Sie hatten ihn gehaßt und gefürchtet, aber sie hatten sich seiner ungewöhnlichen Talente bedient. Bis zu dem Zeitpunkt,...
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Sie hatten ihn gehaßt und gefürchtet, aber sie hatten sich seiner ungewöhnlichen Talente bedient. Bis zu dem Zeitpunkt, da er ihnen zu gefährlich wurde. Das Todesurteil war beschlossen. Es mußte nur noch vollstreckt werden ... Paul Breen hatte seine außergewöhnliche Begabung erst spät entdeckt. Daß andere Menschen nicht ebenso Gedanken lesen konnten wie er, war ihm zunächst nicht aufgefallen. Doch dann hatte er festgestellt, daß er der einzige war, ein Außenseiter. Die damit verbundene Gefahr war ihm klargeworden, als es schon zu spät war. Denn inzwischen hatten sie eine Spur entdeckt, die Männer vom FBI und CIC. Und obwohl sie sich über die Tragweite seiner Fähigkeiten noch nicht ganz im klaren, waren, wußten sie doch, daß Paul Breen eine gefährliche Waffe war – und eine Bedrohung für die Menschheit ...
In der Reihe der Ullstein Bücher: Science-Fiction-Stories Band 1 bis Band 36 Science-Fiction-Romane Poul Anderson: Feind aus dem All (2990) Fredric Brown: Sternfieber (2925) Samuel R. Delaney: Sklaven der Flamme (2828) Cyril Judd: Die Rebellion des Schützen Cade (2839) Murray Leinster: Die Irrfahrten der »Spindrift« (2917) Im Reich der Giganten (2937) C. C. MacApp: Söldner einer toten Welt (2968) Larry Maddock: Gefangener in Raum und Zeit (2857) Andre Norton: Geheimnis des Dschungel-Planeten (3013) H. Beam Piper: Null-ABC (2888) Eric Frank Russell: Planet der Verbannten (2849) Gedanken-Vampire (2906) Der Stich der Wespe (2965) So gut wie tot (3007) James H. Schmitz: Dämonenbrut (3022) Richard S. Shaver: Zauberbann der Venus (2944) Bart Somers: Zeitbombe Galaxis (2872) Welten am Abgrund (2893) L. Sprague de Camp: Vorgriff auf die Vergangenheit (2931) Der Turm von Zanid (2952) Der Raub von Zei (2977) Die Rettung von Zei (3000) Thalia – Gefangene des Olymp (3038) Jeff Sutton: Die tausend Augen des Krado 1 (2812) Sprungbrett ins Weltall (2865) Wilson Tucker: Die letzten der Unsterblichen (2959) Die Unheilbaren (2981) Manly W. Wellman: Insel der Tyrannen (2876) Invasion von der Eiswelt (2898) Robert Moore Williams: Zukunft in falschen Händen (2882)
Ullstein Buch Nr. 3030 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Wild Talent« Aus dem Amerikanischen übersetzt von Bodo Baumann Umschlagillustration: ACE Alle Rechte vorbehalten Copyright © 1959 by Wilson Tucker Alle Rechte vorbehalten Übersetzung © 1974 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1974 Gesamtherstellung: Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH ISBN 3-548-03030-0
Wilson Tucker
Geheimwaffe Mensch SCIENCE-FICTION-Roman
Herausgegeben von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!
Eins: 1953 Die Mikrophone waren tot, schon seit vielen Tagen abgeschaltet. Keiner kümmerte sich mehr darum. Keiner versuchte mehr, ihr Vorhandensein zu täuschen. Wütend hatte die junge Frau alle Drähte herausgerissen; aber man hatte sie nicht dafür bestraft. Einen Stock tiefer war die Entscheidung getroffen worden. Sie war unwiderruflich. Es gab keine Vergeltungsmaßnahmen mehr, wenn sie sich auch noch so sehr anstrengte. Die Tarnung war aufgegeben worden. Sie sprach mit lauter Stimme, genoß die wiedergewonnene Freiheit, ohne Furcht vor geheimen Abhöranlagen reden zu können. Sie konnten sie nicht mehr belauschen. Sie hatte die Mikrophone zertrümmert. Sie stellte ihre Fragen mit lauter Stimme, obwohl sie eigentlich keine Antworten darauf erwartete. »Sie wollen dich töten? Etwa jetzt gleich? Heute – oder morgen?« Sie war blaß, stand mit verkniffenem Gesicht neben dem Fenster und starrte hinunter auf den gepflegten Rasen zwei Stockwerke tiefer. Gestalten bewegten sich dort unten, männliche Gestalten, die es sorgfältig vermieden, zu den Fenstern im dritten Stock hinaufzublicken. Patrouillierende Marionetten, und andere
Marionetten, die den Marionetten nachspionierten. Die ungewöhnliche Blässe auf ihrem Gesicht, die nervösen Bewegungen der Finger ihrer Hände, die sie auf dem Rücken verschränkt hatte – das waren die einzigen sichtbaren Zeichen ihrer Angst. Die junge Frau stand aufrecht, die Muskeln angespannt, starrte aus dem Fenster und wartete, daß etwas passierte. »Paul ...?« Er hatte nicht hingehört. Er las schon wieder. Ihr haßerfüllter Blick folgte den Marionetten, abschätzend, abwägend. Ab und zu schlenderte ein Mann in Uniform über den Rasen. Manchmal war der Mann in Uniform von einem Zivilisten begleitet. Sie kannte die Zivilisten. Sie wußte, wer von ihnen ein Geheimagent war und wer zum Stab des Hauses gehörte, obwohl sie zwanglos miteinander verkehrten, um ihre Identität zu verbergen. Sie wußte, wer zu den Büroangestellten gehörte und wer zu den Agenten, die die Büroangestellten überwachten. Sie wußte, wer in der Nachrichtenabteilung arbeitete, kannte die Köche, die Laufburschen, die Leibwächter. Sie kannte die Männer, die erst vor kurzem die Abhöranlage verlassen hatten, nachdem sie die Mikrophone zerstört hatte. Sie kannte sie alle. Die Marionetten waren für sie wie ein offenes Buch. Sobald der Deckel aufgeschlagen war, konnten sie ihre geheime Identität nicht mehr vor ihr verbergen. Auch nicht vor ihm, vor Paul.
Ohne sich umzudrehen, sprach sie mit erhobener Stimme, um seine Aufmerksamkeit von seinem Buch abzulenken. »Paul – dieses Todesurteil. Ist das endgültig.« »Ja.« Der Mann antwortete geistesabwesend, mit seinen Gedanken weit entfernt. Er war immer noch in sein dickes Buch vertieft. »Wer wird es vollstrecken?« Ihr Blick glitt rasch über die Marionetten, die sich unten bewegten. »Weißt du, wer es vollstrecken soll?« »Ich bin mir nicht sicher«, sagte er langsam. »Ich vermute, es wird der Neue sein. Sie nennen ihn Colonel Johns. Aber ich bin mir nicht sicher.« Die Frau hob den Kopf, löste den Blick vom Rasen und den Uniformen und suchte den Horizont. Die hohe Steinmauer und das dichte Gehölz waren der Horizont, den man ihnen aufgezwungen hatte. Die Bäume waren alt und hoch und wunderschön vor dem blauen Himmel von Maryland. Aber die Mauer war neu und rauh, die Mauerkrone gespickt mit Glasscherben und Alarmdrähten. Sie konnte den goldenen Rand der späten Nachmittagssonne über den Baumwipfeln sehen, die rosig angehauchten Wolken, die in anmutigen Formen über der Sonne schwebten, und die Schwingen der Vögel, die sich schwarz von den Wolken abhoben. Aber trotz aller Konzentration konnte ihr Blick die Steinmauer nicht durchdringen.
Die Mauer war neu, war erst vor ein paar Jahren errichtet worden, eine Schande für diese idyllische Landschaft. Ihre Augen konnten nicht hinter die Mauer sehen, konnten nichts zwischen den Bäumen erkennen, obwohl sie wußte, was sich dort bewegte. Sie wußte, daß sich dort Männer bewegten, gleich hinter der Mauer und unter den Bäumen. Sie bewachten die Leute im Haus, obwohl sie nicht wußten, wen sie bewachten. Die Scharfschützen saßen in ihren getarnten Baumnestern, während unter ihnen die MGSchützen paarweise durch den Wald streiften. Wild war hier nicht willkommen. Hasen und Vögel waren geflüchtet, als die Soldaten anrückten. Der künstlich aufgebaute Horizont war kaum eine Meile vom Haus entfernt. »Colonel Johns«, sagte sie nachdenklich und tonlos. »Er gehört wahrscheinlich zum Heer. Und die anderen?« »Ein Freund von Slater. Ein sorgfältig ausgesuchter Freund für diesen Job. Er gehört zum Heer – ja.« Paul drehte sich ein wenig auf seinem Stuhl, um besser lesen zu können. »Die anderen halten still. Ich vermute, daß sie Skrupel haben. Äußerlich stimmen sie meinem Todesurteil zu; aber sie weigern sich, es zu vollstrecken.« »Colonel Johns kam erst vor ein paar Stunden aus Washington.«
Paul nickte. »Slater hat ihn begleitet.« »Er ist hier? Hier im Haus? Das ist ungewöhnlich.« Er nickte. »Sie haben das Urteil mitgebracht. Davon bin ich überzeugt.« »Aus Washington?« fragte sie. »Von welcher Behörde?« »Von Slaters Behörde. Er hat die Entscheidung getroffen.« Paul hob den Blick. »Nicht was du denkst. Nicht von der Spitze. Dem Präsidenten wird man erzählen, ich sei einem Unfall zum Opfer gefallen – einem sehr gewöhnlichen, aber glaubwürdigen Unfall. Jeder wird natürlich sein außerordentliches Bedauern über mein Dahinscheiden äußern und den außerordentlichen Verlust für die Nation beklagen.« Er lächelte kurz. »Der Mann an der Spitze neigt nicht zu übertriebenem Mißtrauen. Er glaubt allen, denen er vertraut, und er hat keinen Grund, Slater zu mißtrauen.« Ihre Blicke begegneten sich. Sie las in seinen Augen seine Zuneigung für sie. »Paul!« Sie verließ das Fenster, lief zu ihm, nahm ihm das Buch aus den Händen. Zärtlich strich sie mit der Hand über sein Gesicht, streifte seine Wange mit dem Diamanten in ihrem Verlobungsring. »Wie kannst du in diesem Moment nur lesen ...?« Paul hob das Buch auf, schloß es und legte es auf den Tisch neben seinem Stuhl. Dann zog er sie zu sich herunter auf seinen Schoß.
»Ich habe früher Robinson nicht gelesen«, sagte er und klopfte mit den Fingerknöcheln auf den Einband. »Ich wollte es beenden.« Sie legte ihren Kopf an seine Schulter, drückte ihre Lippen an seinen Hals. »Paul, und wenn ...?« »Nicht doch«, warnte er sie und blickte unwillkürlich in die vier Ecken des Zimmers. »Wir wollen nicht darüber sprechen.« »Also gut.« Ihre Lippen glitten über seinen Hals. »Trotzdem – wie kannst du in diesem Moment lesen!« Sie legte die Arme um seinen Hals und zog ihn zu sich heran. »Schade, daß Robinson nicht hier ist, um meine Antwort zu hören.« Er legte die Arme um ihre Taille. »Wahrscheinlich hätte er sich darüber gefreut. Jemand hat sich dazu entschlossen, seine Situation dreißig zu lösen.« »Ich kenne das Buch nicht.« »Robinson war Dozent an der Militärakademie für Strategie. Er erfand taktische Probleme, und seine Zuhörer mußten diese Probleme lösen. Zu diesen Aufgaben gehörte ein klassisches Problem, auf das es scheinbar keine Antwort gab. Das Problem war im Grunde ziemlich einfach. Zwei feindliche Kriegsschiffe trafen zufällig in der Dunkelheit aufeinander und belauerten sich. Sie waren absolut gleichwertig und konnten sich deshalb
von einem Angriff keinen Sieg versprechen. Sie konnten auch nicht abdrehen und den nächsten Hafen aufsuchen, denn dieses Manöver hätte dem Gegner die Lage des Hafens verraten. Also blieb nur der Ausweg, so lange zu warten, bis der andere den ersten Zug machte. Doch das konnte unendlich lange dauern. Robinson beschreibt dann den nächsten Zug. Am Morgen warfen die Matrosen des einen Schiffes eine geheimnisvolle Kugel über Bord, die auf das andere Schiff zutrieb. Das geschah ganz offen, so daß die Besatzung des anderen Schiffes jeden Handgriff genau verfolgen konnte. Da der geheimnisvolle Hohlkörper keine Mine zu sein schien, holte das andere Schiff die Kugel an Bord. Und jetzt begann ein Nervenkrieg, der mit dem Hohlkörper offenbar ausgelöst werden sollte. Der Kommandant des zweiten Schiffes hatte Angst, den kugelförmigen Körper zu öffnen, weil er fürchtete, damit vielleicht eine Explosion auszulösen. Andererseits hatte er aber auch Angst, den Körper nicht zu öffnen, denn es konnte ja immerhin eine Zeitbombe sein. Und ins Wasser zurückwerfen wollte er den Körper auch nicht, weil vielleicht die zweite Wasserberührung der Auslöser für die Bombe sein konnte. Das Problem stellte sich also als Waffe des Irrationalen dar, als Angst vor dem Unbekannten und Ausfluß der menschlichen Phantasie. Der Komman-
dant des zweiten Schiffes würde schließlich an seiner eigenen Unsicherheit und Ungewißheit zugrundegehen, und sein Zusammenbruch hätte einen unblutigen Sieg für das andere Schiff bedeutet.« »Also mußte er mit einer anderen Maßnahme kontern«, sagte sie. »Richtig. Er wirft also ebenfalls eine Kugel über Bord, und die Pattsituation ist wiederhergestellt. Robinson deutet die einzige Lösung für diese Situation an. Einer der beiden Kommandanten muß mit dem Schweißbrenner die Kugel öffnen und sich von ihrer Harmlosigkeit überzeugen. Entweder explodiert die Kugel und versenkt sein Schiff, oder sie explodiert nicht, und der Kommandant gewinnt seine Handlungsfreiheit wieder. Aber Freiheit wozu?« Paul zog die junge Frau noch enger an sich. »In Washington oder einen Stock tiefer haben sie sich endlich dazu entschlossen, Robinsons Problem zu lösen. Offenbar hat man Colonel Johns die Aufgabe des Schweißbrenners zugewiesen.« »Wie soll er die Aufgabe lösen?« fragte sie leise. »Sie wissen es noch nicht.« »Wann?« »Noch heute abend, glaube ich. Aber ganz bestimmt noch vor Sonnenaufgang morgen früh.« Sie zuckte zusammen. »So früh? So bald?« Paul wiederholte ihre Worte. »So früh, so bald. Solange sie noch den Mut dazu haben.«
Sie erschauerte. »Ich habe Angst, Paul. Innerlich. Ich kann mir nicht helfen.« »Nur ruhig bleiben, mein Engel, ganz ruhig.« Er zog ihren Kopf an seine Schulter. Vor dem Fenster sank die Sonne tiefer. Als wüßte sie, daß er aus dem Fenster blickte, sagte sie: »Es ist ein wunderschöner Sonnenuntergang.« »Ich habe die Sonne in Maryland schon oft untergehen sehen. Fast zu oft.« »Hast du denn keine Angst?« »Vor denen? Oder vor dem, was sie vorhaben? Nein. Ich bedaure nur. Alles.« »Paul, Paul, warum hast du dich nur darauf eingelassen!« Sein Blick hielt den Himmel fest, die Wipfel der Bäume. »Ein kleiner Junge hat mich in die Sache hineingezogen, ein Junge aus Chicago. Er hieß Paul Breen und wußte zuviel, aber nicht genug, um seinen Mund zu halten. Er wollte den Agenten spielen.« »Und endet hier«, fügte sie bitter hinzu. Er nickte. Ein kleiner Junge, der heranwuchs und schließlich in einer großen alten Villa in Maryland landete. Die uniformierten Offiziere kamen und gingen oder schlenderten über den Rasen. Dazwischen bewegten sich Zivilisten – ein Angestellter, eine Schreibkraft, ein Nachrichtenbote oder ein Geheimagent, der sich
krampfhaft bemühte, sich ganz anders zu geben als ein Geheimagent. Und keiner, der eingeweiht war, riskierte einen Blick hinauf zu den Fenstern im zweiten Stock. Hinter dem herrlichen Rasen jenseits der Mauer gingen noch mehr Männer unter den Bäumen umher. Sie beobachteten die Mauer und den Teil des Hauses, den sie über der Mauer einsehen konnten. Sie beobachteten die Felder hinter dem Wald, und niemand konnte die Postenkette passieren, ohne einen Erlaubnisschein bei sich zu haben. Diese Villa in Maryland war die am strengsten bewachte Festung seit dem Manhattan-Projekt. Sie wurde schärfer bewacht als Fort Knox, Oak Ridge, Hanford oder das Weiße Haus. Und das alles nur, weil ein Junge namens Paul Breen ein eigenartiges Talent besaß und zuviel wußte, aber doch nicht genug. Paul brach das Schweigen zwischen ihnen. »Ich hatte mal einen sehr guten Freund, der das alles kommen sah.« »Slater trat dazwischen«, antwortete sie verbittert. »Slater trat immer dazwischen, so oder so. Er nahm mir der Reihe nach alle Freunde weg – und beseitigte sie. Ich bin ihm dafür noch etwas schuldig.« Die Sonne versank hinter den Bäumen, unter denen es vor Soldaten und Waffen nur so wimmelte. Im Haus wurde es relativ still. Nur das halblaute Ge-
spräch vieler Menschen war zu vernehmen, die sich zum Abendbrot versammelten. Paul gab ihr einen sanften, liebevollen Klaps. »Das Essen wird inzwischen bereitstehen. Kümmere dich drum, ja?« Sie klammerte sich nur noch fester an ihn. »Oh, Paul!« »Nun laß das mal. Du hast keinen Grund, den Kopf zu verlieren. Schließlich bist du von der Entscheidung nicht betroffen. Du mußt auf dich selbst aufpassen. Und laß keine Chance aus, die man dir bietet.« »Ich wünschte, sie hätten mich ebenfalls verurteilt!« »Unsinn.« Er berührte den Ring an ihrem Finger. »Du bist für sie nicht gefährlich. Sie wissen sehr wenig über dich. Nichts, was wichtig wäre.« Er bewegte den Ring mit der Fingerspitze. »Nütze diesen Vorteil. Es wird schwer werden für dich. Also paß auf dich auf.« »Mir macht das alles nichts aus. Ich kann Härte vertragen. Ich habe keine Angst vor denen.« Seine Hand schloß sich um ihren Ringfinger. »Denk immer daran, daß du gar nichts weißt! Je weniger du weißt, desto länger wirst du am Leben bleiben. Du ahnst nichts von meinen Eigenschaften, weißt nicht, was ich hier getan habe; ahnst nichts von dem, was geschehen wird. Du hast nie etwas von Colonel Johns gehört, weißt nichts von seinem Auftrag. Denk daran!«
»Schon gut, Paul.« Sie küßte ihn zärtlich. »Ich werde daran denken. Und später ...?« »Anschließend machst du es genauso, wie du es geplant hast. Warte auf deine Chance. Wenn sie kommt, fliehst du, so weit du nur kannst. Wenn sie dich schnappen ...« »Sie werden mich bestimmt nicht schnappen, Paul. Das verspreche ich dir.« Er bewegte sich auf dem Stuhl, schob das Mädchen von seinen Knien. »Ich habe Hunger. Schau mal nach, weshalb man das Abendessen nicht bringt.« Sie klammerte sich noch einmal an ihn, doch er wehrte sie lachend ab. »Rühr dich!« Sie sah ihn an und tauschte einen geheimen Gedanken mit ihm. Sie ging zur Tür und zögerte, die Hand auf dem Türgriff. »Ich bin glücklich, weil du mich liebst, Paul.« Und dann öffnete sie die Tür. Sie blieb dort ein paar Sekunden lang wie angewurzelt stehen, starrte durch die halb geöffnete Tür auf den Korridor hinaus, während sie die Hand auf den Mund legte, um nicht laut zu schreien. Dann drehte sie sich ihm zu. Ihr Gesicht war gerötet, verzerrt vor Angst. »Sei vorsichtig!« sandte er den Gedanken aus. »Du weißt nichts!« »Paul ...«
»Ja?« »Die Zeit mit dir war so wunderbar, Liebling«, flüsterte sie. »Auf Wiedersehen.« Und dann war sie draußen auf dem Korridor, beiseitegeschoben von einem großen Mann. Der Mann trug keine Uniform; aber er konnte seine militärische Haltung nicht verleugnen. Er trat rasch ins Zimmer und schloß die Tür mit einer energischen Bewegung hinter sich. Paul bewegte sich nicht auf seinem Stuhl. »Colonel Johns?« »Da Sie meinen Namen bereits wissen – ja.« »Kommen Sie doch bitte herein.« »Ich bin schon im Zimmer.« »Sehr gut. Ich habe jemand hinuntergeschickt, damit er mir das Abendessen bringt. Wollen Sie mein Gast sein?« »Nein. Und niemand wird Ihnen das Essen bringen.« »So?« Paul lehnte sich auf dem Stuhl zurück, die rechte Hand auf dem Buchrücken. »Und ...?« »Und?« wiederholte der Colonel die Frage und stemmte sich mit den Schultern gegen die geschlossene Tür. »Und jetzt werde ich mir weitere Förmlichkeiten schenken.« Er zog eine Dienstwaffe unter dem Jackett hervor. »Es wird keine Henkersmahlzeit geben, keine berühmten letzten Worte. Wenn Sie schon
meinen Namen kennen, müßten Sie auch wissen, daß ich vor Ihnen genauso viel Respekt habe wie vor einer Klapperschlange.« Er hob die Waffe und zielte sorgfältig auf Paul. Paul Breen bewegte sich keinen Millimeter auf seinem Stuhl. »Ich kann also nichts mehr sagen?« fragte er ruhig. »Nichts. Die Würfel sind gefallen.« Der Finger krümmte sich um den Abzug. »Dann tun Sie mir leid. Leben Sie wohl, Colonel Johns.« Die Waffe zuckte und beschrieb blitzschnell einen Bogen, ehe der Schuß fiel. Die Wände waren schalldicht. Und die stillgelegten Mikrophone konnten den Knall der Explosion nicht übertragen.
Zwei: 1934 Paul Breen war dreizehn Jahre alt. Sieben Dollar und fünfzig Cents steckten in seiner Tasche, fest in sein Taschentuch eingewickelt. Er war unterwegs zur Weltausstellung. Es gab kein reicheres, glücklicheres Kind auf dieser weiten Welt. Chicago war einhundertdreißig Meilen weit entfernt, und die Busfahrt kostete mehr als zwei Dollar. Das war zuviel. Paul wartete im Güterbahnhof auf den Güterzug, der jeden Vormittag kurz vor zwölf durchkam. Alle Leute hatten im vergangenen Sommer nur noch von der Weltausstellung gesprochen. Das hatte in ihm einen Funken ausgelöst, ein verzehrendes Feuer entfacht. Er mußte diese Ausstellung unbedingt besuchen. Doch seine Tante hatte ihm streng verboten, sich mit diesem Plan zu befassen. Schließlich war er erst zwölf Jahre alt. Doch ganz unerwartet hatte Chicago im nächsten Jahr die Ausstellung noch einmal eröffnet. Und in diesem Sommer war er kein Kind mehr, sondern ein Jüngling. Ein noch sehr junger Jüngling, aber das war nicht wichtig. Seine Tante sagte immer noch nein und verfluchte im stillen die Leute, die für die Wiederholung der Ausstellung verantwortlich zeichneten. Sie preßten aus dem Spektakel den letzten Cent heraus. Hatte nicht in der Zei-
tung gestanden, die Ausstellung wäre ein riesiger finanzieller Erfolg gewesen? Paul blieb hartnäckig, und schließlich hatte die geplagte Frau ihre Zustimmung gegeben. Doch sie knüpfte eine Bedingung daran. Diese Bedingung war ihre Ausrede, ihre Ausflucht, die Verantwortung von sich auf die Umstände abzuwälzen. Er könnte die Ausstellung besuchen – wenn er das Geld hatte, um für sich selbst zu sorgen. Das war eine vernünftige Bedingung und nahm ihr eine Entscheidung ab. Das ersparte ihr ein schlechtes Gewissen. Doch zwei Monate später, im August, erlebte sie ihre Überraschung. Auf ihre neugierigen, beleidigten Fragen gab er ihr gewissenhaft Antwort – wo und wie er sich jeden Cent verdient hatte. Sieben Dollar und fünfzig Cents. Das war mehr, viel mehr, als mancher Erwachsene im Krisensommer 1934 verdiente. Paul durfte also die Weltausstellung in Chicago besuchen. Er spürte den sich nähernden Bahnpolizisten, ehe er den Mann sehen konnte. Er erriet die Identität des Mannes, ehe seine Frage sie enthüllte. »He, du da! Was machst du denn hier?« »Ich warte auf den Zug«, erwiderte Paul. »Was für ein Zug? Der Zug hält drüben auf dem Bahnhof.« Der Mann ragte vor ihm auf wie ein Popanz.
»Ich warte auf den Zug«, wiederholte Paul monoton. Der Polizist betrachtete ihn eingehend. »Wie alt bist du denn?« »Dreizehn.« »Wissen deine Eltern, wo du dich herumtreibst?« »Ich wohne bei meiner Tante. Sie sagte, ich dürfte gehen. Wenn ich genug Geld hätte.« Er schob trotzig die Unterlippe vor. »Ich habe mir genug Geld verdient.« »Wieviel?« Paul zog sein Taschentuch hervor, zeigte rasch seinen Schatz und verbarg ihn dann wieder in der Hosentasche. »Sieben Dollar und fünfzig Cents.« »Sieben Dollar und fünfzig Cents«, wiederholte der Polizist beeindruckt. »Du willst wohl die Ausstellung besuchen?« Woher konnte er das wissen? »Jawohl, Sir.« »Dann hör mir mal gut zu, mein Junge. Der Güterzug hält hier nicht, und er fährt auch viel zu schnell durch – viel zu schnell, als daß du aufspringen könntest. Du gehst jetzt am Gleis entlang bis zur nächsten Weiche. Dort ist ein Signal, das auf Rot steht, wenn der Güterzug einfährt. Aber du steigst nicht eher auf, bis der Zug steht, Verstanden?« »Jawohl, Sir!« Die Dunkelheit hatte sich wieder gelichtet. Der Polizist würde seine Reise nach Chicago
nicht verhindern. »Also bis zur Weiche soll ich vorgehen?« »Und laß dir noch etwas sagen: Fahr nicht mit bis zum Güterbahnhof von Chicago. Dort schnappen sie dich hundertprozentig und stecken dich ins Gefängnis. Du willst doch nicht ins Gefängnis, oder?« »Nein, Sir!« »Schön. Wenn der Güterzug vor dem Güterbahnhof seine Fahrt verlangsamt, mußt du abspringen. Und paß auf dich auf!« Seine Hand kam plötzlich aus der Tasche. »Hier!« Noch einen halben Dollar. Jetzt waren es schon acht. Trotz der Wärme des Spätsommers war es kühl in dem Güterwagen. Jetzt war er seiner Tante dankbar dafür, daß sie ihm die warme Jacke aufgeschwätzt hatte. Er blieb in der Nähe der offenen Schiebetür, halb entschlossen, aus dem fahrenden Zug zu springen, wenn der Betrunkene, der an der entgegengesetzten Wand saß, ihn belästigen sollte. Doch der Betrunkene brummelte nur etwas vor sich hin und schlief dann ein. Als der Güterzug vor dem Bahnhof von Chicago bremste, schwang er sich aus dem Waggon, stolperte auf dem Bahndamm, fing sich wieder und hüpfte über die Gleise. Er hatte sich die Hände schmutzig gemacht und blutete aus einer Rißwunde.
Sein Gesicht war rußgeschwärzt vom Rauch der Lokomotive. Er hatte noch nie einen Saloon von innen gesehen, wußte aber, daß Toiletten mit Waschräumen zu einem Saloon gehörten. Paul suchte den erstbesten Saloon auf, und wurde prompt wieder hinausgeworfen. Jetzt ging er raffinierter vor und betrat einen Saloon, in dem sich die Kundschaft an der Theke drängte. Der Barkeeper war viel zu beschäftigt, um sich jeden Gast einzeln anzusehen, der hereinkam. Er entdeckte ihn erst, als er sich bereits gewaschen hatte. Erst spät am Abend, als die Bauten der Ausstellung in grelles buntes Scheinwerferlicht getaucht waren, verließ Paul die Ausstellung wieder und fuhr mit dem Bus zurück zum Loop. Die Straßennamen sagten ihm nichts, und er gab sich nicht die Mühe, sie auswendig zu lernen. Er mußte sich nur die Lage der Busstation einprägen, von der aus er den Bahnhof wieder erreichen konnte. Er wußte, daß er sich auf dem Loop befand, solange die Züge auf den Schienen der Hochbahn über seinem Kopf dahinratterten. In den engen, lauten Straßen unter der Hochbahn gab es viele Speiselokale und billige Hotels. »Saubere Zimmer – 35 Cents«, las er, und »Zimmer mit Frühstück, 40 Cents.« Das war der richtige Preis. Er entschied sich für diese Bleibe. Aber noch nicht gleich. Es war noch
zu früh, um zu Bett zu gehen. Er würde später hierher zurückkommen. Die Straße war eine faszinierende Welt. Betrunkene schliefen in den Hausgängen, Obdachlose badeten ihre wunden Füße in den Pfützen. Ein Polizist hielt ihn an und fragte ihn aus. Paul wiederholte seine Geschichte von der Tante und seiner Reise zur Weltausstellung. Er ging in ein Kino, das die ganze Nacht geöffnet war, und sah sich den Film Tugboat Annie zweimal an. Er amüsierte sich über den Platzanweiser, der jede halbe Stunde durch den Mittelgang schlenderte und die Schlafenden weckte und aus dem Kino wies. Paul döste am Ende der zweiten Vorstellung ebenfalls ein, aber er spürte den Platzanweiser kommen und wandte sich ihm mit weit geöffneten Augen zu, als er mit der Taschenlampe am Ende der Sitzreihe stehenblieb. Kurz darauf verließ Paul das Kino. Die Lichter waren zum größten Teil schon ausgeschaltet, die Straßen fast leer. Nur noch selten ratterten die Züge über die Hochbahngleise. Paul wanderte ziellos durch die Straßen, bog planlos um eine Ecke, suchte sich nach dem langen Aufenthalt im Kino wieder zurechtzufinden. Und dann sah er den Mann. Zuerst dachte er, der Mann sei betrunken. Doch im nächsten Augenblick begriff Paul, daß es etwas anderes sein mußte, was den Mann auf die Knie gezwun-
gen hatte. Er kniete in einer Einfahrt, schien verletzt zu sein – eine Schußverletzung. Instinktiv trat Paul näher heran. Der Mann hörte Pauls Schritte und blickte über die Schulter. Paul blieb neben dem Mann stehen. »Man hat auf Sie geschossen!« »Verschwinde. Junge, verschwinde!« Doch Paul wich nicht von der Stelle. Die Angst stieg in ihm hoch, riet ihm zur Flucht, drängte ihn wegzulaufen, so weit ihn seine Füße trugen. Aber der Mann auf den Knien war ein Polizeibeamter. »Sie müssen die Gangster erwischen! Die können doch nicht einfach auf einen Polizisten schießen ...« »Mach sofort, daß du weiterkommst, du kleiner Narr!« Der Verwundete preßte die Hände auf den Unterleib und starrte den Jungen an. Das Bild vor seinen Augen bewegte sich und zerfloß. Paul zögerte immer noch. Und plötzlich wußte er über vieles Bescheid, spürte den furchtbaren Schmerz, der den Mann quälte. Das war kein gewöhnlicher Polizeibeamter, sondern ein G-Man aus Washington. Der Mann trug keine Waffe bei sich. Und das Bild von der Straße und dem Jungen, das in seinem Gehirn entstand, war trüb und verschwommen. Der Mann hieß Bixby. »Mr. Bixby, ich hole Hilfe. Die Täter dürfen nicht ungestraft entkommen!«
Bixby sah den Jungen verwirrt an: »Woher kennst du ...?« Und dann brach er zusammen. Der Satz blieb unvollendet. Paul Breen blickte die Leiche entsetzt an. Er wußte, daß der FBI-Mann tot war. Etwas Dunkles, namenlos Schreckliches schien über dem Körper zu schweben und sich auf das Antlitz des Agenten herabzulassen. Und dieses Namenlose vermittelte das Gefühl des Verlöschens ... Vergehens. Paul drehte sich um und rannte davon, rannte, bis das Herz wie ein Hammer gegen die Rippen klopfte. Er stolperte, setzte sich auf den Randstein, schlug die Hände vors Gesicht und kämpfte mit den aufsteigenden Tränen. Und plötzlich blieb ein Fremder neben ihm stehen und stellte die üblichen Fragen. Diesmal hatte er das Kommen des Mannes nicht gespürt, so benommen war er noch von dem erlebten Schrecken und der Anstrengung des Laufes. Paul sagte nur die halbe Wahrheit. Er hatte das Hotel und die Straße, in der es lag, nicht mehr gefunden und war eine Stunde lang umhergewandert, um es zu suchen, erzählte er. Und dann beschrieb er die Straße, so weit er sich noch an sie erinnern konnte, erzählte von den vielen billigen Restaurants und den Preisschildern in den Fenstern. Und dann half ihm der Fremde wieder auf die Füße und führte ihn vier Straßen weiter, bis sie vor dem Schild standen, das Paul beschrieben hatte: »Zimmer mit Frühstück – 40 Cents.« Paul bedankte sich
und stieg dann die Treppe zur Haustür hinauf, wo ein alter Mann in einem Schaukelstuhl saß und ihn befremdet musterte, als er um ein Zimmer bat. Doch er nahm schweigend Pauls vierzig Cents entgegen, verschloß sie in einer Stahlkassette, nahm eine Taschenlampe und stieg mit Paul in den ersten Stock hinauf. Paul hielt enttäuscht den Atem an. Der Raum bestand aus langen Reihen von Abteilen, die aus Pappe errichtet waren. Jedes Abteil hatte eine Tür und eine Decke aus Maschendraht. Ein strenger Geruch hing in der Luft. Eine nackte Glühbirne pendelte über dem Treppenabsatz, und in der Tiefe des Raums konnte Paul noch eine rote Glühbirne ausmachen. Der alte Mann knipste seine Taschenlampe an und führte ihn zu einem leeren Abteil. Er deutete mit der Taschenlampe darauf und schlurfte dann wieder schweigend davon. Paul trat in das Abteil und verriegelte die Tür, wie der Zettel, der an der Innenseite der Tür klebte, es jedem Zimmergast empfahl. Auf einem Feldbett lag eine Decke. Paul schlüpfte unter die Decke, ohne sich auszuziehen. Der Maschendraht über ihm zeichnete schwarze Vierecke in die rötliche Dunkelheit. Viele Männer schliefen in dem großen Saal, und viele röchelten oder schnarchten, während sich ihr Atem mit dem starken Lysolgeruch mischte.
Paul erwachte mitten in der Nacht aus seinem Schlummer. Benommen starrte er um sich. Dann erkannte er den Hinweis an der Tür, die Pappwände und den Maschendraht an der Decke wieder. Er war in Chicago, hatte die Weltausstellung besucht und seinen Traum verwirklicht! Morgen würde er wieder nach Hause fahren. Und was noch? Mr. Bixby. Mr. Bixby war ein echter FBI-Mann gewesen. Er war in einem Hausgang niedergeschossen worden. Er hatte keine Waffe bei sich getragen; aber die beiden Männer waren bewaffnet gewesen. Die beiden Männer? Ja doch – die beiden Männer, die sich im Haus gegenüber im ersten Stock hinter dem Fenster versteckt hatten. Hatte er die beiden Männer gesehen? Nun ... nicht gesehen, aber er wußte, daß sie sich dort aufgehalten und die beiden Schüsse abgefeuert hatten. Woher wußte er das? Nun ... er wußte nicht, wie das kam. Er wußte es ganz einfach! Er war die Straße entlanggegangen und hatte Mr. Bixby verwundet in einem Hauseingang gefunden. Die beiden Männer, die sich hinter dem Fenster im Haus gegenüber versteckten, hatten auf Mr. Bixby geschossen. Diese Männer hatten ihn aus dem Fenster beobachtet, als er neben Mr. Bixby stehengeblieben war. Und als er geflohen war vor dem Namenlosen,
vor dem schwarzen Schatten des Todes, hatten die beiden Männern hinter dem Vorhang ihm nachgeblickt. Er war sich ihrer Gegenwart immer bewußt gewesen, hatte aber nicht darüber nachgedacht, weil er viel zu sehr mit dem sterbenden Mann beschäftigt gewesen war. Trotzdem wußte er alles über sie. Aber wieso hatte er den Namen von Mr. Bixby gewußt? Wieso wußte er, daß er FBI-Mann war? Das war ihm ein Rätsel. Hatte er den Mann schon einmal gesehen – im Kino vielleicht? Nein. Hatte er ihm seinen Namen genannt? Nein. Mr. Bixby hatte ihm ja die gleiche Frage stellen wollen, als er starb. Woher wußte er dann alles über den sterbenden Agenten? Keine Antwort. Er wußte es eben. Sobald er ihn angesprochen hatte, hatte er alles gewußt. Ihm war ganz deutlich bewußt geworden, wer der Mann war, was für einen Beruf er ausübte, was ihm zugestoßen war und wer das zu verantworten hatte. Und im nächsten Moment hatte sein Bewußtsein auch die beiden Männer registriert, die im Haus gegenüber hinter dem Vorhang standen. Mr. Bixby hatte ihm kein Wort davon erzählt. Er wußte es ganz einfach, und er wußte auch, daß dieses Wissen mit der Wirklichkeit übereinstimmte. Das war alles so rätselhaft. Auch die Begegnung mit dem Bahnpolizisten war merkwürdig gewesen. Er hatte sein Kommen genau-
so vorausgeahnt wie die Fragen seiner Tante, die sie ihm stellen wollte. Manchmal hatte er ihre Fragen schon so weit im voraus erraten, daß er sich die Antworten genau überlegt hatte, wenn sie ihre Fragen formulierte. Und war das nicht ebenso der Fall gewesen, als er sich das Geld für den Besuch der Weltausstellung zusammen verdient hatte? Er hatte nur Leute angesprochen, die tatsächlich eine Arbeit zu vergeben hatten. Er hatte niemand angesprochen, von dem er eine Absage erhalten hätte. Er wußte es eben im voraus. So standen die Dinge. Paul döste wieder ein. Das Frühstück war die zweite Enttäuschung in diesem Hotel. Als Paul die Treppe hinunterstieg, schaukelte der Alte immer noch auf seinem Stuhl. Murrend bequemte er sich zu einem Tisch in der Ecke des Flurs, wickelte ein Stück Trockenfleisch aus einem alten Geschirrtuch, säbelte zwei dünne Scheiben herunter und belegte damit ein Stück Schwarzbrot. Das war das ganze Frühstück. Paul kaute auf dem zähen Fleisch herum. »Haben Sie einen Bogen Schreibpapier für mich?« fragte er den Alten. »Nein. Versuch es mal im Drugstore.« »Wo ist der Drugstore?« »An der nächsten Straßenecke.«
Paul schluckte den letzten Bissen hinunter und blickte sich nach einem Glas Wasser um. Es gab weder ein Glas noch Wasser. »Ist das alles, was ich zum Frühstück bekomme?« »Wieviel erwartest du denn noch für vierzig Cents?« Paul zuckte die Achseln und verließ das Hotel. Im Restaurant nebenan bestellte er sich ein zweites Frühstück für zweiundzwanzig Cents. Im Drugstore an der Ecke kaufte er eine Briefmarke und erinnerte sich dann an einen Stand auf der Weltausstellung, wo Papier und Bleistift gratis verteilt wurden. Deshalb eilte er zur nächsten Ecke, wo der Sonderbus zur Weltausstellung hielt, und fuhr noch einmal hinaus zu der Allee der Fahnen, die den Eingang der Ausstellung flankierten. Er kaufte sich eine Eintrittskarte und schlenderte an den Pavillons und Ausstellungshallen vorüber, bis er zum Verkehrspavillon kam. Dort verteilte die Great Western Railroad Briefpapier mit ihrem Firmenaufdruck. Sogar ein Sonderpostamt war eingerichtet worden, wo jeder Brief einen Sonderstempel von der Ausstellung bekam. Paul Breen schrieb auf den Briefbogen: »Ich weiß, wer Mr. Bixby erschossen hat. Das war ein Mann namens Tony Bloch. Er war in Begleitung eines zweiten Mannes, den er mit Bob anredete. Die beiden hatten sich im ersten Stock des Hauses gegenüber versteckt und standen hinter dem Fenster.«
Mehr fiel Paul nicht mehr ein. Er wollte den Brief schon mit seinem Namen unterschreiben, doch dann überlegte er es sich anders. Er strich das große P wieder aus, das er bereits hingeschrieben hatte, und dachte nach. Wie sollte er den Brief unterzeichnen? Wie unterschrieb Mr. Bixby die Briefe und Telegramme, die er nach Washington geschickt hatte? Bixby-zwölf. Das hörte sich ganz nach einem Codenamen an; und wenn Bixby ihn verwendet hatte, mußte er genügen. Er unterschrieb also mit Bixby-zwölf, faltete den Bogen zusammen, steckte ihn in den Umschlag und klebte die Briefmarke darauf. Wem sollte er den Brief schicken? Wie hätte Bixby sich in dieser Sache verhalten? Keine Antwort diesmal. Paul schrieb also: An den Präsidenten der Vereinigten Staaten Weißes Haus Washington, D. C. Dann steckte er den Brief in den Briefkasten. Der Brief war mit seinen Fingerabdrücken übersät. Paul verbrachte noch zwei volle Tage auf der Weltausstellung, bis seine acht Dollar aufgebraucht waren.
Drei: 1941 Paul Breen war zwanzig Jahre alt, hatte einen verhältnismäßig leichten Job und verdiente siebenunddreißig Dollar die Woche, als er eine erschütternde Entdeckung über sich selbst machte. Diese Entdekkung kam ganz zufällig und kündigte bereits Dinge an, die später sein Leben bestimmen sollten. Die Entdeckung erklärte vieles, was ihm bisher rätselhaft gewesen war. Paul wußte jetzt, daß er über ein besonderes Talent verfügte, das seine Mitmenschen offenbar nicht hatten. Das Lexikon bezeichnete seine Begabung als Telepathie. Doch die Erklärung dieses Phänomens war ziemlich dürftig. Mit fünfzehn bekam er seine erste feste Anstellung in einem Kino. Er arbeitete als Platzanweiser. Allerdings brauchte er in dem Kleinstadtkino nicht die Gäste von den Sitzen zu vertreiben, wenn sie einschliefen, weil das bei seiner Kundschaft nur selten vorkam. Doch er stellte schon nach drei Wochen fest, daß er eigentlich im falschen Teil des Kinos arbeitete. Der Filmvorführer in seiner Kabine hinter dem Rang hatte einen viel besseren Job als er. Deshalb reichte er sofort eine Bewerbung für diese Stelle ein und wurde tatsächlich noch vor seinem
sechzehnten Geburtstag als Gehilfe des Filmvorführers eingestellt. In den ersten Wochen durfte er nur zusehen und zuhören, weil ein Gesetz in Illinois allen Personen unter sechzehn Jahren das Bedienen von Maschinen untersagte. Nach ein paar Wochen waren seine Kenntnisse von den Projektoren und den anderen technischen Einrichtungen des Kinos überragend. Paul wußte die Fragen schon im voraus. Und als der Filmvorführer ihn ausfragte, woher er denn seine erstaunlichen Kenntnisse und ob er schon in anderen Städten mit der Filmtechnik zu tun gehabt habe, antwortete Paul, er habe eben in der Berufsschule genau aufgepaßt und alles andere von dem Filmvorführer selbst gelernt. Das war die Wahrheit und gleichzeitig eine unbeabsichtigte Schmeichelei, die von seinem Lehrmeister akzeptiert wurde. Von diesem Tag an galt Paul als heller Junge mit rascher Auffassungsgabe. Nach zwei Jahren war seine Lehrzeit beendet, und Paul erhielt eine feste Anstellung als Filmvorführer in demselben Kino, wo er als Platzanweiser angefangen hatte. Sein Lehrmeister übernahm einen leitenden Posten, und Paul wurde von vielen Jugendlichen in seiner Stadt beneidet. Schließlich war die Stellung eines Filmvorführers damals ein Traumjob. Der Zufall, der zu der bewußten Entdeckung seines unerklärlichen Talents führte, passierte in seinem
zwanzigsten Lebensjahr. Im Jahr 1941 waren zweitklassige Horrorfilme besonders beliebt. Bela Lugosi machte Horrorfilme, Lon Chaney, Jr., machte Horrorfilme, Lionel Atwill machte Horrorfilme und Boris Karloff machte Horrorfilme. Dazu kam noch eine Schar namenloser Produzenten, die sich ebenfalls in diesem Genre betätigten. Pauls Kino, von seiner Stammkundschaft liebevoll als »Fledermausnest« bezeichnet, nahm alle diese Filme in sein Programm auf. Dazu gehörte auch der Film, der ihm Aufschluß über sein unheimliches Talent lieferte. Boris Karloff führte in diesem Film die Polizei an der Nase herum, während er hübsche Mädchen aus ihren sicheren Wohnungen durch Gedankenkraft lockte. Ein Professor, der in dem Film eine Nebenrolle spielte, ahnte, wie Karloff das machte, und versuchte die Polizei daran zu überzeugen. Allerdings wurde er immer nur höhnisch ausgelacht. Paul war fasziniert. Karloff versteckte sich in den Büschen neben der Straße und las die Gedanken der Leute, die ihn fangen sollten. So konnte er ihre Pläne immer leicht durchkreuzen. Karloff versteckte sich auch in den Büschen unter den Schlafzimmerfenstern junger unschuldiger Mädchen, wartete, bis die Mutter Gute Nacht gesagt hatte und die Gedanken dieser jungen Geschöpfe zu schlimmen Zwecken mißbraucht wer-
den konnten. Karloff versteckte sich auch in den Nebenzimmern im Rathaus und erfuhr so alles über die Fallen und Schliche, die man nebenan im Polizeipräsidium ausheckte. Karloff tat alles mit telepathischer Kraft. Er las die Gedanken seiner Mitmenschen. Er wurde schließlich überwältigt, indem der gute Held des Films sich einen Metallhelm aufsetzte, der seine Gedankenausstrahlungen abschirmte, und sich von hinten an den Schuft heranschlich – ganz leise und ohne zu denken. Diese Lösung erschien Paul zu abwegig; doch die Grundidee des Filmes überzeugte ihn. Er lag anschließend die ganze Nacht wach und verglich seine eigene Lebensgeschichte mit den fiktiven Ereignissen der Filmhandlung. Er war zum Beispiel so gut mit seiner Tante zurechtgekommen, weil er immer schon im voraus gewußt hatte, was ihr gefallen würde und was nicht. Er hatte auch immer die passende Antwort parat gehabt, wenn sie ihn etwas gefragt hatte. Er hatte schon eine Woche vor ihrem Tod gewußt, daß etwas nicht mit ihr in Ordnung war, daß sich irgend etwas in ihrem Gesicht »verflüchtigte«. Und dann seine Erfahrungen mit den Lehrern; die Schule war ein Kinderspiel für ihn gewesen, weil er bei jeder Prüfung immer über viel mehr Wissen verfügte, als in den Lehrbüchern stand. Das führte häufig zu sehr peinlichen Situatio-
nen, weil seine Antworten seinem Alter oder seiner Ausbildungsstufe weit voraus waren, obwohl seine Lehrer genau wußten, wovon er redete. Dann verriet ihm schon der eigenartige Gesichtsausdruck des Lehrers, daß ihm der gleiche Satz gerade auf der Zunge gelegen hatte, aber jetzt unausgesprochen bleiben mußte. Und da war noch das Mädchen im Nachbarhaus, das nach den ersten Verabredungen nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte (abgesehen natürlich von den Freikarten fürs Kino). Er sah nämlich die heimlichen Wünsche des Mädchens zu rasch voraus, durchschaute ihre Ausflüchte und Ausreden zu oft, als daß sie sich in seiner Gesellschaft wohlgefühlt hatte. Gedankenwahrnehmung. Er hatte auch in seinem Beruf so unheimlich rasch gelernt, weil er nicht nur beim Unterricht genau zugehört hatte, sondern auch die Gedanken des Ausbilders gelesen und gleichzeitig seine Handgriffe beobachtet hatte. So wußte er immer gleich, was als nächstes getan werden mußte, und fand sein Wissen bestätigt, wenn der Ausbilder genau das tat, was er sich in Gedanken vorgenommen hatte. Und im vergangenen Jahr hatte eine Präsidentschaftswahl stattgefunden. Der Kandidat bewarb sich bereits zum drittenmal für dieses Amt, was bisher noch nie in der Geschichte seines Landes mit Erfolg
geschehen war. Obwohl seine Nachbarn nicht an die dritte Präsidentschaft des Kandidaten geglaubt hatten, hatte Paul den Erfolg des Präsidenten genau vorausgesagt. (Allerdings nur sich selbst.) Aber er hatte schon viel früher Beweise seiner unheimlichen Begabung erhalten. Damals zum Beispiel, als er sich das Geld für seinen Ausflug nach Chicago verdient hatte. Immer hatte er nur Leute angeredet, die eine Arbeit zu vergeben hatten, die er auch ausführen konnte. Er hatte genau gewußt, daß er einem Bahnpolizisten gegenüberstand, als er auf den Güterzug nach Chicago gewartet hatte, obwohl der Beamte Zivil getragen hatte. Und dann überwältigte ihn wieder das Bild des Mannes, der verwundet am Hauseingang auf den Knien lag. Mr. Bixby. Bixby hatte ihm seinen Namen nicht verraten, sondern ihn nur aufgefordert, so schnell wie möglich zu verschwinden. Und Paul war stehengeblieben, weil Bixby ein FBI-Mann gewesen war und er in seiner Jugend davon träumte, auch ein Geheimagent der Regierung zu werden. Deshalb war Bixby so etwas wie ein Blutsbruder gewesen, dem er helfen mußte. Und in diesen wenigen Sekunden, die er neben dem Mann gestanden und den Todeskampf des Agenten gespürt hatte, hatte sich ihm auch das ganze Drama mitge-
teilt, das sich in jener Straße abgespielt hatte. Und er erfuhr noch mehr – ein Teil von Bixbys Lebensgeschichte, den Codenamen, mit dem er den Brief unterzeichnet hatte, die Namen der beiden Männer, die sich im Haus gegenüber versteckten und auf Bixby geschossen hatten. Und dann kam dieses Schreckliche, Namenlose, das sich über den Agenten gesenkt und ihn in Panik versetzt hatte. Das gleiche Namenlose, Schreckliche hatte er bei seiner Tante gespürt, als sie starb. Es war ein eigenartiges Gefühl des Verlöschens gewesen und ... Die geistigen Ausstrahlungen des Sterbens. Paul lag immer noch wach, als sich die Morgenröte im Osten ankündigte. »Sind Sie krank?« »Nein«, antwortete Paul. »Weshalb?« »Sie haben sich die ganze Nacht in Ihrem Bett herumgewälzt.« Die Wirtin saß ihm gegenüber und sah ihm beim Frühstücken zu. »Da dachte ich, Sie wären vielleicht krank.« »Ich bin völlig gesund. Vielleicht habe ich ein bißchen zu viel Kaffee getrunken.« »Sie sollten auch so spät keinen Kaffee mehr trinken. Trinken Sie abends lieber Milch.«
»Ich werde mir das zu Herzen nehmen.« Er zögerte eine Sekunde. »Was ist Telepathie?« Seine Wirtin schob die Brille höher auf die Nase hinauf. »Ach – bestimmt irgendeine Krankheit.« »Nein, das glaube ich nicht. Es hat etwas mit einer geistigen Kraft zu tun, mit der man andere Menschen beeinflussen kann.« »Pah – es klingt aber so, als wäre es eine Krankheit. Warum gehen Sie nicht in die Bibliothek und schlagen im Lexikon nach?« Das war allerdings eine Idee, auf die er selbst hätte kommen können. Er ging sofort nach dem Frühstück in das altmodische, zweistöckige Gebäude, in dem die Bibliothek der Kleinstadt untergebracht war. Die Lexika standen in einem Regal gleich neben dem Tisch der Bibliothekarin. Er schlug einen dicken Band beim Buchstaben T auf und las: Telepathie: Fernfühlen; Gedankenübertragung; Erfassen seelischer Vorgänge eines anderen ohne Vermittlung durch Sinnesorgane. Wortprägung aus dem Griechischen, etwa seit dem Jahr 1886 gebräuchlich. Jetzt stellte Paul gezielte Fragen. Die Bibliothekarin schien weder überrascht noch verwundert über seinen Wunsch und verschwand hinter den Regalen. Nach ein paar Minuten kam sie mit drei verstaubten Büchern zurück und händigte sie Paul aus. Neugierig las er die Titel auf den Buchrücken. Zwei waren von
Joseph Banks Rhine verfaßt: »Außersinnliche Wahrnehmung« und »Neue Grenzen des Verstandes«. Das dritte Buch war von Dr. William Roy geschrieben und hieß »Studien auf dem Gebiet der Psychokinese«. Die Bibliothekarin betrachtete ihn einen Moment. »Wir haben auch ein paar Romane über dieses Thema.« Paul warf einen Blick auf den Bücherstoß. »Wieviele Bücher darf ich denn mitnehmen?« »Vier.« Sie folgte seinem Blick. »Sie dürfen diese vier Bücher zwei Wochen lang behalten und können dann die Frist noch einmal für vierzehn Tage verlängern. Bei Romanen ist die Leihfrist auf vierzehn Tage beschränkt.« »Dann nehme ich einen Roman mit«, erwiderte Paul. »Aber einen Roman, der nicht so alt ist, bitte.« Er las den Roman zuerst, langsam und konzentriert, suchte nach Hinweisen oder Anspielungen zwischen den Zeilen. Er las ihn vor den Sachbüchern, weil die Leihfrist zuerst ablief und er mit einem leicht faßlichen Stoff, der die Phantasie anregte, besser an dieses eigenartige und verwirrende Phänomen herangeführt wurde. »Die letzten der Unsterblichen« war ein Spannungsroman, in dem ein Mann und eine Frau durch körperlichen Kontakt ihre Gedanken einander mitteilen konnten. Das konnte durch einen Hände-
druck, einen Kuß oder bei intimem Verkehr geschehen. Bei diesen Berührungen konnten sie in dem Verstand des anderen lesen wie in einem offenen Buch. Sobald der Kontakt abriß, hörte auch die Gedankenübertragung auf. Doch Paul hatte Bixby nur gesehen, nicht berührt. Und seiner Tante hatte er höchstens als Kind einen Kuß gegeben, wenn er zu Bett gehen mußte. Und er konnte sich auch nicht erinnern, daß bei diesen Gelegenheiten eine Gedankenübertragung zwischen ihnen stattgefunden hätte. Deshalb lieferte dieser Roman auch nicht die Antwort auf seine Fragen. Trotzdem schrieb er dem Autor einen Brief, den er an den Verleger adressierte. Darin erkundigte er sich höflich, was der Autor tatsächlich über das Thema der Gedankenübertragung dachte und ob er Beweise für die Vorgänge habe, die er in seinem Buch beschrieb. Klugerweise gab er keine Auskunft über sich selbst. Dann nahm sich Paul die beiden Bücher von Dr. Rhine vor und machte eine Entdeckung, die ihn erschütterte. Gedankenübertragung gab es tatsächlich. Dieses Phänomen konnte mathematisch nachgewiesen werden, obwohl es offenbar doch gegen viele Regeln der Naturwissenschaft verstieß. Rhine arbeitete als Parapsychologe an der Duke Universität und hatte ein System entwickelt, das die zufälligen Ergeb-
nisse bisheriger Experimente auf eine solide Basis mathematischer Statistik stellte. Rhine verwendete ein Kartenspiel mit fünf Symbolen und ein paar ausgewählte Versuchspersonen. Er bewies, daß diese Personen so oft die richtige Reihenfolge der Symbole errieten, daß man das nicht mehr als Zufall deuten konnte, sondern nur noch als Unmöglichkeit, wenn man das Gesetz der Wahrscheinlichkeit anwendete. Dr. Rhine kam zu dem Schluß, daß die Versuchspersonen die Symbole auf den Karten erkennen konnten, ohne sie zu sehen. Damit hatte er seine Theorie bewiesen und schritt nun zu weiteren Experimenten. Personen, die in einem anderen Zimmer saßen, wußten die Gedanken oder gesprochenen Sätze der Versuchspersonen. Einige konnten eine Botschaft niederschreiben, die gleichzeitig von einer Versuchsperson in einem anderen Zimmer zu Papier gebracht wurde. Doch bei all diesen Experimenten unter streng wissenschaftlichen Bedingungen war es notwendig, daß die Versuchspersonen sich aufeinander konzentrieren mußten. Ohne Kooperation war ein positives Ergebnis bei diesen Experimenten nicht zu erwarten. Paul hatte es immer viel leichter gehabt. Eine Konzentration oder freiwillige Mitarbeit eines Partners war bei ihm nie notwendig gewesen. Er spürte ihre Gedanken und Stimmungen, ohne daß die Partner das ahnten, und er wußte ihre Fragen, ehe sie richtig
formuliert waren. Er hatte auch von Vorgängen Kenntnis gehabt, ohne im direkten geistigen Kontakt mit anderen Menschen zu stehen. Wie hätte er sonst als Junge so leicht eine Arbeit finden können, als er sich das Geld für die Weltausstellung zusammensparte? Auch ein anderes Phänomen fesselte ihn sehr – eine Erscheinung, die mit der Abkürzung ESP umschrieben wurde (extra-sensory perception). ESP war nicht nur Gedankenübertragung, sondern auch Vorahnung, Hellsehen, Telekinese und Teleportation. Diese erstaunlichen geistigen Fähigkeiten wurden von Rhine und Roy in ihren Büchern genau beschrieben. Hellsehen war die Eigenschaft, Dinge zu sehen oder von ihnen zu wissen, ohne sie mit den Augen wahrnehmen oder sie mit der normalen Vernunft erfassen zu können. Unter Vorahnung verstand man ein Wissen von Vorgängen in der Zukunft. So hatte er zum Beispiel immer gewußt, wo er Leute finden konnte, die einen Job zu vergeben hatten. Telekinese war die unglaubliche Kraft, leblose Gegenstände bewegen zu können, ohne sie zu berühren. Roy erwähnt in seinem Buch zum Beispiel, daß ein Briefbeschwerer vom Tisch geschoben werden konnte und zu Boden fallen würde – lediglich dadurch, daß man den Willen auf den Vorgang konzentrierte. Teleportation war ein geradezu unfaßbares Mittel der Fortbewegung – man
bewältigte die Distanz von einem Ort zum anderen, indem man sich Kraft seines eigenen Willens fortbewegte. Paul war von dem Buch, das Roy verfaßt hatte, besonders fasziniert. Der Verfasser entwickelte die erstaunlichsten Theorien und Möglichkeiten. Mit Hilfe der Bibliothekarin bestellte er das Buch vom Verlag und studierte es jeden Abend in der Vorführerkabine. Er brachte sogar den Mut auf, sich an das kleine Guckloch seiner Kabine zu stellen und an den Zuschauern auszuprobieren, was er bisher bei seinem Studium gelernt hatte. Doch während er die Zuschauer betrachtete, die ihm alle den Hinterkopf zuwandten, konnte er keine Wirkung seiner Gedankenexperimente an ihnen feststellen. Entmutigt wendete er sich wieder seiner Lektüre zu. Eines Abends, als er wieder in das Buch vertieft war, riß der Film. Paul warf das Buch auf die Werkbank und eilte zum Projektor, um die Feuerschutzklappe zu schließen. Dann schaltete er den Motor ab und bremste das Transportband. Er hatte bereits den beschädigten Film herausgenommen, als er hörte – oder fühlte –, wie der Geschäftsführer die Treppe zum Rang hinaufstieg. Der Mann stürzte in die Kabine und erkundigte sich mit nervösem Vorwurf, wie ihn alle leitenden Personen in die Stimme legen, wenn in ihrem Betrieb eine Panne passiert:
»Was ist los? Was ist passiert? Der Film ist gerissen? Beeilen Sie sich! Die Leute werden schon ungeduldig! Können Sie den Film kleben? Was ...?« Paul sagte nichts. Er arbeitete rasch und fachkundig. Doch gereizt von dem Gehabe des Mannes, dachte er wütend: Mach, daß du rauskommst! Stör mich nicht bei der Arbeit! Er legte den Film wieder ein und spannte das abgerissene Ende in eine neue Spule. Dann löste er die Bremse und stellte den Motor wieder an und hob die Feuerschutzklappe. Die Vorstellung ging weiter. Erst dann drehte er sich um. Der Geschäftsführer war verschwunden. Ein paar Monate später tat er etwas, das er später noch bereuen sollte. Er glaubte, wieder einmal helfen zu müssen, und löste zum zweitenmal in sieben Jahren in Regierungskreisen in Washington beträchtliche Verwirrung aus. Es war das zweite Ereignis, für das die Behörden keine Erklärung fanden. Paul hatte inzwischen erfahren, daß in der Hauptstadt zwei Sicherheitsdienste unabhängig voneinander arbeiteten. Der Secret Service, der zum Schatzamt gehörte, hatte den Präsidenten zu schützen und sich mit Vergehen gegen die Währungsgesetze, die Steuergesetzgebung und den Zoll zu befassen. Das FBI hingegen unterstand dem Justizministerium und be-
kämpfte Verbrechen auf Bundesebene. Paul war sich vage der Kompetenzen bewußt, die auf die beiden Geheimdienste aufgeteilt waren. Er begriff, daß er damals einen Fehler gemacht hatte, als er seinen Bixby-Brief an das Weiße Haus geschickt hatte. Die Leute vom Secret Service mußten den Brief geöffnet haben. Aber er hätte ihn an das FBI richten müssen, denn Bixby hatte diesem Geheimdienst angehört. Er war tatsächlich so naiv, einen zweiten Brief zu verfassen, den er diesmal an das FBI richtete. Er erwähnte darin, daß er den ersten Brief vor sieben Jahren an die falsche Adresse geschickt hätte und daß er wahrscheinlich noch in der Registratur des Weißen Hauses liegen müsse. Dieser erste Brief habe Angaben zur Ermordung eines ihrer Beamten enthalten und könne ihnen vielleicht heute weiterhelfen. Er unterschrieb auch diesen Brief nicht und gab auch keinen Absender an, sondern unterzeichnete mit Bixby-zwölf. Der Brief wurde in Peoria aufgegeben, wo er mit Freunden ein paar Tage Urlaub verlebte. Und wieder war das Briefpapier – ein Bogen mit dem Aufdruck »Christlicher Verein Junger Männer«, den man sich in jeder größeren Stadt verschaffen konnte – mit seinen Fingerabdrücken übersät. Seine neuentdeckten Kräfte des Hellsehens und der Vorahnung mußten bei ihm in diesem Moment völlig versagt haben.
In Washington bekam ein Mann namens Ray Palmer einen Wutanfall, als er diesen Brief erhielt. Schon der erste Brief, den er vor sieben Jahren auf dem Instanzenweg erhalten hatte, hatte ihm einen Stoß versetzt. Die Analyse der Schriftzüge und der Fingerabdrücke hatten bewiesen, daß der Brief von einem Kind geschrieben worden war. Die Information, die in dem Brief übermittelt worden war, hatte tatsächlich zu der Verhaftung der beiden Mörder geführt. Doch trotz aller Anstrengungen der Agenten hatte man keine Spur von dem Kind gefunden, das diesen Brief geschrieben und das Codewort des ermordeten Bixby verwendet hatte. Millionen Menschen hatten die Weltausstellung besucht; Zehntausende hatten das Briefpapier benützt, das von der Eisenbahngesellschaft auf der Weltausstellung verteilt worden war. Wer konnte sich da schon an ein Kind erinnern, das sich einen Briefbogen mit Umschlag von einem bereitliegenden Stapel genommen hatte? Dieser zweite Brief nach sieben Jahren brachte Palmer auf die Palme. Man war seither nicht einen Schritt weitergekommen. Also nahm er die Sache selbst in die Hand und flog nach Peoria in Illinois. Paul Breen wurde erst im Frühjahr 1945 zum Wehrdienst eingezogen. Er war bereits im Oktober 1940 gemustert worden, aber jahrelang hatte man auf ihn verzichten können. Im Frühjahr 1945 stieß zufäl-
lig jemand im Ersatzamt auf seine Akte und beschloß, es wäre höchste Zeit, ihn zum aktiven Wehrdienst einzuziehen. Paul war vierundzwanzig Jahre alt, als man ihn mit einer 1-A-Klassifikation dem Heer zuteilte. Selbstverständlich nahm man ihm sofort die Fingerabdrücke ab, als er in die Kaserne einrückte. Ray Palmer hatte nur auf den Zeitpunkt gewartet, an dem das Wehrersatzamt den jungen Mann ans Tageslicht beförderte, den er schon seit sieben Jahren suchte.
Vier: 1945 »He – Breen!« Paul lag auf seinem Bett, die Hände im Genick verschränkt, und träumte vor sich hin. Jetzt drehte er den Kopf und blickte über die Betten hinweg zur Tür, wo der Stabsfeldwebel keuchte, als hätte er zu schnell für sein Gewicht laufen müssen. Hinter Paul grölten ein paar Männer, von einem Banjo begleitet, und neben Paul schnarchte ein Soldat mit offenem Mund. »Breen!« »Hier!« rief Paul und richtete sich auf seinem Bett auf. »Was ist denn los?« Die Männer hinter ihm hörten auf zu grölen. »Roll dich aus der Falle und komm mit!« »Heute ist Sonntag«, protestierte Paul. »Das ist mir scheißegal, ob heute Sonntag ist! Roll dich aus der Falle, aber schnell!« »Nun los, Breen, mach schon!« rief ein Soldat. »Vielleicht will dir der General wieder einen Orden verleihen!« »Nein«, sagte eine andere Stimme, »diesmal ist es etwas Wichtiges. Die Jungs von der Abwehr haben eine japanische Karte gefunden, und niemand kann sie lesen außer der Kaiser von Japan und Breen!«
»Hört mit dem Blödsinn auf!« brüllte der Stabsfeldwebel. Paul starrte den Mann in der Tür an. Der Dicke schien schrecklich in Eile zu sein und war auf ausdrücklichen Befehl des Kompaniechefs gekommen. Der Captain hatte sich sehr bestimmt ausgedrückt. Paul biß sich auf die Unterlippe. Er spürte plötzlich, daß etwas Unangenehmes bevorstand. Er knöpfte den Kragenknopf zu und band sich die Krawatte um. Der Feldwebel lehnte im Türrahmen und wirkte sehr ungeduldig. Als sie draußen auf dem Kasernenhof waren, fragte Breen: »Was ist denn los?« »Weißt du es denn nicht?« fragte der Feldwebel neugierig. Paul schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Eingabe gemacht.« Er spürte, daß der Feldwebel nicht eingeweiht worden war. »Der Alte hat dich schon immer im Auge behalten, weil du nie eine Eingabe machst.« Im Frühjahr 1945 wußte Paul schon so gut über sich und die Welt Bescheid, daß er sich über seine Fähigkeiten ausschwieg. Aus den Büchern von Rhine und Roy hatte er erfahren, daß die Talente, über die er verfügte, bei den Versuchspersonen nur sehr unvollkommen entwickelt waren und nur unter wissenschaftlichen Bedingungen zutage traten. Alle anderen
Menschen in seiner Umgebung besaßen nicht einen Funken von diesen Talenten. Er hatte festgestellt, daß er bei den Eignungsprüfungen ein ungewöhnlich hohes Wissen bewiesen hatte. Das lag nicht an seiner überragenden Intelligenz, sondern an seinem Gedankenklau, weil er während der Prüfungen ganz unbewußt die Gedanken seiner Mitmenschen anzapfte, wenn er die Antwort auf eine Frage nicht selbst wußte. Paul begriff sehr bald, daß die Offiziere, die seine Lehrgänge leiteten, über die Testergebnisse sprachen, und machte absichtlich Fehler. Er wollte nicht, daß man auf ihn aufmerksam wurde. Er wollte nicht die Antworten schon vorher wissen, ehe er gelernt hatte, was die Ausbilder beim Unterricht vortrugen. Trotzdem nahm ihn einer der Ausbilder eines Tages zur Seite. »Bist du schon mal bei der Armee gewesen?« Paul schüttelte den Kopf. Er spürte sofort, daß der Ausbilder ihm nicht glauben wollte. Danach war er noch mehr auf der Hut, aber es war fast unmöglich, nicht das zu tun, was der Ausbilder sich überlegte, wenn er ihm einen Befehl gab. Zuerst war das gar nicht so einfach gewesen, den unausgesprochenen Gedanken von dem gesprochenen Befehl zu unterscheiden. Erst allmählich lernte er den feinen Unterschied zwischen Gedanken und Wort, Gedanken und Tat. Der Gedanke ging dem Wort immer voraus, egal, wieviel
Zeit zwischen dem auslösenden Gedanken und dem Bewegen der Stimmbänder verstrich. Es war so, als hörte er den Befehl zweimal. Er mußte sich nur dazu erziehen, beim erstenmal nicht zu reagieren, wenn der Befehl sich an ihn richtete. Er durfte erst handeln, wenn das zweite, das gesprochene Kommando kam. Bei einigen Ausbildern hatte er die beiden Befehle leicht voneinander unterscheiden können. Sie dachten so langsam, daß sie ihre Gedanken auch nur mit großer Verzögerung in Worte umsetzen konnten. Doch bei den Ausbildern, die von der Front zurückgekommen waren, war es genau umgekehrt. Die doppelten Kommandos lagen so knapp hintereinander, manchmal nur um ein tausendstel Sekunde, daß sie gleichsam ineinanderflossen. Bei diesen Leuten machte Paul auch weniger Fehler, weil Paul zwischen Gesprochenem und Gedachtem nicht zu unterscheiden brauchte. Aber bei den Leuten mit den trägen Gedanken mußte er, verdammt aufpassen, damit er sich nicht verriet. Der Stabsfeldwebel stieß die Tür zur Kompanieschreibstube auf. Paul folgte ihm in den Raum. Er war leer. Paul wartete, während der Feldwebel an die Tür des Kompanieführers klopfte. Er hörte den Gedanken und danach das Echo: »Herein – herein!« »Soldat Breen, Sir«, meldete der Feldwebel. Paul blickte zuerst den Kompanieführer, Captain Evans, an, und erfuhr dabei so gut wie nichts. Der
Mann war sehr gespannt, was sich jetzt entwickeln sollte, hatte aber keine Ahnung, was für Fragen man Paul stellen würde. Pauls Blick glitt zu den beiden Männern, die sich außerdem im Raum aufhielten. Beide trugen Zivil, und sie lösten bei ihm einen doppelten Schock aus. Zum erstenmal hatte er Angst. Die beiden Zivilisten blickten ihn ganz ruhig an. Ray Palmer vom FBI und Peter Conklin vom CIC. Captain Evans lehnte sich vor und deutete auf einen Stuhl: »Setzen Sie sich, Breen. Die beiden Herren wollen mit Ihnen sprechen.« Paul setzte sich und kämpfte gegen seine aufsteigende Panik an. Er wartete, steif aufgerichtet, auf das, was kommen mußte. Er wußte, daß die beiden Briefe und die elf Jahre, die seit dem ersten Brief verstrichen waren, ihn jetzt eingeholt hatten. Er konnte sich nicht mehr verstecken. Er begriff auch, was ihn verraten hatte – die Fingerabdrücke auf dem Briefpapier. Während er den bohrenden Blicken auswich, erkannte er noch etwas. Sie wußten nicht, was er war. Sie wunderten sich nur, wie er hinter das Geheimnis von Bixbys Tod gekommen war. Palmer sprach zuerst, mit langsamer, fast schleppender Stimme, als habe er die Ruhe weg und unendlich viel Geduld. Nur die blitzschnelle Folge seiner Gedanken verriet, daß er sich mit dieser Redeweise nur tarnte.
»Breen, wir interessieren uns schon lange für Sie.« »Jawohl, Sir.« »Sehr interessante Ausbildungsergebnisse, Breen. Außerordentlich interessant.« »In welcher Beziehung, Sir?« »Sie kennen doch Ihre Noten beim Intelligenz- und Eignungstest«, erwiderte Palmer bedächtig. »Sie können auf Ihre Ergebnisse sehr stolz sein.« »Jawohl, Sir.« »Sind Sie nun stolz darauf oder nicht?« »Ich glaube nicht, daß sie so überwältigend gut waren, Sir.« »Aber sie hätten überwältigend gut sein können«, erwiderte Palmer. Paul schwieg dazu. »Ich glaube, sie hätten noch viel besser sein können.« Palmer wartete, ob Paul ihm zustimmte. »Schade, daß sie plötzlich so abfielen.« »Ich hatte keine Ahnung vom Zeitungswesen, Sir. Matritzen, Lithos und so weiter – böhmische Dörfer für mich.« »Aber bei den übrigen Fragen haben Sie ausgezeichnet abgeschnitten.« »Ich habe eine Menge gelesen, Sir. Und als Filmvorführer hatte ich mit Maschinen zu tun. Ich habe auch mein Auto immer selbst repariert.« »Aha. Dann haben Sie bestimmt viele Ausflüge
damit gemacht. Sind Sie an den Wochenenden immer durch die Gegend gefahren?« »Jawohl, Sir.« »Auch mal in Peoria am Wochenende gewesen?« »Jawohl, Sir. Ein paarmal sogar.« »Und auch in Chicago?« »Nicht so oft.« »Aber während der Weltausstellung einmal?« »Jawohl, Sir.« Die Spur wurde heißer und heißer. »Hat es Ihnen gefallen?« »Sehr sogar. Ich blieb ein paar Tage dort.« »Ich war auch dort«, sagte Palmer. »Sie müssen damals erst zwölf oder dreizehn Jahre alt gewesen sein.« »Dreizehn.« Jetzt mußte es jeden Augenblick kommen. »Mit Ihren Verwandten? Vielleicht mit Ihrer Tante?« »Nein, Sir. Ich fuhr allein nach Chicago. Ich sparte mir das Geld für die Reise zusammen.« »Sie waren erst dreizehn und fuhren ganz allein nach Chicago?« »Ich hatte keine Angst, wenn Sie darauf anspielen.« Palmer nickte. »Nein, ich glaube nicht, daß Sie sich so leicht fürchten.« Er blies die Backen auf, tat so, als überlegte er sich die nächste Frage; aber auch dieser Eindruck war nur Tarnung. »Vor Gangstern hatten Sie also damals keine Angst, oder?«
Paul nickte. »Doch, Sir.« »So? Wurden Sie von Gangstern bedroht?« »Nein, Sir. Trotzdem hatte ich Angst.« Palmer betrachtete ihn prüfend. »Und was haben Sie getan?« »Ich lief fort. Zurück in mein Hotel.« »Warum?« »Ich fürchtete mich ... und ...« »Und?« »Und weil Mr. Bixby mir befahl, wegzulaufen.« Palmer nickte. »Bixby befahl Ihnen, wegzulaufen. Das war sehr vernünftig. Und was hat er Ihnen noch erzählt?« Jetzt war der Augenblick gekommen. Er stand am Kreuzweg. Ihm blieben nur noch zwei Richtungen offen, für die er sich entscheiden konnte. Er konnte ihnen die Wahrheit sagen und ihnen dorthin folgen, wo sie ihn hinbringen würden – oder er konnte lügen und versuchen, mit weiteren Lügen die ganze Situation von damals zu erklären. Schon sah er in vagen Umrissen die Zukunft. Er begriff auch, daß er zu lange mit der Antwort gezögert hatte und die beiden Zivilisten sein Zögern mißtrauisch registrierten. Paul entschloß sich zur Wahrheit. »Nichts«, sagte er. Palmer blickte ihn durchbohrend an. »Bixby sagte Ihnen sonst nichts mehr? Nur daß Sie fortlaufen sollen?«
»Das war alles, Sir.« Es verstrich eine lange Pause. Captain Evans wartete ungeduldig darauf, daß das Gespräch fortgesetzt wurde. Er versprach sich sensationelle Enthüllungen. Es kam ja schließlich nicht alle Tage vor, daß Beamte vom FBI und vom CIC gleichzeitig in eine Kaserne kamen und einen gemeinen Soldaten verhörten. Paul warf ihm einen kurzen Blick zu und unterdrückte ein Lächeln. Dann wandte er sich wieder den beiden Zivilisten zu, die ihn eingehend studierten. Er hatte sich allmählich an Palmer gewöhnt, an seine blitzschnellen Gedanken und seine langsame Sprechweise. Aber der schweigende Conklin machte ihn nervös. Bisher hatte er noch nicht erfahren, wie Conklins Gedanken und Sprechwerkzeuge zusammenwirkten. Conklins Verstand war messerscharf, und er hatte sich auch schon eine Theorie zurechtgelegt. Paul hielt den Atem an, so nahe kam diese Theorie der Wahrheit! Er starrte den CIC-Agenten an. Er mußte vor Conklin auf der Hut sein. Paul erkannte auch, daß Palmer seinen Kollegen vom anderen Geheimdienst vorher über ihn informiert hatte. Sie hatten gemeinsam seine Personalakten und Testergebnisse studiert und waren beide zum selben Ergebnis gekommen. Aber er begriff auch, daß Conklin bei seiner Theorie einen großen Vorsprung
vor Palmer hatte. Während der Mann vom FBI noch nicht einmal die Lösung für das Rätsel von Chicago hatte, spekulierte Conklin bereits mit scharfsinnigen Schlüssen. Paul überlegte einen Moment, woher dieser Unterschied kam, und tat dann etwas, was er bisher in seinem Leben selten gewagt hatte. Vorsichtig stieß er mit seinen Gedanken in das Bewußtsein von Conklin vor, um herauszufinden, woher diese Spekulationen kamen. Conklin wußte über das Vorhandensein des Buches Bescheid! Er wußte von dem Sachbuch über das Thema Psychokinese, das Paul immer noch bei seinem Feldgepäck aufbewahrte. Der CIC-Agent hatte also in seinen Sachen gestöbert. Er hatte sich gründlich auf dieses Verhör am Sonntagnachmittag vorbereitet. Deshalb diese Spekulationen. Er war noch nicht überzeugt. Sein gründlicher, rationaler Verstand weigerte sich, die Möglichkeit anzuerkennen, daß Paul ein Telepath war. Doch das Buch über Psychokinese war ein Indiz für diese Möglichkeit. Paul entdeckte noch etwas im Bewußtsein von Conklin. Conklin wollte Palmer nichts von dem Buch und seinen Theorien verraten. Ob dieses Verhör diese Theorie widerlegte oder nicht – sie sollte ein Geheimnis des CIC bleiben. So hatte er sich das gedacht. Paul seufzte erleichtert
auf. Er war froh, daß er sich zur Wahrheit entschlossen hatte. Sie würden beide Bescheid wissen. Ray Palmer räusperte sich und fuhr in seiner schleppenden, beherrschten Redeweise fort: »Ich möchte ganz gern wissen, wie das damals in Chicago gewesen ist. Was hat sich zwischen Bixby und den Gangstern abgespielt.« Paul blickte ihn treuherzig an. »Das meiste habe ich bereits berichtet.« Es gab keine sichtbare Reaktion auf seine Worte. Aber die Gedanken des Mannes machten einen Sprung – dieser Mann wußte jetzt, was er war! »Erzählen Sie es mir noch einmal«, schlug Palmer vor. »Ich irrte durch die Straßen Chicagos. Es war schon spät, und ich wußte nicht mehr, wo mein Hotel lag. Ich bog um eine Ecke und sah Bixby in einem Hauseingang. Er lag auf den Knien und war von zwei Männern angeschossen worden, die sich hinter einem Fenster im ersten Stock des Hauses gegenüber versteckt hatten. Ich blieb stehen, um Bixby zu helfen, aber er befahl mir, wegzurennen. Ich wartete noch eine Minute und lief dann weg. Ich traf jemand, der mir den Weg zu meinem Hotel beschrieb. Am folgenden Tag schrieb ich auf der Weltausstellung einen Brief, um diesen Vorgang zu melden.« Er stockte und hätte fast gelächelt, als ihn die Erinnerung überkam. »Nur wußte ich nicht, wohin ich den Brief schicken sollte.«
»Gütiger Himmel!« bemerkte der Captain. »Und das alles mit dreizehn Jahren?« Der CIC-Agent brachte ihn mit einem strengen Blick zum Schweigen. »Das überrascht mich«, bemerkte Palmer mit freundlicher Stimme. »Sir?« »Daß Sie nicht gewußt haben, wohin Sie den Brief schicken sollen. Offensichtlich wußten Sie doch alles andere: Bixbys Namen und das Codewort, das er als Unterschrift verwendete; die Namen der Männer, die ihn erschossen haben, und das Versteck der beiden. Deshalb überrascht es mich, daß Sie nicht wußten, wohin Sie den Brief schicken sollten.« »Mr. Bixby hat mir das nicht gesagt, Sir.« Palmers Augen glitzerten plötzlich wie geschliffene Diamanten. Er sah Paul fest an. »Sie haben doch vorhin angegeben, Mr. Bixby habe Ihnen überhaupt nichts gesagt! Nur daß Sie weglaufen sollten!« »Jawohl, Sir.« Palmer machte eine ungeduldige Handbewegung. »Wie, zum Teufel, haben Sie das alles wissen können?« Paul streifte sie jetzt alle mit einem Blick. Der Captain verschlang jedes Wort, das er sagte. Palmer war plötzlich wütend und rang um seine Beherrschung. Der CIC-Agent war gespannt wie eine Feder – ohne es äußerlich zu zeigen.
»Ich habe in seinen Gedanken gelesen, Mr. Palmer.« Schweigen. Keine physische Reaktion, aber Paul spürte, wie plötzlich eine Veränderung vorging, eine schwache Veränderung in einem der Männer. Conklin sah ihn gelassen und mit festem Blick an. Palmer hatte sich in seinem Bewußtsein noch nicht verändert, war höchstens noch wütender geworden. Captain Evans dachte, daß Paul sie angelogen habe. Und dann sagte der FBI-Agent wieder schleppend und behutsam: »Keiner von uns beiden ist Ihnen vorgestellt worden, Breen. Woher wissen Sie meinen Namen?« Paul antwortete ihm, aber sah dabei Conklin ganz fest an: »Ich habe die ganze Zeit über auch in Ihren Gedanken gelesen, Sir.« Keiner der vier vergaß jemals die Szene, die sich im Zimmer des Captain abgespielt hatte. Der Captain dachte noch verbittert daran, als man ihn auf einen gottverlassenen Außenposten in Kwajalein abschob, um ihn loszuwerden. Palmer dachte selbst noch im Augenblick seines Todes daran, als er friedlich im Bett verschied. Und Conklin sah sie wieder vor sich, als ihn die Kugel eines KGB-Agenten irgendwo in Rußland in die Brust traf. Paul Breen konnte sie nicht mehr vergessen, auch als er in seinem Gefängnis in
der Villa in Maryland saß und den Sonnenuntergang beobachtete. Das offene Geständnis der Wahrheit war der Wendepunkt im Leben von vier Männer gewesen. »Was soll denn dieser Unsinn, Breen!« fragte Evans barsch. Peter Conklin brachte den Captain zum zweitenmal mit einem strafenden Blick zum Schweigen. Palmer sprang auf und funkelte ihn an. »Wollen Sie sich vielleicht über uns lustig machen, Breen?« »Nein, Sir.« »Warum behaupten Sie dann so etwas?« »Weil es die Wahrheit ist.« »Ich bin von Ihnen enttäuscht, Breen.« Paul blickte ihm ins Gesicht und sagte ganz ruhig: »Soll ich Ihnen sagen, was Sie gerade denken, Mr. Palmer?« »Ich glaube, Sie versuchen hier ganz bewußt den Irren zu spielen!« »Ja, Sir, das glauben Sie. Und Sie denken auch, daß ich lüge. Aber Sie verstehen nicht, warum ich lüge. Zuerst dachten Sie, ich hätte vielleicht mit den beiden Mördern Bixbys in irgendeiner Form in Verbindung gestanden. Ich könnte mit ihnen verwandt gewesen sein und sie nur verraten haben, um eine Belohnung zu kassieren. Doch die Beweise, die Ihnen später vorlagen, zwangen Sie, diese Theorie aufzugeben. Dann
dachten Sie, Bixby hätte mir die Lage geschildert und mir einen ganz bestimmten Auftrag gegeben. Doch dann mußten Sie auch diese Theorie wieder aufgeben, als Sie begriffen, daß Bixby so etwas nie getan hätte oder wegen seiner schweren Verletzung gar nicht mehr tun konnte. Schließlich gestanden Sie sich ein, daß Sie das Ganze einfach nicht mehr verstehen konnten, und baten Ihre Vorgesetzten darum, Sie von der Untersuchung des Falles zu entbinden. Doch Ihre Vorgesetzten weigerten sich, und sie gaben Ihnen den Auftrag, so lange den Fall Bixby zu bearbeiten, bis die Akte geschlossen werden konnte. Sir, Sie sind verheiratet. Ihre Frau ist sechsundvierzig Jahre alt und meckert dauernd, weil Sie Ihre Socken nicht so oft wechseln, wie sie das gern hätte. Sie haben Zwillingstöchter, die zwanzig Jahre alt sind. Eine davon ist mit einem Mann verheiratet, der Ihnen dauernd in den Ohren liegt, weil er einen Posten in Ihrer Abteilung haben will. Ihrer privaten Meinung nach ist der Mann zu dumm dazu, selbst einen Garten ordentlich umzugraben. Sie leiden an einer Arthritis im linken Knie. Sie haben auch eine Pustel an der linken Ferse, die Ihnen immer wieder zu schaffen macht. Bei schlechtem Wetter hinken Sie so stark, daß man Ihnen Ihr Leiden ansieht, und das ist Ihnen unangenehm. Sie haben Angst, daß Sie noch vor dem Pensionsalter Ihren Abschied bekommen, und deshalb ...«
»Aufhören!« rief Palmer. »Jawohl, Sir.« Palmer wich vor Paul zurück, setzte sich und starrte Paul wie ein Raubtier an, das aus seinem Käfig ausgebrochen war. Er sagte nichts, saß ganz aufrecht auf dem unbequemen Bürostuhl und atmete schwer. Captain Evans starrte sie alle beide an, versuchte verzweifelt zu verstehen, was seine Augen und Ohren ihm eben gemeldet hatten, und schob einen Moment den nagenden Zweifel von sich, daß so etwas einfach nicht wahr sein konnte. »Breen«, sagte er dann und sah sich rasch nach dem CIC-Agenten um, ob er diesmal wenigstens zu Wort kommen konnte. »Breen, ist das wirklich wahr? Können Sie tatsächlich die Gedanken Ihrer Mitmenschen lesen?« Paul wandte sich jetzt dem Captain zu. »Jawohl, Sir. Das ist leider so.« »Oder halten Sie uns vielleicht nur zum Narren, weil Sie Dreck am Stecken haben und sich aus einer Klemme befreien wollen?« »Sir, soll ich Ihnen Einzelheiten über die fünfzehn Tonnen Kohle berichten, die Sie für einen Verwandten abgezweigt haben? Oder was die Frau von Leutnant Miller zu Ihnen sagte, als Sie in ihrer Küche auf sie warteten? Das weibliche Hilfskorps hat Ihnen ...« »Das reicht, Breen«, sagte der Captain tonlos. Sein Gesicht erstarrte zu einer Maske.
»Jawohl, Sir.« Wieder senkte sich Schweigen herab. Paul blickte sich unbehaglich um. Die drei taxierten ihn, und was sie sahen, gefiel ihnen nicht. Er entdeckte Spekulation, Ärger und unverhüllten Haß. Sein Blick blieb schließlich auf Peter Conklin haften, der ihn geistig auslotete – objektiv, ohne Gefühle. Natürlich gefiel auch Conklin die Offenbarung der Wahrheit nicht; aber er reagierte weder mit Wut noch mit Haß. Er saß noch immer in der gleichen Haltung da, die er zu Anfang des Verhörs eingenommen hatte – die Hände aneinandergelegt, die Fingerspitzen unter dem Kinn. Er hatte sich kaum bewegt und noch kein einziges Wort gesprochen, seit Breen das Zimmer des Kompanieführers betreten hatte. Paul erwiderte seinen Blick. Jetzt ergriff Conklin das Wort. In seiner Stimme lag weder Haß noch Sympathie: »Sie brauchen sich mir gegenüber nicht zu bestätigen, Mr. Breen. Ich verlange von Ihnen keine Privatvorstellung, und ich möchte meine geheimen Gedanken auch nicht vor allen Leuten ausbreiten lassen. Deshalb möchte ich Ihnen versichern, daß ich Ihnen glaube, bis ich Beweise erhalte, daß ich Ihnen nicht länger glauben darf.« Paul lächelte ihm zu. »Jawohl, Sir.« »Wie lange wissen Sie schon von Ihren Fähigkeiten?« Der Tonfall von Conklins Stimme war so un-
aufdringlich wie seine Kleidung. In einer Menschenmenge wäre er ganz bestimmt nicht aufgefallen. »Seit jener Nacht in Chicago, Sir. Obwohl ich diese Fähigkeiten bestimmt schon seit meiner Geburt habe.« »Wer weiß noch etwas davon?« »Niemand, Sir. Ich wollte nicht, daß man darüber redet.« »Sehr klug von Ihnen. Begreifen Sie, was Ihre Fähigkeiten für Sie bedeuten?« »Wie meinen Sie das, Sir?« »Lassen wir das. Ich sehe, daß Sie sich das noch nicht überlegt haben. Sie stellen nicht gerade ein kleines Problem für uns dar.« Paul sagte nichts dazu. Palmer wandte sich jetzt an Conklin. Und jetzt lag auch ein neuer Ton in seiner Stimme. »Worauf spielen Sie an?« »Mr. Breens außerordentliche Talente dürfen hier nicht brachliegen.« Palmer starrte Conklin an. »Mister Breens Talente?« Conklin nickte. »Haben Sie noch nicht begriffen, wie sehr die Akzente sich verschoben haben? Diese außerordentlichen Talente verschaffen ihm eine Überlegenheit ...« »Hm«, unterbrach ihn Palmer. »Auf keinen Fall kann er hier in dieser Kaserne bleiben.«
Conklin warf dem Captain nur einen ganz kurzen Blick zu. »Selbstverständlich nicht.« »Was werden Sie mit ihm anfangen?« »Washington.« »Washington?« Palmer dachte eine Sekunde nach. »In Ihrem Laden oder in meinem?« »In meinem.« »Hm, ich weiß nicht. Wir haben uns elf Jahre lang mit ihm befaßt ...« »Er trägt jetzt Uniform.« Conklin streifte die Sommeruniform, die Paul trug, mit einem raschen Blick. »Deshalb fällt er unter unsere Zuständigkeit.« Palmer schüttelte den Kopf. »So einfach liegt die Sache nicht. Unser Büro wird dagegen protestieren.« »Dann soll die Sache an oberster Stelle entschieden werden. Doch bis man mir Mr. Breen wieder wegnimmt, steht er unter meinem Schutz.« Er wendete sich rasch Paul zu. »Wenn Sie erlauben, Mr. Breen.« »Erlauben!« Captain Evans brauste entrüstet aus. »Er ist gemeiner Soldat – Wehrdienstpflichtiger!« Conklin berührte mit den Fingerspitzen sein Kinn und ließ ein ironisches Lächeln um seine Lippen spielen. »Ich fürchte, Sie sind kein sehr phantasiebegabter Mensch, Captain. Ob es uns paßt oder nicht – vor ein paar Sekunden hat ein Statuswechsel stattgefunden. Wer von uns Chef und Meister ist, bleibt noch abzuwarten.«
»Ist das Ihr Ernst, Sir?« »Natürlich. Ich glaube, die Situation in diesem Zimmer gleicht der Lage der Neandertaler, als sie zum erstenmal dem Cro-Magnon-Menschen begegneten. Ich möchte nicht den gleichen Fehler wie die Neandertaler machen.« Er wandte sich wieder Paul zu. »Mr. Breen, ich möchte, daß Sie mich nach Washington begleiten. Dort würde ich Sie gern meinen Vorgesetzten vorstellen.« »Jawohl, Sir«, erwiderte Paul. Captain Evans mischte sich wieder ein. »Ich kann die notwendigen Befehle geben, damit er nach Washington versetzt werden kann. Ich lasse ihn ...« Wieder brach er ab, als er Conklins merkwürdigen Blick bemerkte. »Sie werden die Güte haben, uns eine Fahrgelegenheit zu beschaffen. Heute abend noch mit dem Zug, wenn das geht. Bestellen Sie Schlafwagen erster Klasse, zwei Abteile. Okay?« Evans war schon auf den Beinen und bewegte sich auf die Tür zu. »Sofort, Sir.« »Und noch etwas, Captain ...« »Ja, Sir?« »Kein Wort darüber, was heute hier geschehen ist, darf über Ihre Lippen kommen. Nicht einmal Ihre Frau darf etwas davon wissen.« Der grimmige Ge-
sichtsausdruck des Agenten unterstrich, wie ernst er seine Warnung meinte. »Jawohl, Sir«, sagte Evans halblaut und verließ das Zimmer. Wieder senkte sich das Schweigen auf den Raum herab. Die beiden Agenten beobachteten Paul, wägten ab, spekulierten, grübelten. Sich als Studienobjekt ihren Blicken ausgesetzt zu sehen, war Paul außerordentlich unangenehm. Doppelt unangenehm, weil hinter ihren Augen ihre Gedanken das Studium fortsetzten. Ihre Gedanken verrieten eindeutig, was ihre Lippen verschwiegen. In zunehmendem Maße akzeptieren sie ihn als das, was er war, und doch hatten sie noch nicht genügend Zeit dafür gefunden, sich der neuen Lage anzupassen, nämlich daß alle ihre Gedanken ihm ausgeliefert waren. Sie wollten oder konnten nicht sagen, was sie dachten, und waren sich noch nicht völlig bewußt, daß sie ihm gar nichts verschweigen konnten. Paul erkannte einen neuen Gedanken in Conklins Bewußtsein. Schon wollte er darauf reagieren, hielt sich aber in letzter Sekunde zurück. Wäre er von Anfang an vorsichtiger gewesen, säße er jetzt nicht in dieser unangenehmen Lage. Aber für einen guten Vorsatz ist es nie zu spät. Deshalb schwieg er lieber. Er vertraute darauf, daß Conklin früher oder später diesen Gedanken ja doch aussprechen würde.
Und da kam er schon: »Mr. Breen, ich muß Ihnen trotzdem mein Beileid aussprechen.« Paul wußte, warum; aber er spielte das Spiel nach den alten Regeln weiter, um die Gefühle des Mannes zu schonen: »Warum, Sir?« »Weil Ihr Captain Ihnen unbewußt eine Kostprobe davon geliefert hat, was Sie jetzt erwartet. Weil Sie in den Augen derjenigen Menschen, die Sie kennen, das verdammenswerteste Geschöpf dieser Erde sind. Deswegen kann ich Sie nur bedauern, Mr. Breen. Ihre Lage ist alles andere als beneidenswert.«
Fünf Der Zug raste durch die wolkenverhangene Nacht nach Osten. Paul stützte das Kinn in die Hand und preßte die Stirn gegen das Abteilfenster. Kleine Städte huschten vorbei, ab und zu die Lichter einer Station. Palmer schlief in dem oberen Bett an der Abteilwand gegenüber. Unter ihm lag Peter Conklin auf seinem Bett; aber er schlief nicht. Der Unterschied in der geistigen Aktivität der beiden Männer war bemerkenswert. Daran erkannte man einen schlafenden Menschen und ein hellwaches Bewußtsein, das angestrengt überlegte. Conklin bewegte sich zwischen Angst, Faszination und Abscheu. Er rechnete, plante und brachte ständig neue Ideen zur Welt. Erst jetzt war er sich des märchenhaften Schatzes bewußt geworden, den er in der Kaserne ausgegraben hatte. Wenn Breen ihn begleitete, konnte er durch die Straßen von New York und Washington gehen und alle eingeschleusten Ausländer entdecken, die in seinem Land Sabotage treiben wollten. Er konnte durch die Fabriken und Forschungsstätten des Landes gehen und die Verräter, die Spione und die Feinde aussieben. Er konnte in der Zollabfertigung warten, wenn die Schiffe aus Übersee anlegten, und die Spione festnehmen lassen, ehe sie das Land betreten hat-
ten. Er konnte auf dem Flughafen verhaften, wenn die Flugzeuge landeten. Er konnte in den Botschaften anderer Nationen die Leute aufspüren, die ihren Diplomatenpaß als Agenten mißbrauchten. Er konnte bei den Empfängen der Regierung in der festlichen Menge alle Leute entdecken, die hinter ihrem Lächeln feindselige Gedanken verbargen. Er konnte ... Ach, wenn er Breen doch nur mit nach London nehmen durfte! Die Räder ratterten über Weichen. Conklin wälzte sich auf die Seite und sah Pauls Silhouette vor dem Fenster. »Können Sie nicht schlafen?« »Nein, Sir.« »Mir geht es genauso. Aufgeregt, weil sich alles so verändert hat?« »Hm – ja. Ich denke darüber nach.« »Ich weiß, was Sie meinen.« Conklin blickte durch die Fensterscheibe. »Wo sind wir jetzt?« »Indiana, glaube ich. Wir fahren zu schnell, als daß man die Tafeln mit den Ortsnamen lesen könnte. Vincennes liegt schon eine Weile hinter uns.« Sie hatten noch am späten Nachmittag die Kaserne verlassen. Captain Evans hatte ihnen seinen Dienstwagen mit Chauffeur überlassen. Er war froh, daß die beiden Agenten Paul mitnahmen. Die Fahrt im Wagen hatten sie schweigend zurückgelegt (wobei es für Paul na-
türlich kein Schweigen gab). Der Fahrer hatte sie schließlich zum Bahnhof von St. Louis gebracht, wo sie gegen Mitternacht mit dem Zug weiterfahren konnten. Der Schlafwagenschaffner hatte ihnen ein Abteil mit vier Betten angewiesen, und Palmer war schon eingeschlafen, ehe sie die letzten Häuser von St. Louis hinter sich hatten. Conklin riegelte die Tür von innen ab, zog seine Jacke aus und legte sich auf sein Bett. Paul setzte sich auf seine Koje und lehnte die Stirn gegen die Scheibe. Stundenlang harrte er in dieser Lage aus. Er hatte ein bißchen erleichtert aufatmen können, als Palmer einschlief und endlich aufhörte, ihn in Gedanken in Einzelteile zu zerlegen. Einige Gedanken, die dem Mann in der unteren Koje durch den Kopf gingen, machten ihm allerdings zu schaffen. Warum wünschte sich Conklin zum Beispiel, daß sie Paul schon ein paar Monate früher hätten entdecken sollen? Was für ein Unterschied bedeutete das, nachdem Deutschland bereits kapituliert hatte? Paul sah darin keine wesentliche Verbesserung der nationalen Lage. Es war Mitte Juli, und seit der Kapitulation waren erst zwei Monate vergangen. »Wollen Sie mir eine Frage beantworten?« fragte er plötzlich. Conklin erschrak ein wenig. Er wunderte sich, weshalb Paul überhaupt etwas fragte. »Natürlich, wenn ich das kann.«
»Ich habe Ihre Bemerkung von den Neandertalern nicht ganz verstanden.« »Kennen Sie sich in der menschlichen Entwicklungsgeschichte ein bißchen aus?« »Hm – nur, was ich darüber in der Schule gehört habe. Die Neandertaler waren Affenmenschen, glaube ich.« »Der Homo neanderthalensis«, erklärte Conklin, »war ein prähistorischer Höhlenbewohner, der vor einigen zehntausend Jahren in Europa lebte. Man hält ihn für unseren paläolithischen Vorfahren. Der Neandertaler ist der unmittelbare Vorfahre des modernen Menschen, mußte dem modernen Menschen aber die Welt überlassen (Paul registrierte ein plötzliches unangenehmes Gedankenbild). Der Cro-Magnon war der Urahn des modernen Menschen, hochaufgerichtet und groß, während der Neandertaler noch gebückt ging. Es gibt eine Lehrmeinung, die behauptet, daß die Kulturen der Neandertaler und des Cro-MagnonMenschen für kurze Zeit überlappten. Natürlich mußte die eine Kultur entwicklungsgeschichtlich aus der anderen entstehen; aber diese Lehrmeinung glaubt, daß beide Kulturen nur eine kurze Zeit nebeneinander existierten. Dann gab es einen radikalen Neubeginn. Mit anderen Worten: die beiden Kulturen bekämpften sich heftig, und die Cro-Magnon rotteten die Neandertaler aus.«
Paul saß ganz still am Fenster. Er schwieg; aber er erfuhr viel mehr aus Conklins Gedanken, als dieser in Worte kleiden wollte. »Wenn diese Theorie stimmt, sollte man sie auch ganz begreifen. Der Neandertaler war natürlich neidisch und eifersüchtig auf den fähigeren Menschen, der in der gleichen Epoche wie er lebte. Und der CroMagnon neigte wahrscheinlich dazu, den schwerfälligen, tierischen Zeitgenossen zu verachten. Aus Neid und Eifersucht entwickelte sich rasch Haß. Der Neandertaler wurde bei jedem Zweikampf von der neuen Rasse überlistet. Vielleicht mußte er sogar hungern, weil der Cro-Magnon viel geschickter und schlauer vorging als er. Er hatte zwar überlegene Körperkräfte; aber Kraft ist eine schlechte Waffe gegen Schlauheit, Geschicklichkeit und Wissen. Der Neandertaler verlor. Der Cro-Magnon nahm seinen Platz auf der Erde ein, und die Neandertaler verschwanden für immer von dieser Welt. Dieser Wechsel oder diese Wachablösung ist ein ganz natürlicher Vorgang. Ich glaube daran, daß das Universum von wissenschaftlichen Gesetzen beherrscht wird. Die Evolution ist notwendig und unvermeidbar. Was wir davon verstehen, versehen wir mit einem Etikett und einem Namen. Was wir nur zur Hälfte begreifen oder überhaupt nicht verstehen, bezeichnen wir als ›Mutter Natur‹ und versuchen,
uns damit abzufinden. Mutter Natur hatte den überlegenen Cro-Magnon erschaffen, damit er den schwerfälligen Neandertaler ersetzen sollte. Daraus entstand die menschliche Rasse, die heute noch die Welt beherrscht. Sie können mir doch folgen, nicht wahr?« »Natürlich, Sir. Deswegen konnte mich Captain Evans auch nicht leiden.« »Er haßt Sie. Ich glaube, dieses Wort ist zutreffender. Ich bezweifle, daß ich ihm das mit diesem Vergleich hätte begreiflich machen können. Aber die Parallele drängt sich natürlich sofort auf. Verzeihen Sie mir meine Offenheit ...« »Selbstverständlich.« »Vielen Dank. Vielleicht sind Sie nur eine Mißgeburt, wenn Sie mir auch diesen Gedanken nachsehen. Aber ich glaube, daß Ihr Erscheinen auf dieser Welt erst ein Signal der künftigen Entwicklung ist. Ich fürchte, diese Erde wird erneut ein Ringen zwischen Alt und Neu erleben, zwischen dem gewöhnlichen und dem fortentwickelten Menschen. Das ist keine sehr schöne Zukunftsaussicht.« »Aber, Mr. Conklin, ich beabsichtige doch nicht ...« »Nein, vielleicht beabsichtigen Sie das wirklich nicht«, pflichtete Conklin seinem halbausgesprochenen Gedanken bei. »Nicht heute, noch nicht. Aber wissen wir schon, was uns die nächsten zehn oder
zwanzig Jahre bringen werden? Wissen wir denn, ob Sie das einzige überlegene Wesen sind?« Paul hatte darüber noch gar nicht nachgedacht. Daß noch mehr Menschen mit seinen Talenten auf der Welt leben konnten, war eine Möglichkeit, die ihm fast den Atem raubte. »Es wäre mir lieber, Sie wären schon älter und reifer als jetzt«, fuhr der Agent mit seinen Überlegungen fort. »Sie halten sich mit Ihren vierundzwanzig Jahren schon für einen erfahrenen Mann. Ich hatte dasselbe geglaubt, als ich vierundzwanzig war. Aber ich fürchte, Sie sind noch nicht reif genug, die ganze Tragweite Ihrer Begabung zu erfassen. Und ich glaube auch, daß ein älterer Mann an Ihrer Stelle es nie zugelassen hätte, daß seine Umgebung das Geheimnis seiner Talente erfuhr.« »Aber ich möchte doch so gern helfen!« rief Paul. »Helfen? Wozu helfen?« erwiderte Conklin tonlos. Paul machte eine Handbewegung, schwieg aber. Signallichter huschten vorbei. Der Zug fuhr in ein Tunnel und verlangsamte die Fahrt. Plötzlich waren sie von einer Flut von Lichtern umgeben. Ein überdachter Bahnsteig tauchte neben ihnen auf. Conklin wandte sich dem Fenster zu. »Cincinnati«, murmelte er. Er läutete nach dem Schaffner und trug ihm auf, ihm eine Zeitung zu besorgen. »Glauben Sie, daß ich Schwierigkeiten bekomme?«
fragte Paul. Durch das Fenster beobachtete Paul, wie der Schaffner den Schlafwagen verließ und sich auf dem Bahnsteig umsah. »Ja, das glaube ich.« »Aber weshalb denn?« »Mr. Breen ... nehmen wir einmal an, es gab damals nur einen Cro-Magnon-Menschen auf der Welt. Nehmen wir weiterhin an, die Anführer der Neandertaler entdeckten diesen Cro-Magnon, fingen ihn, banden ihn mit einem Strick fest und zwangen ihn dazu, mit seinen Talenten und seinem überlegenen Verstand für sie zu arbeiten. Daraus konnte sich doch nur eine unerfreuliche Situation entwickeln.« »Mag sein. Aber ich will euch doch keine Schwierigkeiten machen.« »Nicht heute, nicht hier«, erwiderte Conklin düster. »Aber in Washington werden Sie viele Leute vorfinden, die wie Captain Evans sind. Intolerante Männer, mit Mißgunst und Haß in ihrer Seele. Die wenigen, die eingeweiht werden, werden Sie für ihre Zwecke einspannen. Und obwohl Sie diesen Leuten helfen, werden diese Leute Sie hassen. Das beunruhigt mich.« Trotzdem mußte Paul im Halbdunklen lächeln. »Aber Sie hassen mich nicht.« »Das stimmt«, erwiderte Conklin sofort. »In diesem Moment hasse ich Sie nicht und ich liebe Sie nicht. Ich
bin neutral. Ich hoffe nur, daß ich auch in der Zukunft meine Einstellung nicht ändern muß. Natürlich kann ich Sie auch nicht lieben, weil ich der anderen Rasse angehöre.« Er erwiderte unwillkürlich das Lächeln. »Hassen? Nein, das tue ich nicht.« Trotzdem hatte der Agent vor ihm Angst, wie Paul plötzlich erkannte. Es war erst eine keimende Angst, weil die neue Situation noch so unfaßbar, noch so erregend und erst am Nachmittag im Büro des Kompanieführers entstanden war. Doch mit jeder Stunde wuchs die Angst in Conklin. Und je länger sich Conklin mit Pauls Talenten und Möglichkeiten auseinandersetzte, desto schlimmer wurden für ihn die Schlußfolgerungen. Bis jetzt hatte er in Paul nur den unbesiegbaren, unsichtbaren Helfer gesehen, der neben ihm durch die Straßen ging und auf jeden deutete, der in diesem Krieg auf der Seite des Gegners stand und spionierte oder sabotierte. Aber im Unterbewußtsein des Agenten lauerte bereits eine größere Furcht: Paul kannte ja auch die Gedanken der Freunde. Wenn er sich beim Empfang eines ausländischen Botschafters unter die Gäste mischte und die feindlichen Agenten entlarvte, so konnte er auch in die Büros der Regierung gehen und die größten Geheimnisse dieses Landes ausforschen. Diese Angst in Conklins Unterbewußtsein würde bald an die Oberfläche kommen. Und dann nahm seine Angst vor Paul noch mehr zu.
Der Zug setzte sich wieder in Bewegung. Es klopfte an der Tür, und der Schaffner brachte die Zeitung. Conklin warf nur einen Blick auf die Schlagzeilen. »Wieder eine von diesen Konferenzen«, sagte er gähnend. »Diesmal in Potsdam. Hoffentlich kommen Truman, Churchill und Stalin zu einem guten Ergebnis. Dieser Krieg hat schon viel zu lange gedauert.« Paul warf Conklin einen neugierigen Blick zu. Doch wieder hielt er sich zurück, ehe er einen Ton herausbrachte. Conklins Gefühle ihm gegenüber waren im Augenblick noch neutral. Es hatte keinen Sinn, durch einen Fehler diese Neutralität in Abneigung zu verwandeln. Er durfte Conklins Gedanken nicht laut aussprechen. Die Schlagzeilen der Zeitung waren keine Neuigkeit für Conklin. Er wußte, daß der Präsident nach Potsdam gereist war, und er hatte an den Vorbereitungen dieser Konferenz selbst mitgearbeitet. Die Schlagzeilen waren nur eine Erinnerung an Tatsachen, die ihm bereits bekannt waren. Alles das wurde Paul klar, als Conklin rasch die Schlagzeilen überflog ... Sie gingen gemeinsam in den Speisewagen zum Frühstücken. Paul war als erster aufgewacht. Die Macht der Gewohnheit riß ihn aus dem Schlaf. Er betrachtete die beiden schlafenden Agenten, holte dann sein Rasierzeug und ging ans Waschbecken. Als er
das Wasser einließ, wachte Conklin auf. Paul wendete sich nicht vom Spiegel ab, obwohl er wußte, daß der Mann ihn betrachtete und sich erneut in Gedanken mit ihm beschäftigte. Es wäre ein Fehler gewesen, wenn er Conklin begrüßt hätte, ohne sich zu ihm umzudrehen. Er wollte unter allen Umständen vermeiden, sich Conklins Abneigung zuzuziehen. Conklin war ein neutraler Freund, während Palmer bereits verloren war. Er hatte sich Palmer gestern nachmittag im Büro seines Kompaniechefs zum Gegner gemacht. Er hatte seine Lektion gelernt. »Halt den Mund!« war das Ergebnis der bösen Erfahrung, die er bei der Enthüllung der Wahrheit hatte machen müssen. Conklin rollte sich aus dem Bett und sagte Guten Morgen. Dann rüttelte er Palmer in der oberen Koje wach. Paul warf einen Blick in die Zeitung, während die beiden anderen Männer sich rasierten und ankleideten. Dann gingen sie gemeinsam in den Speisewagen. »Was wollen Sie haben?« fragte Conklin Paul. »Haben Sie großen Hunger? Sie können bestellen, was Sie wollen.« »Aber ich habe nicht viel Geld bei mir.« »Sie brauchen kein Geld. Ich bezahle die Rechnung.« Er stieß Palmer den Ellenbogen in die Rippen. »Auch Ihre«, sagte er anzüglich.
»Sie können sich das ja auch leisten«, erwiderte Palmer verdrossen. »Sie haben den Preis gewonnen.« Paul sah nur noch den scharfen, warnenden Blick, den Conklin seinem Kollegen zuwarf. Doch dann bemerkte er das Zusammenzucken von Palmer, als Conklin ihn unter dem Tisch auf den Fuß trat. Er ignorierte die Gedanken der beiden Agenten und bestellte das Frühstück. Während er den heißen Kaffee trank, hörte er zerstreut den Gesprächen und Gedanken der Leute zu, die an den Nachbartischen saßen. Auch das war eine alte Gewohnheit von ihm, obwohl er beim ersten Mal schamrot geworden war, als er sich bei so etwas ertappt hatte. Er schlich sich in Bezirke ein, wo er nichts zu suchen hatte, dachte er beschämt. Aber mit der Zeit verlor er diese Schamgefühle. Schließlich konnte er ja nicht verhindern, daß er die Gedanken anderer Menschen auffing. Wenn er die Gespräche seiner Mitmenschen nicht hören wollte, konnte er sich Watte in die Ohren stecken. Aber die Gedanken anderer Menschen konnte er damit nicht zum Verstummen bringen. Und so hatte er sich allmählich an diese »Geräuschkulisse« gewöhnt, während er sich auf ein Buch oder eine Arbeit konzentrierte. Und wenn er dann aus der Tiefe seiner eigenen Überlegungen wieder auftauchte, wurden aus den Gedanken oder Worten seiner Umgebung wieder sinnvolle Gebilde, bis er
sich erneut seinen eigenen Überlegungen zuwendete. Palmer zum Beispiel stocherte mit seiner Gabel in den Rühreiern herum, die er sich bestellt hatte, und fragte sich laut, ob die Eier denn auch frisch wären. Conklin aß schweigend sein Frühstück und blickte zum Fenster hinaus. In Gedanken setzte er die Erwägungen und Spekulationen der letzten Nacht fort. Dann blickte er Palmer an und meinte, daß im Juli die Hitze in Washington ganz unerträglich sei. Paul sah sich inzwischen die anderen Gäste im Speisewagen an. Eine sehr hübsche junge Dame erregte seine Aufmerksamkeit. Sie war elegant und gepflegt, und er merkte, daß auch die anderen Männer im Speisewagen ihre Schönheit bewunderten. Ein älterer Mann saß neben ihr, den er zuerst für ihren Vater gehalten hatte, bis er die flüchtigen Gedanken der beiden auffing. Beide dachten auf ihre Weise an die Nacht, die sie gemeinsam verbracht hatten. Er war nicht ihr Vater. Paul zögerte einen Moment, starrte die Frau verwundert an, bis sie aufsah und seinem Blick begegnete. Sofort ersetzte sie in ihren Gedanken den älteren Mann neben ihr mit Pauls Gestalt, und Paul ließ seinen Blick zum nächsten Tisch gleiten. Ein Mann und eine Frau waren auf dem Weg nach Washington, um ... Was wollten sie dort? Sie wollten den Präsidenten aufsuchen, weil ihr ältester Sohn in einem japani-
schen Kriegsgefangenenlager saß und ihr jüngster Sohn soeben den Einberufungsbefehl erhalten hatte. (Aber wußten die beiden denn nicht, daß der Präsident gerade in Potsdam bei einer Konferenz weilte?) Zwei Vertreter unterhielten sich über ihre Reiseroute und ihre Angebote. Der eine verkaufte Bücher, der andere Wurst in Dosen. Der Buchvertreter beneidete seinen Kollegen, weil die Leute zwar essen mußten, aber keine Bücher zum Leben brauchten. Der Wurstvertreter meinte, der Büchervertreter sei zu beneiden, weil er alle seine Bücher umsonst lesen konnte. Ein untersetzter Mann am Nebentisch verzehrte mit verschlossenem Gesicht sein Frühstück und teilte seine Aufmerksamkeit zwischen dem hübschen Mädchen und Pauls Tisch auf. Irgendwie erinnerte dieser Mann Paul an einen Feldwebel, der Paul während der Ausbildung besonders grob behandelt hatte. Jetzt betrachtete er Pauls Uniform mit offener Abneigung. Im nächsten Moment entdeckte Paul auch, woher diese Abneigung rührte. Der Mann war tatsächlich Feldwebel gewesen und hatte erst vor einigen Wochen die Uniform ausgezogen. Schon der Anblick einer Uniform löste bei ihm Abneigung aus. Dann beschäftigte sich der frühere Feldwebel wieder mit dem hübschen Mädchen, ehe sein Blick zu Paul und den zwei Bullen zurückkehrte. Bullen! Erschrocken blickte Paul Conklin an.
»Was haben Sie denn?« fragte Conklin. »Er weiß, daß Sie beide Polizeibeamte sind.« Conklin machte ein bekümmertes Gesicht und blickte Paul forschend an; aber er drehte sich nicht um. Palmer drehte sich bereits mit seinem Sessel, hielt aber noch rechtzeitig inne. »Von wem sprechen Sie?« fragte er. »Er sitzt weiter hinten an der anderen Seite. Sieht aus, als wenn er auf die Welt nicht gut zu sprechen wäre.« Paul machte eine Bewegung mit dem Kopf. »Er ist Feldwebel gewesen. Hat erst vor kurzem den Dienst quittiert.« Conklin betrachtete Paul mit wachsender Faszination. »Woher kennt er uns denn?« Paul gab erst nach ein paar Sekunden Antwort. »Ich weiß es nicht genau. Er scheint sie zu erkennen, sobald er sie sieht. Nicht Sie persönlich, aber er weiß, was Sie sind. Er ist ständig in Kontakt mit Sicherheitsbeamten gewesen.« Paul stockte wieder und lächelte dann. »Er glaubt, Sie hätten mich verhaftet.« »Warum glaubt er das?« »Nur Mißtrauen – Mißtrauen gegenüber Leuten wie Sie. Er weiß natürlich nichts. Er glaubt nur, daß ich verhaftet bin.« Conklin nickte mit einer stillen Genugtuung, die Paul nicht entging. »Beschreiben Sie uns doch bitte den Mann.«
Paul tat es und beschrieb auch den Tisch, an dem der Mann saß. »Blickt er im Augenblick hierher?« fragte Palmer. »Nein, Sir.« Palmer drehte sich unbefangen um und rief nach dem Kellner. Nach einer Weile sagte er: »Ich kenne den Mann nicht.« Der Kellner nahm eine weitere Bestellung entgegen. Palmer wollte noch ein Kännchen Kaffee haben. Conklin blickte dem Kellner nach. »Ich kenne den Mann auch nicht«, murmelte er dann. Er sah Paul an. »Was tut der Mann jetzt?« »Er verschlingt das gutaussehende Mädchen mit den Blicken, das am Tisch schräg gegenübersitzt.« »Und er hat seinen Verdacht nicht aufgegeben?« »Nein, Sir.« Conklin beschäftigte sich wieder mit seinem Frühstück. »Das ist aber eigenartig.« »Wahrscheinlich hat er mit Leuten von Ihrer Abteilung gearbeitet«, murmelte Palmer, »und Ihre Kollegen haben ihm die Arbeit vermiest.« »Mag sein.« Das ältere Ehepaar, das den Präsidenten in Washington besuchen wollte, verließ jetzt den Speisewagen. Das Mädchen neben dem Mann, der nicht ihr Vater war, wollten zu einer Jagdhütte in den Bergen. Sie hatte nur zwei Wochen Urlaub und überlegte sich
bereits einen Grund, wie sie ihren Urlaub um zwei Wochen verlängern konnte. Sobald ihr Blick auf einen der zahlreichen Männer im Speisewagen fiel, wünschte sie sich, daß sie mit ihm den Urlaub in der Jagdhütte verbringen könnte. Dann kamen vier Regierungsbeamte in den Speisewagen, die sich laut unterhielten. Der ehemalige Feldwebel beobachtete die neuen Gäste. »Was ist das ...« sagte Paul überrascht und stockte dann. »Ja?« murmelte Conklin und wendete sich wieder vom Fenster ab. »Nicht jetzt, Sir. Zu viele Menschen hören uns zu.« »Okay. Ich bin mit dem Frühstück fertig. Gehen wir zurück.« »Jawohl, Sir.« Conklin verriegelte wieder die Abteiltür von innen. Paul hatte sich an diese Routinemaßnahme inzwischen gewöhnt. Palmer zog seine Jacke aus und schob das Schulterhalfter in eine Lage, daß er die Arme besser bewegen konnte. In der vergangenen Nacht hatte Palmer seinen Revolver unter das Kopfkissen geschoben, während Conklin sein Halfter mit der Jacke auf einen Kleiderbügel gehängt hatte. »Haben Sie noch einen Wunsch?« fragte Conklin.
»Nein, Sir.« Paul betrachtete die vorüberfliegende Landschaft und blickte dann den CIC-Agenten an. »Doch, Sir, ich habe eine Bitte. Kann ich Zivil tragen, wenn wir nach Washington kommen?« »Das kann ich Ihnen nicht versprechen, sehe aber keinen Grund, warum nicht. Ich werde Ihre Bitte weiterleiten.« »Vielen Dank. Trotzdem werde ich wohl nicht aus der Armee entlassen, oder?« »Wahrscheinlich nicht. Aber Sie werden sich in Zivil freier bewegen können.« »Danke.« »Sie haben uns im Speisewagen etwas fragen wollen«, sagte Conklin. »Etwas, das nicht für fremde Ohren bestimmt war.« Paul nickte. »Was ist eine Atombombe?« fragte er dann. Er bekam die Antwort sofort, wenn man es als Antwort auffassen konnte. Aber er wartete, bis Conklin die Antwort sprachlich formulierte. »Ich weiß es nicht – ehrlich nicht. Wo haben Sie diesen Ausdruck aufgeschnappt?« »Von dem Feldwebel.« »Eine Atombombe? Ich habe noch nie etwas davon gehört. Doch schon der Name erweckt schreckliche Vorstellungen. Das muß eine Waffe sein, die unsere Spezialisten im Labor ausgebrütet haben. Eine Atom-
bombe!« Conklin stützte das Kinn auf die gefalteten Hände. »Und dieser Mann im Speisewagen dachte daran? Wußte er, worum es sich dabei handelt?« »Nein, Sir. Er wußte nicht, was es war, aber er wußte etwas davon.« Paul blickte geistesabwesend auf die geschlossene Abteiltür. Draußen ging gerade ein Mann vorbei. »Ich glaubte nur, Sie wüßten etwas darüber. Deshalb habe ich gefragt.« »Nein.« Conklin schüttelte den Kopf. »Aber ich würde gern etwas darüber wissen. Meine Phantasie gaukelt mir schreckliche Dinge vor, wenn ich diesen Begriff höre.« »Ich habe es Ihnen ja gesagt!« mischte sich Palmer ein. »Dieser Feldwebel hatte mit Leuten aus Ihrer Abteilung zu tun.« Als sie in Washington den Zug verließen, wartete schon ein Wagen am Bahnhof ...
Sechs Conklin hatte noch untertrieben, als er das Klima in Washington als unerträglich bezeichnete. Jetzt, im Juli, war die schwüle Luft geradezu atemberaubend. Doch Paul Breen freute sich auf Washington mit der hochgestimmten Erwartung eines Touristen, der die Stadt zum erstenmal besucht. Die Hitze im Freien hatte ihn nicht sonderlich gestört. Doch zwei Türen von dem Büro entfernt, wo er wartete, war die Hitze noch viel größer als draußen. Ein Fremder wartete mit ihm. Er stand schweigend am Fenster und rauchte eine Zigarette. Der Fremde wußte nichts über ihn. Er sollte ihm nur Gesellschaft leisten, während Conklin seinen Vorgesetzten berichtete. Der Rapport fand zwei Zimmer weiter statt, und dort war die Aufregung kurz vor dem Siedepunkt. »Wo ist die Mall?« fragte Paul. »Und die Nadel?« »Beides kann man von hier aus nicht sehen«, erwiderte der Mann am Fenster. »Wir befinden uns auf der anderen Seite des Gebäudes.« Der Mann warf Paul einen neugierigen Blick zu, da er nicht wußte, in welche Richtung sich das Gespräch entwickeln würde. »Gibt es einen Aufzug, oder muß man Treppen steigen?« »In der Nadel? Da gibt es einen Aufzug.«
»Schwankt sie tatsächlich im Wind?« »Sie schwankt, wie ich hörte.« »Waren Sie noch nie in der Nadel?« fragte Paul überrascht. »Nein, warum auch?« »Nun – immerhin kommen Tausende von überall hierher gereist, um die Nadel zu besichtigen. Und Sie wohnen hier!« »Ich wurde in New York geboren und bin dort aufgewachsen«, erwiderte der Fremde. »Und ich habe mir auch nicht die Freiheitsstatue angeschaut. Ich hatte keine Zeit dazu.« Paul zuckte die Achseln und blickte wieder aus dem Fenster. Zwei Zimmer weiter hatte Conklin einen schweren Stand. Paul verfolgte amüsiert die heiße Debatte im übernächsten Zimmer. Conklins Bericht wurde sehr skeptisch aufgenommen, und ab und zu fiel eine Andeutung, daß Conklin am besten einen Psychiater aufsuchen sollte. Trotzdem blieb der Agent bei seiner Meinung und zählte nüchtern die Fakten auf. Er berichtete von seiner Begegnung mit Ray Palmer in St. Louis, der ihm den Fall Breen geschildert hatte, an dem sich das FBI seit zwölf Jahren die Zähne ausgebissen hatte. Da man Breen endlich in einer Kaserne entdeckt hatte und er deshalb unter die Zuständigkeit des CIC fiel, waren sie beide zu der Kaserne gefahren,
um Breen zu vernehmen. Die Ergebnisse dieser Vernehmung waren unglaublich. Und dann schilderte Conklin in allen Einzelheiten das Gespräch, das im Büro von Captain Evans stattgefunden hatte – und auch die Reaktion der drei Männer. Paul blieb am Fenster stehen. Nichts von der erregten Debatte war hier zu hören. Trotzdem folgte ihr Paul gespannt. Er fragte sich, wie Conklin die beiden anderen Männer – seine Vorgesetzten – von der Wahrheit überzeugen konnte, ohne Breen um eine Probe seiner Talente zu bitten. Conklin fand instinktiv eine Lösung. Er berichtete jetzt von dem Feldwebel, der an eine Waffe gedacht hatte, die er in Gedanken als Atombombe bezeichnete. Sofort kühlte sich die Temperatur im Zimmer um einige Grade ab. »Eine Atombombe?« wiederholte einer der beiden Vorgesetzten. »Jawohl, Sir.« »Was ist mit dieser Atombombe?« »Ich weiß es nicht, Sir. Breen erzählte mir nur, daß ein Mann, der im Speisewagen saß, Palmer und mich als Agenten identifiziert habe. Dieser Mann schien uns an unserem Verhalten zu erkennen und vermutete, daß wir Breen festgenommen hatten. Nach etwas gründlicherer Überprüfung seiner Gedanken ergab
sich, daß dieser Mann ein ehemaliger Feldwebel des Heeres war und vor kurzem etwas gesehen oder gehört hatte, was er als Atombombe bezeichnete.« Der eine der beiden Vorgesetzten wendete sich seinem Kollegen zu und sagte: »Wie, zum Teufel ...« Der andere nickte nur und befahl: »Holen Sie Breen herein!« Paul bewegte sich nicht, während Conklin aus dem übernächsten Zimmer trat, um ihn zu holen. Conklin fand ihn immer noch in den Anblick von Washington vertieft, und Paul drehte sich erst um, als Conklin seinen Namen rief. Als sie beide in das Zimmer traten, wo die beiden Vorgesetzten warteten, versuchte Conklin durch eine Vorstellung Paul jede Befangenheit zu nehmen. »Mr. Breen«, sagte er ruhig, »das ist Mr. Slater, und der Herr daneben Mr. Carnell.« Keiner der beiden machte Anstalten, sich von seinem Stuhl zu erheben. Nur Slater betrachtete Conklin mit einem bohrenden Blick. In seinem Geist stand die Frage: Wieso Mr. Breen? Er ist gemeiner Soldat! Dann betrachteten die beiden Männer Paul wie mit Röntgenaugen, während Paul geduldig wartete, bis er angeredet wurde. Slater war der ältere und hatte den höheren Rang. Er war fülliger als sein Kollege und hatte die Manschetten seines weißen Hemdes hochgerollt. Carnell war hager und groß, trug einen kleinen Schnurrbart
und eine Hornbrille. Er schien der gründlichere, tiefere Denker zu sein und urteilte rasch, aber treffend. Paul mochte ihn sofort, fand seine geistige Einstellung sympathisch. Slater war ein Typ, mit dem er nichts zu tun haben wollte. »Nun, Breen, wir haben ja schöne Sachen von Ihnen gehört«, sagte Slater. Paul wartete schweigend. Bis jetzt hatte man ihn noch nicht aufgefordert, sich zu setzen. »Captain Evans hat also von den Kohlevorräten der Kaserne etwas für seine Familie abgezweigt, wie? Erwarten Sie eine Belohnung dafür, daß Sie uns das verraten?« »Nein, Sir.« »Wahrscheinlich hat das doch jeder in der Kaserne gewußt, oder etwa nicht?« »Das glaube ich nicht. Ich habe nie ein Wort davon gehört.« »Nein? Wie haben Sie das denn herausgefunden?« »Captain Evans bat mich um eine Probe meines Talents. Ich sollte verraten, was gerade in seinem Kopf vorging, Sir.« Paul warf einen Seitenblick auf Carnell und sah dann wieder Slater an. »Ich habe es ihm verraten.« »So scheint es. Und Sie haben auch Palmer verraten, was in seinem Kopf vorging. Haben Sie auch Conklin gesagt, was in seinem Verstand vorging?«
»Nein, Sir. Er hat mich nicht danach gefragt.« »Aber Sie wußten es trotzdem, wie?« »Jawohl, Sir.« »Und ich nehme an, daß Sie jetzt auch meine Gedanken lesen, wie?« Paul nickte nur, schon wissend, was jetzt kommen würde. »Nun, dann verraten Sie mir mal, was ich denke.« Paul gehorchte. »Ihre Frau ...« »Nein!« unterbrach Conklin sofort. Slater bewegte ruckartig den Kopf und warf Conklin einen strafenden Blick zu. »Haben Sie dagegen etwas einzuwenden, Mister Conklin?« »Nein, Sir. Ich wollte Sie nur warnen. Es schlägt einem beim erstenmal gründlich auf den Magen.« »Ich kann den Schock vertragen«, erwiderte Slater böse. »Also, Breen, was ist mit meiner Frau?« Paul hatte die Warnung gut verstanden. »Ihre Frau hat Sie vor einer Stunde angerufen. Sie wollte wissen, ob Sie heute abend wieder so spät nach Hause kommen würden.« Slater wendete sich Conklin zu. »Ist das vielleicht eine erschütternde Enthüllung?« »Fragen Sie noch mehr.« »Schön, Breen. Lassen Sie hören!« Paul schwieg einen Moment. »Sie haben dem Präsidenten achtzig Agenten für die Konferenz in Pots-
dam zugeteilt. Darunter befinden sich einige Agenten vom Büro Baltimore, die Sie eigentlich nicht entbehren können. Das Büro in Baltimore hat große Schwierigkeiten mit Diebstählen von Armeeigentum in den Docks. Mehrere Frachtschiffe sind mit wertloser Ladung ausgelaufen, weil wichtige Teile an den Geräten und Waffen fehlen. Sie haben in aller Eile eine neue Ladung zusammengestellt, um die gestohlenen Teile zu ersetzen, und hoffen, daß die Ersatzteile und die Waffenladung zur gleichen Zeit in Frankreich eintreffen werden. Sie wissen, daß die Hafenarbeiter von kriminellen Elementen zu diesen Diebstählen ermuntert wurden, haben sie aber trotzdem nicht unterbinden können. Deswegen wollen Sie diese Docks nicht mehr für den Transport und die Verladung von Regierungsgütern verwenden, wie Sie das schon vor einigen Jahren in Brooklyn gemacht haben, als dort ähnliche Dinge passierten.« Er stockte. »Ist das genug?« Slater sah ihn durchbohrend an. »Ich will noch mehr hören.« Paul sah Slater einen Moment lang neugierig an. Er wunderte sich, warum Slater einen Namen vor ihm geheimhalten wollte. Er strengte sich gewaltig an, nicht an jemand zu denken, der Willis hieß. Den Namen konnte er mühelos erfassen, jedoch nicht den Grund, warum Slater den Namen krampfhaft ver-
drängte. »Sie wußten bereits über Captain Evans Bescheid«, fuhr Paul fort. »Sie wußten, daß die fünfzehn Tonnen Kohle, die er abgezweigt hatte, nur ein Teil seiner Schiebungen waren, und Sie haben darüber bereits einen Bericht verfaßt!« Dann zählte Paul exakt auf, was in Slaters Bericht stand: Die Namen, Ort des Vorfalls, die Daten und die Beschreibung der gestohlenen Güter, wie er sie in Slaters Bewußtsein lesen konnte. Er berichtete von den Männern, die diese Güter verwaltet hatten, und wer als Dieb verdächtigt wurde. Während er die Listen herunterbetete, entdeckte er, daß Slater versuchte, falsche Angaben in seine Listen zu schmuggeln. Um Paul eine Falle zu stellen, schob Slater hin und wieder eine falsche Mengenangabe oder einen falschen Ortsnamen ein und wartete, ob Paul diesen Fehler laut wiederholen würde. Doch Paul überging diese Falschangaben. Er war von dem Verhalten des Mannes betroffen. Wenn Slater zugab, daß Paul tatsächlich seine Gedanken lesen konnte, mußte er auch zugestehen, daß Paul alle seine Gedanken lesen und die Scheingedanken von der Wahrheit unterscheiden konnte. Seine Antipathie gegen diesen Mann nahm noch zu. Als Paul mit der Aufzählung fertig war, sagte Carnell: »Berichten Sie uns einmal von dem Feldwebel, den Sie im Speisewagen gesehen haben.« Paul wendete seine Aufmerksamkeit jetzt Carnell
zu und lächelte. Dieser Mann war ganz das Gegenteil von Slater und glich in seiner Einstellung und seinem Gedankenbild Conklin. Wenn er behutsam vorging, konnte er diesen Mann vielleicht als Freund gewinnen. »Jawohl, Sir«, sagte Paul laut und beschrieb seinen »Gedankenaustausch« am Frühstückstisch. »Und mehr haben Sie nicht herausbekommen können?« fragte Carnell. »Haben Sie nicht noch wichtige Einzelheiten über den Mann und seinen Lebenslauf erfahren können? Stieg er in St. Louis in den Zug? Woher stammte der Mann?« »Ich weiß es nicht, Sir.« Paul schloß die Augen und konzentrierte sich wieder auf die Szene im Speisewagen. »Mir scheint, er dachte an eine Wüste, die mit der Bombe irgendwie im Zusammenhang stehen muß.« »Hat der Mann die Bombe gesehen?« »Sie meinen, auf dem Boden? Oder in einem Munitionsdepot? Nein, Sir, das glaube ich nicht. Aber er sah einen grellen Blitz, der seine Augen blendete. Ich vermute, die Bombe wurde gezündet.« »Wissen Sie, wo der Mann ausgestiegen ist?« »Er stieg nicht aus. Er fuhr weiter nach New York.« »Nach New York? Woher wissen Sie das!« Paul zögerte und zuckte die Achseln. »Ich weiß es eben.« Carnell wendete sich Conklin zu. »Gehen Sie in das
Büro nebenan und rufen Sie New York. Sprechen Sie in meinem Namen. Geben Sie die Beschreibung des Feldwebels durch. Sie sollen ihn unbedingt aus dem Zug holen und sofort hierherbringen!« Während Conklin den Befehl ausführte, starrten Carnell und Slater Paul an und sprachen kein Wort. Paul wartete. Er stand immer noch, weil er nicht zum Sitzen aufgefordert worden war. Er entdeckte, daß er das Telefongespräch in Gedanken leicht verfolgen konnte. Das war etwas Neues für ihn. Sobald er einen Menschen kennengelernt hatte und mit seinen Gedanken vertraut war, verlor er diesen Menschen geistig nicht mehr aus dem Auge, egal, wie weit dieser Mensch auch geographisch von ihm entfernt war. Er hörte dessen Gedanken immer wie aus dem Hörer eines Telefons. Und diese Verbindung riß nicht ab. Doch diese Möglichkeit war nicht gegeben, wenn ihm die Menschen noch fremd waren. Er spürte zwar, daß sich viele Menschen in den Büroräumen des Gebäudes bewegten und dort arbeiteten; doch er wußte nichts von ihnen, bis sie ihm gegenübergestanden hatten und er lesen konnte, was in ihrem Geist vorging. Sobald er sie aber kennengelernt hatte – und war dieses Kennenlernen auch noch so kurz, wußte er immer, wo sie sich danach aufhielten und was sie taten oder dachten. Paul war davon überzeugt, daß er Conklin bereits so gut kannte, daß er immer den gei-
stigen Kontakt mit diesem Mann aufrecht erhalten konnte, und wenn man ihn auch an das Ende der Welt schicken sollte. In diesem Moment saß zum Beispiel Captain Evans in seinem Büro und dachte an die Folgen des Verhörs. Er verfluchte Breen und wünschte, man werde ihm die Zunge herausreißen. Er sah in Gedanken schon den schriftlichen Verweis für den Diebstahl der Kohlen. Paul schluckte. Sein Talent war so ungewöhnlich und verwirrend, daß er sich nach einem Gesprächspartner sehnte, der sich mit dieser übernatürlichen Gabe auskannte und ihm raten konnte. Er brauchte einen erfahrenen Lehrer. Denn die Bücher, die er bisher gelesen hatte, waren ja nur Einführungen in ein Gebiet gewesen, von dem die Verfasser dieser Bücher selbst nicht viel wußten. Sie hatten nur mit einer Kraft experimentiert, an deren Existenz sie glaubten, ohne sie selbst an sich erfahren zu können. Bis jetzt hatte er sich wie ein Blinder auf diesem neuen Gebiet vorgetastet, hatte aus Fehlern und Pannen gelernt. Es war immer schwer, sich mit einem neuen Werkzeug zurechtzufinden, von dem nicht einmal eine Gebrauchsanweisung oder eine Beschreibung existierte. Er hatte großes Glück gehabt, daß er bisher nur selten Fehler gemacht hatte. Carnell brach das Schweigen. »Nun, Breen, was sollen wir jetzt mit Ihnen anfangen?«
»Ich vermute, Sie werden mich wieder in die Kaserne zurückschicken, Sir.« Carnell gestattete sich ein Lächeln. »Nein, ich fürchte, das geht nicht. Aus vielen Gründen geht das nicht. Wir wären sehr töricht, wenn wir Sie zurückfahren ließen.« »Mr. Conklin hatte erwähnt, daß ich Ihnen hier helfen könnte, Sir.« »Helfen? In welcher Hinsicht?« »Leute aufspüren, die Sie suchen.« Carnell nickte. »Ja, ich wage zu behaupten, daß Sie in dieser Beziehung sehr nützlich sein könnten. Geradezu unersetzlich.« Er blickte Paul offen an. »Sagen Sie mal – was denken Sie denn selbst über Ihre Gabe? Wie reagieren Sie darauf?« Paul wägte seine Antwort sorgfältig ab. Er prüfte erst, ob Carnell auch eine ehrliche Antwort auf seine Frage erwartete. Er tat es. Dieser Mann hegte keine Antipathie gegen ihn. Er war nur neugierig. »Nun, Sir, manche Aspekte daran gefallen mir gar nicht. Ich bin nicht gern in der Armee, aber ich hätte meine Dienstzeit mit Anstand hinter mich gebracht. Und ich sagte Mr. Conklin, daß ich gern helfen würde, wenn man meine Hilfe braucht.« Paul stockte und warf einen Blick auf den abweisenden Slater. »Und ich mag auch nicht, daß man mich für eine Art von Mißgeburt hält. Man soll mich auch nicht so behan-
deln.« Paul blickte an sich herab. Er trug immer noch seine Sommeruniform. »Kann ich offen sprechen?« »Aber natürlich«, erwiderte Carnell. »Ich will nicht herumgestoßen werden. Solange ich als Soldat in der Armee diente, habe ich mich damit abgefunden, denn das gehört nun einmal dazu. Aber wenn ich hierbleibe, werde ich mich nicht damit abfinden.« Carnell blies seine Wangen leicht auf, sagte aber nichts. Auf Slaters Gesicht erschien ein böses Lächeln. »Sie tragen immer noch Uniform, Breen«, sagte er. »Jawohl, Sir.« »Und deshalb haben Sie den Befehlen zu gehorchen, die Sie von Ihren Vorgesetzten bekommen.« »Jawohl«, erwiderte Paul, ließ aber diesmal das »Sir« weg. »Also?« Slater deutete in Gedanken eine Drohung an. »Ich kenne die Bestimmungen der Armee. Ich weiß, was man dort physisch und moralisch von mir erwartet. Aber die Armee ist berüchtigt dafür, daß sie jedes eigenständige Denken unterdrückt.« Paul wartete einen Moment, um diesen Vorwurf wirken zu lassen, und beugte sich dann mit gerunzelter Stirn vor. »Haben Sie Kopfschmerzen, Mr. Slater?« Slater sah ihn mit offenem Mund an und stand mit einer jähen Bewegung vom Tisch auf. Er verließ das
Zimmer und warf die Tür ins Schloß. Nach einer Weile kam Conklin mit einem sehr nachdenklichen Gesicht wieder. »Was hat er nur?« fragte er kopfschüttelnd. »Mr. Slater hat rasende Kopfschmerzen«, antwortete Paul. »Ja ...« Carnell nickte rasch und sah Paul mit seinen hellen Augen forschend an. »Ich glaube, Mr. Breen hat recht.« In der Zivilkleidung, die Conklin für Paul besorgt hatte, machte Paul eine Rundreise durch Washington. Er hatte erst ein bedenkliches Gesicht gemacht, als er erfuhr, wieviel seine Einkleidung gekostet hatte, doch Conklin beruhigte ihn mit einer wegwerfenden Handbewegung. Man hatte Paul auch die Rundfahrt genehmigt, und weder Conklin noch Paul verloren ein Wort darüber, daß sie auf Schritt und Tritt von zwei Leibwächtern begleitet wurden. Sie fuhren mit dem Fahrstuhl bis zur Spitze des Washington-Denkmals, und Conklin beschrieb ihm alle Sehenswürdigkeiten und die Regierungsgebäude. Anschließend ging es zum Lincoln- und JeffersonDenkmal, dann zum Smithsonian Institut und zum Botanischen Garten. Conklin lächelte im stillen, weil die Leibwächter Ermüdungserscheinungen zeigten, und fuhr unbeirrt mit der Besichtigungstour fort. Sie
besuchten das Kongreßgebäude und anschließend die staatliche Münze. Als sie an der Kongreßbibliothek vorbeifuhren, ließ Paul den Wagen anhalten und äußerte anschließend noch weitere Sonderwünsche. Er hatte rasch herausgefunden, daß Conklins Beziehungen – vielmehr die Beziehungen von Conklin, Slater und Carnell ihm überall verschlossene Türen öffneten. Er begriff allmählich, daß er für diese Männer einen unglaublichen Wert darstellte. Sie schlenderten durch den Potomac-Park. Die beiden müden Leibwächter schleppten sich in Rufweite hinter ihnen her. Sie fluchten in Gedanken und hofften, daß diese Tour endlich ihr Ende finden möge. »Mr. Conklin, Sie erinnern sich doch noch an den Feldwebel, der mir im Speisewagen aufgefallen ist.« »Wie? O ja, natürlich.« »Diese neue Erfindung«, sagte Paul langsam, »ich weiß jetzt, was das ist.« »Sie wissen es?« »Ja, Sir. Soll ich es Ihnen erzählen?« Sie gingen eine Weile schweigend nebeneinander her. Conklin dachte an die Waffe, die die Bezeichnung Atombombe trug. Wollte er nun etwas Näheres darüber wissen oder nicht? Er hatte schon ein paar schlaflose Stunden wegen dieser Bombe hinter sich. Fieberhaft hatte er überlegt, was dieser Begriff bedeuten konnte. Er war kein Wissenschaftler; aber seine
Allgemeinbildung war doch so gut, daß er sich manches zusammenreimen konnte. Und die Meinung, die er sich gebildet hatte, weckte noch schrecklichere Vorstellungen. »Nein«, sagte er gedehnt, »ich glaube nicht, daß ich gern eingeweiht werden möchte.« »Gut. Ich weiß es noch nicht ganz genau. Aber ich glaube, Sie werden ungefähr in einem Monat von dieser Bombe etwas in der Zeitung lesen.« Conklin schloß die Augen und sagte gequält: »Also eine Erprobung gegen echte Ziele. Ich hatte so etwas befürchtet.« »Richtig, Sir.« Sie gingen schweigend weiter, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. »Der Feldwebel wollte zwar nach New York«, sagte Paul plötzlich, als hätten sie sich laut über diesen Mann unterhalten, »aber er ist dort nicht eingetroffen. Ihr New Yorker Büro hat ihn nicht gefunden.« »Das kompliziert die Sache nur noch.« Paul nickte und wandte die Augen ab, als zwei hübsche Mädchen auf sie zukamen. Als die Mädchen an ihnen vorbeigingen, warf er ihnen einen neugierigen Blick nach. Conklin sah den Blick und fragte: »Interessiert?« Paul starrte Conklin an. Er konnte ja seine Gedanken lesen. Deswegen sagte er schroff: »Mr. Conklin, ich bin Ihnen sehr dankbar für alles, was Sie für mich
getan haben. Nur – das Mädchen, das ich gern haben möchte, suche ich mir schon selbst aus.« »Entschuldigung. So hatte ich es nicht gemeint.« »Jawohl, Sir.« »Und hören Sie auf, mich immer mit Sir anzureden. Das ist vollkommen unnötig.« »Macht der Gewohnheit.« Paul lächelte. »Werde mich bemühen, das abzustellen.« »Sie werden in Washington viel Abwechslung finden«, sagte der Agent und kehrte zum Thema zurück. »In Washington wimmelt es nur so von Frauen aller Klassen und Altersstufen.« Er blickte Paul lächelnd in die Augen. »Ich komme sehr gut hier in Washington zurecht.« »Ich habe eigene Augen im Kopf. Ich hoffe nur, Sie werden mir nicht dauernd den Spaß verderben«, erwiderte Paul, ebenfalls lächelnd. Conklin seufzte, und sein Gesicht wurde wieder ernst. »Hoffentlich nicht. Ich muß natürlich jeden Fall prüfen, aber ich werde mich nach Möglichkeit nicht einmischen.« Sie erreichten den wartenden Wagen und stiegen in den Fond, während die Leibwächter auf den Notsitzen Platz nehmen mußten. »Zurück ins Hotel?« erkundigte sich Conklin. Einer seiner Vorgesetzten hatte im Mayflower Hotel angerufen, wo sofort ein Appartement für Paul und seine Begleiter reserviert wurde. Das war natürlich nur eine
Übergangslösung. Inzwischen wurde ein besser abschirmbares Asyl für die vier Männer vorbereitet. Paul nickte zustimmend. »Die Tour war ziemlich anstrengend.« Ein Seufzer der Erleichterung von den Notsitzen, und der Wagen glitt hinaus auf die Fahrbahn. »In Ihrem Bürogebäude arbeitet ein Mädchen in der Vermittlung«, sagte Paul verlegen. »Kennen Sie es?« »In welcher Schicht?« »Sie war heute morgen da, als wir das Gebäude verließen.« »Oh – natürlich! Martha Merrill.« »Martha –« Paul schien der Vorname zu gefallen. »Ist sie verheiratet?« »Das wissen Sie nicht?« fragte Conklin überrascht. »Natürlich nicht. Ich habe mich nicht mit ihr ...« »Ich muß Sie noch einmal um Verzeihung bitten«, fiel ihm Conklin ins Wort. »Manchmal ziehe ich voreilige Schlüsse. Nein, sie ist nicht verheiratet.« »Hat sie vielleicht einen festen Freund?« »Keine Ahnung.« Er überlegte kurz und beugte sich zu den Leibwächtern vor. »Hat sie einen festen Freund?« »Nein«, erwiderte der Leibwächter. »Sie verabredet sich mal mit diesem, mal mit jenem.« Er blickte Conklin an. »Ich bin nicht weit bei ihr gekommen.«
»Sie sind eben nicht ihr Typ«, erwiderte Conklin lachend. »Na, ich wünsche Ihnen Glück bei der«, erwiderte der Mann süßsauer. »Ich mache Ihnen einen Vorschlag«, wendete sich Conklin wieder an Paul. »Wenn wir im Hotel eintreffen, rufe ich an. Eine kurze Routineüberprüfung, verstehen Sie? Wenn die Antwort positiv ausfällt, werden wir etwas für heute abend arrangieren. Ich bin davon überzeugt, es gibt in Washington ein paar Leute, die gern eine Flasche mit uns leeren.« »Großartig«, erwiderte Paul. »Ich bin mit von der Partie.« Paul packte im Hotel die Pakete aus, die inzwischen eingetroffen waren. Es waren Anzüge und Hemden, die er sich am Tag vorher ausgesucht hatte. Wie immer waren die Sachen bereits bezahlt, als man sie ihm überreichte. Conklin sah Paul ins Gesicht und erriet dessen Gedanken. »Machen Sie sich deswegen bitte keine Sorgen«, sagte er. »Sie brauchen nur Ihre Wünsche zu äußern. Man hat Ihnen ein Spesenkonto eingeräumt. Meiner Ansicht nach werden Sie keine übertriebenen Anforderungen stellen. Aber auch in diesem unwahrscheinlichen Fall« – er blickte Paul jetzt offen an – »wird man Ihnen so leicht nichts abschlagen. Also hören Sie auf, sich wegen Ihrer Kleiderrechnungen Sorgen zu machen.«
Paul machte sich keine Sorgen mehr, seit er Conklins Gedanken gelesen hatte. Seine Einkäufe waren weit unter der Summe geblieben, die das Büro dafür eingesetzt hatte. Als Paul sich gerade rasierte, kam Conklin ins Badezimmer. »Paul, ich habe gute und schlechte Nachrichten für Sie. Wir können Gesellschaft bekommen, aber es wird nicht Miss Merrill sein. Sie flog heute nachmittag mit dem Flugzeug nach Hause. Sonderurlaub. Jemand aus ihrer Verwandtschaft ist krank geworden.« Pauls Enttäuschung war von seinem Gesicht abzulesen. »Sollen wir trotzdem eine Party veranstalten?« fragte Conklin. »Ich kenne zwei reizende junge Damen, die gern unseren Whisky mit uns teilen. Nebenbei bemerkt – was trinken Sie denn gern?« »Bourbon und Bier«, erwiderte Paul, immer noch enttäuscht, daß er das Mädchen nicht kennenlernen konnte. »Und schauen Sie, ob Sie nicht eine Blondine für mich auftreiben können.« »Bourbon und Bier – beides zusammen?« »Ja – warum fragen Sie?« »Nun, meine Hochachtung vor Ihnen steigt. Also gut, eine Blondine.« Conklin drehte sich um. Doch Paul nagelte ihn mit einer Frage auf der Türschwelle fest und beobachtete Conklin im Spiegel.
»Mr. Conklin – kennen Sie einen Mann namens Willis?« »Willis?« Eine nachdenkliche Pause. »Nein, ich glaube nicht. Soll ich mich erkundigen?« »Nein, lassen Sie das lieber.« Immer noch verharrte Conklin auf der Schwelle. »Paul, ist das eine zweite Atombombe?« Paul lachte und drehte sich um. »Nein, ich war nur neugierig.« »Tut mir leid, daß ich Ihnen in diesem Fall nicht helfen konnte. Ich werde mich jetzt um das Essen kümmern – und um die Damen.«
Sieben Sie war eine natürliche Blondine und hatte eine herrlich gebräunte Haut, so daß die Farbe ihrer Augen und Haare noch besser zur Geltung kam. Sie hieß Karin und sagte, es mache ihr gar nichts aus, wenn er beim Tanzen ab und zu aus dem Schritt kam. Paul taute sichtlich auf. Vor Jahren hatte ein Mädchen versucht, ihm die Grundschritte vom Quickstep beizubringen. Aber nach einer Weile hatte sie es aufgegeben und Paul für einen hoffnungslosen Fall erklärt. Das war für Paul ein traumatisches Erlebnis gewesen. Und deshalb stammelte Paul auch ein paar Entschuldigungen, als Karin ihn zum Tanzen aufforderte. Doch sie hatte nur gelacht und ihn auf die Füße gezogen. Er nahm sie zögernd an der Hand und wagte die ersten Schritte. Es machte Spaß, mußte er sich eingestehen, so ein hübsches Mädchen im Arm zu halten. Trotzdem war das Vergnügen gemischt, denn er mußte sich nach ihren Unterweisungen richten, wenn er ihr nicht dauernd auf die Zehen steigen wollte. Trotzdem verlor Karin ihre gute Laune nicht, sondern sie wies ihn lächelnd auf seinen Fehler hin oder korrigierte geduldig eine falsche Bewegung. Schließlich kam Paul auf die brillante Idee, ihre Schritte vorweg-
zunehmen. Schließlich würde Karin jede ihrer Bewegungen im Geist vorausplanen, und so brauchte er ja nur ihre Gedanken zu lesen, um einen falschen Schritt zu vermeiden. Genauso hatte er das bei seiner Grundausbildung auch gemacht, wenn die Unteroffiziere ihre Befehle brüllten. Langsam, als öffnete er die Türe zu einem dunklen Zimmer, tastete er sich in ihre Gedanken vor. Er wollte nur wissen, was für eine Bewegung sie von ihm erwartete, und stolperte im gleichen Moment über ihre Füße. »Tut mir leid. Gehe ich Ihnen denn nicht allmählich auf die Nerven?« Karin sah ihn lächelnd an. »Ich habe mich nicht beklagt. Wollen wir den letzten Schritt nicht noch einmal probieren? Halten Sie meine Hand mit der Linken und führen Sie mit der Rechten, die auf meinem Rücken liegt. Wollen wir?« Karin war Agentin und auf ihn angesetzt worden. Ihre Befehle waren auf einem Formblatt für interne Anweisungen kurz vermerkt und mit zwei Anfangsbuchstaben unterzeichnet worden, die ihm fremd waren. Sie war aufgefordert worden, die Party zu besuchen, sich so freundlich wie möglich zu verhalten und festzustellen, ob er den Mund halten konnte. Mehr war auf dem Memo nicht vermerkt, aber der Sinn und die Folgen dieses Befehls hätte mehrere Sei-
ten Manuskriptpapier gefüllt. Selbstverständlich hatte man von ihr erwartet, daß sie zwischen den Zeilen lesen konnte. Bei diesem kurzen Blick in ihre Gedanken wurde ihm bewußt, daß sie solche Aufträge schon öfters erledigt hatte. Man hatte sie als Köder für hohe Offiziere und Regierungsbeamte verwendet, um deren Verschwiegenheit und Zuverlässigkeit zu prüfen. Paul bewegte sich über das Parkett, beobachtete die Oberfläche ihres Geistes und stellte sich auf ihre Schritte ein. Seine Tanzschritte verbesserten sich zusehends. Doch nebenbei überlegte er noch, warum sie hierher ins Hotel gekommen war. Slater mußte sie geschickt haben, dessen war sich Paul sicher. Slater hatte die Anweisung sicher jemandem mündlich erteilt, der dann dieses Memo ausgeschrieben und abgezeichnet hatte. Slater hatte diese Idee geboren und hatte es so angestellt, daß man den Befehl nicht bis zu ihm zurückverfolgen konnte. Hatte er nicht auch versucht, Paul mit »Falschgedanken« in eine Falle zu locken. Selbstverständlich war auch Carnell daran interessiert, Pauls Zuverlässigkeit zu prüfen. Aber er hätte es auf eine andere Weise getan, wenn er einen Test für notwendig hielt. Nein – das entsprach ganz Slaters Mentalität, ihm ein schönes Mädchen aufs Zimmer zu schicken, die in solchen Dingen erfahren war. Und doch hatte Karin bisher noch nichts unter-
nommen, um ihn auszuhorchen. Er vermutete, daß sie sehr vorsichtig vorgehen würde und den geeigneten Augenblick abwartete. Paul wunderte sich, wie weit sie gehen würde, weil sie doch »so freundlich wie möglich« zu ihm sein sollte. Er war versucht, sie ebenfalls zu testen. Sie tanzten, sie tranken Cocktails und blieben am Fenster stehen, um die Lichter von Washington zu bewundern. Sie unterhielten sich mit Peter und dem anderen Mädchen, das ihm als Emily vorgestellt worden war. Niemand schien in diesem Appartement einen Familiennamen zu besitzen. »Wo stammen Sie denn her, Paul?« »Aus Illinois.« »Wirklich? Ich habe eine Tante in St. Louis. Sind Sie schon mal in St. Louis gewesen?« »Eigentlich nicht. Nur mal mit dem Zug durchgefahren.« »Was sind Sie denn von Beruf?« »Ich war mal Filmvorführer.« »Oh, ich kann mir vorstellen, daß dieser Beruf Spaß macht. Schließlich kann man sich alle Filme umsonst ansehen.« Sie blieben neben einem Tisch mit kalten Gerichten stehen. »Gehen Sie gern ins Kino?« »Na ja – nicht alle Filme sind sehenswert.« »Da haben Sie allerdings recht. Haben Sie in der Armee gedient?«
»Nicht sehr lange.« »Hat es Ihnen bei der Armee gefallen?« Und dann beantwortete sie ihre eigene Frage. »Wahrscheinlich nicht – den wenigsten gefällt es bei der Armee.« Karin hatte eine Scheibe Weißbrot mit Wurst belegt und reichte sie ihm. »Was haben Sie denn während Ihrer Dienstzeit in der Armee gemacht?« »Gemacht?« »Ich meine, bei welchem Truppenteil waren Sie.« »Bei der Infanterie.« »Hm.« Sie biß in ihr belegtes Brot. »Ich glaube, Sie sprechen nicht gern darüber, nicht wahr?« »Da haben Sie recht.« »Nicht einmal über Ihre Erlebnisse im Krieg? Sind Sie denn nie in Lebensgefahr gewesen?« »Ein Unteroffizier wollte mir mal die Nase blutig schlagen.« Karin lachte. »Ich glaube, ich werde aus den Männern nie schlau. Die einen brüsten sich ununterbrochen mit ihren Heldentaten, und andere wieder schweigen wie das Grab.« »Das gleiche gilt für Frauen«, erwiderte Paul und biß jetzt auch in sein Sandwich. »Einige von ihnen denken viel, aber sagen wenig.« »Ziehen Sie diese Sorte von Frauen vor?« »Ich mag keine Frauen, die ununterbrochen reden. Die Stillen sind leichter zu verkraften.«
Sie zog eine Augenbraue in die Höhe. »Soll das ein Wink mit dem Zaunpfahl sein?« »Nicht unbedingt. Der Abend ist noch zu jung. Ich habe mir noch kein Urteil gebildet.« »Aber ich unterhalte mich gern mit Männern, die ich eben erst kennengelernt habe. Solche Gespräche faszinieren mich.« Sie führte ihn zu einem Sessel. »Erzählen Sie mir lieber etwas über sich selbst.« »Nein.« »Nein? Aber warum denn nicht?« »Ich traue solchen Eröffnungen nicht.« »Ah!« Sie nahm einen altklugen Ausdruck an. »Sie sind also schon einmal enttäuscht worden!« »So hat man schon meinen Großvater vor neunzig Jahren gegängelt, wie er mir erzählte.« »Oh, Ihr Großvater muß ein kluger Mann gewesen sein. Schließlich hat man mit diesem Trick die Männer schon vor neunhundert Jahren zum Sprechen gebracht. Erzählen Sie mir also etwas von Ihrem Großvater, wenn Ihnen das lieber ist. Was war das für ein Mann?« »Großvater? Oh, der war ein Draufgänger.« Paul grinste innerlich, als er sein Lügengewebe spann. »Als junger Mann lebte er in den Tälern von Ohio, klaute hier und da mal eine Kuh oder schoß einen Rehbock, um sich sein Taschengeld zu verdienen. Doch als die Tochter seines Nachbarn jeden Sonntag
in seine Hütte kam, um sich nach seiner Gesundheit zu erkundigen, schwor er sich, sein ganzes Leben lang ledig zu bleiben, und zog nach Westen.« »Das ist faszinierend! Erzählen Sie bitte weiter!« »Ach, da gibt es nicht mehr viel zu erzählen. Er trieb sich ruhelos im Westen herum, stahl Kühe herdenweise, betrog beim Kartenspiel und verkaufte Whisky an die Indianer. Ein Tanzmädchen wollte ihn einfangen, doch er schoß ihr die hohen Absätze von den Schuhen. Schließlich traute er keiner Frau über den Weg. Später tat er sich mit einem Mann namens Bowie aus New Orleans zusammen, und sie haben sich beide als Goldgräber versucht. Sie sollen ein Vermögen zusammengeschaufelt haben. Doch leider hat man nie etwas von dem Gold gefunden. Die beiden sind in den Bergen verschollen.« »Aber, Paul, das klingt alles ein wenig – ein wenig ...« »Wie?« fragte er scheinheilig. »Unwahrscheinlich, Paul. Aber Ihr Großvater muß ein großartiger Mann gewesen sein. Wo hat er denn Ihre Großmutter kennengelernt?« »Nirgends. Ich sagte Ihnen doch schon, daß er für Frauen nichts übrig hatte. Er war nicht verheiratet.« »Aber Paul!« »Wollen Sie noch ein Glas Whisky?« fragte Paul. Er schloß die Augen und entspannte sich. Doch die
eine Hälfte seines Verstandes kam nie zur Ruhe. Seine Gedanken wanderten ... Captain Evans saß auf dem Rand seines Bettes und zog die Schuhe aus. Evans hatte ihn offenbar für eine Weile vergessen, denn im Augenblick bewegten ihn angenehme Gedanken. Evans ließ den zweiten Schuh auf den Boden fallen und blickte hinüber zur Frisierkommode. Paul blickte jetzt durch die Augen von Evans in die gleiche Richtung. Er sah einen Bilderrahmen mit einer Fotografie, die der Wand zugedreht war. Durch Evans Ohren hörte er das Rauschen einer Dusche im Bad nebenan. Dann wurde die Dusche abgedreht, und Evans richtete den Blick auf die Badezimmertür. Eine Frau kam in Sicht. Paul glaubte, in der Frau eine Angestellte der Kommandantur zu erkennen, und zog seine Gedanken zurück. Einen Moment blieben seine Gedanken verschwommen, und dann tauchte sein eigenes Bild auf. Es kam von Palmer. Palmer lag im Bett, laborierte an seinem arthritischen Knie herum und dachte an Breen. Palmer dachte an viele Dinge, während er sich das schmerzende Knie rieb: an seinen nichtsnutzigen Schwiegersohn, an die Vorwürfe seiner Frau, weil er wieder keine frischen Socken angezogen hatte, und an die Möglichkeit, daß eine seiner Töchter wieder mal schwanger geworden sein könnte. Dann seine skeptischen Bemerkungen in seinem Bericht und den
bissigen Verweis, den er von seinen Vorgesetzten bekommen hatte, als er den Verlust von Breen an das CIC gemeldet hatte. Dann kam die Sorge, ob die Kohlepreise nicht schon wieder steigen würden und wie das Wetter morgen aussehen würde ... Paul zog seine Gedanken zurück. Dann eine junge Frau in einer Gebirgshütte. Sie war ziemlich betrunken, und ihr Begleiter ebenfalls. Paul sah ihnen nur eine Sekunde zu und zwang dann seine Gedanken zum Rückzug. Der ehemalige Feldwebel, der im Speisewagen an die Atombombe gedacht hatte, saß jetzt an einem Fenster über der Straße und blickte hinunter auf die vielen Fußgänger, den lebhaften Verkehr und die Neonlichter über den Schaufenstern. Eine Flasche Bier stand neben ihm; doch der Mann dürstete nach mehr, als die Flasche ihm bieten konnte. Er wollte seine Freiheit haben, wollte hinunter auf die Straße gehen, in die nächste Bar, und sich mal gründlich austoben. Er wollte Frauen haben, viele schöne Frauen, und viele Flaschen guten Whisky. Er hatte Geld, viel Geld, und er konnte sich eine Menge dafür leisten. Alex und Dave hatten ihr Wort gehalten und sich um ihn gekümmert. Doch jetzt wollten Alex und Dave ihn nicht hinunter auf die Straße lassen. Zu riskant, hatten sie gesagt. Aber er wollte nicht den Rest seines Lebens in diesem Zimmer verbringen. Der ehemalige
Feldwebel griff nach der Flasche und nahm einen tiefen Schluck. Paul strengte seine Sinne an, aber er fand keinen Hinweis darauf, wo der Mann sich im Augenblick befand. Nirgends sah er einen Namen, der ihm die Stadt verraten hätte, wo der Mann am Fenster seinen Gedanken nachhing. »Schlafen Sie?« fragte Karin. »Nein.« Paul öffnete die Augen und blickte sie an. »Ich dachte, der Bourbon und das Bier hätten Sie gemeinsam überwältigt.« »Noch nicht.« »Sind Sie müde?« »Ein bißchen. Wir sind den ganzen Tag in Washington umhergewandert.« »Wo sind Sie denn überall gewesen?« Er lachte, als er an die Gedanken seiner Leibwächter dachte. »Überall.« Er erzählte ihr von den Sehenswürdigkeiten, die ihn am meisten beeindruckt hatten. »Dann gefällt Ihnen also Washington?« »Sehr sogar.« »Und was machen Sie hier in Washington?« Karin blickte ihn mit fröhlichen Augen an. »Nichts.« Die Brauen wölbten sich wieder nach oben. »Nichts?«
»Nichts.« »Also ein reicher Tourist?« Wieder dieser spottende Ton. »Auf jeden Fall ein Müßiggänger.« »Das ist faszinierend. Ich habe mir schon immer gewünscht, einem Mann zu begegnen, der sich das Nichtstun leisten kann.« Sie lachte und stellte ihm ein frischgefülltes Glas auf die Armlehne. »Ich muß Sie warnen. Ich bin auf der Jagd nach einem Ehemann.« »Viel Spaß.« »Sie müssen jetzt das Stichwort aufnehmen.« Paul probierte den Bourbon. »Vielleicht tue ich das noch. Ich mag Frauen mit blonden Haaren.« »Aber schieben Sie das nicht zu lange hinaus. Ich werde alt.« Er sah sie prüfend an. »Sechsundzwanzig.« Ihre Augen weiteten sich; aber ihr Mund widersprach: »Das ist gar nicht nett von Ihnen. Dreiundzwanzig.« »Sechsundzwanzig«, wiederholte er entschieden. »Sie sind gemein.« Als er nichts darauf erwiderte, aß sie ein halbes Sandwich auf und tat so, als nehme sie einen Schluck aus ihrem Glas. »Emily und Peter vertreiben sich die Zeit recht angenehm miteinander. Na, schließlich sind sie auch gut befreundet. Ist Peter ein Freund von Ihnen?« »So kann man es nennen.«
»Kennen Sie ihn schon lange?« »Nicht sehr lange.« Sie senkte ihre Stimme zu einem vertraulichen Flüstern: »Er ist bei der Regierung – ziemlich hoher Posten.« »Oh, nicht gar so hoch«, widersprach Paul. »Nicht so hoch wie Slater?« »Wer ist Slater?« »Der Mann über Peter.« »Paul Breen, Sie sprechen in Rätseln.« »Wer hat Ihnen meinen Nachnamen verraten?« fragte er beiläufig. Karin starrte ihn an. »Wir sind uns doch vorgestellt worden!« »Als Paul, Peter, Karin und Emily. Ich kann mich nicht erinnern, daß ein Nachname erwähnt wurde.« »Jemand muß ihn mir gesagt haben«, zog sich Karin aus der Schlinge. »Woher sollte ich sonst Ihren Namen wissen?« »Da haben Sie allerdings recht. Wie steht's mit Ihrem Whisky?« Sie wollte sich von ihm nicht einschenken lassen, sondern stand auf, um sich selbst einen Cocktail zu mixen. Sie mußte ihr Gleichgewicht wiederfinden. Sie hatte einen Fehler gemacht. Seit fünf Jahren arbeitete sie nun schon beim Geheimdienst, und heute hatte sie ihren ersten Fehler gemacht. Sein Name hatte auf der
Dienstanweisung gestanden, verdammt noch mal! Und sie war tatsächlich sechsundzwanzig. Wie konnte er das mit so absoluter Sicherheit behaupten? Und trotz ihrer schönen Augen wollte er einfach nicht reden. Nur die beiden Sätze, in denen er Slaters Namen erwähnt hatte, konnte man zu seinen Ungunsten auslegen, doch besagten sie im Grunde nichts. Wenn der Rest des Abends keine bessere Ausbeute brachte, konnte sie einen positiven Bericht über ihn abliefern. Ein netter Bursche, wenn auch ein bißchen jünger als sie. Aber was machte das schon aus. Im gleichen Moment kam Emily an die Bar. »Eine tolle Party!« sagte sie vergnügt. Sie blickte auf die Uhr. »Ich kann nur nicht so lange bleiben. Wie geht es deinem Jungen?« »Ein stiller Junge«, erwiderte Karin. »Der starke, verschwiegene Typ.« Paul lehnte an der Wand des Badezimmers und sah zu, wie Conklin seinen Scheitel nachzog. »Na, amüsieren Sie sich gut?« wollte Conklin wissen. Paul nickte. »Sie ist nett. Redet zuviel, aber sie ist nett.« Conklin warf einen fragenden Blick in den Spiegel. Das Spiegelbild nickte. »Ja, ich weiß Bescheid.« »Das tut mir leid, Paul. Ehrlich.«
»Ist nicht Ihre Schuld.« »Nein, das ist es nicht; aber ich hätte es ahnen müssen. Ich sprach mit Carnell am Telefon. Ich hätte erraten können, was dann passierte. Aber ich wußte nichts davon, bis Karin zur Tür hereinkam. Ich erkannte sie natürlich sofort.« Er machte eine kleine Pause. »Slater?« »Die Anfangsbuchstaben auf der Anweisung lauten R. B.« Conklin nickte unglücklich. »Rose Busch – ich kenne sie. Slater also.« »Ich hatte es mir gedacht.« »Nun – was haben Sie jetzt vor?« Paul grinste ihn an. »Ich spiele mit. Schließlich macht es ja Spaß, nicht wahr?« »Emily ist schon immer ein nettes Mädchen gewesen.« »Ich bedaure nur unsere zwei Schatten vor der Tür. Für sie gibt es keine Mädchen.« »Einer kann eben nur Sieger sein«, zitierte Conklin. Die beiden Sieger kehrten zu ihren Mädchen zurück. Am nächsten Tag erwachte Conklin mit trockener Kehle und schwerem Kopf. Paul beobachtete ihn vom Nachbarbett aus. »Ich habe doch gar nicht so viel getrunken!« fluchte
Conklin leise. »Dieses Luder muß mich vergiftet haben!« »Dieses Luder ist viel zu verliebt in Sie, um Ihnen ein Härchen krümmen zu können«, erwiderte Paul und schwang sich aus dem Bett. »Ich hole Ihnen ein Aspirin.« »Die helfen ja doch nie«, widersprach Conklin. »Außerdem haben wir gar keine Aspirintabletten.« Paul ging ins Badezimmer und tränkte einen Waschlappen mit kaltem Wasser. Er legte ihn auf Conklins Stirn und Augen. Einen Moment lang ließ er seine Fingerspitzen auf den Augenlidern von Conklin ruhen und sagte in Gedanken: »Schlafe jetzt wieder ein, Peter. Du wirst dich viel besser fühlen, wenn du wieder aufwachst.« Conklins Muskeln entspannten sich, und bald gingen seine Atemzüge tief und regelmäßig. Die Leibwächter waren bereits wach und warteten mit dem Frühstück. Pauls Gedanken begannen wieder zu wandern. Er beschäftigte sich mit dem Feldwebel, der jetzt eine Wohnung in einer unbekannten Stadt bewohnte. Er konnte den Mann klar und deutlich sehen, sobald er sich auf ihn konzentrierte, erkannte seine unmittelbare Umgebung, erfuhr seine Gedanken und Wünsche. Im Augenblick schlief er seinen Rausch aus. Seine Augen waren im Schlaf geschlossen. Doch sobald er aufwach-
te, konnte Paul mühelos seinem Gedankengang folgen und alles sehen, was in seinem Gesichtskreis vorging. Nur leider dachte dieser Mann eben nicht genug. Ein Mann namens Alex und dessen Kollege oder Freund David spielten noch eine Rolle. Beide hatten ein fast leidenschaftliches Interesse daran, alles, was mit dem Feldwebel zusammenhing, so geheim wie möglich zu halten. Und es ging um eine große Summe Geld. Alles schien sich um diese schreckliche Atombombe zu drehen, die erst vor kurzem in einer Wüste im Westen der Vereinigten Staaten getestet worden war. (Diese Information war ihm von Slater übermittelt worden. Ohne es zu wissen, hatte Slater Paul das Bild der explodierenden Bombe übermittelt, weil Slater bei dieser Demonstration in New Mexico teilgenommen hatte.) Und jetzt war natürlich eine fieberhafte Aktivität im Gang, den vermißten Feldwebel wiederzufinden. Alex und David hatten das geahnt oder vorausgesehen und deshalb dem Feldwebel eingehämmert, daß er sich unbedingt verstekken müßte. Paul war davon überzeugt, daß Alex und Dave dem Feldwebel wertvolle Unterlagen oder Informationen abgekauft hatten; doch keiner der drei schien zu wissen, was in diesen Unterlagen stand und welche Bedeutung sie hatten. Der Feldwebel beschäftigte sich nie in Gedanken damit. Und an diesem Punkt mußte Paul enttäuscht seine Ohnmacht
zugeben. Er kannte diesen Mann einfach nicht gut genug, um tiefer in seine Gedankenwelt eindringen zu können. Plötzlich kam Paul eine Idee, die ihn zunächst erschreckte. Vielleicht konnte er den Mann, der sich in einer ihm unbekannten Wohnung versteckte, dazu zwingen, seinen Unterschlupf preiszugeben? Nun – es gab zwei Vorfälle in jüngster Zeit, die ihn zu einem Versuch ermutigten. Neulich, bei dem ersten Interview mit Slater und Carnell, hatte er bei Slater, der ihn dauernd geistig täuschen wollte, schreckliche Kopfschmerzen ausgelöst. Nun, diese Kopfschmerzen waren schon am Anfang des Verhörs da gewesen, doch im kritischen Moment, als Slater ihn geärgert hatte, hatte er in Slaters Geist eingegriffen und die Kopfschmerzen so verstärkt, daß Slater das Verhör abbrechen mußte. Und vor ein paar Minuten erst hatte er Conklin mit einem hypnotischen Befehl wieder in den Schlaf versenkt und ihm die Folgen einer durchzechten Nacht weggezaubert. Konnte er seine Willenskraft auch auf große Entfernung ausüben? Paul schloß die Augen und versuchte es. Er griff mit seinen Gedanken über die Entfernung hinweg nach dem Bewußtsein des schlafenden Mannes. Doch der Mann stöhnte nur im Schlaf und wälzte sich auf die andere Seite. Das war alles.
»Was ist denn los mit Ihnen? Ist es zu heiß im Zimmer?« Paul öffnete die Augen am Frühstückstisch. »Wie bitte?« fragte er verwirrt. »Ihnen läuft der Schweiß über das Gesicht. Ist Ihnen nicht gut?« »Nein, es ist alles in Ordnung. Wahrscheinlich die Nachwirkungen des Whiskys gestern abend.« Der Versuch war also fehlgeschlagen. Offenbar mußte er auch räumlichen Kontakt mit der Person haben, die er beeinflussen wollte. Ende Juli verunglückte ein Flugzeug über New York, als es im Nebel die Spitze des Empire State Building streifte. Paul las die Schlagzeile einer New Yorker Zeitung, die von dem Unglück berichtete, durch die Augen des Feldwebels, der sich immer noch in der Wohnung in einer unbekannten Stadt versteckte. In Gedanken überwachte er diesen Mann, obwohl er Conklin nichts davon sagte. Alex besuchte den Feldwebel ab und zu, munterte ihn auf und warnte ihn gleichzeitig, daß er sich keinesfalls auf der Straße sehen lassen dürfe. Die Zeitung aus New York war einen Tag alt und gab keinen wichtigen Hinweis. Auch Alex lieferte keine Spur, denn er war nur eine Kontaktperson, über die der Feldwebel auch nicht mehr wußte. Alex sorgte nur dafür, daß der Feldwebel re-
gelmäßig mit Lebensmitteln versorgt wurde. Paul wartete ab. Er beschloß, nichts von seiner Fähigkeit zu verraten, daß er auch über große Entfernungen hinweg Menschen beobachten konnte. Slater und Carnell glaubten, daß Paul sich immer im gleichen Zimmer mit einer Versuchsperson aufhalten mußte, wenn er deren Gedanken lesen wollte. Auch Conklin, der inzwischen mit Paul eng befreundet war, wußte nicht, daß Pauls Fähigkeiten viel größer waren, als er ahnte. Und Paul hütete sich, diese Männer aufzuklären. Seine Beziehungen zu Slater waren schlecht genug. Er mußte auf der Hut vor diesem Mann sein, der ihn nur als Werkzeug ausbeuten wollte. Sobald ein Interview oder Verhör stattfand, nahm Paul als schweigender Zuhörer teil. Er benahm sich höflich und unauffällig und berichtete anschließend, wie der Befragte oder Verdächtige in Gedanken reagiert hatte. Für Paul waren diese Unterhaltungen und Begegnungen hochinteressant. Abgeordnete, hohe Beamte, Stabsoffiziere, Manager, Berater, Bewerber, Agenten, Diplomaten und Spione – alle wurden sie Paul bei einem kürzeren oder längeren Gespräch vorgeführt, traten ins Zimmer, erstatten Bericht oder bekamen ihre Anweisungen, und gingen wieder hinaus. Palmer und seine Vorgesetzten vom FBI kamen in Slaters Büro, protestierten und wurden wieder höf-
lich verabschiedet. Captain Evans wurde nach Washington zitiert, zur strengsten Geheimhaltung verdonnert und wieder fortgeschickt. Und nach jedem Auftritt berichtete Paul, ob diese Männer gelogen, etwas verheimlicht oder offen gesprochen hatten. Als der Präsident mit seinen Begleitern endlich wieder aus Potsdam zurückkehrten, gab es in Slaters Büro einen heftigen Auftritt zwischen Slater und Carnell. Paul und Peter Conklin mußten inzwischen in einem anderen Büro warten. Conklin hatte keine Ahnung, was sich in Slaters Büro abspielte; aber Paul hörte genau zu. Slater war fest davon überzeugt, daß einige wichtige Dinge in Potsdam beschlossen worden waren, die man den zuständigen Behörden nicht mitgeteilt hatte – womit er sich selbst meinte. Carnell meinte, der Präsident und seine Berater unterständen nicht ihrer Zuständigkeit und man dürfe deshalb die Privatsphäre des Präsidenten nicht verletzen. Schließlich setzte sich aber Slater durch, und Slater, Carnell, Conklin und Paul besuchten das Weiße Haus. Ganz beiläufig stellte man Paul dem Präsidenten vor, der bisher nichts von Pauls Existenz geahnt hatte. Slater weihte den Präsidenten nicht ein, in welcher Eigenschaft und mit welchen Talenten Paul dem Geheimdienst nützlich war. Aber nach diesem Besuch quetschte Slater Paul wie eine Zitrone aus. Er wollte alles wissen, was Paul bemerkt hatte. Anfang August erhielt Paul die Antwort auf einige
Fragen, die ihn bisher beunruhigt hatten. Slater hielt bewußt Informationen vor seinen Vorgesetzten zurück. Er hatte nur einige wenige, die zu seinen Vertrauten zählten, in Pauls Geheimnis eingeweiht. Offenbar wußten nur sieben Männer, daß ein telepathischer Agent in Washington für die Regierung arbeitete: Palmer und zwei seiner Vorgesetzten beim FBI, Evans, Conklin, Carnell und Slater selbst. Nur diese sieben. Der Präsident war nicht eingeweiht worden. Karin natürlich auch nicht, ebensowenig wie Emily, die Leibwächter und das übrige Personal, mit dem Paul täglich zu tun hatte. Nur sieben. Paul fragte sich, warum das so war. Eine Woche später, bei einer Cocktail-Party im Hotel, faßte Paul plötzlich nach Conklins Arm und raunte ihm zu: »Peter, laß eine Zeitung aus der Rezeption holen.« »Eine Zeitung? Kannst du denn nicht bis nach der Party warten?« »Nein. Bitte, besorg sie sofort.« Einer der beiden Leibwächter fuhr mit dem Fahrstuhl hinunter. Schon nach einer Minute kam er ganz aufgeregt wieder. »Hört mal alle her!« rief er, »was wir den Japanern eingebrockt haben! Wir haben eine neue Bombe erfunden, und seit gestern ist die Stadt Hiroshima von der Landkarte gestrichen!«
Acht: 1945–1948 Die Routinearbeit wurde nur am Ende des Jahres durch zwei Ereignisse durchbrochen. Paul bekam ein neues Quartier, und sein Stab wurde aus »Sicherheitsgründen« erweitert. Vorher stöberte Paul den flüchtigen Feldwebel noch in seinem Unterschlupf auf. Paul hatte seine Überwachung nie aufgegeben, obwohl er sich kein positives Ergebnis mehr davon versprach. Ab und zu hatte er versucht, den Willen des Mannes zu beeinflussen, immer ohne Erfolg. Doch dann, an einem Novemberabend, sah er durch die Sinne des Flüchtlings, wie Alex zum letztenmal das Versteck des Feldwebels besuchte. Er hörte sehr aufmerksam zu, als der Fluchtplan erörtert wurde. Zwischenstationen wurden genannt, Fahrpläne diskutiert und Kontaktpersonen erwähnt. Alex und der Feldwebel wollten kurz nach Anbruch der Morgendämmerung vom Flugplatz Newark aus ihre Reise antreten. Paul fuhr in seinem Bett hoch – und zögerte. Wie sollte er diese Information an Conklin weitergeben, ohne sein Geheimnis zu verraten? Es gab nur einen Ausweg. Er wußte, daß viele Menschen im Traum Visionen erlebten, die man als telepathisch bezeichnen konnte. Er stieg aus dem Bett, ging zu Conklin hinüber und rüttelte ihn an der Schulter.
»Peter – Peter!« Der Agent war sofort wach. »Was ist denn los?« »Erinnerst du dich noch an den Feldwebel, den wir im Zug gesehen haben?« »Wie könnte ich diesen Mann jemals vergessen!« »Dann hör gut zu: Er und ein Mann namens Alex werden den Flugplatz Newark morgen früh um sechs Uhr fünfzehn verlassen. Sie fliegen nach Miami und steigen dort in eine Maschine nach New Orleans um. In New Orleans wartet eine Maschine nach Mexico City. Von Mexico City aus fahren sie nach Vera Cruz, und dann mit dem Schiff nach Portugal.« Er stockte. »Ich weiß nicht, was dann passieren soll.« Conklin sah Paul im Halbdunkel prüfend an. »Soll das ein Witz sein?« »Nein, Peter. Das ist die Wahrheit.« »Vielleicht stelle ich eine dumme Frage – aber woher weißt du das alles?« Paul deutete auf sein Bett. »Es ist mir eben im Traum gekommen. Beeil dich, Peter, damit er uns nicht entwischt!« Conklin gehorchte schweigend. Er ging ans Telefon und wählte eine Nummer. Allerdings reagierte jemand nicht so prompt, wie man das hätte erwarten dürfen. Die beiden wurden erst geschnappt, als sie in Miami landeten. Später quetschten sie Paul aus, wie er diese Infor-
mation erhalten hatte. Slater setzte ihm besonders hart zu; aber Paul blieb hartnäckig bei seiner ursprünglichen Erklärung: der Reiseplan sei ihm plötzlich im Traum erschienen. Auf seine Frage, wieso dieser Traum sich so präzise im richtigen Zeitpunkt einstellen konnte, erwiderte Paul, daß er ununterbrochen an den Feldwebel gedacht habe, seit er ihm im Speisewagen begegnet war. Und damit sagte er die Wahrheit. Slater konnte das auslegen, wie er wollte. Wichtig war nur, daß er Paul bei diesem Phänomen eine passive Rolle zuschrieb. In den folgenden Wochen stellte Conklin nach dem Aufstehen immer die gleiche Frage an Paul. Und Paul schüttelte immer den Kopf und sagte: »Nein, kein wichtiger Traum in dieser Nacht.« Kurz vor Weihnachten fand der Umzug statt. Paul, Peter Conklin und die beiden Leibwächter wurden zu einem zweistöckigen Haus am äußersten Ende der Columbia Pike gebracht. Dieses Haus war offensichtlich schon seit Wochen für ihren Einzug vorbereitet worden. Im ersten Zimmer hinter der Eingangshalle hatte man eine Telefonvermittlung eingerichtet. Paul blickte erwartungsvoll durch das Schiebefenster. Leider wurde seine Erwartung enttäuscht. Dann besichtigte er sein neues Heim. Im ersten Stock gab es ein paar Büroräume, ein großes Eßzimmer, eine Küche und zwei Wohnzimmer. Im zweiten
Stock waren vier Schlafzimmer eingerichtet worden. Paul und Conklin schliefen von jetzt ab in getrennten Räumen, allerdings schnell erreichbar durch eine Verbindungstür. Man hatte Paul einige Regale ins Zimmer gestellt, damit er seine Bibliothek ausbauen konnte. (Er schleppte immer noch die zerlesene Ausgabe von Roys »Studien in Psychokinese« mit sich herum.) Die beiden Leibwächter teilten sich das dritte Schlafzimmer, und das vierte Schlafzimmer beherbergte zwei neue Leute, die man Paul »aus Sicherheitsgründen« zugeteilt hatte. Im Keller hatte man neben den Lagerräumen ein Erholungszentrum eingerichtet. »Ganz nett hier«, sagte Conklin zufrieden. »Vielleicht ist oben auf dem Boden noch ein Schwimmbad«, meinte Paul. Conklin sah ihn skeptisch an. Vielleicht hatte Paul wieder eine telepathische Eingebung. Eine Haushälterin und eine Köchin versorgten tagsüber den Stab und verließen abends das Haus. Die Telefonvermittlung war vierundzwanzig Stunden besetzt, und die Mädchen lösten sich alle acht Stunden ab. Paul kannte keine von den Telefonistinnen. Emily kam ab und zu in die Villa, wenn Besuch aus Washington eintraf. Carnell führte regelmäßig den Vorsitz, wenn Interviews, Gespräche oder Verhöre stattfanden.
Conklin organisierte die Weihnachtsfeier für den Haushalt, und Emily brachte Karin zur Weihnachtsfeier mit. »Hallo!« begrüßte Karin Paul mit einem warmen Lächeln. »Wie geht es Ihrem reizenden Großvater?« Paul schüttelte in gespielter Trauer den Kopf. »Man hätte ihn vor ein paar Tagen beinahe aufgehängt. Er hat ein Pferd gestohlen. Aber er behauptete, es sei ihm nachgelaufen, weil er ein paar Stück Würfelzukker in der Tasche gehabt habe.« »Was für ein gerissener alter Mann! Und was macht das Tanzen?« »Nicht viel besser. Ich habe seit der letzten Party keinen Schritt mehr übers Parkett gemacht.« »Haben Sie ein Radio? Ja – ich sehe schon. Wollen wir nicht den Unterricht dort fortsetzen, wo wir ihn das letztemal abgebrochen haben?« »Wenn es Ihnen nicht zu albern wird?« Karin lachte. »Wollen mal sehen!« Sie streckte ihm die Arme entgegen. Sie war immer noch so blond und anschmiegsam wie damals. »Sie sind ein nettes Mädchen«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Vielen Dank«, flüsterte sie zurück. Die Weihnachtsparty brachte eine Entwicklung, die Paul nicht vorhergesehen hatte. Die Gäste blieben über Nacht. Karin schlief in seinem Zimmer, und
Emily zog sich in Peters Schlafzimmer zurück. Niemand hatte etwas dagegen einzuwenden. Nur die Leibwächter murrten in Gedanken. Mitte November 1948 wurde das Haus in der Columbia Pike von einem Sturm erschüttert, der eigentlich nur als Folge eines anderen Sturmes zu betrachten war, der bereits sich vierzehn Tagen tobte. Paul mußte die Einzelheiten Stück für Stück seinem Freund Conklin wie Würmer aus der Nase ziehen. Slater hatte den Kreis der sieben Personen, die von Pauls Geheimnis wußten, nicht vergrößern wollen. Doch jetzt zogen noch zwei Männer ins Haus, obwohl Slater das gar nicht paßte. Slater hatte es nämlich versäumt, das Weiße Haus von Breens Identität zu unterrichten, weil er das Sicherheitsrisiko nicht unnötig vergrößern wollte. Wie viele andere auch glaubte er, daß die Wahlen einen Wechsel im Weißen Haus bringen würden. Doch am Morgen nach der Wahl erlebte er – wie viele andere – eine böse Überraschung und beeilte sich jetzt, sein Versäumnis dem Präsidenten mitzuteilen. Und deshalb gab es einen kleinen Wirbel in der Villa, und zwei neue Männer vergrößerten jetzt den exklusiven Kreis der Breen-Wächter. Der eine Mann war nur der persönliche Vertreter des anderen. Dieser Mann, ein Major mit mißtrauischen Augen, betrachtete Paul wie ein Kalb mit zwei Köpfen und besuchte mehrmals am Tag das Weiße Haus.
Neun Personen wußten jetzt, daß ein Telepath in Washington lebte. In Wirklichkeit, erkannte Paul, waren es elf Personen, die eingeweiht waren. Er schwieg sich darüber aus und wartete ab. Und er konnte seine Gefühle über seinen Status gut verbergen. Denn schließlich war er nicht nur Gast in diesem Haus. Er war auch Gefangener.
Neun: 1949 Die Routine hatte Anfang 1949 plötzlich ein Ende. Das Ende wurde durch ein leises Klopfen an Pauls Schlafzimmertür eingeleitet. Paul hob nur den Blick von dem Buch, das er gerade las, und betrachtete prüfend die Tür. Carnell wartete draußen, und seine Gedanken befanden sich in Aufruhr. Er war allein. »Herein!« rief Paul laut. Carnell stand auf der Schwelle. Seine Wangenmuskeln zuckten. »Ich möchte mit Ihnen reden, Paul«, sagte er. »Es ist sehr wichtig.« Dann trat Carnell in das Zimmer und zog die Tür hinter sich zu. »Am besten, wir besprechen die Sache gleich hier«, sagte er. »Paul, wir haben ein großes Problem.« Er trat ans Bett und rückte sich einen Sessel zurecht. Paul schwieg. Er wartete, bis Carnell sich eine Zigarette angezündet hatte und fortfuhr: »Erinnern Sie sich noch an die beiden Männer, die wir vor drei Jahren wegen der Bombe verhört haben?« Paul nickte. »Ich habe die beiden selbst ausgehorcht.« »Richtig. Und bekamen nicht eine einzige wichtige Information aus den beiden heraus. Der eine der beiden war ein Kurier, der wichtige Informationen entgegennahm, dafür bezahlte und sie an einen Dritten
weitergab. Auf Befehl einer dritten Person kaufte der Kurier dem Feldwebel Informationen über die Atombombe ab, versteckte ihn und verhalf ihm zur Flucht. Die beiden sitzen jetzt im Gefängnis, und es ist mir schleierhaft, warum sie inzwischen nicht auf unsere Seite übergetreten sind. Wir wissen auch noch nichts über die Drahtzieher hinter diesen beiden Männern. Erinnern Sie sich noch an den Fluchtweg der beiden?« »Miami, New Orleans, Mexiko, Portugal ...« »Richtig. Kurz nachdem wir diese beiden Männer geschnappt hatten, schickten wir einen unserer Agenten los, der mit allen Informationen ausgestattet wurde, die Sie in den Gedanken des Kuriers entdeckt hatten. Er flog nach Miami, dann weiter nach New Orleans, kam nach Mexiko City und bestieg das Schiff in Vera Cruz. Er kam auch nach Portugal.« Carnell drückte die Zigarette mit einer unbeherrschten Bewegung aus. »In Portugal hat man ihn erschossen.« Paul betrachtete sein Gegenüber gleichmütig. Er hatte die ganze Geschichte schon in Carnells Gedanken gelesen; aber er ließ den Mann ausreden. »Wir beschatteten ihn auf der ganzen Reise. Unser Mann erfüllte alle Anweisungen, gab die richtigen Parolen, verhielt sich in jeder Beziehung perfekt. Als er unterwegs nach Portugal war, stellten wir Leute bereit, die ihn bei der Landung beschatten sollten.
Wir wollten wissen, wer ihn dort in Empfang nahm und wo die Reise anschließend hingehen sollte. Wir waren darauf vorbereitet, ihn notfalls bis nach Sibirien zu begleiten, falls seine Reise dort enden sollte.« »Aber er wurde schon vorher ermordet.« »Ermordet«, bestätigte Carnell. »Sein nächster Haltepunkt war Lissabon. Dort wurde er von einem Spanier erschossen, der für fünfzig Dollar jeden Mordauftrag entgegennahm. Der Spanier konnte seinen Auftraggeber nicht beschreiben; aber man hatte ihm eine Beschreibung und eine Skizze von dem Mann mitgegeben, der mit einem bestimmten Schiff in Portugal eintreffen würde. Die ganze Sache war sehr einfach arrangiert. Und der Spanier lebte auch nicht lange. Leider wußten unsere Leute in Lissabon nichts von Ihrer Existenz. Sonst hätten Sie den Burschen noch vor seinem Tod gründlich aushorchen können.« »Eine Bleistiftskizze?« fragte Paul. »Eine hervorragende Skizze. Jemand mußte sie in Miami, in New Orleans oder in Mexiko City angefertigt haben und schickte sie per Luftpost nach Portugal. Und dieser Fluchtweg wurde dann nicht mehr benützt – weder von uns noch von den anderen. Aber vor ein paar Monaten haben wir einen neuen Weg entdeckt.« »Wieder über Mexiko«, warf Paul ein. »Mexiko bietet hervorragende Fluchtmöglichkei-
ten. Selbst während des Krieges wurde die Küste nicht lückenlos überwacht.« Paul schloß die Augen. Er wußte, was jetzt noch alles kommen würde und bedauerte Carnell, weil Slater ihn mit diesem unangenehmen Auftrag betraut hatte. Carnell zündete sich eine neue Zigarette an. »Wir haben guten Grund zu der Annahme, daß auf diesem Weg Agenten und Informationen aus dem Land geschleust werden – auf diesem Weg und auf anderen noch unbekannten Routen. Solche geheimen Wege gibt es natürlich in allen Ländern der Welt, und auch wir haben unsere geheimen Verbindungslinien. Aber wir haben ein schreckliches Problem, Paul. Wir haben Anlaß zu der Vermutung, daß die Russen viel früher eine Atombombe besitzen werden, als unsere Wissenschaftler vorausgesagt haben. Der Feldwebel, der uns verkauft hat – und andere Leute – werden dafür sorgen. Wir müssen diese Lecks in unserem Apparat abdichten. Wir müssen den Mann suchen, der die Spionage gegen unsere Regierung in diesem Land leitet. Aber wir haben keine Männer mehr, die für diesen Auftrag geeignet sind. Wir haben nur noch einen – und der sind Sie.« Paul lächelte schwach. »Mr. Carnell, ich weiß, was in Ihrem Gehirn vorgeht. Sie brauchen es nicht auszusprechen, wenn Ihnen das unangenehm ist.« »Aber ich will es aussprechen!« platzte Carnell her-
aus. »Ich will, daß wir beide genau wissen, wo wir stehen.« »Also gut.« »Es ist nicht leicht, Paul«, murmelte Carnell und betrachtete seine Zigarette. »Ich weiß.« »Seit dem Tag, als wir Sie entdeckt haben, Paul, haben wir rastlos nach Menschen gesucht, die Ihnen ähnlich sind. Diese Nachforschungen waren nicht einfach und haben viel Zeit in Anspruch genommen. Wir haben jede Akte, jeden Intelligenztest und jedes Personalblatt von Männern durchleuchtet, die seit 1940 zum Armeedienst eingezogen wurden. Leider mit negativem Ergebnis.« Carnell schüttelte den Kopf. »Aber wir haben nicht aufgegeben. Jetzt durchleuchten wir die Personalakten jedes Mannes, jeder Frau und jedes Kindes, die sich irgendwann einmal um einen Posten im Öffentlichen Dienst beworben haben.« »Eine gewaltige Aufgabe«, murmelte Paul. »Eine Riesenaufgabe«, bestätigte Carnell. »Aber wenn wir noch so einen Menschen wie Sie finden, Paul, hat sich die Arbeit gelohnt.« »Lassen Sie mich eine Frage vorwegnehmen, die in Ihrem Bewußtsein steckt«, sagte Paul. »Und ich bin ganz offen und ehrlich zu Ihnen. Ich weiß von keinem, der die gleiche Veranlagung hätte wie ich.«
»Vielen Dank. Wir hatten natürlich schon daran gedacht, daß Sie als erster einen anderen Telepathen erkennen würden. Aber wir waren uns nicht sicher, ob Sie uns diese Information weitergeben würden. Also noch einmal vielen Dank.« Carnell rauchte und blickte zu Boden. »Am Morgen nach jener Nacht, als Sie uns den Fluchtweg des Feldwebels enthüllten«, fuhr Carnell fort, »hatten wir Ihren Fall neu durchdacht. Und wir haben etwas veranlaßt, was wir schon viel früher hätten tun sollen. Wir haben Wissenschaftler mit der Untersuchung Ihres Falls beauftragt. Diese Männer bekamen von uns jede nur mögliche Unterstützung. Wir haben Ihre Vorfahren fünf Generationen weit zurückverfolgt. Wir haben Ihre Prüfungsunterlagen noch einmal ausgewertet. Wir haben jedes Wort, jede Bewegung, jede Reaktion aufgezeichnet, an die wir uns erinnern konnten, seitdem wir Sie entdeckt haben. Zu diesem Bericht hat jeder beigetragen, der Sie kennengelernt und beobachtet hat: Conklin, Palmer, Slater, Karin, Emily, die beiden Leibwächter, ich – jeder.« Er stockte einen Moment und setzte dann verlegen hinzu. »Verzeihen Sie mir, Paul. Wir wissen auch, wie Sie tanzten und wie Sie liebten. Wir wissen alles.« Pauls Blick glitt zum Bücherregal hinüber. »Roy«, sagte er laut. Carnell nickte zustimmend. »Dr. Roy und ein Kol-
lege, den er selbst empfohlen hatte, Dr. Grennell. Das Buch, das Sie überall mit sich herumschleppten, hat uns schließlich die Augen geöffnet. Deshalb haben wir Dr. Roy beauftragt.« Carnell lächelte flüchtig. »Der Mann war ganz außer sich vor Freude. Es brach ihm fast das Herz, als wir uns weigerten, Sie mit ihm bekanntzumachen. Sie hätten sofort herausgefunden, womit wir ihn beauftragt hatten.« »Ich möchte ihn gern kennenlernen«, sagte Paul nachdenklich. »Ich glaube, das können wir jetzt ermöglichen. Ich werde Slater fragen. Auf jeden Fall haben wir das ganze Material über Sie an Roy und Grennell übergeben. Sie waren die einzigen Außenseiter, die von Ihrer Existenz wußten. Und dann warteten wir, bis das Material ausgewertet war.« Carnell holte eine neue Zigarette aus der Packung. »Karin wird nicht mehr hierherkommen.« »Nein«, erwiderte Paul verbittert, »ich habe es bereits gelesen.« »Sie ist eine wundervolle Frau«, fuhr Carnell fort. »Und wenn Polygamie in diesem Land erlaubt wäre ...« Er spreizte die Finger. »Karin wußte natürlich nicht, was Sie sind, aber mit der Zeit spürte sie, daß Sie ahnten, warum sie sich mit Ihnen traf. Das deprimierte sie. Weibliche Intuition, vermute ich. Sie hatte sich in Sie verliebt, und als sie in ihrem Bericht alle
Einzelheiten ihrer Liebesnacht aufführen mußte, gab es Probleme. Sie tat es, aber sie bat zugleich, daß man sie niemals mehr hierherschicken sollte. Sie könnte Ihnen nicht mehr offen ins Gesicht sehen.« »Wie hat Ihnen meine Liebestechnik gefallen?« fragte Paul kühl. »Bitte, Paul. Das Ganze ist mir viel peinlicher als Ihnen selbst. Vergessen Sie bitte nicht, daß ich nur Befehle auszuführen habe. Ich bin nur der zweite Mann.« »Der erste hat sich neuerdings sehr rar gemacht.« »Er glaubt, er sollte Ihnen so selten wie möglich unter die Augen treten. Er spürt, daß er Ihnen unsympathisch ist.« »Und umgekehrt.« »Ja, das stimmt. Sie haben nicht sehr viele Freunde.« »Und diese wenigen verliere ich auch noch.« Paul erinnerte sich noch voll Verbitterung an den Morgen, als man Karin zwang, ihre Eindrücke und Beobachtungen von ihm schriftlich niederzulegen. Das lag schon ein paar Wochen zurück, aber er hatte sie aus der Entfernung beobachtet, wie sie ihren Bericht verfaßte, und ihre Seelenqualen miterlebt. Das alles war ihm schon seit einiger Zeit bekannt, und trotzdem lief ihm deswegen jetzt noch die Galle über. »Die Wissenschaftler haben ihre Analyse abgelie-
fert«, fuhr Carnell nach einer Minute des Schweigens fort. »Und Dr. Roy hat einen Freudentanz aufgeführt?« »Richtig. Dr. Roy hat einen Freudentanz aufgeführt. Er sagte, Sie seien eine Bestätigung seines Buches. Selbst der Nobelpreis hätte ihm keine größere Freude machen können als Ihre Entdeckung. Und wir haben erfahren, was wir wissen wollten.« Carnell blickte aus dem Fenster. »Paul, Sie haben nicht alles für uns getan, was Sie hätten tun können.« »Ich habe alles getan, was Sie von mir verlangt haben.« »Schön, richtig ...« Sein Blick blieb immer noch am Fenster hängen. »Die Analyse von Roy und Grennell besagt, daß Ihre Talente viel größer und umfassender sind, als wir geglaubt hatten. Roy meint, daß Sie nicht nur die Gedanken der Personen lesen können, die mit Ihnen zusammen im gleichen Raum sind. Sie können nicht nur den Fluchtweg einer Person erkennen, sobald Sie von ihm träumen ...« Carnell brach ab und blickte Paul fragend an. »Die Analyse stimmt«, sagte Paul. Carnell blieb der Mund offenstehen. »Sie stimmt?« »Was hat Roy Ihnen denn alles erzählt?« fragte Paul. »Okay, wenn wir bei dem Spiel bleiben wollen ...« Carnell war gar nicht glücklich in seiner Haut. »In
dem Bericht steht, daß Sie nicht unbedingt im gleichen Zimmer mit der Person sein müssen, deren Gedanken Sie lesen. Sie können auch auf große Entfernungen hinweg die Gedanken einer Person lesen.« »Das stimmt – bis zu einem gewissen Grad.« »Nur bis zu einem gewissen Grad?« »Ich muß diese Person erst kennenlernen und mit ihrem Gedankenbild vertraut sein. Sie kann ich im Geist begleiten, wohin Sie auch gehen und was Sie auch tun. Das gleiche gilt für Conklin und Karin. Ich begleite sie Tag und Nacht, ob es ihnen paßt oder nicht.« Paul betrachtete mitleidig das Gesicht des Mannes, der neben seinem Bett saß. »Aber ich kann sehr wenig mit Leuten anfangen, die ich nur flüchtig kenne. Mit Slater zum Beispiel geht das nicht. Und bei Menschen, denen ich nie begegnet bin, versage ich vollkommen.« »Aber der Feldwebel und der Kurier ...« »Ich behielt den Feldwebel in meinem geistigen Auge von dem Tag an, als ich wußte, daß er ein wichtiges Geheimnis mit sich herumtrug. Ich sah seine Umgebung durch seine Augen und hörte die Gespräche mit seinen Ohren. Doch ich konnte nichts mit dem Kurier anfangen, weil ich ihm persönlich nie begegnet bin. Ich sah ihn nur, wenn der Feldwebel ihn sah. Seit ich diesem Mann im Gefängnis begegnet bin, ist die Lage natürlich anders. Von jetzt an kann er
sich nie mehr vor meinen Gedanken verstecken, bis er stirbt. Das gleiche gilt für Sie, für Conklin oder für Karin.« »Slater?« Paul runzelte die Stirn. »Slater ist ein vollkommen anderer Fall. Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das klar machen kann. Slater kann seine Gedanken in einem Maße kontrollieren, wie mir das bisher noch nicht begegnet ist. Nehmen Sie mir bitte einen Vergleich nicht übel. Sie glauben, Sie haben einen eisernen Willen. Doch im Vergleich dazu besitzt Slater eine Gedankenkontrolle aus undurchdringlichem Stahl. Ich kenne seine Gedanken und kenne sie auch wieder nicht. Wenn ich mich im gleichen Zimmer aufhalte, kann ich seinen meisten Gedanken mühelos folgen. Doch wenn er mir einen Gedanken vorenthalten will, kann er das, indem er sich hartnäckig weigert, diesen Gedanken oder Gedankenkomplex zu denken. Ich kann zwar sehen, was er tut, aber ich kann nicht erkennen, was dahintersteckt. Ich erkenne die Schranke und die Anstrengung, diese Schranke dicht zu halten, aber ich weiß nicht, was er hinter dieser Schranke verbirgt. Und deshalb weicht er mir auch aus. Er kennt die Grenzen meiner Möglichkeiten und glaubt, daß ich ihn erst ausloten kann, wenn er mit mir zusammen im gleichen Haus wohnt.« »Hm – ich glaube, ich verstehe jetzt«, ergriff Car-
nell wieder das Wort. »Roy und Grennell haben in diesem Punkt also recht. Sie können Gedanken auch auf größere Entfernung lesen. Damit läßt sich auch Ihr Wissen von dem Fluchtweg erklären.« »Richtig. Ich hörte zu, wie der Kurier den Fluchtweg vorlas.« Carnells Blick glitt wieder zum Fenster. »Roy deutete gleichfalls an, daß Sie hellsehen und Dinge voraussagen könnten. Er glaubte, Ihre Kenntnis von dem Fluchtweg ließe sich dadurch erklären. Das traf allerdings nicht zu ...« Carnell stockte und wartete. »Roy hat trotzdem recht. Aber wieder ist meine Fähigkeit auf diesen Gebieten begrenzt. Ich bin mir bewußt, daß Sie – oder Slater – mich von Conklin trennen wollen. Mir ist bewußt, daß Conklin einen neuen Auftrag erhalten soll.« Er unterbrach seine Enthüllung, als ein Strom von Gedanken in Carnells Gehirn auftauchte. »Aha, jetzt weiß ich, warum und wo. Ich wußte bisher nur, daß er mich verlassen würde.« Carnell fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. »Unsere Wissenschaftler haben gründliche Arbeit geleistet. Das Ganze bedrückt mich noch sehr. Dr. Roys Bericht vergleicht Ihr Bewußtsein mit einer Radaranlage. Er meint, daß Sie sich dauernd der Gegenstände und Personen bewußt sind, die Sie umgeben, obgleich Sie diese Personen oder Gegenstände gar nicht sehen oder kennengelernt haben. Ist das richtig?«
»Ja.« Carnell wartete. »Ich kann Ihnen alle Personen beschreiben, die sich in diesem Moment im Haus aufhalten, und kann Ihnen sagen, was sie gerade tun. Ihr Chauffeur sitzt unten in der Halle und flirtet mit der Telefonistin. Ich kenne ihn nicht und kann deshalb auch nicht seine Gedanken lesen. Aber ich spüre seine Gegenwart. Unsere Köchin ist im Hof, und die Kartoffeln, die sie aufgesetzt hat, brennen an.« Carnell erhob sich aus seinem Sessel. »Wir sollten ihr das eigentlich sagen ...« »Nein«, Paul lächelte müde, »unten wird es jemand in einer halben Minute riechen und die Köchin alarmieren.« Sie saßen sich schweigend gegenüber. Carnell blickte auf die Uhr und lauschte angestrengt. Dann drang ein lauter Ruf von unten herauf. Carnell hob den Kopf. »Sechsundzwanzig Sekunden«, sagte er laut. »Ich habe mich also um vier Sekunden geirrt«, erwiderte Paul lakonisch. »Paul ...« Carnell seufzte tief, »ich fühle mich unendlich erleichtert. Sie kennen doch die Schwierigkeiten. Wir sollen alles streng geheim halten und haben ganz strenge Vorschriften, die man unmöglich einhalten kann. Und dann macht man uns die Hölle heiß,
wenn nicht alles nach Wunsch verläuft. Ich bin bloß froh, daß die Russen Sie nicht haben.« »Woher wollen Sie wissen, daß das nicht der Fall ist?« fragte Paul leise. Carnell fiel der Kiefer herunter. »Paul! Sie werden doch nicht ...« »Blödsinn! Ich spreche doch nicht von mir!« Diese Bemerkung brachte den CIC-Agenten so sehr aus dem Gleichgewicht, daß er ein paar Minuten lang im Zimmer auf und ab lief. Sie hatten die Personalakten von Militärangehörigen und Regierungsbeamten durchforscht, hatten alle Bewerbungen analysiert, soweit sie für den Geheimdienst erreichbar waren. Doch keiner hatte vorgeschlagen, auch die Akten anderer Staaten zu prüfen. Niemand hatte sich vorstellen können, daß vielleicht auch in einem anderen Land ein Telepath auftauchen könnte. Was für eine idiotische Kurzsichtigkeit! Carnell wirbelte herum. »Paul ...?« »Ich habe diese Frage bereits beantwortet. Ich weiß von keinem anderen Telepathen.« »Aber Sie würden es sofort wissen, wenn ein anderer Telepath auftauchen würde, nicht wahr?« »Ich weiß nicht. Vielleicht – vielleicht auch nicht. Ich habe noch nie einen Menschen getroffen, der so ist wie ich. Wie soll ich ihn also erkennen? Welche Kriterien sind dafür ausschlaggebend?«
»Aber Sie können doch die Gedanken dieser Leute lesen!« »Wenn sie mir erlauben, ihre Gedanken zu lesen«, schränkte Paul wieder ein. »Sie meinen, diese Leute können das verhindern – ihre Gedanken tarnen?« »Ich weiß es nicht, Mr. Carnell. Ich habe keine Erfahrung, an die ich mich halten könnte. Wie soll ich etwas meistern können, was mir noch nie begegnet ist? Es kommt alles auf einen Versuch an.« Carnell mußte sich mit dieser Stellungnahme abfinden. Er konnte die Zusammenhänge nur schwer begreifen, weil er kein Telepath war. Carnell zuckte die Achseln und kehrte wieder zu dem Bericht der beiden Wissenschaftler zurück. »Was die Teleportation betrifft, hat Dr. Roy angedeutet ...« »Hier hat sich Dr. Roy leider getäuscht«, unterbrach Paul. »Ich kann es nicht. Ich habe es versucht, aber ich kann mich nicht einen Zentimeter von der Stelle bewegen, wenn ich nicht meine Füße gebrauche.« »Sie haben es versucht?« »Natürlich.« »Und es hat nicht funktioniert?« »Leider nicht. Sonst hätte ich mich wahrscheinlich bei der nächstbesten Gelegenheit in einen anderen Staat oder in ein anderes Land versetzt. Ich wollte
auch schon eine Klage wegen Freiheitsberaubung einreichen, aber ich weiß natürlich, daß Slater meine Beschwerde sofort bei Gericht zu Fall bringen wird, weil ich noch der Armee angehöre. Ich kann Ihnen also nur eines versprechen: Falls ich eines Tages tatsächlich teleportieren kann, werde ich mich so schnell und so weit von Ihrer Dienststelle entfernen, daß Sie mich nie mehr wiederfinden.« Carnell senkte den Blick und betrachtete das Muster auf dem Teppich. »Ich hätte nie geglaubt, daß Sie so darüber denken.« »Ich bin mit geschlossenen Augen in diese Sache hineingeraten, Mr. Carnell. Ich war voll Patriotismus, voller Ideale und wollte anderen helfen, ob sie das wollten oder nicht. Peter Conklin hat mich gewarnt; aber ich war zu naiv gewesen, um zu begreifen, wovor er mich warnte. Ich habe Ihnen schon vor langer Zeit einmal gesagt, daß ich nicht herumgeschubst werden wollte. Wenn ich mich freiwillig für einen Job zur Verfügung stelle, will ich nicht noch dafür bestraft werden. Aber man schubste mich trotzdem herum. Sie wissen, was ich meine. Sie haben mich nie absichtlich drangsaliert, aber indirekt haben Sie es trotzdem getan. Auch Karin tat es, wenn sie auch auf Befehl handelte. Sie hat sich wenigstens gewehrt, als sich ihr Gewissen regte. Slater hat wissentlich und absichtlich meine Menschenwürde untergraben.«
»Das tut mir ehrlich leid.« »Ich weiß.« Paul winkte ab. »Ich kenne Ihre Gedanken. Wenden wir uns wieder dem Thema zu.« »In dem Bericht steht außerdem«, fuhr Carnell niedergeschlagen fort, »daß Sie auch in einem gewissen Grad die Telekinese beherrschen müßten. Allerdings können die Wissenschaftler nicht angeben, in welcher Richtung sie sich auswirken könnte und ob sie praktisch verwertbar ist.« Carnell blickte auf. »Vielleicht können Sie mich in diesem Punkt aufklären?« »Kann ich Ihnen vorher eine Frage stellen – eine sehr persönliche und vielleicht auch unangenehme Frage?« Nach einem kurzen Zögern, das beiden nicht entging, erwiderte Carnell: »Aber natürlich.« »Müssen Sie alles, was hier gesprochen wird, Slater weitermelden? Oder können Sie gewisse Dinge für sich behalten?« Carnell schien entrüstet. »Wollen Sie unterstellen, daß ich Informationen unterschlage ...?« »Ich frage Sie nur, ob ich Ihnen etwas sagen kann, was Sie nicht an Slater weitergeben!« Carnell griff nach seiner Zigarettenschachtel und warf sie in den Papierkorb, als er keine Zigarette mehr darin fand. Unschlüssig blickte er im Zimmer umher. Dann riß er sich zusammen und sah Paul an. »Das wird leider nicht gehen«, sagte er schließlich. »Dann tut es mir leid«, erwiderte Paul leise. »Ich
glaube, diese Diskussion ist schon viel zu weit gegangen.« »Aber die Telekinese ...« »Ich würde Ihnen gern etwas über die Telekinese erzählen, Mr. Carnell. Glauben Sie mir, ich würde es herzlich gern tun. Ich traue Ihnen und Sie sind mir wirklich sympathisch. Es gibt Dinge, die ich mit Ihnen streng vertraulich besprechen möchte; aber diese Dinge sind nicht für Slaters Ohren bestimmt. Tut mir leid – Sie müssen sich schon an Dr. Roy halten, wenn Sie etwas über Telekinese erfahren wollen.« »Paul, Sie kennen doch meine Lage«, erwiderte Carnell stockend. »Es geht hier nicht um persönliche Dinge. Ich habe einen Eid abgelegt. Slater und ich sind für die Abteilung verantwortlich, und Slater ist mein Vorgesetzter. Ich darf ihm keine Informationen vorenthalten.« »Aber er verschweigt Ihnen Informationen.« Carnell schien überrascht und starrte Paul ungläubig an. Doch dann faßte er sich wieder. »Das ist sein gutes Recht«, sagte er steif. Dann wanderte er ein paarmal im Zimmer auf und ab. Als Paul immer noch schwieg, fragte er: »Ist das alles?« »Solange ich nicht mit Ihnen allein sprechen kann – ja.« Carnell verließ schweigend das Zimmer.
Ein leises Klopfen war an der Tür zu hören. Paul drehte sich nicht um. Er stand am Fenster und schaute der Köchin zu, die den Abfalleimer auf dem Hof ausleerte. »Komm herein, Peter«, rief er. »Woher hast du gewußt, daß ich es bin?« fragte Conklin grinsend. Er zog die Tür hinter sich zu, betrachtete Pauls Rücken und ahnte, was in dem Zimmer vorgefallen war. »Carnell ist mir heute im Traum erschienen«, sagte er. »Jemand muß ihm gezeigt haben, was eine Harke ist.« Paul drehte sich um und stützte die Ellenbogen auf das Fensterbrett. »Ich habe noch eine Überraschung für dich, Peter.« »Schön – dann packe mal aus.« »Würdest du etwas für mich tun – oder etwas mit mir besprechen –, ohne es deinen Vorgesetzten zu melden?« Conklin blinzelte. »Kein Wunder, daß Carnell aussah wie ein begossener Pudel. Du scheinst ihn k.o. geschlagen zu haben. Paul, das ist eine heikle Frage.« »Peter – kannst du oder kannst du nicht?« bohrte Paul hartnäckig weiter. »Ich weiß nicht ...« Conklin schüttelte verwirrt den Kopf. »Das muß ich mir erst überlegen. Wenn es eine dienstliche Sache ist, die die Abteilung betrifft – das geht auf keinen Fall. Wenn es eine persönliche Ange-
legenheit ist ... Hm, ich muß es mir wirklich erst überlegen.« Paul holte eine Flasche Bourbon und zwei Gläser aus dem Sideboard. »Ich garantiere dir, Peter, daß meine Bitte dich in keiner Weise in Schwierigkeiten bringen kann. Ich möchte, daß du zwei Dinge für mich erledigst, ohne daß deine Vorgesetzten etwas davon erfahren. Ich möchte etwas kaufen und ich benötige eine Information. Das erste ist leicht, aber das zweite wird wahrscheinlich ziemlich schwierig sein. Wenn du dich entschieden hast, weihe ich dich in die Einzelheiten ein.« »Ich muß erst überlegen«, wiederholte Conklin. Paul goß zwei Gläser voll Whisky und reichte Conklin eines davon. »Überlege es dir«, sagte er, »aber gib mir in den nächsten Tagen Bescheid.« »Gibt es einen Grund zur Eile?« fragte Peter erstaunt und blickte abwechselnd Paul und das Glas an. »Ja. Du verläßt uns.« »Was tue ich?« »Du gehst von hier weg.« »Weshalb denn?« »Zwei Gründe. Erstens gefällt es Slater nicht, daß wir beide so vertraut miteinander sind. Er will diese Freundschaft in Zukunft unterbinden. Er scheint den Verdacht zu haben, daß im Lauf der Zeit deine Freundschaft zu mir zu einer kritischen Einstellung
ihm gegenüber führen kann. Das will er nicht. Du weißt doch über Roy und Grennell Bescheid, nicht wahr?« »Ich habe etwas läuten hören«, erwiderte Conklin vorsichtig. »Hast du den Bericht der beiden gelesen?« »Nein.« »Das ist der zweite Grund, warum du uns verläßt. Der Bericht liefert Slater den Beweis, daß zu dem Eisberg mehr gehört als nur die Spitze über dem Wasser. Er will daraus praktische Folgen ziehen und seine Kenntnis ausbeuten. Und dabei spielst du eine wesentliche Rolle.« »Und deshalb verlasse ich dieses Haus?« »Ja.« »Wann?« »Spätestens in einer Woche, wenn ich richtig liege.« »Wohin gehe ich?« »Nach Rußland.« »Rußland! Mein Gott – warum gerade dorthin?« »Du sollst dort die Bombe aufspüren.« Conklin rieb sich die Augen. Er hatte Mühe, diese Eröffnungen zu verdauen. »Rußland – du meine Güte! Wann werde ich dich wiedersehen?« »Du wirst mich nicht wiedersehen.«
Zehn Peter Conklin sah aus, als hätte ihn der Blitz getroffen. Er schluckte den Whisky hinunter, ohne es zu merken, knetete das Glas und starrte ins Leere. Seine Gedanken waren ganz weit fort. Sie versuchten zu erfassen, was ihn dort erwartete, wo man ihn hinschicken wollte. Seit Paul den Agenten im Büro von Captain Evans kennengelernt hatte, hatte er ihn in diesem Zustand noch nicht erlebt. Conklin war immer der selbstbeherrschte, kühle Beamte gewesen, der sein wahres Selbst hinter einem Pokergesicht versteckt hatte. Erst in den letzten Jahren hatte er seine Maske etwas gelockert, hatte gelacht, gescherzt und sich als Freund und Kamerad gezeigt. Doch immer war er seinem Charakter treu geblieben – bis jetzt. »Ich werde dich nicht wiedersehen?« fragte er hilflos. Paul schüttelte nur stumm den Kopf. »Oh, zum Teufel!« Conklin versuchte, seine Gefühle in Worte zu fassen. »Ich fühle mich irgendwie hereingelegt.« »Ich bin nicht glücklich darüber, Peter«, meinte Paul behutsam.
Conklin starrte in sein leeres Whiskyglas. »Die Flitterwochen sind also vorüber. Ich muß mich wieder ins Geschirr legen. Es war eine schöne Zeit.« »Flitterwochen«, wiederholte Paul mit einem kalten Lächeln, »war genau der Ausdruck, den Slater verwendete, als er Roys Bericht las. Carnell hatte nicht den Mut, seine Worte mir gegenüber zu wiederholen, obwohl Slater ihm das aufgetragen hatte. ›Sagen Sie dem Burschen, daß seine Flitterwochen vorbei sind. Er wird für uns arbeiten – oder ...‹« »Carnell ist in solchen Dingen sehr sensibel«, murmelte Conklin und blickte Paul an. »Oder?« »Slater hat sich nicht darüber ausgelassen. Vielleicht dachte er an ein Salzbergwerk.« »Sei vorsichtig, Paul. Er kann dir das Leben zur Hölle machen.« »Auch ich kann das«, erwiderte Paul tonlos. »Carnell war sehr beunruhigt, weil ich gewisse Vermutungen in Roys Bericht nicht bestätigen wollte. Roy hat gewisse Rückschlüsse gezogen, was das Phänomen der Telekinese betrifft. Slater wollte wissen, ob der Wissenschaftler recht hatte. Ich habe seine Neugierde nicht befriedigt.« »Sie werden weiterbohren.« »Slater wird mich eines Tages zur Weißglut bringen und erfahren, was er so gern wissen möchte.« Ei-
ne unbestimmte Drohung lag in diesen Worten. »Ich habe ihm nichts als Schikanen zu verdanken.« Conklin stellte sich ans Fenster und sagte nach einer nachdenklichen Pause: »Ich werde dich also nicht wiedersehen?« »Nachdem du dieses Haus verlassen hast – nein.« »Wir haben eine ziemlich lange Zeit miteinander verbracht. Ich habe jede Minute davon genossen. Nur der Anfang war etwas – hm – schockierend.« Er zögerte. »Keine Hoffnung?« »Nein. Slater will nicht, daß wir uns noch einmal wiedersehen.« Conklin drehte sich um und blickte Paul an. Eine stumme Frage lag in seinem Blick. Aber er wiederholte diese Frage laut: »Und du siehst es nicht, daß wir uns noch einmal begegnen?« »Nein.« »Dann muß ich mich in mein Schicksal fügen.« Er füllte sein Glas noch einmal mit Whisky und blickte Paul durch die Flüssigkeit hindurch an. »Auf dein Wohl, Paul.« »Danke. Und viel Glück für dich, Peter.« »Das kann ich gut gebrauchen. Rußland – zum Teufel. Ich wünschte, du würdest mir verraten, was diesmal schiefgelaufen ist.« »Du gehst auf Bombenjagd. Man hat den Russen Skizzen und Unterlagen in die Hände gespielt. Unsere
Leute haben die technischen und wissenschaftlichen Fähigkeiten der Russen unterschätzt. Und sie hatten sich nicht träumen lassen, daß unsere eigenen Leute geheime Informationen ins Ausland schmuggeln würden. Aber das ist nun einmal geschehen. Die Geheimhaltung in White Sands und Chalk River war nicht hundertprozentig. Wir können also nicht verhindern, daß auch andere Staaten die Atombombe bauen. Wir können nur versuchen, mit der Entwicklung Schritt zu halten. Wir müssen wissen, wann und wie viele Atombomben in Rußland einsatzfähig sein werden.« »Und ich soll als Spürhund eingesetzt werden?« »Richtig. Andere Agenten sind bereits drüben, und andere werden noch folgen. Aber du sollst dich nicht mit den anderen Agenten in Verbindung setzen. Man wird dich einweisen, dir alle nötigen Informationen geben und dich vollkommen unabhängig operieren lassen. Was du in Rußland entdecken wirst, wirst du mir weitermelden. Du bist also ein Sonderfall, der nichts mit den anderen Agenten gemeinsam hat.« »Weshalb? Weil ich von deiner Existenz weiß?« »Weil du deine Gedanken an mich weitergeben kannst. Du bist der geistige Sender, und ich bin dein geistiger Empfänger. Keine Kuriere, keine Telegramme, keine Zwischenträger. Kein anderer Mensch nimmt zu dir Kontakt auf, kein Zwischenträger kann dich entlarven.«
»Ich denke nur an die Dinge, die ich beobachte? Und du empfängst meine Gedanken auf diese große Entfernung?« Conklin setzte sich auf einen Stuhl und betrachtete Paul mit halb geschlossenen Augen. »Das geht, Peter. Sie werden dir entweder Roys Bericht zu lesen geben oder sie werden dich mündlich einweihen. Sie haben entdeckt, daß ich dir in Gedanken überall hin folgen kann, alles sehe, was du siehst, alles höre, was du hörst. Ich kenne jede Regung, jeden Gedanken, der dir bewußt wird. Die Entfernung spielt dabei keine Rolle. Deshalb bilden sie aus uns ein Team. Ich empfange hier alles, was du in Rußland denkst, hörst und siehst.« »Paul – diese neue Fähigkeit ... ist das eine Neuentdeckung?« »Daß ich deine Gedanken auch aus der Entfernung empfangen kann? Nein, das habe ich schon eine ganze Weile praktiziert. Ich kann dir überall hin folgen, wohin du auch gehst.« Er lachte leise. »Slater ist darüber gar nicht glücklich. Er meint, das wäre schon jahrelang so gewesen.« »Stimmt das?« »Nicht ganz. Aber für die beiden letzten Jahre trifft das zu.« Conklin dachte an die vielen intimen Dinge, die er in seinem Herz und seinem Geist fest verschlossen wähnte. Er pfiff leise durch die Zähne.
»Nein«, unterbrach Paul schnell, als er den Verdacht im Geist des anderen aufkeimen sah. »Das habe ich nie getan, Peter. Nicht bei dir. Ich habe ab und zu durch das Schlüsselloch deines Geistes geschaut, ohne daß du das geahnt hast. Aber immer suchte ich dabei die Antwort auf eine wichtige Frage. Ich habe dabei auch manches mitbekommen, was ich gar nicht wissen wollte. Aber ich habe nie getan, was du jetzt befürchtest.« Er grinste verstohlen. »Natürlich kam ich mir manchmal wie ein Spanner vor; aber wenn es intim wurde, habe ich mich sofort zurückgezogen.« »Danke, Paul.« Conklins Gesicht war ein bißchen bleich, als er jetzt zurücklächelte. »Einen Moment lang hast du mich ganz schön aus der Fassung gebracht. Und Emily hätte das gar nicht gefallen, wenn du zu neugierig gewesen wärest.« »Slater hat Karin dazu gezwungen, ihm jede Einzelheit von unserer Liebesnacht zu berichten.« »Das glaube ich nicht!« »Es ist wahr. Und sie wird mich ebenfalls nicht wiedersehen. Wieder ein Punkt, den ich ihm heimzahlen muß. Ich verliere nach und nach alle meine Freunde. Zuerst Karin, dann du, und auch Carnell wird nicht mehr lange in meiner Nähe bleiben. Slater will mich unter Fremden isolieren.« »Warum?« »Weil er mich haßt – meiner Fähigkeiten wegen.«
»Cro-Magnon und Neandertaler.« »Ich wollte, ich wäre ein Neandertaler«, sagte Paul leise und legte die Hand auf Conklins Arm. »Ich würde sofort mit dir tauschen – auch mit deinem Auftrag in Rußland.« »Tut mir leid. Ich nehme den Tausch nicht an.« Sie saßen eine Weile schweigend nebeneinander und nahmen nur hin und wieder einen Schluck Whisky. Peter hatte bereits den Verlobungsring für Emily gekauft. Doch das alles war nun in weite Ferne gerückt. Keine Heirat, keine gemeinsame Wohnung, kein Himmel mit Emily. Das alles war jetzt nur noch ein Traum, ein Hoffnungsschimmer. Das alles mußte warten, bis er wieder aus Rußland zurückkam. Und wie lange würde es bis dahin dauern? Paul hatte die Möglichkeit eines Wiedersehens verneint. Und Paul konnte ... Was konnte eigentlich Paul alles sehen und wissen? Er hoffte sehr, daß er den Bericht über Paul lesen durfte, ehe er die Vereinigten Staaten verließ. Wahrscheinlich hatten sich seine eigenen Theorien bestätigt, die er sich schon vor Jahren zurechtgelegt hatte. Jahrelang hatte er Paul beobachtet und seine Eindrücke zu immer neuen Spekulationen aufgebaut. »Und was jetzt?« fragte er plötzlich. »Wann fangen wir an?« »Es wird in ein paar Wochen losgehen – ich weiß
das Datum noch nicht. Du wirst als Tourist nach Europa reisen, mit den verbilligten Sonderflügen, die außerhalb der Saison angeboten werden. Du nützt diese Gelegenheit aus. Du fliegst von New York nach Shannon, von Shannon nach London, von London nach Paris. Von Paris aus fährst du wahrscheinlich mit einem Touristenbus in die Niederlande – und dort verschwindest du. Ganz still und unauffällig.« Er dachte einen Moment nach. »Peter, sei bitte auf der Hut. Für dich ist Shannon schon so gut wie feindliches Territorium. Du hast doch nicht vergessen, was in Portugal passiert ist, oder?« »Nein«, erwiderte Conklin grimmig. »Gut. Dir kann dasselbe zustoßen, ehe du Paris erreicht hast.« »Und was machen wir inzwischen?« »Inzwischen bringst du mir bei, wie man den Spion spielt. Heute nachmittag, vielleicht auch heute abend oder spätestens morgen früh werden wir in die Stadt fahren.« Paul kratzte sich nachdenklich am Kinn. »Wir werden eine Botschaft besuchen.« »O? Ist jemand dort eingetroffen?« »Ich vermute, daß er sehr bald dort eintreffen wird. Er befindet sich in diesem Augenblick in New York und hat sich dort in einem Hotel eingemietet. Ich vermute, daß er mit Instruktionen und Informationen vollgestopft ist. Wenn der Mann New York verläßt
und nach Washington fährt, werden wir zur Botschaft fahren und dort bis zu seinem Eintreffen herumlungern. Ich soll herausfinden, was in dem Kopf dieses Menschen herumspukt.« »Komisch«, murmelte Conklin, »warum zapfst du denn den Burschen nicht jetzt an?« »Das kann ich nicht. Ich kenne den Mann nicht, habe ihn nie in meinem Leben gesehen. Er ist ein total fremder Mensch für mich. Wenn ich ihn kennen würde, könnte ich ihn jetzt ausholen und alles erfahren, was Carnell wissen möchte.« Paul zuckte die Achseln. »Doch ein Fremder bleibt so lange für mich fremd, bis ich ihn kennengelernt habe.« »Hm – und deshalb gehen wir also zur Botschaft und warten dort auf ihn.« »Ja. Carnell hofft, der Mann hat die letzten Informationen über ein brandheißes Thema.« »Atombombe?« »Atombombe«, bestätigte Paul ernst. »Aber der Mann spricht doch eine ganz andere Sprache ...« »Nein. Du kannst doch Französisch und Spanisch, nicht wahr?« »Ja.« »Gut, dann machen wir einen Test. Versuche, an etwas in französisch oder spanisch zu denken. Denke nicht an das entsprechende englische Wortbild. Kon-
zentriere dich nur auf das französische oder spanische Wort.« Conklin schloß die Augen und konzentrierte sich. »Esprit fort«, zitierte Paul aus Conklins Geist, »ich bin ein Freidenker – und ein gründlicher Denker zugleich.« »Ja, das stimmt«, sagte Conklin und lachte etwas verlegen. »Daran besteht kein Zweifel. Du hast mich früher ganz schön eingeschüchtert. Aber mal sehen, was die Köchin uns noch zum Essen übrig gelassen hat ...« Ein kalter Regen ging über der Stadt nieder, und selbst für einen Januarnachmittag brach die Dämmerung früher als erwartet herein. Ein schwarzer Packard wartete in der Auffahrt. Paul Breen schlug den Mantelkragen hoch und blieb plötzlich stehen, als die hintere Wagentür für ihn geöffnet wurde. Paul betrachtete den Mann im Fond, erkannte ihn wieder und betrachtete dann den Packard mit einem prüfenden Blick. Erst dann kletterte er auf den Rücksitz. Ein schrecklich deprimierendes Gefühl überkam Paul plötzlich. Peter Conklin setzte sich neben ihn. Die Leibwächter quetschten sich ebenfalls in den Wagen. Der Packard glitt die Auffahrt hinunter. »Peter ...«
»Ja?« Statt zu antworten, klopfte Paul dem Fahrer auf die Schulter. »Anhalten!« Der Packard blieb sofort stehen, als der Fahrer auf die Bremse stieg. »Was hast du denn, Paul?« »Hier stimmt etwas nicht.« Conklin gab einen leisen, fauchenden Laut von sich und griff zum Schulterhalfter. Der Leibwächter, der an der anderen Wagentür saß, hatte bereits seinen Revolver in der Hand und blickte suchend über den Rasen und in das Gebüsch. »Was stimmt denn nicht? Kannst du dich nicht präziser ausdrücken?« »Nein, ich weiß nicht, was es ist.« »Bist du sicher?« Conklin war sich bewußt, was für eine dumme Frage er stellte. »Es ist etwas faul – sehr faul sogar. Aber ich weiß nicht, was es ist.« Der Agent, der neben dem Fahrer saß, drehte sich um. »Ich werde mich mal auf der Straße umsehen«, sagte er und stieg aus. Langsam schlenderte er die Auffahrt hinunter, die rechte Hand in der Manteltasche. Offenbar hatte man im Haus bemerkt, daß eine unvorhergesehene Verzögerung bei der Abfahrt eingetreten war. Die Haustür wurde aufgestoßen, und
zwei Männer liefen die Treppe herunter. Sie waren bewaffnet, trugen aber keine Mäntel. »Auf der Straße ist niemand«, protestierte Paul. »Er soll trotzdem nachsehen«, meinte Conklin. Die Männer aus dem Haus spähten durch das Seitenfenster und sahen Conklin fragend an. Der schüttelte nur leise den Kopf. Doch die Männer blieben trotzdem neben dem Wagen stehen und beobachteten das Gebüsch. Der Leibwächter, der auf der Straße sichern sollte, kam wieder zur Auffahrt zurück und gab ihnen ein Zeichen. Auf der Straße war nichts Verdächtiges zu sehen. »Okay?« fragte der Fahrer. »Fahren Sie los«, antwortete Paul. Der Packard rollte langsam aus der Ausfahrt. Dort stieg der dritte Leibwächter zu. Dann bog der Wagen in die Straße ein und fuhr stadteinwärts. Conklin schwitzte plötzlich. Er wollte natürlich herausfinden, in was für einer Gefahr sie steckten oder was für Schwierigkeiten sich plötzlich eingestellt hatten. Aber er konnte doch unter Zeugen keine Fragen stellen. Die Leibwächter wußten zwar, wen sie zu bewachen hatten, aber sie wußten nicht, warum. Und dann ärgerte er sich über seine eigene Dummheit. Er brauchte ja gar keine lauten Fragen zu stellen. Er berührte nur flüchtig Pauls Arm und strich sich dann mit dem Finger über die Stirn.
»Paul, stimmt etwas mit dem Wagen nicht? Die Reifen vielleicht?« Weil er nicht an telepathischen Verkehr gewohnt war, formulierte er jedes Wort langsam und deutlich in seinem Bewußtsein. Paul schloß die Augen, als würde er in Gedanken den Wagen überprüfen. Dann schüttelte er den Kopf. »Die Männer im Wagen? Einer von uns?« Wieder die negative Antwort. »Etwas unterwegs auf der Straße?« Paul runzelte die Stirn, zögerte kurz und zuckte dann die Achseln. »Das wäre eine Möglichkeit – ist es das, was du damit andeuten willst?« Paul nickte. »Dann liegt die Gefahr also vor uns – lauert irgendwo an der Straße.« Conklin beugte sich plötzlich vor und klopfte dem Fahrer wieder auf die Schulter. »Wissen Sie, wohin wir fahren?« »Jawohl, Sir.« »Dann ändern Sie die Route.« Der Packard verlangsamte die Fahrt und bog an der nächsten Kreuzung in Richtung Arlington Cemetery ab. »Das ist eine blöde Vorsichtsmaßnahme«, signalisierte Conklin unwillkürlich in Gedanken. »Wir sind noch nie zu dieser Botschaft gefahren. Es gibt also gar keine feste Marschroute bis dorthin.« Paul nickte nur und blickte durch die Windschutz-
scheibe nach vorne. Wieder bedrückte ihn dieses Gefühl einer drohenden Gefahr. Er betrachtete verstohlen die Gesichter der Männer, die mit ihm im Wagen saßen. Er konnte ihnen keine Hinweise entnehmen. Aber irgend etwas Unheilvolles lag vor ihnen, dessen war sich Paul ganz sicher. Der Wagen näherte sich jetzt der Kreuzung von Lee Boulevard, und Paul packte plötzlich Conklins Arm. »Langsamer!« befahl Conklin, den Hinweis richtig deutend. »Achten Sie auf den Gegenverkehr und die Wagen auf der Kreuzung!« Sie hielten auf dem Lee Boulevard und fuhren dann weiter, ohne daß etwas Ungewöhnliches passierte. Ein Streifenwagen der Polizei war auf ihren Wagen aufmerksam geworden und folgte dem Packard eine Meile weit, bis er das Nummernschild erkannte und zurückblieb. »Was jetzt?« dachte Conklin. »Hast du manchmal Vorahnungen?« fragte Paul jetzt laut. »Manchmal.« »Nun, ich will dich nicht beunruhigen; aber ich bilde mir das nicht nur ein. Etwas liegt in der Luft.« Conklin nickte nur und starrte auf den Rücken seines Vordermannes. »Als Kind wachte ich manchmal mit so einem Gefühl auf. War es ein gutes Gefühl, gab es meistens an
diesem Tag eine angenehme Überraschung. War es ein ungutes Gefühl ...« Er zuckte mit den Achseln. Conklin signalisierte in Gedanken, daß er Pauls Absicht verstanden hatte. Er bemerkte voller Genugtuung, daß auch die anderen Männer im Wagen von Pauls Vorahnungen beeinflußt wurden. Zum Teufel mit Carnell und seinen verrückten Ideen! Er wünschte, er könnte umdrehen und Breen in die sicheren vier Wände seines Hauses zurückbringen. Aber schließlich war es ja Breens Job, die Gedanken feindlicher Agenten aufzuspüren. Der Packard fuhr jetzt über die Key Bridge und bog mit quietschenden Reifen in die M-Street ein. »Jetzt bleibt uns nicht mehr viel zur Auswahl«, sagte der Fahrer. »Nehmen Sie den kürzesten Weg. Wir wollen die Sache hinter uns bringen.« Der Packard parkte unauffällig am Bordstein, einen Häuserblock von der Botschaft entfernt. Fünf Männer beobachteten die Straße, das Botschaftsgebäude und das Gittertor, das die Auffahrt zur Freitreppe blokkierte. »Hört mal genau zu«, sagte Conklin. »Wir können nicht direkt vor dem Haus parken, ohne Verdacht zu erregen. Schließlich wissen die Leute in der Botschaft, daß ihr Mann heute eintrifft. Wir werden vielleicht eine Minute im voraus wissen, daß er hierher unter-
wegs ist. Wir haben einen Posten am Bahnhof. Dieser Mann wird kurz vorher an uns vorbeifahren und uns ein Zeichen geben.« Conklin drehte sich dem Mann zu, der links neben Paul saß. »Sie, Gordon, Breen und ich werden auf dem Bürgersteig auf das Botschaftsgebäude zugehen. Wir werden uns unterhalten und unseren Weg so einteilen, daß wir am Gittertor sind, wenn der Wagen eintrifft. Dann werden wir stehenbleiben, um den Wagen an uns vorbeizulassen.« Gordon nickte und maß mit den Augen die Entfernung. »Ihr Chauffeur fährt wie ein Wahnsinniger. Er braust also auf das Tor los, und wir bleiben stehen, damit wir nicht überfahren werden. Wenn wir uns mit der Zeit verschätzt haben und das Tor bereits passiert haben, wird sich Breen neugierig umdrehen. Das gilt nur für Breen.« Er wendete sich Paul zu. »Paul, Ihr Mann sitzt wahrscheinlich im Fond auf der rechten Seite. Er ist sechzig Jahre alt, trägt eine randlose Brille und einen kleinen Schnurrbart. Sein Hut sieht genauso aus wie der Hut von Gordon. Falls er den Hut abgenommen hat, erkennen Sie ihn an seinen schneeweißen Haaren. Sie haben nicht viel Zeit, sich den Mann anzusehen, Breen. Nicht viel mehr als eine Sekunde.« »Ich werde mich anstrengen«, erwiderte Paul. Die
Leibwächter sahen ihn verstohlen von der Seite an, weil sie sich den Sinn und Zweck dieser Maßnahme nicht erklären konnten. »Ich verstehe nur nicht«, fuhr Conklin jetzt gereizt fort, »warum man Sie nicht hinter ein Fenster im Gebäude gegenüber stellt. Dort wären Sie gut getarnt.« »Das hat keinen Sinn. Ich muß den Mann aus der Nähe sehen.« »Nun – dann können wir nur das Beste hoffen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Leute von der Gegenseite hier mitten in Washington Gewaltmaßnahmen riskieren ... Forrie, Sie fahren jetzt weiter bis zur nächsten Ecke und warten dort auf uns. Gates wird uns in einem Abstand von zwanzig Metern folgen. Und wenn was schiefgeht, müßt ihr euch beeilen und uns zu Hilfe kommen!« Conklin blickte Paul prüfend von der Seite an. »Immer noch böse Vorahnungen?« Paul nickte. »Schlimmer denn je.« Er rieb sich mit dem Finger den Nacken. »Hier.« »Möchtest du aussteigen?« »Wird Slater das erlauben?« »Nein.« »Dann von mir die gleiche Antwort – nein.« »Also gut«, sagte Conklin barsch, »wenn etwas schiefgeht, seid ihr auf den Posten! Vielleicht fährt dieser Chauffeur mit achtzig über den Bürgersteig
und drückt uns durch den Gitterzaun. Dann haben wir eben Pech gehabt ... Auf jeden Fall seid ihr auf alles gefaßt. Ich gehe vor Breen, Gordon hinter Breen.« Er blickte die Leibwächter mit kalten, harten Augen an. »Wenn ein Unglück passiert, erwischt es euch und mich zuerst – kapiert?« Ein Wagen tauchte jetzt vor ihnen auf der Straße auf. Die Scheinwerfer blinkten matt, und der Motor dröhnte vor Altersschwäche. Forrie nickte hinter dem Steuerrad und sagte: »Hier kommt das Signal.« »Positiv.« Forrie nickte wieder. Er spähte hinaus in die Dunkelheit. »Zwei Personen sitzen vorn.« Der alte Wagen ratterte auf sie zu. Paul wußte, daß Karin am Steuer saß und ihren Begleiter erst am Bahnhof aufgelesen hatte. Karin drehte das Seitenfenster herunter und nahm die glühende Zigarette aus dem Mund. Sie warf einen prüfenden Blick zu dem Packard hinüber. Als die beiden Wagen auf gleicher Höhe waren, warf sie die Zigarette im hohen Bogen zum Fenster hinaus. Die Zigarette prallte von der Vordertür des Packard ab und rollte auf den Asphalt. Gordon hatte schon den Wagenschlag offen und bewegte sich über den Bürgersteig. Karin wendete den Blick jetzt nicht mehr von der Straße. Sie strengte sich mächtig an, nicht an Paul zu denken. »Los!« drängte Conklin.
Paul glitt aus dem Wagen und überquerte den Bürgersteig. Als er aus der schützenden Karosserie des Wagens heraustrat, blieb er plötzlich stehen und griff sich in den Nacken. »Verdammt noch mal, Peter, wir sind verhext!« »Weiter«, drängte Conklin wieder. »Bleib nicht mehr stehen. Es geht jetzt um Sekunden.« Er und Gordon nahmen Paul jetzt in die Mitte. »Tut dir der Hals weh?« »Sie sind hinter uns.« »Wer ist hinter uns.« Conklin drehte sich um, konnte nur Gates entdecken, der eben aus dem Packard stieg. »Gebrauche deinen Verstand, Paul! Was ist hinter uns?« »Ich weiß es nicht. Es ist – zu dunkel. Ich kann nichts erkennen. Aber etwas ist hinter uns.« »Gehe hinter Breen her«, befahl Conklin dem Agenten Gordon. Gleichzeitig winkte er Gates zu, den Abstand zu ihnen zu verringern. Gordon fiel etwas zurück und trat dann Paul fast in die Absätze. Gates folgte dicht hinter ihm. Man hörte ein leises, knarrendes Geräusch, als der Packard einen Gang höher schaltete und dann an ihnen vorbeifuhr, um an der nächsten Straßenecke auf die Agenten zu warten. Dahinter tauchten zwei helle Scheinwerfer auf. Sie näherten sich rasch. »Der Boschaftswagen«, sagte Conklin hastig, »wir
müssen rascher gehen.« Sie maßen mit den Augen die Entfernung bis zum Gittertor, richteten ihr Tempo danach ein, als eine Hupe dicht hinter ihnen zweimal ein Signal gab. Das Gittertor der Botschaft bewegte sich. Ein Wachtposten stand daneben. »Schneller«, flüsterte Conklin, »dann schaffen wir es gerade noch.« Paul ging mit hocherhobenen Kopf und geschlossenen Augen auf das Tor zu. Er hielt sich an Conklins Arm fest. Er suchte verzweifelt die Straße hinter ihnen ab, suchte nach der Gefahr, die dort lauern mußte. Das Ding in seinem Nacken war ein scharfgeschliffener Dolch, der sich jeden Augenblick in seinen Schädel bohren würde. Etwas Ähnliches wie ein Dolch und ... Der Botschaftswagen war fast auf der Höhe des Gittertores, verlangsamte kaum die Fahrt und bog dann in einer scharfen Kurve in die Einfahrt. ... nein, ein Gewehr. »Ein Gewehr!« schrie Paul laut, »auf den Boden!« Er hob blitzschnell das Knie, stieß es Conklin in den Rücken und schleuderte ihn zu Boden. Im gleichen Moment streckte er den Arm aus, schlang ihn um Gordons Hals und versuchte, ihn mit sich zu Boden zu ziehen. Dann folgte ein halblauter, weit entfernter Knall. Der Botschaftswagen raste durch das Tor in den Vorgarten. Ein paar Gesichter spähten durch die Scheibe,
während die Männer zu Boden stürzten. Paul prallte hart auf dem Bürgersteig auf, riß sich die Wange auf und verletzte sich an der Augenbraue. Dicht vor ihm wirbelte Conklin herum. Er lag jetzt auf dem Bauch, die Pistole im Anschlag, und spähte in die Dunkelheit hinein. »Paul? Bist du getroffen?« »Nein.« »Woher kam der Schuß?« »Keine Ahnung. Aus einem Fenster, vermute ich.« Er spürte wieder eine drohende Bewegung. »Aufpassen!« schrie er und zuckte zusammen. Das Gewehr bellte wieder auf, und eine weiße Flamme streifte Pauls Genick. Er ließ den Kopf kraftlos sinken. Conklin feuerte blindlings über die Straße, suchte in der Mündungsflamme nach dem versteckten Heckenschützen. Neben Paul sprühte aus Gordons Körper eine Fontäne aus Blut. Fast drei Meilen vom Tatort entfernt schrie ein Mädchen in seiner Wohnung auf. Sie starrte entsetzt auf die blutige Szene vor dem Botschaftsgebäude.
Elf Er öffnete die Augen und fand sich in seinem Zimmer in seinem eigenen Bett wieder. Neben dem Bett saß Karin. »Hallo«, sagte er schwach, aber glücklich. Sie blickte ihm ins Gesicht. »Ich bin froh, daß du deinen Entschluß geändert hast.« Sie sah ihn fragend an. »Daß du doch noch einmal hierhergekommen bist«, klärte er sie auf. Karin lächelte mit bleichen Lippen. »Die Zeiten ändern sich manchmal rasch.« »Sie haben daneben geschossen.« Paul grinste. »Richtig.« Ihre Stimme klang etwas belegt. »Sie haben das Rückgrat um einen Zentimeter verfehlt. Also kein Grund zur übertriebenen Sorge.« »Es ist noch einmal gutgegangen«, sagte er. »Was kann man mehr verlangen?« Sie sagte nichts darauf, blickte ihn nur ernst an. Es war sehr still im Zimmer. Auf einem Tisch in der Nähe stand eine Karaffe voll Wasser, Verbandszeug und ein paar chirurgische Instrumente. In einer hohen Vase am Fenster entdeckte er sechs gelbe Rosen. »Ich habe mir nie viel aus Blumen gemacht.« Er
bewegte den Kopf und spürte einen Schmerz im Nacken. »Aber die gelben Rosen sind mir lieber als die roten.« Sie lächelte ihm dankbar zu. Er blieb eine Weile auf dem Rücken liegen und beobachtete sie. Dann kehrte die Erinnerung zurück. Er dachte an den Überfall vor der Botschaft. »Gordon?« fragte er. »Gordon wird heute nachmittag beerdigt.« »Aber ...« Er blickte sie ratlos an. »Man hat schon vorgestern auf dich geschossen.« Der heisere Unterton kehrte in ihre Stimme zurück. »Sie waren einen Tag aus dem Verkehr gezogen, Mister.« Paul dachte darüber nach. »Und Peter? Und die übrigen Agenten?« »Denen ist nichts passiert. Nur dir und Gordon.« »Hat man den Täter gefunden?« Sie schüttelte den Kopf. »Da mußt du schon Peter oder Mr. Carnell fragen. Ich weiß sehr wenig über die Sache, und ich spreche nicht über das, was ich weiß.« »Irgend etwas hat sich verändert, Karin. Du bist nicht mehr so wie früher.« »Ich bin zurückgekommen«, sagte sie abwehrend. »Und dazu gehörte Mut.« Sie sah ihm forschend ins Gesicht. »Ich vermute, du weißt mehr, als ich geglaubt hatte.« Paul versuchte ein Nicken. »Ich habe mir so man-
ches zusammengereimt. Carnell ließ ab und zu ein Wort fallen. Auf jeden Fall bin ich froh, daß du zurückgekommen bist.« »Vielleicht sollte ich mich bei dir entschuldigen; aber ich möchte nicht darüber reden.« »Entschuldigungen sind überflüssig. Ich weiß, daß es erzwungen war, und wir wollen nicht darüber reden. Ein herrliches Wetter heute.« Er konnte das Fenster vom Bett aus nicht sehen. »Es regnet.« »Es ist schönes Wetter, weil du hier bist.« »Vielen Dank, Sir.« »Vielleicht kannst du mir doch etwas verraten. Weißt du, was auf der Straße passiert ist? Wie weit bist du von der Stelle weg gewesen?« »Ein paar Häuser weiter. Wir hörten die Schüsse und vermuteten, daß sie euch galten. Ich drehte sofort um und fuhr so rasch wie möglich zurück. Forrie und Peter legten dich gerade in den Packard.« »Nur ein paar Häuser weit?« fragte er. »Hast du geschrien?« »Geschrien?« »Geschrien. Als die Schüsse fielen oder als du am Tatort eingetroffen bist ...« »Nein, ich habe nicht geschrien.« »Jemand hat geschrien. Eine Frau. Ich habe sie gehört.«
»Vielleicht eine Nachbarin auf der gegenüberliegenden Straßenseite.« »Vielleicht. Ich werde Peter danach fragen.« Karin stand auf. »Ich werde ihn jetzt rufen. Den Arzt ebenfalls. Sie sind gerade unten und nehmen ein verspätetes Mittagessen ein. Ich sollte sie holen, sobald du aufwachst.« Sie ging zur Tür und blickte über die Schulter. »Aber ich wollte dich einen Moment für mich allein haben. Also verrate mich bitte nicht.« Er warf ihr als Antwort eine Kußhand zu. Dann lauschte er, bis ihre Schritte auf der Treppe verklangen. Er blickte an die Decke. Jetzt kam ihm wieder alles scharf und plastisch ins Gedächtnis zurück. Das Gewehr, das auf seinen Nacken gerichtet war, hatte schon lang auf ihn gelauert. Schon von dem Moment an, als er das Haus an der Pike verließ. Noch früher, überlegte er, denn er hatte die Gefahr bereits gespürt, als er das Haus verließ und in den Packard stieg. Er hatte nicht gewußt, daß ein Heckenschütze mit einem Gewehr auf ihn wartete, aber die Gefahr hatte er ganz deutlich gespürt. Zuerst hatte er den Fehler gemacht, die Gefahr im Botschaftswagen oder in der Botschaft selbst zu vermuten. Doch man hatte von der anderen Straßenseite aus auf ihn geschossen, und der Schütze hatte nur darauf gewartet, bis er an einer bestimmten Stelle vorbeikam. Zum erstenmal in drei Jahren hatte er das Haus verlassen, und schon wartete ein Mörder auf ihn.
Tatsächlich mußte das alles von sehr langer Hand vorbereitet gewesen sein. Vielleicht schon seit dem Tag, als er in Washington eintraf. Daß nicht schon früher ein Anschlag auf sein Leben erfolgt war, hatte er wahrscheinlich der Abschirmung in dem Haus an der Pike zu verdanken. Und der Mann hinter dem Gewehr mußte gewußt haben, wohin er ging und wann er an einer bestimmten Stelle vorbeikommen würde. Wenn in der Botschaft kein telepathischer Zwillingsbruder lebte, konnten die Leute nicht wissen, daß er zu einer bestimmten Zeit vor ihrem Gebäude eintreffen würde. Also waren die Leute in der Botschaft nicht für diesen Anschlag verantwortlich. Elf Männer in Washington kannten sein Geheimnis. Welcher von diesen elf Männern hatte versucht, ihn aus dem Weg zu räumen? Die Tür öffnete sich plötzlich. Paul schrak auf. Conklin trat ins Zimmer, begleitet von einem Mann, der nur der Arzt sein konnte. »Hallo!« rief Conklin, »ich freue mich, daß du wieder wohlauf bist ...« Er sah den Ausdruck auf Pauls Gesicht und beugte sich vor. »Was ist los, Paul?« »Ich habe dich nicht kommen hören.« »Die Tür war zu. Und ich trete nicht auf wie ein Elefant.« Plötzlich drängte sich ein anderer Gedanke in den Vordergrund und schnitt ihm den Faden ab. »Paul!«, rief er erschrocken, »es ist doch nicht ...«
»Doch.« »Versuche es, Paul, strenge dich an! Versuch es bei mir!« Conklin wartete, während er einen Strom von Gedanken auf den Mann im Bett losließ. Paul schüttelte den Kopf. »Nein«, wiederholte er, »es tut mir leid, Peter. Nichts. Es ist, als ob ... als ob man plötzlich ein Radio abgestellt hat.« »Alles tot?« fragte Conklin noch einmal verzweifelt, drehte sich um und rannte aus dem Zimmer. Der Arzt stand neben dem Bett und machte ein ratloses Gesicht. Er hatte kein Wort begriffen. »Na, wie geht es Ihnen, junger Mann?« fragte er dann jovial und blickte auf die Uhr, um Pauls Puls zu messen. Paul hörte die Zahlen im Bewußtsein des Doktors, das geistige Echo seiner Pulsschläge, und lächelte im stillen. In einer knappen halben Stunde erreichte Carnell das Haus an der Pike. Er war ganz außer Atem, als er ins Krankenzimmer trat, und der verstörte Ausdruck auf seinem Gesicht verriet, daß ihn die Nachricht von Pauls Versagen noch mehr erschüttert hatte als Conklin. Sie setzten sich beide auf Pauls Bett, fragten ihn aus, versuchten, ihn aufzumuntern. »Ich weiß nicht, wann das anfing – ich meine, aufhörte«, erklärte Paul. »Ich versuchte erst gar nicht, Karins Gedanken zu lesen. Als ich aufwachte, saß sie
neben meinem Bett, und ich wechselte ein paar Worte mit ihr. Dann rief sie den Arzt. Alles schien in Ordnung zu sein, bis die Tür aufging. Ich hatte keine Ahnung, daß Conklin vor der Tür stand, spürte weder seine Nähe noch seine Gedanken. Das ist das erstemal, daß mir das passiert ist.« »Was nun?« fragte Carnell aufgeregt. »Wie steht es mit Peter und mir? Empfangen Sie keine Gedanken von uns?« »Nein – nichts.« »Gütiger Himmel!« Carnell schlug mit der Faust auf die Bettdecke, »soll denn jetzt alles zu Ende sein?« »Du wirst dich doch damit nicht abfinden, Paul oder? Du wirst es versuchen, immer wieder versuchen!« Conklin blickte Carnell besorgt an. »Wo ist Slater? Er muß das sofort erfahren.« »Er ist in San Francisco. Ein dringender Fall, den er dort betreuen muß. Ich habe ihm bereits telegraphiert. Er kommt so schnell wie möglich hierher.« »Ein paar Dinge sind mir aufgefallen«, sagte Paul nach einem kurzen, betretenen Schweigen. »Ich muß jetzt Fragen stellen, um meine Neugierde zu befriedigen. Haben Sie eine Spur gefunden? Haben Sie eine Ahnung, wer auf mich geschossen hat?« »Wir haben etwas gefunden«, erwiderte Conklin düster. »Wir kennen das Haus, das Zimmer und das Fenster, aus dem der Heckenschütze die Schüsse ab-
gegeben hat. Viel hat uns das nicht eingebracht. Die Leute, denen das Haus gehört, sind schon seit Monaten verreist. Sie verbringen den Winter in Arizona. Der Heckenschütze hat ein Fenster im Keller aufgebrochen und hat so das Haus betreten. Aber er ließ weder eine Zigarettenkippe noch eine leere Patronenhülse zurück.« »Also ein Profi.« »Richtig. Wir wissen, wie er in das Haus gekommen ist, daß er zwei Schüsse auf Sie abgegeben und dann das Haus wieder verlassen hat. Mehr wissen wir nicht.« »Mehr wissen Sie nicht?« wiederholte Paul bissig. Die beiden sahen ihn neugierig an. »Worauf spielen Sie an?« »Elf Männer wissen von mir. Nur elf Männer.« »Daran haben wir natürlich auch gedacht«, murmelte Carnell. »Das war unser erster Gedanke. Und wir haben das Alibi dieser elf Personen überprüft. Keiner war am Tatort, abgesehen von Conklin, der Sie ja begleitete.« »Der Schütze wußte, wann und wo ich vorbeikommen würde«, entgegnete Paul. »Ich weiß, ich weiß. Das macht uns viel Sorgen, Paul. Wir können uns das einfach nicht erklären. Wir können nichts anderes tun, als die elf Personen beobachten zu lassen. Es ist ja möglich, daß einer der elf
nicht dichtgehalten hat. Wir überprüfen das im Augenblick.« Er hob die Hände und betrachtete sie. »Natürlich sind unter diesen Männern auch ein paar Personen, die wir nicht verhören können. Aber wir werden diesen Personen ein paar Fragen stellen, und ihre Antworten darauf werden wir sehr gründlich analysieren.« »Paul«, sagte Conklin niedergeschlagen, »wenn deine telepathischen Fähigkeiten jetzt nicht ausgesetzt hätten, hättest du die elf Männer selbst überprüfen können.« »Ich weiß. Ich habe selbst schon daran gedacht.« »Was können wir jetzt tun?« »Nicht viel«, erwiderte Paul trocken. »Ihr könnt nur dasitzen und abwarten. Vielleicht kann Roy oder der Arzt uns helfen.« »Ich werde Roy sofort verständigen«, erwiderte Carnell. »aber nicht den Arzt. Ich weigere mich, noch einen zwölften Mann in das Geheimnis einzuweihen.« Carnell sprang von seinem Stuhl auf und wanderte erregt im Zimmer auf und ab. »Verdammt noch mal, Paul, das ist eine Katastrophe!« Conklin nickte zustimmend. »Der Täter muß ein Präzisionsgewehr mit einer guten Visiereinrichtung benützt haben«, lenkte Paul vom Thema ab. »Wahrscheinlich ein Infrarot-Teleskop«, erwiderte
Conklin bitter. »Es war schon ziemlich dunkel auf der Straße, und wenn man die Entfernung berücksichtigt, konnte er mit einem normalen Visier unmöglich so gut treffen. Und das Gewehr war mit einem Schalldämpfer ausgerüstet. Ich wünschte nur, ich könnte den Mann selbst jagen.« Er ballte die Hände zu Fäusten. »Das nächste Mal werde ich mich besser auf deine Vorahnungen verlassen, Paul. Du hast die ganze Zeit gesagt, er wäre hinter uns.« »Es gibt kein nächstes Mal«, sagte Carnell entschieden. »Paul wird dieses Haus nicht verlassen, bis ... ja, bis dann eben.« Er blieb neben dem Bett stehen. »Wir bauen ein neues Haus, eine große Anlage, an der Chesapeake-Küste. Wir besitzen dort ein großes Grundstück, das wir im Krieg als Ausbildungslager benützt haben. Dieser Anschlag vorgestern wird das Projekt vorantreiben!« Er blickte Paul von der Seite an. »Es sei denn, daß ...« »... mein Talent für immer verloren ist«, ergänzte Paul. »Richtig«, murmelte Carnell geistesabwesend. Paul wendete sich jetzt wieder Conklin zu. »War eine Frau in unserer Nähe, als das Attentat erfolgte, Peter?« »Nicht, daß ich wüßte, Paul. Oh, Karin war natürlich in der Nähe. Aber sie traf erst am Tatort ein, als alles längst vorbei war. Warum fragst du?«
»Ich frage mich die ganze Zeit, wer geschrien hat.« Conklin dachte nach, konzentrierte sich wieder auf die turbulente Szene auf der Straße. »Ich habe keinen Schrei von einer Frau gehört.« »Jemand hat geschrien. Eine Frau. Gleich nach dem zweiten Schuß.« »Ich habe nichts gehört.« Carnell blieb neben Conklin stehen. »Wäre das eine Spur?« »Kaum. Wir haben in dem Haus keinen Hinweis auf eine Frau gefunden.« Conklin blickte wieder Paul an. »Kannst du mir etwas Näheres über diesen Schrei sagen?« »Nein – es war eben nur ein Schrei. Ich weiß auch nicht, woher er kam.« »Wie hast du den Schrei gehört?« fragte Conklin gespannt. »Wie?« »Mit deinen Ohren oder deinen Gedanken?« »Hm«, Paul blickte Peter überrascht an, »daran habe ich noch gar nicht gedacht. Ich suchte die Waffe. Ich hatte die Vision von einem Fenster und der Mündung einer Waffe. Und dann bildete ich mir ein, wie sich ein Finger um den Abzug krümmte. Vielleicht sah ich das auch im Geist. In diesem Augenblick warnte ich dich, daß ein zweiter Schuß fallen würde. Er erwischte mich dann im Nacken – das brannte wie
Feuer. Ich dachte mir, wenn ich mich tot stellen würde, würde der Heckenschütze das Feuer einstellen. In diesem Augenblick hörte ich den Schrei. Aber ich weiß nicht, wie ich ihn gehört habe. Dann muß ich ohnmächtig geworden sein.« »Also kann es auch ein stiller Schrei gewesen sein«, murmelte Conklin nachdenklich. »Augenblick mal«, unterbrach Carnell, »wir wollen nicht voreilige Schlüsse ziehen. Wir müssen einmal annehmen, daß eine Frau in der Nähe des Tatortes war. Vielleicht versteckte sie sich irgendwo in einem Haus in der Nähe. Vielleicht kam sie gerade die Straße herunter und suchte Deckung, als der erste Schuß fiel. Dann war sie ein Augenzeuge des Attentats und schrie im richtigen Moment auf. Nun kommt die andere Theorie – der stille Schrei, der nur in Gedanken, und nicht mit den Lippen ausgestoßen wird. Paul konnte diesen Schrei natürlich hören. Denn wir mußten ja auch nie ausdrücken, was wir dachten. Er hat auch unsere Gedanken gehört, nicht wahr, Paul?« »Richtig. Aber ich hätte diese Frau kennen müssen. Ich hätte ihr mindestens einmal begegnen und bewußt in mich aufnehmen müssen. Ich höre nicht die Gedanken von fremden Leuten – deshalb der Einsatz vor dem Botschaftsgebäude.« »Genau! Wenn Sie im Geist den Schrei einer Frau gehört haben, folgt daraus, daß Sie diese Frau ken-
nen. Und wenn Sie die Frau in diesem Moment an diesem Ort haben schreien hören, muß sie auch ein Augenzeuge des Attentats gewesen sein. Sehen Sie jetzt, welche logischen Schlüsse wir aus dieser zweiten Theorie ziehen müssen?« »Natürlich sehe ich das. Fahren Sie fort.« »Eine weibliche Person aus Pauls Bekanntschaft war in der Nähe des Tatorts«, warf Conklin ein. »Richtig«, sagte Carnell scharf. »Aber wer?« »Er kennt zwei Frauen. Emily und Karin.« Conklin wendete sich wieder dem Patienten zu. »Wen noch?« Paul sagte nachdenklich: »Meine ehemalige Zimmerwirtin und ein paar Freundinnen in meiner Heimatstadt. Die Mädchen in der Telefonvermittlung im Erdgeschoß. Und es wäre noch denkbar, daß ich auch die Gedanken von ein paar Frauen empfangen kann, die damals in dem Hotel gearbeitet haben. Ich habe sie zwar nur flüchtig gekannt, aber ich erinnere mich noch an ihre Gesichter.« »Das«, sagte Carnell mit entschiedener Stimme, »ist der nächste Ansatzpunkt für unsere Ermittlungen.« »Das hatte ich befürchtet.« »Warum?« fragte Carnell scharf, »machen Sie sich Sorgen wegen Emily oder Karin?« »Nein – eigentlich nicht«, erwiderte Conklin. »Ich bin überzeugt, daß Emily über jeden Verdacht erhaben ist. Und Karin fuhr den Wagen, der uns das
Einsatzsignal gab. Wir wissen also, wo sie sich aufhielt. Aber Sie kennen Emily nicht so gut wie ich. Sie wissen nicht, wo sie sich zur Zeit des Attentats aufgehalten hat. Und deswegen ist sie in Ihren Augen verdächtig.« »Machen Sie sich deswegen keine Sorgen«, sagte Carnell im milderen Ton. »Wir werden sehr taktvoll vorgehen. Ich werde Karin mit den Ermittlungen beauftragen.« Carnell nahm seine Wanderung durchs Zimmer wieder auf. »Ich mache mir ihretwegen keine Sorgen. Und die drei Frauen im Erdgeschoß? Wir werden ihr Alibi überprüfen. Und die ehemalige Wirtin und die Jugendfreundinnen in Illinois werden ebenfalls unter die Lupe genommen. Aber ich glaube nicht, daß diese Personen in Frage kommen. Was bleibt uns dann noch?« »Das Erdgeschoß und das Hotel.« »Richtig.« »Das ist doch alles nur eine Vermutung«, wendete Paul ein. »Trotzdem ist das ein ausgezeichneter Tip!« rief Carnell. »Was bleibt uns denn sonst noch übrig? Wir drehen die ganze Stadt von unten nach oben, um den Heckenschützen zu finden. Wir überprüfen die elf Männer, die Pauls Geheimnis kennen und ...« »Wo haben Sie eigentlich gesteckt?« unterbrach Paul mit einem boshaften Lächeln.
»In meinem Büro. Ich wartete dort, bis der erste Bericht von Conklin eintraf.« »Ich habe den Mann, der die Informationen aus Rußland mitbrachte, leider nicht gesehen«, sagte Paul bedauernd. »Aber er hat Sie gesehen«, erwiderte Carnell bitter. »Er hat den ganzen Rummel beobachtet, und unsere Regierung hatte große Mühe, den aufgebrachten Diplomaten wieder zu beruhigen. Wir mußten ihn von der Überzeugung abbringen, daß die Kapitalisten und die Unterwelt ihre Schlachten vor seiner Wohnung austragen.« Carnell lächelte plötzlich boshaft. »Möchte nur gern wissen, was er für einen Bericht an seine Regierung verfaßt.« »Das wissen Sie nicht?« fragte Paul. Carnell warf ihm einen neugierigen Blick zu, blieb Paul jedoch die Antwort schuldig. Eine neue Woche begann, und Paul genoß seine Rekonvaleszenz. Jeden Tag erkundigte sich der Arzt nach seinem Befinden, und Conklin verbrachte fast den ganzen Tag im Krankenzimmer. Jeden Morgen standen sechs frische gelbe Rosen auf Pauls Nachttisch. Conklin berichtete über den Fortschritt (oder die negativen Ergebnisse) der Ermittlungen. Diese Berichte waren im Grunde überflüssig; denn Paul hatte
jede Spur bis zum äußersten Ende verfolgt und wußte, daß keine der verdächtigen Frauen oder Mädchen mit dem Anschlag etwas zu tun hatte. Aber er spielte die Rolle des Ahnungslosen weiter und ließ Conklin seine Berichte erstatten. Die Frauen aus dem Kreis der Verdächtigen, die in Washington wohnten, hatten sich nicht in der Nähe des Tatorts aufgehalten, und die Bekannten in Illinois hatten ihren Heimatstaat nie verlassen. Um so verwirrender und bohrender war die Frage: Wer hatte geschrien, als der zweite Schuß gefallen war? Das Attentat hatte Paul deutlich gezeigt, in welcher Gefahr er schwebte. Wenn einer der elf Eingeweihten ihn so sehr haßte, daß er ihn ermorden wollte, mußte er endlich an seine eigene Sicherheit denken. Er wollte seinen »telepathischen Gedächtnisschwund« noch eine Weile beibehalten und dann sein Talent langsam wieder »aufleben« lassen. Die dramatischen Umstände, unter denen er seine telepathische Begabung verloren hatte, würden den Präzedenzfall für zukünftige blinde Perioden bilden. Und eines Tages würde seine telepathische Begabung vollkommen erlöschen. Was würden sie dann mit ihm anfangen? Er hoffte, er konnte dieses Spiel überzeugend durchhalten. Paul hatte von seinem Krankenbett aus die elf Eingeweihten telepathisch »ausgehorcht«. Conklin war
ständig in seiner Nähe gewesen. Er wußte nichts von dem Attentäter. Captain Evans hatte man auf ein Abstellgeleis geschoben. Er weilte schon seit langem auf einer Insel im Pazifik. Carnell hatte tatsächlich in seinem Büro auf einen Bericht gewartet, und Slater war in San Francisco gewesen und hatte dort einen Einsatz überwacht. Der FBI-Agent Palmer war ebenfalls zur Tatzeit nicht in Washington gewesen. Seine zwei Vorgesetzten, die Pauls Geheimnis kannten, hatten nichts von dem Attentat gewußt, bis man sie nachts aus den Betten holte, damit sie sich mit diesem Fall befaßten. Von den elf Eingeweihten waren nur die Alibis von Dr. Roy und Dr. Grennell noch ungeklärt, und diese beiden wurden im Augenblick gründlich unter die Lupe genommen. Doch Paul wußte, daß die beiden Wissenschaftler unschuldig waren. Das würde sich bald herausstellen. Elf Männer kannten sein Geheimnis, und jeder dieser elf hatte ein Alibi. Doch eines Tages würde Paul die Gedanken dieser elf Männer bis in die letzten Verzweigungen hinein erforschen. Dieser Moment würde kommen, und er war ein geduldiger Mann. Doch wer hatte geschrien, als der zweite Schuß fiel? Inzwischen wurde die Villa in Maryland ausgebaut, in die Paul mit seinem Stab umziehen sollte. Die Fenster wurden mit kugelsicheren Scheiben ausgestattet,
und eine hohe Mauer wurde auf dem Grundstück errichtet. Totale Abschirmung. Auch ein Nachrichtenzentrum wurde eingerichtet, so daß die Spionagezentrale sofort mit jeder Dienststelle auf der Welt direkten Kontakt aufnehmen konnte. Für die Freizeitgestaltung waren ein Kino, eine Turnhalle und ein Schwimmbecken im Haus eingebaut worden. Slater und Carnell hatten große Pläne mit Paul. Diese Villa sollte zu einem Spionagezentrum ausgebaut werden, wie es die Welt bisher noch nicht kannte. Conklin sollte erst einer von vielen Agenten sein, die man in die Fremde schickte, damit sie als lebendige Sender an Paul alles weitergeben, was sie sahen und hörten. Diese neuen Agenten sollten in Maryland gründlich ausgebildet und auf ihren telepathischen »Einsatz« vorbereitet werden. Dort würde Paul sie gründlich studieren und sich mit ihren Gedanken vertraut machen. Die Agenten wurden natürlich nicht in das Geheimnis von Pauls telepathischen Fähigkeiten eingeweiht, sondern sie sollten drahtlos und verschlüsselt ihre Beobachtungen direkt nach Maryland melden. Das geschah nur als Tarnung. Denn Paul würde ja schon vorher wissen, was verschlüsselt an die Zentrale in Maryland durchgegeben wurde. Man wollte Dutzende von Agenten ausbilden. Wie viele es wirklich sein würden, hing von Pauls »Genesung« ab. Paul sah hier schon eine Gelegenheit für einen neu-
en Rückfall in seine geistige »Blindheit«. Sein Geist würde von den vielen Botschaften und Gedanken der Agenten überlastet werden. Und beim dritten Kollaps – finis. Nur heraus aus dieser Falle. Paul saß bereits in einem Stuhl am Fenster, als Karin in sein Zimmer trat. Er las gerade die Studien von Dr. Roy. Sie setzte sich aufs Bett und blickte ihn an. In ihren Augen lag ein eigentümlicher Glanz, und ein Lächeln spielte um ihre Lippen. »Du siehst schon wieder ganz munter und frisch aus«, sagte sie. »Ich glaube, wir können den Doktor wieder nach Hause schicken.« Sie lehnte sich zurück und zeigte ihre hübschen schlanken Beine. »Und wie geht es dir?« fragte Paul. »Arbeit«, erwiderte sie, »nichts als Arbeit. Mr. Slater und Mr. Carnell sind die reinsten Sklaventreiber. Du hast es gut, weil du dich ausruhen kannst.« Paul rieb sich den Nacken und sagte: »Klar.« Er betrachtete ihre Knöchel. »Peter macht sich wegen Emily Sorgen. Hat sich die Lage inzwischen etwas beruhigt?« Karin runzelte die Stirn. »Ich bin nicht befugt, über solche Dinge zu sprechen. Selbst mit Männern nicht, die ich so gut kenne wie dich.« »Dann gib mir doch deine persönliche Meinung. Glaubst du, daß Peters Sorgen jetzt ein Ende haben?«
Jetzt brach sie in ein Gelächter aus. »Ja, du hartnäkkiger Mann. Ich glaube, seine Sorgen waren vollkommen unbegründet.« »Eine erfreuliche Nachricht. Ich habe Emily und Peter sehr gern. Vielleicht wird Peter wieder ein normaler Mensch, mit dem man es aushalten kann.« Er blickte sie fragend an. »Hast du ein wenig Zeit für mich?« »Vielleicht eine Stunde.« »Wunderbar! Dann öffne mal den Wandschrank.« Er deutete mit dem Daumen über die Schulter, und Karin öffnete gehorsam die Schranktür. Die Hausbar kam zum Vorschein. »Hör mal«, sagte sie vorwurfsvoll, »hat der Arzt dir das erlaubt?« »Er muß es erlauben. Schließlich hat er sich in den vergangenen zwei Wochen immer aus meiner Bar bedient. Hol den Whisky und bring ihn ans Bett.« »Aber nur ein kleines Glas ...« warnte sie besorgt. Sie blieb länger als eine Stunde. Als sie sich verabschiedete, erwähnte sie, daß sie vielleicht am nächsten Wochenende frei bekommen könnte, und Paul nagelte sie sofort darauf fest. Von der Tür aus warf sie ihm noch eine Kußhand zu. »Brauchst du noch irgend etwas?« fragte sie lächelnd. Paul zwinkerte ihr zu. »Ja, aber das kann ich jetzt
nicht haben. Deshalb richte Peter nur aus, er soll einen Sprung heraufkommen, ja?« »Auf Wiedersehen bis zum Wochenende!« rief sie ihm noch zu und schloß die Tür hinter sich. Conklin kam ein paar Sekunden später ins Zimmer. »Eine rosenfarbige Wolke schwebte durchs Haus«, sagte er lächelnd und deutete mit dem Daumen nach unten. »Und sie schwebte obenauf. Was hast du mit ihr angestellt, Don Juan?« »Karin ist in mich verliebt.« »Das weiß ich schon seit einer Woche. Hat sie dir tatsächlich ein Liebesgeständnis gemacht?« »Nein, sie hat es mir nicht gesagt. Nicht laut, meine ich.« »Du mußt blind gewesen sein, wenn du das nicht schon lange gemerkt hast. He – einen Moment mal!« Peter starrte Paul betroffen an. »Du hast ihre Gedanken gelesen?« »Ja.« Conklin machte auf dem Absatz kehrt und eilte die Treppe hinunter zum Telefon.
Zwölf Draußen schien zum erstenmal die Frühlingssonne, und die Fenster im Zimmer standen offen. Peter Conklin stand mitten im Raum und betrachtete der Reihe nach die Gegenstände, die ihm so vertraut geworden waren. Schließlich blieb sein Blick an Paul hängen. »Leb wohl«, sagte er schließlich und streckte Paul seine Hand hin. Eine eigenartige Verlegenheit, die ihm ganz fremd war, raubte ihm die Sprache. »Ich weiß nicht, was ich noch sagen soll. Es ist eine schöne Zeit für mich gewesen.« Paul ergriff Peters Hand und drückte sie fest. »Paß gut auf dich auf, Peter. Und sei vor den Spaniern auf der Hut. Du weißt ...« »Ich weiß. Ich werde vorsichtig sein, sehr vorsichtig.« Conklin zögerte und blickte Paul forschend an. »Ich vermute, daß du deine Meinung inzwischen nicht geändert hast, was unser Wiedersehen anbelangt.« »Tut mir leid, nein. Slaters Entschluß steht fest, und ich sehe nichts für die Zukunft. Keine Hoffnung.« »Ich hatte diese Antwort erwartet, obwohl ich hoffte, du hättest dich getäuscht. Ein verdammt ungemütliches Land, in das ich reisen soll. Das sind die
Nachteile in diesem Job. Emily hat mir eine ganz hübsche Szene gemacht.« »Sie trifft es hart.« Paul nickte und lächelte ihm dann ermunternd zu. »Vielleicht tröstet dich der Gedanke, daß du immer mit mir sprechen kannst. Tag und Nacht. Ich kann dir nur nicht antworten. Aber laß dich dadurch nicht entmutigen. Nur die Lippen darfst du nicht bewegen. Sonst denken die Leute, du seist verhext!« »Das wäre kein Wunder. Ich bin froh, daß ich von Anfang an dabei war. Von Anfang an mit dir zusammen. Sonst hätte ich mich selbst für verhext gehalten.« Conklin blickte sich noch einmal im Zimmer um. »Unten wartet der Wagen. Ich fahre direkt zum Bahnhof und reise mit dem Zug nach Newark. Nun – mir scheint, ein Lebenskapitel von vier Jahren ist damit abgeschlossen.« Er blickte Paul noch einmal fragend an. Paul erkannte seine Gedanken, aber er wartete, bis sein Freund weitersprach. »Erinnerst du dich noch, worum du mich vor ein paar Wochen gebeten hast, Paul? Um einen Gefallen, den ich meinen Vorgesetzten gegenüber verschweigen sollte?« »Ich erinnere mich.« »Nun – ich komme nicht mehr am Büro vorbei. Ich fahre direkt zum Bahnhof.« Paul studierte das Muster der Tapete, ehe er den Mann in der Mitte des Zimmers anblickte. »Ich bin
froh darüber, daß du mir meine Bitte nicht abgeschlagen hast, Peter. Du wirst dich und deinen Job nicht gefährden, wenn du vorsichtig bist. Sobald dein Flugzeug in Shannon gelandet ist, sollst du ein paar Erkundigungen für mich einziehen. Nicht offiziell, sondern unter der Hand. Sieh zu, was du über einen bestimmten Mann herausfinden kannst. Ich glaube, er hält sich irgendwo in Irland auf.« »Ist das alles?« Conklin lachte erleichtert auf. »Wie heißt denn dieser Mann?« »Walter Willis.« »Willis?« Der Agent runzelte nachdenklich die Stirn. »Du hast den Namen schon einmal erwähnt. Aber das liegt schon weit zurück.« »Richtig. Aber sei auf deiner Hut, Peter. Dieser Mann kann möglicherweise sehr böse werden, wenn er erfährt, daß man sich in seine Angelegenheiten einmischt.« »Trotzdem.« Conklin lachte wieder. »Und ich hatte schon befürchtet, du verlangst einen Mord von mir. Wer ist denn dieser Willis?« »Das möchte ich ja gern wissen. Ich hoffe, daß du etwas über ihn ans Tageslicht förderst.« Er zuckte die Achseln, als wäre dieses Thema erschöpft. »Ich habe den Namen vor Jahren aufgeschnappt, als wir noch in dem Hotel in der Stadt wohnten. Seitdem hat er mich nicht mehr losgelassen.«
»Das ist bezeichnend für dich. Vier Jahre liegt es also zurück. Nun gut, ich werde sehen, was ich erreichen kann. Versprechen tue ich mir nicht viel davon. Schließlich habe ich höchstens fünf Stunden Zeit, bis ich mit der nächsten Maschine weiterfliegen muß.« »Ich weiß, daß die Chance nicht sehr groß ist. Vielleicht kann dir einer deiner Kontaktleute in Irland etwas sagen.« »Ich werde es versuchen.« Wieder überkam Conklin diese seltsame Verlegenheit. »Mein Wagen wartet.« Er drückte Paul noch einmal die Hand. »Wir sollten uns jetzt kurz fassen.« Er drehte sich um und ging zur Tür. Paul wartete schweigend. An der Tür drehte sich Conklin noch einmal um. »Mach es gut, Cro-Magnon«, sagte er. Paul winkte mit der Hand. »Alles Gute, Neandertaler.« Später drang Motorengeräusch von unten durch das offene Fenster. Der Wagen rollte die Auffahrt hinunter. Paul hatte sich umgedreht und starrte auf den Rasen hinunter. Er würde Peter Conklin nicht wiedersehen ... Ein paar Tage später zog Carnell in das angrenzende Schlafzimmer und übernahm das Kommando im Haus.
Paul berichtete ihm alles, was der Agent unterwegs beobachtete und tat, welche Fortschritte er machte und wann er sein Einsatzgebiet erreicht hatte. Carnell war entzückt über den reibungslosen Ablauf dieser Agentenarbeit neuen Stils. Er war außerordentlich zufrieden, daß die zunehmende Entfernung zwischen »Sender« und »Empfänger« kein Hindernis darstellte und Paul jede Bewegung seines Beobachters in Gedanken verfolgen konnte. Slater beschleunigte jetzt die Arbeiten am Ausbildungszentrum in Maryland und suchte auch schon die ersten Leute aus, die dort geschult werden oder zum Stab gehören sollten. »Ein richtiges Festessen!« meinte Carnell vergnügt. »Aber Sie werden nicht daran teilnehmen, nicht wahr?« Carnell ließ seinen Kugelschreiber fallen und starrte Paul überrascht an. »Was wollen Sie damit sagen?« »Sie werden nicht in die Villa in Maryland ziehen.« »Warum sind Sie sich dessen so sicher?« »Weil ich mir das denke«, sagte Paul offen. Er war mit Carnell nie so vertraut geworden wie mit Conklin, aber sie kamen beide gut miteinander aus. »In den letzten Tagen waren Sie ziemlich nervös. Und ich gewann den Eindruck, daß Sie Ihre Koffer pakken.« »Nun, man hat davon gesprochen, daß jemand in Tokio kurz mal nach dem Rechten schauen soll. Wir
haben dort Schwierigkeiten. Haben Sie in letzter Zeit die Berichte in den Zeitungen verfolgt?« »China? Ja.« »Es geht nicht nur um China, fürchte ich. Wir haben Berichte oben aus dem Norden erhalten. Ich bin ganz offen zu Ihnen, Paul. Wir haben Grund zur Annahme, daß es dort einen Riesenkrawall geben wird. Slater hat vorgeschlagen, daß ich mich selbst im Fernen Osten umschauen soll.« »Ich wette einen Dollar, daß Sie nicht zurückkommen.« »Wie bitte?« »Nein, so wie es klingt, habe ich das nicht gemeint.« Paul rückte seinen Stuhl zurecht, damit er Carnell direkt ins Gesicht blicken konnte. »Ich werde Ihnen sagen, was ich auch Peter mitgeteilt habe, und Peter hielt meine Theorie gar nicht für so abwegig. Slater entfernt alle Leute, die ich kenne und denen ich vertraue, aus meiner Nähe. Alle meine Freunde. Peter war der erste. In den nächsten Tagen oder Wochen werden Sie nach Tokio oder irgendeinen anderen weit entfernten Ort geschickt. Und dann erfindet er einen Vorwand um Karin aus meiner Nähe wegzuschaffen. Anschließend vielleicht auch noch Emily.« Paul hob den Kugelschreiber vom Boden und klopfte damit gegen die Stuhllehne. Sein Gesicht verriet nicht, wie böse und erregt er war. »Wenn ich nach
Maryland umziehe und an ein Gewirr von Kabeln angeschlossen werde, werden auch die Leibwächter und die Mädchen in der Telefonvermittlung ausgewechselt. Dort werde ich nur noch von Fremden umgeben sein. Von Slater abgesehen.« »Sie sind verrückt!« platzte Carnell heraus. »Vielleicht«, stimmte Paul zu. »Aber wir wollen erst einmal abwarten, ob ich recht habe.« »Aber was soll das Ganze?« »Da müssen Sie schon Slater fragen. Er entfernt jeden oder schaltet alle Personen aus, die er nicht vollkommen überwachen kann. Und mein Auftauchen war ein Faktor, den er nicht so manipulieren konnte, wie er das gern wollte. In Peters Fall fürchtete er die enge Freundschaft zu mir. Er hätte ja eines Tages die Loyalität Slater gegenüber auf mich übertragen können. Peter war in seiner Meinung unabhängig, und seine Gedanken über meinen Fall deckten sich nicht mit Slaters Ansichten Slater schätzt den kalten, tüchtigen Typ. Gefühle gelten bei ihm nichts. Deshalb hatte er auch kein Interesse daran, mich mit Leuten zu umgeben, die Sympathien für mich empfinden. Erinnern Sie sich noch an unsere erste Begegnung? Wissen Sie noch, wie bitter er war?« »Natürlich erinnere ich mich.« »Slater hat sich in diesem Punkt nicht geändert. Er will auch nicht, daß sein starres System aufgeweicht
wird. Deshalb hat er Peter weggeschickt, und Sie sind der nächste.« »Sie sind verrückt«, erwiderte der Agent, aber es klang nicht überzeugend. »Ich wette einen Dollar, daß ich recht habe.« An einem bestimmten Tag im Juni wechselte Conklin über eine ferne Grenze. Es herrschte Nacht auf der anderen Seite der Welt, und ein kalter Regen wischte seine Spuren aus. Die Grenzposten mit ihren Hunden verfehlten ihn, Paul ging in die Turnhalle in den Keller, wo Carnell Ausgleichssport trieb, und erzählte ihm die Neuigkeit. Von jetzt ab begleitete er Conklin auf Schritt und Tritt, blickte in jedes Gesicht, das Conklin mit seinen Augen sah. Weil Conklin sich viel freier in der Dunkelheit bewegen konnte, zog sich Paul jeden Mittag in sein Zimmer zurück und ruhte sich aus. Allerdings lag er dann nur auf seinem Bett, hielt die Augen geschlossen, verdrängte alle Geräusche im Haus aus seinem Bewußtsein und konzentrierte sich ganz auf Conklin. Doch wenn die Dämmerung in jenem entfernten Teil der Welt anbrach und Conklin sich ein Versteck suchte, ließ Paul in seiner Konzentration nach und weilte nur noch mit halbem Bewußtsein bei seinem Freund. Ehe Conklin einschlief, schickte er noch eine persönliche Botschaft an ihn oder an Emily
ab. Selbstverständlich fing Paul diese Botschaft auf, konnte sie aber nie an das Mädchen weitergeben. Paul lag lang ausgestreckt auf seinem Bett und überlegte: Wer hat geschrien? Der Attentäter war nicht gefunden worden. Auch kein Gedanke im Kopf der Eingeweihten war aufgetaucht, der vielleicht auf den Attentäter hingewiesen hätte. Das heißt, bisher hatte Paul nur die Gedanken von neun in Frage kommenden Personen aus der Nähe oder Ferne erforschen können, und keiner von diesen neun Männern hatten etwas von dem Attentat gewußt, ehe die Schüsse fielen. Die beiden letzten Männer hatte Paul noch nicht erforschen können. Slater entzog sich, wie immer, seinem Zugriff. Er hielt sich von Paul fern. Paul hatte auch noch keinen neuen Besuch im Weißen Haus machen können. Jedoch neigte Paul dazu, den Mann im Weißen Haus von der Liste der Verdächtigen zu streichen. Blieb also nur noch Slater. Und Slater haßte ihn so sehr, daß Paul ihm die Urheberschaft des Attentats zutraute. Und wer war die Frau, die geschrien hatte? Um seinen Geist zu schulen, suchte er in Gedanken nach jenen Personen, die er bisher kennengelernt hatte. Zum Beispiel nach seinem ehemaligen Captain. Den konnte er unmöglich aus seinem Gedächtnis verlieren. Er saß auf einer tropischen Insel und verfluchte den Tag, an dem er geboren worden war. Er ver-
fluchte auch den Umstand, daß es auf dieser Insel keine Frauen gab. Palmer? Der saß in Chicago und studierte ein paar Akten, während er sich das schmerzende Knie rieb. Dann der ehemalige Sergeant und der Mann, dem er Staatsgeheimnisse verkauft hatte. Beide saßen im Gefängnis. Was tat der Sergeant? Oh, er brütete einen Fluchtplan aus. Paul sah sich den Plan näher an. Es war der hundertste Plan für die hundertste Fluchtgelegenheit. Hier war der Wunsch der Vater des Gedankens. Und da waren doch noch eine hübsche Frau und ein Mann im Speisewagen gewesen. Wo steckten die beiden jetzt? Nichts. Paul setzte sich betroffen im Bett auf. Er konnte sie beide nicht wiederfinden. Er hatte ihre Gedanken ohne Schwierigkeit im Speisewagen und ein paar Tage später in der Gebirgshütte gelesen. Doch seitdem hatte er keinen Anlaß gehabt, sich mit den beiden in Gedanken zu beschäftigen. Und jetzt waren sie ihm entwischt. Das war eine wichtige neue Erkenntnis. Die vagen Bekanntschaften entzogen sich mit der Zeit seinem Zugriff. Man mußte jemand schon gut oder ziemlich lange kennen, wenn man den geistigen Kontakt aufrechterhalten wollte. Sie konnte doch an jenem Abend in Washington nicht geschrien haben?! Sehr unwahrscheinlich, denn die Frau hatte ihn doch nur in ihrer Fantasie als Partner ihrer sinnlichen Freuden erwogen. Ein paar Se-
kunden lang. Wahrscheinlich hatte sie keinen Gedanken mehr an ihn verschwendet, als sie aus dem Zug stieg. Wen kannte er noch? Karin, die gerade am Steuer eines Wagens saß. Und Emily (wenn auch nur flüchtig). Dann war da noch der aalglatte Major, der gerade irgendwo Billard spielte, während sein Chef auf dem Rasen mit einer Gruppe von Pfadfindern für ein Gruppenbild posierte. Carnell war im Zimmer nebenan. Und Slater? Ah, das mußte das neue Heim in Maryland sein! Ziemlich großes Haus. Dann eine große Bibliothek, wo die Gelehrten Roy und Grennell gerade eine Abhandlung über seine theoretischen Fähigkeiten schrieben. Oder über die Grenzen seiner Fähigkeiten. Slater hatte das wissen wollen, und Slater verlangte seine Antworten schwarz auf weiß. Konnte Paul ein Stück Holz bewegen, einen Bleistift, eine Heftklammer? Roy blickte Grennell fragend an, als sie beide den Bogen studierten, den Slater ihnen vorgelegt hatte. Grennell spreizte nur beide Hände und wölbte die Augenbrauen in die Höhe. Telekinese. Paul bewegte den Kopf auf dem Kopfkissen. Auf dem Bücherregal neben Roys Studien lag ein Staubtuch, das die Haushälterin dort vergessen hatte. Paul schloß die Augen und konzentrierte sich auf das
Staubtuch. Nach einer Weile öffnete er die Augen wieder. Das Staubtuch lag nicht mehr auf dem Brett. Es war auf den Boden gefallen. In der Bibliothek irgendwo in der Stadt beantwortete Grennell seinen Fragebogen. Für ihn gab es keine Grenzen für Pauls Fähigkeiten – theoretisch nicht. Im August schickte Conklin eine Botschaft, die Carnell und Slater in die Knochen fuhr und einige Leute in noch höheren Positionen ziemlich erschreckte. Er war aus Zufall auf ein verstecktes Laboratorium in den Bergen gestoßen und nur mit knapper Not seiner Entdeckung entgangen. In diesem Labor stellten die Russen die erste Generation von Atombomben her – oder hofften, die Herstellung werde ihnen gelingen. Es gab für Conklin keine Möglichkeit, noch näher an diese Fabrik heranzukommen, um den Stand der Produktion oder die bereits fertiggestellten Bomben auszuspionieren. Er mußte sich mit einem entfernten, gefährdeten Beobachtungsposten begnügen. Conklin sandte ihm auch die ungefähre geographische Lage dieser Fabrik, die Paul jedoch in seinem Bericht unterschlug. »Wo steckt er denn?« fragte Carnell gereizt. »Er wußte doch ganz genau, daß er uns immer seinen genauen Standort durchgeben soll. Wir wollen wissen, wo er ist!«
Paul betrachtete Carnell schweigend. Er wußte ganz genau, wer mit »wir« gemeint war. Aber er wollte Conklin, so weit es an ihm lag, unbedingt schützen. »Tut mir leid, aber ich kann ihm Ihren Wunsch nicht übermitteln. Der Sender wirkt nur in eine Richtung.« »Slater wird sehr ungehalten sein. Wie sollen wir eine Fabrik mitten in der Wildnis finden?« »Vielleicht haben sie die Wegweiser absichtlich entfernt«, erwiderte Paul ironisch. »Bleiben Sie am Ball. Finden Sie heraus, wo er steckt!« Paul behielt seine Überwachung bei, verriet aber nicht Conklins Standort. Auch die Doktoren Roy und Grennell versuchten vergeblich, ihren »Patienten« wiederzusehen. Carnells Empfehlung, daß man den Wissenschaftlern gestatten sollte, Pauls Wohnung zu besuchen, hatte zu einer kurzen Begegnung geführt. Seitdem waren die beiden Ärzte wie besessen gewesen, hatten Ausflüchte um Ausflüchte erfunden, weshalb sie den direkten Kontakt mit Paul aufnehmen mußten, wenn sie ihrem Forschungsauftrag gerecht werden wollten. Doch man hielt sie von Paul fern. Theoretisch wußten sie fast alles, was man über Paul wissen konnte, aber für praktische Ergebnisse mußten sie auf ihre Versuchsperson verzichten. Sie hatten ihren Zweck erfüllt, ohne das zu wissen. Nur aus Si-
cherheitsgründen wurden sie noch in Washington festgehalten. Wie lange das noch dauern sollte, wußte nicht einmal Slater zu sagen. »Ich fordere Sie auf, hierherzusehen!« rief eines Tages Roy mit lauter Stimme in das leere Labor hinein. Grennell hob erschrocken den Kopf, bis er begriff, was sein Kollege vorhatte. »Schau mich an«, wiederholte Roy, und blickte die vier Wände des Raumes an, »ich weiß, daß du mich sehen kannst. Schau her – Mr. Paul Breen!« Grennell verschränkte die Hände und wartete gespannt auf ein Zeichen. Roy hob jetzt ein Manuskript hoch. »Siehst du das? Weißt du, was ich weiß? Ich weiß alles über dich – alles! Und trotzdem kann ich nicht zu dir kommen. Deshalb mußt du dich zu mir herbemühen. Komm hierher in dieses Zimmer! Tue etwas, Paul, um uns zu zeigen, daß du gekommen bist.« Er wartete ungeduldig. Paul tat nichts. Er wußte, daß man Slater sofort melden würde, wenn er auch nur im geringsten auf diese Herausforderung einging. Dr. Roy packte einen Bleistift und warf ihn auf den Tisch. »Siehst du diesen Bleistift, Paul Breen? Bewege ihn – bewege ihn, verdammt noch mal!« Paul betrachtete aus der Ferne den Bleistift und tat nichts. Wenn er diesen Bleistift über den Tisch rollen
ließ oder durch die Luft wirbelte, würden die beiden Wissenschaftler sofort Slater anrufen und ihm mitteilen, was im Labor passiert war. Und dann hatte Slater die Antwort auf seine letzte noch offene Frage. »Bewege ihn!« rief der Doktor wütend. Dann raffte Roy ein paar Papiere auf dem Tisch zusammen und schleuderte sie gegen die Wand. »Du bist ein Betrüger – ein Betrüger!« Paul wendete sich ab. Er hatte Roy viel zu verdanken; aber er durfte ihm den Gefallen nicht tun. Slaters wegen nicht. In der letzten Augustwoche berichtete Conklin neue Einzelheiten. Er war wieder auf Wanderschaft, verfolgte vorsichtig einige Tieflader, die mehrere schwere und unförmige Gegenstände in ein breites, unbewohntes Gebirgstal transportierten. In seinen Gedanken war eine wachsende Aufregung zu spüren, die sein Denken beeinträchtigte. Er wußte, was er verfolgte, wußte den Verwendungszweck und hoffte im stillen, daß die Sache schiefgehen würde. Anfang September sah er eine Explosion, die ihn fast blind machte, weil er seine Augen nicht mit dunklen Augengläsern geschützt hatte. Und obgleich Conklin geglaubt hatte, er habe genügend Abstand zum Sprengort, wurde er zu Boden gerissen, als die Druckwelle kam.
Einige Tage später bestätigten die Überwachungsstationen in Alaska die überraschende Neuigkeit. Der Präsident wartete fast drei Wochen, ehe er der Nation bekannt gab: »Wir haben Beweise dafür, daß in den vergangenen Wochen eine Atombombenexplosion in der UdSSR stattgefunden hat.« Die Explosion hatte drei Jahre früher stattgefunden, als man das selbst bei den günstigsten Voraussetzungen erwartet hatte. Die amerikanischen Experten hatten irrtümlich angenommen, daß die Russen nach ihren eigenen Zeitplänen arbeiten würden. Der Verbindungsoffizier des Präsidenten, ein gar nicht mehr so aalglatter Major, heftete eine Auszeichnung an die Brusttasche von Pauls Uniform, die er eigens zu diesem Zweck anziehen mußte. Dann hielt er eine kleine Ansprache vom Dienst am Vaterland, von der Pflicht und der Aufopferung – eine hübsche kleine Rede, die er auswendig konnte, weil er sie schon oft bei zahlreichen Anlässen vorgetragen hatte. Dann setzte er ein unbestimmtes Lächeln auf und verabschiedete sich wieder. Paul zog seine Uniform sofort wieder aus und hängte sie in den Kleiderschrank. »Paul, du hast es tatsächlich geschafft!« jubelte Carnell und tanzte im Zimmer herum. Seine sonst so kühle Haltung war wie ausgewechselt. »Du hast bewiesen, was du wert bist. Das ist wunderbar!« Er
schlug Paul auf beide Schultern und stieß ihm den Daumen zwischen die Rippen. »Du bist ein Glückstreffer für uns. Glaub mir, Paul, du bist zehnmal so viel wert, wie wir bisher für dich ausgegeben haben.« »Reine Übertreibung«, brummte Paul unbeeindruckt. »Weißt du, was Slater in diesem Augenblick unternimmt? Er ist bei seinem Chef und holt sich ein Geheimbudget für dich. Bis jetzt haben wir die Kosten aus den verschiedensten Fonds zusammengeborgt. Doch jetzt bekommst du dein eigenes Budget wie früher das Manhattan Projekt. Du bist jetzt ganz groß im Kommen, Junge. In einem Jahr werden wir die ganze Welt abhören. Wer kann uns daran hindern?« »Großartig. Wieviel Geld bekomme ich also jetzt?« Carnell hörte mit seinen Bocksprüngen auf. »Wie bitte?« »Wieviel bekomme ich von diesem wunderbaren Budget?« Carnell blickte Paul besorgt an. »Nun, das kann ich nicht genau beantworten. Geld? Wir haben Ihnen doch alles gegeben, was Sie haben wollten.« »Wieviel?« fragte Paul beharrlich. »Ist Ihr Gehalt denn nicht hoch genug, Paul? Wir können es steigern, verdoppeln! Brauchen Sie vielleicht noch mehr Bücher? Wir werden Ihnen eine komplette Bibliothek einrichten. Wollen Sie einen
neuen Anzug haben? Wir kaufen ihn.« Er blickte Paul fragend an, hatte einen neuen Einfall und zwinkerte Paul zu. »Oder wollen Sie Mädchen, Paul? Sie können die schönsten Mädchen bekommen, nach denen Ihnen der Sinn steht. Ich ziehe aus meinem Zimmer aus und schlafe auf der anderen Seite der Diele. Wir werden die schönsten Fotomodelle aus New York hierherbestellen. Sie müssen nur ein Wort sagen, Paul.« »Wieviel Geld hat Slater angefordert?« »Ach – fünf Millionen, glaube ich.« Carnell blickte Paul jetzt wieder stirnrunzelnd an. Die Frage beunruhigte ihn. »Für dieses Jahr.« »Schön«, erwiderte Paul, »dann nehme ich eine Million.« »Wie – was?« »Eine Million – für dieses Jahr.« Am folgenden Morgen ließ Slater mitteilen, was er über diese Anforderung dachte. Carnell hatte nicht den Mut, ihm Slaters Entscheidung weiterzugeben. Ein heller, kalter Mond schien ins Zimmer. Paul glitt aus dem Bett und suchte seine Pantoffel in dem halbdunklen Raum. Die schlimmsten Kopfschmerzen, die er jemals in seinem Leben gespürt hatte, marterten ihn. Dazu kam noch eine schreckliche Verzweiflung. Paul wickelte sich in seinen Morgenmantel
und ging in das angrenzende Schlafzimmer. Carnell war nicht in seinem Bett. Mit pochenden Schläfen suchte Paul im Haus nach ihm. Er entdeckte ihn unten in der Küche, wo er sich ein Brötchen zurecht machte. Paul stieg leise die Stufen hinunter. Das Mädchen von der Telefonvermittlung fuhr erschrocken hoch, als sie Paul neben sich auftauchen sah. »Oh – guten Morgen, Mr. Breen!« Er gab keine Antwort, drehte sich von ihr weg und öffnete die Küchentür. Carnell hatte die überraschten Worte des Mädchens gehört und kam Paul entgegen. »Paul – was ist denn los?« Paul schob ihn wieder in die Küche hinein und schloß die Tür sorgfältig hinter sich. Er blickte Carnell mit brennenden Augen an. »Paul, was haben Sie denn?« wiederholte Carnell mit wachsender Unruhe. »Peter Conklin ist tot«, antwortete Paul mit dumpfer Stimme. »Er ist was? Woher wollen Sie denn das wissen?« »Ein Scharfschütze hat ihn umgelegt. Erst vor ein paar Minuten.« »Paul, das kann doch nicht wahr sein!« »Doch, es ist so.« »Aber wie konnte das nur passieren? Wie konnten sie ihn schnappen? Peter ist ein sehr vorsichtiger Mann.«
»Peter war ein vorsichtiger Mann. Sie suchten nach ihm. Sie wußten, wo er war, und haben ihn gejagt wie einen Hasen.«
Dreizehn: 1950 Sie war blond, naturblond, wenn auch ein bißchen dunkel im Ton. Er mochte naturblonde Haare und küßte sie. Sie hatte immer noch diesen Bronzeton der Haut, der so gut zu ihren blauen Augen und den blonden Haaren paßte. Sie hatte den Kopf an seine Schulter gelegt. Sie war nicht mehr die muntere, lebenslustige junge Frau, die er vor Jahren auf einer Party kennengelernt hatte. Karin war verstört. Sie saßen allein in der Turnhalle im Keller, und er hielt sie in seinen Armen. Sie blickte sich suchend im Raum um, weckte all die angenehmen Erinnerungen, die sich mit dem Raum und seiner Einrichtung verbanden. »Erinnerst du dich noch an das Doppel, Paul?« »Ja. Peter schlug zu hart zurück. Emily wurde der Schläger aus der Hand gerissen.« »Einer nach dem anderen mußte gehen. Alle unsere Freunde, unsere Vertrauten.« Er nickte nur wortlos. »Armer Peter – ich werde nie die erste Nacht vergessen, in der wir uns kennenlernten. Er öffnete die Tür und sah mich im Flur stehen. Er war außerordentlich überrascht und hätte fast eine böse Bemerkung gemacht, wenn Emily nicht in meiner Begleitung gewesen wäre.«
Paul zog Karin noch enger an sich. »Ja, du warst die letzte Frau, die er an diesem Abend erwartet hätte. Das hat ihn wahrscheinlich geheilt. Von diesem Tag an hat er nicht mehr wahllos Mädchen eingeladen, deren Namen er nicht kannte.« »Und dann haben wir Peter als ersten verloren.« Er spürte, wie sie zitterte. »Der Schock war zu groß für Emily. Carnell hat sie über eine Woche im Krankenhaus behandeln lassen. Die beiden wollten heiraten.« »Ich weiß.« »Und dann ging Emily. Zuerst hat sie mir ja noch regelmäßig geschrieben. Sie war zuerst in Chicago und anschließend in Salt Lake City. Doch seit Weihnachten habe ich nichts mehr von ihr gehört. Nur eine Karte zu den Festtagen habe ich bekommen, in der sie mich bat, an all die Weihnachtsfeste zu denken, die wir gemeinsam verbracht hatten.« Es war warm und still in dem großen Raum. Paul hatte die Tür hinter sich abgeschlossen. Die anderen Bewohner des Hauses wußten also, daß er nicht gestört werden wollte. »Und dann kam Mr. Carnell an die Reihe«, fuhr Karin leise fort. Paul nickte wieder schweigend. »Ich mochte ihn sehr gern. Er war im Grunde sehr human und warmherzig, gar nicht so abgebrüht und berechnend, wie man sich die Männer in dieser Posi-
tion immer vorstellt. Er hat alles getan, was in seiner Macht stand, um Emily zu helfen, nachdem es – passiert war. Er bot ihr an, sie in jeden Teil des Landes zu versetzen, damit sie sich wieder erholen konnte. Sie konnte sich ihren Posten aussuchen. Aber wer kann in so einer Situation schon helfen? Ich brachte Carnell damals in der Nacht zum Flughafen, als er nach Tokio flog.« Ihre Stimme klang traurig. »Und dann stürzte sein Flugzeug über dem Meer ab«, schloß Paul schonungslos. »Motorschaden.« »Das waren alles gute Freunde von uns, Paul. Vielleicht die besten Freunde, die wir im Leben haben können. Einer nach dem anderen ...« Sie bewegte ihren Kopf an seiner Schulter, und er küßte sie. »Du willst mir wohl schonend beibringen, Karin«, sagte er dann leise, »daß du jetzt an der Reihe bist. Ich weiß es schon seit ein paar Tagen.« »Natürlich.« Sie verriet keine Überraschung, weil er es wußte. »Ich werde nach London geschickt. In den nächsten Tagen.« »Am nächsten Montag«, korrigierte er. »Am Montag also«, sagte sie nachdenklich. »Dann bleiben uns noch vier Tage.« Sie blickte ihm ins Gesicht. »Paul, ich werde dir jetzt etwas offenbaren.« »Ich weiß es bereits.« »Aber ich sage es dir trotzdem. Ich weiß alles über dich.« Sie blickte ihm fest in die Augen. »Alles.«
»Wenn dir dein Leben lieb ist«, sagte er langsam, »würde ich diesen Satz nie mehr aussprechen. Zu keinem ein Wort davon! Besonders nicht hier in Washington.« »Ich werde schweigen«, versprach sie. »Willst du wissen, wie ich die Wahrheit über dich herausgefunden habe?« »Ich weiß es.« »Still. Ich will es auf meine Weise sagen.« Ein blasses Lächeln spielte um ihren Mund. »Jemand machte einen groben Schnitzer, als er dein Geheimnis hüten wollte. Man sperrte dich zwar ein, aber sie gaben dir alle Bücher, die du haben wolltest. Sie ließen auch Besucher zu dir. Erinnerst du dich noch an den Tag, als du aus deiner Bewußtlosigkeit erwacht bist? Als ich an deinem Bett saß, damals nach dem Attentat? Ich habe die ganze Zeit über dich nachgedacht.« »Sehr schmeichelhaft.« »Ich habe seit jener Nacht über dich nachgedacht, als ich dich zum erstenmal sah. Zuerst war es nur eine Routineüberprüfung, ob du auch ein Geheimnis für dich behalten konntest. Aber dann wurde ich stutzig. Du wurdest bewacht wie ein Kronschatz. Man trieb einen ungewöhnlichen Aufwand für deine Sicherheit und schirmte dich vor der Außenwelt ab. Und dann schaffte man dich in dieses Haus und versorgte dich wie einen König. Schließlich bemerkte ich
auch die Bücher auf deinem Regal. Die Themen, die in diesen Büchern abgehandelt wurden, machten mich noch stutziger. Dann kam der Auftrag für die beiden Wissenschaftler, und einer von diesen Experten hatte ein Buch geschrieben, das auf deinem Regal stand. Das alles konnte nicht ein reiner Zufall sein. Und als ich in deinem Zimmer wartete, bis du wieder zu dir kamst, las ich die Studien von Dr. Roy. Deshalb schmeichle ich mir auch, alles über dich zu wissen. Wahrscheinlich hast du mir damals sofort angesehen, daß ich Bescheid wußte.« Karin blickte zu ihm auf. »Paul, kannst du das wirklich alles vollbringen, was in dem Buch geschrieben steht?« »Bei weitem nicht alles«, erwiderte er wahrheitsgemäß. »Roy konnte Phantasie und strenge Logik nicht ganz trennen. So manches, was er in seinem Buch geschrieben hat, ist purer Unsinn, glaube ich. Aber vier Fünftel seiner Theorien stimmen.« »Ich glaube, ich möchte nicht in deiner Haut stekken«, sagte sie leise, und ihre Haare bewegten sich unter seinen Lippen. »Und ich will dich auch nicht fragen, wie man sich fühlt, wenn man so außergewöhnliche Gaben besitzt. Ich will es nicht wissen.« Wie fühlte er sich? Wie ein Erwachsener in einer Welt voll Kindern. Wie eine Radiostation in einer Zivilisation, die das
Radio noch gar nicht kannte. Er brauchte nur eine Anregung, einen Gedanken in Karins Bewußtsein zu pflanzen, und sie würde darauf reagieren, als wäre es ihr Einfall, ihr Willensimpuls. Sie würde den Unterschied nie entdecken. »Jemand würde schrecklich ärgerlich sein«, fuhr sie fort und lächelte schadenfroh, »wenn er wüßte, was für einen Fehler er beging. Er sperrte uns zusammen in einen Raum – mich, dich und das Buch.« »Dieser Jemand würde noch wütender werden, wenn er uns jetzt hören könnte«, sagte Paul warnend. »Also mußt du in Zukunft schweigen wie ein Grab.« »Ich weiß, daß ich vorsichtig sein muß, Paul«, erwiderte Karin. »Weshalb schickt man mich nach London, Paul?« »Um uns beide zu trennen, wie man Peter und Carnell von mir entfernt hat. Emily hätte das gleiche Los getroffen, wenn sie sich nicht freiwillig um eine Versetzung bemüht hätte. Du bist der letzte Freund aus diesem Kreis. Deshalb mußt du fort.« »Ich bin mehr als nur ein Freund«, sagte Karin leise. Sie streckte die Hand aus, als berührte sie die aufgestellten Kegel in einer Kegelbahn. »Peter – tot; Emily – verschwunden; Carnell – tot.« Eine Bewegung, als stürze sie den letzten Kegel um. »Und jetzt geht auch Karin.« »Du machst dir den Abschied doch nur selbst
schwer, Karin. Wir wollen genießen, was wir noch haben. Vier lange Tage.« »Nein«, widersprach sie ihm, »wir haben noch ein ganzes Leben für uns.« Er wollte sie nicht enttäuschen und schwieg. Peter Conklin war erschüttert gewesen, als er ihm offenbart hatte, daß sie sich nie wiedersehen würden. Und Peter hatte einen eisernen Willen und einen ausgeglichenen Charakter besessen. Vielleicht würde die Wahrheit Karins Kräfte übersteigen. »Paul«, sagte sie plötzlich in seine Gedanken hinein, »komm zu mir ...« Sie zog ihn zu sich heran, daß er auf die Knie fiel. »Karin«, protestierte er lachend, »der Boden der Turnhalle ist aus Hartholz.« »Das macht mir nichts aus, Paul. Komm zu mir ...«
Vierzehn Washington lag weit hinter ihnen. Die Knospen an den Bäumen waren schon aufgebrochen, und links und rechts der Straße zeigten die Wiesen schon das satte Grün der frischen Grasspitzen. Der Frühlingsregen hatte die unbefestigte Straße mit Schlammpfützen überzogen. Der schwarze Packard wich den Schlaglöchern aus und steuerte dann in einem weiten Bogen auf einen Zaun zu. Neben dem Tor, das die Straße blockierte, stand ein Postenhaus. Hinter dem Zaun waren ein paar Zelte aufgeschlagen, schnurgerade ausgerichtet wie Soldaten in Reih und Glied. Hinter dem Zaun hielten Männer Wache, und zwei Posten waren vor dem Tor aufgestellt. Der Packard bremste und hielt vor dem Tor. Die beiden Militärpolizisten traten links und rechts an den Wagen heran. »Zeigen Sie bitte Ihre Ausweise!« Paul reichte seine Papiere durch das rechte Wagenfenster. Der Fahrer neben ihm wurde von dem Posten an der linken Wagenseite abgefertigt. Die beiden Männer, die im Fond saßen, warteten geduldig, bis sie ebenfalls überprüft wurden. Der Militärpolizist, der Pauls Papiere entgegengenommen hatte, starrte auf Pauls Paßfoto und verglich es dann mit Pauls Ge-
sicht. Er studierte die übrigen Papiere und betrachtete dann noch einmal Pauls Profil, als wollte er sich jede Einzelheit genau einprägen. Endlich gab er die Ausweise wieder zurück. »Vielen Dank, Sir.« Der M.P. ließ sich jetzt die Ausweise von den Männern im Fond geben. Die ganze gewissenhaft-peinliche Prozedur wiederholte sich. Dann ließ sich einer der Posten den Schlüssel zum Kofferraum geben und überprüfte das Gepäck, während der andere sich auf den Boden legte und unter das Auto schaute. Erst dann durften sie weiterfahren. Nach einer Meile kamen sie zu einer hohen Steinmauer. Auch hier versperrte ihnen ein Tor den Weg. Neue Posten nahmen sie in Empfang, und das Sicherheitsritual wiederholte sich. Als sie endlich passieren durften, drehte Paul sich um. »Wir müssen etwas sehr Wichtiges im Auto versteckt haben. Vielleicht eine Mondrakete!« Der Fahrer brummelte nur etwas Unverständliches. Auch die beiden Männer im Fond waren Paul fremd. Er hatte sie noch nie zuvor gesehen. Sie gehörten der Wehrmacht an, trugen aber Zivilkleidung. Ehe Paul in den Wagen stieg, um sein neues Quartier in Maryland zu beziehen, hatte er sich von seinen Leibwächtern, den Mädchen in der Vermittlung und der Köchin verabschiedet. Kein Vertrauter aus der Vergangenheit übersiedelte mit ihm in das neue Haus in Ma-
ryland. Slater hatte absichtlich ein neues Kapitel in Pauls Leben mit dem Umzug begonnen und alle Seiten seines früheren Lebens aus dem Stammbuch gerissen. Paul erinnerte sich, wie Karin in Gedanken die Kegel umgestoßen hatte. Slater würde teuer für den Kegel Nummer eins und Nummer vier bezahlen müssen, überlegte Paul grimmig. Der Packard fuhr jetzt durch einen Wald. Die Straße war hier asphaltiert und kein Schlagloch erschütterte das Chassis. Ganz unvermittelt blieb dann der Wald hinter ihnen zurück. Weite Rasenflächen breiteten sich ringsum unter der Frühlingssonne aus. Sie hatten immer noch eine beträchtliche Strecke bis zum Haus zurückzulegen. Paul blickte durch die Windschutzscheibe, verglich jede Einzelheit der Fassade mit dem Bild, das er durch die Augen eines anderen Mannes gewonnen hatte. Das Haus war tatsächlich so alt und schön, wie man es ihm beschrieben hatte. Die weißen Säulen der Vorhalle bildeten einen hübschen Kontrast zu dem frischen Laub der Bäume im Hintergrund. Paul bewegte den Kopf suchend hin und her. »Wo steht denn das Raumschiff?« Der Fahrer warf ihm nur einen vorwurfsvollen Blick zu, während er den Wagen in die Auffahrt lenkte. Ein Butler eilte aus dem Haus und öffnete die Wagentüren. Paul stieg aus und streckte sich in der Sonne. Im nächsten Moment standen schon die beiden
Männer, die im Fond gesessen hatten, links und rechts neben ihm. Die Wagentüren fielen wieder mit einem dumpfen Geräusch zu, und der Wagen fuhr ab. »Guten Tag, Sir«, begrüßte der Butler Paul. »Darf ich Ihnen Ihre Zimmer zeigen?« »Gern. Wo sind sie?« »Im zweiten Stock, Sir. Im Seitenflügel.« Er deutete hinauf zu einer Reihe von Fenstern. »Ist mein Gepäck schon eingetroffen?« »Jawohl, Sir. Ich habe die Koffer bereits ausgepackt.« Der Butler drehte sich um und ging voraus. »Wo ist denn das Raumschiff?« fragte Paul wieder. Der Butler drehte sich nicht um. »Ich weiß nichts von einem Raumschiff, Sir«, erwiderte er höflich. In der Vorhalle wartete wieder ein Mann. Er nickte Paul nur flüchtig zu, betrachtete prüfend die beiden Männer, die hinter Paul hertrotteten, und blickte dann zum Fenster hinaus. Paul lächelte im stillen. Noch ein Posten. Und zweifellos wurde auch die Hintertür des Hauses von einem Agenten bewacht. Der Butler führte Paul in einen großen und strahlend hell erleuchteten Raum, bog nach links und blieb dann vor einer Tür stehen. »Der Aufzug, Sir.« Die vier Männer drängten sich schweigend in den Lift. Ehe die Türen des Fahrstuhls sich schlossen, nahm Paul noch das Bild eines riesigen
Kristallüsters mit, der in der Mitte der ovalen Decke hing. Der Lift hielt im zweiten Stock, und die Türen öffneten sich wieder lautlos. Die beiden neuen Leibwächter stellten sich neben dem Fahrstuhl auf, während Paul dem Butler einen breiten, kurzen Korridor hinunter folgte. Von diesem Korridor gingen nur drei weit auseinanderliegende Türen ab. Der Butler blieb vor der letzten Tür stehen. Er bemerkte den neugierigen Blick, mit dem Paul die beiden anderen Türen streifte. »Die Tür Nummer zwei ist ein Wäscheschrank, Sir«, sagte er. »Die erste Tür führt in ein anderes Appartement, das mit Ihren Räumen verbunden ist, Sir. Das Appartement ist für Gäste bestimmt, wenn Sie diese über Nacht hierbehalten wollen.« Er öffnete die Tür zu Pauls Appartement und trat zur Seite. Paul entdeckte, daß er drei Zimmer und ein Bad als Wohnung zugeteilt bekommen hatte. Ein Zimmer besaß eingebaute Bücherregale und sollte ihm wohl als Studierzimmer dienen. Man hatte bereits alle seine Bücher eingeräumt, und Roys Studien standen genau an der gleichen Stelle wie im Regal im Haus an der Pike. Vom Wohnzimmer und von der Bibliothek aus konnte man den Rasen und die Auffahrt vor dem Haus überblicken. Das Schlafzimmer und das Bad lagen nach hinten hinaus. Dort spiegelte sich die Sonne in den Kacheln eines neugebauten Schwimmbeckens. Paul setzte sich in einen Sessel.
»Wenn Sie etwas brauchen, läuten Sie bitte, Sir. Die Klingel ist gleich neben der Tür. Mein Name ist Singer.« Er verbeugte sich leicht und zog sich zurück. »Nett Sie kennenzulernen«, sagte Paul. »Ich heiße Breen.« »Danke, Sir«, erwiderte der Butler und verschwand. Paul entspannte sich und blickte sich im Wohnzimmer um. Er erinnerte sich an einen uralten Film, in dem ein Mädchen ein Abschiedslied gesungen hatte, und summte leise die Melodie vor sich hin: »Auf Wiedersehen, kleiner gelber Vogel ...« Betroffen hielt er inne. Er hatte eine merkwürdige Reaktion gespürt – wie ein Echo, das von den Wänden widerhallte. Er drehte sich mit dem Sessel im Kreis und betrachtete verblüfft die Tapete. Unmöglich. Er hatte ein Echo in seinem Bewußtsein gehört. Aber er konnte in Gedanken keine Echos hören. Er hörte nur Worte, die man über ihn sprach oder direkt an ihn richtete. Er hörte die Gedanken anderer Menschen, die sich im Geist an ihn richteten. Paul setzte wieder mit der Melodie ein: »Auf Wiedersehen, kleiner gelber Vogel, ich muß ...« Sofort kam die Wiederholung, das eigenartige Gefühl, sein eigenes Echo zu hören ... nur von einer anderen, zweiten Stimme. Er erhob sich aus dem Sessel,
ging rasch von Zimmer zu Zimmer. Er war allein in seinem Appartement. Als nächstes griff er in Gedanken nach den Männern, die erst vor kurzem kennengelernt hatte. Der Fahrer des Packard war in der Garage und beschäftigte sich mit seinem Wagen. Er unterhielt sich mit einem anderen Chauffeur; aber das Gespräch drehte sich nicht um Paul. Dann der Butler. Singer befand sich in seinem Quartier und döste. Er wartete auf ein Signal von Paul und dachte nur vage und unpersönlich an seinen neuen Herren. Blieben nur noch die beiden Leibwächter, die schweigend im Fond gesessen hatten und sich später neben dem Fahrstuhl aufbauten. Paul streckte seine geistigen Fühler bis zum Fahrstuhl aus. Sie befanden sich nicht mehr im Flur. Er fand sie gleich darauf. Sie weilten jetzt in einem Zimmer im entgegengesetzten Seitenflügel. Der eine saß am Tisch und las die Zeitung. Der andere hatte einen Kopfhörer auf und lauschte angestrengt. Paul erstarrte, als er die Gedanken des Mannes las, und wirbelte herum. Er mußte lange suchen, bis er die Mikrophone fand. Sie waren in den Tapetenleisten versteckt, wo die Seitenwände mit der Decke zusammentrafen. Vier winzige Mikrophone, paarweise angeordnet. Rasch durchsuchte er auch die anderen Räume. Alle Zimmer waren mit Mikrophonen gespickt, und selbst im Badezimmer fand er eine »Wanze«.
»Mich laust der Affe!« sagte er laut. Er hörte seine eigenen, überraschten Worte in den Kopfhörern des Leibwächters, hörte sie zum drittenmal, als sie im Bewußtsein des Mannes widerhallten. Seine Originalworte und die beiden Wiederholungen fielen zeitlich zusammen, und er konnte sie nur an der leichten Tonverfärbung voneinander unterscheiden, wenn sie von den Membranen im Kopfhörer reproduziert und dann in Gedanken wiederholt wurden. Das hörte sich an wie eine Schallplatte, die im gleichen Moment den Text abspielte, wenn man ihn aussprach. Und wie sah es in dem anderen Appartement aus? Paul folgte seiner Eingebung und öffnete die Verbindungstür. Das zweite Appartement umfaßte nur zwei Zimmer und ein Bad. Auch hier entdeckte er zwei Mikrophone. Er wartete einen Moment, ehe er in sein Appartement zurückkehrte. Irgend etwas im anderen Schlafzimmer hatte ihn stutzig gemacht. Entschlossen machte er auf dem Absatz kehrt und riß die Schranktüren im Schlafzimmer auf. Kleider hingen von der Kleiderstange, und in den Schubladen der Kommode entdeckte er noch andere typisch weibliche Gegenstände. Sein Nachbarappartement wurde bereits »bewohnt«. Paul öffnete eine Whiskyflasche im Arbeitszimmer
und rief »Prost!« Die Kopfhörer wiederholten seinen Toast. Paul legte die Beine auf einen rotgepolsterten Schemel und starrte zum Fenster hinaus. Eine Dame war also bereits in das Nachbarappartement eingezogen. Selbstverständlich würde sie eine junge, hübsche und willige Dame sein. Sie würde mit ihm tanzen, mit ihm trinken und sich mit ihm ins Bett legen. Slater hatte das alles sorgfältig arrangiert, wie er auch die Mikrophone hatte anbringen lassen, um jede Sekunde seines Lebens überwachen zu können. Slater wollte dafür sorgen, daß Paul es bequem hatte. An seinem Essen und Trinken hatte Paul nie etwas auszusetzen gehabt. Man hatte ihm die Bücher gekauft, die er sich gewünscht hatte, die Anzüge und die Hemden. Jeden Monat wurde ein dicker Scheck für ihn ausgestellt, den Carnell oder Conklin in seinem Namen auf der Bank eingereicht hatte. Sein Guthaben auf der Bank war inzwischen zu einer großen Summe angewachsen. Seit seiner ersten Begegnung mit Karin vor fünf Jahren war sie seine ständige Gefährtin gewesen und hatte sich nur aus seiner Nähe entfernt, wenn ihr einmal der Sinn danach stand oder die Pflicht sie in eine andere Stadt rief. Ja, Slater hatte alles getan, damit Paul es in seinem Gefängnis aushalten konnte. Ob Paul glücklich war oder nicht, interessierte ihn nicht. Und eine neue Welt brauchte eine neue Bevölkerung.
Paul fragte sich, ob die neue Frau in dem Appartement nebenan wieder als Agentin auf ihn angesetzt wurde oder nur vorübergehend importiert war, um ihm angenehm die Zeit zu vertreiben. Vielleicht verließ Slater sich diesmal ganz auf die Abhörmikrophone, um Paul auszuspionieren. In diesem Fall war das Mädchen nur engagiert worden, um seine Wünsche zu erfüllen. Oder Slater wollte sein Vorhaben doppelt absichern und hatte ihm auch noch eine Agentin ins Haus geliefert. Slater konnte sich denken, daß Paul sofort herausfand, was sich hinter der Stirn seiner Gefährtin versteckte. Das störte Slater offenbar nicht. Das Mädchen wohnte nebenan, und Paul konnte sich bedienen. Slater sorgte eben für alles. Paul lehnte sich im Sessel zurück, schloß die Augen und streifte in Gedanken durchs Haus. Einige Zimmer waren bewohnt; aber da er diese Leute noch nicht kennengelernt hatte, spürte er nur ihre Gegenwart. In einer halben Stunde hatte er im Geist das ganze Haus durchkämmt und sich mit seiner Einrichtung vertraut gemacht. In den Fernmelderäumen waren die Leute bereits an der Arbeit, und er erfaßte das vage Bild eines Mädchens in der Telefonzentrale. Ein Mann lungerte an der Hintertür, und ein anderer schritt im Hof auf und ab. Ein großer Speisesaal befand sich im rechten Seitenflügel, und der kleine Speisesaal war im entgegengesetzten Flügel unterge-
bracht. Ein paar Angestellte aßen in der Küche. Im ersten Stock lagen mehrere gleichgroße Räume nebeneinander. Sahen aus wie Klassenzimmer. Natürlich – dort würden die neuen Agenten ausgebildet werden. Sie wurden aus allen Himmelsrichtungen hier zusammenkommen, um den neuen Geheimschlüssel zu studieren und ihre Kenntnisse im Handwerk der Spionage aufzufrischen. Paul würde sich unter die Schüler mischen, als gehörte er zu ihnen, während er in Wirklichkeit ihren Geist studierte und tief in ihre Gedankenwelt eindrang. Dann würde Paul sich wie ein Schmarotzer in ihrem Verstand einnisten und immer in Gedanken diesen Spionen wie ein Schatten folgen, wenn man sie in die Welt hinausschickte. Ein vollkommenes Spionagenetz würde den Erdball überziehen, das durch geistige, unsichtbare Fäden mit der Zentrale verbunden war, während die Telegramme einliefen, die zu den Akten gelegt wurden, weil sie nur zur Tarnung abgeschickt wurden. Und wurde ein Agent daran gehindert, eine verschlüsselte Botschaft an die Zentrale zu senden, würde Paul trotzdem empfangen, was der Agent seinen Vorgesetzten mitteilen wollte. So sah Pauls Arbeit für die nächsten Jahre aus. Paul kehrte in Gedanken wieder zu seinem Zimmer zurück und studierte die versteckten Mikrophone. Es hatte keinen Sinn, sie zu zerstören, weil man
sie doch nur durch neue ersetzen würde. Vielleicht war es besser, sie vorübergehend außer Betrieb zu setzen. Wenn er dabei vorsichtig zu Werk ging, würde er keinen Verdacht erregen und sich seine Privatsphäre trotzdem erhalten. Paul streckte behutsam seine geistigen Fühler aus und studierte die Konstruktion der verborgenen Lauscher. Er entdeckte eine entscheidende Stelle, eine kleine Lötverbindung. Es kostete ihn wenig Mühe, die Verbindung zu lösen. Das Mikrophon funktionierte nicht mehr. Rasch wendete Paul sich in Gedanken seinen Leibwächtern zu, die in dem Zimmer im anderen Flügel die Abhöranlage bedienten. Er bemerkte keine Reaktion. Paul stand auf und schloß die Tür zu seinem Studierzimmer, so daß die Mikrophone nebenan kein Geräusch auffangen konnten. Dann sprach er ein paar Sätze. Das Echo blieb diesmal aus. Er lachte laut auf bei der Erinnerung an Roy, der ihn einen Betrüger genannt hatte, weil er sich geweigert hatte, auf telekinetische Weise einen Bleistift vom Tisch rollen zu lassen. In Gedanken stellte Paul die Lötverbindungen in den Mikrophonen wieder her und ging pfeifend zur Eingangstür seines Appartements. Als er hinaus auf den Korridor trat, kam einer der Leibwächter um die Ecke. »Hallo«, begrüßte Paul den Mann, »ich möchte mir jetzt gern mal das Haus anschauen.«
»Jawohl, Sir«, sagte der Agent und drückte auf den Knopf neben dem Fahrstuhl. Als Paul von seiner Inspektionstour zu seinem Appartement zurückkehrte, hörte er das Wasser im Badezimmer des Nachbarappartements laufen. Seine Gefährtin war also inzwischen eingetroffen. Ehe er die Tür seines Appartements schließen konnte, klopfte es leise, und der Butler stand vor ihm. »Verzeihen Sie, Sir. Das Abendessen wird um sieben serviert. Wollen Sie zusammen mit den anderen Herren im Speisesaal essen oder wünschen Sie, auf Ihrem Zimmer zu speisen?« »Heute abend würde ich lieber in meinem Zimmer speisen«, antwortete Paul nach kurzer Überlegung. »Sehr wohl, Sir. Ein oder zwei Gedecke, Sir?« Paul warf ihm einen überraschten Blick zu und betrachtete dann die Verbindungstür zum Nachbarappartement. »Decken Sie für zwei«, sagte er dann. »Jawohl, Sir«, antwortete der Butler und zog sich wieder zurück. Paul rasierte sich und zog sich um. Dann ging er unschlüssig in seinem Appartement auf und ab. Wie sollte er denn eine total fremde Frau zum Abendessen einladen – noch dazu in seiner Wohnung? Er hatte das noch nie getan. Es fehlte ihm die Erfahrung. Er konnte doch nicht einfach an die Verbindungstür ge-
hen, mit der Faust dagegen schlagen und rufen: »Kommen Sie schnell rüber, sonst wird die Suppe kalt!« Aber die Dame nebenan war doch nicht unvorbereitet. Sie kannte bestimmt schon seinen Namen. Warum sollte er nicht einfach an ihre Tür klopfen, sie zum Essen einladen und auf ihre Antwort warten? Sie konnte doch nur ja oder nein sagen. So einfach war das! Er ging an die Verbindungstür und klopfte. »Ja?« kam die Stimme durch die Tür. Eine angenehme weiche Stimme, die er sofort sympathisch fand. »Ich habe ein Abendessen für sieben Uhr bestellt! Für zwei Personen! Darf ich Sie einladen?« »Wie? Ja, vielen Dank. Ich komme gleich hinüber.« In ihrer Stimme schien ein spöttischer Unterton zu liegen. Er wartete nervös, die Hände in den Taschen vergraben. Sie ging auf die Tür zu. Er sah, wie die Klinke sich bewegte, und nahm die Hände rasch aus den Hosentaschen. Die Tür ging auf, und ein Mädchen kam herein. Sie war sehr hübsch, wenn sie so lächelte. Paul starrte sie an. »Gütiger Himmel!« stammelte er. »Hallo, Paul!« sagte Martha Merrill vergnügt. »Sie erinnern sich also noch an mich!«
»Ich sah Sie – sah Sie vor fünf Jahren in der Vermittlung im Hotel!« »Sehr richtig. Ich habe damals in der Telefonzentrale ausgeholfen. Ich habe inzwischen erfahren, daß Sie sich nach mir erkundigt haben.« Sie streckte ihm beide Hände hin. »Ich habe mich inzwischen in die Höhe gearbeitet.« Sofort bemerkte sie, daß sie diesen Satz nicht hätte sagen dürfen. Paul runzelte die Stirn und warf einen raschen, verstohlenen Blick über ihre Schulter in das angrenzende Appartement. Martha studierte ihn. Ein Schatten des Unmuts glitt über ihr Gesicht. »Mir gefällt das aber gar nicht, was Sie da denken, Paul.« »Ich bitte um Entschuldigung. Sie haben mich überrumpelt.« Sie zögerte noch. »Also gut«, sagte sie dann, »ich werde Ihnen verzeihen.« Sie streckte die rechte Hand aus, und Paul ergriff sie. »Mixen Sie mir einen Drink?« »Mit Vergnügen.« Er führte sie zu der getarnten Bar im Arbeitszimmer und schloß dann die Tür hinter sich. Dann legte er warnend den Zeigefinger auf die Lippen und schloß die Augen. Die Lötstelle in den Mikrophonen brach, und die Mikrophone waren außer Betrieb. Dann wirbelte er herum und packte das Mädchen an beiden Armen.
»Sie haben geschrien!« stieß er erregt hervor. Martha nickte. »Ja, Paul, ich habe geschrien.« »Sie – Sie waren damals nicht auf der Straße, wo die Schüsse fielen!« »Nein, ich war zu Hause. Ziemlich weit weg von der Botschaft.« »Und Sie haben mich beobachtet?« Seine Aufregung wuchs. Martha griff nach seinen Händen und löste sanft seine Finger von ihren Armen. »Paul, ich habe Sie seit fünf Jahren beobachtet und belauscht. Seit dem Tag, als Sie in Washington eintrafen und an meinem Klappenschrank in der Telefonvermittlung vorbeikamen.« »Martha«, flüsterte er, »was bist du für eine Frau?« Sie lachte ihn glücklich an. »Das gleiche wie du, Paul. Oder fast das gleiche.« Sie deutete an die Zimmerdecke. »Ich konnte die Mikrophone nicht entdekken. Ich hätte auch die Lötstelle nicht aufbrechen können, wie du das getan hast, Paul.« »Aber du liest meine Gedanken? Hast es immer getan?« »Natürlich habe ich das. Vergib mir Paul; aber ich habe mich köstlich amüsiert, als du unschlüssig vor der Verbindungstür auf und ab gegangen bist.« Sie wich einen Schritt zurück. »Und jetzt solltest du die Mikrophone wieder in Betrieb setzen und eine
Champagnerflasche öffnen. Sonst wird jemand mißtrauisch.« »Aber ich möchte nur ...«, rief er. »Tue jetzt, was ich dir sagte«, drängte sie. »Wir müssen den Schein wahren. Laß den Korken knallen, bitte!« Widerstrebend griff er mit seinen Gedanken zu den Lötstellen hinauf und setzte die Mikrophone wieder in Betrieb. Martha entdeckte die versteckte Hausbar und stieß einen kleinen Ruf des Entzückens aus. Dann bat sie um ein Glas Champagner. »Sie haben ja eine herrliche Wohnung – prost!« Sie stieß mit Paul an und brachte ihn zum zweitenmal auf der Fassung. ›Es ist doch nicht nötig, laut zu sprechen, du Dummer!‹ Sie warf ihm den Gedanken an den Kopf, ohne die Lippen zu bewegen. ›Gebrauche doch deinen Verstand!‹ Paul starrte sie mit offenem Mund an und stammelte laut: »Aber ich ...« ›Ich bin einfach nicht daran gewöhnt‹, setzte er dann in Gedanken fort. ›Was ist nur los mit mir?‹ ›Du hattest keine Gelegenheit, dich im geistigen Dialog zu üben wie ich‹, erwiderte sie telepathisch. ›Übung? Du hast Übung darin? Wie kommt das?‹ ›Ich habe zwei Brüder, Paul. Sie sind so wie ich. Alles Telepathen. Und du bist der vierte, den wir entdeckt haben!‹
»Mich laust der Affe!« sagte er laut. »Ach, ich hole schnell einen Lappen und wische den Sekt auf«, erwiderte Martha geistesgegenwärtig und deutete dann auf die Stelle, wo die Mikrophone versteckt waren. ›Wo sind deine Brüder?‹ fragte Paul in Gedanken. ›Im Augenblick zu Hause auf den Inseln.‹ Sie nahm Paul bei der Hand und führte ihn zum Sofa. ›Frag doch nicht so viel, Paul. Schau mich an. Mein Geist steht dir offen.‹ Sie drängte ihn auf das Sofa nieder, setzte sich neben ihn und hielt seine Hand. ›Blicke in meinen Geist ...!‹ Paul schloß die Augen und wagte sich vorsichtig in ihr Bewußtsein. Er sah ihren Vater und ihre Mutter. Er sah Marthas Brüder. Die Kinder waren Telepathen, die Eltern nicht. Der Vater gehörte zu den Einsichtigen, die auch das Seltsame, Unvertraute akzeptieren konnten. Er respektierte die eigenartige Begabung seiner Kinder, ermutigte und schützte sie. Er hatte an dem Plan mitgearbeitet, wie seine Kinder ihr Talent vor der Welt geheimhalten konnten, obwohl er im stillen mächtig stolz auf das Talent seiner Kinder war. Sie wohnten auf den westindischen Inseln, aber weit entfernt von den Plätzen, wo sich die Touristen zusammendrängten und sich die Handelszentren befanden. Sie hatten sich auf einer winzigen Insel ver-
steckt, die nur ab und zu von den Schonern der Eingeborenen angelaufen wurde. Ihr Vater war britischer Staatsbürger, hatte früher im Staatsdienst gearbeitet und sich ein Haus im Inneren der Insel gebaut. Ihre Brüder befanden sich im Augenblick bei ihren Eltern. Der eine war eben aus London gekommen, der andere bereitete sich auf eine Reise nach Südafrika vor. Marthas offizielle Adresse war Savannah in Georgia. Sie besaß auch gefälschte Dokumente, die ihren »Lebenslauf« belegten, wenn sich jemand für ihre Vergangenheit interessieren sollte. Und man hatte Marthas Vergangenheit natürlich genau unter die Lupe genommen, ehe sie eine Stelle beim Geheimdienst bekam. Ihre Dokumente und ihre Tarnung in Savannah hatten den Test bestanden. Sie war aus dem gleichen Grund nach Washington gezogen, aus dem ihre Brüder nach London oder Kapstadt gereist waren: Sie wollte nach Menschen suchen, die genauso veranlagt waren wie sie. Bis jetzt hatte sie nur noch einen ihresgleichen entdeckt – Paul Breen. Der Geheimdienst hatte sie nicht enttäuscht. Er hatte, wie sie richtig vermutete, als Anziehungspunkt für einen Telepathen gewirkt. Denn natürlicherweise würden sich Telepathen am ehesten beim Geheimdienst melden oder am frühesten vom Geheimdienst entdeckt werden. Ihr Vater hatte davon geträumt, daß seine Insel, ein
ganzes Land oder sogar die ganze Welt nur noch von Telepathen bewohnt sein würden. Inzwischen gab es allerdings nur vier, und diese vier Telepathen sollten zusammenhalten. Martha wollte keinen Mann heiraten, der ihr Talent nicht mit ihr teilte. Und da sie ja nicht einen ihrer Brüder zum Mann nehmen konnte, hatte sie um so gründlicher geforscht. Und eines Tages begegnete sie Paul. Warum hatte sie sich nicht früher zu erkennen gegeben? Ihre Brüder hatten sie vor voreiligen Schritten gewarnt. Schließlich war Paul ja bei dem CIC gut aufgehoben gewesen. Sollte sich allerdings herausstellen, daß man Paul seine persönliche Freiheit nicht wiedergeben wollte, hätten Marthas Brüder eingegriffen. Paul hatte eben den Fehler gemacht, sich zu früh als Telepath zu offenbaren und sich einer geheimen Regierungsbehörde auszuliefern. Als freier Mann hätte er wahrscheinlich schon längst Kontakt mit Martha aufgenommen. Auf jeden Fall hatte Martha den Rat ihrer Brüder befolgt und Paul aus der Ferne beobachtet. Als die Villa in Maryland als Spionagezentrale ausgebaut werden sollte, hatte Martha von Slaters Plänen erfahren, Paul eine Gefährtin zuzuteilen. Da Slater nichts von Marthas Talenten ahnte, hatte er sich auch nicht vor ihr abschirmen können. Wahrscheinlich hatte er eines Tages zu seiner eigenen
Überraschung feststellen müssen, daß er seine Pläne geändert hatte. Er strich eine andere Kandidatin von der Liste und bestellte Martha Merrill in sein Büro. Er eröffnete ihr seinen Plan, Paul von einer Agentin überwachen zu lassen, und beschrieb ihr, was sie in dieser Eigenschaft alles erwarten würde. Nach einer kurzen Bedenkzeit nahm sie den Posten als Vertraute und Schnüfflerin an. Auf diese Weise waren alle zufriedengestellt. Paul und Martha waren endlich zusammen. Die Zukunft würde über ihre nächsten Schritte entscheiden. ›Hoffentlich war sie nicht zu dreist vorgegangen?‹, dachte Martha verschämt. »Um Gottes willen!« protestierte Paul laut und sah sich dann schuldbewußt um. Martha lachte laut auf. ›Und was ist mit deinen Brüdern?‹ fragte er in Gedanken. Dave, der ältere Bruder, war Auslandskorrespondent für die Times in London. Es gab wohl keinen besseren Vorwand und keine bessere Tarnung, wenn man die Welt durchstreifen wollte, um nach Telepathen zu suchen. Marty, der jüngere Bruder, war als Reiseleiter für das Reisebüro American Expreß beschäftigt. Ihre Eltern hüteten das Haus auf der Insel und bereiteten es als Zuflucht für Telepathen vor, wenn die Zeit dafür reif war. Konnte sie sich noch daran erinnern, daß er
Conklin um eine Verabredung mit ihr bat und sie Sonderurlaub genommen hatte, weil jemand zu Hause lebensgefährlich erkrankt war? Natürlich konnte Martha sich daran erinnern. Sie war auf Umwegen zu ihren Eltern gereist, um ihnen ihre Entdeckung mitzuteilen. Wäre sie nicht so spontan abgereist, hätten sie sich schon damals kennenlernen können. Sie bereute später dieses Versäumnis, aber es ließ sich nicht mehr ändern. Der Schock und die Erregung ihrer Entdeckung, als Paul an der Telefonzentrale vorbeiging, waren so groß gewesen, daß sie die Neuigkeit sofort ihren Verwandten mitteilen mußte. Paul rieb sich die Augen und öffnete den Mund, um etwas laut zu sagen, als es an der Tür klopfte. Singer kam mit dem Abendessen.
Fünfzehn: 1950–1952 Er blickte sie unentwegt über den Tisch hinweg an. »Du bist schön«, erklärte er ihr ganz offen. »Das ist mir schon vor fünf Jahren aufgefallen. Und daran hat sich inzwischen nichts geändert.« »Vielen Dank für das Kompliment, Paul. Aber dein Essen wird kalt.« Er ließ seinen Gedanken freien Lauf, während er aß. (Dein Haar gefällt mir. Ich habe schon immer für langes Haar geschwärmt. Auch deine braunen Augen – ich glaube, das ist eine perfekte Kombination, braune Augen und braune Haare. Nur deine Haut ist ein bißchen blaß. Du solltest öfters in der Sonne Spazierengehen. Nicht, daß ich mich beklagen will. Du hast so wundervolle ...) Er stockte, lief dunkelrot an und verschluckte sich fast. »Schon gut«, sagte sie lachend, »diesmal verzeihe ich dir noch einmal.« (Du kannst meine Gedanken mühelos lesen! Das ist nicht fair! Ich bringe das bei dir nicht fertig.) Paul hörte auf zu essen und starrte sie an. ›He – warum habe ich nicht gemerkt, daß du hinter der Verbindungstür gewartet hast?‹ Er schleuderte die Frage in Gedanken über den Tisch. ›Du hast mich doch gesehen, als ich unschlüssig auf und ab wanderte!‹
Sie lächelte. ›Es gibt eben kleine Unterschiede zwischen unseren Talenten, Paul. Ich besitze etwas, was du nicht hast, und umgekehrt.‹ ›Was unterscheidet uns?‹ fragte er in Gedanken. ›Ich besitze keine Veranlagung zur Telekinese. Ich kann die Mikrophone nicht unterbrechen, wie du das gemacht hast. Und ich empfange auch nicht wie ein Radarschirm die Ausstrahlungen von Gegenständen und fremden Leuten meiner Umgebung‹ erwiderte sie telepathisch. ›Ich hätte die Mikrophone nicht entdeckt. Ich kann auch nicht die Räume, die ich nicht sehe, in Gedanken durchforschen. Aber ich kann deinen Gedanken dorthin folgen und so deine übersinnlichen Wahrnehmungen teilen.‹ ›Und was besitzt du, was ich nicht habe?‹ ›Ein gedankliches Schutzschild gegen deine Neugierde.‹ ›Du kannst meine Gedanken abprallen lassen?‹ fragte er erstaunt im Geist. Martha nickte. ›Versuche, meine Gedanken zu lesen – jetzt!‹ Paul versuchte es. Er tastete ihren Geist ab, der sich plötzlich in einen Panzer verwandelt zu haben schien. Wie sehr er sich auch abmühte, eine Lücke oder einen Spalt zu entdecken, durch den er in ihr Bewußtsein hineinschlüpfen konnte – es gelang ihm nicht. Ihr Gehirn war plötzlich wie von einem Nebel verhüllt,
aus dem kein Geräusch herausdrang. Kein Wunder, daß er die Unbekannte nicht aufspüren konnte, die damals in der Nacht, als die Schüsse fielen, geschrien hatte. »Wie machst du das nur?« fragte er laut. »Ich werde dir das gern zeigen, wenn du mir beibringst, was ich noch nicht kann«, erwiderte sie zweideutig. Sie streckte ihm die Hand über den Tisch hin. »Abgemacht?« Er schlug ein. »Abgemacht!« Die Männer an der Abhöranlage schüttelten die Köpfe. Mit den gesprochenen Sätzen des Tischgesprächs konnten sie nicht viel anfangen. Dann trafen die ersten Agenten zur Ausbildung in Maryland ein, und Paul nahm die Arbeit auf, die Slater ihm zugedacht hatte. Alle Zimmer des Hauses schienen nun besetzt zu sein. Doch er entdeckte rasch, daß nicht alle Neuankömmlinge in dem Haus ausgebildet werden sollten. Unter den »Schülern« befanden sich auch Sicherheitsagenten, die die Studenten überwachen sollten, und der Stab des Hauses war inzwischen ebenfalls erweitert worden. Die »Wachhunde« unter den Agenten waren überall im Haus zu finden. Eine Köchin und ein Chauffeur gehörten zu diesen geheimen Aufpassern, und das Zimmermädchen im zweiten Stock mußte nicht nur Martha über-
wachen, sondern war für alle Hausangestellten in der Villa zuständig. Sie sollten aufpassen, obwohl sie eigentlich nicht genau wußten, worauf sie achten sollten. Mit der Zeit hatte sich Paul mit einer Gruppe von sechs Agenten geistig vollkommen vertraut gemacht. Er kannte sie in- und auswendig und konnte sie mühelos überall hin begleiten – Tag und Nacht, im Schlafen oder im Wachen. Als man sie nach Washington und nach Miami schickte, um die EntfernungsTests durchzuführen, weilte er in Gedanken bei ihnen. Ohne es zu wissen, bestanden die sechs ihre Prüfung, und waren jetzt bereit zum Einsatz. Paul informierte den Leiter des Ausbildungszentrums in Maryland – einen gewissen Generalleutnant Boggs –, und die sechs Leute bekamen ihre Einsatzbefehle. Sofort begann das Training mit einer neuen Gruppe von Anwärtern. Generalleutnant Boggs war der zwölfte Mann, der offiziell in Pauls Geheimnis eingeweiht wurde. Wenigstens glaubte Slater, daß es bisher nur zwölf Eingeweihte gegeben hatte. Er wußte nichts von Martha Merrill und ihrer Familie und auch nichts von Karins Rückschlüssen. Und Boggs gefiel sein neuer Status gar nicht, obwohl er sich seinen Pflichten nicht entzog. Er betrachtete Paul mit Argwohn und Mißtrauen und hielt Distanz zu dieser »Mißgeburt«.
Nachdem man das erste Kontingent ins Ausland geschickt hatte, stellten sich bald Erfolge ein. Paul wußte von gewissen Vorgängen in Ostdeutschland, ehe die Nachricht durch die üblichen Kanäle nach Washington gelangte. Prompt verlangten die Vereinigten Staaten von Rußland, die Volkspolizei in Ostdeutschland aufzulösen, weil sie in Wirklichkeit nur den Kader für eine neue Armee bilden sollte. Im Juli kam die Botschaft, daß Rußland seinen Vertreter bald wieder in den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zurückschicken würde, und als dieses Ereignis eintrat, war niemand davon überrascht. Noch mehr Agenten wurden ausgebildet und bestanden ihre Prüfung. Doch nicht alle wurden ins Ausland geschickt. Slater hatte eben auch eigene Pläne ... ›Wie geht es voran?‹ fragte Martha in Gedanken. ›Gar kein Problem. Es läuft alles wie geschmiert. Siehst du jetzt, was er vorhat?‹ ›Slater? Ja. Er spinnt sein eigenes Netz.‹ ›Ist dein Bruder Dave augenblicklich in London?‹ ›Nicht im Augenblick. Aber er wird bald dort eintreffen.‹ ›Bitte ihn darum, nach Irland zu reisen, wenn er die Zeit dazu hat. Er möchte dort einen Mann namens Walter Willis aufspüren. Ich bin überzeugt, daß wir diesen Mann näher kennenlernen sollten.‹
›Willis? Ich kenne den Namen.‹ ›Tatsächlich? Woher kennst du Ihn?‹ ›Er ist schon im Büro aufgetaucht. Nicht in einem Gespräch, sondern in Gedanken. Willis ist einer von Slaters Agenten. Er empfängt Nachrichten von Willis und tauscht Sendungen mit ihm aus.‹ ›Bist du sicher, daß er in Funkkontakt mit Willis steht?‹ ›Ganz sicher, Paul.‹ ›Ist das alles, was du von Willis weißt?‹ ›Das ist alles. Er ist einer von hundert Namen, die ich im Lauf der Jahre aufgefangen habe. Ist er irgendwie an Slaters Netz beteiligt, Paul?‹ ›Ich glaube ja. Ich habe immer auf etwas Greifbares in Verbindung mit Willis gewartet, weil Slater versucht hatte, diesen Namen vor mir geheim zu halten. Slater hat dir nicht mißtraut, und deshalb hat er auch nichts vor dir verborgen. In Gedanken, meine ich. Aber du hast diesem Namen keine besondere Bedeutung beigemessen.‹ ›Das tut mir leid, Paul. Ich hätte Slaters Gedanken besser erforschen sollen.‹ ›Du hattest keinen Grund dazu. Er hat dich nicht zu täuschen versucht wie mich. Vielleicht kann dein Bruder etwas Wichtiges in Irland entdecken. Und warne ihn vor diesem Mann – Willis ist gefährlich.‹ ›Ich werde es ihm übermitteln. Sei ein guter Junge,
Paul, und komm so rasch nach Hause, wie du kannst. Ich habe Sehnsucht nach dir!‹ »Und jetzt, Mr. Breen«, sagte der Klassenleiter, »kommen Sie erst an die Tafel und verschlüsseln die Botschaft, die ich dort angeschrieben habe!« Bis zum Jahresende hatte Paul mindestens fünfzig Agenten durch die telepathische Prüfung geschleust. Er hielt zwar die Verbindung zu allen Agenten aufrecht, konnte sie aber nicht ununterbrochen im Geist beobachten, wie er das früher bei Peter Conklin getan hatte. Er war gezwungen, den Kontakt zu den einzelnen Männern im Einsatz zu unterbrechen und sie der Reihe nach flüchtig abzutasten. Nur wenn die Agenten eine besonders wichtige Beobachtung machten, konzentrierte er sich längere Zeit voll auf diese Männer. Paul unterbrach für eine Weile diese rasche Expansion der Spionageorganisation. Er täuschte einen Rückfall vor – eine Krankheit, die seine telepathischen Fähigkeiten erstickte. Eine Zeitlang empfing er nichts und hatte keinen Kontakt mehr mit den Agenten. Der Arzt eilte an sein Krankenlager und untersuchte die Narbe im Nacken, konnte aber daraus keine Rückschlüsse auf Pauls Geisteszustand ziehen. Paul beschwerte sich bei General Boggs, daß man ihm zu viel Arbeit zumutete und er seit Tagen den Kontakt mit einer Reihe von Agenten verloren hatte, ehe die Krankheit akut wurde.
Die »Funkstille« dauerte über eine Woche und brachten Boggs und Slater fast zur Verzweiflung. Sie sahen ihr raffiniert gesponnenes Spionagenetz bereits in Fetzen gerissen. Slater fragte Dr. Roy um Rat. Doch Roy erwiderte höhnisch, daß er Paul Breen doch viel weniger gut kannte als der Arzt, der ihm täglich den Puls fühlte. Weshalb kam Slater jetzt zu ihm und bat ihn um Rat, nachdem er ihn jahrelang von Paul Breen ferngehalten hatte? Paul und Martha genossen den Wirbel und die Aufregung. Am Silvesterabend starb ein Agent in Wladiwostock. Sein Tod schien eine Lawine auszulösen. Am Neujahrstag begannen die chinesischen Kommunisten mit ihrer Invasion in Korea, und gleichzeitig begann Kanada an der Atombombe zu basteln. Paul meldete beide Ereignisse, bevor die Meldungen über den Funk einliefen. ›Paul?‹ ›Ja?‹ ›Dave ist wieder in Irland. Er neigt dazu, dir recht zu geben. Dieser Mann scheint ein getarnter Agent zu sein.‹ ›Ja. Conklin hat das ebenfalls festgestellt. Nur wenige haben von ihm gehört, doch keiner möchte etwas über ihn aussagen.‹ ›Glaubst du, er steckt mit Slater unter einer Decke?‹
›Wahrscheinlich. Slater zeigte deutliche Schuldreaktionen, als er versuchte, seinen Namen vor mir zu verbergen. Es ist merkwürdig, daß keiner von den Agenten, die hier ausgebildet wurden, nach Irland geschickt wurde. Sie sind über die ganze Welt verteilt worden. Doch keiner von ihnen arbeitet in Irland! Überall, nur nicht in Irland!‹ Der Sommer kam wieder ins Land. Martha und Paul verbrachten viele Stunden im Freien. Nach einem merkwürdigen, ungeschriebenen Gesetz benützte keiner das Schwimmbecken, wenn Martha und Paul sich darin tummelten. Nur das Zimmermädchen hielt sich unauffällig in der Nähe auf und eilte beflissen mit den Badetüchern ans Becken, wenn sie aus dem Swimming-pool herauskletterten. Auch bei den Spaziergängen ließ man sie allein, wenn Paul darauf bestand. »Mir scheint, man traut uns nicht«, sagte Martha als man sie nicht mehr belauschen konnte. »Unser leisester Wunsch ist für sie Befehl«, murmelte Paul, »solange unsere Wünsche ihren Wünschen nicht entgegenstehen.« »Das Haus ist wie ein Gefängnis. Manchmal frage ich mich, was hinter dieser Mauer vorgeht.« »Ich möchte nicht mit dem Finger deuten; aber zwei Posten stehen dort drüben im Wald, uns genau
gegenüber. Sie haben dich lachen hören und sich darüber mokiert.« »Ich kann nicht ...« Sie zögerte und tastete mit ihren Gedanken nach den Männern. »Jetzt habe ich sie. Ich habe schon viel dazugelernt, Professor. Weißt du, was ich heute nacht getan habe? Ich habe das Mikrophon in meinem Badezimmer außer Betrieb gesetzt.« »Sei vorsichtig«, warnte Paul erschrocken. »Sie dürfen nicht ahnen, daß du bist, was du bist. Das wäre tödlich für dich.« »Keine Bange, Paul ... Die Posten da drüben – ich kann ihre Gedanken ganz gut lesen. Sie beneiden uns.« Paul nickte. »Auch das.« Sie gingen jetzt im Park an der Mauer entlang. Paul entdeckte einen Posten auf einem Baum. »Siehst du ihn?« fragte Paul. Sie suchte in seinem Bewußtsein den Baum ab, der sich als scharfes Bild deutlich von den anderen Bäumen abhob. »Nein – wo?« »Ich werde ihn zwingen, sich zu bewegen. Paß auf.« Der getarnte Baumposten neigte sich plötzlich zu weit nach vorn. Fast wäre ihm dabei das Gewehr aus der Hand gefallen. Er griff hastig nach, um es festzuhalten. »Ja, jetzt habe ich es gesehen. Und ich erkenne jetzt noch mehr Baumschützen.«
»Ja, sie umgeben das ganze Grundstück. Sie können uns dauernd beobachten. Der Bursche, der fast vom Baum heruntergefallen wäre, starrt jetzt deine Beine an.« Martha trug Shorts nach dem Baden. »Jeder tut das«, sagte sie, »nur du nicht. Ich habe noch nie gemerkt, daß du meine Beine betrachtest.« Er lachte und suchte dann aus seinen Erinnerungen ein besonders pikantes Bild heraus. Er schob es in den Vordergrund seines Bewußtseins, bis sie tief errötete. »Hör auf, Paul«, sagte sie, »das ist nicht fair!« Kurz vor Weihnachten brachte Paul wieder Sand in das Getriebe. Er überwachte inzwischen siebzig Agenten und warnte General Boggs mit unmißverständlichen Worten, daß jetzt die Grenze seiner Belastbarkeit erreicht sei. Er unterstrich diese Warnung mit Klagen über Kopfschmerzen und verstümmelten Berichten. Manchmal berichtete er tagelang gar nichts, obwohl die verschlüsselten Funkberichte der Agenten regelmäßig in der Zentrale einliefen. Boggs befürchtete einen Rückfall in eine totale telepathische Blindheit wie im vergangenen Jahr und steckte seine ehrgeizigen Pläne etwas zurück. Die meisten Mitglieder des Stabes bekamen Weihnachtsurlaub. Auch Martha wurden ein paar Tage Urlaub zugestanden, als sie darum bat. Aber man gab ihr einen Agenten zur Beschattung mit und warnte sie eindringlich vor
den Folgen eines Verstoßes gegen die Schweigepflicht. ›Paß gut auf dich auf‹, warnte Paul. Er stand am Fenster seines Wohnzimmers und beobachtete den Packard, der das Tor in der Mauer passierte. Martha saß im Fond und unterhielt sich mit dem jungen Agenten, der ihr als Schatten zugeteilt worden war. Der Agent war entzückt darüber, daß sie ihre Urlaubsreise allein antrat. Sie strahlte ihren Begleiter an und dachte an Paul: ›Ich werde es beherzigen, Darling. Ich werde ein paar Tage in Savannah verbringen – nur um den Schein aufrechtzuerhalten. Ich komme bald zurück – noch zu Weihnachten! Schau mal, was mein hübscher Begleiter mit mir vorhat!‹ Der Agent neben ihr machte seinen ersten Eröffnungszug, um sie zu überreden, das Weihnachtsfest mit ihm zu verbringen. »Meine Eltern würden Sie verwöhnen, Martha!« ›Was untersteht er sich!‹ dachte Paul wütend, ›zahl es ihm heim, Martha! Blas ihm ein paar Ameisen unter die Hose.‹ ›Nein, Paul, das kann ich nicht.‹ ›Ich gehöre zu den eifersüchtigen Typen‹, erwiderte Paul, ›wenn er wagt, seine Hand auf dein Knie zu legen, zahle ich es ihm heim.‹ Als der Packard sich der Stadtgrenze von Washing-
ton näherte, zuckte der junge Agent plötzlich zusammen. Er griff sich an die Kehrseite und lief dunkelrot an. Der Fahrer drehte sich um. »Was haben Sie denn?« »Eine Wespe hat mich gestochen!« »Eine Wespe? Jetzt im Dezember? Sie sind wohl nicht ganz bei Trost!« Paul stand immer noch am Wohnzimmerfenster und pfiff lächelnd vor sich hin. Martha kehrte am frühen Nachmittag des Weihnachtstages wieder nach Maryland zurück, wie sie es versprochen hatte. Sie schien sehr erregt zu sein. Paul hatte schon seit Stunden nach dem Packard Ausschau gehalten und entdeckte ihn bereits, als er noch viele Meilen von der Villa entfernt war. ›Paul, mein Bruder war in Savannah!‹ ›Du hast ihn doch hoffentlich nicht angesprochen ...?‹ ›Nein, natürlich nicht. Er übernachtete nur im gleichen Hotel, und ich habe im Speisesaal mit ihm Gedanken ausgetauscht. Paul, er hat Willis entdeckt!‹ ›Rasch, erzähle ...‹ ›Schau her, Paul. Ich habe alles auswendig gelernt. Es geht viel schneller, wenn ich dir mein Bewußtsein öffne.‹ Sie lüftete ihren Gedankenschleier, und ihr Bewußtsein lag nackt vor ihm. Es folgte ein langes, nachdenkliches Schweigen.
Der Packard bog von der Hauptstraße ab und näherte sich auf der Landstraße dem Ausbildungszentrum. Er hatte bereits das zweite Tor erreicht, als Paul sich wieder meldete. ›Das ist also Willis.‹ Paul seufzte tief. ›Ein unangenehmer Typ, nicht wahr? Und Slater behauptet, ein Patriot zu sein!‹ Sie sprach verbittert, fast verstört. ›Paul, was sollen wir jetzt unternehmen?‹ ›Ich weiß es noch nicht. Wir müssen abwarten, bis wir ihn zu Fall bringen können.‹ Der Packard hatte das zweite Tor passiert und steuerte der Auffahrt zu, als Martha einen neuen Gedanken aufgriff. ›Paul, was versteckst du vor mir?‹ fragte sie mißtrauisch. ›Ich? Etwas vor dir verstecken?‹ ›Tu nicht so scheinheilig! Ich spüre doch, daß da etwas nicht stimmt. Paul, du bist doch artig gewesen?‹ ›Aber Martha ...!‹ ›Warum sperrst du dich dann vor mir?‹ Sie spürte sein warmes Lachen. ›Komm her und laß dich überraschen, Liebling!‹ Er hielt die Schachtel mit dem kostbaren Verlobungsring, für den die Regierung viel Geld bezahlten mußte, in der rechten Hand verborgen und tarnte ihn sorgfältig vor ihren tastenden Gedankenfühlern.
Sechzehn: 1953 Sie stand in der halboffenen Tür, starrte in den leeren Korridor hinaus auf den Mann, der ihrem Blick verborgen blieb. Ihre Hand zuckte zum Mund, als müßte sie einen Schrei unterdrücken. Dann drehte sie sich wieder um. In ihren Augen stand die Angst. »Sei vorsichtig!« warnte er sie in Gedanken. ›Du ahnst nichts, weißt nichts!‹ »Paul ...« »Ja?« »Es war eine herrliche Zeit mit dir, Darling«, flüsterte sie. »Leb wohl.« Und dann war sie bereits draußen im Korridor, beiseitegeschoben von einem großen, gewichtigen Mann, der zwar Zivilkleidung trug, aber seinen militärischen Rang nicht verleugnen konnte. Er schloß die Tür hinter sich mit einer heftigen, entschlossenen Bewegung. Paul bewegte sich nicht aus seinem Sessel. »Oberst Johns?« »Da Sie ja bereits meinen Namen kennen – ja.« »Bitte treten Sie ein.« »Ich bin schon eingetreten.« »Danke. Ich habe das Abendessen aufs Zimmer bestellt. Werden Sie mit mir speisen?«
»Nein. Und das Essen wird auch nicht kommen.« »Oh?« Paul lehnte sich im Sessel zurück, die rechte Hand auf das aufgeschlagene Buch gelegt. »Und ...?« »Wir können uns die Förmlichkeiten sparen«, sagte der Oberst schroff und zog einen Dienstrevolver unter seinem Jackett hervor. »Keine berühmten letzten Worte, keine Henkersmahlzeit. Wenn Sie meinen Namen kennen, werden Sie auch wissen, daß Sie in meinen Augen eine Schlange sind. Und ich hasse Schlangen.« Er hob den Revolver in Augenhöhe und zielte sorgfältig. Paul Breen blieb ruhig in seinem Sessel sitzen. »Ich darf also nichts mehr sagen?« fragte er gelassen. »Nichts. Ihr Tod ist beschlossene Sache.« Der Finger krümmte sich um den Abzug. »Dann tun Sie mir leid. Leben Sie wohl, Oberst Johns.« Der Lauf der Waffe beschrieb blitzschnell einen Halbkreis und spuckte eine Mündungsflamme aus. Die Wände waren schalldicht, und die stillgelegten Mikrophone übertrugen keinen Laut aus diesem Zimmer. Die straffe, militärische Gestalt kippte auf den Boden. Der Oberst hatte sich den halben Kopf weggeschossen. Die Pistole entglitt seiner Hand und rutschte über den Parkettfußboden. Paul stand auf, warf einen kurzen Blick auf die Leiche und ging zur Verbin-
dungstür zu Marthas Appartement. Er drückte die Klinke nach unten und stieß rasch die Tür auf. Ein Mann blickte ihn entgeistert an. »Kommen Sie herein, Slater. Nur keine Hemmungen.« Slater stand im Durchgang und starrte ungläubig auf den Toten im Zimmer. »Er ist tot«, knurrte Paul. »Aus nächster Entfernung erschossen.« »Wie konnte das passieren?« fragte Slater atemlos. »Er hat sich selbst erschossen.« »Sie lügen!« Slater rückte ein paar Schritte vor, während die widersprüchlichsten Gefühle sich auf seinem Gesicht spiegelten. »Überzeugen Sie sich selbst.« Slater überzeugte sich. Er kniete sich neben der Leiche nieder und wich sorgfältig der Blutlache aus, die sich auf dem Fußboden ausbreitete. Dann blickte er hierhin und dorthin und kam langsam zu einem Entschluß. »Wie haben Sie das gemacht?« Paul lächelte ihn kalt an. »Das sollten Sie eigentlich selbst wissen. Sie haben doch Roy und Grennell lange genug ausgequetscht. Sie haben Carnell zu mir geschickt, damit er mich mit Fragen löchern sollte. Schauen Sie nur genau hin, Slater.« Er deutete auf den Toten. »Das ist Telekinese.«
»Sie haben ihn gezwungen, sich selbst zu erschießen?« »Ich hab die Pistole in seiner Hand herumgedreht. Und Sie sind der nächste.« »Was!« Slater sprang hastig auf und wich ein paar Schritte zurück. »Sie können mich nicht zwingen, mich selbst zu erschießen! Das können Sie nicht!« Paul sagte nichts. Irgend etwas bewegte sich am Rande des Blickfeldes, und Slater drehte rasch den Kopf, um die Bewegung genauer verfolgen zu können. Die Dienstpistole des Toten glitt langsam über das Parkett und blieb vor Slaters rechtem Fuß liegen. Slater machte einen Satz bis an die Wand. »Telekinese«, sagte Paul noch einmal. »Aber zuerst schicke ich Sie zur Hölle!« stieß Slater hervor und griff blitzschnell zu seinem Schulterhalfter. Als er die Hand wieder hervorzog, hielt er ebenfalls eine Dienstpistole in der Hand. Er hob die Waffe vor das Gesicht und stockte. Sein Gesicht wurde wachsbleich. Die Adern traten an seinem Hals hervor, und in seine Augen trat ein verzweifeltes Flackern. Dann drehte sich seine Hand langsam nach innen, bis der Lauf genau auf seine Stirn zeigte. Slater konnte seinen Kopf nicht mehr bewegen. Seine Hand schien eingefroren, nur seine Lippen bewegten sich noch. »Nehmen Sie das Ding weg!« flüsterte er heiser.
»Noch nicht – nichts, bis Sie gehört haben, was ich zu sagen habe.« »Ich werde Ihnen zuhören; aber nehmen Sie das Ding weg.« »Nein.« Paul sank in seinen Sessel zurück und betrachtete Slater mit kalten, harten Augen. »Ich habe keinen Sinn für Melodramatik, Slater. Ich werde mich kurz fassen und die Sache rasch zu Ende bringen.« »Ich höre«, rief Slater verzweifelt. »Es bleibt Ihnen ja keine andere Wahl«, erwiderte Paul ironisch. »Ich habe einen Fehler gemacht, Slater, vor vielen Jahren. Doch seitdem haben Sie einen Fehler nach dem anderen begangen. Ich habe mich als das zu erkennen geben, was ich bin – eine Mißgeburt in Ihren Augen. Wäre ich älter und weiser gewesen, wäre das nie geschehen. Doch ich vertraute Ihnen und kam mit nach Washington, um Ihnen in jeder erdenklichen Weise zu helfen. Sie wußten das und entschlossen sich rasch, mich auszubeuten. Und dann begannen die Fehler, die ich Ihnen nie vergeben werde. Sie haben den Scharfschützen vor der Botschaft postiert. Sie wollten mich töten, und deswegen mußten Sie mich aus meinem Haus herauslocken. Sie wollten mich beseitigen, weil Sie erfahren hatten, daß ich einem Mann namens Willis auf der Spur war. Und weil ich mich Ihren Befehlen nicht unterwarf. Ich hatte
mich geweigert, mit Carnell zusammenzuarbeiten. Deshalb stellten Sie mir einen Hinterhalt. Doch das Attentat schlug fehl.« Paul lehnte sich vor und seine Stimme wurde noch schärfer. »Sie haben Karin auf mich angesetzt. Und als wir eng befreundet waren, haben Sie Karin gezwungen, unser Intimleben und unsere Privatsphäre preiszugeben. Sie haben gewußt, was Sie ihr damit antaten. Auch das werde ich Ihnen nicht vergessen, Slater. Sie haben mir alle meine Freunde genommen, weil sie eifersüchtig waren oder diese Freundschaften fürchteten. Sie schickten Peter Conklin nach Rußland und sorgten dafür, daß eine Patrouille ihn fand und unschädlich machte. Sie hatten nicht geglaubt, daß er so nahe an die russische Atombombenfabrik herankommen würde. Willis sorgte dafür, daß er beseitigt wurde. Doch Sie sind sein Mörder. Als nächstes schickten Sie Carnell nach Tokio und sorgten dafür, daß sein Flugzeug über dem Meer abstürzte. Sie waren nicht bereit, das Geheimnis meiner telepathischen Begabung mit einem Mann von Carnells Format zu teilen.« »Nehmen Sie die Waffe weg«, flüsterte Slater wieder. »Ich bin noch nicht fertig mit Ihnen, Slater. Sie haben ein perfektes Spionagenetz aufgebaut, Slater, wie
es die Welt noch nicht erlebt hat. Eine großartige Idee, Slater, wenn nur dieses Land seinen Nutzen daraus gezogen hätte. Unglücklicherweise haben Sie der Regierung nur diejenigen Informationen weitergegeben, die Ihnen harmlos erschienen. Die brandheißen Tips bekam Willis zugespielt. Und Willis beutete sie aus. Siebzig gute, intelligente Männer spionierten für Sie und Willis die ganze Welt aus. Und dann erfuhren Sie, daß ich von der Verbindung zwischen Ihnen und Willis wußte. Willis hat Ihnen berichtet, daß ihn jemand schon seit Monaten beschattet. Und so beschlossen Sie und Willis, daß es höchste Zeit wäre, mich zu beseitigen. Deshalb schickten Sie Oberst Johns zu mir.« Paul starrte Slater voller Abscheu an. »Doch Johns sollte den Mord nicht lange überleben. Sie warteten in Marthas Appartement, um einen lästigen Mitwisser zu beseitigen.« Paul erhob sich aus dem Sessel und holte sich eine Jacke aus dem Schrank. »Sie schwitzen, Slater. Das gefällt mir. Conklin hatte keine Zeit mehr dazu – der Schuß kam überraschend. Doch Carnell schwitzte, als er seinen Absturz miterlebte. Und Karin schwitzt jetzt in London und wartet auf die Fahrkarte in die Heimat.« Er stand jetzt vor Slater. Die kalte Wut stieg in ihm hoch. »Und Sie sind nicht der einzige, der in diesem Au-
genblick in die Mündung einer Pistole blickt und um sein Leben zittert. Willis schwitzt ebenfalls.« Die Augen von Slater bewegten sich nach oben, blickten Paul betroffen an. »Noch eine ... Mißgeburt?« flüsterte Slater. Paul nickte. »Noch so eine Mißgeburt wie ich. Und Slater – das ist noch nicht alles. Es gibt noch mehr davon. Das trifft Sie hart, Slater. Das freut mich.« »Ein Telepath.« »Richtig. Und Willis ereilt jetzt das gleiche Schicksal wie Sie, Slater. Eine andere Mißgeburt ist Willis seit Monaten auf den Fersen. Er erregte Willis' Verdacht. Willis hetzte Sie auf mich. Und diese Mißgeburt macht jetzt dasselbe mit Willis, was ich mit Ihnen mache. Er läßt ihn schwitzen. – Willis war Ihr Meister, Slater. Sie haben versucht, ihm nachzueifern. Willis ist schon lange im Geschäft, ein Meisterspion, der auf beiden Schultern trägt und seine Dienste an den Meistbietenden verkauft. Willis versteckte sich in Irland und spionierte in der ganzen Welt – für die ganze Welt. Leute wie Sie waren seine Marionetten. Er hatte Sie in der Hand, Slater. Er ließ Sie nach seiner Pfeife tanzen. Doch heute nacht ist sein Spiel zu Ende. Stecken Sie die Waffe weg, Slater.« Langsam, als bewege sich die Hand gegen einen starken Willen, glitt die Hand unter das Jackett und schob die Waffe zurück ins Schulterhalfter.
»Nun hören Sie genau zu und machen Sie keine Fehler. Wenn Sie eine falsche Bewegung machen, werden Sie an Ihrer eigenen Zunge ersticken. Wir werden zusammen hinuntergehen. Sie werden einen Wagen zum Eingang bestellen. Sie werden dem Fahrer Anweisung geben, hier zu bleiben. Sie werden den Wagen selbst steuern. Wir werden mit unseren Ausweisen die Tore passieren, wie das Ihren Anweisungen entspricht. Dann fahren wir zum Flugplatz nach Washington. Dort werden wir Flugkarten für die alte Fluchtroute bestellen. Sie erinnern sich doch noch? Washington, Miami, New Orleans und Mexiko City. Und dann besteigen wir gemeinsam das Flugzeug.« »Was geschieht dann ...?« Ein heiseres Flüstern. »Nun«, meinte Paul spöttisch, »Sie werden Mexiko City nie erreichen. Ihnen wird unterwegs etwas zustoßen ...« »Ich will nicht«, stieß Slater wütend und ängstlich hervor, »ich weigere mich!« »Natürlich«, erwiderte Paul gelassen, »ich werde Ihnen zeigen, was es bedeutet, sich zu weigern.« Eine Sekunde des Schweigens, der nervösen Spannung. Dann griff sich Slater plötzlich an den Unterleib und krümmte sich schreiend. »Sie werden gehorchen«, sagte Paul mit einem bösen Lächeln. In Gedanken suchte er nach Martha. Er fand sie auf dem Hof.
›Hast du das gehört?‹ ›Ich habe es gehört, Paul.‹ Er spürte, daß sie zitterte. ›Ist bei dir alles klar?‹ ›Alles klar. Ich gehe mit einem Wächter im Hof spazieren.‹ ›Schick ihn fort. Dann gehst du langsam zum Fahrweg. Du steigst kurz vor dem Tor in den Packard ein.‹ ›Okay. Bring meinen Ausweis mit. Er liegt in der obersten Schublade im Schreibtisch.‹ ›In Ordnung. Beobachte uns in Gedanken. Bis gleich.‹ Paul wendete sich wieder Slater zu. »Noch so eine Kostprobe? Oder können Sie jetzt wieder laufen?« Sie gingen langsam durch Marthas Appartement hinaus auf den Flur und zum Fahrstuhl ... Über dem Golf von Mexiko versteckte sich der Mond hinter dem Dunst, der vom Wasser aufstieg. Auf der Küstenautobahn huschte ab und zu das Licht eines Autos vorüber, das irgendeiner namenlosen Stadt in Florida zueilte. Martha blickte hinüber zu den Lichtern der Stadt, die aus der Ferne herüberblinkten. Hinter ihr, auf dem dunklen Sandstrand, hörte sie einen halblauten, ärgerlichen Wortwechsel. Pauls Stimme und Gedanken waren deutlich zu verstehen. Doch Martha blieb
auf ihrem Posten, um jeden Wanderer abzufangen, der sich vielleicht hierher verirrte. »Gehen Sie!« befahl Paul mit scharfer Stimme. »Nein! Zum Teufel mit Ihnen! Nein!« Slater stand bis zu den Knöcheln im Wasser. Sein Gesicht war dem Meer zugekehrt. »Gehen Sie!« flüsterte Paul. Slater bewegte den rechten Fuß im lauwarmen Wasser, tastete nach einer Stelle im Sand, wo er ihn absetzen konnte, und rückte dann mit dem anderen Fuß vor. »Nein!« schrie er. Aber seine Füße bewegten sich gegen seinen Willen, rückten unerbittlich vorwärts. »Nein!« Er versuchte, den Kopf zu drehen, aber es gelang ihm nicht. »Hören Sie auf damit!« »Weiter!« drängte Paul. »Dieser Schritt ist für Conklin! Der nächste für Carnell! Gehen Sie, Slater. Gehen Sie!« Und der Mann schritt immer tiefer in das Meer hinein, wie eine Marionette, die von einem unsichtbaren Draht in die Tiefe hinausgezogen wurde. Martha hörte einen leisen Laut. ›Paul?‹ ›Ja, mein Engel.‹ ›Ist er ...?‹ ›Ja, es ist vorüber.‹ Sie erschauerte. ›Ich kann ihn nicht bedauern.‹ Paul tauchte jetzt neben ihr auf dem Sand auf.
»Denke nicht mehr an ihn«, flüsterte er. »Wo ist dein Bruder? Wo ist das Boot, das uns abholen soll?« Martha deutete hinaus auf das dunkle Meer. »Dort draußen, Paul. Kannst du es nicht sehen?« Er strengte seine Augen an, aber er sah nur eine leere, unbewegte Wasserfläche. Sie deutete mit der Hand hinaus auf die Bucht. »Blicke in mein Bewußtsein«, sagte sie. »Er ist dort draußen, noch gute drei Stunden von der Küste entfernt. Aber er wird uns noch vor dem Morgengrauen aufnehmen.« Er legte seinen Arm um sie und drückte sie an sich. Sie las seine Gedanken und lachte. ›Du herrliche Mißgeburt‹, flüsterte sie in Gedanken und küßte ihn ...