arbeitsplatzverlust betroffen wären, wenn auch nicht zu den Gewinnern, so doch nicht mehr zu den Verlierern gehören würden, nicht mehr zur Gruppe der Arbeitslosen, sondern (wenn auch unfreiwillig) zur Gruppe der Freien Zeitnehmer. Die Mitglieder dieser Gruppe weisen – wie gesagt – andere Eigenschaften, d.h. andere Rechte und Pflichten, auf; vor allem haftet ihnen nicht (mehr) das Stigma der Arbeitslosigkeit an. Alles in allem ist zu erwarten, dass sich das Verhältnis zwischen Gewinnern und Verlierern im Vergleich zum bestehenden Sozialversicherungssystem zugunsten der Gewinner verschiebt und dass sich infolge dessen die Ungleichheit reduziert. Diese Ungleichheit betrachte ich als ein Synonym für Ungerechtigkeit. Sie kommt meines Erachtens in der ungleichen Verteilung weniger von Einkommen als vielmehr in der ungleichen Verteilung von Zeit zum Ausdruck. Zum entscheidenden Ziel und zur beabsichtigten Wirkung der FZV: der Umverteilung der Zeit. Ich bin der Meinung, dass sich durch die FZV die Zahl derjenigen erhöhen wird, die – um sich anderen Aufgaben und Projekten widmen zu können – für eine kurze Zeit aus dem Berufsalltag aussteigen. Im Verhältnis zur Gesamtzahl der Erwerbspersonen ohne Beschäftigung würde sich die Zunahme des Anteils an Erwerbspersonen, die für kurze Zeit ohne Beschäftigung sind, in der Form auswirken, dass der Anteil der Langzeitarbeitslosen sinkt. Die erhoffte Abnahme der Langzeitarbeitslosigkeit impliziert, dass wieder mehr Menschen aktiv am Arbeitsmarkt teilnehmen. Die von mir prognostizierte Erhö20
Was bedeutet, dass sich im Gegensatz zur Fremdkündigung bei Eigenkündigung das Arbeitslosengeld in der Summe reduziert.
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hung der Kurzzeiterwerbslosigkeit beruht auf der Annahme, dass Beschäftigte, die freiwillig, ohne Verlust und Sanktion aus einem Beschäftigungsverhältnis aussteigen können, auch freiwillig und vor allem motivierter wieder in ein solches zurückkehren. Zudem ist das Guthaben endlich und vor allem das persönliche Eigentum, worin ich eine wesentliche Bedingung für einen verantwortungsvollen Umgang sehe, denn im Gegensatz zum Arbeitslosengeld werden durch die Inanspruchnahme des Freien Zeitguthabens die eigenen Mittel verbraucht.
Abbildung 15: „Zeitumverteilungswirkung“ der FZV (Skizze)
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Zusammenfassung
Die Idee der FZV mag man kritisieren, vor allem deshalb, weil sie ein Sozialsystem ist, das sich zunächst einmal an die Leistungsträger in unserem Land richtet. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass die Regelungen, auf denen das System der FZV beruht, durch ihre Anreizwirkung die Voraussetzungen dafür schaffen, dass Leistungsträger mit individuellem wie auch gesellschaftlichem Gewinn ihren Einsatz reduzieren – Arbeitszeit gegen Freie Zeit tauschen – können. Dadurch erhalten diejenigen, deren Leistungsvermögen begrenzt ist, wieder eine Chance. Damit richtet sich dieses Sozialsystem an alle Menschen. Damit besitzt die FZV das Potenzial der gesellschaftlichen Spaltung entgegenzuwirken.
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Arbeit revisited. Das 2x2-Komponenten-Modell für die Tätigkeitsgesellschaft des 21. Jahrhunderts1 Arbeit revisited
Christian Dries „One of the largest challenges of the future will be to find a way to make work both efficient and humane“ (Carol J. Auster)
„Was uns bevorsteht“, schrieb Hannah Arendt (2002, 13) Ende der 1950er-Jahre in Vita activa, „ist die Aussicht auf eine Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgegangen ist.“ Heute, ein halbes Jahrhundert später, ist Arendts These so populär wie lange nicht mehr. Eine Flut von mehr oder weniger seriösen Analysen, Empfehlungen und Pamphleten überschwemmt seit Jahren den Büchermarkt, die wissenschaftlichen Journale und Feuilletons.2 Zwei Fragen sind es, die dabei meist im Dunkeln bleiben: erstens, was der faktischen Lage am Arbeitsmarkt wirklich entspricht. Und zweitens, was uns nach dem Ende der Arbeitsgesellschaft eigentlich erwartet. Schließlich war Hannah Arendt keineswegs grundsätzlich darüber besorgt, dass uns eines Tages die Arbeit ausgehen könnte. Verhängnisvoll sei dies nur dann, so lautet ihr berühmtes Diktum vollständig, wenn Arbeit die einzige Tätigkeit sei, auf die sich eine Gesellschaft verstünde (vgl. ebd.). Ausgehend von dieser Überlegung, skizziert der vorliegende Beitrag zunächst (1.) den Status quo der Entwicklungen und Umbrüche auf dem Arbeitsmarkt, um sich im Anschluss daran (2.) mit den verfehlten Reaktionen der politischen Elite auf den Wandel der modernen Arbeitsgesellschaft auseinanderzu
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Dieser Text wurde gegenüber dem eingereichten Studienpreis-Beitrag sowie der Erstveröffentlichung (Dries 2007) vom Autor überarbeitet und verbessert. Vgl. beispielhaft Beck 2000a; 2007; Die Glücklichen Arbeitslosen 2000; Geisen/Kraus/Ziegelmayer (Hrsg.) 1998; Gorz 1991, 2000; Niejahr/Rudzio 2005; Rifkin 1999 sowie unlängst Engler 2005a; 2007 bzw. Werner 2007. Im Herbst 2005 widmete das Wirtschaftsmagazin brand eins dem Thema ein ganzes Heft („Nie wieder Vollbeschäftigung! Wir haben Besseres zu tun“). Auffällig ist, dass häufig geisteswissenschaftlich geprägte Autoren aus dem politisch linken Spektrum vom Ende der Arbeit oder der Arbeitsgesellschaft sprechen. Optimistische Positionen vertreten hingegen Kocka 2001 und Mutz 2001. Vonseiten der Nationalökonomie regt sich heftiger Widerspruch. Für die meisten Volkswirte ist Arbeitslosigkeit lediglich ein lösbares Problem der politischen Steuerung bzw. der marktwirtschaftlichen Rahmenbedingungen (vgl. beispielhaft Siebert 2005; Sinn 2005). Über die angemessene Diagnose bzw. Therapie herrscht allerdings auch in der Volkswirtschaftslehre Uneinigkeit (vgl. Schildt 2006, 119-121).
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setzen.3 Auf dieser Basis steht schließlich (3.) ein philosophisch-politisches Handlungskonzept, das die Irrwege der aktuellen politischen Strategien umgeht und den Menschen und seine Bedürfnisse jenseits der (Erwerbs-)Arbeit wieder stärker in den Mittelpunkt der Gesellschaft rückt: Das 2x2-Komponenten-Modell für die Tätigkeitsgesellschaft des 21. Jahrhunderts. Dahinter steht die Einsicht, dass jede Reform der Arbeitsgesellschaft scheitern muss, die die Macht des Paradigmas der Arbeit ignoriert und darauf hofft, dass strukturelle Veränderungen allein bereits eine neue Kultur begründen könnten. Das Modell umfasst daher sowohl das Wie als auch das Was der Arbeit, die materielle Ebene der strukturellen Reformen (3.1.) und die kulturelle Ebene der Leitbilder (3.2). Auf beiden Ebenen schlägt es zwei eng miteinander verknüpfte Lösungswege aus der doppelten – materiellen wie kulturellen – Krise der Arbeitsgesellschaft vor. 1
Arbeitsgesellschaft im Umbruch oder: Das Arbeitsparadox
Ohne die gewissenhafte Analyse dessen, was faktisch ist, kann es keine tragfähigen Zukunftsmodelle geben. Im Jahre 1995 beriefen deshalb die damaligen Ministerpräsidenten von Bayern und Sachsen, Edmund Stoiber und Kurt Biedenkopf, eine hochkarätig besetzte Kommission für Zukunftsfragen ein, deren Aufgabe es sein sollte, „den [deutschen; C.D.] Arbeitsmarkt in seinen Strukturen und Entwicklungen seit Beginn der siebziger Jahre zu analysieren, die Ursachen der ermittelten Befunde aufzuhellen und Maßnahmen zur Reform des Arbeitsmarktes zu unterbreiten“ (Kommission 1998, 11). Die Ergebnisse des dreiteiligen Abschlussberichts der Kommission4 lauteten wie folgt: Die Arbeitslosigkeit in Deutschland sei (wie in den meisten Industrienationen) seit den 1970er-Jahren kontinuierlich gestiegen. Dieser Entwicklung liege ein „dichtes Ursachengeflecht“ (ebd., 16) zugrunde, das sich ständig wandele. Wesentliche Gründe für die steigende Arbeitslosigkeit seien vor allem das insgesamt sinkende Arbeitsvolumen (s.u.) bei gleichzeitig steigender Erwerbsbeteiligung insbesondere der Frauen und durch Zuwanderung, die internationale Arbeitsteilung (Globalisierung) sowie Technologisierung und Rationalisierung. Weitere Negativfaktoren seien die überdurchschnittlich hohen Lohnund Personalzusatzkosten, die hohe Staatsquote sowie der rasante Anstieg der 3
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Der Fokus aller Überlegungen liegt dabei auf Deutschland und dem deutschen Arbeitsmarkt. Insbesondere die Ausführungen in den Kapiteln 2, 3 und 4 lassen sich jedoch größtenteils auch auf andere ehemalige Industrienationen wie England, Frankreich oder die USA übertragen, in denen der sekundäre Wirtschaftssektor gegenüber dem tertiären immer mehr an Bedeutung verliert. Eine stark komprimierte Fassung für das breitere Publikum erschien 1998.
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Schwarzarbeit bzw. Schattenwirtschaft (vgl. ebd., 62-107). Die Auswirkungen des beschriebenen Ursachengeflechts seien besonders im Bereich der abhängig Beschäftigten zu spüren. Nirgendwo sonst seien so viele Vollzeitstellen (sogenannte Normalarbeitsverhältnisse) in Nicht-Normalarbeitsverhältnisse, das heißt Teilzeitbeschäftigung, geringfügige Beschäftigung oder Ähnliches, umgewandelt worden. Dieser Ersetzungsprozess bewirke zudem eine „immer ungleichere Verteilung von Erwerbs- und der von ihnen abgeleiteten Transfereinkommen“. Die Zahl der Nicht-Normalarbeitsverhältnisse, „in denen nur noch geringe Arbeitseinkommen und kaum noch existenzsichernde Transfer-, namentlich Rentenansprüche erworben werden“, wachse stetig (ebd., 23). Verlierer des zunehmenden Verdrängungswettbewerbs auf dem Arbeitsmarkt seien (bisher) jedoch in erster Linie gering Qualifizierte5, gesundheitlich Beeinträchtigte und ausländische Erwerbspersonen sowie ältere Arbeitnehmer.6 Inzwischen, im Abstand von über zehn Jahren, gilt es, diese Befunde erneut zu überprüfen. Dabei wird deutlich, dass sich an der grundsätzlichen Lage trotz einschneidender Arbeitsmarktreformen kaum etwas geändert hat: Die Arbeitslosenquote in Deutschland (und anderen europäischen Ländern) ist nach wie vor hoch. Sie erreicht, ohne Schüler und Studenten, regionale Spitzenwerte über 15 Prozent und mehr. Nach jeder konjunkturellen Krise erhöht sich erneut der Arbeitslosensockel, der auch von folgenden Aufschwüngen nicht mehr abgetragen bzw. nur wenig reduziert wird. Auch die Zahl der nicht sozialversicherungspflichtig Beschäftigten und Unterbeschäftigten, der Teilzeitarbeiterinnen, Minioder Multijobber, der Leih- und Zeitarbeiter (deutschlandweit etwa 300.000) ist weiter gestiegen.7 Die jüngere Generation schlägt sich teilweise über Jahre mit un- oder unterbezahlten Praktika und Minijobs durch (,Generation Praktikum‘). Die Älteren werden weit vor Erreichen des Rentenalters ,frei-gesetzt‘.8 Ulrich 5
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Das IAB (Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung) in Nürnberg erwartet, „dass im Jahre 2010 40 Prozent der Erwerbstätigen hochqualifizierte Tätigkeiten sowie Fachtätigkeiten mit Führungsaufgaben ausüben gegenüber nur 33 Prozent im Jahre 1991, aber nur noch circa 16 Prozent Hilfstätigkeiten gegenüber 20 Prozent 1991 (vgl. Bundeszentrale (Hrsg.) 2006, 62). Zu ähnlichen Ergebnissen (aber teilweise unterschiedlichen Bewertungen und Handlungsempfehlungen) kommt eine Konkurrenzstudie der Zukunftskommission der Friedrich-EbertStiftung (Hrsg.) 1998. Keine andere Branche boomt in Deutschland derzeit so sehr wie die Zeitarbeit. Rund die Hälfte aller 2006 neu geschaffenen Stellen entstand in diesem Sektor. Die Zeitarbeit hat damit „erheblichen Anteil am deutschen Aufschwung“. Demnächst dürften die Leiharbeiter sogar die Millionengrenze durchstoßen. Doch jeder achte Vollzeit-Leiharbeiter ist auf Unterstützung durch Hartz IV angewiesen, und kaum einer von ihnen schafft den Sprung in ein Normalarbeitsverhältnis (Meyer-Timpe 2007, 23). So waren im 2006 von 39 Mio. Erwerbstätigen 26,35 Mio. sozialversicherungspflichtig beschäftigt (21,8 Mio. in Vollzeit, 4,5 Mio. in Teilzeit), 6,75 Mio. geringfügig, 4,85 Mio. ausschließlich geringfügig, 4,39 Mio. waren Selbstständige (vgl. Bundeszentrale (Hrsg.) 2006,
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Beck (2007, 17, 28) spricht in diesem Zusammenhang von einer „Brasilianisierung“ des deutschen (und europäischen) Arbeitsmarktes durch die neue „Ökonomie der Unsicherheit“: Immer mehr Erwerbsbiographien werden informeller, brüchiger und diskontinuierlicher. Am unteren Rand der Gesellschaft machen die sogenannten Hartz-Gesetze I-IV verschärften Druck auf Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger, sich um Teilhabe an einem Arbeitsmarkt zu bemühen, den es für die meisten von ihnen gar nicht (mehr) gibt. Zwar bringen die auf den Hartz-Gesetzen basierenden Arbeitsmarktreformen, etwa die Aufwertung der Leiharbeit und anderer atypischer Beschäftigungsformen oder die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, durchaus Bewegung in den Arbeitsmarkt. Die Folgen sind aber allenfalls zwiespältig, vermutlich vergleichbar denen der US-amerikanischen WorkfareProgramme, vor über zehn Jahren vom damaligen Präsidenten Clinton initiiert und Vorbild vergleichbarer Reformpakete in Großbritannien und Deutschland: Für viele ehemalige amerikanische Sozialhilfeempfänger sei „vieles gleich schlecht geblieben“, so der Sozialexperte Ron Haskins. Nur das Kontrollregime, ein ganzes Bündel von Meldepflichten und Schulungsmaßnahmen, hat sich verstärkt. Die meisten schlagen sich trotz Earned Income Tax Credit (eine Art Kombilohn), food stamps und verbesserter Kinderbetreuung mit mehreren ,McJobs‘ unter miesen Arbeitsschutzbedingungen mehr schlecht als recht durch (Fischermann 2006, 20).9 In Deutschland sind die Reformen am Arbeitsmarkt noch zu jung, um sie abschließend und differenziert zu beurteilen. Dennoch liegt der Schluss nahe, dass sie „die anhaltende Misere am Arbeitsmarkt nicht grundlegend abstellen können“ (Seifert 2005, 24). Schlimmer noch: Durch die Neuregelungen im Bereich der Mini- und Midijobs (mit einer Verdienstgrenze von bis zu 400 bzw. 800 Euro) wird de facto die Substitution von versicherungspflichtiger Beschäftigung gefördert, was die Sozialkassen zusätzlich belastet. Atypische Beschäftigungsformen generieren nicht genügend Einkommen, um zusätzlich zu den laufenden Ausgaben eine ausreichende Altersvorsorge zu gewährleisten, die über dem Sozialhilfeniveau liegt. Zudem kontrastiert das Konzept des aktivierenden Sozialstaats („Fordern und Fördern“) mit fehlenden Beschäftigungsmöglichkeiten und rigiden Beschränkungen individueller Handlungsautonomie (Umkehr der Beweispflicht, verschärfte Zumutbarkeitsregelung, Kürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes, Einschränkung der Reisefreiheit etc.). Ältere und schlecht qualifizierte Langzeitarbeitslose werden damit weiter an den Rand gedrängt10 –
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62). Fast 7 Mio. Deutsche gelten als Niedriglöhner, ihr Einkommen beträgt „weniger als zwei Drittel des Lohnmittelwerts“. (Sauga/Aden/Brenner/Matthes 2007, 23) Vgl. dazu auch den investigativen Selbstversuch von Ehrenreich 2001. Giesecke/Groß 2005 rechnen darüber hinaus mit nicht intendierten Nebenfolgen der Reformen auch für die heute noch Erwerbstätigen, so etwa in puncto Statussicherheit (sinkende Beschäf-
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immer häufiger auch unter die Armutsgrenze.11 Fazit: Insgesamt wird Erwerbsarbeit für den Lebensunterhalt immer unwichtiger. Während 1991 noch 44 Prozent der Bürgerinnen und Bürger gegenüber dem Statistischen Bundesamt angaben, eigene Erwerbsarbeit sei ihre wichtigste Unterhaltsquelle, taten dies vor zwei Jahren nur noch 39 Prozent.12 Für mehr als die Hälfte der Erwerbslosenbevölkerung „ist (...) die Identifizierung mit der Arbeit zu einer Unmöglichkeit geworden, da das Wirtschaftssystem keinen Bedarf (...) nach ihrer Arbeitskraft hat“ (Gorz 1991, 70). Hinter all diesen Entwicklungen steht ein makroökonomisch mächtiger Trend, der in der Debatte bisher erstaunlicherweise kaum Erwähnung findet: das kontinuierliche Sinken des Arbeitsvolumens. Das Arbeitsvolumen ist die Arbeitszeit, die eine Gesellschaft pro Jahr insgesamt für ihre Erhaltung, Sicherheit, Bildung und Unterhaltung abzüglich privater Haus- und Heimarbeit aufwendet. Während dieses Volumen für 1882 im Deutschen Reich pro Bewohner bei ca. 1469 Jahresstunden lag, beträgt es im wiedervereinigten Deutschland heute produktivitätsbedingt weniger als die Hälfte, inklusive Schwarzarbeit nur noch etwa 697 Stunden (vgl. Schildt 2006, 122, 129f., 134). Das Arbeitsvolumen hat sich also in Deutschland seit 1882 mehr als halbiert. Sein Absinken ist Schildt (ebd., 137) zufolge „eine Grundtendenz der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung. Sie widerspricht der fast axiomatischen Annahme der Volkswirtschaftslehre, Arbeit sei immer vorhanden.“ Das heißt auch, dass neue Branchen mit neuen Produkten eben nicht ersatzweise „an die Stelle der geschrumpften oder untergegangenen Produktion getreten sind“ (ebd., 121; Hervorh. i. Orig.). Umgekehrt gilt: Obwohl das Arbeitsvolumen abnimmt, steigt das Bruttoinlandsprodukt. Für jeden Einwohner Deutschlands werden heute fünfmal so viele Waren und Dienstleistungen produziert wie 1950. Die neuen (und alten) Branchen wirtschaften immer effektiver und produktiver, was wiederum das Arbeitsvolumen weiter sinken lässt.13 Kurzum: „Es ist unwahrscheinlich, dass ein so mächtiger, lang andauernder Trend in näherer Zukunft gebrochen werden könnte.“ (ebd., 140)
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tigungssicherheit bei gleichzeitiger Kürzung wohlfahrtsstaatlicher Leistungen) bzw. soziale Ungleichheit. Zu Hartz I–IV und den Folgen vgl. auch Seifert 2005. Eine Tendenz, die durch die beiden sogenannten Armutsberichte der Bundesregierung (2001 und 2005; URL: http://www.bmas.bund.de/BMAS/Navigation/Soziale-Sicherung/berichte,did= 899 72.html; Zugriff: 22.08.06) bestätigt wird. Dabei handelt es sich nicht nur um Arbeitslose bzw. Empfänger sozialer Transfers, sondern ebenso um Kapitaleigner, Immobilienbesitzer, Erben etc., also prinzipiell wirtschaftlich und sozial besser gestellte Individuen. Alle Angaben Statistisches Bundesamt, Rubrik „Erwerbstätigkeit“ (http://www.destatis.de/themen/d/thm_erwerbs.php bzw. http://www.destatis.de/presse/deutsch/pm2006/p1310031.htm sowie http://www.destatis.de/presse/deutsch/pm2006/p1830 024.htm; Zugriff: 22.08.06). Vgl. dazu auch das taz-dossier 2007. Neben der Intensivierung des Arbeitsprozesses (Rationalisierung, Arbeitsteilung, Technologisierung) trägt Schildt (2006, 141f.) zufolge auch die Verlagerung arbeitsintensiver Produktion
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An diesem langfristigen Prozess ändert auch ein einzelner ,Beschäftigungsruck‘ wenig. Zwar stocken etliche Betriebe wieder ihre Mitarbeiterkontingente auf, und in manchen Regionen Deutschlands herrscht sogar (fachspezifischer) Arbeitskräftemangel. Doch die meisten Jobs entstehen bei Zeitarbeitsfirmen oder auf der Basis geringfügiger Beschäftigung. Es mag also durchaus sein, dass die Lage auf dem Arbeitsmarkt derzeit so gut ist wie lange nicht mehr. Eine langfristige Erholung folgt daraus sicher nicht. Im Gegenteil: Neue Meldungen über massiven Stellenabbau – zum Beispiel in Dienstleistungsunternehmen wie der Telekom – erreichen uns täglich14, während die Wirtschaft weiter wächst („jobless growth“). Hannah Arendt hat also recht behalten mit ihrer bangen Prognose vom Ende der Arbeit in der Arbeitsgesellschaft. Einerseits. Auf der anderen Seite aber – und dies widerspricht Arendts Diktum nur prima facie – scheint die Arbeit beständig zuzunehmen. Seit die Neuzeit im 17. Jahrhundert damit begonnen hat, „theoretisch die Arbeit zu verherrlichen“ (Arendt 2002, 12), sie zum Ausgangspunkt der „methodischen Lebensführung“ und letztlich gar einer „protestantischen Arbeitsethik“ (Max Weber) zu machen, leben wir, für die Moderne typisch, in paradoxen Verhältnissen15: Die (Erwerbs-)Arbeit wird immer weniger – und doch arbeiten alle immer mehr. Der Philosoph Konrad Paul Liessmann (2000, 88) spricht von einer regelrechten „Laborisierung“ menschlicher Tätigkeiten, man könnte auch von Ökonomisierung sprechen. Die Arbeit, so Liessmann, habe sich zum universellen Ausdruck jeglicher Lebenstätigkeit, zu einer regelrechten Lebensform entwickelt, weil wir zunehmend alle Tätigkeiten für deren Wertschätzung als Arbeit klassifizieren müssen. So scheint uns „(j)ede emotionale, kommunikative, soziale Tätigkeit, in der wir nicht eine Form von Arbeit erkennen“, von vornherein suspekt zu sein (ebd., 87; Hervorh. i. Orig.). Daher arbeiten wir, sofern wir für unsere Tätigkeit – die Installation eines Computernetzwerks oder einen Haarschnitt – Geld bekommen, aber auch, wenn wir für Freunde unentgeltlich ein Baumhaus bauen. Wir verrichten Hausarbeit, Beziehungs- und Erziehungsarbeit. Nach Feierabend wartet der Workout auf uns. Unsere Freundschaften pflegen wir mittels Networking, während wir seelische Erschütterungen in Trauerarbeit abwickeln und in Therapiesitzungen an uns selbst arbeiten. Freizeitstress inklusive.16 Kurzum: Die (Erwerbs-)Arbeit ist „mit den
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in Billiglohnländer zur Reduktion des Arbeitsvolumens bei. Lediglich die mit der Kinderaufzucht verbundene häusliche Arbeit hat sich Schildt (ebd., 138) zufolge kaum vermindert. Vgl. dazu auch Günter Oggers (2007) Gesamtprognose für den Angestelltensektor. Zur Paradoxie als Signatur der Moderne vgl. Degele/Dries 2005, 28-33. Zur Pathologie des Arbeitsparadoxes gehört auch, dass die schrumpfende Zahl derer, die noch einen (Normal-)Arbeitsplatz ihr Eigen nennen dürfen, unter zunehmender Arbeitslast ächzen, weil sich die Anforderungen selbst an weniger anspruchsvolle Tätigkeiten immer mehr intensivieren und ehemals klarere Grenzen zwischen Arbeit, Freizeit und Leben verwischen. Infolge-
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„dahinterstehenden Leistungs- und Messbarkeitsansprüchen zum impliziten und expliziten Paradigma unseres Daseins selbst geworden“ (ebd., 89). Auf allen gesellschaftlichen Ebenen hat sie die Rolle eines Generalschlüssels übernommen. Sie ist nicht nur Grundlage der Wertschöpfung und Wohlstandsmehrung, sondern auch des persönlichen Lebenssinns. Sie strukturiert den Alltag, erweitert die Bandbreite sozialer Beziehungen, vermittelt (allerdings funktionalistisch) soziale Teilhabe und weist dem Individuum einen sozialen Status zu, über den sich persönliche Identität entwickeln bzw. stabilisieren lässt.17 2
Die zwei Grundfunktionen der Arbeit in der Arbeitsgesellschaft und die Autohypnose der Politik
Die (Erwerbs-)Arbeit erfüllt damit in modernen Gesellschaften zwei fundamentale Funktionen: Erstens ist sie die Basis dessen, was Karl Marx (1988: 828) das „Reich der Notwendigkeit“ genannt hat, vulgo: Wirtschaftssystem. Ohne ein bestimmtes Quantum an Arbeit kann dieses System – und mit ihm die ganze Gesellschaft – nicht überleben. Auch wenn das Arbeitsvolumen insgesamt sinkt, ist immer noch eine gewisse Anzahl an Arbeitsstunden nötig, um alle zum Erhalt der Gesellschaft notwendigen Güter und Dienstleistungen sowie darüber hinaus Wohlstand und Wachstum zu erzeugen. In Deutschland ist Erwerbsarbeit zudem die tragende Säule der Sozialversicherung bzw. des Rentensystems. Zweitens ist (Erwerbs-)Arbeit in modernen kapitalistischen Gesellschaften zugleich der tragende Teil des gesellschaftlichen wie individuellen Selbstverständnisses. Sie ist damit gewissermaßen omnipräsent – auf der strukturellen wie auf der kulturellen Ebene. Diese Grundkonfiguration ist in den letzten Jahrzehnten gehörig aus den Fugen geraten: Während die zweite Funktion – Arbeit als Paradigma – weitgehend stabil geblieben ist, bricht die erste mehr und mehr zusammen. In Deutschland richtet die politische Elite jedoch ihre gesamte wirtschafts- und sozialpolitische Energie nach wie vor autohypnotisch auf das – fiktive – Ziel der Vollbeschäftigung aus („Vorfahrt für Arbeit“, „Sozial ist, was Arbeit schafft“,
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dessen untergraben gestresste Mitarbeiter im Namen des Effizienzregimes der globalisierten, dauermobilen und flexibilisierten Arbeitswelt ihre Gesundheit. Sennett (2000) spricht in diesem Zusammenhang von einer „Erosion des Charakters“. Von neuen Volkskrankheiten ist die Rede, vom Burn-Out-Syndrom und von Depressionen, begünstigt durch steigenden Arbeitsbzw. Leistungsdruck oder die schleichende Angst vor dem sozialen Absturz (vgl. Ehrenberg 2004; Nuber 2006 sowie Dries 2006; Poppelreuter (2004) beleuchtet die in laborisierten Gesellschaften ebenso weitverbreitete Pathologie der Arbeitssucht). Jahoda (1983, 24f.) bezeichnet Arbeit allgemein darüber hinaus sogar (ähnlich wie Marx 1990) als „das innerste Wesen der Lebendigkeit“.
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„Arbeit muss sich wieder lohnen“ etc.). Verbissen beharren die Volksvertreter auf der zweiten Grundfunktion der Arbeit, das heißt auf einem Leitbild, das den Anforderungen der Zukunft nicht mehr gewachsen ist, weil ihm keine materielle Realität mehr entspricht: „Selten gab es einen schärferen Kontrast zwischen der satten Selbstzufriedenheit der herrschenden Ideologie, die weiter Arbeit, Leistung und wirtschaftliches Wachstum verherrlicht, und den sozialen Wirklichkeiten, die sie verdrängt“, schrieb André Gorz (1991, 68) bereits Anfang der 1990er-Jahre. Großzügig finanzierte Maßnahmen zur Schaffung neuer Arbeitsplätze verpuffen deshalb weitgehend oder reduzieren sich auf Kurzzeiteffekte. Nicht zuletzt auch deshalb, weil Arbeitsplatzabbau – zum Glück!, möchte man ketzerisch dazwischenrufen – zum Wesen des Kapitalismus gehört und ein Ausdruck hoher wirtschaftlicher Produktivität ist. Götz Werner, Chef der dmDrogeriekette, bringt es auf den Punkt: „Die Wirtschaft ist keine sozialtherapeutische Beschäftigungsveranstaltung. Kein Unternehmer geht in seinen Laden und fragt sich: Wie schaffe ich neue Arbeitsplätze?“ (Werner 2006: 37) Die entscheidende Frage laute vielmehr: „Wie kann ich mit einem möglichst geringen Aufwand an Zeit und Ressourcen möglichst viel für meine Kunden erreichen? Wie kann ich den Laden besser organisieren? Und besser organisieren heißt immer, Arbeit einzusparen. Das ist ein absolutes unternehmerisches Prinzip.“ Auf Seiten der Wirtschaft besteht also kein grundsätzliches Interesse an der Schaffung neuer Arbeitsplätze. Man kann, wie Werner, sogar sagen: „Die Aufgabe der Wirtschaft ist es, die Menschen von der Arbeit zu befreien.“ (Werner 2005)18 Die Regierenden hingegen sehen das Gegenteil als ihre Aufgabe: Hauptsache Arbeit. Bald sogar bis zum Renteneintrittsalter von 67 Jahren. Arbeit und kein Ende – doch auf welchem Arbeitsmarkt eigentlich? So lügt sich die Politik mit ihrer Fixierung auf das Paradigma der Arbeit die Wirklichkeit zurecht. Stattdessen müsste sie endlich begreifen, dass es vor allem jene Grundkonfiguration der Arbeitsgesellschaft ist, die uns mit der paradoxen Formel ,Arbeitsplätze abbauen und Arbeit verherrlichen‘ auf dem Weg in eine wirklich produktive Zukunft hemmt.
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Ähnlich argumentiert auch Straubhaar (2005). Vgl. dazu auch Friedman (1971: 175f.).
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Das 2x2-Komponenten-Modell der Tätigkeitsgesellschaft oder: Die halbierte Ökonomisierung
Was also ist zu tun? Angesichts hochgradig paradoxer Verhältnisse müssen wir zwangsläufig eine neue Beziehung zwischen Arbeit und Leben stiften. Auf dem Weg dorthin, in eine neue Gesellschaft der Tätigkeit statt nur der Arbeit, gilt es drei Konstruktionsfehler zu vermeiden, die allen bisherigen Alternativvorschlägen anhaften: Entweder sie ignorieren, wie alle utopischen oder revolutionären Entwürfe, (1.) die Notwendigkeit sukzessiver struktureller Veränderungen, vulgo: Reformen. Oder sie vernachlässigen (2.) die Macht des Arbeitsparadigmas, das heißt die Notwendigkeit, parallel zu strukturellen Reformen neue kulturelle Leitbilder, Modelle und Ideen zu entwickeln, die das omnipräsente Paradigma der Arbeit brechen, und diese dann (3.) vor allem auch zu integrieren (vgl. dazu ausführlich Kapitel 3.2 dieses Beitrags). Tun sie dies nicht konsequent genug, bleiben sie, wie beispielsweise Ulrich Becks (2000b) Konzept der Bürgerarbeit oder Paul Noltes (2005) „investive Bürgergesellschaft“, aber auch Götz Werners (2006) Vision einer ,Grundeinkommensgesellschaft‘19, im Mittelschichten-Bias gefangen.20 Das hier vorgestellte 2x2-Komponenten-Modell für die Tätigkeitsgesellschaft des 21. Jahrhunderts vermeidet diese Konstruktionsfehler. Es hat zweimal zwei Etappen: Auf der materiellen Ebene des „Reichs der Notwendigkeit“ und der Sozialtransfers (1.) weitergehende strukturelle Modernisierung im Hinblick auf (2.) ein steuerfinanziertes Grundeinkommen. Auf der kulturellen Ebene der Leitbilder und Lebensmodelle (1.) einen grundlegenden Paradigmenwechsel, gefördert durch (2.) eine neue (Bildungs-)Politik des Tätigkeitspluralismus (vgl. Abbildung 1).
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Mit ,Grundeinkommensgesellschaft‘ ist hier und im Folgenden eine Gesellschaft gemeint, in der ein Grundeinkommen anstelle anderer Transferleistungen bezahlt wird. Ihr jeweiliger Referenzpunkt ist die gesellschaftliche Schicht, in der die vorgeschlagenen Maßnahmen oder Verhaltensweisen in der Regel bereits praktiziert werden (wenn sie ihr nicht sogar selbst entstammen), ohne deshalb Vorbild einer gesamtgesellschaftlichen Veränderung sein zu können.
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Abbildung 1:
Das 2x2-Komponenten-Modell
3.1 Reformen am Arbeitsmarkt: strukturelle Modernisierung in Richtung Grundeinkommen Strukturelle Reformen am Arbeitsmarkt sind auch in Zukunft nötig. Keine Gesellschaft kann es sich leisten, das „Reich der Notwendigkeit“ nicht optimal zu bewirtschaften, das heißt möglichst effizient und effektiv zu organisieren, um möglichst hohe Erträge zu erzielen. Die Politik ist dabei keineswegs Vollstreckungsinstrument globalisierter Sachzwänge. Innerhalb gewisser Grenzen kann sie günstige und weniger günstige Rahmenbedingungen für wirtschaftliches Handeln schaffen – sofern sie die ökonomischen Trends nicht ignoriert. Der erste Schritt auf dem Weg in die Tätigkeitsgesellschaft des 21. Jahrhunderts wäre daher der Abschied von der Illusion der Vollbeschäftigung und dem Paradigma der (Erwerbs-)Arbeit um jeden Preis. Erst dann wäre der Weg frei für strukturelle Reformen, die ihren Namen auch verdienen. Sie beginnen dort, wo sie am nötigsten sind: in den sozialen Sicherungssystemen und im Verhältnis der Politik zu den geringfügig bzw. prekär Beschäftigten und Arbeitslosen. Bisher scheint Arbeitslosigkeit in den Augen der meisten Politiker so etwas wie eine selbst verschuldete Schlampigkeit zu sein, ein Problem mangelnden Leistungswillens („Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“). Wer keine Arbeit hat und auch keine Aussicht, jemals wieder welche zu bekommen, wird in der
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gegenwärtigen Arbeitsgesellschaft beinahe so behandelt, als wäre er oder sie ein Verbrecher. Hartz IV ist „offener Strafvollzug“, so Götz Werner (2006, 37) treffend (vgl. auch Becker 2001).21 Leider sind nicht nur ein paar Delinquenten davon betroffen, nicht nur die weniger Leistungsfähigen, die schlecht Ausgebildeten und mangelhaft Integrierten. Die ,diskontinuierliche‘ Erwerbsbiographie droht auch für immer weitere Teile der Mittelschichten – Ingenieure, Techniker und Geisteswissenschaftler – zur Normalbiographie zu werden. Für alle diese Menschen, die auf dem immer enger gesteckten Feld der Erwerbsarbeit keinen vollwertigen Platz mehr finden, muss es eine materielle Absicherung geben. Und zwar eine, um die sie nicht betteln müssen, die sie nicht zu Parasiten und Parias der Arbeitsgesellschaft abstempelt. Eine Absicherung, die motiviert, ein produktives Leben auch jenseits der Arbeitsgesellschaft aufzubauen und einen Teil zur gesellschaftlichen Entwicklung in einem über den ökonomischen Wachstumsbegriff hinausgehenden Sinn beizutragen. Diese Funktion erfüllt in meinen Augen am besten ein Grundeinkommen, wie es in jüngster Zeit von Politikern, Wirtschaftsführern und Volkswirtschaftlern (aus unterschiedlichen Gründen) propagiert wird.22 In einer ,Grundeinkommensgesellschaft‘, so der Tenor bisheriger Vorschläge, würden sämtliche Sozialtransfers – Arbeitslosen- und Sozialhilfe, Rente etc. – durch ein existenzsicherndes, nicht an Bedürftigkeitsprüfungen gebundenes Grundeinkommen für alle Bürgerinnen und Bürger (vom Kleinkind bis zum Greis) ersetzt. Darüber hinaus entfielen alle sonstigen staatlichen Subventionen (Bafög, Kindergeld etc.) sowie die kostenintensive Sozialbürokratie (vgl. z.B. Straubhaar 2006, 82). Das Grundeinkommen hätte damit vor allem einen zentralen Effekt: Arbeit und Existenzsicherung würden entkoppelt, niemand müsste mehr arbeiten, um zu (über)leben: „der Zwang fällt weg“ (Werner 2006, 10). 21
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Haarsträubende Vorschläge zur Domestizierung des wachsenden Arbeitslosenheers geistern immer wieder durch die Medien. Aus dem politischen Sommerloch heraus meldete sich Anfang August 2006 beispielsweise CSU-Generalsekretär Markus Söder mit der Forderung, Arbeitslosengeld-II-Empfängern den dreiwöchigen Urlaubsanspruch zu streichen. Und Bundesbauminister Tiefensee sah Arbeitslose als Ein- und Aussteigehilfen in Bussen und Bahnen arbeiten. Absurd ist gerade dieser Vorschlag übrigens nicht, weil die Zielgruppe für die entsprechenden Tätigkeiten möglicherweise nicht qualifiziert oder grundsätzlich ungeeignet wäre, sondern weil es sich unter ökonomischen Gesichtspunkten dabei um einen Fall von äquivalenter Substitution handeln würde, also eine völlig unproduktive Beschäftigung, die man besser gleich bei ihrem richtigen Namen nennen würde: ABM oder Beschäftigungstherapie (vgl. dazu auch Gorz 1991, 73f.). Das trifft zum Teil auch auf die sogenannte ,Bürgerarbeit‘ zu, die derzeit in Sachsen-Anhalt als Alternative zu Hartz IV getestet wird (vgl. Kemma 2007). Vgl. dazu z.B. Straubhaar 2006, Vanderborght/van Parijs 2005, Vobruba 2006, Werner 2007. Mit Schildt (2006, 144-148) nehme ich an, dass weder Arbeitszeitverkürzungen noch der Ausbau des Niedriglohnsektors allein zu einer wesentlichen Senkung der Arbeitslosigkeit führen, dasselbe gilt für die politisch motivierte Nachfragestärkung.
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Wer will und über entsprechende Qualifikationen verfügt, könnte weiter nach der Vollzeitstelle streben. Wer Teilzeitmodelle bevorzugt oder zeitweise gar nicht arbeiten möchte, rutschte nicht automatisch ab in die Prekarität. Das substanzlose Recht auf Arbeit würde durch ein „Recht auf Einkommen“ für alle (Werner 2006, 38) ersetzt. Zur Finanzierung des Grundeinkommens schlägt der Ökonom Thomas Straubhaar (2005) einen Mix aus einheitlichen Einkommenssteuern auf alle Einkommen und Vermögen, indirekten Verbrauchssteuern sowie Abgaben auf öffentliche Leistungen vor. Der Unternehmer Götz Werner (2006; 2007) favorisiert dagegen eine sozial verträglich gestaffelte Mehrwertsteuer („Konsumsteuer“), die schrittweise bis auf 50 Prozent ansteigt. Damit ließe sich Werner zufolge nicht nur das Grundeinkommen finanzieren, sondern auch die faktische Höhe der Staatsquote einheitlich abbilden. Bezahlt würde nur noch dort, wo auch konsumiert würde. Der Wertschöpfungsvorgang selbst wäre von sämtlichen Steuerlasten befreit. Zudem könnten auch die Löhne beträchtlich sinken, da sie mit dem Grundeinkommensbetrag verrechnet würden.23 Das heißt, das Grundeinkommen wäre auch unter ökonomischen Gesichtspunkten höchst funktional: „Es ist gut für den Markt. Es würde eine enorme wirtschaftliche Mobilität, Produktivität und Kreativität entfalten. Viele Hindernisse, durch die der Produktionsprozeß so ungeheuer gedrosselt wird, würden wegfallen.“ (Beck 2007, 19) Doch der Weg in die ,Grundeinkommensgesellschaft‘ ist weit. Er führt über schrittweise Reformen und gesunde Staatsfinanzen, die einen langfristigen Umbau des Sozialstaats erst ermöglichen. Der Blick in wirtschaftlich und sozialpolitisch erfolgreiche Nachbarländer kann uns dabei, obwohl in der Debatte sehr beliebt, nur in wenigen Fällen verlässliche Anleitung für einen Reformimport geben.24 Als „ungefähre Richtungsvorgaben“ (Kommission 1998, 16) für weiter23
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Dementsprechend hoch sollte dieser Betrag gemäß Werner auch ausfallen, im Schnitt etwa 1200–1500 Euro pro Person und Monat, abhängig von Alter, Lebensumständen bzw. Familienstand. In jungen Jahren niedriger, im Alter zwischen 30 und 45 Jahren höher (vgl. Werner 2006a; Werner/Hardorp 2005).Würde man allerdings die Summe aller bisherigen direkten und indirekten Sozialausgaben – insgesamt ca. 720 Mrd. Euro – zu gleichen Teilen auf alle 82 Millionen Bündesbürgerinnen und Bundesbürger umlegen, ergäbe das ein individuelles Grundeinkommen von nur ca. 731 Euro pro Person und Monat. Das Grundeinkommen läge damit in etwa auf Hartz-IV-Niveau abzüglich der Krankenversicherungskosten. Von diesem Sockelbetrag aus soll es Werner (2006a) zufolge im Zuge der Mehrwertsteuererhöhung und des Bürokratieabbaus jedoch innerhalb von 15–20 Jahren sukzessive bis auf den Durchschnittsbetrag von maximal 1500 Euro pro Person steigen. Zum Problem der Übergänge vgl. auch Eichhorn 2006, 88f. Das in diesem Zusammenhang gern zitierte „Erfolgsmodell Skandinavien“ (Wirtschaftswoche, Nr. 35, 28.08.06), aber auch England oder die USA entpuppen sich bei genauerem Hinsehen gerade nicht als Anhaltspunkte für die Ausrichtung der deutschen Reformagenda. So praktiziert das kleine Dänemark (5 Mio. Einwohner) im Gegensatz zu Deutschland (82 Mio. Einwohner) eine extrem starke Umverteilung über hohe Steuern (Spitzensatz 63 Prozent), unterhält einen vergleichsweise luxuriösen Sozialstaat und schottet sich geradezu xenophobisch gegen Ein-
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gehende strukturelle Reformen im Hinblick auf einen radikalen Umbau des Steuersystems und der sozialen Sicherung mögen folgende Vorschläge dienen (vgl. ebd.; Siebert 2005): 1. Steuern statt Abgaben: Die Beiträge zur Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung wirken „wie Strafsteuern auf den Faktor Arbeit“ (Keil 2004, 26). Das schränkt die Wettbewerbsfähigkeit ein und verhindert Beschäftigung. Steuerfinanzierte Sicherungssysteme haben dieses Problem nicht, sie lassen sich zudem sukzessive auf das Grundeinkommensmodell umstellen. 2. Entbürokratisierung und Deregulierung: Die deutsche Wirtschaft ist teilweise überreguliert und der Sozialapparat ein bürokratisches Monster. In der ,Grundeinkommensgesellschaft‘ bliebe von Letzterem allenfalls noch eine Art Vermittlungsbörse übrig, die Arbeitssuchende mit Arbeitgebern in Kontakt brächte. Die Wirtschaft, insbesondere der Mittelstand, würde nach und nach von bürokratischen Hürden (Kündigungsschutz, befristete Arbeitsverhältnisse etc.) befreit. Damit einher ginge die Flexibilisierung von Teilarbeitsmärkten bzw. Tarifverträgen.25 3. Ausbau des Niedriglohnsektors und der Teilzeitarbeit: Hochproduktive Arbeitsplätze entstehen fast ausschließlich in wenigen technologischen und wissensbasierten Wachstumssparten. Doch nicht jeder Arbeitssuchende ist für eine Tätigkeit dort geeignet oder strebt auch danach. Einfache personenbezogene Dienstleistungen, beispielsweise in der Gastronomie und im Einzelhandel, erfordern weniger Wissen und Kapital und bieten damit besonders den gering Qualifizierten Beschäftigungsperspektiven an. Gäbe es erst einmal ein Grundeinkommen für alle, könnte der Niedriglohnsektor in einem zweiten Schritt noch weiter ausgebaut werden (vgl. Straubhaar 2005, 62). Geringfügige Beschäftigung würde das Grundeinkommen dann um ein paar Hundert Euro aufstocken, was in den
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wanderung ab, während in Deutschland fast jeder Fünfte einen Migrationshintergrund hat (vgl. Sussebach/Willeke 2007; Gaschke 2007). Die amerikanische Wirtschaft hingegen ist zugunsten des Niedriglohnsektors profit- statt (wie Deutschland) produktivitätsorientiert, was zwar die Arbeitslosenquote senkt, dafür jedoch die Armut am unteren Rand der Gesellschaft verschärft (ganz abgesehen von den extrem hohen Militärausgaben, die die Wirtschaft aufheizen, und den hohen Häftlingszahlen in den überfüllten Gefängnissen, die als Auffangbecken für ganze Arbeitslosenheere dienen). Beide Modelle funktionieren nur, solange die Konjunktur nicht einbricht, und sind in länderspezifische Arbeitskulturen eingebettet. Ein von vielen Ökonomen geforderter allgemeiner Lohnverzicht (vgl. etwa Sinn 2005) ist auf dem Weg in die ,Grundeinkommensgesellschaft‘ weder notwendig noch sinnvoll. Schließlich ist der Lohn kein gewöhnlicher Preis für eine gewöhnliche Ware. Lohnempfänger haben Familien zu ernähren und müssen mehr als nur das Notwendigste konsumieren können, wenn es der Wirtschaft gut gehen soll. Im schlimmsten Fall führt Lohnzurückhaltung sogar zu weiterem Stellenabbau und Verdrängungskämpfen im Niedriglohnbereich. Etwa dann, wenn ein Facharbeiter einen zusätzlichen Nebenjob annehmen muss.
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meisten Fällen bereits für einen erklecklichen Lebensstandard inklusive privater Altersvorsorge reichen dürfte. Das Gleiche gilt für die Teilzeitarbeit. 4. Massive Investitionen in Bildung, Forschung und Selbstständigkeit: Das Reich der Notwendigkeit kann nur dann weiter wachsen und hohe Erträge erwirtschaften, wenn es über ausreichend Ressourcen verfügt. Das sind in der Wissensgesellschaft von heute und morgen in erster Linie hoch qualifizierte Menschen und technologische Innovationen. Beides ist ausschließlich durch hohe Bildungsinvestitionen und Erleichterungen für private Existenzgründer zu haben. 5. Förderung von Bürgerarbeit: Zusätzlich zum Niedriglohnsektor und basierend auf Erwerbsarbeit muss auch das freiwillige, projektgebundene (und damit zeitlich begrenzte) soziale Engagement ausgebaut werden. Bürgerarbeit im Sinn von Ulrich Becks (2000b) „Gemeinwohl-Unternehmer“ oder auch Paul Noltes (2005) „investiver Bürgergesellschaft“ sind lediglich erste Schritte auf dem Weg in eine Tätigkeitsgesellschaft, die sich auf der Basis des bedingungslosen Grundeinkommens erst vollständig entfaltet (vgl. dazu Kapitel 3.2 dieses Beitrags). 6. Ausbau der Kinderbetreuung: Nach wie vor sind Frauen auf dem Arbeitsmarkt unter anderem deshalb benachteiligt, weil sie immer noch die Hauptlast der Kindererziehung tragen und dafür häufig auf eine berufliche Karriere verzichten, obwohl sie in hohem Maß zur Produktivitätsentwicklung beitragen. Der umfassende Ausbau von Kinderbetreuung und Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf sind unter diesem Gesichtspunkt, aber auch hinsichtlich der demographischen Entwicklung, dringend geboten. Zudem würden sie umfangreichere Bildungsmaßnahmen bereits im Vorschulalter ermöglichen. Das hier nur grob skizzierte Maßnahmenbündel – weitergehende strukturelle Modernisierung in Richtung Grundeinkommen – zielt im „Reich der Notwendigkeit“ vor allem darauf ab, die Wirtschaft effizienter und produktiver zu machen und letztlich zum Wohl der gesamten Gesellschaft von möglichst vielen überflüssigen (was auch heißt: keineswegs von allen!) Schranken zu befreien. Die Menschen hingegen würden vom Zwang erlöst, ihre Existenz unter oftmals prekären Arbeitsbedingungen mehr schlecht als recht zu erhalten. (Erwerbs-) Arbeit und Leben wären entkoppelt. Laborisierung bzw. Ökonomisierung würden damit gewissermaßen halbiert, das heißt auf ihren eigentlichen Platz im „Reich der Notwendigkeit“ verwiesen. Auf diese Weise könnte sich echte Produktivität entfalten – dies- und jenseits der Arbeitsgesellschaft.
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3.2 Arbeit revisited: Auf dem Weg in eine neue Tätigkeitsgesellschaft Die Krise der Arbeitsgesellschaft ist nicht allein eine materielle. Das lässt sich bereits an ihrer Grundkonfiguration ablesen. Deshalb genügt es auch nicht, Hartz IV sukzessive gegen ein Grundeinkommen auszutauschen. Das Paradigma der Arbeit – Erwerbsarbeit als ,Generalschlüssel‘ – würde dadurch nicht gebrochen. Die Menschen hätten, wie es Götz Werner anstrebt, mit bis zu 1500 Euro Grundeinkommen in der Tasche zwar kaum mehr Existenzsorgen. Ob eine Veränderung allein auf der strukturellen Ebene dann aber tatsächlich auch dazu führte, dass sie „ihre Talente entfalten, wirklich Mensch werden“ (Werner 2006, 40), ist mehr als fraglich. Hier liegt ein gewichtiger Denkfehler vieler Alternativmodelle: Ein Systemwechsel auf der strukturellen Ebene allein bringt keine neue Gesellschaft hervor. Er substituierte bloß, wo es um Neubewertung und Neubildung ginge. In den Worten Hannah Arendts (1966, 217): „We must not think that civilization will simply happen and all by itself begin to flourish – that culture can just happen – when there is ,free‘ time.“ Ganz in diesem Sinn kritisiert Gorz (1991, 143), dass ein Grundeinkommen zwar sehr wohl vom Arbeitszwang befreie, „aber noch lange keinen öffentlichen Raum schafft, in dem sich Gemeinsinn, politische Handlungslust und nicht-ökonomische Selbstbetätigung entfalten können“. Darüber hinaus würde sich die vorhandene gesellschaftliche Spaltung durch die Entkopplung des Rechts auf Einkommen vom Recht auf Arbeit wahrscheinlich eher noch vertiefen, weil „die Leistungsbesessenen und Gewinnstrebenden“ danach trachten könnten, die nicht erwerbstätigen Grundeinkommensempfänger weiter zu marginalisieren und ins gesellschaftliche Abseits zu drängen (vgl. dazu auch Land 2007, 75, 77f.). Wer also tatsächlich will, dass in der öffentlichen Sphäre andere Tätigkeiten an die Stelle der omnipräsenten Arbeit treten, muss „die Arbeit durch eine gesellschaftliche und organisierte Aktion zurückdrängen und gleichzeitig den öffentlichen Raum für Tätigkeiten ohne ökonomischen Zweck öffnen und ihnen dazu verhelfen, daß diese sich dort festsetzen können“ (Gorz 1991, 143). Genau hier also sollten wir ansetzen, indem wir parallel zu strukturellen Reformen auch auf der kulturellen Ebene aktiv nach Alternativen für ein befriedigendes Leben neben und jenseits der (Erwerbs-) Arbeit suchen. Denn „’(d)as Reich der Freiheit beginnt erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion“ (Marx 1988, 828). Es wäre deshalb völlig „widersinnig, Alternativen zur Arbeit zu entwerfen und diese wie die Arbeit zu organisieren“ (Liessmann 200, 105). Das ist leichter gesagt als getan, denn die heutige Arbeitsgesellschaft „kennt kaum noch vom Hörensagen die höheren und sinnvolleren Tätigkeiten, um deretwillen sich eine Befreiung [von der Arbeit; C.D.] lohnen würde“ (Arendt 2002, 13).
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Um die Sphäre dieser höheren Tätigkeiten zu erschließen, sind deshalb zwei wesentliche Schritte nötig: Erstens müssen wir auf der begrifflichen Ebene wieder differenzieren lernen und unser Begriffsfeld in öffentlichen Debatten erweitern. Das heißt, wir müssen uns im Sinne Hannah Arendts fragen, was wir eigentlich tun, wenn wir tätig sind. Und da ,Arbeit‘, meist im engeren Sinn von ,Erwerbsarbeit‘ verstanden, in modernen Gesellschaften zum Synonym für ,Tätigkeit‘ schlechthin geworden ist, gilt es zunächst einmal zu klären, was ,Arbeit‘ als Bezeichnung für eine spezifische Form menschlicher Tätigkeit im Unterschied zu anderen Tätigkeitsformen eigentlich meint.26 Hannah Arendt (1998) zufolge ist Arbeit – idealtypisch betrachtet und unabhängig davon, ob sie entlohnt wird oder nicht – die menschliche Tätigkeit, die es mit dem „Reich der Notwendigkeit“, mit der Reproduktion zu tun hat. Arbeit befriedigt Grundbedürfnisse, indem sie immer wieder von neuem Verbrauchsgüter produziert, die rasch konsumiert werden. Sie ist deshalb temporal durch ewige Wiederholung, durch Routinen und Zyklen gekennzeichnet.27 In der Praxis ist sie Element jedweder, selbst der höchsten, Tätigkeiten, „sofern sie als die ,Routinejobs‘ ausgeübt werden, durch die wir unseren Lebensunterhalt verdienen und uns am Leben erhalten“ (ebd., 1002; vgl. dazu auch Arendt 2002, 98-160 bzw. Kreutz 2007, 64). Im Gegensatz dazu hat das Herstellen seinen Zweck außer sich. Es zielt im Unterschied zum selbstbezüglich-organischen Kreislauf des Arbeitens (und Konsumierens) auf die „Dauerhaftigkeit und Festigkeit“ (Arendt) der Welt ab, indem es Gebrauchsgüter wie Tische, Stühle, Häuser, aber auch Kunstwerke fabriziert. Mithilfe dieser Gegenstände machen wir die Welt erst zu einer von uns selbst geschaffenen und eingerichteten Heimat, einer Kultur. Im schöpferischen, seiner Natur nach einmaligen Akt des Herstellens, griechisch poiesis, verwirklichen wir eigene Pläne und damit letztlich uns selbst (vgl. Arendt 2002, 161-212).28 Von beiden Tätigkeitsformen unterscheidet Arendt das Handeln. Als Tätigkeit hat es einen eindeutigen Anfang, aber kein bestimmtes Ende. Denn es setzt „Menschen im Plural“ voraus, die also stets gemeinsam, aber mit unterschiedlichsten Intentionen – auch gegeneinander – handeln. Deshalb sind Handlungsresultate nicht vorhersehbar. Doch das Handeln hat eine Funktion, die weit 26 27 28
Zum Arbeitsbegriff allgemein vgl. Conze 1972; Jahoda 1983, 24ff.; Riedel 2003; Walther 1990. Und insofern auch seit jeher mit biologischen Stoffwechselprozessen, mit Körperlichkeit, Mühsal, Plage, Qual und Vergeblichkeit, aber auch elementarer, vitaler Lebensäußerung und Lebendigkeit assoziiert (vgl. Arendt 1998, 1000 bzw. 1002; Arendt 2002, 126f.; Walther 1990). Diese Konzeption liegt auch dem frühen Marx’schen Arbeitsbegriff in den einflussreichen Pariser Manuskripten von 1844 zugrunde. Dort interpretiert Marx die Arbeit im Sinne der poiesis. Er hat damit eine eindrucksvolle Hymne auf die persönlichkeitsbildenden Kräfte des Herstellens hinterlassen, das er mit Attributen wie Vergegenständlichung, Selbstbestätigung, Selbstäußerung, Freiheit etc. belegt (vgl. Marx 1990, 515ff., 536, 539-542).
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über die Bestimmungen der Arbeit und des Herstellens hinausgeht: Es konstituiert einen Raum, in dem die gemeinsame Sache – die res publica – verhandelt wird. In diesem Raum wird der Mensch zu einer öffentlichen Person. Das heißt zugleich: Erst hier kann er sich, handelnd und sprechend, als Individuum, als einmalig gegenüber allen anderen positionieren (vgl. ebd., 213-317). Arendts Unterscheidungen mögen idealtypisch sein. Doch sie führen zu zwei bedeutsamen Einsichten: Zum einen machen sie deutlich, wie absurd das Paradigma der (Erwerbs-)Arbeit als ,Generalschlüssel‘ schon auf der begrifflichen Ebene ist.29 Denn es ist eben nicht alles Arbeit, was Menschen tun. Zum anderen weisen sie darauf hin, dass wir nicht die herkömmlichen Begriffe verwenden dürfen, wenn wir über eine neue Tätigkeitsgesellschaft sprechen, sie gar etablieren wollen. Wir dürfen also nicht von ,Arbeit‘ mit der quasi ontologischen Konnotation ,Erwerbsarbeit‘ reden, wenn es beispielsweise um neue Formen bürgerschaftlichen Engagements geht, die stark in Richtung Handeln tendieren. Es reicht auch nicht aus, alteingesessene Begriffe einfach umzuwerten. Neue Lebens- und Tätigkeitsfelder jenseits der Erwerbsarbeit benötigen neue Namen und – damit eng verbunden – einen neuen Status. Die Alternative zum eindimensionalen Paradigma der Arbeit ist deshalb ein pluralistisches Paradigma der Tätigkeit, in der Erwerbsarbeit ebenso wie Arbeit (im Sinne Arendts) nur einen Platz besetzt.30 Doch damit die Debatte um Begriffe und Werte auch Folgen hat, benötigen wir Strukturen, in denen sich das neue Paradigma konkretisieren kann. Das hieße zunächst nichts anderes als Repolisierung, eine Neubelebung des antiken Polis-Konzepts auf kommunaler Ebene. Denn nur im überschaubaren Feld von Bezirken und Gemeinden, neudeutsch: face-to-face, wird die Tätigkeitsgesellschaft – das „Reich der Freiheit“ – für alle Bürgerinnen und Bürger greifbar, Teil der alltäglichen Lebensführung. Wie also könnte eine differenzierte und zugleich konkrete Verbindung zwischen neuen Begriffen und Tätigkeitsformen aussehen? Zunächst einmal ist und bleibt alle Tätigkeit, sofern sie im Rahmen von Erwerbstätigkeit geleistet und dementsprechend entlohnt wird, weiterhin Arbeit. Ebenso wie Selbstpflege und Verpflegung, von Gorz (1991, 145) „Eigenarbeit“ genannt, aber auch Gartenarbeit oder sonstige Formen notwendiger Erhaltungsarbeiten. Sie sind „Last und 29 30
Noch absurder ist lediglich der Versuch, die Arbeit (im Unterschied zu Tätigkeit) als Wesen des Menschen zu hypostasieren. Vgl. dazu Gorz 1991, 115f. bzw. 118. Das ist auch in psychologischer Hinsicht von größter Bedeutung: Eine Gesellschaft, in der die Konstruktion personaler Identität eng mit Leistung, Arbeit und Erwerbstätigkeit zusammenhängt, steht zwangsläufig vor gravierenden individual- wie sozialpsychologischen Problemen, wenn (Erwerbs-)Arbeit für immer mehr Menschen unerreichbar wird. Daraus folgt die dringende Notwendigkeit, im Zuge begrifflicher Differenzierungen und kultureller Veränderungen alternative Identitätsmodelle zu generieren, die im Fall der Arbeitslosigkeit genügend Verhaltensressourcen bieten, sich anderweitig zu orientieren.
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Lebensäußerung“ (Gorz) zugleich und können, wiederum bezahlt, zu großen Teilen auch an Dienstleister externalisiert werden. Im Gegensatz zur Erwerbsarbeit, die öffentlich vermittelt ist und auf dem Tauschprinzip (Arbeit gegen Geld) beruht, sind „Eigenarbeit“ und alle Formen privater (Haus-)Arbeit, Kindererziehung und Pflege von Angehörigen nicht über Tauschverhältnisse vermittelt. Sie müssen individuell ausgehandelt – und entlohnt – werden.31 Innerhalb all dieser Arbeiten variieren die objektiv messbaren oder subjektiv empfundenen Möglichkeiten, kreativ und selbstbestimmt tätig zu sein, mehr oder weniger stark. Würde man dafür den Begriff des Selbstbetätigungsquotienten einführen, so könnte man sagen, er fällt oder steigt in Abhängigkeit von Faktoren wie Ein- oder Vielseitigkeit, Monotonie oder Abwechslung, physische und psychische Belastung, Arbeitsumfeld etc. Er ist voraussichtlich dann am höchsten, wenn die Arbeit stark von Elementen des Herstellens und Handelns bestimmt ist. Umgekehrt ist der Arbeitsanteil hoch, wenn sich die jeweilige Tätigkeit vor allem durch Routinen, Wiederholungen und Körperlichkeit auszeichnet. Jenseits dieses Bereichs – im eigentlichen „Reich der Freiheit“ – liegen die nicht notwendigen, nicht zwingend monetär entlohnten Tätigkeiten für andere und gemeinsam mit ihnen. Darunter kann sehr wohl auch Arbeit fallen, etwa innerhalb des ehrenamtlichen Engagements in einer Sozialküche. Tätigkeiten dieser Art unterscheiden sich jedoch nicht nur durch ihren Selbstbetätigungsquotienten voneinander, sondern ebenso durch die unterschiedlichen Räume, in denen sie stattfinden. Während freiwillige Altenpflege eine private, stark arbeitslastige Tätigkeit ist, entfaltet sich bürgerschaftliches Engagement32 in der Regel in der Öffentlichkeit, aufgewertet durch das erhebende Gefühl gemeinschaftlicher Tätigkeit, sozialer Integration sowie öffentlicher Anerkennung. Anders liegt der Fall für einen dritten Tätigkeitsbereich: die Selbstbetätigung. Sie ist weitgehend frei von Arbeitsroutinen, sofern sie nicht notwendiger Bestandteil selbstbestimmter Tätigkeit sind, und wird in der Regel nicht öffentlich ausgehandelt. Man kann sie am ehesten mit dem Herstellen vergleichen, geht es ihr doch um Prozesse der Selbstverwirklichung, um die Pflege und Erweiterung menschlicher Fähigkeiten, um Rekreation und Inspiration, die einen Zug ins Kontemplative hat, aber auch in andere Tätigkeitsfelder zurückführen kann.
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Allerdings wäre es fragwürdig, beispielsweise private Kindererziehung allein als Arbeit zu veranschlagen (vgl. Gorz 1991, 125ff.). Zwar ist die Kinderaufzucht von einer ganzen Reihe von Routinearbeiten geprägt, geht aber – wie auch die häusliche Pflege – keineswegs allein darin auf. Das Problem der Wertschätzung dieser Tätigkeit steht auf einem anderen Blatt, ist aber zweifellos eng mit dem Problem der Begriffsdifferenzierung verknüpft. Der Beck’sche Ausdruck „Bürgerarbeit“ (vgl. Beck 2000b) ist in mehrfacher Weise irreführend. Er spricht vereinheitlichend von Arbeit, wo es um unterschiedlichste Tätigkeiten geht, und affirmiert zudem das Arbeitsparadigma, das es gerade zu beseitigen gilt.
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Insofern nun alle diese Tätigkeiten keine (Erwerbs-)Arbeiten sind, sollten wir sie in Zukunft auch nicht mehr als solche bezeichnen, sondern von Bürgerhandeln, Gemeinschaftstätigkeit, von Sozialwerkerinnen und Sozialwerkern oder Selbstbetätigung sprechen. Noch einmal: Es geht nicht um neue Namen für alte Hüte, sondern um die (Wieder-)Entdeckung neuer Tätigkeitsformen, die wir differenziert benennen müssen, damit sie als solche verstanden und geschätzt werden. Damit verbunden ist eine Neubewertung, eine neue Kultur der Tätigkeit, in der (Erwerbs-)Arbeit nicht allein begrifflich von alternativen Tätigkeiten unterschieden wird, sondern im Bewusstsein der Menschen nur noch eine mögliche Form von Betätigung darstellt. Am Ende dieses Umwertungsprozesses ist nicht mehr die Arbeit, sondern die Tätigkeit der paradigmatische ,Generalschlüssel‘, das kulturelle Leitmotiv der Gesellschaft. Das alles ist keine frei schwebende Utopie. Die alternativen Tätigkeiten sind nicht im frühmarxistischen Fantasialand zu Hause. Schon heute werden sie gelebt – bisher allerdings nur von den gebildeten Mittelschichten und den jungen Kreativen, die im Internet und in lokalen Gemeinschaften unterwegs sind, Debattierclubs gründen, Nachbarschaftshilfe organisieren und ihren Lebensunterhalt mit Minijobs, Stipendien und Projektarbeiten finanzieren.33 Der Versuch, das Paradigma der Arbeit durch eine alternative Kultur der Tätigkeit zu ersetzen, hat deshalb noch eine zweite wesentliche Komponente: Sowohl die Debatte um die plurale Tätigkeitsgesellschaft, ihren begrifflichen Kosmos und ihre neue Werteordnung als auch ihre Praxis müssen von Beginn an in die Unterrichtspläne der Schulen und die Curricula der Universitäten Einzug halten. Wo, wenn nicht in unseren Bildungseinrichtungen, könnten Menschen schon in jungen Jahren lernen, was es heißt, zwischen Erwerbsarbeit, gesellschaftlich notwendiger Arbeit, freiem Engagement, Herstellen und Handeln zu unterscheiden und jeder Tätigkeit einen ihr angemessenen Wert zuzuweisen? Wo, wenn nicht in der Schule, durch Praktika und Projekte, ließe es sich besser auf die Wahl eines individuellen Platzes im pluralen Tätigkeitskosmos vorbereiten, der gesellschaftliche Anforderungen mit individuellen Lebensplänen und Selbstwertgefühl verknüpft – auch wenn dabei kein fester Arbeitsplatz herausspringt?34 Und wie sonst, außer auf dem Weg der Einübung und Nachahmung, könnte die neue Tätigkeitsgesellschaft von früher Jugend an ein lebendiger Teil des individuellen Habitus werden? Die praktische Integration des Tätigkeitsparadigmas in Schule und Ausbildungsstätten ist deshalb so wichtig, weil sie gegen den Mittelschichten-Bias wirkt, der die meisten bisherigen Alternativkonzepte 33 34
Vgl. dazu z.B. Morisse/Engler 2007. Ganz in diesem Sinne fordert Hartmut von Hentig (2006) in seinem neuesten Buch eine „Entschulung“ für die Mittelstufenjahrgänge in Form einer einjährigen Einstellung des Schulunterrichts zugunsten von Projektarbeit und gemeinschaftlichem Handeln.
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zur Arbeitsgesellschaft prägt, wie etwa bei Beck (2000b), der dieses Problem immerhin reflektiert (vgl. ebd., 430, Fußn. 16), oder Nolte (2005), der es umgeht, indem er sein Modell gleich ausschließlich auf die bürgerliche Mitte als neue alte Avantgarde limitiert. Doch die Lust auf Tätigkeit verkümmert, wenn sie durch eine aktivierende „Erziehung zur Mündigkeit“ (Adorno) nicht immer wieder aufs Neue geweckt und befördert wird – besonders auf den gesellschaftlichen Schattenplätzen.35 Das heißt letztlich nichts anderes, als dass die Vision eines bedingungslosen Grundeinkommens hohl ist. Soll das Grundeinkommen wirklich funktionieren, müssen wir uns gerade über die Bedingungen seiner Möglichkeit verständigen, also so etwas wie eine Transzendentalphilosophie des Grundeinkommens entwickeln – das selbstverständlich immer bedingt ist, auch wenn es nicht mehr an Bedürftigkeitsnachweise gekoppelt wird. Denn die Gesellschaft muss dafür Sorge tragen, dass sich nicht allzu viele Menschen auf die Grundeinkommenscouch verabschieden, statt arbeitend, herstellend und handelnd Lust an gemeinschaftlicher Initiative und „investiver“ Lebensplanung (Nolte) zu entfalten. Zweifellos hat Thomas Straubhaar (2005) recht, wenn er meint, ein paar Couch-Potatoes mehr oder weniger sollten uns nicht davon abhalten, ein Grundeinkommen einzuführen. Doch das mag sich ändern, wenn akuter Arbeitskräftemangel herrscht. Dann wären wir auf die Couchhocker und kreativen Müßiggänger plötzlich wieder angewiesen. Auch wenn manche das Argument der „demographische(n) Wechselbäder“ (Kommission 1998, 34) in diesem Zusammenhang für absurd halten (so beispielsweise Engler 2005b; Hondrich 2007), sollten wir im Blick behalten, dass das „Reich der Notwendigkeit“ zu jeder Zeit seinen Tribut fordert – und zwar von allen gleichermaßen: „Niemand soll die Last der Notwendigkeit für andere tragen, und dementsprechend soll auch niemand davon freigestellt sein, seinen Anteil zu tragen.“ (Gorz 1991, 145) Denn nicht der tagwandlerische Faulpelz ist das Leitbild der Tätigkeitsgesellschaft, sondern der vielseitig tätige Mensch, der bei Bedarf auch die notwendige Arbeit nicht scheut.36 35
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Einen ähnlichen Ansatz propagiert Engler (2007), der allerdings hinter seinen eigenen Einsichten zurückbleibt, weil er den Widerspruch zwischen grundgesicherter Selbstbildung ohne Arbeitsplatz und Arbeitsparadigma lediglich auf der Verfahrensebene und aufseiten der Einzelnen, aber nicht bis zur letzten Konsequenz auflöst – der aktiven Etablierung einer neuen Tätigkeitskultur, die den Totalitarismus des Arbeitsregimes auch auf der kulturellen Ebene bricht. Das gilt auch und besonders für die wachsende Zahl der durch Erbschaft oder Besitz abgesicherten Bürgerinnen und Bürger: Sie gilt es nicht nur in die neue Tätigkeitsgesellschaft zu integrieren. Sie könnten darüber hinaus idealtypische Vorbilder sein, indem sie arbeiten, herstellen, handeln, ohne dafür materiell entlohnt zu werden (finanziell versorgt sind sie ja bereits); indem sie vorleben, was es heißt und wie befriedigend es sein kann, ein tätiges Leben zu führen, in dem Arbeit, Muße, Kontemplation, soziale Teilhabe und Privatsphäre miteinander in Balance stehen.
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Arbeit revisited
4
Fazit oder: Die Neugeburt der Politik
Es geht in Zukunft nicht mehr um Arbeit(splätze) um jeden Preis. Kernziel einer neuen Politik für die Tätigkeitsgesellschaft ist vielmehr, die Wirtschaft von lästigen Schranken zu befreien, während sie die Menschen vom Diktat der Arbeitsgesellschaft erlöst – nicht ohne zugleich nach den günstigsten Rahmenbedingungen für das „Reich der Notwendigkeit“ zu streben. Das ist der tiefere Sinn halbierter Ökonomisierung und einer 180-Grad-Wende der Arbeitsmarkt- und Gesellschaftspolitik: Vereinfachung und Entfaltung auf allen Ebenen. Damit rückt zugleich der Mensch wieder stärker in den Mittelpunkt. Und auf eben diese Weise findet die Politik zurück zu sich selbst: Indem sie politisches Handeln auf der Basis materieller Sicherheit und eines neuen Leitbilds der pluralen Tätigkeiten bis auf die untersten Ebenen der Gesellschaft ermöglicht (vgl. Abbildung 2).
Abbildung 2:
Auf dem Weg in die neue Tätigkeitsgesellschaft
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Christian Dries
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Ideen: Zur Vereinbarkeit von Arbeit und Leben
Ideen: Zur Vereinbarkeit von Arbeit und Leben
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Arbeitssucht und Anerkennung. Versuch einer gnadentheologischen Heuristik
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Arbeitssucht und Anerkennung. Versuch einer gnadentheologischen Heuristik Axel Bohmeyer 1
Einleitung
„Denn Arbeit ist nur das halbe Leben.“ Mit diesem Slogan bewirbt die WirtschaftsWoche ihr Lifestyle-Magazin fivetonine. Das Magazin wird als Ratgeber für die zweite Hälfte des Lebens angepriesen und greift damit den Spruch eines Graffiti-Sprayers auf, der auf einer Mauer sein eigenes Verständnis von Arbeit und Leben hinterließ: „Arbeit ist das halbe Leben, zum Glück lebe ich in der anderen Hälfte.“ Während es diese Slogans und Sprüche nicht an Eindeutigkeit fehlen lassen, herrscht in der soziologischen Forschung hingegen keine Einigkeit, ob Arbeit und Leben in Zukunft von den Menschen als gegensätzliche Bereiche oder aber als ein harmonisches Miteinander verstanden werden. Als ein prominentes Beispiel für die mögliche Versöhnung von Arbeit und Leben wurde bis zu ihrem Zusammenbruch im Jahr 2000 die New Economy herangezogen. In deren Branchen wurde die Aufhebung der Entfremdung durch Arbeit propagiert, weil hier ein Zusammenfall von Arbeit und Leben unterstellt wurde.1 Schon Karl Marx stellte als zentrale Fähigkeit des Menschen heraus, dass er sich in den Produktionsprozessen beziehungsweise im Produkt der Arbeit zu vergegenständlichen wisse. Den freien und ungezwungenen Vollzug des Arbeitens bestimmte er als Voraussetzung eines guten Lebens. Dagegen war der Kapitalismus für Marx eine soziale Lebensform, die den Menschen ein solches gutes Leben verwehrt, einer gelungenen Selbstverwirklichung der Subjekte im Wege steht und Formen der Entfremdung produziert. Für die Protagonisten der New Economy hat sich die Marx’sche Analyse des Kapitalismus überholt. Sie greifen die Denkfigur des nicht entfremdeten Arbeitens auf und behaupten einen eigenverantwortlichen, souveränen Umgang mit der eigenen Arbeit, der dem Autonomie- und Selbstverwirklichungsanspruch gerecht wird, den die Subjekte an die Arbeit richten. Sicherlich hat der propagierte emphatische Arbeitsbegriff der New Economy die Arbeitswirklichkeit dieser Branchen verdeckt. Trotzdem deutet ein solches überzogenes Arbeitsverständnis auf einen übergreifenden gesellschaftlichen Arbeits1
Vgl. dazu die instruktiven Beobachtungen in: Meschnig/Stuhr 2003.
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Axel Bohmeyer
begriff: Arbeit wird als ein Teil individueller Selbstverwirklichung verstanden, es geht den Menschen nicht nur um ihre Existenzsicherung. Die wissenschaftlichen Abhandlungen und öffentlichen Debatten um die Entgrenzung der Arbeit oder um die Vereinbarkeit von Arbeit und Leben müssen nicht nur für die Arbeitslosen ein seltsames Diskursfeld darstellen. Denn nicht nur für sie stellt sich die Frage, ob Arbeit ihr Leben teilen oder halbieren soll, gar nicht. Auch Arbeitssüchtige treffen eine Unterscheidung zwischen diesen beiden Sphären nicht. Aufgrund ihres Suchtverhaltens haben sie eine ganz eigene Form der Vereinbarkeit von Arbeit und Leben gefunden: Für sie ist die Arbeit das ganze Leben. Im Gegensatz zu anderen Suchten wird es gesellschaftlich aber akzeptiert, wenn sich eine Person als arbeitssüchtig oder als „Workaholic“2 bezeichnet. Sicherlich auch wegen dieser gesellschaftlichen Akzeptanz fristet die Arbeitssucht als Gegenstand des Forschungsinteresses ein randständiges Dasein. Die These der Schädlichkeit der Arbeitssucht richtet sich gegen ein weitverbreitetes Arbeitsethos und gegen ethisch fest verwurzelte Tugenden. Dagegen wird der Einfluss der Arbeitslosigkeit auf den Gesundheitszustand der Arbeitslosen und den ihrer Angehörigen seit der „Marienthal-Studie“ aus den 1930er-Jahren differenziert erforscht.3 Auch gibt es mittlerweile eine intensive Auseinandersetzung mit der Frage, inwieweit sich der Verlust des Arbeitsplatzes auf die Moralökologie moderner Gesellschaften negativ auswirkt. Demnach beeinflusst und beeinträchtigt lang andauernde Arbeitslosigkeit die moralische Urteilsfähigkeit der Betroffenen. Nach ersten Forschungsergebnissen stellt Arbeitslosigkeit auch ein demokratie- und moraltheoretisches Problem dar, weil die von Arbeitslosigkeit betroffenen Personen sich nicht länger an moralisch relevanten Diskursen beteiligen. Die moralische Problemlösungskompetenz der Gesellschaft wird durch die Arbeitslosigkeit geschwächt.4 Unter dem Stichwort der Humanisierung der Arbeit sind auch die gesundheitlichen Folgen der Arbeit weiterhin im Fokus der Forschung, also die physischen und psychischen Arbeitsbedingungen und Arbeitsbelastungen, die Arbeitszufriedenheit, das Wohlbefinden am Arbeitsplatz, der partielle Krankheitsstand und die dauerhafte Arbeitsunfähigkeit.5 Doch wie schon angedeutet, wird im Folgenden die Arbeitssucht als eine pathologische Verformung des Menschen in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung gestellt. Im Falle arbeitssüchtigen Verhaltens gibt es keine Balance zwischen Arbeit und Leben; über eine Vereinbarkeit der beiden Sphären braucht mit 2 3 4 5
In der medialen Berichterstattung haben sich oftmals auch die Anglizismen Workaholic oder Workaholismus eingebürgert. Ich bleibe im Folgenden bei den deutschen Begriffen Arbeitssüchtiger und Arbeitssucht. Vgl. hierzu nur: Morgenroth 1990. Vgl. nur Liebig 2004, 197-221. Vgl. nur Jaufmann 2000, 33-114.
Arbeitssucht und Anerkennung. Versuch einer gnadentheologischen Heuristik
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den Süchtigen nicht gestritten zu werden. Die medizinisch-psychologische Diagnose dieser spezifischen Form einer Entgrenzung der Arbeit soll im Folgenden näher erläutert werden. Bei der Erforschung des Krankheitsbildes soll der sozialphilosophisch bedeutende Begriff der Anerkennung Aufklärung leisten. Mithilfe von anerkennungstheoretischen Erkundungen lässt sich das kulturelle Fundament besser verstehen, auf dem arbeitssüchtiges Verhalten beruht. Daran anschließend wird mit dem Begriff der Rechtfertigung eine spezifisch theologische Perspektive stark gemacht. Dieser Perspektivwechsel ist im Sinne einer gnadentheologischen Heuristik zu verstehen. Die Genese der Arbeitssucht beziehungsweise die Bedeutung der sozialen Anerkennung für die gesellschaftliche Integration und individuelle Selbstverwirklichung des modernen Subjekts wird mit einigen vorläufigen Tiefenbohrungen gnadentheologisch ergründet. Dabei soll sowohl das beschädigende als auch heilende Verständnis einer christlichen Gnadentheologie zur Sprache kommen. 2
Diagnose Arbeitssucht
Es ist insbesondere dem Psychologen Stefan Poppelreuter zu verdanken, dass sich in den medizinischen beziehungsweise psychologischen Diskursen und zudem auch in den Leistungskatalogen der Krankenkassen langsam die Erkenntnis durchsetzt, „dass Arbeit tatsächlich süchtig entgleisen kann“.6 Konservativen Schätzungen zufolge gibt es in der Bundesrepublik Deutschland etwa 200 000 arbeitssüchtige Menschen.7 Nach den aktuellen psychologisch-medizinischen Erkenntnissen ist Arbeitssucht keine exotische psychische Verformung des Subjekts, die im bisherigen Katalog der Suchten schon deshalb nichts zu suchen hat, weil es sich um eine stoffungebundene Sucht handelt. Denn Sucht lässt sich nicht ausschließlich auf einen übermächtigen Drang zur Aufnahme einer chemischen Substanz mit spezifischen pharmakologischen Wirkungen verengen (vergleiche dagegen die Spielsucht). Jedes süchtige Verhalten ist eine Weise des Welt- und Selbstbezugs, die ein bestimmtes Objekt über das normale Maß hinaus verabsolutiert. Der Süchtige verhält sich pathologisch, weil seine Fixierung andere Formen des Selbst-Seins nicht mehr zulässt.8 Auch der Arbeitssüchtige richtet sein gesamtes Denken und Handeln vollständig an der Arbeit aus. Die Arbeit hat vom 6
7 8
Poppelreuter 2004, 9. Vgl. auch Poppelreuter 1997. Zur Aktualität des Themas Arbeitssucht vgl. außerdem Heide 2002; und Schneider/Bühler 2001, A 463–A 465. In Japan firmiert das arbeitssüchtige Verhalten auch unter dem Begriff des Karoshi – dem Tod durch Überarbeitung. Vgl. Kanai/Wakabayashi 2001, 129-145. Vgl. Poppelreuter 2004, 10. Vgl. Gabriel 1962.
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Süchtigen Besitz ergriffen, man kann nicht mehr davon sprechen, dass er eine Arbeit besitzt. Natürlich gibt es bei Arbeitssucht unterschiedliche Grade der Normabweichung. Anfänglich ist noch von einem „konstruktiven“ Stadium der Arbeitssucht auszugehen. Das heißt, dass das arbeitssüchtige Subjekt einen produktiven und für das Unternehmen positiven Output hat. In diesem Stadium kann die Arbeitssucht als eine saubere Sucht gelten, die im Gegensatz zu anderen stoffgebundenen oder auch stoffungebundenen Suchten gesellschaftlich akzeptiert und unter Umständen sogar aktiv gefördert wird. Das Verhalten des Arbeitssüchtigen wird so lange gesellschaftlich anerkannt, bis er unproduktiv wird. Auch ist davon auszugehen, „dass das Vollbild einer Arbeitssuchtproblematik im Vergleich beispielsweise zur Alkoholabhängigkeit sehr viel seltener auftritt“.9 Im Gegensatz zu solchen Süchtigen wirkt der Arbeitssüchtige außerdem aktiv, beruflich erfolgreich und scheint im Vollbesitz seines eigenen Lebens zu sein. Und doch ist der Süchtige nicht fähig, Auszeiten einzuhalten und den Umfang beziehungsweise die Dauer seiner Arbeit zu bestimmen. Auch treten Entzugserscheinungen bei längeren Zeiten der Abstinenz auf, die sich auch in Schweißausbrüchen, Herzrasen und Atemnot äußern und den Süchtigen physisch schwächen und ihn krank machen.10 Im Verlauf der Krankheit reichen die körperlichen Schäden dann über Magengeschwüre und Kreislaufstörungen bis hin zu Schlaganfällen und Herzinfarkten. Neben diesen subjektiven Folgen im Selbstvollzug des Einzelnen hat das arbeitssüchtige Verhalten auch soziale Auswirkungen. Arbeitssucht (zer)stört die intersubjektiven Bindungen, die der Süchtige im Laufe seines Lebens aufgebaut hat. Die privaten Kontakte und Beziehungen leiden unter dem Suchtverhalten. Die Arbeitssucht engt die Sphäre der intersubjektiven Verständigung ein und damit eine originäre Form des menschlichen Selbstverhältnisses, die zudem eine notwendige Voraussetzung der gesellschaftlichen Reproduktion ist. Die Verabsolutierung der eigenen Arbeit führt zu einer Vernachlässigung der sozialen Dimensionen des Zusammenlebens. Dieses Fehlen von ungestörten intersubjektiven Handlungen ist auch von den stoffabhängigen Suchten bekannt. Auch die Unternehmen ziehen nur bedingt einen Profit aus dem arbeitssüchtigen Verhalten. Die einem Arbeitssüchtigen unterstellte Produktivität kann nämlich schnell sinken und weist bei einem verfestigten Suchtverhalten einen negativen Saldo auf. Denn Arbeitszeit und Arbeitsoutput stehen weder in einem linearen noch in einem exponentiellen Verhältnis. Außerdem geht mit dem arbeitssüchtigen Verhalten ein problematisches Interaktionsverhalten einher, was mit negativen Auswirkungen auf die Betriebsorganisation einhergeht. Zudem führen die psychi9 10
Poppelreuter 2004, 11. Vgl. Poppelreuter 2004,10.
Arbeitssucht und Anerkennung. Versuch einer gnadentheologischen Heuristik
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schen und physischen Krankheitsbilder letztlich zu Fehlzeiten oder sogar zur Arbeitsunfähigkeit.11 3
Arbeitssucht als Anerkennungspathologie
Das Angewiesensein auf soziale Anerkennung gehört zur conditio humana, zur Grundverfassung menschlicher Existenz.12 Die Teilhabe an einer gesellschaftlich geteilten Anerkennungsform ist die notwendige Bedingung für die Weiterentwicklung beziehungsweise Stabilisierung des Selbstwertgefühls. Jeder Mensch ist davon abhängig, dass ihm soziale Anerkennung zugesprochen wird, nur so kann die Individuierung der Subjekte überhaupt gelingen. Die Subjekte kämpfen um die soziale Wertschätzung ihrer individuellen Leistungen und gelangen über diese Form der sozialen Anerkennung zu einem gelungenen Selbstverhältnis. Moderne Gesellschaften müssen sich deshalb daran messen lassen, ob sie Anerkennungsstrukturen zur Verfügung stellen, mit deren Hilfe die Subjekte eine intakte Identität ausbilden können.13 Gerechtigkeitstheoretisch richtet sich der Fokus auf die sozialen Bedingungen, unter denen Subjekte anerkannt werden und sich anerkannt wissen. Stellen die modernen Gesellschaften die Anerkennungsstrukturen nicht zur Verfügung, fehlen den Subjekten die Bedingungen der Möglichkeit, ihre individuelle Freiheit zu verwirklichen; ihre Sozialintegration wird deshalb nicht gelingen. Im Sinne einer anerkennungstheoretischen Analyse der gesellschaftlichen Strukturen der modernen Gesellschaft ist Arbeit in der Sphäre der sozialen Wertschätzung das gegenwärtig prominenteste Anerkennungsmuster. Auch wenn die gesellschaftliche und individuelle Bedeutung der Arbeit im Zuge der Diskussion um die Krise der Arbeitsgesellschaft in den 1990er-Jahren infrage gestellt wurde, hat doch gerade diese Debatte erwiesen, dass der Zuspruch sozialer Anerkennung immer noch eng an den Begriff der Arbeit geknüpft ist.14 Im historischen Rückblick und auch unter Einbeziehung gegenwärtiger Analysen lässt sich zeigen, dass die Identitätsbildung von der Teilhabe an der gesellschaftlich organisierten Arbeit abhängt.15 Die Selbstverwirklichung der Subjekte gelingt nur, wenn diese eine individuelle Tätigkeit vollziehen können, die zur Reproduktion der Gesellschaft beiträgt. Aus der Perspektive des anerkennungstheoretischen Ansatzes können bestimmte gesellschaftliche Zustände als pathologisch beschrieben werden. Das gilt 11 12 13 14 15
Vgl. Poppelreuter 2004, 12-13. Vgl. dazu beispielsweise Taylor 1995. Vgl. zur Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaft in die Sphären Liebe, Recht und soziale Wertschätzung Honneth 2003b, 148-211. Vgl. dazu Bohmeyer 2005; Bohmeyer 2006, 219-249. Vgl. dazu Honneth 2000, 88-109; Honneth 2003a, 303-341.
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insbesondere dann, wenn Anerkennung gesellschaftlich vorenthalten beziehungsweise verweigert und somit das Misslingen von personaler Identität provoziert wird. Das äußert sich dann in den von den Subjekten artikulierten unterschiedlichen Missachtungserfahrungen. Doch auch Anerkennungsverhältnisse können in einer dialektischen Dynamik zu einer Anerkennungspathologie mutieren. Mit einer Anerkennungspathologie ist ein Zustand gemeint, in dem das Subjekt trotz der Einbindung in ein Anerkennungsmuster sein Selbst-Sein-Können verloren hat und keinen Autonomiegewinn aus seinem Verhalten ziehen kann. Das Selbst-Sein des Individuums ist nachhaltig gestört, obwohl es sich auf ein soziales Anerkennungsmuster bezieht. Im Gegensatz zu anderen sozialen Pathologien liegt das Problem nicht in einem Verlust oder einer Vorenthaltung einer Aberkennungsform: Das arbeitssüchtige Individuum verliert keine Anerkennungsform, es hat ja Anteil am Anerkennungsmuster Arbeit. Stattdessen verkehrt sich das Anerkennungsgeschehen in einem dialektischen Prozess, und es kommt zu einer pathologischen Verformung der Anerkennungsszenerie. Das Subjekt verabsolutiert eine spezifische soziale Anerkennungsform, kann sich also nicht länger zu diesem Anerkennungsmuster und damit auch nicht zu sich selbst verhalten. Diese These von einer Anerkennungspathologie lässt sich nun in den Kontext der Arbeitssucht stellen und mithilfe verhaltenstheoretischer, psychoanalytischer und familiendynamischer Überlegungen untermauern.16 Einer verhaltenstheoretischen Interpretation zufolge werden Arbeitssüchtige bereits in der Kindheit auf ein Verhaltensmuster festgelegt, das sich an Werthaltungen orientiert, die mit Leistung und Produktivität in enger Verbindung stehen. In der Arbeit findet der Süchtige ein Medium, das soziale Anerkennung mit sich bringt und womit er sein Selbstwertgefühl stärken kann. Doch während soziale Anerkennungsmuster eigentlich eine unverzerrte Selbstverwirklichung und einen souveränen, selbstbestimmten Lebensentwurf ermöglichen sollten, dient die Arbeit für die Süchtigen als Grundlage für ein mögliches übersteigertes Geltungsbedürfnis. Es handelt sich um ein krankhaftes Verlangen nach sozialer Anerkennung durch Arbeit, um eine zwanghafte Orientierung am Anerkennungsmuster Arbeit. Das Subjekt gerät in einen unaufhörlichen Kreislauf von Geltungssucht und Prestigeverlangen. Es versucht sich ein höheres Maß an sozialer Anerkennung zu verschaffen, täuscht bestimmte Fähigkeiten vor und wird zu steter Selbstpräsentation genötigt. Etwas anders gelagert ist folgender Erklärungsversuch: Demnach kann die Arbeitssucht – wie andere Suchten auch – auf einen in der Kindheit erlebten Mangel an sozialer Anerkennung oder Missachtungserfahrungen zurückgeführt werden. Die Sucht nach Arbeit ist dann der Versuch des Subjekts, das Bedürfnis nach sozialer Anerkennung zu substituieren, das insbesondere in einer alle affek16
Vgl. Poppelreuter 2004, 10-12.
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tiven Anerkennungsverhältnisse umfassenden Sphäre unerfüllt geblieben ist. In der frühkindlichen Phase muss das Individuum in seiner Bedürfnisstruktur anerkannt werden, damit ein erstes, grundlegendes Verhältnis der wechselseitigen Anerkennung heranwächst. In der logisch-genetisch vorgängigen ersten Anerkennungssphäre bilden die Subjekte ein Selbstvertrauen aus, das für die späteren praktischen Selbstverhältnisse grundlegend ist. Nach einer psychoanalytisch fundierten anerkennungstheoretischen Lesart kann ein arbeitssüchtiges Verhalten dann auch auf eine mangelhafte Befriedigung dieser affektiven Bedürfnisnatur des Kindes zurückgeführt werden. Den Arbeitssüchtigen ist es bereits im frühkindlichen Stadium nicht ermöglicht worden, eine belastbare Ich-Identität zu entwickeln. Dieser Erklärungsansatz steht mit einem familiendynamischen Modell im Zusammenhang, wonach Arbeitssucht „als Symptom eines dysfunktionalen Familiensystems in der Kindheit“17 betrachtet werden kann. In einem solchen dysfunktionalen Familiensystem vererbt sich die Arbeitssucht über Generationen. Nach einer solchen Lesart wurden die affektiven Bedürfnisse des arbeitssüchtigen Subjekts niemals richtig anerkannt und befriedigt. Stattdessen wird die Anerkennung in solchen familiären Strukturen stets an Bedingungen geknüpft. „Dadurch, dass Zuneigung nie vorbehaltlos gewährt wird, entstehen Minderwertigkeitsgefühle und Versagensängste, die durch noch mehr Anstrengung und exzessives Arbeiten zu kompensieren versucht werden.“18 Der Arbeitssucht wohnt ein Moment des Vergessens19 inne: Der Süchtige „vergisst“, dass Arbeit nur eine mögliche Anerkennungsform ist, mit der er soziale Anerkennung erlangen kann. Im Kampf um Anerkennung fixiert sich das Subjekt so sehr auf eine spezifische Anerkennungsform, dass es sich durch diese Verabsolutierung selbst verliert bzw. sich im Kontext eines Anerkennungsgeschehens selbst verdinglicht. Das Subjekt vergisst in seinen Erkenntnis- und Handlungsvollzügen, dass es sich letztlich einem vorgängigen Akt der sozialen Anerkennung verdankt. Diese Anerkennungspathologie, die das Ergebnis einer Anerkennungsvergessenheit ist, können die Subjekte nur schwer durchbrechen, da die Besonderheit des arbeitssüchtigen Verhaltens gerade in der sozialen Dynamik, das heißt der hohen gesellschaftlichen Akzeptanz der Arbeit begründet liegt. Und die positive Besetzung des Begriffs der Arbeit, die Funktion als sozialer Inklusionsmechanismus, die der Erwerbsarbeit besonders in den westlichen Industrienationen zukommt, steht einer kritischen Bewertung der Arbeit im Wege. Arbeit gilt als sozial akzeptierte Norm und als sozial wünschenswerter Vollzug. Darüber hinaus fördern gerade ein emphatischer Arbeitsbegriff und die 17 18 19
Poppelreuter 2004, 12. Poppelreuter 2004, 12. Vgl. dazu Honneth 2005.
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damit einhergehenden Arbeitsformen ein arbeitssüchtiges Verhalten. Aus diesem Grund ist sowohl die medizinisch-psychologische Diagnose als auch Behandlung der Arbeitssucht sehr schwierig. 4
Theologische Erkundungen – eine gnadentheologische Heuristik
Für den Frankfurter Soziologen Ulrich Oevermann ist es „möglich, auch dort, wo durch Säkularisierung die religiösen Inhalte oder Mythen vor der wissenschaftlichen Rationalität verdampft sein sollten, von der strukturellen Kontinuität der Religiosität in der Bewährungslogik zu sprechen“.20 Trotz der Säkularisierung unterliegt das moderne Subjekt einer sozialen Dynamik der Bewährung, welche eine religiöse Signatur trägt bzw. das säkulare Überbleibsel einer theologischen Figur ist: Der Mensch muss sich vor Gott bewähren, er kämpft um einen gnädigen Gott. An Max Weber anschließend, sieht Oevermann in der Arbeit den neuen, für das moderne Subjekt evidenten Bewährungsmythos. Schon für den religiösen Menschen galt der Erfolg in und mit der Arbeit als Indikator für das Gnadenhandeln Gottes. Das säkularisierte Subjekt kann die theologische Semantik zwar abstreifen und sie in eine säkularisierte Figur transformieren, doch die Logik der Bewährung bleibt strukturell erhalten: Die Arbeit ist die Quelle zur Selbstverwirklichung, beziehungsweise die Teilhabe an der Arbeit ist die Voraussetzung gesellschaftlicher Anerkennung. Eine gnadentheologische Heuristik ermöglicht einen anderen Blick auf das Phänomen der Anerkennungsvergessenheit und hilft, die Herkunft der Pathologien der modernen Gesellschaft zu erkunden. Eine solche theologische Heuristik geht über eine nachmetaphysische Anerkennungstheorie hinaus und ist insofern eine – positiv zu verstehende – Zumutung an die säkularen Zeitgenossen.21 Es handelt sich dabei um eine Suchbewegung und Spurensuche, die in erster Linie eine eigene Fragestellung zu entwickeln und argumentativ zu festigen versucht: Inwieweit sind Anerkennungspathologien (konkret die Arbeitssucht) strukturell mit einer falsch verstandenen religiösen Rechtfertigungslehre verbunden? Und inwieweit stellen religiöse Traditionen eine Erkenntnisquelle für eine anerkennungstheoretisch fundierte Gesellschaftskritik dar? Eine gnadentheologische Heuristik orientiert sich an den Ur-Kunden christlicher Rechtfertigungstheologie, das heißt an der Grundformulierung des Apostels Paulus. Der theologische Lehr- oder Basissatz der paulinischen Rechtfertigungslehre ist uns im Galater- (Gal 2,16) und Römerbrief (Röm 3,28) überliefert. Paulus 20 21
Oevermann 2001, 32. Vgl. zu einer solchen nachmetaphysischen Reformulierung der Hegel’schen Gedanken: Honneth 2003b, 107-225; Honneth 2001; Honneth 1997, 25-41.
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entfaltet in diesen neutestamentlichen Briefen eloquent seine Gnadentheologie beziehungsweise Rechtfertigungslehre. So formuliert er im zweiten Kapitel des Galaterbriefes: „Nicht wird gerechtfertigt der Mensch aus den Werken des Gesetzes, wenn nicht durch den Glauben an Jesus Christus.“ Diese grundsätzliche Aussage des Theologen steht in sich selbst und ist situationsunabhängig.22 Aufgrund der Schuldverstrickung des Menschen wird der Gnadenakt Gottes zu einem Essential paulinischer Theologie. Ursprünglich wollte Paulus mit seiner Rechtfertigungstheologie die Zulassungsbedingungen zur christlichen Heilsgemeinde formulieren. Der geschichtliche Kontext der für die Rechtfertigungstheologie relevanten Paulusbriefe ist ein Streit in der christlichen Gemeinde um den Status der Heidenchristen. Die Auslegung der biblischen Texte zeigt, dass es hierbei nicht um eine Polemik gegen das jüdische Gesetz geht, sondern um eine Kritik an einer verkehrten Gesetzespraxis. Doch von diesem geschichtlichen Kontext abgehoben, geht es der Rechtfertigungstheologie des Paulus um die Erlösung des Menschen vom Zwang der steten und zugleich immer unzureichenden Selbstrechtfertigung. Im geschichtlichen Fortgang wird die Rechtfertigungslehre dann zur Magna Charta der reformatorischen Theologie.23 Schon mit seinem Eintritt in den Erfurter Konvent der observanten Augustinereremiten wollte der spätere Reformator Martin Luther (1483–1546) seine religiösen Heilsängste bekämpfen. Im Zuge seiner theologischen Forschungen und der religiösen Suche nach einem gnädigen Gott setzte sich Luther mit der Gnadentheologie seines Ordenspatrons Augustinus und mit den neutestamentlichen Zeugnissen auseinander. Luther wollte die Gläubigen mit seiner Rechtfertigungstheologie aus einem religiösen Leistungswahn befreien, der sich unter anderem in einer pervertierten sakramentalen Bußpraxis und dem (monetären) Ablasshandel äußerte. Es ging ihm um die Frage, wie die absolute Asymmetrie zwischen Gott und Geschöpf überwunden werden kann. Diese kann seines Erachtens nicht durch irdische Werke gelingen, sondern ausschließlich durch ein Gnadengeschehen. In dieses ist der Glaubende bereits vorgängig zu seinen expliziten Glaubensäußerungen eingebunden. Somit ist die Gnade für Luther die theologische Antwort auf eine anthropologische Erkenntnis, nämlich dass der Mensch nicht das Vermögen besitzt, sich selbst zu leisten oder selbst zu vollenden. Theologisch-anthropologisch gesprochen ist der Mensch auf einen äußeren, unbedingten Gnadenakt angewiesen. Er kann sich die 22 23
Vgl. zur Exegese der Textstellen näher: Theobald 1999, 131-192. Die Einheit der lateinischen Kirche ist im Streit um das richtige Verständnis der Rechtfertigungslehre zerbrochen. Allerdings gibt es in letzter Zeit Versuche, sich über dieses umstrittene theologische Gebiet zu verständigen. Die „Gemeinsame Erklärung“ zur Rechtfertigungslehre ist der Versuch, die Schwierigkeiten zu überwinden und damit den Weg zur Einheit der christlichen Kirchen zu bereiten. Trotz dieser ökumenischen Annäherungen soll an dieser Stelle nicht verschwiegen werden, dass im Folgenden sicherlich eher eine katholische Perspektive zum Tragen kommt.
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Gnade nicht erarbeiten, weil sich durch eine solche theologische Position der Heilsprozess verkehren würde. Nicht Gott, sondern der Mensch würde initiativ werden. Die spätmittelalterliche Religiosität deutet tatsächlich auf eine solche theologische Konzeption hin, die die Reformatoren deshalb aus theologischen Gründen in aller Schärfe ablehnen und ihre Gegenposition somit ebenfalls eine Radikalisierung mit sich bringt. Im Anschluss an die protestantische Rechtfertigungstheologie hat die römisch-katholische Kirche dann im Konzil von Trient (1545–1563) einen Rechtfertigungstraktat formuliert und versucht, in eine Auseinandersetzung mit der Reformation zu treten beziehungsweise Verkürzungen in der zeitgenössischen Glaubens- und Frömmigkeitspraxis des frühen 16. Jahrhunderts zu korrigieren. Die Theologie kann an die anthropologische These anknüpfen, dass soziale Anerkennung für die Entwicklung der menschlichen Identität notwendig ist, diese These um ein gnadentheologisch reformuliertes Verständnis des Anerkennungsgeschehens anreichern und die anerkennungstheoretischen Diskurse so in neue Verstehenshorizonte übersetzen. Sozialpsychologisch lässt sich bei der Entwicklung des Menschen ein Vorrang der Anerkennung vor dem Erkennen rekonstruieren. Diese sozialpsychologische Erkenntnis kann durch die theologische ergänzt werden, dass es einen Vorrang der Gnade vor dem menschlichen Handeln gibt. Die Beziehung zwischen Gott und Mensch ist nicht an einen bestimmten Wert der menschlichen Person geknüpft, sondern das Wirken der Gnade ist das elementare Beziehungsgeschehen. In diesem Anerkennungsakt Gottes kommt die absolute Asymmetrie zwischen ihm und Geschöpf zum Ausdruck. Bei der Gnade Gottes geht es um einen vorgängigen Anerkennungsakt, der allen historisch kontingenten gesellschaftlichen Anerkennungsformen zugrunde liegt. Gott versieht die menschliche Existenz mit einem positiven Vorzeichen; diese theologische Erkenntnis kann sich dann entlastend auf den Gläubigen auswirken und befreit ihn von einem Leistungsdenken. Der göttliche Anerkennungsakt liegt unterhalb der Schwelle wechselseitiger Anerkennung, die die Bejahung spezifisch menschlicher Eigenschaften anspricht. Damit wird – theologisch gesprochen – die menschliche Lebensweise von einem vorgängigen Ereignis der Anerkennung getragen, einem ursprünglichen Akt der ungeschuldeten Zusage Gottes. Die menschliche Existenz ist eine sich verdankende Existenz. Die Gnadentheologie gibt einen Einblick in die Strukturen vorgängiger Anerkennung, der einer Anerkennungstheorie aufgrund ihrer nachmetaphysischen Ausrichtung versperrt ist. Diese bezieht sich in ihrer Aktualisierung der Hegel’schen Figur eines Kampfes um Anerkennung auf eine empirisch abgesicherte Phänomenologie der Anerkennungssphären. Dagegen kann die christliche Theologie das anerkennungstheoretische Modell um eine spezifisch theologische Sicht ergänzen. Gott schenkt keine Freiheit auf Bewährung, der Gnadenakt ist unbedingt. Damit sichert die
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Gnadentheologie, dass der Mensch ethisch keine Vorleistungen zu erbringen hat, mit denen er sich die Gnade Gottes sichern müsste (und könnte). Insofern stellt die Rechtfertigungslehre trotz ihres theologischen Charakters den Menschen in den Mittelpunkt. Eine gnadentheologische Heuristik ist eine geeignete Diagnoseform, um gesellschaftliche Deformationen oder Pathologien aufzeigen zu können, die sich in anerkennungstheoretischer Semantik unter dem Stichwort der gesellschaftlichen Anerkennungsvergessenheit oder Anerkennungspathologien subsumieren lassen. Für die tiefer gehende Analyse der Arbeitssucht eignet sich eine gnadentheologische Heuristik auch deshalb, weil theologiegeschichtlich zugleich darauf aufmerksam gemacht werden kann, dass in einer falsch verstandenen Rechtfertigungslehre die Quelle für ein übersteigertes Arbeitsethos und damit für ein arbeitssüchtiges Verhalten bereitgestellt wird. Das protestantische Arbeitsethos ist das Resultat mangelnder Gnadenerfahrung. Der Erfolg in der Arbeit wird im Calvinismus zum Gradmesser der den Gläubigen zuteilgewordenen göttlichen Gnade. Durch ihn wird die Gewissheit und Sicherheit des Gnadenstandes vermittelt. Grund für eine solche Entwicklung ist für Max Weber die fehlende Vermittlung eines Gnadenverständnisses durch die Sakramente.24 Gleichzeitig zeigt diese theologiegeschichtliche Erfahrung einer Verkehrung der Rechtfertigungstheologie, dass die Gnade Gottes nicht nur in einer bloß intellektuellen Einsicht erfahrbar ist. Die gläubige Erfahrung der Gnade muss praktisch werden, und das bedeutet, dass sich diese Erfahrung in der Praxis der Christen niederschlagen muss. Aufgrund der existenzialen Situiertheit des Subjekts in der Gnade Gottes muss sich das Subjekt auch in einer bestimmten Weise existenziell situieren: Es muss in einer Freiheit zu sich selbst und den kontingenten, historischen Anerkennungsmustern leben können – ohne diese Anerkennungsmuster zu verleugnen. Es geht um ein kritisches Selbstverhältnis beziehungsweise um eine explizite Selbstannahme.25 Aus der Perspektive einer gnadentheologischen Heuristik heraus muss ein therapeutischer Ansatz dem Arbeitssüchtigen wieder einen praktischen Zugang zu der Erfahrung vorgängiger Anerkennung eröffnen helfen und zugleich die Missachtungserfahrungen des Subjekts bearbeiten.26 5
Ausblick
Einer naiven Adaption der theologischen Gnadenlehre in den Kontext einer (nachmetaphysischen) Anerkennungstheorie stehen aber immer noch einige 24 25 26
Vgl. Weber 2000, 81. Vgl. dazu Tietz 2005. Zur gnadentheologisch fundierten Therapie von Suchten vgl. Bell-D’Avis 2006.
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Probleme entgegen, die an dieser Stelle nur benannt werden können und aus denen sich ein ambitioniertes Arbeitsprogramm ergibt. Müssen die sozialen Anerkennungsformen nicht ein Element des Unbedingten beinhalten, um den Menschen aus seiner Selbstbezüglichkeit zu lösen und vor einer Anerkennungsvergessenheit zu bewahren? Bejaht man im Sinne der oben gemachten Ausführungen diese Frage, dann entsteht das Problem, wie (und ob überhaupt) ein unbedingtes, vorgängiges theologisches Gnadenverständnis im Rahmen einer Anerkennungstheorie kontextualisiert werden kann. Kann der transzendente Gnadenakt in ein immanentes Anerkennungsmuster transformiert werden? Kann in der Welt ein institutionalisiertes und damit bedingtes Anerkennungsmuster etabliert werden, das der Logik des Unbedingten noch entspricht? Schon in der theologischen Tradition ist die Frage nach der Erfahrbarkeit der Gnade kontrovers diskutiert worden. Angesichts der strukturellen Analogien zwischen Gnadentheologie und Anerkennungstheorie muss es der theologischen Seite deshalb auch immer um das richtige Verständnis von Passivität und Mitwirkung des Menschen gehen. Diese Verhältnisbestimmung ist ein anhaltender Streitpunkt der Rechtfertigungslehre, der nicht nur in die Zeit der Reformation zurückreicht, sondern seine Wurzeln schon in der Auseinandersetzung zwischen Augustinus und dem in Rom lehrenden Pelagius hat. Im sogenannten pelagianischen Streit trägt Augustinus auf dem Regionalkonzil von Karthago im Jahre 418 den Sieg davon, weil Pelagius hier lehramtlich verurteilt wird. Im Kern ging es zwischen Augustinus und Pelagius um die Frage, inwieweit der sündige Mensch auch ohne Gnade sein Heil in Freiheit finden kann. Obwohl Pelagius betonte, dass auch er der Theologie einer vorgängigen Begnadung des Menschen zustimmte, so ging er doch stärker als Augustinus von einer Gnadendynamik und weniger von einer Unheilsdynamik aus. Die anthropologische Prämisse der augustinischen Gnadentheologie lautet: Aufgrund der allumfassenden Macht der Sünde sind alle menschlichen Heilsbemühungen aussichtslos.27 Diese Anthropologie zeichnet einen Menschen, der radikal auf Gott verwiesen ist. Aber damit wirft sie das Verhältnisproblem zwischen göttlicher Gnade und menschlicher Freiheit auf. „Wenn der Mensch in seiner (Wesens-)Natur ohne Gnade total ohnmächtig, verloren, korrupt ist, dann bedarf er wesensnotwendig der Gnade, um überhaupt als Mensch werden zu können. Gnade wird zur conditio sine qua non für Menschsein. Damit wird sie dem Menschen geschuldet und so gerade als menschliches Wesensbedürfnis ‚naturalisiert‘. Vorbei ist es mit der Freiheit des 27
Aber wenn der Mensch nicht nur gnadenbedürftig und radikal auf Gottes Rechtfertigung angewiesen ist, sondern wenn der Gnadenakt derart unbedingt und vorgängig ist, dass der Mensch nicht einmal nach Gnade zu rufen vermag, dann ist eine Gnadentheologie als therapeutische Form ungeeignet. In aller Dringlichkeit zeigt sich dann aber das Problem einer göttlichen Vorherbestimmung.
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gnädigen Gottes, mit dem Geschenkcharakter seines Handelns.“28 Auch diese Gnadentheologie wird lehramtlich verworfen. Denn wird die Gnade zu einem wesensnotwendigen Merkmal des Menschseins, so wäre Gnade nicht mehr Gnade. Der Versuch einer Vermittlung zwischen Anerkennungstheorie und Gnadentheologie könnte daran scheitern, dass wir mit der Gnadentheologie vor „einem absolut analogiefreien, einmaligen Fall [stehen], nämlich der Relation zwischen Unendlichkeit und Endlichkeit“29, und dass damit keine Kategorien und Analogien zur Verfügung stehen, die das Gnadengeschehen angemessen in ein immanentes Anerkennungsgeschehen übersetzen können. Und doch bleibt es das vordringliche theologische Anliegen, das Beziehungsgeschehen zwischen Gott und Mensch anhand der konkreten menschlichen Wirklichkeit zu erläutern. Die Gnade Gottes muss eine Entsprechung in der menschlichen Erfahrung finden. So lassen sich Liebes- und Freundschaftsbeziehungen zwar auch in soziologisch nüchterner Sprache „erklären“, doch den normativen Überschuss dieser affektiven Beziehungen können solche Erklärungen nicht einfangen. In diesem Sinne können bestimmte zwischenmenschliche Erfahrungen aus einer theologischen Perspektive als unbedingte Gnadenerfahrungen gedeutet werden. Literatur Bell-D’Avis, Simone (2006): Hilft Gott gegen Sucht? Eine fundamentaltheologische Grundlegung der Suchtseelsorge, Münster: LIT Verlag. Bohmeyer, Axel (2005): Anerkennung und Arbeit, in: Crüwell, Henriette/Jakobi, Tobias/Möhring-Hesse, Matthias (Hrsg.), Arbeit, Arbeit der Kirche und Kirche der Arbeit. Beiträge zur Christlichen Sozialethik der Erwerbsarbeit. Festschrift zum 68. Geburtstag von Friedhelm Hengsbach SJ, Münster: LIT Verlag, 214-224. Bohmeyer, Axel (2006): Jenseits der Diskursethik. Christliche Sozialethik und Axel Honneths Theorie sozialer Anerkennung, Münster: Aschendorff Verlag. Gabriel, Ernst (1962): Die Süchtigkeit. Psychopathologie der Suchten, Hamburg: Neuland-Verlagsgesellschaft. Greshake, Gisbert (1977): Geschenkte Freiheit. Einführung in die Gnadenlehre, Freiburg i. Br. – Basel – Wien: Herder Verlag. Heide, Holger (Hrsg.) (2002): Massenphänomen Arbeitssucht. Historische Hintergründe und aktuelle Bedeutung einer neuen Volkskrankheit, Bremen: Atlantik Verlag. Honneth, Axel (1997): Anerkennung und moralische Verpflichtung, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, 51. Jg., Nr. 1, 25-41. Honneth, Axel (2000): Die soziale Dynamik von Mißachtung. Zur Ortsbestimmung einer kritischen Gesellschaftstheorie, in: ders.: Das Andere der Gerechtigkeit. Aufsätze zur praktischen Philosophie, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 88-109. 28 29
Greshake 1977, 65. Greshake 1977, 87.
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Diagnose Grenznutzen – Die Vereinbarkeit von Arbeit und Leben aus ökonomischer Perspektive am Beispiel der Klinikärzte Diagnose Grenznutzen
Tim Heemsoth und Christopher Wratil 1
Die Diskussion um die Vereinbarkeit von Arbeit und Leben
Deutschland ist ein Land voll Bauchschmerzen. Alleinerziehende Mütter beschweren sich über zu wenig Kinderbetreuung, Nachtarbeiter können am Leben ihrer Familien kaum teilhaben, Lokomotivführer fühlen sich ungerecht entlohnt, die Generation Praktikum – gar nicht. All diese Phänomene werden öffentlich unter anderem unter dem Aspekt der Vereinbarkeit von Arbeit und Leben diskutiert. Dabei wird vor allem die Frage gestellt „Wie kann die Vereinbarung von Arbeit und Leben verbessert werden?“ Dass bei dieser breiten Extension des Begriffs die Frage „Was ist eigentlich die Vereinbarung von Arbeit und Leben?“ selten gestellt wird, ist aus unserer Sicht erstaunlich: Denn wie sollen Leitbilder, Modelle oder Ideen für eine bessere Vereinbarung von Arbeit und Leben entwickelt werden, wenn der Begriff nicht klar definiert ist? Eben jene selten gestellte Frage ist deshalb die Forschungsfrage dieses Beitrages. Die Vereinbarkeit von Arbeit und Leben ist in der Vergangenheit vornehmlich Gegenstand soziologischer Forschung gewesen. Die Ergebnisse, die bisher erzielt wurden, sind aus unserer Sicht leider nur wenig zufriedenstellend. Oft wird über eigentlich einfache Sachverhalte ein theoretischer Überbau gestülpt, der jedoch selten die erhoffte Erweiterung des Erkenntnishorizonts leisten kann.30Aufgrund dieser Tatsache erscheint es uns sinnvoll, das Forschungsfeld um die Vereinbarkeit von Arbeit und Leben für andere Wissenschaften zu erschließen. Dieser Beitrag versucht, die Problematik der Vereinbarkeit von Arbeit und Leben ökonomisch zu fassen. Wir werden zeigen, dass sich das individuelle Empfinden der Vereinbarung von Arbeit und Leben unter Verwendung der Grenznutzentheorie kohärent erklären lässt. Unsere Interpretation ist – wie wir zeigen – mit einer Reihe empirischer Evidenzen vereinbar und öffnet den Blick für mannigfaltige Handlungsmöglichkeiten des Individuums, aber auch der Gemeinschaft, die zu einer besseren Vereinbarung von Arbeit und Leben beitragen. 30
Ein Beispiel hierfür ist aus unserer Sicht Manske (2003).
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Tim Heemsoth und Christopher Wratil
Unsere ökonomische Analyse verwertet Ergebnisse einer qualitativen Feldstudie: Wir führten elf 60- bis 90-minütige problemzentrierte Leitfadeninterviews mit Klinikärzten aus Oldenburg und Köln im Zeitraum März bis Oktober 2006, in denen wir sie zu ihrer Lebensgestaltung, ihrem Arbeitsalltag und ihren Arrangements zwischen Arbeit und Leben und dessen Bedeutung für Glück befragten. Die Wahl des Untersuchungsgegenstands Klinikarzt geschah in Zusammenhang mit der öffentlichen Diskussion im Frühjahr 2006, die explizit unter Bezugnahme auf die schlechten Arbeitsbedingungen im Krankenhaus die schlechte Vereinbarkeit von Arbeit und Leben für Klinikärzte thematisierte. Wir werteten das Interviewmaterial qualitativ aus, indem wir Schlüsselzusammenhänge und -konstruktionen aufdeckten. Auf der Grundlage dieser empirischen Daten und vor dem Hintergrund der Grenznutzentheorie entwickelten wir das Grenznutzen-Kombinationen-Modell (GKM), das die Was-Frage beantwortet und damit die Beantwortung der Wie-Frage überhaupt erst ermöglicht. Das GKM wird im zweiten Abschnitt behandelt, im dritten wird exemplarisch an den Klinikärzten gezeigt, wie Individuen oder Kollektive eine Verbesserung der Vereinbarkeit von Arbeit und Leben erreichen können. 2
Das Grenznutzen-Kombinationen-Modell
Im Folgenden wird das GKM vorgestellt, das die Was-Frage beantwortet. Zuvor müssen jedoch Annahmen expliziert werden, die Grundlage der weiterführenden Überlegungen sind. 2.1 Grundlegende Annahmen Arbeit und Leben Im Folgenden wird davon ausgegangen, dass Arbeit und Leben zwei zeitlich getrennte Bereiche sind. Unter dem Begriff Arbeit werden alle Tätigkeiten im Rahmen von Erwerbsarbeit zusammengefasst, alle Tätigkeiten außerhalb der Erwerbsarbeit fallen unter den Begriff Leben. Ein Individuum teilt seine Zeit damit zwischen Leben und Arbeit auf, andere Tätigkeiten existieren per definitionem nicht.
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Mensch im Modell Der Mensch im GKM verfolgt mit all seinen Entscheidungen und Tätigkeiten den Zweck Glück. Langfristig wählt er in Entscheidungssituationen die Möglichkeit, die ihm das größte Glück beziehungsweise den größten Nutzen stiftet.31 Der Mensch reagiert zudem mit einer endlichen Reaktionsgeschwindigkeit auf Veränderungen in seiner Umwelt32: Er erfasst diese zunächst, überdenkt und wägt verschiedene Reaktionsmöglichkeiten ab, erfasst neue Veränderungen, die sich womöglich in der Zwischenzeit eingestellt haben, und agiert zeitweise gewohnheitsmäßig. Die eigentliche Reaktion passiert erst nach einer gewissen Zeitspanne. Nutzen Was den größten Nutzen bringt, ist rein subjektiv zu beantworten: Geld als Arbeitslohn kann Nutzen stiften, im Privatleben kann Partnerschaft glücklich machen, ob und inwieweit, hängt vom Einzelnen ab. Zudem sind Nutzen additiv und prinzipiell substituierbar: Ein Kuss der Freundin lässt sich durch eine gewisse Menge an Geld ersetzen.33 Jede Tätigkeit stiftet einen Nutzen. Die Arbeit stiftet beispielsweise Nutzen durch ein Gehalt, soziale Anerkennung, Selbstverwirklichung, Freude an der Arbeit usw. Das Leben stiftet Nutzen durch Freude in der Freizeit, Zeit mit dem Partner oder Entspannung. Von dem genauen Zustandekommen der Nutzen von Leben beziehungsweise Arbeit sowie von den Entscheidungen zwischen verschiedenen Tätigkeiten in Leben oder Arbeit wird abstrahiert. Wenn mehr Zeit für Arbeit beziehungsweise Leben aufgewendet wird, dann entsteht mehr Nutzen, Glück. Allerdings ist dieser Zusammenhang unterproportional, der Grenznutzen nimmt folglich ab, wie in Abbildung 1 deutlich wird (vgl. Gossen 1927).34 31 32
33 34
Als zählbare Größe ist mit Glück und Nutzen im Folgenden dasselbe gemeint. Da Menschen nicht sofort auf Veränderungen reagieren, können sie kurzfristig gegen den höchsten erzielbaren Nutzen handeln, langfristig werden sie sich zunehmend umstellen und ihren Nutzen maximieren. Auch verfehlen Menschen manchmal den höchsten Nutzen, weil sie einer Handlungsoption einen zu hohen Nutzen zurechnen und von ihr enttäuscht werden. Diese Annahme führt weg von einer unrealistischen Rationalitätsvorstellung der neoklassischen Theorie. Die Substituierbarkeit gilt nur, wenn mit dem Substitut auch wirklich ein gleich hoher Nutzen produziert werden kann: Wahrscheinlich wird selbst ein unbestimmter Konsum an Bananen nicht den Nutzen einer erfüllten Partnerschaft substituieren können. Der zusätzliche Nutzen (Grenznutzen) vom dritten Glas Bier ist größer als der vom siebten, ebenso ist der Nutzen von der vierten Arbeitsstunde in der Regel größer als der von der zehnten. In den folgenden Beispielen wird immer von einem positiven Grenznutzen ausgegangen, dies erleichtert die Verständlichkeit des Modells. Letztlich spielt nicht die absolute Höhe des Grenznutzens, sondern nur der Vergleich zweier Grenznutzen eine Rolle.
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Abbildung 1:
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Beispiel einer Nutzenkurve.
Der Nutzen bestimmt auch, wie ein Mensch sein begrenztes Zeitbudget von 24 Stunden optimal auf Arbeit und Leben verteilt. Wenn er den Eindruck hat, dass ihm eine Stunde mehr Leben mehr Nutzen bringen würde, als er derzeit durch die letzte Stunde Arbeit an Nutzen gewinnt, dann wird er langfristig weniger arbeiten und mehr leben. Hat er dann immer noch den Eindruck, dass eine Stunde mehr Leben mehr Nutzen bringt, als er durch eine Stunde weniger Arbeit an Nutzen verliert, wird er wieder mehr leben. Diese Anpassung läuft so lange, bis dem Menschen der Nutzen, den er durch die letzte Stunde Arbeit gewinnt, gleich dem Nutzen erscheint, den er durch eine weitere Stunde Leben gewinnen könnte. Diesen Sachverhalt hat der Ökonom Hermann Heinrich Gossen formuliert. Nach dem zweiten Gossen’schen Gesetz verteilen Menschen die Zeit auf zwei Tätigkeiten so, dass der Grenznutzen bei beiden Tätigkeiten identisch ist (vgl. Gossen 1927). Ist der Grenznutzen einer Tätigkeit größer als der der anderen, so lohnt es, diese Tätigkeit länger zu tun und die andere kürzer. 2.2 Das Grenznutzen-Kombinationen-Modell Das Problem der optimalen Zeitverteilung auf Arbeit und Leben lässt sich nun in einem 4-Quadranten-Schema darstellen (vgl. Abbildung 2).
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Es wird zunächst der dritte Quadrant betrachtet35: Nach links ist die Arbeitszeit, nach unten die Zeit für Leben abgetragen. Auf der Zeitrestriktion lassen sich alle möglichen zeitlichen Verteilungen zwischen Arbeit und Leben ablesen. Theoretisch kann ein Mensch 24 Stunden arbeiten oder leben oder jede andere Verteilung auf der Zeitrestriktion wählen.
Abbildung 2:
Beispiel einer Situation im GKM, bei der Arbeit und Leben optimal vereinbart sind.
Von allen Punkten auf der Zeitrestriktion ausgehend, ergeben sich alle möglichen Kombinationen von Grenznutzen von Arbeit und Leben, deren Werte sich jeweils auf der Grenznutzenkurve für Arbeit im zweiten Quadranten beziehungsweise auf der Grenznutzenkurve für Leben im vierten Quadranten ablesen lassen. Die Grenznutzenkurve für Arbeit ist vertikal gespiegelt, da die Zeit nach 35
Die Zählung der Quadranten erfolgt von rechts oben (1. Quadrant) gegen den Uhrzeigersinn.
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links und nicht nach rechts abgetragen ist. Die Grenznutzenkurve für Leben ist sowohl vertikal als auch horizontal gespiegelt. Das Gesetz des abnehmenden Grenznutzens bei zusätzlicher Zeiteinheit bleibt in beiden Fällen erhalten. Wegen der gewählten Darstellung sind im ersten Quadranten der Grenznutzen von Arbeit und der von Leben abgetragen. Von einer beliebigen Zeitverteilung ausgehend, lassen sich die Grenznutzen für Arbeit beziehungsweise Leben auf den jeweiligen Kurven im dritten und vierten Quadranten ablesen und im ersten in einem Punkt zusammenführen. Ermittelt man von der Zeitrestriktion ausgehend sämtliche Grenznutzen-Kombinationen im ersten Quadranten, so ergibt sich eine Kurve aller möglichen GrenznutzenKombinationen (GN-Kombi-Kurve). Vor dem Hintergrund der Vorüberlegungen, insbesondere des zweiten Gossen’schen Gesetzes, wird deutlich, dass ein Mensch mit individuellen Grenznutzenkurven seine nutzenmaximale Zeitverteilung realisiert, wenn sein Grenznutzen von Arbeit identisch mit dem von Leben ist. Grafisch lässt sich dies mithilfe einer 45°-Geraden im ersten Quadranten darstellen: Auf ihr sind die Grenznutzenwerte von Arbeit und Leben identisch. Der Schnittpunkt der 45°-Geraden mit der GN-Kombi-Kurve liefert den Punkt, von dem rückführend die nutzenmaximale Zeitverteilung abgelesen werden kann – dieses Optimum wird hier mithilfe des Kästchens dargestellt Es wird davon ausgegangen, dass Individuen mit der Vereinbarung von Arbeit und Leben eine nutzenoptimale Zeitverteilung zwischen Arbeit und Leben meinen, eine Situation, in der die Grenznutzen von Arbeit und Leben identisch sind. Auf der 45°-Geraden ist dies der Fall, sie wird deshalb Vereinbarungsgerade genannt. 2.3 Das Grenznutzen-Kombinationen-Modell vor dem Spiegel der Empirie Die Vereinbarungsgerade zeigt an, dass die Grenznutzen von Arbeit und Leben identisch sind. Warum sollte dies aber ein Indikator für die Vereinbarung von Arbeit und Leben sein? Es gibt zahlreiche empirische Befunde, die sich mit dem GKM und seiner Vereinbarungsgeraden sehr gut erklären lassen: In durchgeführten Interviews fiel auf, dass die überwiegende Zahl der Interviewpartner in Bezug auf die Vereinbarkeit von Arbeit und Leben vordergründig auf den Zeitaspekt zu sprechen kam, also entweder mehr Zeit für Arbeit oder mehr Zeit für Leben gefordert wurde. Das GKM stellt genau diese zeitliche Verteilungsfrage in den Vordergrund, weil sie unmittelbar mit Vereinbarkeit assoziiert wird. Neben der vordergründig betonten Zeitdimension zwischen Arbeit und Leben wurden von den Interviewpartnern, die sich „mehr Leben“ wünschten, allerdings in zweiter Linie auch noch andere Forderungen gestellt: Vor allem wurden
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als eine andere Lösung für die bessere Vereinbarkeit von Arbeit und Leben die Verbesserung der Arbeitsbedingungen sowie Gehaltserhöhungen angeführt. In Interviews kamen die Ärzte vor allem auf das Gehalt zu sprechen: „Also, die haben uns 1,5 Stunden vom Gehalt abgezogen (…) und das war bei mir der Punkt, wo ich gesagt habe: ‚So Jungs, jetzt könnt ihr irgendeinen anderen verarschen, aber nicht mehr mich.‘ Dann war nämlich Arbeit und Beruf, ne, wie war das? Arbeit und Leben nicht mehr miteinander zu vereinbaren, und dann bin ich ausgestiegen.“
Abbildung 3:
Eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen führt zu einer besseren Vereinbarung von Arbeit und Leben, obwohl sich an der zeitlichen Verteilung nichts geändert hat.
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Abbildung 4:
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Das GKM interpretiert Telearbeit als Verschiebung der Grenznutzenkurve für Arbeit, zusätzlich ist hier auch gezeigt, dass Arbeitsplatzfahrten eingespart werden können und damit Zeit für Leben gewonnen werden kann. Beide Effekte gemeinsam führen ins Gleichgewicht.
Auf den ersten Blick scheint überhaupt nicht offensichtlich, inwiefern ein direkter Zusammenhang zur Vereinbarkeit bestehen soll. Während der Einfluss von Gehalt auf die Vereinbarkeit von Arbeit und Leben in der uns bekannten Literatur nicht diskutiert wird, liefert diese eine Interpretation für Verbesserungen der Arbeitsbedingungen im Allgemeinen (gemeint ist etwa Arbeitsklima, Beanspruchung etc.): Bessere Arbeitsbedingungen führten zu höherer Arbeitszufriedenheit, was die Beanspruchung durch die Arbeit senkt und damit ein intensiveres Privatleben zulässt, so Hyman et al. (2005). Im GKM ist die Verbesserung der Arbeitsbedingungen ebenso wie eine Gehaltserhöhung
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durch eine Verschiebung der Grenznutzenkurve von Arbeit nach außen darzustellen (vgl. Abbildung 3). Dadurch kann im Idealfall der zunächst niedrigere Grenznutzen von Arbeit dem höheren von Leben angeglichen werden. Es herrscht wieder ein Gleichgewicht, die zeitliche Verteilung wird als optimal empfunden, obwohl sie sich nicht verändert hat. Das zuvor gefühlte Defizit an Privatleben ist verschwunden, weil die Arbeit plötzlich wieder viel mehr Spaß macht. Nach einer anderen Interpretation als der hier angenommenen strikten Trennung zwischen Arbeit und Leben bedeutet die Vereinbarung keine optimale zeitliche Verteilung zwischen zwei Sphären, sondern eine „gute Vermischung“ der beiden, wie ein Arzt sehr deutlich beschreibt: „Da kann man auch sagen, o.k., ich mach jetzt von dann bis dann Arbeit und von dann bis dann Privatleben. Das ist auch eine Vereinbarung. Für mich ist aber …, eine Vereinbarung geht bei mir eher in eine Vermischung mit rein.“
Ein Ansatz zu einer derartigen „Vermischung“ ist Telearbeit, bei der die Arbeit nicht mehr am Arbeitsplatz, sondern von zu Hause unter Zuhilfenahme von Kommunikationsmedien erledigt wird. Das GKM erklärt die Leistung solcher Modelle über eine positive Grenznutzenverschiebung für Arbeit, weil das Arbeiten von zu Hause aufgrund der Anwesenheit der Kinder oder der eingeschränkten Arbeitskontrolle als angenehmer empfunden wird (vgl. Abbildung 4). 2.4 Glück und Vereinbarung von Arbeit und Leben Die optimale Vereinbarung von Arbeit und Leben wird hinlänglich als etwas „Gutes“ empfunden. Das GKM zeigt, inwiefern dies zutrifft und wie die Vereinbarung von Arbeit und Leben Glück befördert. Da der Mensch für Arbeit und Leben den gleichen Grenznutzen anstrebt, weil dies nutzen-, also glückmaximierend ist, wird die Vereinbarungsgerade zur Potenzialgeraden für Glück: Je weiter die Grenznutzenkombination von der Vereinbarungsgeraden entfernt liegt, desto mehr kann das Glück noch durch eine zeitliche Umverteilung optimiert werden, desto höher ist das Glückspotenzial. Liegt die Grenznutzenkombination auf der Vereinbarungsgeraden, so kann das Glück nicht mehr durch zeitliche Umverteilung, sondern nur durch eine Verschiebung der Grenznutzenkurven befördert werden. Dies erklärt, warum die Vereinbarung von Arbeit und Leben förderlich für Glück ist, da sie die zeitliche Optimierung unter bestimmten Handlungsbedingungen (Grenznutzenkurven) meint. Warum ihr relativer und absoluter Einfluss auf Glück von verschiedenen Individuen aber völlig unterschiedlich bewertet werden kann, zeigt das Folgende: Wenn die Nutzenkurven eines Individuums
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für Arbeit und Leben sehr flach sind, befördert unter diesen Handlungsbedingungen eine zeitliche Optimierung den Nutzen. Damit ist aber nicht sicher, dass der Gesamtnutzen eine Schwelle überschreitet, ab der sich das Individuum als „glücklich“ bezeichnet (vgl. Abbildung 5).
Abbildung 5:
Eine schlecht qualifizierte Alleinerziehende mit zwei Kindern weist – in den bestehenden deutschen Sozialsystemen – einen sehr geringen Grenznutzen für Arbeit, aber einen relativ hohen für Leben auf. Durch eine Aufgabe ihrer Arbeit kann sie eine Vereinbarung zwischen Arbeit und Leben herstellen. Ihre Situation hat sich dadurch zwar verbessert, absolut kann sich die Alleinerziehende aber immer noch „unglücklich“ fühlen.
Auch lässt sich ein Phänomen relativ gut erklären, das in der Literatur regelmäßig Beachtung findet: In Befragungen, in denen die Vereinbarung von Arbeit und
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Leben und eine Gehaltserhöhung gegenübergestellt werden36, ziehen viele Menschen ein höheres Gehalt einer besseren Vereinbarung vor (vgl. bspw. Tailby et al. 2005). Dies lässt sich darüber erklären, dass der Nutzengewinn durch die Gehaltserhöhung ceteris paribus den Gesamtnutzen erhöht; erscheint diese Erhöhung größer als beispielsweise die durch eine zeitliche Optimierung ohne Gehaltserhöhung, wird die Gehaltserhöhung vorgezogen.
Abbildung 6:
36
Ein Kind verschiebt die Grenznutzenkurve für Leben nach außen. Ein bestehendes Ungleichgewicht wird dadurch größer, wenn die zeitliche Verteilung gleich bleibt. Trotzdem ist das Glück insgesamt befördert worden.
Nach der hier vertretenen Interpretation von Vereinbarung von Arbeit und Leben ist dies freilich eine unzulässige Gegenüberstellung, da eine Gehaltserhöhung ein Mittel zum Zweck der besseren Vereinbarung von Arbeit und Leben ist.
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Es sind auch Optionen denkbar, die die Vereinbarkeit sogar verschlechtern (beispielsweise Kinder, vgl. Abbildung 6), aber trotzdem vorgezogen werden, weil sie zwar die Differenz zwischen den Grenznutzen erhöhen, aber den Gesamtnutzen fördern. 3
Ideen für die Vereinbarkeit von Arbeit und Leben von Klinikärzten
Viele Ärzte klagen heute über eine schlechte Vereinbarkeit von Arbeit und Leben. Wie das GKM zeigt, ist damit eine Divergenz zwischen den Grenznutzen für Arbeit und Leben gemeint. Im Folgenden sollen Ideen und Ansätze für eine bessere Vereinbarkeit von Arbeit und Leben für Klinikärzte in Deutschland diskutiert werden. Es werden zunächst arztberufsspezifische, aber auch allgemeine Veränderungen aufgezählt, die zu einer Divergenz der Grenznutzen geführt haben könnten (3.1). Vor diesem Hintergrund werden schließlich Gestaltungsmöglichkeiten für eine bessere Vereinbarkeit von Arbeit und Leben der Klinikärzte aufgezeigt (3.2). 3.1 Status quo: Ärzte und die Vereinbarkeit von Arbeit und Leben heute Änderungen im Geschlechterverhältnis Die zunehmende Erwerbstätigkeit von Frauen hat gerade in der jüngeren Generation die Männer zu Anpassungsprozessen in Partnerschaften gedrängt. Stellte der wirtschaftliche Nutzen, den die Frau vom berufstätigen Mann zog, früher eine wichtige eheliche Leistung des Mannes dar, so hat dieser Nutzen durch die zunehmende Berufstätigkeit der Frau an Bedeutung verloren. Der Mann muss nun den wirtschaftlichen Nutzenverlust zunehmend durch andere Tätigkeiten substituieren. Beispielsweise kann dies durch eine größere Rolle in der Kindererziehung geschehen. Viele Männer wünschen sich mehr Zeit für die Familie. Weiterhin ist festzustellen, dass bei der zunehmenden Berufstätigkeit der Frau Kinder verstärkt Anlass für Anpassungsprozesse werden. Für den Arzt lohnt es sich demnach mehr als früher, verstärkt Zeit in die Familie zu investieren, das bedeutet, sein Grenznutzen von Leben steigt. Dies kann dazu führen, dass er vom Gleichgewicht in die Divergenz der Grenznutzen gerät. Die nun folgenden Sachverhalte lassen sich eher mit einer Veränderung, konkret einem Absinken, des Grenznutzens von Arbeit durch spezielle, arztberufsspezifische Veränderungen der Arbeitswelt erklären, was ebenfalls zu einer Divergenz der Grenznutzen führt. Der Arzt hat Arbeit und Leben nicht mehr miteinander vereinbart.
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Wegfall sozialen Ansehens und Status des Arztes Der Arztberuf ist zwar nach wie vor hoch angesehen, allerdings wurde in Interviews deutlich, dass die Erwartungen junger Ärzte, die sie zu Studienbeginn hatten, nicht erfüllt wurden: „Dieses hehre Bild der Ärzteschaft und dieses früher mal ‚Halbgott in Weiß‘ (…) (ist) sehr, sehr angeknackst (…) ich ziehe weniger Befriedigung aus meiner Arbeit als ich es mir wünsche.“
Ein mögliches Argument, das diese Annahme plausibel macht, ist die Tatsache, dass sowohl die Zahl der Ärzte als auch vor allem der Akademiker gestiegen ist (vgl. IAB 2002), weshalb der Arztberuf zunehmend relativiert wurde. Forderung nach Leistungsgerechtigkeit Ärzte absolvieren heute in Deutschland ein extrem anspruchsvolles Studium unter höchstem Konkurrenzdruck (vgl. Bargel et al. 2005: S. 20, S. 26), um dann in einen sehr ungeregelten Arbeitsalltag zu geraten. Wie in Interviews ersichtlich wurde, fühlen sich Ärzte heute im Vergleich zu anderen Akademikern mehr als früher unterbezahlt, auch weil Überstunden oft nicht entgolten werden. Die empfundene Ungerechtigkeit ist deutlich und vertreibt die Lust an der Arbeit. Arbeitsverdichtung In vielen Interviews wurde eine Arbeitsverdichtung beziehungsweise Intensivierung beklagt. Man müsse in der Arbeitszeit vor allem deutlich mehr leisten, deutlich mehr Untersuchungen durchführen, deutlich mehr Patienten versorgen, als dies noch früher der Fall gewesen sei. Bürokratie Als eine deutliche Verschlechterung ihres Arbeitens empfinden fast alle Ärzte den großen Bürokratieaufwand, der in den letzten Jahren exponentiell zugenommen habe. Diese Arbeit wird als stupide und frustrierend empfunden. Der folgende Vergleich eines interviewten Arztes stellt das Empfinden vieler Ärzte sehr gut dar: „Wenn der Betriebswirt nach dem Studium die Vorstellung hat, er wird Manager, und er wird eventuell irgendwann einmal einen Betrieb führen, dann wird er (…) auch einfache Arbeiten machen, aber er wird damit nicht zufrieden sein, wenn er vorne immer noch den Eingang zusätzlich fegt, zu seiner Tätigkeit oben.“
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Hierarchie Während Werte wie „Selbstständigkeit“ in der deutschen Gesellschaft auf dem Vormarsch sind (vgl. Meulemann 2001) und viele Unternehmen mit antihierarchischen Organisationsstrukturen operieren, hat sich der Klinikalltag nicht mitentwickelt. Die fehlende Autonomie wird besonders von jungen Ärzten als belastend empfunden. 3.2 Gestaltungsmöglichkeiten für eine bessere Vereinbarung 3.2.1 Erster Weg: Zeitliche Umverteilungen Obwohl sich viele Klinikärzte wünschen, kürzer arbeiten zu können, setzen nur die wenigsten diesen Wunsch auch in die Realität um. Dabei existieren prinzipiell alle notwendigen Institutionen: Die Wochenarbeitszeit ist im Arbeitsvertrag geregelt, Überstunden sind rechtlich nicht vorgeschrieben. Warum die rechtlichen Institutionen ausgehebelt werden, soll im Folgenden analysiert werden. 3.2.1.1 Aushebelung der rechtlichen Institutionen Im Wesentlichen gibt es drei Mechanismen, die eine hohe Arbeitszeit begründen: Verantwortung gegenüber dem Patienten Den Ärzten ist bewusst, dass der Personalschlüssel auf der Abteilung zu schlecht ist, um damit eine aus ihrer Sicht adäquate Patientenversorgung sicherzustellen, falls lediglich die Arbeitszeit nach Vertrag erbracht würde. Das Verantwortungsgefühl gegenüber dem Patienten veranlasst sie zu Überstunden. Im Vergleich zu vielen anderen Berufen fühlt der Arzt eine besondere ethische Verantwortung, da er mit Menschen arbeitet, was die folgende Aussage eines interviewten Arztes sehr gut beschreibt: „Wenn um vier jemand kommt, und dem geht es schlecht, und der muss noch runter zum CT, und dann muss ich mit den Chirurgen sprechen, und dann muss ich sehen, dass es dem wieder einigermaßen besser geht oder dass der vielleicht noch auf Intensiv geht, dann kann ich nicht sagen: ‚Herr Schmidt, Mensch, bis morgen, das schaffen Sie, um acht Uhr bin ich wieder da.‘ Das geht eben nicht. Man arbeitet eben mit Menschen und nicht mit Papier.“
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Solidarität mit den Kollegen Den Ärzten ist bewusst, dass, wenn sie sich der Mehrarbeit entziehen, andere Kollegen dies aufzufangen versuchen werden. Sie sind sich bewusst, dass sie als „Trittbrettfahrer“ die Lage für die anderen verschlechtern und dieses Verhalten sozial negativ sanktioniert wird. Viele Ärzte zeigen sich wegen der sozialen Sanktion oder moralischen Gefühle solidarisch. Systematische Konditionierung durch Vorgesetzte Da die Chefärzte wünschen, dass die Klinik läuft, sind sie bei einem gegebenen Personalschlüssel auf die Mehrarbeit ihrer Stationsärzte angewiesen. Um dieser Forderung Nachdruck zu verleihen, wird ein Defektieren negativ sanktioniert. Ein Arzt beschreibt diesen Zusammenhang während der Befragung wie folgt: „In unserem Beruf ist es so, dass man eigentlich nur dann vernünftig ausgebildet wird, wenn man ein gewisses Engagement zeigt. (…) Ich sag mal, dass man auch erpressbar ist, was die Qualität der Ausbildung angeht. Also, der Chefarzt bestimmt letztlich, wer was in welcher Intensität lernt. Wer um vier Uhr nach Hause geht, der geht um vier Uhr nach Hause, und der steht am nächsten Tag dann nicht auf dem OP-Plan als Operateur zum Beispiel.“
Das Dilemma, das zu Überstunden führt, kann spieltheoretisch verdeutlicht werden: Zur Vereinfachung wird von zwei Ärzten ausgegangen, die beide dieselben Präferenzstrukturen aufweisen, weshalb ihre Auszahlungen für die jeweiligen Strategien symmetrisch sind.
Arzt 2
Arzt 1
geringe Arbeitszeit Mittlere Arbeitszeit hohe Arbeitszeit
geringe Arbeitszeit (5/5)
mittlere Arbeitszeit (4/8)
hohe Arbeitszeit (2/10)
(8/4)
(7/7)
(5/8)
(10/2)
(8/5)
(6/6)
von beiden präferiert Tabelle 1:
Ausbeutungsängste
NashGleichgewicht
Spieltheoretische Darstellung der Aushebelung der Arbeitszeitregelung
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Außerdem wird angenommen, dass das Arbeitsaufkommen derart groß ist, dass beide ihre Arbeitszeit beliebig steigern können, ohne dass ihnen sinnvolle Arbeit ausgeht. Andererseits ist die lebenswichtige Grundversorgung der Patienten aber immer gesichert, auch wenn beide Ärzte eine geringe Arbeitszeit wählen. Alle drei erwähnten Mechanismen für sich drängen jeden der beiden Ärzte zu Mehrarbeit: Das ethische Gewissen gegenüber dem Patienten kann am besten durch eine hohe Arbeitszeit beruhigt werden, die Solidarität gegenüber den Kollegen ist bei einer hohen Arbeitszeit eher erreicht, und eine hohe Arbeitszeit garantiert die Gunst des Chefarztes. Den drei hier diskutierten Mechanismen werden wahrscheinlich jedoch noch eine Menge anderer Effekte, besonders aus dem Bereich des Privatlebens, entgegenstehen, bei denen mittlere Arbeitszeit oder niedrige Arbeitszeit präferiert wird. Abstrahierend wurde hier eine generelle Präferenz für eine mittlere Arbeitszeit unterstellt. In einer Auszahlungsmatrix wird sich ein Nash-Gleichgewicht37 bei einer hohen Arbeitszeit einstellen: Egal, welche Strategie ein Arzt von seinem Kollegen erwartet, unter jeder der drei Strategien kann er selbst seinen Nutzen immer dadurch maximieren, dass er viel arbeitet. Eine hohe Arbeitszeit ist die dominante Strategie für beide Ärzte. Durch eine beidseitige mittlere Arbeitszeit könnten sich jedoch beide Ärzte im Vergleich zum Nash-Gleichgewicht besser stellen, dies spiegelt den Wunsch der Ärzte nach geringeren Arbeitszeiten wider. Die spieltheoretische Darstellung zeigt jedoch, dass kurzfristig keiner der Ärzte von seiner hohen Arbeitszeit abrücken kann, weil er sonst fürchten muss, dass der andere dies „ausbeutet“, indem er weiter viel arbeitet und sich so etwa die alleinige Gunst des Chefarztes erschleicht, was für jenen Kosten bedeuten würde. Langfristig lassen sich jedoch Auswege aus dem Nash-Gleichgewicht finden, Chancen für eine geringere Arbeitszeit sollen nun skizziert werden. 3.2.1.2 Auswege aus dem Nash-Gleichgewicht hin zu einer geringeren Arbeitszeit Zusammenschluss Wenn nur einer der beiden Ärzte im Spiel weniger arbeitet, hat er davon Nachteile. Wenn jedoch beide weniger arbeiteten, ginge es ihnen beiden besser. Beide können sich nun zusammenschließen und vereinbaren, weniger zu arbeiten. Wenn beide sich gegenseitig vertrauen und an die Abmachung halten wollen, sprechen sie gemeinsam beim Chefarzt vor und teilen ihm ihre Entscheidung mit. 37
Nash-Gleichgewicht, benannt nach dem Mathematiker John Forbes Nash Jr., meint ein strategisches Gleichgewicht in Spielen, von dem ausgehend kein einzelner Spieler für sich einen Vorteil ziehen kann, indem er seine Strategie ändert.
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In Interviews wurde berichtet, dass genau mit solchen Zusammenschlüssen von Ärzten innerhalb bestimmter Stationen eine Reduktion der Arbeitszeit erreicht wurde (etwa über den Zusammenschluss von Kinderärzten im Evangelischen Krankenhaus Bergisch Gladbach). Eine weitere Möglichkeit des Zusammenschlusses kann auf höherer Ebene durch Interessenverbände wie den Marburger Bund zustande kommen, der zuletzt in den Verhandlungen mit den Arbeitgebern eine bessere Arbeitszeiterfassung forderte. Solche Zusammenschlüsse sind jedoch einerseits schwieriger zu organisieren, andererseits profitieren diejenigen, die einen lokalen Zusammenschluss auf Stations- oder Krankenhausebene nicht zustande bekommen haben. Kündigung/Arbeitsplatzwechsel Eine Kündigung kommt verstärkt dann als Option infrage, wenn geringe Transformationskosten, geringe Kosten für den Wechsel des Arbeitsumfelds, vorliegen und andere Arbeitsangebote als eine bessere Alternative empfunden werden als eine kollektive Absenkung der Arbeitszeit. Ein Zusammenschluss zur kollektiven Absenkung der Arbeitszeit erscheint vor allem dann immer weniger nützlich, wenn der Personalschlüssel dermaßen schlecht ist, dass die ethischen Gewissensbisse bezüglich der Versorgung der Patienten als dominierend empfunden werden. In Interviews wurde die Arbeit in der eigenen Praxis, in der Computerbranche, in der medizinischen Forschung oder in einer Klinik im Ausland als Arbeitsalternativen genannt, die in Zusammenhang mit einer Kündigung regelmäßig erwogen werden. Neben dem Ziel der zeitlichen Umverteilung wird mit dem Arbeitsplatzwechsel meist auch eine gleichzeitige Verbesserung der Arbeitsbedingungen antizipiert, weshalb eine deutlich bessere Vereinbarkeit von Arbeit und Leben angenommen wird. 3.2.2 Zwischen den Wegen: Flexible Arbeitszeitmodelle Bei derzeitigen Wochenarbeitszeiten von bis zu 70 Stunden, wie einige Ärzte berichteten, geht eine Diskussion über flexible Arbeitszeitmodelle in den meisten Fällen am Ernst der Lage vorbei. Eine zukünftige Durchbrechung des Überstundenmechanismus wird hingegen den Weg frei machen für Verhandlungen über flexible Arbeitszeitmodelle. Manche flexiblen Arbeitszeitmodelle wirken rein zeitlich (z.B. Teilzeitarbeit), andere wirken auch oder ausschließlich über eine Verschiebung der Grenznutzenkurve für Arbeit (z.B. Telearbeit). In der Literatur wird die Stärke von flexiblen Arbeitszeitmodellen darin gesehen, dass es sich bei der Einführung von Arbeitszeitmodellen um ein Positiv-
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summenspiel handele, bei dem Arbeitnehmer und Arbeitgeber gemeinsam gewinnen könnten (vgl. Friedman et al. 1998). Die Hauptthese ist, dass die höhere Zufriedenheit der Arbeitnehmer sich positiv auf deren Produktivität auswirke und damit auch einen Nutzen für den Arbeitgeber darstelle. Dieser qualitative Zusammenhang soll hier nicht bestritten werden. Es sind aber zwei Gedanken daran anzuschließen: Erstens ist der Zusammenhang zwischen Arbeitszufriedenheit und Produktivität wahrscheinlich geringer als hinlänglich angenommen wird (vgl. Kirchler 2005: S. 258f.). Zweitens produziert die Einrichtung von Arbeitszeitmodellen auf der anderen Seite auch Kosten. In Hinblick auf den Klinikalltag muss der zweite Gedanke ernster genommen werden als in anderen Arbeitsumfeldern: Viele flexible Arbeitszeitmodelle wollen den Ärzten zwar ermöglichen, ihre Arbeitszeiten auf das Privatleben auszurichten, der Berufsalltag des Arztes erfordert jedoch umgekehrt, dass sich das ärztliche Privatleben an der Arbeit ausrichtet. Die Flexibilität des Arztes für seinen Beruf ist für die Arbeitgeber nicht zuletzt ein wichtiger Faktor zur Kosteneinsparung. Ob ein Produktivitätsfortschritt durch eine gesteigerte Arbeitszufriedenheit diese Kosten für den Arbeitgeber ausgleichen kann, ist im Einzelfall eher zu bezweifeln. Modelle wie Teilzeitarbeit (beispielsweise Halbtagsarbeit) und Jobsharing38, die noch am kostengünstigsten erscheinen, werden in den Augen vieler an hohe Arbeitszeiten gewöhnten Mediziner bereits zu weit gehen, könnten aber speziell für die Problematik der Kindererziehung als diskutable Modelle in Betracht gezogen werden. Damit wird deutlich, dass sich die Einführung von Arbeitszeitmodellen in der Klinik in den meisten Fällen für Arbeitgeber nicht lohnen wird. Die Wunderwaffe Arbeitszeitmodell reiht sich in dem hier behandelten Kontext in die Riege der Modelle für die Vereinbarkeit von Arbeit und Leben ein, um die letztlich zwischen verschiedenen Akteuren gerungen werden wird. 3.2.3 Zweiter Weg: Verschiebung der Grenznutzenkurven 3.2.3.1 Abbau des bürokratischen Aufwands In Interviews wurde der bürokratische Aufwand, den Ärzte für die Krankenkassen betreiben müssen, als sehr frustrierend beschrieben. Die Gründe liegen in der stupiden Arbeit der Codierung, die als arztfremd und unterfordernd empfunden wird und von der eigentlichen Arbeit mit dem Patienten abhält. Damit ist eine Verschiebung der Grenznutzenkurve für Arbeit nach innen expliziert: Die Arbeit 38
Zur Erklärung der Konzepte siehe Fauth-Herkner (2004).
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stiftet weniger Nutzen, weshalb das Ungleichgewicht zwischen Arbeit und Leben schlimmer gefühlt wird. Der Abbau des bürokratischen Aufwands für die Ärzte kann prinzipiell über zwei Wege erfolgen: Einerseits kann die Bürokratie überhaupt abgebaut werden, andererseits kann die Bürokratie von anderen Angestellten als den Ärzten übernommen werden. Langfristig wäre noch eine Einstellungsänderung der Ärzte zur Bürokratie denkbar, indem jene diese als „normales“ Element ihres Berufs und damit als weniger frustrierend empfinden würden. Abbau der Bürokratie überhaupt Aus dem ökonomischen Blickwinkel ist die Ausweitung der Bürokratie auf zwei konfligierende Forderungen der Versicherten zurückzuführen: Auf der einen Seite beauftragen sie die Krankenkassen, alle Leistungen auf ein positives Kosten-Nutzen-Verhältnis zu prüfen und nur diese vom Geld der Versicherten zu bezahlen. Auf der anderen Seite spüren sie als Kranke direkt nur den Nutzen und nicht die Kosten einer Leistung, weshalb die Kosten-Nutzen-Relationen fast aller Leistungen als positiv angenommen werden und damit unbegrenzt Leistungen nachgefragt werden.
Leistungen mit positiven KostenNutzen-Relationen!
Patienten
Krankenkassen
Bürokratie
unbegrenzte Leistungen!
Leistungen mit positiven Kosten-NutzenRelationen!
Ärzte
Abbildung 7:
Beziehungsverhältnis von Patienten, Krankenkassen und Ärzten
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Bürokratie muss letztlich als Indiz dafür gewertet werden, dass die Krankenkassen den Ärzten nicht mehr ausreichend vertrauen. Sie nehmen an, dass Leistungen mit negativen Kosten-Nutzen-Relationen verschrieben werden.39 Einnahmeprobleme bei den Krankenkassen machen es für diese dringlicher, die Ärzte zu kontrollieren, etwa Kosten für Leistungen zwischen verschiedenen Krankenhäusern zu vergleichen, was durch neue Bürokratiesysteme wie DRG40 möglich wird. Insofern wird es schwierig sein, die Bürokratie unter den gegebenen Umständen zu entfernen, weil die Krankenkassen sie als Kostensenkungsinstrument nicht einfach aufgeben werden. Die Ärzte selbst stecken in einem Dilemma zwischen den widersprüchlichen Forderungen der Patienten: Selbst wenn sie den Ruf nach unbegrenzten Leistungen stärker ignorieren und den Kosteneinsparungsforderungen der Krankenkassen folgen würden, würden diese den Kontrollmechanismus Bürokratie womöglich nur langfristig abbauen können, da der Aufbau von Vertrauen zu den Ärzten längere Zeit dauern würde. Erledigung der Bürokratie durch andere Kräfte Es ist deutlich ineffizient, relativ anspruchslose Arbeiten wie das Codieren von Patienten von relativ gut bezahlten Arbeitskräften wie Ärzten erledigen zu lassen. Tatsächlich mag dies von den Arbeitgebern bisher nur deshalb hingenommen worden sein, weil der steigende Bürokratieaufwand von vielen Ärzten durch steigende Überstunden aufgefangen wurde und diese oft unbezahlt bleiben. Sobald jede Arbeitsstunde aber wirklich bezahlt wird, lohnt es sich für die Arbeitgeber, andere Kräfte mit niedrigerem Stundenlohn anzulernen. In Interviews wurde berichtet, dass in manchen Krankenhäusern Krankenschwestern Teile der Bürokratie übernehmen würden beziehungsweise ein solches Modell erprobt würde. Einstellungsänderung der Ärzte Sollte das Problem der Bürokratie langfristig nicht gelöst werden, werden sich in einem gewissen Rahmen automatisch Einstellungsanpassungen vollziehen. Solche könnten dadurch unterstützt werden, dass die Bürokratie auch zum Gegenstand in der Ausbildung würde und Ärzte damit früh mit der Realität ihres Arbeitens konfrontiert würden und eine Einstellung dazu finden könnten. Ein solcher Ansatz ist auf eine sehr lange Zeitdimension angelegt. 39 40
Dies muss nicht heißen, dass die Ärzte anders verschreiben als früher. Letztlich ist vorstellbar, dass aus Sicht der Patienten die relativen Kosten ärztlicher Leistungen gestiegen sind. Diagnosis Related Groups ist ein Verfahren, um Patienten nach ihrem ökonomischen Behandlungsaufwand zu klassifizieren.
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3.2.3.2 Mehr Leistungsgerechtigkeit Geld ist prinzipiell eine ideale Maßnahme, um die Grenznutzenkurve nach außen zu verlagern. Die Stärke von Geld liegt in der Transformierbarkeit in verschiedene Nutzenarten, beispielsweise Nutzen von einem Theaterbesuch, von einem Urlaub im Himalaja oder in der Toskana, von einem neuen Auto. Da findet jeder seinen nutzenmaximierenden Verwendungszweck. Die deutliche Gehaltsforderung des Marburger Bundes in der aktuellen Diskussion lässt vermuten, dass der Grenznutzen für Geld bei Ärzten zurzeit noch relativ hoch ist. Dies hat, wie in Interviews deutlich wurde, nicht nur mit dem direkten Nutzen von Geld zu tun, sondern auch mit einer zweiten, der psychologischen, Dimension der Leistungsgerechtigkeit. Als positiv wird demnach empfunden, wenn man für seine Arbeitsleistung in etwa das Gleiche (z.B. an Geld) erhält wie jemand anders mit einer ähnlichen Arbeitsleistung. Sowohl ein Zuviel als auch ein Zuwenig im Vergleich zu anderen kann negative Gefühle hervorrufen (vgl. Kirchler 2005: S. 398f.). In Interviews fühlten sich die meisten Ärzte im Vergleich zu der Arbeitsleistung anderer Akademiker und anderer Ärzte, etwa im Ausland, deutlich unterbezahlt. Wenn die Ärzte ihre Gehaltsziele erreichen wollen, wofür die generellen Bedingungen gut sind, da sie einen breiten Rückhalt in der Bevölkerung finden (ZDF-Politbarometer vom 19.05.2006: 76 Prozent der Befragten stimmten den Streiks der Ärzte zu), dann werden sie dies nur durch ausreichende Druckmittel erreichen, da die Arbeitgeber effektiv zurückstehen müssen. Es wird darum gehen, die Defektionsoption, das Nichterbringen ärztlicher Leistungen, als realistisches Drohszenario mit den notwendigen realen Signalen darzustellen. Damit haben die Ärzte generell einen mächtigen Aktionsparameter in den Händen. Die besondere ethische Verpflichtung der Ärzte macht es ihnen aber geradezu unmöglich, von diesem Aktionsparameter auch wirklich umfassenden Gebrauch zu machen: Im Gegensatz zu Metallarbeitern werden Ärzte aller Wahrscheinlichkeit nach ihre Arbeit nicht einfach für Wochen vollständig niederlegen, sondern nur partiell; wenn sie es doch täten, wäre dies ein ungeheurer Schock für das gesellschaftliche System. Diesen zu verhindern, kann nur im Interesse aller Beteiligten liegen, weshalb Einigungen möglich sein sollten. 4
Fazit – Who cares?
Wer kümmert sich? Zwar sind die Klinikärzte in der Lage, eigenständig ihre Vereinbarkeit von Arbeit und Leben zu verbessern, indem sie beispielsweise über regionale Zusammenschlüsse andere Arbeitszeiten durchsetzen. Wenn die Interpretation des GKM von Vereinbarkeit als Identität der Grenznutzen angemessen ist, dann muss aber auch festgestellt werden, dass die Vereinbarkeit von
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Arbeit und Leben letztlich von (beinahe) allem beeinflusst werden kann. Ohne abstruse Beispiele hervorzukehren, müssen etwa auch große ökonomische Makrotrends, die nicht offensichtlich mit der Vereinbarkeit von Arbeit und Leben zusammenhängen, gesellschaftlich mehr Beachtung finden. In der Bundesrepublik wird beispielsweise unter dem Begriff Vereinbarkeit von Arbeit und Leben bisher kaum über Reallöhne diskutiert. Dabei ist es nicht unwahrscheinlich, dass die in der letzten Dekade auf Aggregatebene stattgefundenen Reallohnkürzungen (vgl. IDW 2006: S. 54) für viele Menschen maßgeblich zur gefühlten Divergenz ihrer Grenznutzen für Arbeit und Leben erst beigetragen haben. Die Vereinbarkeit von Arbeit und Leben zu verbessern, bleibt damit eine Aufgabe, um die sich die Gesamtgesellschaft kümmern muss und nicht nur einzelne Teile von ihr. Dass deshalb die Forderung einzelner Berufsgruppen nach einer besseren Vereinbarkeit von Arbeit und Leben auch Widerspruch anderer zur Folge hat, weil beispielsweise ein Verteilungskonflikt zwischen den Ärzten, die mehr Gehalt fordern, und den Patienten, die Beitragssenkungen wünschen, besteht, scheint offensichtlich. Auf diese Fragen kann hier zum Schluss nur hingewiesen werden. Wen kümmert es? Das ökonomische Instrumentarium des GKM ist in der Ökonomie ein alter Hut. Doch auch alte Hüte können aktuelle Sachverhalte in einem neuen Licht darstellen. Das GKM zeigt analytisch und formal, wie sich die etwa zu Beginn beschriebenen diffusen Phänomene, die sich unter dem Begriff Vereinbarkeit von Arbeit und Leben versammeln, auf einen Nenner zusammenbringen lassen. Damit ist die Was-Frage geklärt. Diese hat mannigfaltige Implikationen für die Art und Weise, wie die Wie-Frage zu klären ist. Wenn beispielsweise soziologische Präferenzforschung Einkommenserhöhungen mit Verbesserungen der Vereinbarkeit von Arbeit und Leben vergleicht, dann wird aus unserer Sicht ein methodischer Fehler begangen (vgl. Tailby et al. 2005). Das GKM wendet zwar ökonomische Theorie an, bezieht diese anstatt auf abstrakte Faktor- und Warenmärkte auf konkrete Alltagsprobleme. Vielen mag diese Art der wissenschaftlichen Ökonomisierung der Lebenswelt unangemessen oder gar unerhört erscheinen. Wir möchten an dieser Stelle jedoch darauf hinweisen, dass die Fähigkeit einer solchen ökonomischen Analyse zur Persönlichkeitsbildung beiträgt, weil dieses ökonomische Denken eine Strukturierung von Handlungssituationen erlaubt, und so dem Individuum gezielte Gestaltungsmöglichkeiten aufzudecken vermag. Wir haben in späteren Gesprächen mit den Ärzten, in denen wir sie mit unseren Ergebnissen konfrontiert haben, festgestellt, dass das Aufdecken ökonomischer Strukturen, die der Lebens- und Arbeitswelt zugrunde liegen, für die Ärzte eine echte Hilfestellung bedeutete. Wir persönlich sind überzeugt, dass es nur um diese Art von Zweckmäßigkeit ökonomischer Forschung gehen kann – alles andere macht Bauchschmerzen.
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Vereinbarkeit von Familien- und Berufsleben bei der Gestaltung flexibler Arbeitszeiten
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Vereinbarkeit von Familien- und Berufsleben bei der Gestaltung flexibler Arbeitszeiten Agentenbasierter Ansatz zur Modellierung und Simulation persönlicher Präferenzen, beispielhaft aufgezeigt am Krankenhausbereich Thilo Gamber und Mikko Börkircher 1
Einführung
Trotz der allgemein relativ hohen Arbeitslosigkeit in unserer Gesellschaft stellt sich die Beschäftigungssituation in bestimmten Berufsgruppen anders dar: Hier besteht ein Mangel an Arbeitskräften, der im Laufe der Zeit noch zunehmen wird. Dies bedeutet, dass Arbeitnehmer, die bereits beruflich überlastet sind, immer noch mehr Arbeit leisten müssen. Im Vergleich zum Arbeitsleben rücken dabei andere Lebensbereiche, wie z.B. Familie, Vereinsarbeit oder Sportinteressen, tendenziell immer mehr in den Hintergrund. Es ist jetzt schon davon auszugehen, dass sich diese Entwicklung negativ auf die Gesundheit von Arbeitnehmern auswirken wird. Gerade im Dienstleistungsbetrieb „Krankenhaus“ sind die Ärzte und das Pflegepersonal einer hohen Arbeitsbelastung ausgesetzt. Warnstreiks an den Universitätskrankenhäusern zu Beginn des Jahres 2006 zeigten die Unzufriedenheit der Beschäftigten sehr deutlich. Monetäre Anreize sind in diesen Berufen dabei nur „ein Tropfen auf den heißen Stein“. Am Standort Deutschland ist es deshalb zwingend geboten, die Arbeitsbedingungen im Krankenhausbereich besonders im Hinblick auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu verbessern (vgl. Abbildung 1). Im vorliegenden Beitrag wird ein Entwicklungsansatz vorgestellt, bei dem der Personaleinsatz im Einklang mit krankenhausspezifischen und ökonomischen sowie mit personalbezogenen Gesichtspunkten gestaltet werden soll. Arbeitszeiten in Krankenhäusern sollen dabei unter Hinzuziehung von persönlichen Präferenzen des ärztlichen und pflegerischen Personals durch einen agentenbasierten Simulationsansatz geregelt werden. Mit dem hier aufgezeigten Ansatz wird somit versucht, Familien- und Berufsleben zu vereinbaren.
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Handlungsbedarf bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf
2.1 Vereinbarkeit von Familie und Beruf Der arbeitende Mensch wird in modernen Unternehmen als aktive und wertvolle Ressource betrachtet, die es zu „schützen“ gilt. So wurde z.B. im Bereich des Arbeits- und Gesundheitsschutzes in den letzten Jahrzehnten viel erreicht (vgl. ArbSchG). Unternehmen, die auf die Entwicklung der Ressource Mensch achten, können oft einen positiven Effekt im Hinblick auf die Arbeitszufriedenheit ihrer Mitarbeiter sowie auch auf die Produktivität erzielen. Der Erfolg eines Unternehmens kann u.a. davon abhängen, wie gut der Mensch im Mittelpunkt seines Privatlebens stehen kann. Deshalb ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ein weiterer schützenswerter, aber auch verbesserungswürdiger Bereich.
Abbildung 1:
Dienstleistungsbetrieb Krankenhaus
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Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf gilt in Deutschland nicht gerade als einfach. Betriebliche Rahmenbedingungen, die familiären Lebenssituationen (insbesondere bei Mitarbeitern mit Kindern oder pflegebedürftigen Angehörigen) und die individuellen Lebensumstände beeinflussen mehr oder weniger stark die Vereinbarkeit von Familie und Beruf im Alltag von Berufstätigen. Die früher meist klaren Grenzen zwischen Familien- und Berufsleben verschwimmen immer mehr und werden je nach individuellem Arbeitsverhältnis als immer durchlässiger erlebt: Überstunden und Arbeiten zu ungewöhnlichen Zeiten sind in vielen Unternehmen heute ebenso der Normalfall wie eine permanente Erreichbarkeit. So weichen die Grenzen zwischen den Lebensbereichen immer mehr auf. Damit die Schnittstelle zwischen Familien- und Berufsleben jedoch als überwiegend konfliktfrei und gewinnbringend erlebt werden kann, ist eine möglichst gute Vereinbarkeit von persönlicher und familiärer Lebenssituation sowie betrieblichen Gegebenheiten erforderlich. Gelingt dies nicht, sind nicht selten Stress, Überlastungsreaktionen (Burn-Out), berufliche Leistungsminderungen und familiäre Krisen bis hin zu gesundheitlichen Beschwerden die unerwünschten und vielfach auch schwerwiegenden Konsequenzen. Neben der persönlichen Lebenssituation haben vor allem die individuellen Wünsche der Mitarbeiter Auswirkungen darauf, ob die Lebensbereiche eher als im Gleichgewicht oder eher als unvereinbar miteinander erlebt werden. 2.2 Innovative Arbeitszeitmodelle als Lösungsansatz Familienfreundlichkeit steht für die meisten Unternehmen nicht an erster Stelle. Viel wichtiger ist für sie eine Flexibilisierung der Arbeitszeit als Mittel zu einer effizienten Verwirklichung unternehmerischer Ziele. Zusätzlich ermöglicht die Arbeitszeitflexibilisierung u.U. nicht unerhebliche Kostenreduzierungen. Dies schließt Familienfreundlichkeit aber nicht grundsätzlich aus. Vielmehr muss eine doppelte Frage gestellt werden: Wie erreicht der Betrieb eine höhere Flexibilität der Mitarbeiter zur Umsetzung der Unternehmensziele, und wie können familienfreundliche Arbeitszeiten gestaltet werden? Flexibilisierungsmaßnahmen sind in hohem Maße von der Akzeptanz der Mitarbeiter abhängig. Sie müssen die Arbeitszeitmodelle leben und aktiv mitgestalten. Dies kann aber nur gelingen, wenn auch die Wünsche der einzelnen Mitarbeiter (z.B. Freistellungsmöglichkeiten für Pflegeaufgaben) sowie ihre persönlichen Präferenzen (z.B. Sportaktivitäten am Abend) mit in die Arbeitszeitgestaltung einfließen und sie somit aktiv an der Gestaltung betrieblicher Arbeitszeitmodelle beteiligt sind.
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Derart innovativen Arbeitszeitmodellen kommt eine Schlüsselfunktion bei der Vereinbarkeit von Familien- und Berufsleben zu. In diesem Beitrag soll ein Modellansatz am Beispiel des Dienstleistungsbereichs „Krankenhaus“ vorgestellt werden. Dieser Ansatz dient dazu, die Entwicklung betrieblicher Arbeitszeitmodelle innovativer zu gestalten, um dem Krankenhauspersonal eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu ermöglichen. Krankenhausmitarbeiter sollen über die individuelle Gestaltung ihrer Arbeitszeiten mitentscheiden können bzw. im Rahmen der rechtlichen Vorgaben Möglichkeiten vorfinden, die zu einer nahezu selbst regulierenden Gestaltung von Arbeitszeiten führt. 3
Problemfeld Arbeitszeitgestaltung im Krankenhaus
3.1 Derzeitige Situation im Krankenhausbereich Krankenhäuser stehen seit Jahren unter einem hohen Rationalisierungsdruck. Da sich die Finanzierung der Krankenhäuser (u.a. durch Fallpauschalen) nicht mehr an den tatsächlichen Kosten des einzelnen Krankenhauses orientiert (vgl. HENNING et al. 1998, S. 142), liegt es im Interesse der Krankenhäuser, Kosten zu senken bzw. kostenbewusster zu arbeiten, um Verluste zu vermeiden. Für die Wirtschaftlichkeit eines Krankenhauses hat die Kostenoptimierung im Personalbereich eine besonders große Bedeutung, da fast zwei Drittel der Gesamtkosten im Krankenhaus dem Personalbereich zugeordnet werden können (vgl. SCHIRMER 1998, S. 142; ROSENOW, STEINBERG 2002, S. 389). Eine Kostenoptimierung kann somit vor allem durch einen effizienten Einsatz des ärztlichen und pflegerischen Personals erreicht werden. 3.2 Schwierigkeiten bei der Arbeitszeitgestaltung im Krankenhaus Der effiziente Personaleinsatz ist eng mit den medizinischen Prozessen am Patienten verbunden. Auch hängen Wirtschaftlichkeit und Leistungsfähigkeit eines Krankenhauses von der Qualität der Personaleinsatzzeitplanung und dem angewandten Arbeitszeitmodell ab. Durch einen zielgerichteten Personaleinsatz soll erreicht werden, dass nicht produktive Zeiten und damit kostensteigernde Wirkungen vermieden werden (vgl. HENTZE, KAMMEL 1993, S. 11f.). Traditionelle Arbeitszeitregelungen in Krankenhäusern gehen fälschlicherweise davon aus, dass lange Anwesenheitszeiten (hoher Arbeitszeitverbrauch, z.B. durch Überstunden) Rückschlüsse auf den Ergebnisbeitrag des ärztlichen und pflegerischen Personals zulassen. Zeitökonomisch betrachtet ist jedoch nur
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dann eine Anwesenheit erforderlich, wenn auch Arbeit anfällt. Fällt keine Arbeit an, muss eigentlich auch kein Personal vorgehalten werden. Hierbei sind natürlich kontinuierlich zu leistende medizinische Betreuungs- und Überwachungsaufgaben einzubeziehen (vgl. GRATIAS 2002, S. 958). Die Arbeitszeitgestaltung zwischen ärztlichem und pflegerischem Personal verläuft vielfach unkoordiniert ab (BRÜCKNER 2002, S. 12). Eine mangelhafte Koordination hat eine Vielzahl negativer Auswirkungen. Beispielsweise kann eine schlechte Abstimmung von Prozessabläufen und Personalkapazität auf einer Pflegestation zu Stress, physischer Überlastung und psychischen Problemen führen (vgl. HENNING u.a. 1998, S. 74; FIELDS 2003, S. 70). Leistungsspitzen und leistungsschwache Zeiten entstehen vorwiegend aufgrund des stochastischen Patientenaufkommens, aber auch aufgrund der mangelhaften Abstimmung zwischen den ärztlichen und pflegerischen Arbeitszeiten. Dadurch können auch Wartezeiten für Patienten entstehen, die sich negativ auf die weitere Verweilzeit der Patienten in anderen Krankenhausabteilungen (z.B. in der Röntgenabteilung) auswirken. Zusätzlich liegen im Bereitschaftsdienst Missstände bei der Arbeitszeitgestaltung vor. Zum einen bleibt der Arbeitszeitbedarf (vgl. zum Begriff BOGUS 2002, S. 88) im Bereitschaftsdienst des ärztlichen Bereiches weitestgehend unerfasst (vgl. BRÜCKNER 2002, S. 12). Damit kann nicht nachvollziehbar dokumentiert werden, wie viel Arbeitszeitbedarf im Bereitschaftsdienst tatsächlich angefallen ist. Zum anderen übersteigt der Anteil des Arbeitszeitbedarfes in Bereitschaftsdiensten häufig 75 Prozent der gesamten Bereitschaftsdienstzeit und damit auch das für Bereitschaftsdienste maximal zulässige Höchstmaß (vgl. ArbZG). Oft werden auch die vorgeschriebenen Ruhezeiten vielfach nicht eingehalten (vgl. KAISER 2002, S. 11), da während der Bereitschaftszeiten reguläre Tätigkeiten geleistet werden (müssen). Bei den vorherrschenden Arbeitszeitmodellen entsteht somit das Problem, dass die regulären Arbeiten in den Bereitschaftsdienst fallen. Auch die aktuellen arbeitsrechtlichen Entwicklungen, wonach z.B. der Bereitschaftsdienst als vollwertige Arbeitszeit zu betrachten ist (Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 9. September 2003), unterstreichen die Notwendigkeit, den Personaleinsatz effizienter zu gestalten. Im Bereich der Arbeitszeitgestaltung besteht ein ausgeprägtes Missverhältnis zwischen Anspruch und Wirklichkeit, wenn von Servicequalität der Patientenbehandlung in Krankenhäusern, aber auch von Vereinbarkeit von Familienund Berufsleben der Krankenhausmitarbeiter gesprochen wird. Demgegenüber ist zu fordern, dass zum einen die Arbeitszeit des ärztlichen und pflegerischen Personals an die individuellen Bedürfnisse der Patienten anzupassen ist, zum anderen müssen aber auch die Bedürfnisse der Mitarbeiter ausreichend Beachtung finden. Auch die Warnstreiks zu Beginn des Jahres 2006 haben gezeigt,
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dass vor allem Ärzte nicht mehr gewillt sind, die nach ihrer Ansicht unzumutbaren Arbeitsbedingungen mit Überstunden und dazu noch schlecht bezahlten Arbeiten weiterhin zu akzeptieren. Abbildung 2 zeigt die bestehende Situation in Krankenhäusern und die zu verfolgenden Ziele im Überblick.
Abbildung 2:
Situation im Krankenhausbereich und sich daraus ergebende Anforderungen
3.3 Derzeitige Planungshilfsmittel und daraus abgeleiteter Handlungsbedarf Eine adäquate Arbeitszeitgestaltung ist eine wesentliche Voraussetzung für eine effiziente Gestaltung des Personaleinsatzes (vgl. SCHIRMER 1998, S. 168). Die
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zur Planung von Arbeitszeitbedarfen eingesetzten rechnerunterstützten Verfahren können generell in Generierungsverfahren und konstruktive Verfahren unterschieden werden (WAHL u.a. 2000, S. 157). Bei den zuerst genannten Verfahren werden viele mögliche Einsatzzeitpläne generiert und aus diesen der zielführendste ausgewählt; bei den an zweiter Stelle genannten Verfahren werden mithilfe definierter Planungstechniken Lösungen entwickelt und dabei Klassen von Lösungen sukzessive ausgeschieden, bis eine zielkonforme Lösung erreicht ist. Die Planung erfolgt dabei allerdings i.d.R. deterministisch, sodass stochastische Einflüsse in Form von „Störungen“ (z.B. schwankendes Patientenaufkommen, Notfälle, Erkrankung von Mitarbeitern) nicht berücksichtigt werden. Eine prospektive dynamische Bewertung der unterschiedlichen Einsatzzeitpläne in quantitativer Form ist daher in der Regel nicht gegeben. BOGUS (2002) gibt einen Überblick über standardisierte Vorgehensweisen zur Arbeitszeitgestaltung (ebda., S. 40f.) sowie spezielle Methoden der Arbeitszeitgestaltung (ebda., S. 45ff.); besonders geht er auf den Einsatz der Simulation zur Arbeitszeitgestaltung ein (ebda., S. 49f. und S. 55ff.). Die Gemeinsamkeit und gleichzeitig der Nachteil der von BOGUS aufgeführten Verfahren ist, dass Arbeitszeitpräferenzen von Mitarbeitern nicht einbezogen werden. Der Autor stellt schließlich die Erweiterung seines Simulationsverfahrens zur „Einsatzzeitplanung für den regelmäßigen Einsatz im Rahmen der Personalsteuerung“ als weiteres Forschungsfeld in Aussicht (ebda., S. 223f.). Diesbezüglich stoßen die bisher angewandten Simulationsverfahren jedoch an ihre Grenzen: Mit den bislang bekannten Simulationsverfahren können keine Mitarbeiterpräferenzen bei der Gestaltung von Arbeitszeiten und damit explizit auch nicht die Vereinbarkeit von Berufs- und Familienleben berücksichtigt werden. Zur Balance zwischen Familien- und Berufsleben müssen intelligente, flexible Arbeitszeitmodelle geschaffen werden. Aus diesem Bedarf heraus wird in diesem Beitrag ein Ansatz zur Planung flexibler Arbeitszeiten im Krankenhausbereich anhand einer agentenbasierten Simulation aufgezeigt. Abhängig von der jeweiligen „Krankenhaussituation“ ist es das Ziel dieses Ansatzes, die Generierung von flexiblen Arbeitszeitmodellen mit einer neuen Funktionalität zu versehen, welche die persönlichen Präferenzen der Krankenhausmitarbeiter berücksichtigt. Eine flexible Anpassung des Personalbestandes an das Patientenaufkommen soll dabei möglichst mit den individuellen Präferenzen gepaart werden (z.B. Zeitkorridore für einen berufstätigen Elternteil, um die Kinder in die Schule zu bringen). Damit sollen einerseits die dem Krankenhaus zur Verfügung stehenden personellen Kapazitäten effektiv eingesetzt, andererseits die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ermöglicht werden. Abbildung 3 zeigt dazu die Verbindung zwischen der ökonomischen und der sozialen Betrachtungsweise auf.
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Abbildung 3:
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Kompromissfindung zwischen krankenhausspezifischen und mitarbeiterbezogenen Zielvorstellungen
Agentenbasierte Simulation als innovativer Ansatz zur Arbeitszeitgestaltung
4.1 Bedarf an neuen Methoden zur Einbeziehung von Präferenzen Die Planung des Personaleinsatzes im Krankenhaus basiert heute bereits ansatzweise auf flexiblen Arbeitszeiten. Diese Vorgehensweise berücksichtigt allerdings nur die durchschnittliche Auslastung (zur Definition vgl. REFA 1997, S. 184) des ärztlichen und pflegerischen Personals, versucht aber auch, auf die Schwankungen des Patientenaufkommens z.B. innerhalb einer Woche einzugehen (vgl. VISSERS 1998, S. 357). Es werden jedoch keine persönlichen Präferenzen der Krankenhausmitarbeiter berücksichtigt. Dadurch können bei der erforderlichen Abstimmung der Arbeitszeiten zwischen den einzelnen Mitarbeitern Unzufriedenheiten und andere negative Auswirkungen (z.B. durch Stress verursachte Krankheiten) entstehen. Präferenzen U(x) bzw. U(y) stellen den Kern des hier vorgestellten Ansatzes dar (vgl. Abbildung 4): Sie dienen dazu, Zeiträume zu markieren, in denen der Krankenhausmitarbeiter bestimmten familiären oder auch gesellschaftlichen Verpflichtungen nachgehen möchte. Ein wichtiger Aspekt hierbei ist es, Zeitkonflikte mit anderen Mitarbeitern nach Möglichkeit zu vermeiden. Beispielsweise wird eine Pflegekraft mit Kindern ihre private Zeiten anders einteilen wollen als
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eine andere ohne Kinder. Daher sollten zeitliche Freiräume geschaffen werden, die es den Mitarbeitern erleichtern, ihre außerberuflichen Verpflichtungen ohne Nachteile wahrzunehmen. Zur Lösung bzw. Reduzierung der bestehenden Konfliktpotenziale wird im vorgestellten Ansatz eine agentenbasierte Simulation eingesetzt. 4.2 Begriff des Agenten Im allgemeinen Sprachgebrauch und in den Wirtschaftswissenschaften wird unter einem Agenten ein Vertreter verstanden, der „für einen anderen Geschäfte“ durchführt (vgl. z.B. SCHOLZE-STUBENRECHT 2003). Im Kontext der Informatik bezeichnet man mit Agenten hingegen Systeme, die in einer bestimmten Umgebung selbst regulierend agieren können (vgl. z.B. WOOLDRIDGE 2002, S. 15). Im vorliegenden Ansatz sollen die Agenten die Krankenhausmitarbeiter repräsentieren und dabei virtuell miteinander verhandeln. Zur weiteren Vertiefung bezüglich der Modellierung des Systems „Krankenhaus“ und der Patienten, die in das System eintreten, kann an dieser Stelle auf die bestehende Literatur verwiesen werden (ZÜLCH, STOCK, HRDINA 2006a; ZÜLCH, STOCK, HRDINA 2006b; ZÜLCH, STOCK, HRDINA 2007).
Abbildung 4:
Abbildung von Präferenzen im Krankenhausbereich
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Der Ansatz der agentenbasierten Simulation soll in diesem Beitrag herangezogen werden, um zu untersuchen, inwieweit es möglich ist, in bestehenden Arbeitszeitmodellen persönliche Präferenzen der Mitarbeiter zu berücksichtigen. Die einzelnen Agenten verhandeln dabei virtuell miteinander. Ziel ist es, das Maß an Unzufriedenheit des einzelnen Mitarbeiters und dadurch auch von Mitarbeitergruppen zu senken und damit im Umkehrschluss die Zufriedenheit zu verbessern. Mit diesem Ansatz sollen Einsatzzeitpläne für den kurz- bis mittelfristigen Personaleinsatz aufgestellt werden, die neben den gewöhnlichen Einsatzzeiten auch die Mitarbeiterpräferenzen berücksichtigen. 4.3 Agentenbasierter Simulationsansatz „Simulation ist das Nachbilden eines Systems mit seinen dynamischen Prozessen in einem experimentierbaren Modell, um zu Erkenntnissen zu gelangen, die auf die Wirklichkeit übertragbar sind. (…) Im weiteren Sinne wird unter Simulation das Vorbereiten, Durchführen und Auswerten gezielter Experimente mit einem Simulationsmodell verstanden.“ (VDI 3633, Blatt 1, 2000, S. 3)
Mithilfe von Simulationsuntersuchungen lässt sich die Gestaltung von Arbeitszeitmodellen vor deren konkreter Realisierung in einem Rechnermodell überprüfen (vgl. z.B. STOCK, BOGUS, STOWASSER 2004; BÖRKIRCHER, ZÜLCH, STOCK 2005; ZÜLCH, STOCK, BOGUS 2006). Anhand von Kennzahlen lässt sich außerdem analysieren, ob und wie der Nutzen als „Ganzes“ bei verschiedenen Gestaltungs- oder Veränderungsmaßnahmen von einzelnen Arbeitszeitmodellen verbessert wird. Es stellt sich bei der Anwendung der Simulation im Bereich der Arbeitszeitgestaltung allerdings die Frage, ob die ermittelten Ergebnisse grundsätzlich als sozial verträglich angesehen werden können, da persönliche Präferenzen hauptsächlich konzeptionell behandelt werden (vgl. GAUDERER 2001; BOGUS 2002), aber entweder gar nicht oder nur in manuellen Planungsverfahren abgebildet werden. Eine technisch ähnliche Herangehensweise mithilfe einer agentenbasierten Simulation, jedoch mit einem anderen Untersuchungsgegenstand wird im Rahmen der Arbeiten des DFG-Schwerpunktprogramms 1077 „Sozionik-Erforschung und Modellierung künstlicher Sozialität“ im Teilprojekt „Integration kooperationsfähiger Agenten in komplexen Organisationen“ an der HumboldtUniversität in Berlin verfolgt. Hier werden ebenfalls Arbeitszeiten im Krankenhaus getauscht, wobei auf soziologische Rollenkonzepte zurückgegriffen und auf den Koordinationsmechanismus „Verhandlung“ fokussiert wird, mit dem Ziel, Interaktivitätsexperimente durchzuführen (vgl. LINDEMANN, MEISTER 2003; URBIG, SCHRÖTER, DÍAZ MONETT 2003). Damit unterscheidet sich die
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Zielsetzung bei dem hier vorliegenden Beitrag, welcher u.a. bestehende Einsatzzeitmodelle hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit von Privat- und Berufsleben untersuchen möchte und damit eine dynamische Analyse unter sich verändernden Rahmenbedingungen erlaubt. Ebenfalls besteht eine Abgrenzung zum „Berliner Ansatz“ derart, dass dort keine Simulationsuntersuchung durchgeführt wurde und im Gegensatz zu Individuen nur Personengruppen untersucht wurden.
Abbildung 5:
Eigenschaften der agentenbasierten Simulation
Zur individualisierten Betrachtung von Krankenhausmitarbeitern bietet sich die agentenbasierte Simulation an. In diesem hier vorliegenden Ansatz werden Mitarbeiter im Modell allerdings in keine verhaltensstereotype Gruppe verortet, sondern jeder Mitarbeiter wird mit seinen eigenen individuellen Präferenzen und seinem Profil modelliert. Jeder Mitarbeiter im analysierten Krankenhausbereich wird im Simulationsmodell durch einen Agenten abgebildet. Je nachdem, welcher Berufsgruppe (Arzt oder Pflegeperson) und Abteilung (z.B. Kardiologie, Chirurgie) der Mitarbeiter angehört, verändern sich die Rahmenbedingungen eines Agenten. Der Agent vertritt die Präferenzen eines Krankenhausmitarbeiters aus der realen Welt und handelt in der Modellwelt nach verschiedenen Strategien (vgl. Kapitel 5.2) stellvertretend für ihn Arbeitszeiten aus. Diese Übertragung des Problems von der realen in die modellierte Welt stellt ein wesentliches Merkmal des agentenbasierten Simulationsansatzes dar: Der einzelne Mitarbeiter kann dadurch in den Mittelpunkt gerückt werden, da die Möglichkeit besteht, ihn mit seinen individuellen Präferenzen bei der Gestaltung von Arbeitszeitmodellen
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zu berücksichtigen. Zur Erläuterung der Eigenschaften einer agentenbasierten Simulation (vgl. Abbildung 5) soll hier z.B. auf die Arbeit von WOOLDRIDGE und JENNINGS (1995, S. 115ff.) verwiesen werden. 5
Funktionsweise der agentenbasierten Simulation
Der agentenbasierte Simulationsansatz enthält neben Arbeitszeit- auch Präferenzkonten, die für jeden Arbeitnehmer angelegt werden und damit die einzelnen persönlichen Präferenzen des ärztlichen und pflegerischen Personals darstellen. Durch individuell hinterlegte Wünsche zur Arbeitszeitgestaltung kann auf Basis verschiedener Strategien versucht werden, diesen Bedürfnissen und Wünschen nachzukommen. 5.1 Arbeitszeit- und Präferenzkonten 5.1.1 Arbeitszeitkonten Zeitkonten sind ein Instrument zur Verwaltung ungleichmäßig verteilter Arbeitszeiten. Sie dokumentieren Ansprüche zwischen Mitarbeiter und Unternehmen: Zeitguthaben bedeuten einen Kredit des Mitarbeiters an das Unternehmen, Zeitschulden einen Anspruch des Unternehmens auf Nachleistung von Arbeitszeit. Übertragen auf den hier vorgestellten Ansatz führen die Agenten genauso wie die (realen) Krankenhausmitarbeiter jeweils ein individuelles Arbeitszeitkonto. Arbeitszeitkonten (vgl. z.B. ERLEWEIN 2001, S. 30) sind ein wichtiges Flexibilisierungsinstrument, und führen zu einem Ausgleich von Mitarbeiter- und Unternehmensinteressen. So lassen sich zum einen Schwankungen im Kapazitätsbedarf ausgleichen, zum anderen können sich Mitarbeiter aus Zeitguthaben für private Belange bedienen, falls dies nicht mit den Interessen des Unternehmens oder anderer Mitarbeiter kollidiert (ebda., S. 30ff.; HARTWIG 1995, S. 134). 5.1.2 Präferenzkonten und ihr Zusammenhang mit Arbeitszeitkonten Jeder Agent erhält neben dem oben erwähnten Arbeitszeitkonto ein weiteres, für keinen anderen Agenten einsehbares Konto: das Präferenzkonto (vgl. Abbildung 6). Hier werden die individuellen Wünsche der einzelnen Mitarbeiter aufgelistet. Diese mitarbeiterbezogenen Arbeitszeitpräferenzen werden entsprechend ihrer Relevanz subjektiv bewertet und in einen Kalender eingetragen. Präferenzen könnten sein: „Kinder in die Schule bringen“, „verlängerte Mittagspause wegen
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Sportaktivität“ usw. Im Präferenzkonto kann auch hinterlegt werden, ob sich die Präferenzen des jeweiligen Mitarbeiters zu regelmäßigen Zeiten (z.B. Kinder zur Schule bringen) wiederholen oder nur unregelmäßig auftreten (z.B. Elternabend oder Sportturnier). Bevor zwischen den Arbeitszeit- und Präferenzkonten eine Abstimmung innerhalb der gleichen Berufsgruppe stattfinden kann (z.B. Ärzte oder Pflegepersonen untereinander), müssen die jeweilig geplanten Einsatzzeiten der Mitarbeiter vorliegen. Dabei kann es sich zum einen um regelmäßige Einsatzzeiten im Rahmen eines in einer Krankenhausabteilung eingeführten Arbeitszeitmodells handeln, die im Rahmen einer agentenbasierten Simulationsstudie hinsichtlich der Vereinbarkeit von Familien- und Berufsleben verbessert werden sollen. Es kann sich aber auch um Einsatzzeiten handeln, die durch ein Planungsverfahren generiert worden sind, und dann ebenfalls im Rahmen einer Agentensimulation auf eine verbesserte Realisierung von Mitarbeiterpräferenzen hin untersucht werden könnten. Erholungsurlaube oder geplante Abwesenheiten sind dabei im Einsatzzeitplan zu berücksichtigen. Da es sich bei dem Simulationsverfahren überwiegend um eine Unterstützung bei der Planung und Gestaltung von Einsatzzeiten handelt, wird der Fall „Krankheit“ in diesem Ansatz als „absehbarer Abwesenheitsfall“ verstanden. Die agentenbasierte Simulation eignet sich auch zur Untersuchung verschiedener Szenarien, die vorab in einem Rechnermodell untersucht und bewertet werden können. Z.B. müsste auf dringende Termine oder kollidierende Wünsche der Mitarbeiter durch die agentenbasierte Simulation derart reagiert werden, dass „Verhandlungen“ zwischen den für die infrage stehenden Tätigkeiten einsetzbaren Mitarbeitern stattfinden. Die Verhandlungen können auf der Basis verschiedener Strategien geführt werden (vgl. Kapitel 5.2). Ein Ergebnis solcher Verhandlungen kann z.B. sein, dass für Mitarbeiter, die ein bestimmtes „Muster“ von An- oder Abwesenheitspräferenzen aufweisen, d.h. in bestimmten Zeitintervallen eines betrachteten Zeitraums besonders häufig gleichartige Wünsche hinsichtlich ihrer bevorzugten Einsatzzeiten äußern, der persönliche Einsatzzeitplan entsprechend längerfristig verändert wird. 5.2 Strategien innerhalb des agentenbasierten Simulationsansatzes Als Rahmenbedingungen für die Verhandlungen zwischen den Agenten können verschiedene Strategien angewandt werden. Dabei wird von der Grundlage ausgegangen, dass Agenten als Elemente eines selbstregulierenden Systems zu verstehen sind (vgl. Kapitel 4.2). Im Folgenden werden drei Strategien vorgestellt, wobei diese stufenartig aufgebaut sind: von der individuellen Einigung zweier Mitarbeiter bzgl. ihrer Arbeitszeiten über die Möglichkeit, mit mehreren Mitar-
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beitern zu verhandeln, bis hin zu einem Mediator, der versucht, sowohl zwischen den Mitarbeitern als auch zwischen diesen und dem Krankenhausunternehmen positiv und unparteiisch zu vermitteln (Abbildung 7). 5.2.1 Individuelle Strategie mit „pareto-optimalem“ Tausch von Arbeitszeiten Bei der individuellen Strategie versuchen die Agenten, durch den Tausch von Einsatzzeiten ihren persönlichen Nutzen (resultierend aus den Präferenzen oder Wünschen der von ihnen repräsentierten Krankenhausmitarbeiter) zu verbessern. Dabei können ganze Schichten oder auch kleinere, frei wählbare Arbeitszeitkorridore getauscht werden. Voraussetzung ist natürlich, dass die tauschwilligen Agenten auch zum betrachteten Zeitpunkt eingesetzt werden können. Dieses könnte durch unzuträgliche rechtliche Regelungen oder arbeitswissenschaftliche Empfehlungen entsprechend behindert werden.
Abbildung 6:
Integration von Arbeitszeit- und Präferenzkonten in ein Arbeitszeitmodell
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Eine Situation wird dann als ökonomisch effizient oder „pareto-optimal“ definiert, wenn kein Wirtschaftssubjekt (hier Krankenhausmitarbeiter) durch weitere ökonomische Aktivitäten seine Bedürfnisbefriedigung (Präferenz für Arbeitszeitveränderung) verbessern kann, ohne die Wohlfahrt eines anderen Wirtschaftssubjekts (i.w.S. die Möglichkeiten zur Wahrnehmung seiner Präferenzen) zu gefährden. Durch einen Tausch werden die Tauschpartner besser bzw. nicht schlechter gestellt, als sie es ohne Tausch wären, denn niemandem wird etwas gegen seinen Willen genommen. Der Tausch wird somit als eine freiwillige Entscheidung eines jeden Individuums aufgefasst. Die Annahme im vorgestellten Ansatz ist, dass immer nur bei mindestens einer möglichen Verbesserung getauscht wird (wobei der Tauschpartner nicht schlechter gestellt wird, also mindestens seinen Status quo behält). Anhand eines Zählers könnte im Simulationsverfahren ein Abbruch der Verhandlungen erfolgen, wenn ein Agent eine bestimmte Anzahl (erfolgloser) Verhandlungen erreicht hat (sozusagen sein „Verhandlungslimit“ für eine bestimmte Periode überschritten hat). Bei diesem Abbruch scheidet ein Agent aus den Verhandlungen aus bzw. ein neuer Agent tritt (wenn erforderlich und möglich) in weitere Verhandlungen ein. Für wie lange dann der Agent aus der Simulation ausgeschlossen bleibt, muss je nach den zu untersuchenden Szenarien vom Benutzer dieses Simulationsverfahrens festgelegt werden.
Abbildung 7:
Strategien der agentenbasierten Planung
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5.2.2 Markttheoretische Strategie mit Kauf und Verkauf von „Präferenz-Anteilen“ Der oben aufgeführte „pareto-optimale“ Tausch, der ausschließlich in Abstimmungen zwischen zwei Agenten begründet ist, wird bei der Einbeziehung mehrerer Mitarbeiter und damit größer werdender Modelle nicht effizient genug sein. Deshalb wird hier eine sogenannte markttheoretische Strategie eingeführt, die auf einer Art Wertpapier basiert, das auf einem fiktiven Aktienmarkt gehandelt wird. Im Gegensatz zur Strategie des „pareto-optimalen“ Tausches ist es bei der markttheoretischen Strategie möglich, dass mehrere Agenten gleichzeitig an Verhandlungen teilnehmen. Beispielsweise ist es denkbar, den persönlichen Nutzen (wiederum abhängig von den jeweiligen Präferenzen eines Mitarbeiters) auf dem Markt zu handeln. Für die jeweiligen Verhandlungen könnte dies bedeuten, dass diejenigen Agenten, die auf die Verwirklichung ihrer Präferenzen verzichten (müssen), im Umkehrschluss damit die Realisierbarkeit ihrer Wünsche nach jeder Verhandlungsrunde verbessern bzw. im umgekehrten Fall verschlechtern. Ihre Präferenz-Anteile können damit steigen bzw. fallen. Das bedeutet, dass Agenten nach mehrmaligem Verzicht bzw. durch sparsamen und wohlüberlegten Umgang mit den eigenen Präferenzen eher mit der Verwirklichung ihrer kurzbis mittelfristigen Wünsche rechnen können. Beispielsweise stehen sie, wenn sie mit vielen anderen Agenten (realer Krankenhausmitarbeiter) an einem bestimmten Tag freihaben wollen, besser da als andere, die vielleicht schon häufiger ihre Wünsche realisiert haben. Diejenigen Agenten, die bei Verhandlungen bisher häufig oder sogar immer erfolgreich waren, müssten dann wegen der häufigen Inanspruchnahme einen höheren Preis für eine erneute Realisierung ihrer Präferenzen „bezahlen“. Bezahlen bedeutet in diesem Ansatz, dass sie Arbeitszeiten übernehmen, die im Allgemeinen nicht als sehr angenehm empfunden werden (z.B. Bereitschaftsdienste am Wochenende usw.). Ein Spezialfall der markttheoretischen Strategie könnte dann eintreten, wenn persönliche Präferenzen direkt mit dem Krankenhausunternehmen verhandelt werden. Hier könnten dann mehrere Tauschmittel miteinander gehandelt werden: Arbeitszeit könnte mit Entlohnung ausgeglichen werden, oder es könnten Arbeitszeiten mit höheren Belastungen gegen solche mit niedrigeren gehandelt werden usw.
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5.2.3 Schlichtende Strategie mit „Mediatoren-Funktion“ Bei den beiden oben genannten Strategien werden die mitarbeiterbezogenen Präferenzen entweder frei zwischen den Agenten gehandelt. Damit wäre es aber u.U. auch möglich, dass rechtliche Rahmenbedingungen verletzt würden, falls die Verhandlungen über Präferenz-Anteile das alleinig bestimmende Kriterium wären. Aushandeln ohne jegliche Restriktionen kann z.B. dazu führen, dass arbeitsrechtliche Vorschriften und arbeitswissenschaftliche Empfehlungen nicht beachtet werden. Um solchen Fehlentwicklungen vorzubeugen, können zum Schutz der Mitarbeiter innerhalb der agentenbasierten Simulation Restriktionen eingeführt werden, z.B. vor einem Tausch das vorhandene Arbeitszeitkonto der jeweiligen Agenten auf Zulässigkeit des Tausches zu überprüfen. Weiterhin ist es sinnvoll, Informationen zu hinterlegen, wann es für einen Agenten „lebensnotwendig“ ist, an einem bestimmten Tag oder zu einer bestimmten Uhrzeit freizubekommen. Des Weiteren kann dem egoistischen Verhalten von starken Persönlichkeiten innerhalb eines Kollegenkreises entgegengewirkt werden. Die schlichtende Strategie ist als Hilfe für solche Fälle gedacht, bei denen alle anderen Tauschverhandlungen scheitern. 6
Diskussion des agentenbasierten Simulationsansatzes und Ausblick
6.1 Diskussion des Ansatzes Bei dem vorgestellten Ansatz steht die Vereinbarkeit von Familie und Beruf im Vordergrund. Durch ihn soll ermöglicht werden, dass dem einzelnen Mitarbeiter mehr Mitwirkungsrechte in Bezug auf seine eigene Arbeitszeitgestaltung eingeräumt wird. Damit wird eine weitere Dimension aus der Realität in die Modellwelt der Simulation übertragen und dadurch dieser Freiheitsgrad zur Arbeitszeitflexibilisierung aus Arbeitnehmersicht für Untersuchungen im Forschungsfeld „Gestaltung von Arbeitszeitmodellen“ mit eingebracht. Es ist zwar nicht immer einfach, Mitarbeiter- und Unternehmensinteressen in Einklang zu bringen, aber der vorgestellte Ansatz kann dazu führen, dass auch das Unternehmen, das den Ansatz in der Praxis erprobt bzw. einsetzt, davon profitieren kann. Neben möglichen Vorteilen flexibler Arbeitszeitmodelle für ein Krankenhaus und seine Mitarbeiter könnten solche Modelle jedoch auch negative Auswirkungen auf die Gesundheit und das soziale Leben der Arbeitnehmer haben, wenn bei der Gestaltung dieser Arbeitszeitsysteme arbeitswissenschaftliche Kriterien nicht hinreichend beachtet werden (vgl. JANßEN, NACHREINER 2004, S. 5).
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Neben der Einführung flexibler Arbeitszeitmodelle aus betrieblichen Gründen könnten auch die sich durch die Arbeitstätigkeit ergebenden Auswirkungen auf die Gesundheit und das psychosoziale Wohlbefinden der Mitarbeiter berücksichtigt werden. 6.2 Schlussfolgerungen Aus dem Vorhergehenden können folgende Schlussfolgerungen gezogen werden:
Arbeitszeitflexibilisierung ist eine der Schlüsselmaßnahmen zur Vereinbarkeit von Familien- und Berufsleben. Beispielsweise reduziert sich der morgendliche Zeitdruck, wenn der Arbeitsbeginn flexibel gehandhabt werden kann. Arbeitszeitflexibilisierung ist aber nur dann erfolgreich, wenn sowohl den Interessen der Beschäftigten als auch denen des Unternehmers Rechnung getragen wird. Flexibilisierungsmaßnahmen zur Entwicklung familienfreundlicher Formen der Arbeitsorganisation sind in hohem Maße auf die Akzeptanz der Mitarbeiter angewiesen. Fließen die persönlichen Präferenzen oder Wünsche der Mitarbeiter bei der Verteilung der Arbeitszeit mit ein, wirkt sich dies förderlich auf deren Lebensqualität aus. Eine Verbesserung der internen Kommunikationswege – z.B. im Sinne der Äußerung von Wünschen hinsichtlich Arbeitszeiten – stellt Verständnis und Transparenz für individuelle Arbeitszeitlösungen innerhalb der Belegschaft her. Ein Beispiel geeigneter Flexibilisierungsmaßnahmen ist neben Teilzeitarbeit und Arbeitszeitkonten auch das erläuterte Präferenzkonto.
6.3 Ausblick auf weiterführende Arbeiten Der entscheidende Vorteil der agentenbasierten Simulation im Gegensatz zu den in Kapitel 3.3 aufgeführten Simulationsverfahren ist, dass die Präferenzen der Mitarbeiter unmittelbar berücksichtigt werden können. Durch die Simulation von Szenarien ist es außerdem möglich, diejenigen Auswirkungen festzustellen, die sich aus unvorhergesehenen Ereignissen, wie stark schwankendem Patientenaufkommen, Erkrankung von Mitarbeitern oder Änderungen von mitarbeiterbezogenen Präferenzen, bei Anwendung eines bestimmten Arbeitszeitmodells ergeben können. Diese Auswirkungen können mit monetären und krankenhausspezifischen Kennzahlen bewertet werden. Gerade auch hinsichtlich der zuletzt ge-
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nannten Kennzahlen ergibt sich weiterer Forschungsbedarf, da die Bewertung nicht nur auf Basis bekannter logistischer Kennzahlen erfolgen sollte. Mithilfe der agentenbasierten Simulation lassen sich überdies Aussagen bezüglich der Erfüllung der individuellen Mitarbeiterpräferenzen bzw. der daraus zu schließenden Mitarbeiterzufriedenheit ableiten. Besonders interessant wäre in diesem Zusammenhang auch eine Untersuchung, inwieweit sich die Präferenzen der Mitarbeiter infolge von unvorhergesehenen Ereignissen ändern bzw. wie lange es dauert, bis Mitarbeiter wieder „normal“ miteinander verhandeln können. Der vorgestellte Ansatz muss schließlich auch softwaretechnisch umgesetzt sowie im Praxiseinsatz erprobt werden. Dazu ist es notwendig, Krankenhäuser als Kooperationspartner zu gewinnen. Literatur ArbSchG: Arbeitsschutzgesetz. Vom 7. August 1996, zuletzt geändert am 31. Oktober 2006. ArbZG: Arbeitszeitgesetz. Vom 6. Juni 1994, zuletzt geändert am 14. August 2006. BOGUS, Thomas: Simulationsbasierte Gestaltung von Arbeitszeitmodellen in Dienstleistungsbetrieben mit kundenfrequenzabhängigem Arbeitszeitbedarf. Aachen: Shaker Verlag, 2002 (ifab-Forschungsberichte aus dem Institut für Arbeitswissenschaft und Betriebsorganisation der Universität Karlsruhe, Band 31). BÖRKIRCHER, Mikko; ZÜLCH, Gert; STOCK, Patricia: Simulationsunterstützte Planung flexibler Arbeitszeiten im Fertigungsbereich. In: Personalmanagement und Arbeitsgestaltung. Hrsg.: Gesellschaft für Arbeitswissenschaft. Dortmund: GfA-Press, 2005, S. 381-384. BRÜCKNER, Bernhard: Schwerpunktaktion der hessischen Arbeitsschutzverwaltung „Arbeitszeitgestaltung im Krankenhaus“. In: Arbeitsplatz Krankenhaus. Hrsg.: Hessisches Sozialministerium. Wiesbaden 2002, S. 12-13. ERLEWEIN, Markus: Arbeitszeit – so geht’s! Hrsg.: Arbeitgeberverband Gesamtmetall. Institut für angewandte Arbeitswissenschaft. Köln: Deutscher Instituts-Verlag, 2001. FIELDS, Helen: Wake Up, Doc. In: US News and World Report, Washington D.C., 135 (2003) 20, S. 70-71. GAUDERER, Patric Claude: Individualisierte Dienstplangestaltung. Frankfurt/M. u.a.: Peter Lang, 2001. GRATIAS, Ralf: Umsetzung des EuGH-Urteils trifft auch die Pflegedienste. In: Die Schwester – der Pfleger, Melsungen, 41 (2002) 11, S. 956-961. HARTWIG, Gerd: Flexible und individuelle Arbeitszeitgestaltung im administrativen Bereich. In: Arbeitszeitmodelle – Flexibilisierung und Individualisierung. Hrsg.: WAGNER, Dieter. Göttingen: Verlag für Angewandte Psychologie, 1995, S. 127-136. HENNING, Klaus; ISENHARDT, Ingrid; FLOCK, Clemens: Kooperation im Krankenhaus. Bern: Verlag Huber, 1998.
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Thilo Gamber und Mikko Börkircher
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Die vorliegende Arbeit entstand am Institut für Arbeitswissenschaft und Betriebsorganisation (ifab) der Universität Karlsruhe (TH). (Leitung: Prof. Dr.-Ing. Dipl.-Wirtsch.-Ing. Gert Zülch)
Ausblick
Ausblick
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Mittelpunkt Mensch – Hauptsache Arbeit Zum Verhältnis von Arbeit, Mensch und Markt Thomas Straubhaar Festrede, gehalten am 21. Mai 2007 in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften anlässlich der Verleihung des Deutschen Studienpreises 2007 Der Titel meines Vortrags zur Verleihung des Deutschen Studienpreises lautet „Mittelpunkt Mensch – Hauptsache Arbeit. Zum Verhältnis von Arbeit, Mensch und Markt“. Angesichts dieses Titels kann ich nicht widerstehen, mit einer empirischen Beobachtung zu beginnen, die sich hier in Berlin geradezu aufdrängt: Auch 18 Jahre nach dem Fall der Mauer sehen Sie mit einem einzigen Blick auf die Arbeitsmarktzahlen und Arbeitslosenquoten, dass der Eiserne Vorhang unverändert quer durch dieses Land geht als eine Barriere zwischen Ost und West. Ich denke, dass diese einfache Beobachtung einer Erklärung bedarf. Diese Erklärung ist gar nicht so schwierig, denn man muss sich vor Augen halten, dass gut gemeinte wohlfahrtsstaatliche Politik eben noch längst nicht heißt, dass sie auch gute Effekte erzielt. Die Politik kann wählen, ob sie gleiche Löhne durchsetzen will und damit eben ungleiche Beschäftigung erzielt oder ob sie ungleiche Löhne akzeptiert und dafür eine vergleichsweise homogene Beschäftigungsquote hat. Eben dies ist eines der ganz zentralen Ergebnisse unserer empirischen Beobachtungen: dass gerade das, was wohlfahrtsstaatlich gut gemeint ist, oft zu weniger und nicht mehr Beschäftigungschancen führt. Gerade mit dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus haben sich die Knappheitsverhältnisse zwischen Arbeit und Kapital massiv verändert. Dies führt dazu, dass heute Milliarden – und ich hebe bewusst hervor: Milliarden – junger, gut gebildeter und ehrgeiziger Arbeitskräfte weltweit sich Deutschland zum Vorbild genommen haben. Dabei ist es völlig unerheblich, ob sie nun in Massen nach Deutschland emigrieren oder ob sie die Güter, die sie in China, Indien oder Vietnam produzieren, in Form billiger Produkte nach Deutschland exportieren. Die Folge ist in beiden Fällen ein enormer Wettbewerbsdruck. Hinzu kommt ein weiterer Aspekt: Ich glaube nicht, wie oftmals alarmistisch behauptet wird, dass uns die Arbeit ausgeht. Ich bin aber restlos überzeugt, dass die Industrie nicht mehr jene Rolle als Ort der Massenbeschäftigung spielen wird, die sie in den letzten 200 Jahren innehatte. Und gerade deshalb ist
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das berühmte LLL – das „lebenslange Lernen“ – so unverzichtbar, um gerade diesem gewachsenen Wettbewerbsdruck standhalten zu können. Was nicht heißen soll, dass wir uns in Deutschland nur besser bilden müssten, damit alles wieder gut wird. Wenn Sie sich allein die jungen Akademikerinnen und Akademiker ansehen, die in anderen Ländern gerade auf den Arbeitsmarkt strömen, dann übertreffen uns China, Indien, auch Vietnam, Indonesien und Pakistan insgesamt um ein Vielfaches. Bessere Bildung kann für uns also allenfalls der erste Schritt sein, mathematisch gesprochen ist es eine notwendige, aber längst keine hinreichende Bedingung, um in Zukunft Erfolg zu haben. Schon heute ist es so, dass man ein Leben lang neue Herausforderungen bestehen und sich ständig weiterbilden muss. Das alte Sprichwort „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“ ist Vergangenheit, und auch das lineare und stetige Berufsleben wird aussterben angesichts moderner Patchwork-Biografien. In Zukunft wird es Phasen geben, in denen man arbeitet, dann bildet man sich weiter, geht in Elternzeit oder macht ein Sabbatical, um sich etwas vom Arbeitsstress zu erholen und mit neuen Ideen und höherer Produktivität wieder ins Berufsleben einzusteigen. Allerdings müssen sich dann aber auch unser Bildungssystem, die sozialen Sicherungssysteme und die ganze Organisation der Arbeit an diese strukturellen Veränderungen anpassen. Die eben skizzierten Entwicklungen verschärfen das zentrale Problem unseres Sozialstaats, nämlich dass in den letzten 50 Jahren die Ansprüche stetig gestiegen sind, das wirtschaftliche Wachstum jedoch vergleichsweise schwächer geworden ist. Letztlich führt dies dazu, dass Ausgaben und Leistungen nicht mehr übereinstimmen. Bis jetzt wurde diese sich öffnende Schere auf die einfachste aller Arten erledigt, indem man einfach Schulden gemacht und damit das Problem von der aktuellen auf die nachfolgenden Generationen verschoben hat. Erst in den letzten Jahren hat man gemerkt, dass dieses Vorgehen wohl das ganze System in eine Falle laufen lässt. Die Voraussetzungen des sozialstaatlichen Denkens stimmen heute in mehreren Punkten nicht mehr. Zunächst wächst die Bevölkerung nicht mehr – wir haben in Deutschland eine schrumpfende und alternde Bevölkerung mit vielen Alten und noch mehr ganz Alten. Dann haben wir weder Vollbeschäftigung noch ein starkes Wirtschaftswachstum, wodurch sich die Verteilungsspielräume verengen. Und schließlich machen die hohen Lohnnebenkosten gerade im Bereich der weniger Qualifizierten die Arbeit einseitig teurer, wirken sozusagen wie ein Hammer, der auch die kleinste Chance dieser Menschen gegenüber Maschinen, gegenüber Schwarzarbeit oder gegenüber Arbeitern im Ausland zertrümmert. Dies alles bringt mich zu der Feststellung, dass unser Sozialstaat in seiner jetzigen Form nicht zukunftsfähig ist. Wir müssen daher über das Grundproblem der Vermischung von Wirtschafts- und Sozialpolitik nachdenken, wir müssen
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versuchen, den Arbeitsmarkt wieder einen Markt werden zu lassen, bei dem Angebot und Nachfrage die Löhne und Gehälter bestimmen. Hierfür sprechen auch Erkenntnisse aus der Sozialökonomie, die zeigen, dass in einem Land, in dem die Verteilung der Einkommen als einigermaßen gerecht empfunden wird, auch das wirtschaftliche Wachstum stärker ist. Sozialpolitik darf also nicht indirekt über den Arbeitsmarkt betrieben werden, sondern Sozialpolitik muss mit den Instrumenten der Sozialpolitik direkt betrieben werden. Das ist eine ganz alte Formel, die übrigens nicht von einem Neoliberalen entwickelt worden ist, sondern vom niederländischen Mathematiker Jan Tinbergen, der dafür sogar den Nobelpreis erhalten hat. Tinbergen hat mathematisch wunderbar belegt, dass man mit einem Instrument immer nur auf ein Ziel schießen soll, denn ansonsten ist es wie beim Tontaubenschießen – wenn man auf zwei Tontauben gleichzeitig schießt, trifft man keine von beiden. In diesem Sinne ist es also viel klüger, mit sozialpolitischen Instrumenten sozialpolitische Ziele und mit Arbeitsmarktinstrumenten arbeitspolitische Ziele erreichen zu wollen. Die Grundforderung muss also lauten, weg von Lohnnebenkosten und hin zu direkten Transfers zu kommen, also eben nicht einen Mindestlohn, sondern eine Mindestsicherung anzustreben. Die Bestimmung eines sozialen Existenzminimums ist doch bereits heute eine politische Entscheidung des Bundestags, nachzulesen in den Sozialberichten des Sozialministeriums, genauso könnten man also auch in Zukunft das zu sichernde Niveau des Existenzminimums festlegen. Und es allen Menschen ohne Bedingung von der Wiege bis zur Bahre zahlen, als Grundeinkommen, zugleich aber auf alle gut gemeinten sozialpolitischen Eingriffe in den Arbeitsmarkt verzichten. Wie kann das Ganze praktisch aussehen? Gehen wir einmal von einem Grundeinkommen von 600 Euro aus, das jeder Bundesbürger erhält. Wenn man nun darüber hinaus ein Einkommen hat, zahlt man vom ersten Euro an einen festgelegten Steuersatz, gehen wir beispielsweise von 50% aus. Wenn man also 600 Euro dazuverdient, behält man davon 300, der Rest wird als Steuer abgezogen. Man kommt also insgesamt auf ein Einkommen von 900 Euro. Da jeder Euro an der Quelle seines Entstehens mit einem identischen Steuersatz belastet wird, ist das ganze System vollkommen bürokratiefrei – Steuererklärungen werden damit überflüssig. Niemand fragt danach, ob es der erste, der tausendste oder der millionste Euro ist, den man verdient. Und das gilt für alle Arten von Einkünften, Arbeit, Kapital- oder Zinseinkommen, Dividenden, Miete etc.
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Abbildung 1:
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Grundeinkommen 600 Euro, Steuersatz 50%
Nun stellt sich die Frage, ob beispielsweise auch der Professor, der ohnehin schon ein gutes Einkommen hat, auch noch diese 600 Euro Grundeinkommen bekommen muss. Ich sage ja, und zwar zum einen, weil es das ganze System viel einfacher macht. Zum anderen, weil gerade durch diese 600 Euro Grundeinkommen auch ein linearer Steuersatz eine progressive Wirkung hat. Wenn also auch der Professor diese 600 Euro bekommt und von seinen 10.000 Euro des von ihm selbst verdienten Einkommens 5.000 Euro brutto an Steuern zahlt, liegt er bei einem Nettosteuersatz von 44%. Dieser Nettosteuersatz ist also unglaublich progressiv. Deshalb wundere ich mich auch immer, dass ich Prügel von den Sozialdemokraten oder den Gewerkschaften bekomme. Ich habe im Gegenteil immer gedacht, ich würde Probleme mit meinen liberalen Kolleginnen und Kollegen bekommen, die einen derart progressiven Steuersatz ablehnen, der diejenigen entlastet, die wenig verdienen, und jene stärker belastet, die viel verdienen. Dieser Umverteilungseffekt wird auch deutlich, wenn man sich vor Augen hält, dass heute die geringeren Einkommen mit einem durchschnittlichen Abgabesatz von 55–60% des Bruttolohns belastet sind. Mit einem Grundeinkommen von 600 Euro hingegen würde sich gerade für kleine Einkommen ein viel geringerer Steuersatz ergeben.
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Tabelle 1:
Netto-Steuersätze: geringer, progressiv (Bsp.: GE = 600 Euro)
Bruttoeinkommen Steuersatz brutto Steuerlast brutto Grundeinkommen Steuerlast netto Nettoeinkommen Steuerlast netto
1.000 € 50% 500 € - 600 € - 100 € 1.100 € - 10%
1.200 € 50% 600 € - 600 € 0€ 1.200 € 0%
2.000 € 50% 1.000 € - 600 € 400 € 1.600 € 20%
5.000 € 50% 2.500 € - 600 € 1.900 € 3.100 € 38%
10.000 € 50% 5.000 € - 600 € 4.400 € 5.600 € 44%
So weit einige Rechenbeispiele, die vielleicht eine erste Vorstellung davon geben, wie so ein Grundeinkommensmodell aussehen könnte. Und um auf den vielfach vorgebrachten Einwand zu antworten, der Mensch wolle im Grunde nicht arbeiten und würde das Grundeinkommen nutzen, um auf der faulen Haut zu liegen: So gut wie alle sozialwissenschaftlichen Disziplinen – von der Glücksforschung bis zur Verhaltensforschung – gehen mittlerweile davon aus, dass der Mensch im Kern kein Drückeberger ist, sondern sich immer in irgendeiner Form nützlich machen und das Gefühl der Selbstwirksamkeit und der Verpflichtung erfahren will. Und ich möchte auch um so viel Fairness bitten, dass die zahlreichen Gründe, die gegen das Grundeinkommensmodell vorgebracht werden, auch als Gründe gegen das heutige System genannt werden: Wenn also gesagt wird, einige Menschen würden mit Grundeinkommen nur noch auf der Couch liegen und Fernsehen gucken – völlig richtig. Das tun sie aber heute auch schon! Ich frage mich, ob es marktökonomisch sinnvoll sein kann, all diese Menschen in den Arbeitsmarkt zurückzuprügeln. Oder anders ausgedrückt: In einem einigermaßen demokratischen System wird man Menschen, die nicht arbeiten wollen, nicht zur Arbeit zwingen können. Auch heute nicht. Sie können natürlich die Zwangsarbeit einführen, die Menschen in Ketten zum Straßenbau schleppen, aber ob das unser Zukunftsmodell ist, wage ich zu bezweifeln. Ich bin davon überzeugt, dass wir einen Systemwechsel brauchen. Korrekturen innerhalb des Systems bringen nämlich immer dieselben Probleme von Neuem hervor, was man sehr schön an der Diskussion über die Mehrwertsteuererhöhung sehen konnte, die auch ich anfangs unterstützt habe, da die Mehreinnahmen zur Senkung der Lohnnebenkosten eingesetzt werden sollten. Ich hielt das für eine clevere Idee, doch was ist passiert? Die Politik ist auf einem Drittel der Strecke stehen geblieben, und heute steigen die Lohnnebenkosten langsam schon wieder. Deshalb sollte man nicht innerhalb des Systems nach Lösungen suchen, sondern nach einem neuen System als grundsätzliche Alternative. Natürlich bin ich nicht so naiv zu glauben, dass wir mit einem Systemwechsel alle Probleme lösen könnten. Dafür ist der Mensch viel zu clever. Er wird
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immer seine individuelle Situation optimieren, und wenn ihm ein Modell auch nur die geringste Chance gibt, es zu seinen eigenen Gunsten auszunutzen, wird er das tun – und das ist auch richtig so, denn gerade durch dieses Verhalten zeigt er die Fehler des Systems auf. Wir werden also nicht alle Probleme lösen. Aber wir können uns wenigstens auf den Weg machen, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass alle kommenden Probleme leichter gelöst werden können.
Die Autorinnen und Autoren
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Die Autorinnen und Autoren Die Autorinnen und Autoren
Mikko Börkircher (Jahrgang 1976) absolvierte sein Studium des Bauingenieurwesens an der Universität Karlsruhe (TH). Nach seiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter am dortigen Institut für Arbeitswissenschaft und Betriebsorganisation (ifab) wechselte er in die freie Wirtschaft. Axel Bohmeyer (Jahrgang 1975) ist Geschäftsführer des Berliner Instituts für christliche Ethik und Politik (ICEP) und Dozent für Anthropologie und Ethik an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin (KHSB). Er studierte in Frankfurt am Main, Wien und Köln Philosophie, Theologie und Erziehungswissenschaften. 2005 wurde mit einer anerkennungstheoretischen Studie promoviert, für die er 2007 mit einem Preis der Offermann-Hergarten-Stiftung zur Förderung besonderer geisteswissenschaftlicher Leistungen an der Universität zu Köln ausgezeichnet wurde. Christian Dries (Jahrgang 1976) studierte Philosophie, Psychologie, Soziologie und Geschichte in Freiburg und Wien. Er ist Chefredakteur von www.sciencegarden.de und arbeitet derzeit an einer Dissertation über Günther Anders, Hannah Arendt und Hans Jonas. Martin Ehlert (Jahrgang 1982) ist Master-Student am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt Universität zu Berlin. Seinen Bachelor-Abschluss erhielt er 2006 nach einem Studium in Osnabrück und Örebro (Schweden). Neben dem Studium arbeitet er als studentischer Mitarbeiter am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Seine Forschungsinteressen liegen im Bereich der international vergleichenden Arbeitsmarktforschung. Thilo Gamber (Jahrgang 1977) studierte Informationswirtschaft, Angewandte Kulturwissenschaft und Betriebspädagogik an der Universität Karlsruhe (TH) und schloss sein Studium 2005 als Diplom-Informationswirt an den Fakultäten Wirtschaftswissenschaften und Informatik ab. Derzeit arbeitet der gebürtige Heidelberger als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Arbeitswissenschaft und Betriebsorganisation (ifab) an der Fakultät Maschinenbau der Universität Karlsruhe (TH).
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Die Autorinnen und Autoren
Uta Hanft (Jahrgang 1974) studierte an der Fachhochschule Bielefeld Architektur, war in Hamburg freiberuflich tätig und lebt und arbeitet nun in Berlin. Eine ihrer vielen Ideen, die sie aus eigenem Interesse oder im Auftrag entwickelt, ist die Freie Zeit Versicherung. Mit dieser Idee gehörte sie bereits im Vorjahr zu den Preisträgern des Deutschen Studienpreises. Tim Heemsoth (Jahrgang 1986) studiert seit dem Sommer 2006 an der ChristianAlbrechts-Universität zu Kiel die Fächer Mathematik, Wirtschaft/Politik und Sportwissenschaften auf gymnasiales Lehramt. Als Stipendiat der FriedrichNaumann-Stiftung für die Freiheit engagiert er sich aktiv im Arbeitskreis Bildung, mit dem er derzeit an einer Publikation im Bereich der frühkindlichen Bildung arbeitet. Die Erfahrungen über die Problematik der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die er beim Deutschen Studienpreis sammeln konnte, haben ihm auch an dieser Stelle sehr geholfen. Andreas Knabe (Jahrgang 1978) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Finanzwissenschaft der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Zwischen 1998 und 2002 studierte er Volkswirtschaftslehre an der Otto-von-GuerickeUniversität Magdeburg und der University of Kentucky, Lexington, USA. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Michael Knoll (Jahrgang 1977) lehrt und forscht am Lehrstuhl für Wirtschafts-, Organisations- und Sozialpsychologie an der Technischen Universität in Chemnitz. Er studierte Psychologie, Betriebswirtschaftslehre und Soziologie und promoviert derzeit zum Thema Selbstbehauptung in Organisationen. Weitere Forschungsinteressen richten sich auf Veränderungen von/in Organisationen und die empirische Sozialforschung. Bianca Koczan (Jahrgang 1979) studierte Modedesign an der Hochschule für Kunst und Design in Halle (Saale) und sammelte schon während ihres Studiums praktische Erfahrung in Paris. Für ihre Diplomarbeit erhielt sie neben dem Deutschen Studienpreis 2007 den 1. Preis der Stiftung der deutschen Bekleidungsindustrie 2006. Nach dem Studium gründete Sie 2006 das Label VVERK. Sie lebt derzeit in Berlin und arbeitet freiberuflich im Rahmen Ihres Labels mit dem Schwerpunkt Arbeitsbekleidung. Zudem gibt Sie Workshops für Modekonzeption und entwickelt eigene Kollektionen. (www.VVERK.com) Steffen Rätzel (Jahrgang 1979) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Wirtschaftspolitik der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Zwischen 1999 und 2004 studierte er Volkswirtschaftslehre an der Otto-von-Guericke-
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Universität Magdeburg. Während seines Studiums sammelte er praktische Erfahrungen in Sydney und Kapstadt. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Arbeitsmarkt- und Lebenszufriedenheitsforschung. Im Mittelpunkt seiner Dissertation steht die wohlfahrtsökonomische Analyse der psychologischen und externen Effekte der Arbeitslosigkeit. Jakob Schillinger (Jahrgang 1979) lebt in New York und Berlin. Als freier Autor und Künstler untersucht er die politische Dimension ästhetischer Praktiken und die ästhetische Dimension des Politischen. Seit 2003 gibt er Workshops zur Praxis und Theorie interaktiven Erzählens an bislang über 30 Hochschulen und Kultureinrichtungen in Europa. Nach seinem Studium der Visuellen Kommunikation und Bildenden Kunst in Berlin und New York ist er seit Herbst 2007 kuratorischer Praktikant im Media Department des Museum of Modern Art. (www.jakobschillinger.com) Martin Schröder (Jahrgang 1981) hat Europäische Studien in Osnabrück, Spanien und an der Sciences Po in Paris studiert. Derzeit ist er Doktorand am MaxPlanck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Themengebieten Politische Ökonomie und Wirtschaftssoziologie. Derzeit beschäftigt er sich mit der Frage, wie unter verschärften wirtschaftlichen Wettbewerbsbedingungen Verteilungswirkungen erzielt werden können, die gesellschaftlichen Gerechtigkeitsvorstellungen nicht widersprechen. Thomas Straubhaar (Jahrgang 1957) ist Direktor des Hamburgischen WeltWirtschaftsInstituts (HWWI). Straubhaar studierte Volkswirtschaftslehre, Operations Research und Mathematik an der Universität Bern. Nach Promotion und Habilitation in Bern ging er als Lehrbeauftragter nach Konstanz und Basel. 1992 erhielt er eine Professur an der Universität der Bundeswehr Hamburg, seit 1999 lehrt er Volkswirtschaftslehre mit dem Schwerpunkt Wirtschaftspolitik an der Universität Hamburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Internationale Wirtschaftsbeziehungen, Ordnungspolitik und Bildungs- und Bevölkerungsökonomie. Thomas Straubhaar ist Kuratoriumsmitglied des Deutschen Studienpreises. Christopher Wratil (Jahrgang 1986) studierte zwei Semester „Philosophy & Economics“ in Bayreuth. Derzeit studiert er an der Freien Universität Berlin Politikwissenschaft. Seine Interessenschwerpunkte sind die Anwendung ökonomischer Methoden in den Sozialwissenschaften und Europäische Integration. Er ist Stipendiat des Studienkollegs zu Berlin für europäische Themen.