Adolfo Bioy Casares
Morels Erfindung
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Etwas Merkwürdiges liegt über dieser Insel. D...
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Adolfo Bioy Casares
Morels Erfindung
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Etwas Merkwürdiges liegt über dieser Insel. Der Mann, der hier Zuflucht vor der Justiz gefunden hat, glaubt sich zunächst allein in dieser von Überschwemmungen heimgesuchten Einöde. Auf seinen Streifzügen findet er ein Schwimmbecken, eine Kapelle, ein Museum, überzogen vom Geruch der Verlassenheit. In den Kellerräumen des Museums aber stößt er auf riesige funktionsfähige Maschinen, deren Zweck er sich nicht erklären kann. Er hat keine Zeit, sich darüber zu wundern: Unversehens ist seine Insel voller Menschen. ISBN 3-518-41426-7 Originalausgabe La invención de Morel Aus dem Spanischen von Gisbert Haefs 2003 Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main
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Buch Etwas Merkwürdiges liegt über dieser Insel. Der Mann, der hier Zuflucht vor der Justiz gefunden hat, glaubt sich zunächst allein in dieser von Überschwemmungen heimgesuchten Einöde. Auf seinen Streifzügen findet er ein Schwimmbecken, eine Kapelle, ein Museum, überzogen vom Geruch der Verlassenheit. In den Kellerräumen des Museums aber stößt er auf riesige funktionsfähige Maschinen, deren Zweck er sich nicht erklären kann. Er hat keine Zeit, sich darüber zu wundern: Unversehens ist seine Insel voller Menschen. Wie sind sie unbemerkt hierhergekommen? Sind es seine Verfolger, die ihm auf der Spur sind? Er versteckt sich vor ihnen, auch vor der ein wenig zigeunerhaft schönen Frau, die Abend für Abend bei den Klippen auf das Meer schaut. Als er sieht, daß sich die Neuankömmlinge nicht für ihn interessieren, auch nicht ihr Anführer, ein Mann namens Morel, nähert er sich schließlich der schönen Faustine und offenbart ihr seine Liebe. Sie aber schaut durch ihn hindurch. Atemlos, beunruhigt, geradezu gekränkt schreibt er auf einzelnen Blättern Tagebuch. Erst als er Morel bei einer Unterredung belauscht, dämmert ihm das Geheimnis der Insel und ihrer seltsam ungerührten Bewohner. Diese Erkenntnis ist von Grund auf unheimlich: Morels Erfindung hat den Unterschied von gelebter Wirklichkeit und bloßer Gegenwart in der Virtualität zum Verschwinden gebracht. Um Faustine zu erreichen, faßt er einen Entschluß…
Autor Adolfo Bioy Casares, geboren 1914, Argentinier von Geburt und Lebenshaltung, zählt zu jener Handvo ll lateinamerikanischer Schriftsteller, deren Werk auch lange über ihren Tod hinaus Wirkung entfaltet. 1990 erhielt er den bedeutendsten Literaturpreis der spanischsprachigen Welt: den Premio Cervantes. Er starb 1999 in Buenos Aires. Sein Werk erscheint im Suhrkamp Verlag. Gisbert Haefs, Autor und Übersetzer, ist u. a. als der Herausgeber der deutschen Neuausgabe der Gesammelten Werke von Borges hervorgetreten; desgleichen als der Übersetzer und Herausgeber der Werke Rudyard Kiplings. René Strien leitet den Aufbau-Verlag, Berlin. Von ihm stammt die deutsche Übersetzung der Liebesgeschichten von Bioy Casares.
Für Jorge Luis Borges
Heute ist auf dieser Insel ein Wunder geschehen. Vorzeitig ist der Sommer gekommen. Ich habe mein Bett nah ans Schwimmbecken geschoben und bis sehr spät gebadet. Zu schlafen war nicht möglich. Zwei oder drei Minuten außerhalb des Beckens genügten, um das Wasser, das mich gegen die entsetzliche Windstille schützen sollte, in Schweiß zu verwandeln. Früh am Morgen hat mich ein Grammophon geweckt. Ich konnte nicht ins Museum gehen, um die Sachen zu holen. Ich floh den Hang hinunter. Jetzt bin ich in der Sumpfniederung im Süden, zwischen Wasserpflanzen, belästigt von den Moskitos, bis zum Bauch im Meer oder in schmutzigen Bächen, und ich sehe ein, daß meine Flucht absurd überstürzt war. Ich glaube, daß diese Leute gar nicht auf der Suche nach mir waren; vielleicht haben sie mich nicht einmal gesehen. Aber ich befolge mein Geschick; ich bin von allem entblößt, verwiesen auf den dürftigsten, am wenigsten bewohnbaren Teil der Insel; auf Sümpfe, die das Meer einmal wöchentlich überflutet. Ich schreibe dies auf, um von dem unangenehmen Wunder Zeugnis zu geben. Falls ich nicht in den nächsten Tagen ertrinke oder im Kampf um meine Freiheit sterbe, hoffe ich, die Verteidigung angesichts Überlebender und eine Eloge auf Malthus zu verfassen. In diesen Schriften werde ich jene attackieren, die selbst Urwälder und Wüsten ausbeuten; ich werde nachweisen, daß die Welt mit der Perfektionierung von Polizeidiensten, Ausweispapieren, Zeitungswesen, Funktechnik und Zollsystemen jeden Justizirrtum irreparabel macht und für die Verfolgten eine einzige Hölle ist. Bis jetzt habe ich nur dieses Blatt beschreiben können, mit dem ich gestern noch nicht gerechnet hatte. Wieviel gibt es auch zu tun auf der verlassenen Insel! Wie unüberwindlich ist die Härte des Holzes! Wieviel größer ist der Raum als der bewegliche Vogel! Ein Italiener, der in Kalkutta Teppiche verkaufte, brachte mich auf die Idee, hierher zu kommen; er sagte mir (in seiner Sprache): -5-
»Für einen Verfolgten, für Sie, gibt es nur einen Ort auf der Welt, aber an diesem Ort kann man nicht leben. Es ist eine Insel. Ein paar Weiße haben dort um 1924 ein Museum, eine Kapelle und ein Schwimmbecken gebaut. Nach der Fertigstellung wurde die Anlage aufgegeben.« Ich unterbrach ihn, wollte seine Hilfe für die Reise erbitten; der Händler fuhr fort: »Weder die chinesischen Piraten noch das weißgestrichene Schiff des Rockefeller-Instituts laufen die Insel an. Sie ist Herd einer immer noch rätselhaften Krankheit, die von außen nach innen tötet. Die Nägel fallen aus und die Haare, dann sterben die Haut und die Hornhaut der Augen, und danach lebt der Körper noch acht bis vierzehn Tage. Die Matrosen eines Dampfers, der vor der Insel geankert hatte, waren gehäutet, kahl, ohne Nägel - alle tot -, als der japanische Kreuzer Namura sie fand. Der Dampfer wurde mit Kanonenschüssen versenkt.« Aber so schrecklich war mein Leben, daß ich abzureisen beschloß… Der Italiener wollte es mir ausreden; ich brachte ihn dazu, mir zu helfen. Diese Nacht bin ich zum hundertsten Mal auf dieser öden Insel eingeschlafen… Beim Anblick der Gebäude überlegte ich, was es gekostet haben muß, diese Steine herzuschaffen; dabei wäre es doch so einfach gewesen, eine Ziegelbrennerei zu bauen. Ich schlief spät ein, und die Musik und das Geschrei weckten mich früh am Morgen. Durch das Leben auf der Flucht ist mein Schlaf leicht geworden; ich bin sicher, daß kein Schiff angekommen ist, kein Flugzeug, kein Zeppelin. Und trotzdem hat sich in dieser drückenden Sommernacht das wilde Gras am Hügel mit Leuten bevölkert, die tanzen, umherschlendern und im Schwimmbecken baden, wie Sommerfrischler, die sich schon einige Zeit in Los Teques oder Marienbad eingerichtet haben. Aus dem Brackwassersumpf sehe ich den oberen Teil des Hügels und die Sommergäste, die im Museum wohnen. Ihr unerklärliches Auftauchen könnte die Vermutung nahelegen, -6-
daß sie von der Hitze der vorigen Nacht in meinem Gehirn erzeugt wurden; aber hier gib t es weder Halluzinationen noch Bilder: Es sind wirkliche Menschen, jedenfalls so wirklich wie ich. Sie tragen Kleider, wie sie vor ein paar Jahren Mode waren; eine Koketterie, die (so scheint mir) vollendete Leichtfertigkeit verrät; allerdings muß ich zugeben, daß es heute ganz verbreitet ist, den Zauber der jüngsten Vergangenheit zu bestaunen. Wer weiß, welches Schicksal eines zum Tode Verurteilten dafür sorgt, daß ich sie unausweichlich betrachte, zu jeder Tageszeit. Sie tanzen im Grasdickicht des Hügels, das von Schlangen wimmelt. Ohne es zu wissen, sind sie meine Feinde, denn um Valencia und Tea for Two zu hören - ein sehr lautes Grammophon hat die Melodien gegen den Lärm von Wind und Meer durchgesetzt -, bringen sie mich um all das, was mich so viel Arbeit gekostet hat und unentbehrlich ist, um nicht zu sterben, drängen mich ab zum Meer, in tödliche Sümpfe. Sie zu beobachten ist ein gefährliches Spiel; wie jede Gruppierung zivilisierter Menschen müssen sie eine geheime Spur aus Fingerabdrücken und Konsuln gelegt haben, die mich, falls sie mich entdecken, mit wenigen Zeremonien oder Formalitäten wieder in den Kerker bringen wird. Ich übertreibe: Mit einer gewissen Faszination - ich habe so lange niemanden mehr gesehen - betrachte ich diese abscheulichen Eindringlinge; aber es wäre unmöglich, sie unausgesetzt zu beobachten: Erstens: weil ich viel zu tun habe. Der Ort hier könnte den geschicktesten Insulaner umbringen; ich bin erst vor kurzem angekommen; ich habe keinerlei Werkzeug. Zweitens: wegen der Gefahr, von ihnen überrascht zu werden, während ich sie beobachte oder sobald sie dieser Zone hier einen ersten Besuch abstatten; wenn ich dem entgehen will, muß ich getarnte Verstecke im Schilf anlegen. Schließlich: weil es Hindernisse bei ihrer Beobachtung gibt. Sie sind oben auf dem Hügel, und für einen, der sie von hier aus bespäht, sind sie flüchtig auftauchende Riesen; ich kann sie nur sehen, wenn sie -7-
sich dem Hang nähern. Meine Lage ist erbärmlich. Ausgerechnet jetzt, da die Flut höher steigt als sonst, muß ich in diesen Niederungen hausen. Vor einigen Tagen gab es die höchste Flut überhaupt, die ich sah, seit ich auf der Insel bin. Wenn es dunkel wird, suche ich Zweige und bedecke sie mit Laub. Ich wundere mich nicht mehr, wenn ich im Wasser erwache. Gege n sieben Uhr morgens erreicht die Flut ihren höchsten Stand; manchmal kommt sie auch früher. Aber einmal pro Woche steigt sie so hoch, daß es mein Ende bedeuten könnte. Kerben in den Baumstämmen sind meine Buchführung für die Tage; ein Rechenfehler würde meine Lungen mit Wasser füllen. Ich habe das unbehagliche Gefühl, daß dieses Papier zu meinem Testament wird. Wenn ich mich damit abfinden muß, will ich dafür sorgen, daß meine Behauptungen nachprüfbar sind; damit niemand - auch wenn ich einmal verdächtigt wurde, die Unwahrheit gesagt zu haben - glauben kann, daß ich lüge, wenn ich sage, daß man mich zu Unrecht verurteilt hat. Ich werde diesen Bericht unter Leonardos Motto stellen - Ostinato rigore - und versuchen, mich daran zu halten. Ich glaube, diese Insel heißt Villings und gehört zum ElliceArchipel* . Vom Teppichhändler Dalmacio Ombrellieri (Haidarabad-Straße 21, Vorstadt Ramkrischnapur, Kalkutta) können Sie genauere Angaben erhalten. Einige Tage lang, die ich eingerollt in Perserteppiche verbrachte, hat dieser Italiener mich verpflegt; danach verstaute er mich im Laderaum eines Frachters. Ich kompromittiere ihn nicht, wenn ich in diesem Tagebuch seiner gedenke; ich bin ihm nicht undankbar… Die Verteidigung angesichts Überlebender wird hieran keinen Zweifel lassen: Wie in der Wirklichkeit, so wird auch im *
Das bezweifle ich. Er spricht von einem Hügel und von verschiedenen Baumarten. Die Ellice-Inseln (oder Lagunen-Inseln) sind flach und weisen an Bäumen lediglich im Korallsand verwurzelte Kokospalmen auf. (Anm. d. Hrsg.) -8-
Gedächtnis der Menschen - wo vielleicht der Himmel ist Ombrellieri einem zu Unrecht Verfolgten gegenüber Nächstenliebe geübt haben, und noch in der letzten Erinnerung, in der er auftauchen mag, wird man ihm Wohlwollen entgegenbringen. In Rabaul ging ich an Land; mit einer Karte des Händlers suchte ich ein Mitglied der bekanntesten Gesellschaft Siziliens auf; im Bronzelicht des Mondes, im Dunst einer Fischkonservenfabrik erhielt ich die letzten Anweisungen und ein gestohlenes Boot; verzweifelt ruderte ich, erreichte die Insel (mit einem Kompaß, den ich nicht lesen kann; ohne Orientierung; ohne Sonnenhut; krank; mit Halluzinationen); das Boot lief an den Sandbänken im Osten auf (zweifellos waren die Korallenriffe rings um die Insel überspült); länger als einen Tag blieb ich im Boot, verloren in Erinnerungen an dieses Grauen, und ich vergaß, daß ich angekommen war. Die Vegetation der Insel ist überreich. Stauden, Gras, Frühlings-, Sommer-, Herbst-, Winterblumen bedrängen einander in der Abfolge, ungestümer im Sprießen als im Sterben, machen sich die Zeit und den Boden streitig, mehren sich unaufhaltsam. Die Bäume dagegen sind krank; sie haben dürre Wipfel und üppige Stämme. Ich finde dafür zwei Erklärungen: Entweder entziehen die niedrigen Pflanzen dem Boden die Kraft, oder die Baumwurzeln sind auf Stein gestoßen (daß die jungen Bäume gesund sind, scheint die zweite Hypothese zu bestätigen). Die Bäume auf dem Hügel sind so hart, daß es unmöglich ist, sie zu bearbeiten; ebensowenig läßt sich mit denen in der Niederung anfangen; unter dem Druck der Finger lösen sie sich auf, und in der Hand bleibt klebriger Mulch: ein paar weiche Späne. Die Insel hat vier mit Gras bewachsene Talhänge (die westlichen sind steinig); im höheren Teil liegen das Museum, die Kapelle und das Schwimmbecken. Die drei Bauwerke sind -9-
modern, eckig, schlicht, aus unpoliertem Stein. Wie so oft wirkt der Stein wie eine schlechte Imitation und verträgt sich nicht ganz mit dem Stil. Die Kapelle ist ein langgestreckter, flacher Kasten (was sie sehr groß erscheinen läßt). Das Schwimmbecken ist ordentlich angelegt; weil es jedoch nicht über das Niveau des Bodens hinausragt, füllt es sich zwangsläufig mit Schlangen, Fröschen, Kröten und Wasserinsekten. Das Museum ist ein großes dreistöckiges Gebäude, ohne sichtbares Dach, mit einer Galerie an der Vorder- und einer zweiten, kleineren an der Rückseite, sowie mit einem Rundturm. Ich fand es offen vor; sofort ließ ich mich darin nieder. Ich nenne es Museum, weil der italienische Händler es so nannte. Welche Gründe er dafür hatte? Vielleicht kennt er sie selber nicht. Es könnte ein prächtiges Hotel sein, für bis zu fünfzig Personen, oder ein Sanatorium. Es hat eine Halle mit einer unerschöpflichen und lückenhaften Bibliothek: nichts als Romane, Gedichte, Theaterstücke (wenn man ein Bändchen beiseite läßt - Belidor: Travaux - Le Moulin Perse; Paris 1937 -, das auf einem Sims aus grünem Marmor lag und jetzt eine Tasche der zerfetzten Hose ausbeult, die ich trage. Ich nahm es mit, weil mir der Name »Belidor« seltsam erschien und weil ich mich fragte, ob das Kapitel »Moulin Perse« nicht vielleicht diese Mühle im Tiefland erklären könnte). Ich durchstöberte die Regale auf der Suche nach Hilfe bei gewissen Nachforschungen, die der Prozeß unterbrochen hatte und die ich in der Einsamkeit der Insel fortsetzen wollte (ich glaube, wir verspielen die Unsterblichkeit, weil die Resistenz gegen den Tod sich nicht entwickelt hat; Ansätze zur Vervollkommnung beschränken sich auf die erstbeste, rudimentäre Idee: den ganzen Körper am Leben zu halten. Dabei müßte man nur die Bewahrung dessen anstreben, was für das Bewußtsein von Interesse ist). Die Wände der Halle sind aus rosa Marmor mit einigen grünen Zierleisten, wie eingelassene Säulen. Die Fenster mit -10-
ihren blauen Scheiben würden in meinem Elternhaus das obere Stockwerk erreichen. Vier Kelche aus Alabaster, in denen sich je ein halbes Dutzend Menschen verstecken könnte, strahlen elektrisches Licht aus. Die Bücher bessern diese Dekoration ein wenig auf. Eine Tür führt zum Korridor, eine andere in den runden Salon; eine weitere, winzige, verdeckt von einem Wandschirm, führt zur Wendeltreppe. Die Haupttreppe, mit Stuckverzierungen und Läufern, mündet auf den Korridor. Dort gibt es Korbsessel, und die Wände sind mit Büchern bedeckt. Der Speisesaal ist etwa sechzehn mal zwölf Meter groß. Oberhalb der dreifachen Mahagonisäulen an jeder Wand sind Estraden, wie Logen für die vier sitzenden Gottheiten - eine in jeder Loge -, halb indisch, halb ägyptisch, ockerfarben, aus Terrakotta; sie sind dreimal so groß wie ein Mensch; dunkle, vorgewölbte Blätter von Gipspflanzen umgeben sie. Unterhalb der Estraden sind große Flächen mit Zeichnungen von Foujita, die in ihrer Schlichtheit stören. Der Boden des runden Salons ist ein Aquarium. In unsichtbaren Glaskästen unter Wasser sind elektrische Lampen angebracht (die einzige Beleuchtung dieses fensterlosen Raums). An diesen Ort denke ich mit Ekel. Bei meiner Ankunft gab es dort Hunderte toter Fische; sie herauszuholen war eine schauderhafte Arbeit; ich habe das Wasser tagelang laufen lassen, aber immer riecht es dort für mich nach fauligem Fisch (das erinnert an die Strände meiner Heimat mit ihrem Bodensatz aus Massen von lebenden und toten Fischen, an Land geschwappt, wo sie weithin die Luft verpesten, während die benebelten Anwohner sie verscharren). Mit dem erleuchteten Boden und den schwarzlackierten Säulen, die ihn ringsum einfassen, kommt es einem so vor, als wandle man wie durch Zauber über einen Teich inmitten eines Waldes. Zwei Durchgänge verbinden den Salon mit der Halle und einem kleinen grünen Saal mit einem Klavier, einem Grammophon und einer spanischen Wand aus Spiegeln, zusammengesetzt aus -11-
zwanzig oder mehr Teilen. Die Zimmer sind modern, luxuriös, unangenehm. Es gibt fünfzehn davon. In meinem richtete ich ein Werk der Verwüstung an, das wenig ergab. Ich hatte zwar keine Bilder mehr - von Picasso -, auch kein Rauchglas oder Buchumschläge mit wertvollen Signaturen, lebte aber in einer unbehaglichen Ruine. Bei zwei einander ähnlichen Anlässen machte ich meine Entdeckungen im Keller. Das erstemal - die Vorräte in der Speisekammer begannen zu schwinden - suchte ich Nahrungsmittel und entdeckte den Maschinenraum. Während ich das Kellergeschoß durchstreifte, bemerkte ich, daß keine der Wände das kleine Fenster aufwies, das ich von außen gesehen hatte, mit dickem Glas und Gitterstäben, halb verborgen hinter den Zweigen eines Nadelbaums. Wie in der Diskussion mit einem, der behauptete, dieses Fensterchen sei irreal, ein Traumgesicht, ging ich hinaus, um festzustellen, ob es noch da war. Ich fand es wieder. Ich ging zurück in den Keller und hatte große Schwierigkeiten, mich zu orientieren und darin die Stelle zu finden, die dem Fenster entsprach. Sie lag auf der anderen Seite der Wand. Ich suchte Spalten, Geheimtüren. Die Wand war sehr glatt und sehr solide. Ich dachte, auf einer Insel müsse es an einer zugemauerten Stelle eigentlich einen Schatz geben; aber dann beschloß ich, die Wand aufzubrechen und einzudringen, denn es schien mir wahrscheinlicher, daß dort, wenn nicht Maschinengewehre und Munition, so doch ein Lebensmittellager sei. Mit der Eisenstange, die zum Verriegeln einer Tür diente, und in zunehmender Mattigkeit machte ich ein Loch; himmelb laue Helligkeit war zu sehen. Ich arbeitete angestrengt, und noch am gleichen Abend gelangte ich hinein. Meine erste Empfindung war weder Verdruß darüber, keine Lebensmittel vorzufinden, noch Erleichterung beim Anblick einer Wasserpumpe und eines Generators, sondern ausgiebiges, vergnügtes Staunen: Wände, -12-
Decke und Boden bestanden aus himmelblauem Porzellan, und selbst die Luft (in diesem Raum, dessen einzige Verbindung zum Tag ein hoch angebrachtes, hinter den Zweigen eines Baums verstecktes Fensterchen war) besaß die himmlische, tiefe Durchsichtigkeit, wie man sie in der Gischt von Wasserfällen findet. Von Motoren verstehe ich sehr wenig, nahm sie aber bald in Betrieb. Wenn mir das Regenwasser ausgeht, lasse ich die Pumpe arbeiten. Von all dem bin ich überrascht: von mir selber und von der Einfachheit und dem guten Zustand der Maschinen. Ich weiß wohl, daß ich zur Behebung eines Defekts nur auf meine Resignation zählen kann. Ich bin so untüchtig, daß ich den Zweck einiger grüner Motoren im selben Raum noch immer nicht habe feststellen können, auch nicht den jener Walze mit Schaufelrädern, die in der Niederung im Süden steht (mit dem Keller ist sie durch eine Eisenröhre verbunden; wenn sie nicht so weit von der Küste entfernt wäre, bezöge ich sie auf die Gezeiten; ich könnte mir vorstellen, daß sie dazu dient, die Akkumulatoren aufzuladen, die der Generator irgendwo haben muß). Wegen dieser Unfähigkeit bin ich sehr sparsam; ich lasse die Motoren nur laufen, wenn es unumgänglich ist. Trotzdem brannten im Museum einmal alle Lampen die ganze Nacht lang. Das war, als ich in den Kellerräumen zum zweiten Mal Entdeckungen machte. Ich war krank. Ich hatte die Hoffnung, daß es irgendwo im Museum einen Medizinschrank gab; oben war nichts; ich ging in den Keller und… in dieser Nacht dachte ich nicht an meine Krankheit, vergaß, daß Schrecken, wie ich sie durchmachte, nur in Träumen vorkommen. Ich entdeckte eine Geheimtür, eine Treppe, ein zweites Untergeschoß. Ich betrat eine vieleckige Kammer Luftschutzräumen ähnlich, die ich im Kino gesehen hatte - mit Wänden, die von zweierlei Platten bedeckt waren - die eine Sorte korkähnlich, die andere aus Marmor -, und zwar symmetrisch angebracht. Ich tat einen Schritt: Unter steinernen -13-
Arkaden sah ich in acht Richtungen denselben Raum sich wie in Spiegeln achtmal wiederholen. Dann hörte ich viele Schritte, furchtbar deutlich, ringsum, über und unter mir durch das Museum gehen. Ich trat ein Stückchen weiter vor: Die Geräusche verstummten wie in verschneitem Gelände, wie in Venezuelas kaltem Hochland. Ich ging die Treppe hinauf. Oben waren Stille, das einsame Geräusch des Meeres, Reglosigkeit mit flüchtenden Tausendfüßlern. Ich fürchtete eine Invasion von Phantomen oder - weniger wahrscheinlich - eine Invasion von Polizisten. Stunden brachte ich zwischen den Vorhängen zu, beklommen von dem Versteck, das ich gewählt hatte (man konnte mich von außen sehen; wenn ich vor jemandem fliehen wollte, der im Zimmer wäre, müßte ich das Fenster öffnen). Endlich raffte ich mich auf, das Haus zu durchsuchen, blieb jedoch besorgt: Ich hatte mich von deutlichen Schritten umringt gehört, die sich in verschiedenen Höhen bewegten. Frühmorgens ging ich wieder in den Keller. Dieselben Schritte kreisten mich ein, von nah und fern. Diesmal jedoch begriff ich. Verärgert lief ich, zeitweilig eskortiert vom emsigen Echorudel, durch das zweite Untergeschoß und war multipliziert allein. Es gibt neun gleiche Kammern, weitere fünf in einem noch tieferen Keller. Sie sehen aus wie Luftschutzräume. Was für Leute mögen um 1924 dieses Gebäude errichtet haben? Warum haben sie es aufgegeben? Vor welchen Bombardements hatten sie Angst? Erstaunlich, daß die Architekten eines derart solide gebauten Hauses dem modernen Vorurteil gegen Gesimse so weit gehorcht haben, daß sie diesen Schutzraum anlegten, der das geistige Gleichgewicht auf die Probe stellt: Die Echos eines Seufzers lassen Seufzer vernehmen, gleich nebenan und weiter weg, zwei oder drei Minuten lang. Wo es keine Echos gibt, ist die Stille so furchtbar wie das drückende Gewicht, das einen in den Träumen an der Flucht hindert. Der aufmerksame Leser kann meinem Bericht einen Katalog -14-
von mehr oder minder verblüffenden Gegenständen, Situationen und Tatsachen entnehmen, zuletzt das Auftauchen der gegenwärtigen Bewohner des Hü gels. Muß es einen Zusammenhang zwischen diesen Personen und den Bewohnern anno 1924 geben? Soll man in den heutigen Touristen die Erbauer von Museum, Kapelle und Schwimmbecken sehen? Ich mag nicht glauben, daß eine dieser Personen je Tea for Two oder Valencia unterbrochen hätte, um dieses Hauses zu entwerfen, das zwar von Echos verseucht, aber bombensicher ist. Auf den Klippen gibt es eine Frau, die jeden Abend den Sonnenuntergang betrachtet. Sie hat ein buntes Tuch um den Kopf geschlungen und die Hände auf einem Knie gefaltet; pränatale Sonnen müssen ihre Haut vergoldet haben; dank der Augen, des schwarzen Haars, des Busens wirkt sie wie eine Zigeunerin oder Spanierin auf diesen Kitschbildern. Pedantisch mehre ich die Seiten dieses Tagebuchs und vergesse jene, die mich rechtfertigen werden für die Jahre, da mein Schatten auf Erden weilte (Verteidigung angesichts Überlebender und Eloge auf Malthus). Immerhin soll das, was ich heute schreibe, eine Vorkehrung sein. Diese Zeilen werden unabänderlich bestehen, trotz der Kraftlosigkeit meiner Überzeugungen. Ich muß mich an das halten, was ich jetzt weiß: Zu meiner Sicherheit ist es ratsam, für unabsehbare Zeit auf jede Hilfe durch Mitmenschen zu verzichten. Ich erhoffe nichts. Das ist nicht schrecklich. Seit ich es beschlossen habe, bin ich gelassen. Aber diese Frau hat mir eine Hoffnung gegeben. Hoffnungen muß ich fürchten. Jeden Abend betrachtet sie den Sonnenuntergang; ich, aus meinem Versteck, betrachte sie. Gestern und heute wieder entdeckte ich, daß meine Nächte und Tage auf diese Stunde warten. Die Frau mit der Sinnlichkeit einer Zigeunerin und dem viel zu großen bunten Tuch kommt mir lächerlich vor. Trotzdem habe ich, vielleicht nicht ganz im Ernst, das Gefühl, wenn ich von ihr nur einen -15-
Augenblick lang angesehen, einen Moment lang angeredet werden könnte, flösse mir damit jene Hilfe zu, die man bei Freunden, Verlobten und Verwandten findet. Meine Hoffnung mag das Werk der Angler und des bärtigen Tennisspielers sein. Heute ärgerte es mich, sie mit diesem falschen Tennisspieler anzutreffen; ich bin nicht eifersüchtig, aber gestern hatte ich sie auch nicht gesehen; sie ging zu den Klippen, und diese Angler hinderten mich daran, ihr zu folgen; sie haben nichts zu mir gesagt: Ich floh, ehe mich jemand erblickte. Ich wollte sie oberhalb umgehen; unmöglich; sie hatten Freunde bei sich, die ihnen beim Angeln zusahen. Als ich umkehrte, war die Sonne schon untergegangen, die einsamen Klippen bezeugten die Nacht. Vielleicht bin ich dabei, eine irreparable Dummheit zu begehen; vielleicht wird diese Frau, lau von all den Abendsonnen, mich der Polizei ausliefern. Damit verleumde ich sie; aber ich vergesse nicht die Reichweite des Gesetzes. Jene, die die Strafe festsetzen, verhängen Zeiten und Verbote, die uns wie wahnsinnig an die Freiheit ketten. Bedeckt von Schmutz und Haaren, die ich nicht entfernen kann, ein wenig ältlich, nähre ich heute meine Hoffnung mit der sanften Nähe dieser zweifellos schönen Frau. Ich baue darauf, daß meine ungeheure Schwierigkeit vorübergehend ist: den ersten Eindruck zu überstehen. Dieser falsche Gauner wird mich nicht aus dem Feld schlagen. Innerhalb von vierzehn Tagen gab es drei große Überschwemmungen. Gestern rettete mich das Glück vor dem Tod durch Ertrinken. Das Wasser hätte mich beinahe überrascht. Mit Hilfe der Kerben im Baum hatte ich die Flut für heute berechnet. Wenn ich in der Frühe geschlafen hätte, wäre ich jetzt tot. Ganz plötzlich stieg das Wasser, mit jener Entschiedenheit, die es einmal pro Woche besitzt. Meine Sorglosigkeit war so groß, daß ich nun nicht weiß, wem ich diese Überraschung zuschreiben soll: Rechenfehlern oder einem -16-
vorübergehenden Verlust an Regelmäßigkeit bei den Hochfluten. Sollten die Gezeiten ihre Gewohnheiten geändert haben, wird das Leben hier in der Niederung noch heikler. Trotzdem werde ich damit zurechtkommen. Ich habe schon so viele Mißgeschicke überlebt! Sehr lange war ich krank, von Schmerzen und Fieber geplagt, ganz damit beschäftigt, nicht zu verhungern; ohne (mit jenem mir teuren Zorn, den ich den Menschen verdanke) schreiben zu können. Bei meiner Ankunft gab es in der Speisekammer des Museums einige Vorräte. In einem klassischen dunkelbraunen Backofen stellte ich aus Mehl, Salz und Wasser ein ungenießbares Brot her. Sehr bald schon aß ich Mehl aus der Tüte, als Pulver (mit ein paar Schluck Wasser). Alles ist aufgebraucht: auch ein paar ziemlich verdorbene marinierte Lammzungen, auch die Streichhölzer (bei einem Verbrauch von drei Stück pro Tag). Wieviel weiter entwickelt als wir waren doch die Erfinder des Feuers! Unendliche Tage lang mühte und plagte ich mich mit der Herstellung einer Falle; als sie funktionierte, konnte ich rohe Vögel ohne Salz essen. Getreu der Tradition der Eremiten habe ich auch Wurzeln gegessen. Schmerz, entsetzliche schweißnasse Fahlheit, kataleptische Anfälle, die meine Erinnerung tilgten, unvergeßliche Angstträume haben dafür gesorgt, daß ich nun die giftigsten Pflanzen kenne.* Ich bin verdrossen: Ich habe mein Werkzeug nicht hier; die Gegend ist ungesund, unzuträglich. Aber noch vor wenigen Monaten wäre mir mein jetziges Leben als übertriebenes Paradies erschienen. Die täglichen Fluten sind weder gefährlich noch pünktlich. Manchmal lupfen sie die belaubten Zweige, mit denen ich mich zum Schlafen zudecke, und ich erwache in einem Meer, das von lehmigem Sumpfwasser durchsetzt ist. Für die Jagd bleibt mir der Abend; morgens stecke ich bis *
Zweifellos hat er unter übervollen Kokospalmen gelebt. Er erwähnt sie nicht. Ist es möglich, daß er sie nicht gesehen hat? Oder ist es eher so, daß die von einer Krankheit befallenen Bäume keine Frucht trugen? (Anm. d. Hrsg.) -17-
zum Bauch im Wasser; mich zu bewegen ist so schwer, als wäre der unter Wasser befindliche Teil des Körpers sehr groß; zum Ausgleich gibt es weniger Echsen und Schlangen; die Moskitos sind immer da, den ganzen Tag, das ganze Jahr. Das Werkzeug ist im Museum. Ich bemühe mich, den Mut zu einer Expedition aufzubringen, um sie zu bergen. Vielleicht ist das aber nicht unumgänglich: Diese Leute werden verschwinden; vielleicht habe ich Halluzinationen gehabt. Das Boot ist außer Reichweite geblieben, am östlichen Strand. Damit verliere ich nicht viel: nur das Bewußtsein, nicht gefangen zu sein, die Insel verlassen zu können; aber konnte ich je wirklich weg? Ich weiß, welche Hölle dieses Boot enthält. Ich bin die ganze Strecke von Rabaul hergekommen. Ich hatte kein Trinkwasser, keinen Sonnenhut. Wenn man rudert, ist das Meer unermeßlich. Sonnenglut und Erschöpfung waren stärker als mein Körper. Mich quälten eine Fieberkrankheit und unermüdliche Träume. Zum Glück kenne ich jetzt die eßbaren Wurzeln. Es ist mir gelungen, mein Leben so gut zu ordnen, daß ich alle Arbeiten erledige und mir immer noch ein wenig Zeit zum Ausruhen bleibt. Innerhalb dieses Spielraums fü hle ich mich frei, glücklich. Gestern war ich in Rückstand geraten; heute habe ich unausgesetzt gearbeitet; trotzdem bleibt noch etwas für morgen. Wenn so viel zu tun ist, kümmert mich die Abenddämmer-Frau nicht. Gestern morgen überschwemmte das Meer die Niederung. Nie habe ich eine so ausufernde Flut gesehen. Sie stieg immer noch, als es zu regnen begann (Regen ist hier selten, sehr heftig, mit Sturmböen). Ich mußte Abhilfe suchen. Behindert von der Abschüssigkeit des Hangs, von wuchtigem Regen, Wind und Geäst, erklomm ich den Hügel. Ich war auf den Gedanken gekommen, mich in der Kapelle zu verkriechen (am einsamsten Ort der Insel). Ich befand mich in den Priestern vorbehaltenen Räumen, wo sie frühstücken und sich umziehen (unter den Insassen des Museums habe ich keinen einzigen -18-
evangelischen oder katholischen Geistlichen gesehen), als plötzlich zwei Personen da waren, jäh aufgetaucht, als wären sie nicht hereingekommen, sondern einfach in meinem Blickfeld oder in meiner Vorstellung erschienen… Ich versteckte mich unentschlossen, ungeschickt - unter dem Altar, zwischen roter Seide und Spitzenborten. Sie sahen mich nicht. Noch jetzt bin ich darüber erstaunt. Reglos, in unbequemer Haltung zusammengekauert, spähte ich einige Zeit zwischen den Seidenvorhängen unter dem Hauptaltar hervor, wobei ich meine Aufmerksamkeit auf die ungleichmäßigen Geräusche des Unwetters richtete, die düsteren Berge der Termitenhügel betrachtete, die beweglichen Straßen der fahlen, großen Termiten, die unebenen Fliesen… Ich lauschte dem Rinnen an der Wand und dem Prasseln auf dem Dach, dem Wasser, das in den Traufen rauschte, dem Regen auf dem nahen Fußweg, dem Donner, den verworrenen Geräuschen des Sturms, der Bäume, des Meers am Strand, der nächsten Bohlen, um Schritte oder Stimmen herauszuhören, falls jemand sich meinem Versteck näherte, da ich ein weiteres unverhofftes Auftauchen vermeiden wollte… In all dem Lärm begann ich Bruchstücke einer kargen, fernen Melodie zu hören… Dann hörte ich sie nicht mehr und dachte, es sei wohl so etwas gewesen wie jene Gestalten, die Leonardo zufolge erscheinen, wenn wir einige Zeit lang feuchte Flecken betrachten. Die Musik kehrte wieder, und mit feuchten Augen, berührt von ihrer Harmonie, hockte ich verkrampft da, bis ich Angst bekam. Nach einiger Zeit ging ich zum Fenster. Das Wasser, weiß und glanzlos auf der Scheibe, tiefdunkel in der Luft, ließ kaum etwas erkennen… Dann erlebte ich eine so große Überraschung, daß ich mich achtlos in der offenen Tür vorbeugte. Hier leben die Heroen des Snobismus (oder die Insassen eines aufgelösten Irrenhauses). Ohne Zuschauer - falls ich nicht das von Anfang an vorgesehene Publikum bin - überschreiten sie, -19-
um originell zu sein, die Grenze jeder erträglichen Unbequemlichkeit und fordern den Tod heraus. Das ist die Wahrheit, keine Erfindung meines Grolls… Sie hatten das Grammophon aus dem grünen Zimmer, neben dem Salon mit Aquarium, ins Freie geschafft und saßen da, Frauen und Männer, auf Bänken oder im Gras, plauderten, hörten Musik und tanzten, im Regen und einem Sturm, der alle Bäume zu entwurzeln drohte. Inzwischen ist mir die Frau mit dem Kopftuch unentbehrlich geworden. Vielleicht ist dieses krampfhafte Meiden der Hoffnung ein bißchen lächerlich. Nichts vom Leben erwarten, um es nicht zu riskieren; sich tot stellen, um nicht zu sterben. Plötzlich kam es mir vor wie eine furchtbare, maßlos bange Lethargie; ich will, daß das endet. Nach der Flucht, nachdem ich gelebt habe, ohne Rücksicht auf eine Erschöpfung zu nehmen, die mich zerstörte, bin ich zur Gelassenheit gelangt; meine Entschlüsse liefern mich vielleicht wieder dieser Vergangenheit oder den Richtern aus; sie ziehe ich diesem langen Fegefeuer vor. Vor acht Tagen hat es angefangen. Damals verzeichnete ich das Wunder der Erscheinung dieser Leute; abends bebte ich in der Nähe der westlichen Klippen. Ich sagte mir, daß all dies vulgär sei: die zigeunerhafte Frau und meine Verliebtheit, typisch für einen überforderten Einsiedler. Noch zweimal ging ich abends dorthin: Die Frau war da, und allmählich fand ich, daß dies das einzig Wundersame sei; danach kamen die Unglückstage der Angler, an denen ich sie nicht sah, des Bärtigen, der Überschwemmung, der Ausbesserung der Flutschäden. Heute abend… Ich bin erschrocken; aber weit nachdrücklicher bin ich mit mir unzufrieden. Jetzt muß ich damit rechnen, daß jeden Augenblick -20-
die Eindringlinge kommen; wenn sie sich verspäten, malum signum: Sie kommen, um mich zu fangen. Ich werde dieses Tagebuch verstecken, mir eine Erklärung zurechtlegen und sie unweit des Boots erwarten, entschlossen zum Kampf, zur Flucht. Dennoch beschäftige ich mich nicht mit den Gefahren. Mir ist äußerst unbehaglich zumute: Die Fahrlässigkeiten, die ich begangen habe, könnten mich der Frau berauben, für immer. Nachdem ich gebadet hatte, ging ich ihr entgegen, sauber und noch ungepflegter (Wirkung der Feuchtigkeit in Bart und Schopf). Ich hatte mir folgenden Plan zurechtgelegt: Ich wollte sie auf den Klippen erwarten; bei ihrer Ankunft würde sie mich in den Sonnenuntergang vertieft finden; Überraschung und wahrscheinlich - Mißtrauen würden Zeit haben, sich in Neugier zu verwandeln; die gemeinsame Hingabe an den Abend würde vermitteln; sie würde mich fragen, wer ich sei; wir würden Freundschaft schließen… Ich kam sehr spät. (Meine Unpünktlichkeit erzürnt mich; dabei war sie doch an jenem Hof der Laster namens zivilisierte Welt, in Caracas, mühsam erarbeitete Zier, eine meiner persönlichsten Eigenarten!) Ich habe alles verdorben: Sie betrachtete den Sonnenuntergang, und ich tauchte jäh hinter ein paar Felsen auf. Jäh und struppig und von unten herauf zu sehen mußte ich da unbedingt erscheinen, mit meinen wuchernden Schreckensattributen! Die Eindringlinge müssen jeden Augenblick eintreffen. Ich habe noch keine Erklärung vorbereitet. Ich habe keine Angst. Diese Frau ist einiges mehr als eine falsche Zigeunerin. Ihre Courage erschreckt mich. Nichts zeigte, daß sie mich gesehen hatte. Kein Blinzeln, nicht einmal ein leichtes Zucken. Die Sonne stand noch über dem Horizont (nicht die Sonne; das Scheinbild der Sonne; es war jener Moment, in dem sie schon gesunken ist oder gleich sinken wird und man sie da sieht, wo sie nicht mehr ist). Ich war eilig die Felsen hinaufgeklettert. Ich sah sie: das bunte Kopftuch, die auf dem Knie gefalteten -21-
Hände, ihren Blick, der die Welt weiter machte. Mein Atem ließ sich nicht unterdrücken. Klippen und Meer schienen zu wabern. Als ich daran dachte, hörte ich das Meer mit seinem Geräusch von Steigen und Fallen, gleich neben mir, als hätte es sich an meiner Seite niedergelassen. Ich faßte mich ein wenig. Es war nicht anzunehmen, daß sie meinen Atem hörte. Da entdeckte ich - als ich den Moment des Anredens hinauszögern wollte - ein uraltes psychologisches Gesetz. Es wäre gut für mich, von einer höheren Warte aus zu sprechen, was mir den Blick von oben hinab gestatten würde. Diese physische Erhöhung sollte meine Unterlegenheit zum Teil ausgleichen. Ich stieg auf andere Felsen. Die Anstrengung verschlechterte meinen Zustand. Außerdem verschlechterten ihn: die Eile: Ich hatte mir die Verpflichtung auferlegt, sie noch heute anzusprechen. Wenn ich vermeiden wollte, daß sie mißtrauisch wurde - wegen der einsamen Stelle, wegen der Dunkelheit -, durfte ich keine Minute länger warten; ihr Anblick: als posiere sie für einen unsichtbaren Photographen, besaß sie die Ruhe des Abends, aber weit unermeßlicher. Ich sollte diese Ruhe stören. Etwas zu sagen war ein beunruhigendes Unterfangen. Ich wußte nicht, ob mir die Stimme gehorchen würde. Ich betrachtete sie, heimlich. Ich fürchtete, daß sie mich beim Spähen ertappen könnte; vielleicht war ich ihr zu jäh vor die Augen getreten; trotzdem wurde ihr Seelenfrieden nicht gestört; ihr Blick sah von mir ab, als wäre ich unsichtbar. Ich hielt mich nicht länger auf. »Senorita, hören Sie mich an…«, sagte ich, in der Hoffnung, daß sie meiner Bitte nicht nachkommen würde, denn ich war so bewegt, daß ich vergessen hatte, was ich sagen wollte. Das Wort Senorita klang, wie mir schien, auf der Insel lächerlich. Außerdem war der Satz viel zu herrisch (in Verbindung mit dem jähen Erscheinen, der Stunde und der Einsamkeit). Beharrlich sagte ich: »Mir ist klar, daß es unter Ihrer -22-
Würde…« Ich kann mich nicht genau erinnern, was ich gesagt habe. Ich war fast ohne Besinnung. Ich sprach mit leiser, gemessener Stimme, mit einer Zurückhaltung, die an Obszönitäten denken ließ. Wieder verfiel ich auf Senorita. Dann verzichtete ich auf Worte, gab mich der Betrachtung des Sonnenuntergangs hin und hoffte, die geteilte Schau dieses Friedens brächte uns einander näher. Ich begann wieder zu sprechen. Vor Anstrengung, mich zu beherrschen, senkte ich die Stimme, was die Obszönität des Tonfalls verstärkte. Weitere Minuten des Schweigens vergingen. Ich beharrte, flehte auf abstoßende Art. Am Ende war ich außerordentlich lächerlich: Bebend, fast schreiend bat ich sie, mich zu beleidigen, mich anzuzeigen, aber nicht einfach weiter zu schweigen. Es war nicht so, als hätte sie mich nicht gehört, nicht gesehen; es war, als ob ihre Ohren nicht zum Hören, die Augen nicht zum Sehen dienten. In gewisser Weise beleidigte sie mich; sie zeigte, daß sie keine Angst vor mir hatte. Es war schon dunkel, als sie ihre Stricktasche aufnahm und langsam zur Hügelkuppe ging. Die Männer sind immer noch nicht gekommen, um mich zu holen. Vielleicht kommen sie heute abend nicht. Vielleicht ist diese Frau insgesamt so erstaunlich, daß sie ihnen gegenüber mein Erscheinen gar nicht erwähnt hat. Die Nacht ist dunkel. Ich kenne die Insel gut: Ich fürchte nicht einmal eine Armee, wenn sie mich bei Nacht sucht. Wieder war es so, als hätte sie mich nicht gesehen. Ich machte keinen anderen Fehler, als daß ich stumm blieb und zuließ, daß abermals Schweigen herrschte. Als die Frau auf den Klippen eintraf, betrachtete ich den Sonnenuntergang. Sie blieb reglos stehen und suchte eine Stelle, um ihren Umhang auszubreiten. Dann kam sie auf mich zu. Ich hätte nur den Arm ausstrecken müssen, um sie zu berühren. Bei -23-
dieser Möglichkeit graute mir (wie vor der Gefahr, ein Gespenst zu berühren). In ihrer Art, mich zu ignorieren, lag etwas Entsetzliches. Als sie sich dann jedoch neben mir niederließ, forderte sie mich heraus und beendete damit gewissermaßen das Ignorieren. Sie nahm ein Buch aus der Tasche und begann zu lesen. Ich nutzte die Waffenpause, um mich wieder zu sammeln. Als ich bald darauf sah, wie sie das Buch sinken ließ und den Blick hob, dachte ich: ›Sie bereitet eine Anrede vor.‹ Zu dieser kam es jedoch nicht. Das Schweigen verdichtete sich, unentrinnbar. Ich begriff, wie folgenschwer es war, dieses Schweigen nicht zu brechen; trotzdem blieb ich stumm, ohne Verstocktheit, ohne Motiv. Keiner ihrer Gefährten ist gekommen, um mich zu holen. Vielleicht hat sie ihnen nichts von mir gesagt; vielleicht macht es ihnen Sorgen, daß ich mich auf der Insel auskenne (deshalb kommt die Frau jeden Tag wieder, unter Vorspiegelung einer amourösen Episode). Ich bleibe mißtrauisch. Ich bin darauf vorbereitet, auch die heimlichste Verschwörung zu durchkreuzen. Ich habe bei mir den Hang entdeckt, ausschließlich schlimme Folgen vorauszusehen. Das hat sich in den letzten drei oder vier Jahren ausgeprägt; es ist kein Zufall; es stört mich nicht. Daß die Frau wiederkommt, meine Nähe sucht, all das scheint auf eine Wendung hinzudeuten, die zu glücklich ist, als daß ich sie mir vorstellen könnte… Vielleicht gelingt es mir, meinen Bart zu vergessen, mein Alter, die Polizei, die mich so verfolgt hat und mich wohl immer noch sucht, hartnäckig wie ein wirksamer Fluch. Ich darf mir keine Hoffnungen machen. Und während ich das schreibe, kommt mir eine Idee, die eine Hoffnung ist. Ich glaube nicht, daß ich die Frau gekränkt habe, aber vielleicht wäre es doch ratsam, mich bei ihr zu entschuldigen. Was tut ein Mann bei solchen Anlässen? Er schickt Blumen. Ein lächerliches Vorhaben, aber derlei Albernheiten, wenn sie nur demütig sind, erobern das Herz. Auf der Insel wachsen viele -24-
Blumen. Als ich herkam, gab es um Becken und Museum noch einige Beete. Sicher werde ich auf der Wiese bei den Klippen ein Gärtchen anlegen können. Vielleicht verhilft die Natur zu vertraulichem Umgang mit einer Frau. Vielleicht hilft sie mir, dem Schweigen und der Heimlichkeit ein Ende zu machen. Dies wird mein letzter Rückgriff auf die Poesie sein. Ich habe noch nie Farben kombiniert; von Malerei verstehe ich so gut wie nichts… Dennoch vertraue ich darauf, ein bescheidenes Werk zustande bringen zu können, das für einen Hang zur Gärtnerei zeugen sollte. Ich bin früh aufgestanden. Ich fand, dieses Opfer sei groß genug, daß das Werk gelingen könne. Ich musterte die Blumen (am Fuß der Hänge gibt es sie überreichlich). Ich riß jene aus, die mir am wenigsten unangenehm erschienen. Auch die mit eher vagen Farben haben eine beinahe animalische Lebenskraft. Nach einer Weile betrachtete ich sie abermals, um sie zu ordnen, da ich sie inzwischen nicht mehr mit dem Arm umfassen konnte: Sie waren tot. Ich wollte mein Vorhaben schon aufgeben, aber mir fiel ein, daß es weiter oben, in Sichtweite des Museums, eine andere Stelle mit vielen Blumen gibt. Da es noch früh am Tag war, hielt ich es für ungefährlich, hinzugehen und sie zu besichtigen. Die Eindringlinge schliefen gewiß noch. Die Blumen sind klein und zäh. Ich schnitt ein paar von ihnen ab. Sie haben es mit dem Sterben nicht so ungeheuer eilig. Ihre Nachteile: die Winzigkeit, und daß man mich vom Museum aus sehen kann. Fast den ganzen Morgen über habe ich riskiert, von jedem entdeckt zu werden, der den Nerv hat, vor zehn Uhr aufzustehen. Anscheinend wurde diese bescheidene Bedingung für ein Unglück nicht erfüllt. Während ich damit beschäftigt war, die Blumen zu sammeln, habe ich das Museum beobachtet, aber keinen seiner Insassen erblickt; das erlaubt mir die Vermutung, daß auch mich niemand sah. Die Blumen sind sehr klein. Ich werde Tausende und Abertausende pflanzen -25-
müssen, wenn mein Gärtchen nicht winzig ausfallen soll (das wäre zwar hübscher und leichter zu schaffen; aber die Gefahr besteht, daß die Frau es nicht sieht). Ich machte mich daran, die Beete abzustechen, die Erde aufzuhacken (sie ist hart; die planierten Flächen sind sehr groß) und mit Regenwasser zu gießen. Wenn ich mit der Vorbereitung des Bodens fertig bin, werde ich noch mehr Blumen holen müssen. Ich werde alles nur mögliche tun, um nicht erwischt, vor allem nicht in der Arbeit unterbrochen zu werden, sonst sehen sie alles, bevor es fertig ist. Ich hatte vergessen, daß es kosmische Voraussetzungen für den Transport von Pflanzen gibt. Ich mag nicht glauben, daß nach so vielen Gefahren und Mühen die Blumen nicht bis zum Sonnenuntergang überleben sollten. Mir fehlt jeder ästhetische Sinn für Gärten; aber wie auch immer: zwischen Wiesen und strohigem Gesträuch wird mein Werk rührend wirken. Natürlich wird es Trug sein; meinem Plan entsprechend ist es heute abend ein gepflegter Garten, morgen vielleicht tot oder ohne Blumen (wenn es Wind gibt). Ich schäme mich ein wenig, meinen Entwurf zu erläutern: eine riesige sitzende Frau, die den Sonnenuntergang betrachtet, die Hände auf einem Knie gefaltet; ein winziger Mann aus Blättern, der vor der Frau kniet (unter ihn werde ich in Klammern das Wort »ICH« setzen). Es wird diese Inschrift geben: »Erhabene, nicht Ferne, Mysteriöse, mit dem lebendigen Schweigen der Rose.« Meine Mattigkeit gleicht fast schon einer Krankheit. In greifbarer Nähe habe ich die himmlische Möglichkeit, mich unter den Bäumen bis sechs Uhr hinzulegen. Ich werde es auf später verschieben. Der Grund für dieses Schreibbedürfnis muß in den Nerven liegen. Der rationale Vorwand ist, daß meine Handlungen mich jetzt einer meiner drei Zukünfte näherbringen: -26-
das Zusammensein mit der Frau, die Einsamkeit (oder auch der Tod, in dem ich die letzten Jahre verbrachte und der unmöglich geworden ist, seit ich die Frau geschaut habe) und die furchtbare Justiz. Welche von diesen? Es ist schwer, das beizeiten zu wissen. Die Erinnerungen abzufassen und zu lesen könnte mir immerhin bei dieser wichtigen Prognose helfen; vielleicht erlauben sie mir sogar die Mitarbeit dabei, die passende Zukunft zu bewirken. Ich habe wie ein Zauberkünstler gearbeitet; das Werk steht in keinem Verhältnis zum Aufwand, der es schuf. Vielleicht beruht die Magie gerade darauf, daß ich mich den Einzelheiten widmen mußte, der Schwierigkeit, jede einzelne Blume zu pflanzen und nach der zuvor gesetzten auszurichten. Aus der Arbeit heraus ließ sich das vollendete Werk nicht vorhersehen; es mochte ebensogut eine ungeordnete Menge von Blumen werden wie eine Frau. Trotzdem wirkt das Werk nicht improvisiert; es ist von zufriedenstellender Schönheit. Meinen Entwurf konnte ich nicht ausführen. Es kostet nicht mehr, sich eine Sitzende mit auf dem Knie gefa lteten Händen vorzustellen als eine Stehende; erstere aus Blumen zu schaffen ist dagegen fast unmöglich. Die Frau ist von vorn zu sehen, Füße und Kopf im Profil, den Blick auf einen Sonnenuntergang gerichtet. Das Gesicht und ein Tuch aus violetten Blumen bilden den Kopf. Die Hautfarbe ist nicht gut getroffen. Es gelang mir nicht, jenen dunklen Ton hervorzubringen, der mich abstößt und anzieht. Das Kleid ist aus blauen Blumen; es hat weiße Fransen. Die Sonne besteht aus ein paar von den seltsamen Sonnenblumen, die es hier gibt. Das Meer ist aus den gleichen Blumen wie das Kleid. Ich bin winzig klein (ein Drittel so groß wie die Frau) und grün, aus Blättern gemacht. Ich habe die Inschrift abgeändert. Die erste war viel zu lang, um sie mit Blumen herzustellen. Ich änderte sie zu: »Vom Tod auf dieser Insel hast du mich erweckt.« Es amüsierte mich, ein schlafloser Toter zu sein. Diesem Scherz -27-
zuliebe vernachlässigte ich die Höflichkeit: Der Satz mochte implizit einen Vorwurf enthalten. Trotzdem kam ich auf diesen Einfall zurück. Ich glaube, mich blendeten: der Drang, mich als Ex-Toten zu präsentieren; die literarische oder kitschige Entdeckung, daß an der Seite dieser Frau der Tod unmöglich sei. Bei aller Monotonie waren die möglichen Abwandlungen fast ungeheuerlich: »Einen Toten hast du auf dieser Insel erweckt.« Oder: »Nicht länger bin ich tot: Ich bin verliebt.« Ich verlor den Mut. Die Blumeninschrift lautet: »Die schüchterne Huldigung einer Liebe.« Alles verlief so normal wie vorauszusehen, aber in unerwartet glimpflicher Form. Ich bin verloren. Mit dem Anlegen dieses Gärtchens habe ich einen wahnsinnigen Fehler begangen, einen Fehler wie Ajax oder irgendein anderer längst vergessener hellenischer Name -, als er die Tiere abschlachtete; aber in diesem Fall bin ich die gemetzelten Tiere. Die Frau kam früher als gewöhnlich. Sie ließ die Tasche (mit einem halb herauslugenden Buch) auf einem Felsen liegen und breitete über einen anderen, flacheren, den Umhang. Sie trug ein Tenniskostüm, um den Kopf ein fast violettes Tuch. Eine Zeitlang schaute sie beinahe schläfrig aufs Meer; dann stand sie auf und holte das Buch. Sie bewegte sich mit der Ungezwungenheit, die wir besitzen, wenn wir allein sind. Auf dem Hin- und Rückweg ging sie an meinem Gärtchen vorbei, tat aber so, als sähe sie es nicht. Ich legte gar keinen Wert darauf, daß sie es sah; im Gegenteil: Als die Frau erschien, begriff ich meinen bestürzenden Irrtum, und ich litt, weil ich ein Werk, das mich auf immer verdammte, nicht zurücknehmen konnte. Allmählich beruhigte ich mich, vielleicht habe ich auch das Bewußtsein verloren. Die Frau schlug das Buch auf, legte eine Hand zwischen die Seiten und blickte weiter in den Abend. Sie ging erst, als es dunkel war. Jetzt tröste ich mich, indem ich über -28-
meine Verdammnis nachdenke. Ist sie gerecht oder nicht? Was darf ich noch erhoffen, nachdem ich ihr dieses geschmacklose Gärtchen gewidmet habe? Ich lehne mich nicht auf, glaube aber, daß mich das Werk nicht verdammen muß, wenn es mir denn zusteht, es zu kritisieren. In der Wahrnehmung eines allwissenden Wesens bin ich nicht der Mann, den dieser Garten befürchten läßt. Trotzdem habe ich ihn geschaffen. Ich wollte eben sagen, daß sich hier die Gefahren des Schöpferischen offenbaren, die Schwierigkeit nämlich, gleichzeitig und ausgewogen unterschiedliche Bewußtseinszustände zu bergen. Aber was soll's? Das sind schale Tröstungen. Alles ist verloren: das Leben mit der Frau wie die vergangene Einsamkeit. Ohne Ausflucht verweile ich in diesem Monolog, der ab jetzt nicht mehr zu rechtfertigen ist. Trotz meiner Nerven fühlte ich mich heute inspiriert, als der Nachmittag, der unbefleckten Gelassenheit, der Großartigkeit dieser Frau teilhaftig, verging. Dies Wohlgefühl überkam mich in der Nacht abermals; ich träumte von dem Bordell der blinden Frauen, das ich mit Ombrellieri in Kalkutta besuchte. Die Frau erschien, und das Bordell verwandelte sich in einen prunkvollen florentinischen Palast mit Stuckverzierungen. Verwirrt brach ich in den Ruf aus: »Wie romantisch!« - weinerlich vor poetischer Glückseligkeit und Dünkel. Aber ich wachte mehrmals auf, beklommen wegen meines Mangels an Vorzügen angesichts der strengen Feinheit der Frau. Das werde ich nicht vergessen: Sie bezwang das Mißfallen, das mein gräßliches Gärtchen in ihr erregte, und barmherzig gab sie vor, es nicht zu sehen. Außerdem machte es mich beklommen, Valencia und Tea for Two zu hören, von einem überlauten Grammophon bis zum Sonnenaufgang wiederholt. Alles, was ich über mein Schicksal geschrieben habe - mit Hoffnungen oder Furcht, im Scherz oder im Ernst -, quält mich. Was ich empfinde, ist unerfreulich. Mir scheint, daß ich schon -29-
lange wußte, wie unselig meine Handlungsweise ist, und daß ich dennoch leichtsinnig und stur weitergemacht habe… In einem Traum, im Wahnsinn hätte ich mich so verhalten dürfen… Heute überkam mich bei der Siesta, wie ein symbolischer, vorgreifender Kommentar, dieser Traum: Während ich eine Partie Krocket spielte, wußte ich, daß der Verlauf meines Spiels eben einen Menschen tötete. Dann war unwiderruflich ich selber dieser Mensch. Nun geht der Albtraum weiter… Mein Scheitern ist endgültig, und ich verlege mich darauf, Träume zu erzählen. Ich will aufwachen und stoße auf diesen Widerstand, der einen daran hindert, aus den gräßlichsten Träumen herauszufinden. Heute wollte die Frau mich ihre Gleichgültigkeit spüren lassen. Das ist ihr gelungen. Aber ihre Taktik ist unmenschlich. Ich bin das Opfer; dennoch glaube ich, die Frage objektiv zu sehen. Sie kam mit dem scheußlichen Tennisspieler. Die Anwesenheit die ses Mannes sollte jede Eifersucht beschwichtigen. Er ist sehr groß. Er trug ein viel zu weites granatrotes Tennisjackett, weiße Hosen und übergroße weißgelbe Schuhe. Der Bart wirkte unecht. Die Haut ist feminin, wächsern, an den Schläfen marmorn. Die Augen sind dunkel, die Zähne widerlich. Er spricht langsam und macht den kleinen runden Mund sehr weit auf; seine Lautbildung ist kindisch, und dabei zeigt er eine kleine, rundliche, hochrote Zunge, die ständig an den unteren Zähnen klebt. Die Hände sind riesig und fahl; ich vermute, daß sie mit einer dünnen feuchten Schicht überzogen sind. Ich versteckte mich sofort. Ich weiß nicht, ob sie mich gesehen hat, nehme es jedoch an, weil sie mich keinen Moment lang mit dem Blick zu suchen schien. Ich bin sicher, daß mein Gärtchen dem Mann erst ganz zuletzt aufgefallen ist. Sie gab vor, es nicht zu sehen. Ich hörte ein paar Ausrufe auf Französisch. Danach schwiegen sie. Es war, als habe sie beim Anblick des Meeres jähe Traurigkeit überfallen. Der Mann sagte etwas. Imme r wenn -30-
sich eine Woge an den Klippen brach, machte ich rasch zwei, drei Schritte zu den beiden hin. Es waren Franzosen. Die Frau schüttelte den Kopf; ich hörte nicht, was sie sagte, aber zweifellos war es eine Verneinung; sie hielt die Augen geschlossen und lächelte bitter oder ekstatisch. »Glauben Sie mir, Faustine…«, sagte der Bärtige mit kaum verhohlener Verzweiflung, und so erfuhr ich ihren Namen: Faustine. (Aber er hat jede Bedeutung verloren.) »Nein… ich weiß doch, worauf Sie hinauswollen…« Sie läche lte, weder bitter noch ekstatisch, sondern leichtfertig. Ich weiß noch, daß ich sie in diesem Augenblick gehaßt habe. Sie spielte mit dem Bärtigen und mit mir. »Ein Jammer, daß wir uns nicht verstehen. Die Zeit ist so kurz: drei Tage, danach spielt es keine Rolle mehr.« Ich verstehe die Situation nicht recht. Dieser Mann kann nur mein Feind sein. Auf mich wirkte er traurig; es sollte mich nicht wundern, wenn seine Trauer gespielt wäre. Faustines Spiel ist unerträglich, nahezu grotesk. Der Mann wollte seinen zuvor geäußerten Worten Gewicht verleihen. Er sagte ein paar Sätze etwa folgenden Inhalts: »Kein Grund, sich deswegen den Kopf zu zerbrechen. Wir werden schon nicht ewig diskutieren.« »Morel«, erwiderte Faustine töricht, »wissen Sie, daß ich Sie rätselhaft finde?« Faustines Frage konnte ihn nicht von seinem spöttischen Tonfall abbringen. Der Bärtige ging und holte das Tuch und die Tasche. Sie befanden sich auf einem Felsen, wenige Meter entfernt. Er kam zurück, schwenkte Tuch und Tasche und sagte: »Nehmen Sie meine Worte nicht zu ernst… Manchmal glaube ich, wenn ich Ihre Neugier wecke… Aber ärgern Sie sich nicht…« -31-
Während er hin und her ging, zertrat er mein armes Gärtchen. Ich weiß nicht, ob es bewußt geschah oder mit aufreizender Achtlosigkeit. Faustine sah es, ich schwöre, daß sie es sah, und sie wollte mir diese Kränkung nicht ersparen; lächelnd stellte sie ihm weiter Fragen, interessiert, fast hingegeben vor Neugier. Ihr Verhalten kam mir schäbig vor. Das Gärtchen zeugt gewiß von sehr schlechtem Geschmack. Aber warum läßt sie es von einem Bärtigen zertrampeln? Bin ich nicht schon zertrampelt genug? Aber was kann man von solchen Leuten erwarten? Beide entsprechen vom Typ her dem Ideal, dem die Verfertiger obszöner Postkartenserien immer nachjagen. Sie harmonieren: ein bleicher Bärtiger und eine üppige Zigeunerin mit großen Augen… Beinahe glaube ich, daß ich sie in den Spitzenkollektionen des Portico Amarillo in Caracas schon gesehen habe. Immerhin kann ich mich fragen: Was soll ich davon halten? Sie ist zwar eine abscheuliche Frau, aber worauf will sie hinaus? Vielleicht spielt sie mit mir und mit dem Bärtigen; es ist aber auch möglich, daß der Bärtige nur ein Werkzeug für sie ist, um mit mir zu spielen. Daß sie ihn leiden läßt, kümmert sie nicht. Vielleicht ist Morel nur eine Art Betonung ihrer Gleichgültigkeit mir gegenüber und ein Zeichen, daß diese nun den Gipfel und das Ende erreicht. Aber wenn nicht… Sie übersieht mich schon lange… Ich glaube, ich bringe sie um oder werde verrückt, wenn sie so weitermacht. Manchmal denke ich, der überaus ungesunde Südteil der Insel muß mich wohl unsichtbar gemacht haben. Das wäre ein Vorteil: Ich könnte Faustine ohne jede Gefahr rauben… Gestern bin ich nicht zu den Klippen gegangen. Immer wieder habe ich mir gesagt, ich würde auch heute nicht hingehen. Als der halbe Nachmittag vorbei war, wußte ich, daß ich gehen würde. Faustine war nicht da, und wer weiß, wann sie wiederkommt. Ihr Spielchen mit mir ist zu Ende (mit dem -32-
Zertrampeln des Gärtchens). Jetzt wird meine Anwesenheit sie anöden wie ein Scherz, der einmal ganz lustig war und den jemand wiederholen will. Ich werde dafür sorgen, daß er sich nicht wiederholt. Aber auf den Klippen war ich außer mir. ›Es ist meine Schuld‹, sagte ich mir (daß Faustine nicht erschien), ›weil ich so fest entschlossen war, wegzubleiben.‹ Ich stieg den Hügel hinauf. Ich trat hinter einem Gesträuch hervor und fand mich zwei Männern und einer Dame gegenüber. Ich blieb stehen, hielt den Atem an; zwischen uns war nichts (fünf Meter leeren dämmrigen Raums). Die Männer wandten mir den Rücken zu; die Dame saß mir gegenüber und sah mich an. Ich bemerkte, daß sie erschauerte. Jäh drehte sie sich um und blickte zum Museum hinüber. Ich verbarg mich hinter Gesträuch. Sie sagte mit munterer Stimme: »Das ist nicht die Stunde für Gespenstergeschichten. Gehen wir hinein.« Noch immer weiß ich nicht, ob sie sich wirklich Gespenstergeschichten erzählt haben oder ob in dem Satz die Gespenster vorkamen, um anzudeuten, daß etwas Sonderbares geschehen sei (mein Erscheinen). Sie brachen auf. Ein Mann und eine Frau gingen spazieren, nicht weit entfernt. Ich hatte Angst, sie könnten mich entdecken. Das Paar kam näher. Ich hörte eine bekannte Stimme: »Heute bin ich nicht nachschauen gegangen…« (Es überlief mich heiß. Mir war, als sei mit dieser Bemerkung ich gemeint.) »Tut es dir sehr leid?« Ich weiß nicht, was Faustine darauf sagte. Der Bärtige hatte Fortschritte gemacht. Sie duzten sich. Ich bin in die Niederung zurückgekehrt, entschlossen zu bleiben, bis das Meer mich davonspült. Wenn die Eindringlinge mich holen kommen, werde ich mich nicht ergeben und auch nicht fliehen. Mein Entschluß, mich Faustine nicht mehr zu zeigen, hielt -33-
vier Tage lang vor (bekräftigt von zwei Fluten, die mir Arbeit machten). Ich ging früh zu den Klippen. Dann trafen Faustine und der falsche Tennisspieler ein. Sie sprachen korrektes Französisch; sehr korrektes; fast wie Südamerikaner. »Habe ich Ihr Vertrauen ganz verloren?« »Völlig.« »Früher haben Sie an mich geglaubt.« Mir fiel auf, daß sie sich nicht mehr duzten; aber sogleich sagte ich mir, daß Leute, wenn sie sich zu duzen beginnen, gelegentliche Rückfälle ins Siezen nicht vermeiden können. Vielleicht dachte ich das aber auch unter dem Einfluß des Gesprächs, dem ich lauschte. Es enthielt ebenfalls diesen Gedanken an eine Rückkehr zur Vergangenheit, aber bezogen auf andere Themen. »Und würden Sie mir glauben, wenn ich Sie in eine Zeit vor dem Abend damals in Vincennes zurückversetzen könnte?« »Ich könnte Ihnen nie mehr glauben. Niemals.« »Der Einfluß der Zukunft auf die Vergangenheit«, sagte Morel schwärmerisch mit sehr leiser Stimme. Danach verstummten sie und betrachteten das Meer. Der Mann begann zu sprechen, als bräche er einen bedrückenden Bann: »Glauben Sie mir, Faustine…« Er schien mir verbohrt. Er kam wieder mit den gleichen Bitten, die ich vor acht Tagen gehört hatte. »Nein… ich weiß doch, worauf Sie hinaus wollen…« Gespräche wiederholen sich; dafür bedarf es keiner Rechtfertigung. Der Leser sollte hier nicht meinen, die bittere Frucht meiner Lage zu entdecken; ebensowenig sollte er sich in der sehr billigen Assoziation der Wörter Verfolgter, Einsiedler, Menschenfeind gefallen. Ich habe das Thema vor meinem Prozeß studiert: Gespräche sind Austausch von Mitteilungen (Beispiel: meteorologische), von Entrüstungen oder Erheiterungen (Beispiel: intellektuelle), die den Gesprächspartnern bekannt sind oder von ihnen geteilt werden. Die Lust zu reden, Übereinstimmungen oder Abweichungen -34-
auszudrücken, bewegt alles. Ich betrachtete sie, hörte sie. Ich spürte, daß etwas Seltsames vorging; ich wußte nicht, was es war. Ich war empört über diesen lächerlichen Schuft. »Wenn ich Ihnen alles erzählte, wonach ich suche…« »Würde ich Sie dann beschimpfen?« »Oder wir würden uns verstehen. Die Zeit ist kurz. Drei Tage. Ein Jammer, daß wir uns nicht verstehen.« Langsam in meinem Bewußtsein, präzise in der Realität stimmten die Wörter und Bewegungen von Faustine und dem Bärtigen mit ihren Wörtern und Bewegungen vor acht Tagen überein. Die gräßliche Ewige Wiederkehr. Allerdings unvollkommen: Mein Gärtchen, damals von Morels Tritten zertrampelt, ist heute ein trüber Fleck mit Überresten toter Blumen, am Boden zerquetscht. Der erste Eindruck machte mir Vergnügen. Ich dachte, ich hätte etwas entdeckt: In unserem Verha lten muß es unerwartete, ständige Wiederholungen geben. Die günstige Gelegenheit hat mir erlaubt, das zu bemerken. Man ist nicht oft geheimer Zeuge mehrerer Gespräche derselben Personen. Wie im Theater wiederholen sich die Szenen. Als ich Faustine und dem Bärtigen zuhörte, korrigierte ich meine Erinnerung an das frühere Gespräch (aus dem Gedächtnis vor ein paar Seiten niedergeschrieben). Ich fürchtete, diese Entdeckung sei nur die Folge einer Gedächtnisschwäche oder des Vergleichs einer wirklichen mit einer durch Vergeßlichkeit vereinfachten Szene. Danach nahm ich sehr verdrossen an, das Ganze sei eine burleske Aufführung, ein gegen mich gerichteter Streich. Ich muß etwas erklären. Nie habe ich bezweifelt, daß es sinnvoll sei, dafür zu sorgen, daß Faustine unsere exklusive Bedeutung füreinander empfand (und daß der Bärtige nicht zählte). Dennoch hatte ich Lust bekommen, dieses Individuum -35-
zu züchtigen, hatte mich mit der unentwickelten Idee amüsiert, ihn auf eine Weise zu schmähen, die ihn sehr lächerlich machen würde. Die Gelegenheit war da. Wie sollte ich sie nutzen? Ich zwang mich zum Versuch, darüber nachzudenken (ausschließlich mit meinem Zorn befaßt). Reglos, als dächte ich nach, wartete ich auf den geeigneten Moment, um ihm entgegenzutreten. Der Bärtige ging Faustines Tuch und Tasche holen. Er kam zurück und schwenkte sie, wobei er (wie beim ersten Mal) sagte: »Nehmen Sie meine Worte nicht zu ernst… Manchmal glaube ich…« Er war einige Meter von Faustine entfernt. Ich trat vor, entschlossen zu allem, jedoch zu nichts im besonderen. Spontaneität ist die Quelle von Grobheiten. Ich deutete auf den Bärtigen, als wollte ich ihn Faustine vorstellen, und schrie: »La femme à barbe, Madame Faustine.« Es war kein gelungener Scherz; es war ja nicht einmal klar, gegen wen er sich richtete. Der Bärtige ging weiter auf Faustine zu und stieß nur deshalb nicht mit mir zusammen, weil ich mich jäh zur Seite warf. Die Frau hörte weder mit ihren Fragen auf, noch veränderte sich die Heiterkeit ihres Gesichts. Ihre Gelassenheit erschreckt mich noch immer. Von diesem Augenblick bis heute abend hat mich die Scham gequält; am liebsten wäre ich vor Faustine auf die Knie gesunken. Ich konnte nicht bis Sonnenuntergang warten. Ich lief zum Hügel, entschlossen, mich preiszugeben, und mit der Vorahnung, daß ich, wenn alles gut ginge, doch nur eine Szene melodramatischen Flehens machen würde. Ich hatte mich geirrt. Für die Vorgänge gibt es keine Erklärung. Der Hügel ist unbewohnt. Als ich den unbewohnten Hügel sah, fürchtete ich, die Erklärung in einem Hinterhalt zu finden, in den ich bereits -36-
geraten sei. Verstört lief ich durch das ganze Museum, wobei ich mich mehrmals versteckte. Aber man brauchte nur die wie von Vereinsamung überzogenen Möbel und Wände anzusehen, um sich davon zu überzeugen, daß hier niemand war. Mehr noch: um sich zu überzeugen, daß hier nie jemand gewesen war. Nach einer Abwesenheit von fast zwanzig Tagen kann man schwerlich behaupten, daß alle Gegenstände eines Hauses mit vielen Räumen sich noch dort befinden, wo sie waren, als man wegging; trotzdem halte ich es bei mir für bewiesen, daß die fünfzehn Personen (samt etwa ebenso zahlreicher Dienerschaft) keine Bank, keine Lampe verrückt oder - sofern sie etwas verrückt haben - alles wieder an denselben Platz und in dieselbe Lage wie vorher gebracht haben. Ich habe die Küche, die Waschküche inspiziert: Das Essen, das ich vor zwanzig Tagen hinterlassen, die Wäsche (gestohlen aus einem Schrank im Museum), die ich vor zwanzig Tagen zum Trocknen aufgehängt habe, waren noch da; das eine verdorben, das andere trocken, beides unberührt. In diesem leeren Haus schrie ich: »Faustine, Faustine!« Keine Antwort. Zwei Dinge gibt es - eine Tatsache und eine Erinnerung -, die ich heute als miteinander verknüpft ansehe und die eine Erklärung bieten. In letzter Zeit hatte ich mich damit befaßt, neue Wurzeln zu erproben. Ich glaube, die Indios in Mexiko kennen ein Gebräu aus dem Saft von Wurzeln - so meine Erinnerung (oder mein Vergessen) -, das tagelange Delirien bewirkt. Die Schlußfolgerung (hinsichtlich des Aufenthalts von Faustine und ihren Freunden auf der Insel) ist logisch zulässig; ich müßte mir aber etwas vormachen, wenn ich sie ernst nehmen wollte. Ich scheine mir ja überhaupt einiges vorzumachen: Ich habe Faustine verloren und beschäftige mich mit der Darlegung dieser Probleme für einen hypothetischen Beobachter, einen Dritten. Aber ich erinnerte mich, ungläubig, an meinen Status als Flüchtiger und an die höllische Macht der Justiz. Vielleicht -37-
war alles eine maßlose Kriegslist. Ich durfte nicht mutlos werden, in meiner Widerstandskraft nicht nachlassen: Die Katastrophe könnte zu furchtbar sein. Ich inspizierte die Kapelle, die Keller. Ich beschloß, die ganze Insel zu untersuchen, ehe ich mich hinlegte. Ich ging zu den Felsen, zu den Wiesen am Hügel, den Stranden, in die Niederungen (aus übermäßiger Vorsicht). Ich mußte akzeptieren, daß die Eindringlinge nicht mehr auf der Insel waren. Als ich zum Museum zurückkehrte, war es fast Nacht. Ich war nervös. Ich sehnte mich nach der Helligkeit von elektrischem Licht. Ich versuchte viele Schalter; es gab kein Licht. Damit scheint meine Annahme bestätigt zu sein, daß die Gezeiten wohl die Motoren mit Energie versorgen (mittels dieser hydraulischen Mühle oder Walze in der Niederung). Die Eindringlinge sind mit Licht verschwenderisch umgegangen. Nach den beiden letzten Hochfluten ist das Wetter länger ruhig gewesen. Das endete an eben diesem Abend, als ich das Museum betrat. Ich mußte alles zusperren; es war, als wollten der Wind und das Meer die Insel zerstören. Im ersten Keller, zwischen Motoren, die im Zwielicht ungeheuerlich wirkten, empfand ich endgültige Niedergeschlagenheit. Die für einen Selbstmord nötige Anstrengung war überflüssig, da mir ja nach Faustines Verschwinden nicht einmal die anachronistische Befriedigung des Todes bleiben konnte. Eher der Form halber, um meinen Abstieg in den Keller zu rechtfertigen, wollte ich die Lichtmaschine in Betrieb setzen. Es gab eine Reihe schwacher Explosionen; dann wurde alles wieder still, während der Sturm die Äste einer Zeder gegen das dicke Glas des Fensters schlug. Ich erinnere mich nicht, wie ich herausgekommen bin. Als ich oben war, hörte ich einen Motor. Das schnell aufflackernde, schräge Licht erfaßte alles, und ich fand mich zwei Männern gegenüber: einer in Weiß und einer in Grün (ein Koch und ein -38-
Diener). Ich weiß nicht mehr, welcher von beiden (auf Spanisch) sagte: »Können Sie mir wohl sagen, warum er diesen gottverlassenen Ort ausgesucht hat?« »Er wird es schon wissen.« (Ebenfalls auf Spanisch.) Ich lauschte gespannt. Das waren andere Leute. Diese (aus meinem durch Entbehrungen, Gifte und Sonnen gepeinigten Hirn oder aus dem Boden dieser mörderischen Insel) neu Aufgetauchten waren iberischer Abkunft, und diese Sätze brachten mich zu dem Schluß, daß Faustine nicht zurückgekehrt war. Sie sprachen ganz ruhig weiter, als hätten sie meine Schritte nicht gehört, als wäre ich überhaupt nicht da. »Das mag sein; aber wie ist Morel bloß darauf gekommen?« Ein Mann unterbrach sie mit dem verärgerten Ausruf: »Wird's bald? Das Essen ist seit einer Stunde fertig.« Er starrte sie an (so intensiv, daß ich mich fragte, ob er nicht gegen den Drang kämpfte, mich zu mustern) und verschwand gleich wieder, immer noch zeternd. Ihm folgte der Koch; der Diener lief in die entgegengesetzte Richtung. Ich bemühte mich um Gelassenheit, aber ich zitterte. Ein Gong ertönte. In diesen Momenten meines Lebens hätten auch Helden sich zur Angst bekannt. Ich glaube, noch jetzt wären sie nicht ganz ruhig. Aber dort kam ein Grauen zum anderen. Glücklicherweise dauerte es nicht lang. Ich erinnerte mich an diesen Gong. Im Speisesaal hatte ich ihn oft gesehen. Ich wollte fliehen. Dann beruhigte ich mich ein wenig. Zu fliehen war vollkommen unmöglich. Der Sturm, das Boot, die Nacht… Aber auch ohne den Sturm wäre es nicht weniger schrecklich gewesen, in dieser mondlosen Nacht in See zu gehen. Außerdem hätte sich das Boot nicht lange über Wasser halten können. Was die Niederungen anging, so waren sie bestimmt überflutet. Meine Flucht hätte ganz in der Nähe geendet. Es war besser, zu lauschen, die Bewegungen dieser Leute zu beobachten, zu -39-
warten. Ich sah mich um und versteckte mich (mit einem Lächeln ob meiner Geschicklichkeit) in einem Kämmerchen unter der Treppe. Das war (dachte ich später) sehr ungeschickt. Wenn sie mich gesucht hätten, hätten sie da bestimmt hineingesehen. Ich blieb dort eine Weile, ohne zu denken, ganz ruhig, aber immer noch verwirrt. Zwei Probleme stellten sich mir: Wie waren sie auf die Insel gekommen? Bei diesem Sturm hätte kein Kapitän anzulegen gewagt; sich auszuschiffen, indem man in Boote umstieg, war unmöglich. Wann waren sie gekommen? Das Essen war schon länger fertig; aber erst vor einer Viertelstunde war ich zu den Motoren hinuntergegangen, und da hatte sich noch niemand auf der Insel befunden. Sie hatten Morel erwähnt. Bestimmt handelte es sich um die Wiederkehr derselben Personen. Möglich, dachte ich mit klopfendem Herzen, daß ich Faustine wiedersehe. Ich spähte hinaus, in Erwartung einer plötzlichen Festnahme, des Endes meiner Wirrungen. Kein Mensch war da. Ich ging die Treppe hinauf, durch die Gänge im Zwischenstock; auf einer der vier Emporen beugte ich mich zwischen dunklem Laub und einer Terrakotta-Gottheit vor, über den Speisesaal. Etwas mehr als ein Dutzend Personen saß um den Tisch. Ich nahm an, daß es sich um neuseeländische oder australische Touristen handelte; sie schienen sich auf einen längeren Aufenthalt eingerichtet zu haben und würden nicht so bald abreisen. Ich erinnere mich gut: Ich sah die Versammlung, verglich sie mit Touristen, fand, daß sie nicht nach durchreisenden Gästen aussahen, und erst dann dachte ich an Faustine. Ich suchte und fand sie sofort. Es war eine angenehme Überraschung: Der Bärtige saß nicht neben Faustine; es war eine heikle Freude: Der Bärtige war nicht da (aber bevor ich an diese Freude glaubte, sah ich ihn Faustine gegenüber). Die Unterhaltungen schleppten sich dahin. Morel schlug als -40-
Thema die Unsterblichkeit vor. Man sprach von Reisen, von Festen, von Methoden (der Ernährung). Faustine und ein blondes Mädchen redeten über Heilmittel. Alec, ein pedantisch gekämmter junger Mann orientalischen Typs mit grünen Augen, wollte von seinen Geschäften in Wolle erzählen, ohne Nachdruck oder Erfolg. Morel begeisterte sich für den Plan, auf der Insel einen Pelota- oder Tennisplatz anzulegen. Ich lernte die Leute im Museum ein wenig besser kennen. Links von Faustine saß eine Frau - Dora? -, mit krausem Blondschopf, die viel lachte und den großen Kopf, das Kinn gesenkt, leicht vorgestreckt hielt wie ein feuriges Pferd. Rechts neben Faustine war ein junger dunkelhaariger Mann mit lebhaften Augen und von Konzentration und Haaren verdüsterter Stirn. Ferner gab es da noch ein großes Mädchen mit hohler Brust, überlangen Armen und einem Ausdruck vo n Ekel auf dem Gesicht. Diese Frau heißt Irene. Sodann jene, die gesagt hatte: »Das ist nicht die Stunde für Gespenstergeschichten«, an dem Abend, als ich auf den Hügel gegangen war. An die anderen erinnere ich mich nicht. Als ich klein war, bin ich mit Buchillustrationen auf Entdeckungssuche gegangen: Ich starrte sie lange an, und endlos tauchten Gegenstände aus ihnen auf. Verdrossen starrte ich nun eine Weile die Wandflächen mit Frauen, Tigern und Katzen von Foujita an. Die Leute gingen in die Halle. Ich brauchte sehr lange, um mit übertriebenem Entsetzen - meine Feinde waren entweder in der Halle oder im Keller (das Personal) - die Hintertreppe hinab bis zur hinter einem Wandschirm versteckten Tür zu gehen. Das erste, was ich sah, war eine Frau, die neben einem der Alabasterkelche strickte; diese Frau namens Irene unterhielt sich mit einer anderen; ich suchte weiter - immer in der Gefahr, entdeckt zu werden - und sah Morel an einem Tisch, wo er mit fünf anderen Karten spielte; das Mädchen, das mir den Rücken zuwandte, war Faustine. Der Tisch war klein, die Füße dicht beisammen, und ich verbrachte, unempfänglich für -41-
alles übrige, einige, vielleicht viele Minuten damit, herauszubringen, ob Morels und Faustines Füße einander berührten. Diese jämmerliche Beschä ftigung wich jedoch völlig, verdrängt vom Grauen, das mir das rote Gesicht und die kugelrunden Augen eines Dieners bescherten, der mich anstarrte, als er die Halle betrat. Ich hörte Schritte. Ich rannte weg. Ich versteckte mich zwischen der ersten und zweiten Reihe der Alabastersäulen im runden Salon über dem Aquarium. Unter mir schwammen dieselben Fische, die ich kurz nach meiner Ankunft in verwestem Zustand herausgeholt hatte. Endlich ruhig geworden, näherte ich mich dem Eingang. Faustine, Dora - ihre Tischnachbarin - und Alec gingen die Treppe hinauf. Faustine bewegte sich mit beflissener Trägheit. Für diesen unaufhörlichen Körper, für diese allzu langen Beine, für diese plumpe Sinnlichkeit riskierte ich meine Seelenruhe, das Universum, die Erinnerungen, die lebhafte Erwartung, das reiche Wissen über die Gepflogenheiten der Gezeiten und über mehr als eine harmlose Wurzel. Ich ging ihnen nach. Unversehens traten sie in ein Zimmer. Gegenüber fand ich eine offene Tür, einen beleuchteten, leeren Raum. Sehr vorsichtig ging ich hinein. Zweifellos hatte jemand, der darin gewesen war, vergessen, das Licht auszumachen. Das Aussehen von Bett und Toilettentisch, das Fehlen von Büchern, von Wäsche und noch der geringsten Unordnung bewiesen, daß hier niemand gewohnt hat. Ich war besorgt, als die anderen Insassen des Museums ihre Zimmer aufsuchten. Ich hörte Schritte auf der Treppe und wollte mein Licht löschen, aber das war unmöglich: Der Schalter hatte sich verklemmt. Ich versuchte es nicht weiter. Es hätte nur Aufmerksamkeit erregt, wenn in einem leeren Zimmer das Licht ausgegangen wäre. Ohne diesen Schalter hätte ich mich vielleicht schlafen gelegt, bewogen von der Müdigkeit, von dem Licht, das ich überall in den Türritzen erlöschen sah (und von der Ruhe, die mir die -42-
Anwesenheit der Frau mit dem großen Kopf in Faustines Zimmer bescherte!). Ich rechnete damit, daß jemand, der durch den Flur ging, mein Zimmer betreten würde, um das Licht auszumachen (der Rest des Museums war dunkel). Das war vielleicht unvermeidlich, aber nicht besonders gefährlich. Wenn der Betreffende merkte, daß der Schalter klemmte, würde er wieder gehen, um die anderen nicht zu stören. Es genügte, wenn ich mich ein wenig versteckte. An all das dachte ich gerade, als Doras Kopf auftauchte. Ihre Blicke streiften mich. Sie ging wieder, ohne einen Versuch, das Licht zu löschen. Beinahe krampfartige Furcht befiel mich. Ich wollte gehen, aber noch vorm Aufbrechen lief ich im Geiste durchs Haus, auf der Suche nach einem sicheren Unterschlupf. Es fiel mir schwer, dieses Zimmer aufzugeben, das mir erlaubte, Faustines Tür zu überwachen. Ich setzte mich aufs Bett und schlief ein. Bald darauf sah ich im Traum Faustine. Sie kam ins Zimmer. Sie war ganz nah. Ich wachte auf. Das Licht war aus. Ich versuchte, mich nicht zu bewegen, meine Augen ans Dunkel zu gewöhnen, aber Atmung und Entsetzen waren nicht zu unterdrücken. Ich erhob mich, erreichte den Flur, hörte die Stille, die dem Sturm gefolgt war: nichts unterbrach sie. Langsam ging ich den Flur entlang und rechnete damit, daß sich plötzlich eine Tür öffnen würde und ich mich in der Gewalt brüsker Hände und einer ungerührten höhnischen Stimme befände. Die sonderbare Welt, in der ich mich die letzten Tage besorgt aufhielt, meine Mutmaßungen und Ängste, Faustine, alles wäre nur flüchtiger Übergang zu Gefängnis und Galgen gewesen. Ich stieg die Treppe hinunter, im Dunkeln, vorsichtig. Ich kam zu einer Tür und wollte sie öffnen; es war unmöglich; ich konnte nicht einmal die Klinke bewegen (ich kannte diese Schlösser, die die Klinke sperren; aber den Mechanismus der Fenster begreife ich nicht: Sie haben kein Schloß, und dennoch waren die Griffe nicht zu bewegen). Ich überzeugte mich davon, daß ich nicht hinauskommen konnte, was meine Nervosität vermehrte, und -43-
vielleicht gerade deshalb und wegen des Gefühls von Ohnmacht, das mir das Fehlen von Licht einflößte, wurden sogar die inneren Türen unüberwindlich. Schritte, die ich auf der Hintertreppe hörte, trieben mich zu größter Eile. Ich wußte nicht, wie ich aus dem Raum gelange n sollte. Ich tastete mich geräuschlos eine Wand entlang, bis zu einem der riesigen Alabasterkelche; mit einiger Mühe und unter großer Gefahr glitt ich hinein. Unruhig lag ich lange Zeit zwischen der glatten Oberfläche aus Alabaster und der zerbrechlichen Birne. Ich fragte mich, ob Faustine mit Alec allein zurückgeblieben war oder ob einer von beiden mit Dora das Zimmer verlassen hatte, vorher oder nachher. Heute morgen weckten mich Stimmen, die sich unterhielten (ich war zu schwach und schlaftrunken, um zu lauschen). Später war nichts mehr zu hören. Ich wollte hinaus aus dem Museum. Ich richtete mich ganz langsam auf, da ich Angst hatte, abzurutschen und die riesige Glühbirne zu zerdrücken, oder daß jemand meinen Kopf auftauchen sähe. Kraftlos und mit Mühe stieg ich aus dem Alabasterkrug. In der Hoffnung darauf, daß meine Nerven sich ein wenig ordnen würden, verbarg ich mich hinter den Gardinen. Ich war so schwach, daß ich sie nicht bewegen konnte; sie kamen mir so starr und schwer vor wie die Steinvorhänge in manchen Grüften. Ich quälte mich, indem ich mir kunstvoll bereitete Brote und andere zivilisierte Speisen vorstellte: Zweifellos fände ich derlei im Anrichtezimmer. Ich hatte leichte Schwindel- und Lachanfälle; ohne Angst ging ich zum Fuß der Treppe. Die Tür stand offen. Niemand war zu sehen. Mit einer Kühnheit, auf die ich stolz war, ging ich ins Anrichtezimmer. Ich hörte Schritte. Ich wollte eine Tür öffnen, die nach draußen geht, und fand mich wieder vor einer dieser unerbittlichen Klinken. Jemand kam die Hintertreppe herunter. Ich lief zum Eingang. Durch die offene Tür konnte ich den Teil eines Korbsessels und übereinandergeschlagene Beine sehen. Ich -44-
wandte mich wieder zur Haupttreppe; auch dort hörte ich Schritte. Im Speisesaal waren Leute. Ich kam in die Halle, sah ein offenes Fenster und fast gleichzeitig auf der einen Seite Irene und die Frau, die neulich abends von Gespenstern gesprochen hatte, auf der anderen den jungen Mann mit der struppigen Stirn, der ein offenes Buch hielt, französische Verse deklamierte und auf mich zukam. Ich blieb stehen; dann ging ich steif zwischen ihnen hindurch; im Vorbeigehen hätte ich sie beinahe berührt; ich stürzte mich aus dem Fenster und rannte mit Beinen, die vom Aufprall schmerzten (es sind fast drei Meter vom Fenster bis zum Rasen), den Hang hinunter, fiel immer wieder hin und kümmerte mich nicht darum, ob jemand mich sah. Ich machte mir etwas zu essen. Das verschlang ich mit Begeisterung, aber sehr bald lustlos. Jetzt habe ich kaum Schmerzen. Ich bin ruhiger. Es mag zwar absurd wirken, aber ich glaube, daß sie mich im Museum wohl doch nicht gesehen haben. Der ganze Tag ist vergangen, ohne daß einer gekommen wäre, um mich zu suchen. So viel Glück akzeptieren zu müssen macht Angst. Ich habe hier eine Angabe, die den Lesern dieses Berichts helfen kann, das Datum des zweiten Erscheinens der Eindringlinge zu ermitteln: Die zwei Monde und die zwei Sonnen waren am folgenden Tag zu sehen. Es könnte sich um eine lokale Erscheinung handeln; es kommt mir jedoch wahrscheinlicher vor, daß es ein Spiegelphänomen ist, hervorgerufen von Mond oder Sonne, Meer und Luft, und sicher war es auch in Rabaul und überall sonst in dieser Zone zu beobachten. Ich habe bemerkt, daß diese zweite Sonne - vielleicht das Spiegelbild der anderen - viel hitziger strahlt. Mir scheint, daß zwischen gestern und vorgestern ein höllischer Temperaturanstieg stattgefunden hat. Es ist gerade so, als hätte die neue Sonne einen extremen Sommer in den Frühling gebracht. Die Nächte sind sehr hell: Eine Art Nordlicht schweift -45-
durch die Luft. Aber ich denke mir, daß die zwei Monde und zwei Sonnen nicht sehr interessant sind; es wird sie wohl überall gegeben haben, sei es am Himmel oder in gelehrteren, ausführlicheren Berichten. Ich verzeichne sie nicht, um ihnen poetischen oder Kuriositäten-Wert zu geben, sondern damit meine Leser, die Zeitungen beziehen und Geburtstage begehen, diese Blätter datieren können. Wir erleben gegenwärtig die ersten Nächte mit zwei Monden. Zwei Sonnen hat man aber schon erblickt. Cicero erzählt davon in De natura Deorum: Tum sole quod ut e patre audivi Tuditano et Aquilio consulibus evenerat. Ich glaube, korrekt zitiert zu haben* . M. Lobre vom Instituto Miranda ließ uns die ersten fünf Seiten des Zweiten Buchs und die drei letzten des Dritten Buchs auswendig lernen. Sonst weiß ich nichts vom Wesen der Götter. Die Eindringlinge sind nicht gekommen, um mich zu holen. Ich sehe sie an den Rändern des Hügels auftauchen und verschwinden. Vielleicht durch irgendeine Unvollkommenheit der Seele (und die unendliche Menge Moskitos) empfand ich Heimweh nach dem Vorabend, nach der Zeit, da ich keine Hoffnungen hinsichtlich Faustines und nicht diese Angst hatte. Ich hatte Heimweh nach jenem Augenblick, da ich mich wieder als Bewohner des Museums fühlte, Herr der unterwürfigen Einsamkeit.
*
Er irrt. Er läßt das wichtigste Wort aus: geminato (von geminatus, doppelt, verdoppelt, wiederholt, zwiefach). Der Satz lautet:… tum sole geminato, quod, ut e patre audivi, Tuditano et Aquilio consulibus evenerat; quo quidem anno P. Africanus sol alter extinctus est [… dann auch die doppelte Sonne, die sich, wie ich vom Vater hörte, unter den Konsuln Tuditanus und Aquilius ereignete; im gleichen Jahr, da Publius Africanus, jene andere Sonne, ausgelöscht wurde - AdÜ: Es handelt sich um das Jahr 129 v. Chr., in dem der jüngere Scipio von den Anhängern der Gracchen ermordet wurde]. (Anm. d. Hrsg.) -46-
Jetzt erinnere ich mich an das, was ich vorgestern nacht in dem grell erleuchteten Zimmer gedacht habe. Das Wesen der Eindringlinge, der Beziehungen, die ich zu den Eindringlingen hatte. Ich versuchte es mit verschiedene n Erklärungen. Daß ich die berüchtigte Seuche hätte; ihre Auswirkungen auf die Phantasie: die Leute, die Musik, Faustine; auf den Körper: womöglich schreckliche Verletzungen, Vorzeichen des Todes, die die erwähnten Wirkungen mich nicht sehen lassen. Daß die verkommene Luft der Niederungen und mangelhafte Ernährung mich unsichtbar gemacht hätten. Die Eindringlinge haben mich nicht gesehen (oder besitzen übermenschliche Selbstbeherrschung; insgeheim verwarf ich, befriedigt über so schlaue Gedanken, jeden Verdacht einer organisierten kriminalistischen Täuschung). Einwand: Für die Vögel, Eidechsen, Ratten, Moskitos bin ich nicht unsichtbar. Mir kam der (heikle) Gedanke, es könne sich um Wesen einer anderen Art handeln, von einem anderen Planeten und mit Augen, aber nicht zum Sehen, mit Ohren, aber nicht zum Hören. Mir fiel ein, daß sie korrektes Französisch sprachen. Ich dehnte die vorstehende Ungeheuerlichkeit weiter aus: daß diese Sprache ein paralleles Attribut unserer beiden Welten sei, unterschiedlichen Zwecken gewidmet. Durch das abwegige Erzählen von Träumen bin ich auf die vierte Hypothese gekommen. Diese Nacht träumte ich folgendes: Ich war in einem Irrenhaus. Nach langer Konsultation (der Prozeß?) mit einem Arzt hatte meine Familie mich hierhergebracht. Morel war der Direktor. Zuweilen wußte ich, daß ich auf der Insel war; zuweilen wähnte ich mich im Irrenhaus; zuweilen war ich der Direktor des Irrenhauses. Ich halte es weder für unerläßlich, einen Traum als Wirklichkeit, noch die Wirklichkeit als Wahn zu nehmen. Fünfte Hypothese: Die Eindringlinge wären eine Gruppe toter Freunde, ich ein Reisender, wie Dante oder Swedenborg, oder, falls nicht dies, ein weiterer Toter, und zwar von einer anderen -47-
Kaste, in einem anderen Moment seiner Metamorphose; die Insel wäre Fegefeuer oder Himmel für diese Toten (die Möglichkeit mehrerer Himmel ist oft erörtert worden; gäbe es nur einen und alle wären darin und dort harrten unser eine hinreißende Ehe und sämtliche literarischen Abendtafeln, dann hätten schon viele von uns das Sterben eingestellt). Nun begriff ich, warum die Romanciers mit jammervollen Gespenstern aufwarten. Die Toten bleiben unter den Lebenden. Es fällt ihnen schwer, ihre Gewohnheiten zu ändern, den Tabak und den Ruf von Weiberhelden aufzugeben. Es erfüllte mich mit Grauen (dachte ich mit inwendiger Theatralik), daß ich unsichtbar, mit Grauen, daß Faustine, so nahe, auf einem anderen Planeten sein sollte (der Name Faustine machte mich melancholisch); aber ich bin tot, ich bin außer Reichweite (ich werde Faustine sehen, werde sie fortgehen sehen, und meine Winke, mein Flehen, meine Anschläge werden sie nicht erreichen); diese schrecklichen Lösungen sind vereitelte Hoffnungen. Diese Gedanken hin und her zu wenden verschaffte mir eine anhaltende Euphorie. Ich häufte Beweise dafür an, daß meine Beziehung zu den Eindringlingen ein Verhältnis zwischen Wesen auf verschiedenen Existenzebenen war. Auf dieser Insel könnte sich eine Katastrophe ereignet haben, für deren Tote (mich und die Tiere, die sie behausen) nicht wahrnehmbar; erst danach wären die Eindringlinge gekommen. Wenn ich tot wäre! Wie mich dieser Einfall (eitel, literarisch) begeisterte! Ich rekapitulierte mein Leben. Die Kindheit, wenig aufregend, mit Abendspaziergängen über den Paseo del Paraiso; die Ta ge vor meiner Verhaftung, wie die Tage eines Fremden; meine langwierige Flucht; die Monate, die ich auf der Insel verbracht habe. Der Tod hatte zweimal die Gelegenheit gehabt, sich in meine Geschichte einzuschalten. In den Tagen, bevor die Polizei in mein Zimmer in der stickigen rosafarbenen Pension in der Westlichen 11. Straße kam, gegenüber der Pastora (der Prozeß -48-
hätte vor den endgültigen Richtern stattgefunden; die Flucht und die Reisen, die Fahrt zu Himmel, Hölle oder Fegefeuer wären das Urteil gewesen). Die zweite Gelegenheit für den Tod ergab sich bei der Bootsfahrt. Die Sonne zerlegte mir den Schädel, und obwohl ich bis hierher gerudert bin, muß ich schon lange vorher das Bewußtsein verloren haben. Alle Erinnerungen an diese Tage sind verschwommen, bis auf jene eine höllische Klarheit, ein Hin und Her und Tosen des Wassers, ein Leiden, das größer war als alle Reserven an Lebenskraft. Daran hatte ich schon so lange gedacht, daß ich bereits ein wenig überdrüssig war und mit geringerer Logik fortfuhr: Ich war nicht tot, bis die Eindringlinge auftauchten; man kann nicht in Einsamkeit tot sein. Wenn ich auferstehen will, muß ich die Zeugen beseitigen. Es wird leicht sein, sie auszurotten. Ich existiere nicht: Sie werden auf ihre Vernichtung nicht gefaßt sein. Ich dachte noch an etwas anderes, an das unglaubliche Projekt einer absolut privaten, gleichsam wie geträumten Entführung, die allein für mich zählen würde. In Augenblicken höchster Angst habe ich diese nicht zu rechtfertigenden, eitlen Erklärungen ersonnen. Der Mensch und die Paarung ertragen Intensität nicht lange. Das ist eine Hölle. Die Sonnen betäuben. Ich fühle mich nicht wohl. Ich habe ein paar rübenartige dickfaserige Knollen gegessen. Die Sonnen waren oben, eine höher als die andere, und plötzlich (ich glaube, bis dahin hatte ich aufs Meer hinausgesehen) erschien in nächster Nähe ein Schiff, zwischen den Riffen. Es war, als sei ich eingenickt (unter dieser doppelten Sonne schlafen sogar die Fliegen im Flug) und Sekunden oder Stunden später erwacht, ohne zu bemerken, daß ich geschlafen hatte oder gerade erwachte. Das Schiff war ein Frachter, weiß gestrichen. ›Mein Todesurteil‹, dachte ich unwillig. ›Bestimmt -49-
kommen sie, um die Insel zu erforschen.‹ Der Schornstein - gelb (wie bei Schiffen der Roya l Mail oder der Pacific Line) und sehr hoch - stieß drei Pfiffe aus. Die Eindringlinge liefen zum Hügelrand. Ein paar Frauen schwenkten zur Begrüßung Tücher. Das Meer regte sich nicht. Vom Schiff ließ man ein Beiboot ab. Sie brauchten fast eine Stunde, um den Motor in Gang zu bringen. Ein wie ein Offizier oder Kapitän gekleideter Seemann kam an Land. Die übrigen kehrten zum Schiff zurück. Der Mann erstieg den Hügel. Ich war sehr neugierig, und trotz meiner Schmerzen und der schwer verdaulichen Knollen kletterte ich auf der anderen Seite hinauf. Ich sah den Mann respektvoll grüßen. Sie fragten ihn, ob er eine gute Fahrt gehabt, ob er in Rabaul alles erreicht habe. Ich stand hinter einer abgestorbenen Phönixpalme, ohne Angst davor, gesehen zu werden (es erschien mir sinnlos, mich zu verstecken). Morel zog den Mann zu einer Bank. Sie sprachen miteinander. Jetzt wußte ich, was es mit dem Schiff auf sich hatte. Es mußte das Schiff der Eindringlinge oder von Morel sein. Es kam sie abholen. ›Ich habe drei Möglichkeiten‹, dachte ich. ›Faustine entführen, an Bord gehen, sie abreisen lassen. Sie werden nach ihr suchen; früher oder später müssen sie uns finden, wenn ich sie entführe. Sollte es auf der ganzen Insel keinen Ort geben, wo ich sie verstecken kann? ‹ Ich erinnere mich, daß ich eine Schmerzensmiene aufsetzte, um mich zum Nachdenken zu verpflichten. Auch kam mir der Gedanke, sie in den frühen Nachtstunden aus ihrem Zimmer zu holen und mit ihr fortzurudern in dem Boot, in dem ich von Rabaul gekommen war. Aber wohin? Würde sich das Wunder dieser Reise wiederholen? Wie sollte ich mich orientieren? Mich mit Faustine dem Schicksal zu überlassen, wäre es die allzu langen Entbehrungen wert, die das in diesem Boot mitten im Ozean gäbe? Oder die allzu kurzen: Vielleicht würden wir ja schon wenige Meter vom Ufer -50-
untergehen. Wenn es mir gelang, an Bord des Schiffs zu kommen, würde man mich entdecken. Blieb noch die Möglichkeit zu reden, darum zu bitten, daß man Faustine oder Morel herbeirief, und ihnen meine Lage zu erklären. Vielleicht hätte ich - wenn meine Geschichte schlecht ankam - genug Zeit, mich umzubringen oder mich umbringen zu lassen, ehe wir den ersten Hafen mit einem Gefängnis erreichten, ›Ich muß mich entscheiden‹, dachte ich. Ein großer stämmiger Mann mit hochrotem Gesicht, ungepflegten schwarzen Stoppeln und weibischen Manieren näherte sich Morel und sagte: »Es wird spät. Wir müssen uns noch fertigmachen.« Morel antwortete: »Einen Moment.« Der Kapitän erhob sich; Morel, halb aufgerichtet, sprach weiter eindringlich mit ihm. Er klopfte ihm mehrmals auf den Rücken, wandte sich dann an den Stämmigen, während der andere salutierte, und fragte: »Also?« Der Stämmige richtete lächelnd einen forschenden Blick auf den schwarzhaarigen jungen Mann mit den buschigen Brauen und wiederholte: »Also?« Der junge Mann nickte. Die drei liefen zum Museum, ohne sich um die Damen zu kümmern. Diesen näherte sich der Kapitän mit einem höflichen Lächeln. Die Gruppe folgte den drei Herren sehr gemächlich. Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Die Szene, wiewohl lächerlich, erschien mir beunruhigend. Wofür wollten sie sich fertigmachen? Innerlich war ich ungerührt. Ich dachte, wenn ich sie mit Faustine hätte fortgehen sehen, hätte ich auch das vorbereitete, passive, leicht nervöse Grauen verglühen lassen. Zum Glück war der Moment noch nicht gekommen. Der Bart und die schlaksigen Beine Morels waren von weitem erkennbar. Faustine, Dora, die Frau, die ich eines Abends Gespenstergeschichten hatte erzählen sehen, Alec und die drei Männer, die kurz zuvor hier gewesen waren, gingen in Badeanzügen zum Schwimmbecken hinunter. Ich lief von einem Strauch zum anderen, um besser zu sehen. Die Frauen trabten lächelnd voran; die Männer hüpften, als sei ihnen kalt, was unter -51-
dieser Herrschaft zweier Sonnen unvo rstellbar war. Ich sah die Enttäuschung voraus, die sie beim Blick ins Schwimmbecken erleben würden. Seit ich es nicht mehr erneuere, ist das Wasser (jedenfalls für einen normalen Menschen) undurchdringlich: grün, trübe, schaumig, bedeckt mit großen Laubma tten, die ungeheuer angewachsen sind, mit toten Vögeln und sicher auch mit lebenden Schlangen und Kröten. Halbnackt ist Faustine grenzenlos schön. Sie zeigte jene etwas törichte, verzückte Heiterkeit aller Leute, wenn sie öffentlich baden. Sie sprang als erste hinein. Ich hörte alle lachen und im Wasser planschen. Dora und die alte Dame stiegen zuerst wieder heraus. Die Alte fuchtelte heftig und zählte: »Eins, zwei, drei.« Die anderen schwammen offenbar um die Wette. Die Männer verließen erschöpft das Becken. Faustine blieb noch eine Weile im Wasser. Inzwischen waren die Matrosen an Land gekommen. Sie streiften über die Insel. Ich versteckte mich zwischen ein paar Palmstauden. Ich will wahrheitsgemäß die Vorgänge erzählen, denen ich zwischen gestern abend und heute früh beigewohnt habe, unwahrscheinliche Vorgänge, die zu erzeugen die Wirklichkeit Mühe gekostet haben muß… Jetzt scheint es so, daß die wahre Lage nicht die auf den letzten Seiten beschriebene ist; daß die Situation, in der ich lebe, nicht die is t, in der ich zu leben glaube. Als die Badegäste sich anziehen gingen, beschloß ich, Tag und Nacht zu wachen. Aber schon bald hielt ich diese Maßnahme für unbegründet. Ich brach eben auf, als der junge Mann mit den buschigen Brauen und dem schwarzen Schopf erschien. Bald danach ertappte ich Morel dabei, wie er ihn von einer Fensteröffnung aus beobachtete. Morel kam die Freitreppe herab. Ich war nicht weit entfernt. Ich konnte ihn hören. »Ich wollte nichts sagen, weil die anderen dabei waren. Ich will -52-
Ihnen etwas unterbreiten, Ihnen und ein paar wenigen anderen.« »Unterbreiten Sie ruhig.« »Nicht hier«, sagte Morel, wobei er mißtrauisch die Bäume musterte. »Heute abend. Wenn alle gegangen sind, bleiben Sie zurück.« »Todmüde?« »Um so besser. Je später, desto besser. Aber - vor allem: Diskretion. Ich möchte nicht, daß die Frauen davon erfahren. Hysterie macht mich hysterisch. Bis später.« Er entfernte sich rasch. Bevor er das Haus betrat, blickte er zurück. Der junge Mann wollte ebenfalls gehen. Ein paar Handbewegungen von Morel hielten ihn zurück. Er machte einen kleinen Spaziergang, die Hände in den Taschen; dabei pfiff er vor sich hin. Ich versuchte, über das Gesehene nachzudenken, hatte aber keine Lust. Ich war unruhig. Ungefähr eine Viertelstunde verging. Ein anderer Bartträger, grau und dick, den ich in diesem Bericht noch nicht beschrieben habe, erschien auf der Freitreppe, blickte in die Ferne, sah sich um. Er kam herunter, blieb vor dem Museum stehen, ohne sich zu rühren, offenbar verdutzt. Morel kehrte zurück. Sie sprachen kurz miteinander. Ich hörte ihn sagen: »… wenn ich Ihnen jetzt sagte, daß alles, was Sie getan und gesagt haben, aufgezeichnet ist?« »Das wäre mir gleich.« Ich fragte mich, ob sie etwa mein Tagebuch gefunden hätten. Ich beschloß, wachsam zu bleiben. Die Versuchungen von Müdigkeit und Zerstreutheit zu bekämpfen. Mich nicht überraschen zu lassen. Der Dicke blieb allein zurück, unschlüssig. Morel erschien mit Alec (dem orientalischen grünschwarzen Jüngling). Zu dritt gingen sie fort. Dann kamen Herren und Diener mit Korbsesseln heraus, die sie in den Schatten eines großen, kranken Brotfruchtbaumes stellten (weniger entwickelte Exemplare habe ich einmal bei einem alten -53-
Landhaus in Los Teques gesehen). Die Damen nahmen in den Sesseln Platz; um sie her ließen sich die Herren auf dem Rasen nieder. Ich erinnerte mich an Abende in der Heimat. Faustine schlenderte hinüber zu den Klippen. Es ist schon lästig, wie sehr ich diese Frau liebe (und lächerlich: Wir haben kein einziges Mal miteinander gesprochen). Sie trug ein Tenniskostüm und um den Kopf ein beinahe violettes Tuch. Was für eine Erinnerung: diese Tücher, wenn Faustine gegangen ist. Ich hätte mich gern erboten, ihr die Tasche oder den Umhang zu tragen. Ich folgte ihr von weitem; ich sah sie die Tasche auf einen Felsen legen, den Umhang ausbreiten, reglos das Meer oder den Abend betrachten, ihnen ihre Gelassenheit aufzwingen. So verging die letzte Gelegenheit, bei Faustine Glück zu haben. Ich hätte niederknien, ihr meine Leidenschaft, mein Leben beichten können. Ich tat es nicht. Es schien mir nicht passend. Zwar nehmen Frauen jede Huldigung ganz natürlich an. Aber es war besser, die Situation sich von selbst klären zu lassen. Es erweckt Mißtrauen, wenn ein Unbekannter uns sein Leben erzählt, uns unvermittelt sagt, er sei im Gefängnis gewesen, verurteilt zu lebenslänglicher Haft, und wir seien der Sinn seines Lebens. Man befürchtet, das Ganze sei ein Trick, um einen Federhalter mit der Gravur Bolivar - 1783-1830 zu verkaufen oder eine Flasche mit einem Segelschiff darin. Eine andere Taktik wäre, sie anzusprechen und dabei aufs Meer zu sehen, wie ein ganz versonnener, schlichter Irrer: die beiden Sonnen zu kommentieren, unsere Zuneigung zu Sonnenuntergängen; ein wenig auf ihre Fragen zu warten; ihr auf alle Fälle mitzuteilen, ich sei Schriftsteller, hätte schon immer auf einer einsamen Insel leben wollen; die Irritation einzuräumen, die ich bei der Ankunft ihrer Leute empfand; ihr meine Beschränkung auf den gelegentlich überfluteten Teil der Insel zu berichten (das würde mir hübsche Erläuterungen über die Niederung und ihre Mißlichkeiten erlauben), und so zur Erklärung zu gelangen: Jetzt habe ich Angst davor, daß Sie -54-
gehen, daß ein Abenddämmer kommt ohne die längst geliebte Gewohnheit, Sie zu sehen. Sie erhob sich. Ich wurde sehr nervös (als hätte Faustine gehört, was ich dachte, als hätte ich sie gekränkt). Sie holte ein Buch, das sie, halb aus der Tasche gerutscht, etwa fünf Meter entfernt auf einem anderen Felsen hatte liegen lassen. Sie kam zurück und setzte sich. Sie öffnete das Buch, legte die Hand auf eine Seite und saß in Betrachtung des Abends da wie entschlummert. Als die schwächere der beiden Sonnen sank, erhob sich Faustine abermals. Ich folgte ihr… ich rannte, warf mich auf die Knie und sagte fast schreiend: »Faustine, ich liebe Sie.« Ich tat dies, weil ich dachte, es sei vielleicht das beste, die Inspiration zu nutzen und deren bekannte Aufrichtigkeit sich durchsetzen zu lassen. Das Ergebnis kenne ich nicht. Schritte, ein dicker Schatten schlugen mich in die Flucht. Ich verbarg mich hinter einer Palme. Mein Keuchen ließ mich fast nichts mehr hören. Morel sagte, er müsse mit ihr reden. Faustine antwortete: »Gut, gehen wir ins Museum.« (Das hörte ich deutlich.) Sie stritten ein wenig. Morel widersprach: »Ich will diese Gelegenheit nutzen… außerhalb des Museums und der Sichtweite unserer Freunde.« Ich hörte ihn auch sagen: dich ins Bild setzen; du bist anders als die anderen Frauen; nicht die Nerven verlieren. Ich kann versichern, daß Faustine sich hartnäckig weigerte zu bleiben. Morel schlug einen Kompromiß vor: »Heute abend, wenn alle gehen, sei doch so gut und bleib!« Sie schlenderten zwischen den Palmen und dem Museum entlang. Morel sprach viel und gestikulierte. Bei einer dieser Bewegungen ergriff er Faustines Arm. Danach gingen sie schweigend weiter. Als ich sie das Museum betreten sah, erwog -55-
ich, mir etwas zu essen zu machen, um die ganze Nacht überstehen und wachen zu können. Tea for Two und Valencia erschollen unermüdlich bis über die Morgendämmerung hinaus. Trotz meiner Vorsätze aß ich nur wenig. Die Leute mit Tanzen beschäftigt zu sehen, klebrige Blätter, erdig schmeckende Wurzeln und Knollen wie Knäuel harten Qualitätsgarns zu sehen und zu kosten waren keine unwirksamen Argumente, um mich dazu zu bringen, ins Museum zu gehen und Brot und andere wirklich eßbare Dinge zu suchen. Gegen Mitternacht drang ich durch die Kohlenschütte ein. Im Anrichteraum und in der Vorratskammer waren Diener. Ich beschloß, mich zu verstecken, zu warten, bis die Leute auf ihre Zimmer gingen. Vielleicht könnte ich ja auch belauschen, was Morel Faustine, dem Jungen mit den Brauen, dem Dicken und dem grünschwarzen Alec unterbreiten wollte. Dann würde ich ein paar Nahrungsmittel stehlen und eine Möglichkeit suchen, wieder herauszukommen. In Wahrheit lag mir nicht viel an Morels Erklärung. Ich sorgte mich wegen des vor dem Strand ankernden Schiffs; wegen der möglichen, unwiderruflichen Abreise Faustines. Als ich die Halle durchquerte, sah ich ein Phantom des Traktats von Belidor, den ich vierzehn Tage zuvor mitgenommen hatte; er lag auf demselben Sims aus grünem Marmor, an derselben Stelle auf dem Sims aus grünem Marmor. Ich betastete meine Jackentasche: Ich zog das Buch heraus; ich verglich sie: Es waren nicht zwei Exemplare desselben Buches, es war zweimal dasselbe Exemplar; mit der zerlaufenen hellblauen Tinte, die das Wort Perse als Wolke umgab; mit dem schrägen Riß in der unteren Ecke des Schutzumschlags, außen… Ich spreche von äußerlicher Identität… Das Buch, das auf dem Tisch lag, konnte ich nicht einmal anfassen. Ich versteckte mich überstürzt, damit sie mich nicht entdeckten (zuerst ein paar Frauen; dann Morel). Ich ging durch den Aquariumsalon und -56-
verbarg mich im grünen Zimmer, hinter dem Wandschirm (er bildete eine Art Häuschen). Durch einen Spalt konnte ich in den Aquariumsalon sehen. Morel gab Anweisungen: »Stellt mir hierhin einen Tisch und einen Stuhl.« Die anderen Stühle stellten sie vor dem Tisch in Reihen auf wie in einem Vortragssaal. Es war schon reichlich spät, als endlich fast alle hereinkamen. Es gab ein bißchen Stimmengewirr, ein bißchen Neugier, ein beflissenes Lächeln hier und da; insgesamt herrschte der aufgelöste Friede der Ermüdung. »Alle müssen dabeisein«, sagte Morel. »Ehe nicht alle hier sind, fange ich nicht an.« »Jane fehlt.« »Jane Gray fehlt.« »Wen wundert's.« »Jemand muß sie holen gehen.« »Wer kriegt sie um diese Zeit aus dem Bett?« »Sie muß dabeisein.« »Sie schläft aber.« »Ich fange nicht an, solange ich sie nicht hier sehe.« »Ich gehe sie holen«, sagte Dora. »Ich begleite dich«, sagte der Junge mit den Brauen. Mir lag daran, diese Unterhaltung wortgetreu niederzuschreiben. Wenn sie hier nicht natürlich wirkt, ist dies Schuld der Kunst oder des Gedächtnisses. Sie war natürlich. Niemand, der diese Leute sah, diese Unterhaltung hörte, konnte einen magischen Vorgang erwarten und auch nicht die Widerlegung der Realität, die später folgte (obwohl das Ganze sich über einem erleuchteten Aquarium abspielte, über Schleierfischen und Wassermoosen, in einem Wald von schwarzen Säulen). Morel sprach mit ein paar Leuten, die ich nicht sehen konnte: -57-
»Ihr müßt ihn im ganzen Haus suchen. Ich habe ihn vor einiger Zeit in das Zimmer hier gehen sehen.« Von wem sprach er? Zu diesem Zeitpunkt war ich davon überzeugt, daß mein Interesse hinsichtlich des Verhaltens der Eindringlinge befriedigt werden würde, und zwar endgültig. »Wir haben das ganze Haus durchsucht«, sagte eine verkümmerte Stimme. »Egal. Schafft ihn her«, erwiderte Morel. Ich fühlte mich bereits umzingelt. Ich wollte hinaus. Ich bezwang mich. Ich hatte mich daran erinnert, daß Zimmer mit Spiegeln berühmte Folterhöllen waren. Ich begann zu schwitzen. Dann kamen Dora und der Junge zurück, mit einer alten alkoholisierten Frau (ich hatte sie am Schwimmbecken gesehen). Außerdem kamen zwei Leute, offenbar Diener, die ihre Hilfe angeboten hatten; sie näherten sich Morel; einer von ihnen sagte: »Unmöglich; nichts zu machen.« (Ich erkannte die verkümmerte Stimme von vorhin.) Dora rief Morel zu: »Haynes schläft in Faustines Zimmer. Den kriegt keiner da heraus.« Hatten sie von Haynes gesprochen? Ich glaubte nicht, daß Doras Worte und Morels Gespräch mit den Männern etwas miteinander zu tun hatten. Sie sprachen davon, jemanden zu suchen, und ich war erschrocken, bereit, in allem Anspielungen und Drohungen zu entdecken. Jetzt kommt mir der Gedanke, daß die Aufmerksamkeit dieser Leute vielleicht nie auf mich gerichtet war… Mehr noch: Jetzt weiß ich, daß sie mich gar nicht suchen können. Bin ich dessen sicher? Würde ein vernünftiger Mensch das glauben, was ich in der vorigen Nacht gehört habe, was ich mir zu wissen einbilde? Würde er mir raten, den Albtraum, daß ich in allem eine zu meiner Festnahme organisierte Maschinerie sehe, zu vergessen? Und wenn es eine Maschinerie wäre, die mich fangen soll, warum dann so kompliziert? Warum nimmt man mich nicht -58-
einfach fest? Wäre diese mühsam ausgetüftelte Vorstellung nicht ein Wahnwitz? Unsere Gewohnheiten setzen eine bestimmte Art von Abfolge der Dinge voraus, eine vage Kohärenz der Welt. Jetzt stellt sich mir die Realität verändert dar, irreal. Wenn ein Mensch erwacht oder stirbt, braucht er eine Weile, ehe er sich von den Schrecken des Traums, von den Sorgen und Süchten des Lebens frei gemacht hat. Mir wird es jetzt schwerfallen, die Gewohnheit aufzugeben, mich vor diesen Leuten zu fürchten. Morel hatte ein paar Blätter aus gelbem Seidenpapier, mit Maschine beschrieben. Er entnahm sie einer hölzernen Schale, die auf dem Tisch stand. In der Schale lag eine Unmenge Briefe, die mit Stecknadeln an Ausschnitte von Anzeigen der Zeitschriften Yachting und Motor Boating geheftet waren. In den Briefen wurde nach dem Preis alter Schiffe, nach den Verkaufsbedingungen, nach Angaben, wo die Fahrzeuge überholt werden könnten, gefragt. Ich konnte einige wenige sehen. »Soll Haynes doch schlafen«, sagte Morel. »Er ist sehr schwer, und wenn man ihn herschleppen muß, können wir nie anfangen.« Morel reckte die Arme und sagte mit stockender Stimme: »Ich habe Ihnen eine Erklärung zu machen.« Er lächelte nervös. »Es ist nichts Ernstes. Damit mir keine Ungenauigkeiten unterlaufen, will ich es verlesen. Hören Sie bitte zu.« (Er begann die gelben Blätter zu verlesen, die ich in die Mappe stecke. Heute morgen, als ich aus dem Museum entkam, lagen sie auf dem Tisch; von dort habe ich sie genommen.)* »Sie werden mir diese zuerst lästige, danach schreckliche *
Zu größerer Klarheit hielten wir es für sinnvoll, das, was in Maschinenschrift auf diesen Blättern steht, kursiv zu setzen; was nicht kursiv steht, sind mit Bleistift verfaßte Anmerkungen an den Seitenrändern, und zwar in der gleichen Handschrift wie das übrige Tagebuch. (Anm. d. Hrsg.) -59-
Szene nachsehen müssen. Wir wollen sie vergessen. Das sollte ihr, zusammen mit der guten Woche, die wir erlebt haben, die Bedeutung nehmen. Ich hatte beschlossen, Ihnen nichts zu sagen. Eine ganz natürliche Besorgnis wäre Ihnen erspart geblieben. Ich hätte über alle verfügt, bis zum letzten Augenblick, ohne daß jemand sich aufgelehnt hätte. Aber da Sie meine Freunde sind, haben Sie ein Recht, alles zu wissen.« Schweigend rollte er die Augen, lächelte, bebte; dann fuhr er ungestüm fort: »Mein Vergehen besteht darin, daß ich Sie ohne vorherige Erlaubnis photographiert habe. Natürlich handelt es sich nicht um eine Photographie wie jede andere; es ist meine neueste Erfindung. Wir werden in dieser Photographie leben, und zwar immer. Stellen Sie sich eine Bühne vor, auf der unser Leben in diesen sieben Tagen vollständig aufgeführt wird. Die Darsteller sind wir. Alle unsere Handlungen sind aufgezeichnet worden.« »Was für eine Unverschämtheit!« schrie ein Mann mit schwarzem Schnurrbart und vorstehenden Zähnen. »Ich hoffe, das ist nur ein Scherz«, sagte Dora. Faustine lächelte nicht. Sie schien empört. »Ich hätte Ihnen bei unserer Ankunft sagen können: Wir werden in Ewigkeit leben. Vielleicht hätten wir alles verdorben, indem wir uns zu anhaltender Fröhlichkeit gezwungen hätten. Ich dachte mir: Jedwede Woche, die wir zusammen verleben, wird angenehm sein, wenn wir uns nicht verpflichtet fühlen, die Zeit gut auszufüllen. War es denn nicht so? Auf diese Weise habe ich Ihnen eine angenehme Ewigkeit verschafft. Natürlich sind die Werke der Menschen nie vollkommen. Einige Freunde fehlen uns hier. Claude hat sich entschuldigt: Er behandelt in Form eines Romans oder eines theologischen Leitfadens die Hypothese, wonach zwischen Gott und dem Individuum Uneinigkeit herrscht; eine Hypothese, die ihm geeignet scheint, ihn unsterblich zu machen, und darin mag er -60-
sich nicht unterbrechen. Madeleine geht schon seit zwei Jahren nicht mehr in die Berge; sie fürchtet um ihre Gesundheit. Ledere ist mit den Davies zu einer Reise nach Florida verabredet.« Er setzte hinzu: »Der arme Charlie natürlich…« Aus seinem Tonfall bei diesen Worten, noch hervorgehoben durch arm, aus der stummen Feierlichkeit, in der einige etwas herumrutschten und Stühle verrückten, schloß ich, daß dieser Charlie gestorben war; genauer: gerade erst gestorben. Dann sagte Morel, als wolle er das Auditorium aufheitern: »Aber ich habe ihn. Wenn jemand ihn sehen will, kann ich ihm ihn zeigen. Er war einer meiner ersten geglückten Versuche.« Er hielt inne. Ich glaube, er bemerkte den neuen Stimmungswechsel im Saal (beim ersten war man von gutmütiger Langeweile zu Bedrücktheit übergegangen, mit einem leichten Tadel wegen des schlechten Geschmacks, einen Toten zum Teil eines Scherzes zu machen; jetzt war man verblüfft, ja nahezu entsetzt). Sehr eilig wandte er sich wieder den gelben Blättern zu. »Seit langem befaßt mein Gehirn sich mit zwei Hauptaufgaben: Ich bedenke meine Erfindungen und denke an…« Die Sympathie zwischen Morel und dem Saal stellte sich ganz entschieden wieder ein. »Zum Beispiel schneide ich die Seiten eines Buchs auf, gehe spazieren, stopfe meine Pfeife, male mir ein glückliches Leben aus, mit,,.« Jede Atempause löste eine Beifallssalve aus. »Als ich die Erfindung abschloß, kam mir in den Sinn - zunächst als bloßer Gegenstand meiner Phantasie, dann als unglaubliches Projekt - meinem Gefühlsszenario fortwährende Wirklichkeit zu geben… Die Tatsache, daß ich mich für überlegen hielt, und die Überzeugung, daß es leichter ist, eine Frau zu gewinnen, als Himmel herzustellen, haben es mir nahegelegt, spontan ans -61-
Werk zu gehen. Die Hoffnung, sie zu gewinnen, ist auf der Strecke geblieben; ich habe nicht einmal mehr ihre vertrauensvolle Freundschaft; ich habe längst nicht mehr den nötigen Halt, den Mut, mich dem Leben zu stellen. Ich mußte mich einer Taktik bedienen. Pläne entwerfen.« (Morel wechselte den Ton, als wolle er die ernste Stimmung, die seine Worte bewirkt hatten, zerstreuen.) »Anfangs wollte ich sie entweder überreden, mit mir allein herzukommen (unmöglich: Ich habe sie nicht mehr allein gesehen, seit ich ihr meine Leidenschaft gestanden habe), oder aber sie entführen (dann hätten wir uns ewig gestritten). Beachten Sie, daß in diesem Fall das Wort ewig keine Übertreibung ist.« Diesen Absatz hat er beim Vorlesen sehr verändert. Er sagte - glaube ich -, daß er daran gedacht habe, sie zu entführen, und versuchte, ein paar Witze darüber zu machen. »Jetzt will ich Ihnen meine Erfindung erklären.« Bis hierhin ein abstoßender, ungegliederter Vortrag. Wenn Morel, ein der Welt zugewandter Wissenschaftler, die Gefühle beiseite läßt und den Kopf in seine Tasche mit alten Kabeln steckt, erreicht er größere Genauigkeit; seine Literatur bleibt zwar unangenehm, ist überreich an technischen Begriffen und bemüht sich vergebens um einen gewissen rhetorischen Schwung, aber sie ist deutlicher. Der Leser möge selber urteilen: »Was ist die Funktion des Sprechfunks? Er soll für das Gehör eine spezielle Abwesenheit aufheben: Mit Hilfe von Sendern und Empfängern können wir mit Madeleine in einem Gespräch zusammen sein, und zwar in diesem Zimmer hier, auch wenn sie mehr als zwanzigtausend Kilometer entfernt ist, in der Nähe von Quebec. Fernsehen erreicht dasselbe für das Sehvermögen. Mit schnelleren oder langsameren Schwingungen läßt sich das auch auf die anderen Sinne ausdehnen; auf alle anderen Sinne. Der wissenschaftliche Rahmen der Möglichkeiten, Abwesenheiten aufzuheben, war bis vor kurzem etwa dieser: Für das Gesicht: Fernsehen, Film, Photographie. Für das -62-
Gehör: Radio, Sprechfunk, Grammophon, Telephon.* Schlußfolgerung: Bis vor kurzem hatte sich die Wissenschaft darauf beschränkt, für Gehör und Gesicht räumliche und zeitliche Abwesenheiten aufzuheben. Das Verdienst des ersten Teils meiner Arbeiten besteht darin, daß ich eine Trägheit unterbrochen habe, die schon das Gewicht einer Tradition besaß, und daß ich auf nahezu parallelen Wegen mittels Logik das Denken und die Lehren jener Wissenschaftler fortgeführt habe, die mit den erwähnten Erfindungen die Welt verbesserten. Den Industriellen, die in Frankreich (Société Clunie) wie in der Schweiz (Schwachter, St. Gallen) die Bedeutung meiner Arbeiten begriffen und mir ihre verschwiegenen Laboratorien geöffnet haben, möchte ich meine Dankbarkeit bekunden. Solche Empfindungen läßt das Betragen meiner Kollegen nicht zu. Als ich mich nach Holland begab, um mit dem berühmten Elektrotechniker Jan van Heuse zu sprechen, Erfinder einer rudimentären Maschine, die festzustellen erlauben soll, ob eine Person lügt, stieß ich auf eine Menge ermunternder Worte und, wie ich sagen muß, auf schäbigen Zweifel. Danach arbeitete ich allein. Ich machte mich daran, bislang unerreichte Wellen und Schwingungen zu suchen, Apparate zu ersinnen, um sie einzufangen und zu senden. Ich erlangte relativ leicht die Geruchsempfindungen; die thermischen und die eigentlichen, taktilen Empfindungen erforderten meine ganze Beharrlichkeit. Außerdem waren die vorhandenen Medien zu perfektionieren. Die bisher besten Resultate gereichen den Herstellern von *
Die Auslassung des Telegraphen scheint mir bewußt vorgenommen zu sein. Morel ist der Verfasser des Opusculum Que nous envoie Dieu? [Was schickt uns Gott?] (Worte aus der ersten Botschaft von Morse); und er antwortet: Un peintre inutile et une invention indiscrète [Einen unnützen Maler und eine indiskrete Erfindung]. Bilder wie Lafayette und Sterbender Herkules sind jedoch unumstritten. (Anm. d. Hrsg.) -63-
Schallplatten zur Ehre. Schon lange darf man behaupten, daß wir hinsichtlich der Stimme den Tod nicht mehr fürchten. Bilder waren durch Photographie und Film nur sehr mangelhaft archiviert. Ich wendete diesen Teil meiner Arbeit auf das Bewahren der von Spiegeln erzeugten Bilder. Eine Person oder ein Tier oder ein Gegenstand ist für meine Apparate wie die Sendestation, die das Konzert ausstrahlt, das Sie im Radio hören. Wenn Sie den Empfänger für Geruchswellen einschalten, werden Sie den Duft des Jasmin, den Madeleine am Busen trägt, empfinden, ohne Madeleine zu sehen. Wenn Sie den Sektor für taktile Wellen einschalten, können Sie ihr das Haar liebkosen weich und unsichtbar - und wie die Blinden lernen, die Dinge mit den Händen zu erkennen. Wenn Sie aber den gesamten Satz an Empfängern aktivieren, erscheint Madeleine vollständig, reproduziert, identisch; Sie dürfen nicht vergessen, daß es sich um Bilder handelt, die Spiegeln entnommen sind und mit den Lauten, dem Tastwiderstand, dem Geschmack, den Gerüchen, der Temperatur perfekt synchronisiert wurden. Kein Zeuge wird behaupten, es seien bloß Bilder. Und wenn gleich unsere eigenen erscheinen, werden Sie selbst mir nicht glauben. Es wird Sie weniger Mühe kosten, anzunehmen, ich hätte ein Ensemble von Schauspielern engagiert, von unglaublichen Doubles. Soviel zum ersten Teil der Maschine; der zweite zeichnet auf; der dritte projiziert. Dazu sind weder Bildschirme noch Leinwände nötig; die Projektionen werden überall im Raum empfangen, und es spielt keine Rolle, ob Tag ist oder Nacht. Der Klarheit wegen will ich die Teile der Maschine leichtfertig vergleichen mit: dem Fernsehapparat, der Bilder von mehr oder minder weit entfernten Sendern zeigt; der Kamera, die auf einem Filmband die im Fernsehapparat erscheinenden Bilder festhält; dem Filmprojektor. Ich wollte die Empfangsleistungen meiner Apparate koordinieren und Szenen aus unserem Leben aufnehmen: einen -64-
Abend mit Faustine, Ausschnitte aus Gesprächen mit Ihnen; so hätte ich ein Album mit sehr haltbaren und scharfen Anwesenheiten zusammengestellt, ein Legat gewisser Momente für andere, zur Freude unserer Kinder, der Freunde und der Generationen, deren Gepflogenheiten andere sein werden. Tatsächlich nahm ich an, daß - wenngleich die Reproduktionen von Gegenständen Gegenstände sind, insofern die Photographie von einem Haus ein Gegenstand ist, der einen anderen vorstellt - die Reproduktionen von Tieren und Pflanzen keine Tiere und Pflanzen sein würden. Ich war überzeugt, daß meinen Scheinbildern von Personen ein Bewußtsein ihrer selbst fehlen würde (wie den Personen eines Filmstreifens). Ich erlebte eine Überraschung: Als ich nach langer Arbeit diese Daten harmonisch zusammenfügte, sah ich mich wiedererschaffenen Personen gegenüber, die zwar verschwanden, wenn ich den Projektor ausschaltete, die zwar nur jene vergangenen Augenblicke, in denen die Aufnahme gemacht worden war, durchlebten und sie, wenn sie abgelaufen waren, wiederholten, wie Teile einer Schallplatte oder eines Films, die nach dem Abspielen wieder von vorne anfangen aber sie wären für niemanden von wirklichen Personen zu unterscheiden (sie wirken, als bewegten sie sich in einer anderen Welt, die von unserer zufällig berührt wird). Wenn wir den Personen, die uns umgeben, ein Bewußtsein zubilligen und all das, was uns von bloßen Gegenständen unterscheidet, werden wir es auch den von meinen Apparaten geschaffenen Personen nicht absprechen können, mit keinem gültigen und ausschließenden Argument. Wenn die Sinne versammelt sind, tritt die Seele hervor. Ich brauchte nur auf sie zu warten. Madeleine war da für mein Sehvermögen, Madeleine war da fürs Gehör, Madeleine war da für den Geschmack, Madeleine war da für den Geruch, Madeleine war da für den Tastsinn: Madeleine war da.« Ich habe bereits darauf hingewiesen, daß Morels Literatur unangenehm ist, reich an technischen Begriffen -65-
und vergebens um einen gewissen rhetorischen Schwung bemüht. Was Affektiertheit angeht, erweist diese sich von allein. »Fällt es Ihnen schwer, ein derart mechanisches und künstliches System der Reproduktion von Leben zu akzeptieren? Denken Sie daran, daß durch unsere Unfähigkeit zu sehen die Bewegungen des Taschenspielers zu Magie werden. Um lebendige Reproduktionen zu erzeugen, brauche ich lebendige Sender. Ich erschaffe kein Leben. Soll man nicht Leben nennen, was latent in einer Schallplatte ist, was sich offenbart, wenn das Grammophon funktioniert, wenn ich einen Schalter betätige? Muß ich betonen, daß jedes Leben, wie chinesische Mandarine* , von Knöpfen abhängt, auf die unbekannte Wesen drücken können? Und Sie selbst, wie oft haben Sie denn wohl das Schicksal der Menschen befragt, die alten Fragen gewälzt: Wohin gehen wir? Wo ruhen wir, wie ungehörte Musik auf einer Schallplatte, bis Gott unsere Geburt anordnet? Sehen Sie denn keine Parallele zwischen dem Schicksal der Menschen und dem der Bilder? Die Hypothese, daß die Bilder eine Seele haben, scheint bestätigt durch die Wirkungen meiner Maschine auf Personen, Tiere und Pflanzen, die als Sender fungieren. Natürlich habe ich diese Ergebnisse erst nach vielen Teilrückschlägen erzielt. Ich weiß noch, daß ich die ersten Versuche mit Angestellten der Firma Schwachter vornahm. Ohne sie vorzuwarnen, ließ ich die Maschinen anlaufen und nahm sie bei der Arbeit auf. Im Empfänger gab es noch Mängel; er faßte die Daten nicht harmonisch zusammen: In einigen Fällen stimmte zum Beispiel das Bild nicht mit dem Tastwiderstand überein; manchmal sind die Fehler für kaum *
Anspielung auf mehrere »Teufelspakt«-Erzählungen (u. a. Balzac, Dumas, Eòa de Queirós): Der jeweilige Protagonist erfährt, daß er durch Druck auf einen Knopf einen Mandarin in China töten kann, dessen Reichtum dann ihm zufallen wird. (AdÜ)
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spezialisierte Beobachter nicht zu bemerken, in anderen Fällen ist die Abweichung sehr groß.« Stoever fragte: »Kannst du uns diese ersten Bilder zeigen?« »Wenn Sie unbedingt wollen, warum nicht? Ich muß Sie aber warnen: Es sind ein paar leicht monströse Gespenster dabei«, erwiderte Morel. »Nun denn«, sagte Dora. »Zeigen Sie uns die Bilder. Ein bißchen Ablenkung kann nie schaden.« »Ich will sie sehen«, fuhr Stoever fort, »weil ich mich an einige ungeklärte Todesfälle bei der Firma Schwachter erinnere.« »Ich beglückwünsche dich«, sagte Alec; er salutierte. »Wir haben einen Gläubigen gefunden.« Stoever entgegnete ernst: »Idiot! Hast du denn nicht zugehört? Auch Charlie ist aufgenommen worden. Als Morel in Sankt Gallen war, fing es bei den Angestellten der Firma Schwachter mit dem Sterben an. Ich habe die Photographien in Zeitschriften gesehen. Ich erkenne sie bestimmt wieder.« Morel verließ bebend und bedrohlich das Zimmer. Alle schrien durcheinander: »Da hast du's«, sagte Dora, »du hast ihn beleidigt. Jemand muß ihn zurückholen.« »Kaum zu glauben, daß du mit Morel so umgesprungen bist.« Stoever beharrte: »Aber Sie verstehen nicht…« »Morel ist nervös. Ich sehe nicht ein, wozu es nötig war, ihn zu beleidigen.« »Sie verstehen ja gar nicht«, schrie Stoever wütend. »Mit seinem Apparat hat er Charlie aufgenommen, und Charlie ist gestorben; er hat die Angestellten der Firma Schwachter aufgenommen, und es gab mysteriöse Todesfälle unter den Angestellten. Jetzt sagt er, daß er uns aufgenommen hat.« »Und wir sind nicht tot«, sagte Irene. »Sich selbst hat er doch -67-
auch aufgenommen.« »Versteht denn hier niemand, daß das Ganze ein Scherz ist?« »Darüber ärgert sich Morel ja gerade. Ich habe ihn noch nie verärgert gesehen.« »Trotzdem: Morel hat sich nicht richtig verhalten«, sagte der mit den vorstehenden Zähnen. »Er hätte uns informieren können.« »Ich werde ihn holen«, sagte Stoever. »Du bleibst hier«, rief Dora. »Dann gehe ich«, sagte der mit den vorstehenden Zähnen. »Nicht um ihn zu beschimpfen, sondern um ihn zu bitten, daß er uns verzeiht und weitermacht.« Alle drängten sich um Stoever. Erregt versuchten sie, ihn zu beruhigen. Nach einiger Zeit kehrte der Mann mit den vorstehenden Zähnen zurück. »Er will nicht kommen. Er bittet uns, ihn zu entschuldigen. Ich konnte ihn nicht herbringen.« Faustine, Dora und die alte Frau gingen hinaus. Danach blieben nur noch Alec, der mit den Zähnen, Stoever und Irene. Sie schienen ruhig, einer Meinung, ernst. Sie gingen. Ich hörte, wie in der Halle, auf der Treppe geredet wurde. Die Lichter erloschen, und das Haus lag da im fahlen Licht des Morgengrauens. Ich wartete gespannt. Kein Laut war zu hören, fast kein Licht zu sehen. Sollten sich die Leute zur Ruhe begeben haben? Oder lagen sie auf der Lauer, um mich zu fangen? Ich stand schon wer weiß wie lange auf derselben Stelle, zitternd, bis ich endlich losging (ich glaube, um meine Schritte zu hören und irgendeinen Nachweis von Leben zu erhalten), ohne zu bedenken, daß ich vielleicht gerade das tat, was meine mutmaßlichen Verfolger erwarteten. Ich ging zum Tisch und steckte die Papiere ein. Ängstlich -68-
bedachte ich, daß der Raum keine Fenster hatte, daß ich durch die Halle würde gehen müssen. Ich ging äußerst langsam; das Haus kam mir grenzenlos vor. Reglos blieb ich in der Tür zur Halle stehen. Schließlich ging ich langsam, leise zu einem offenen Fenster, sprang hinaus und rannte davon. Als ich in der Niederung ankam, hatte ich ein undeutliches Gefühl von schuldhaftem Versagen, weil ich nicht am ersten Tag geflohen war, weil ich die Geheimnisse dieser Leute hatte erforschen wollen. Nach Morels Erklärung schien es mir, daß alles ein Polizeimanöver sei; ich mochte mir die Langsamkeit meines Begreifens nicht verzeihen. Es ist absurd, aber ich glaube, ich kann es rechtfertigen. Wer würde denn nicht einer Person mißtraue n, die sagt: »Ich und meine Gefährten sind bloßer Schein, wir sind eine neue Art von Photographie.« In meinem Fall ist das Mißtrauen noch begründeter: Man klagt mich eines Verbrechens an, ich wurde zu lebenslänglicher Haft verurteilt, und es ist möglich, daß meine Festnahme noch immer für jemanden Hauptaufgabe und Hoffnung auf bürokratischen Aufstieg ist. Aber da ich müde war, schlief ich sofort ein, mit vagen Fluchtplänen. Es war ein sehr aufwühlender Tag gewesen. Ich träumte von Faustine. Der Traum war sehr traurig, sehr bewegend. Wir nahmen Abschied voneinander; man kam sie abholen; das Schiff fuhr davon. Dann waren wir abermals allein und nahmen liebevoll Abschied. Ich weinte im Traum und war, als ich aufwachte, untröstlich verzweifelt, weil Faustine nicht da war, aber auch tränenreich getröstet, weil wir uns ohne Verstellung geliebt hatten. Ich fürchtete, während ich geschlafen hatte, sei Faustine tatsächlich abgereist. Ich stand auf. Das Schiff war fort. Meine Traurigkeit war abgrundtief und gleichbedeutend mit dem Entschluß, mich zu töten; aber als ich die Augen hob, sah ich Stoever, Dora und danach noch andere am Rand des Hügels. Ich mußte Faustine nicht unbedingt sehen. -69-
Ich fühlte mich sicher: Jetzt hatte es keine Bedeutung mehr für mich, ob sie da war oder nicht. Ich begriff, daß zutraf, was Morel Stunden zuvor gesagt hatte (aber möglicherweise hatte er es Stunden zuvor nicht zum erstenmal gesagt, sondern Jahre zuvor; er wiederholte es, weil es in der Woche, in der ewigen Schallplatte enthalten war). Ich empfand Abscheu, beinahe Ekel vor diesen Leuten und ihrer unermüdlich wiederholten Geschäftigkeit. Sie erschienen immer wieder oben am Hügelrand. Auf einer Insel zu leben, die von künstlichen Gespenstern bevölkert war, erschien mir der unerträglichste aller Albträume; in eines dieser Bilder verliebt zu sein war schlimmer, als in ein Gespenst verliebt zu sein (vielleicht haben wir schon immer gewünscht, daß die geliebte Person eine Spukexistenz führe). Ich füge hier als Fortsetzung jene Blätter (aus den gelben Papieren) bei, die Morel nicht verlesen hatte: »Angesichts der Unmöglichkeit, meinen ersten Plan durchzuführen - sie in mein Haus mitzunehmen und mein Glück oder unser beider Glück in einer Szene festzuhalten -, entwickelte ich ein anderes Projekt, das besser ist. Wir entdeckten diese Insel unter den Umständen, die Ihnen bekannt sind. Drei Voraussetzungen empfahlen sie mir: 1) die Gezeiten; 2) die Riffe; 3) die Helligkeit. Die gewöhnliche Regelmäßigkeit der vom Mond abhängigen Gezeiten und die Üppigkeit der meteorologisch bedingten Fluten sichern eine nahezu ständige Versorgung mit Energie. Die Riffe sind ein ausgedehntes System von Wällen gegen Invasoren; nur ein einziger Mann kennt sie, unser Kapitän McGregor; ich habe dafür gesorgt, daß er sich diesem Risiko nicht wieder aussetzt. Die klare, jedoch nicht blendende Helligkeit erlaubt die Hoffnung auf wirklich minimalen Qualitätsschwund bei der Aufnahme der Bilder. Ich gestehe, daß ich nach Entdeckung dieser günstigen Eigenschaften nicht zauderte, mein Vermögen in den Kauf der -70-
Insel und die Errichtung von Museum, Kirche und Schwimmbecken zu investieren. Ich charterte das Frachtschiff, das Sie die Yacht nennen, um unsere Herreise angenehmer zu gestalten. Das Wort ›Museum‹, das ich zur Bezeichnung dieses Hauses verwende, hat aus jener Zeit überlebt, da ich an den Plänen für meine Erfindung arbeitete, ohne deren Tragweite zu kennen. Damals dachte ich noch daran, für diese Bilder große Alben oder Museen einzurichten - private wie öffentliche. Der Augenblick ist gekommen, um zu verkünden: Diese Insel, mit ihren Gebäuden, ist unser Privatparadies. Ich habe Vorkehrungen - materielle und moralische - zu ihrer Verteidigung getroffen: Ich glaube, sie werden sie schützen. Hier werden wir ewig - auch wenn wir morgen abreisen - die Augenblicke der Woche in ihrer Abfolge wiederholen, ohne je aus dem Bewußtsein heraustreten zu können, das wir in jedem einzelnen dieser Momente hatten, weil uns die Apparate so aufgenommen haben; das wird es uns erlauben, uns in einem immer neuen Leben zu fühlen, weil es in keinem Augenblick der Projektion andere Erinnerungen geben wird als jene, die wir im entsprechenden Moment der Aufzeichnung hatten, und weil die Zukunft, viele Male hinter uns zurückgelassen, immer* ihre Attribute bewahren wird.« Von Zeit zu Zeit tauchen sie auf. Gestern habe ich Haynes am Hügelrand gesehen; vor zwei Tagen Stoever, Irene; heute Dora und andere Frauen. Sie machen mir das Leben zur Qual; wenn ich es in Ordnung bringen will, muß ich diese Bilder aus meiner Aufmerksamkeit entfernen. Sie zerstören, die Apparate zerstören, die die Bilder projizieren (sie sind zweifellos im Keller), oder die Treibwalze *
Immer. Über die Dauer unserer Unsterblichkeit: Ihre Maschinen, einfach und aus erlesenen Materialien, sind noch unverwüstlicher als die Metro zu Paris. (Anm. von Morel) -71-
zerstören, das sind meine liebsten Versuchungen; ich halte mich zurück, will mich nicht mit den Inselgefährten befassen, weil mir scheint, daß sie nicht materiell sein müssen, um zu Zwangsvorstellungen zu werden. Trotzdem glaube ich nicht, daß mir diese Gefahr droht. Ich bin zu sehr damit beschäftigt, das Wasser, den Hunger und die Nahrungsmittel zu überleben. Zur Zeit suche ich die Möglichkeit, ein ständiges Bett einzurichten; solange ich in der Niederung bleibe, werde ich keine finden; die Bäume sind morsch, sie können mich nicht tragen. Aber ich bin entschlossen, meinen Standort zu wechseln: Wenn Hochflut einsetzt, kann ich nicht schlafen, und an den anderen Tagen drängen sich die kleineren Überflutungen in meinen Schlummer, immer zu einer anderen Stunde. Ich kann mich an dieses Bad nicht gewöhnen. Ich brauche lange, bis ich einschlafe, und denke dabei an den Mome nt, da das schlammige, laue Wasser mein Gesicht bedecken und mir eine vorübergehende Erstickung bescheren wird. Ich will nicht, daß die Flut mich überrascht, aber dann besiegt mich die Müdigkeit, und schon ist das Wasser da, lautlos, wie bronzefarbene Vaseline, und verstopft mir die Atemwege. Das Ergebnis ist eine schmerzhafte Erschöpfung, ein Hang zu Gereiztheit und Verzagen angesichts jeder Schwierigkeit. Ich habe die gelben Blätter noch einmal gelesen. Ich finde, anhand der Abwesenheiten - räumlich oder zeitlich - die Mittel zu ihrer Überwindung zu unterscheiden führt zu Verwirrungen. Vielleicht sollte man es so sagen: Mittel zum Erreichen und Mittel zum Bewahren. Radio, Fernsehen, Telephon sind ausschließlich Mittel zum Erreichen; Film, Photographie, Grammophon - wahre Archive - sind zum Erreichen und Bewahren. Alle Apparate zur Aufhebung von Abwesenheiten sind also Mittel zum Erreichen (bevor man das Photo oder die Schallplatte hat, muß die Aufnahme gemacht werden). -72-
Ebenso ist es durchaus möglich, daß jede Abwesenheit eindeutig räumlich ist… Irgendwo werden wohl das Bild, die Tastbarkeit, die Stimme jener sein, die nicht mehr leben (nichts geht verloren…). Damit ist die Hoffnung angedeutet, der ich nachsinne und deretwegen ich in den Keller des Museums gehen muß, um die Maschinen anzusehen. Ich dachte an jene, die nicht mehr leben: Irgendwann werden Wellenfischer sie wieder in der Welt versammeln. Ich hatte Illusionen, selbst etwas zu erreichen. Vielleicht ein System zu erfinden, um die Anwesenheiten von Toten wiederherzustellen. Vielleicht könnte das der Apparat Morels sein, mit einer Vorrichtung, die den Empfang von Wellen lebendiger Sender ausschlösse (deren Sendestärke zweifellos größer ist). Die Unsterblichkeit wird in allen Seelen aufsprießen können, in den schon zerfallenen und in den gegenwärtig lebenden. Aber ach!, die Jüngstverstorbenen werden uns in ein ebenso großes Dickicht von Remanenzen stürzen wie die ältesten. Um einen einzigen bereits aufgelösten Menschen zu bilden, mit all seinen Elementen und ohne etwas Fremdes, wird es der geduldigen Sehnsucht der Isis bedürfen, da sie Osiris rekonstruierte. Die unbegrenzte Konservierung funktionierender Seelen ist gesichert. Oder besser gesagt: Sie wird vollkommen gesichert sein an jenem Tag, da die Menschen begreifen, daß sie, um ihren Platz auf Erden zu retten, den Malthusianismus predigen und praktizieren müssen. Es ist ein Jammer, daß Morel seine Erfindung auf dieser Insel verborgen hat. Vielleicht irre ich mich; vielleicht ist Morel eine berühmte Persönlichkeit. Wenn nicht, könnte ich als Lohn für die Verbreitung seiner Erfindung die unverdiente Begnadigung von meinen Verfolgern erreichen. Wenn aber Morel sie nicht publik gemacht hat, wird einer seiner Freunde es getan haben. Trotz allem ist es jedoch merkwürdig, daß bei meiner Abreise aus Caracas davon nicht geredet wurde. -73-
Ich habe mich über den nervösen Widerwillen hinweggesetzt, den ich für die Bilder empfand. Sie kümmern mich nicht mehr. Ich lebe behaglich im Museum, unabhängig von den Fluten. Ich schlafe gut, bin ausgeruht und neuerdings wieder von jener Gelassenheit, die es mir gestattet hat, die Verfolger zu foppen und auf diese Insel zu kommen. Zwar verursacht mir die Berührung mit den Bildern im Vorbeistreifen ein leichtes Unbehagen (vor allem, wenn ich zerstreut bin); aber auch das wird vergehen, und schon die Tatsache, daß ich mich ablenken kann, bedeutet, daß ich einigermaßen natürlich lebe. Ich gewöhne mich daran, Faustine zu sehen, ohne Gefühle, wie einen schlichten Gegenstand. Aus Neugier folge ich ihr seit etwa zwanzig Tagen. Ich hatte nur wenige Schwierigkeiten, obwohl es unmöglich ist, die Türen - auch die nicht abgeschlossenen zu öffnen (denn wenn sie geschlossen waren, als die Szene aufgenommen wurde, müssen sie auch geschlossen sein, wenn sie projiziert wird). Vielleicht könnte ich sie aufbrechen, aber ich fürchte, eine teilweise Beschädigung könnte den ganzen Apparat zerlegen (halte das aber nicht für wahrscheinlich). Wenn Faustine sich in ihr Zimmer zurückzieht, schließt sie die Tür. Nur bei einer einzigen Gelegenheit wird es mir nicht möglich sein, einzutreten ohne sie zu berühren: Wenn Dora und Alec sie begleiten. Diese beiden kommen dann rasch wieder heraus. Einmal nachts, in der ersten Woche, blieb ich auf dem Gang, vor der geschlossenen Tür, das Auge am Schlüsselloch, das mir einen leeren Ausschnitt zeigte. Vorige Woche wollte ich von außen hineinschauen und ging unter großer Gefahr über den äußeren Sims, wobei ich mir an dem rauhen Stein, an den ich mich ängstlich klammerte, Hände und Knie aufschürfte (die Höhe beträgt an die fünf Meter). Die Vorhänge hinderten mich daran, etwas zu sehen. Bei der nächsten Gelegenheit werde ich meine restliche Furcht besiegen und mit Faustine, Dora und Alec ins Zimmer gehen. -74-
Die anderen Nächte verbringe ich neben Faustines Bett, auf dem Fußboden, auf einer Matte, und es bewegt mich, wenn ich sehe, wie sie ruht, in völliger Unkenntnis unserer Gepflogenheit, miteinander zu schlafen. Ein einzelner Mensch kann weder Maschinen herstellen noch Visione n fixieren, außer in der unvollständigen Form, sie für andere, Glücklichere aufzuschreiben oder zu malen. Mir wird es nicht möglich sein, etwas zu entdecken, indem ich die Maschinen betrachte: Hermetisch werden sie, Morels Absichten gehorchend, funktionieren. Morgen werde ich Gewißheit haben. Heute konnte ich nicht in den Keller gehen; ich habe den Nachmittag damit verbracht, Nahrungsmittel zu sammeln. Es wäre perfide anzunehmen - sollten eines Tages die Bilder ausbleiben -, ich hätte sie zerstört. Im Gegenteil: Es ist meine Absicht, sie zu retten, durch diesen Bericht. Sie sind bedroht durch das Eindringen des Meeres und Invasionen jener Horden, die das ständige Anwachsen der Erdbevölkerung zeugt. Es ist ein schmerzlicher Gedanke, daß meine Unwissenheit, bewahrt durch eine ganze Bibliothek ohne ein einziges Buch, das wissenschaftlichen Arbeiten förderlich sein könnte -, sie vielleicht ebenfalls bedroht. Über die Gefahren, die auf diese Insel, die Erde und die Menschen darin lauern, daß man die Prophezeiungen von Malthus vergißt, will ich mich nicht weiter auslassen; was das Meer angeht, so ist zu sagen: Bei jeder Hochflut fürchtete ich den völligen Untergang der Insel; in einem Fischercafe in Rabaul hörte ich, daß die Ellice- oder Lagunen-Inseln instabil seien, einige von ihnen verschwänden, andere tauchten auf (befinde ich mich in diesem Archipel? Meine Gewährsleute sind der Sizilianer und Ombrellieri). Es ist erstaunlich, daß die Erfindung den Erfinder getäuscht -75-
hat. Zwar dachte auch ich, die Bilder seien lebendig, aber wir waren ja nicht in derselben Lage: Morel und ich. Morel hatte alles erdacht, war dabei und hatte die Entwicklung seines Werks geleitet; ich wurde damit konfrontiert, als es abgeschlossen war und funktionierte. Diese Blindheit des Erfinders gegenüber der Erfindung verblüfft uns und legt uns nahe, umsichtig zu urteilen… Vielleicht verallgemeinere ich gerade, was die Abgründe eines einzelnen Menschen sind, und moralisiere anhand einer Eigenart Morels. Ich billige die Richtung, die er, zweifellos unbewußt, seinen Versuchen gab, den Menschen zu verewigen: Er hat sich damit begnügt, die Sinneswahrnehmungen zu konservieren; und damit hat er wiewohl irrtümlich - das Richtige vorausgesagt: Der Mensch wird allein erstehen. In alledem muß ich den Triumph meines alten Axioms erblicken: Es ist nicht erstrebenswert, den Körper als Ganzes am Leben zu erhalten. Logische Gründe gestatten uns, Morels Hoffnungen zu verwerfen. Die Bilder leben nicht. Dennoch scheint mir, daß man, im Besitz dieses Apparates, einen anderen erfinden sollte, der uns erlauben würde, nachzuprüfen, ob die Bilder fühlen und denken (oder zumindest, ob sie jene Gedanken und Empfindungen haben, die die Originale während der Aufnahme bewegten; natürlich wird sich die Beziehung ihres jeweiligen Bewußtseins [?] zu diesen Gedanken und Empfindungen nicht feststellen lassen). Der Apparat, den vorhandenen sehr ähnlich, wird auf die Gedanken und Empfindungen des Senders gerichtet sein; in jedem beliebigen Abstand zu Faustine werden wir ihre Gedanken und Empfindungen empfangen können, seien diese nun visuell, auditiv, taktil, olfaktorisch oder geschmacksbezogen. Und eines Tages wird es einen kompletteren Apparat geben. Das während des Lebens - oder während der Aufnahmezeiten - Gedachte und Empfundene wird wie ein Alphabet sein, mit dem das Bild weiterhin alles erfassen kann (wie wir mit den Zeichen des Alphabets alle Wörter -76-
verstehen und bilden können). Das Leben wird dann ein Depot des Todes sein. Aber auch dann wird das Bild noch nicht leben; grundsätzlich neue Gegenstände werden für es nicht existieren. Das Bild wird alles erkennen, was es empfunden oder gedacht hat, oder spätere Kombinationen dessen, was es empfunden oder gedacht hat. Die Tatsache, daß wir außerhalb von Raum und Zeit nichts erkennen können, legt vielleicht den Schluß nahe, daß unser Leben nicht wesentlich verschieden ist von dem Überleben, das mit diesem Apparat zu erlangen wäre. Wenn Intellekte, die minder plump sind als der von Morel, sich der Erfindung annehmen, wird der Mensch einen abgelegenen, erfreulichen Ort erwählen, sich mit jenen vereinen, die er am meisten liebt, und in einem intimen Paradies überdauern. Ein einziger Garten wird, sofern die zur Dauer bestimmten Szenen in verschiedenen Momenten aufgenommen werden, unzählige Paradiese bergen, deren Gemeinschaften, ohne voneinander zu wissen, gleichzeitig und fast an denselben Stellen ohne Kollision funktionieren. Leider werden es verletzliche Paradiese sein, weil die Bilder nicht die Menschen werden sehen können; und die Menschen, wenn sie nicht auf Malthus hören, werden eines Tages den Boden auch des winzigsten Paradieses brauchen und dessen wehrlose Insassen vernichten oder sie in die nutzlose Potentialität ihrer abgeschalteten Maschinen sperren. * *
Unter dem Motto
Come, Malthus, and in Ciceronian prose Show what a rutting Population grows, Until the produce of the Soil is spent, And Brats expire for lack of Aliment [Komm, Malthus, und in ciceronischer Prosa zeig uns, welch eine heckende Bevölkerung da wächst, bis der Ertrag des Bodens verbraucht ist und Gören aus Mangel an Nahrung verscheiden] verweilt der Autor bei einer beredten und mit kaum neuen Argumenten versehenen Apologie von Thomas Robert Malthus und dessen Essay on the Principles of Population. Aus Raumgründen haben wir diesen Teil -77-
Siebzehn Tage lang habe ich gewacht. Nicht einmal ein Verliebter hätte Gründe gefunden, Morel und Faustine zu verdächtigen. Ich glaube nicht, daß Morel in seinem Vortrag auf sie anspielen wollte (wiewohl sie die einzige war, die ihn nicht mit Lachen gefeiert hat). Aber selbst wenn ma n einräumt, daß Morel in Faustine verliebt ist, wie läßt sich behaupten, Faustine sei verliebt? Wenn wir mißtrauen wollen, wird nie ein Anlaß dazu fehlen. An einem Abend spazieren sie Arm in Arm zwischen den Palmen und dem Museum; ist an diesem Spaziergang von Freunden etwas auszusetzen? Wegen meines Vorhabens, das Ostinato rigore des Mottos zu erfüllen, betrieb ich die Überwachung so gründlich, daß es mir zur Ehre gereicht; ich achtete weder auf Bequemlichkeit noch auf Anstand; die Kontrolle war unter den Tischen ebenso streng wie in der Höhe, wo sich gewöhnlich die Blicke bewegen. An einem Abend im Speisesaal und an einem anderen in der Halle berühren die Beine einander. Wenn ich üble Absicht für möglich halte, warum schließe ich dann Zerstreutheit und Zufälligkeit aus? Ich wiederhole: Es gibt keinen endgültigen Beweis, daß Faustine für Morel Liebe empfindet. Vielleicht liegt der Ursprung meines Argwohns in meinem Egoismus. Ich liebe Faustine: Faustine ist der Beweggrund für alles; ich fürchte, daß sie verliebt sein könnte: Dies zu beweisen ist jetzt der Zweck von allem. Als ich wegen der Verfolgung durch die Polizei beängstigt war, bewegten sich die Bilder auf der Insel wie Schachfiguren, einer Strategie gehorchend, die mich fassen sollte. Morel geriete in Wut, wenn ich die Erfindung bekanntmachte. Das ist sicher, und ich glaube nicht, daß sich das mit Lobsprüchen vermeiden ließe. Seine Freunde würden sich in gemeinsamer Entrüstung zusammenscharen (auch Faustine). ausgelassen. (Anm. d. Hrsg.) -78-
Aber wenn sie ihm gegenüber Abscheu empfände - sie hat sich beim Vortrag nicht am Gelächter beteiligt -, würde sie sich vielleicht mit mir verbünden. Bleibt noch die Hypothese, daß Morel gestorben ist. In diesem Fall hätte einer seiner Freunde die Erfindung verbreitet. Wenn nicht, müßten wir einen kollektiven Tod annehmen, eine Seuche, einen Schiffbruch. Alles unglaubhaft; aber die Tatsache bleibt unerklärt, daß von der Erfindung, als ich Caracas verließ, nichts bekannt war. Eine Erklärung könnte sein, daß man ihm nicht geglaubt hat, daß Morel wahnsinnig war oder (mein erster Gedanke) daß alle wahnsinnig waren, daß die Insel ein Sanatorium für Wahnsinnige ist. Diese Erklärungen verlangen ebenso viel Phantasie wie die Epidemie oder der Schiffbruch. Falls ich Europa, Amerika oder Japan erreichte, stünde mir eine schwierige Zeit bevor. Wenn ich als berühmter Scharlatan begönne - ehe ich ein berühmter Erfinder würde -, kämen Morels Bezichtigungen über mich und vielleicht ein Haftbefehl, aus Caracas. Am traurigsten daran wäre, daß die Erfindung eines Wahnsinnigen mich in diese Klemme gebracht hätte. Aber ich muß mir klarmachen: Ich brauche nicht zu fliehen. Mit den Bildern zu leben bedeutet Glück. Wenn die Verfolger eintreffen, werden sie mich vergessen angesichts des Wunders dieser unerreichbaren Leute. Ich werde bleiben. Wenn ich Faustine begegnete: wie ich sie zum Lachen bringen würde, indem ich ihr erzählte, wie oft ich, verliebt und schluchzend, zu ihrem Bild gesprochen habe. Ich halte diesen Gedanken für ein Laster; ich schreibe ihn nieder, um ihm Grenzen zu setzen, um festzustellen, daß er keinen Zauber besitzt, um ihn fallenzulassen. Die kreiselnde Ewigkeit mag dem Betrachter gräßlich erscheinen; für die betroffenen Individuen ist sie befriedigend. Frei von schlechten Nachrichten und Krankheiten leben sie -79-
immer, als sei es das erste Mal, ohne Erinnerung an die früheren. Außerdem ist es dank der Unterbrechungen, die durch den Flutwechsel bedingt sind, keine gnadenlose Wiederholung. Gewöhnt an den Anblick eines sich wiederholenden Lebens, erscheint mir das eigene heillos zufällig. Alle Besserungsvorsätze sind eitel: Für mich gibt es kein nächstes Mal, jeder Moment ist einzig, anders, und viele gehen durch Achtlosigkeit verloren. Allerdings gibt es auch für die Bilder kein nächstes Mal (alle sind dem ersten gleich). Man könnte denken, daß unser Leben einer Woche dieser Bilder gleicht und sich in benachbarten Welten wiederholen wird. Ohne jedes Zugeständnis an meine Schwäche kann ich mir die bewegende Ankunft in Faustines Haus vorstellen, das Interesse, das sie meinen Berichten entgegenbrächte, die Freundschaft, die dergleichen Umstände zu entwickeln helfen würden. Wer weiß, ob ich nicht tatsächlich auf dem langen und beschwerlichen Weg zu Faustine bin, zum notwendigen Ruhepunkt meines Lebens. Aber - wo lebt Faustine? Wochenlang bin ich ihr gefolgt. Sie spricht von Kanada. Mehr weiß ich nicht. Aber es gibt eine weitere Frage, die sich - zu meinem Entsetzen vernehmen läßt: Lebt Faustine? Vielleicht weil mir der Gedanke auf so poetische Weise herzzerreißend erscheint - eine Person zu suchen, von der ich nicht weiß, wo sie lebt noch: ob sie lebt -, ist Faustine mir wichtiger als das Leben. Gibt es eine Möglichkeit, die Reise zu unternehmen? Das Boot ist morsch. Die Bäume sind morsch; ich bin kein so guter Zimmermann, daß ich aus anderem Material ein Boot bauen könnte (zum Beispiel aus Stühlen oder Türen; ich bin nicht einmal sicher, daß ich es mit Baumstämmen könnte). Ich werde darauf warten, daß ein Schiff vorbeikommt. Aber gerade das habe ich nicht gewollt. Meine Rückkehr wäre dann nicht mehr geheim. Nie habe ich von hier -80-
aus ein Schiff gesehen, außer dem von Morel, das das Scheinbild eines Schiffs war. Außerdem werde ich, falls ich ans Ziel meiner Reise gelange, falls ich Faustine treffe, in einer der peinlichsten Situationen meines Lebens sein. Ich werde mich mit allerlei Geheimniskrämerei einstellen, sie um ein Gespräch unter vier Augen bitten müssen; das allein, seitens eines Unbekannten, wird sie schon mißtrauisch machen; danach, wenn sie erfährt, daß ich Zeuge ihres Lebens war, wird sie meinen, ich hätte es auf einen unredlichen Vorteil abgesehen; und wenn sie erst weiß, daß ich ein zu lebenslänglichem Gefängnis Verurteilter bin, wird sie ihre Befürchtungen bestätigt sehen. Früher habe ich nicht darüber nachgedacht, ob eine Tat mir Glück oder Unheil bringen könnte. Jetzt wiederhole ich mir nachts den Namen Faustine. Natürlich spreche ich ihn gern aus; aber ich bin beklommen von Erschöpfung und sage ihn immer wieder (manchmal habe ich Schwindelanfälle und Angst zu erkranken, wenn ich einschlafe). Sobald ich mich beruhigt habe, werde ich eine Möglichkeit finden, hier wegzukommen. Vorläufig zwinge ich meine Gedanken zur Ordnung, indem ich erzähle, was mir zugestoßen ist. Und wenn ich sterben muß, werden sie von der Gräßlichkeit meiner Agonie künden. Gestern gab es keine Bilder. Verzweifelt angesichts unzugänglicher Maschinen im Ruhezustand hatte ich das Vorgefühl, daß ich Faustine nie mehr sehen würde. Aber heute früh stieg die Flut wieder. Ich machte mich auf, ehe die Bilder erschienen. Ich ging in den Raum mit den Maschinen, um sie zu begreifen (damit ich nicht den Gezeiten ausgeliefert bleibe und Ausfälle beheben kann). Ich hatte geglaubt, wenn ich die Maschinen anlaufen sähe, verstünde ich sie vielleicht oder gewönne wenigstens Anhaltspunkte, um sie zu studieren. Diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Ich drang durch das in die Wand gebrochene Loch ein und -81-
blieb… Ich lasse mich von der Emotion dahintragen. Ich muß die Sätze komponieren. Als ich eintrat, empfand ci h dieselbe Überraschung, dieselbe Seligkeit wie beim erstenmal. Ich hatte den Eindruck, auf dem unbewegten blauen Grund eines Flusses zu wandeln. Ich setzte mich hin, um zu warten, mit dem Rücken zur Bresche, die ich geschlagen hatte (dieser Bruch der himmelblauen Kontinuität des Porzellans tat mir weh). So verweilte ich einige Zeit, in sanfter Zerstreutheit (heute erscheint mir das unfaßlich). Dann begannen die grünen Maschinen zu arbeiten. Ich verglich sie mit der Wasserpumpe und den Lichtgeneratoren. Ich betrachtete sie, lauschte ihnen, betastete sie aufmerksam, aus nächster Nähe, vergebens. Aber da sie mir sogleich unenträtselbar vorkamen, habe ich vielleicht Aufmerksamkeit nur geheuchelt, sozusagen um mir den Anschein zu geben oder aus Beschämung (daß ich so schnell in den Keller gegangen war, daß ich auf diesen Moment so sehr gewartet hatte), als ob mich jemand beobachtete. In meiner Müdigkeit empfand ich wieder gedrängte Erregung. Ich muß sie unterdrücken. Wenn ich mich unterdrücke, werde ich die Möglichkeit finden, hier herauszukommen. Ich erzähle umständlich, was mir widerfahren ist: Ich wandte mich um und ging mit gesenktem Blick. Als ich die Wand ansah, hatte ich das Gefühl, desorientiert zu sein. Ich suchte das Loch, das ich gebrochen hatte. Es war nicht da. Ich dachte, dies könne ein interessantes optisches Phänomen sein, und trat einen Schritt zur Seite, um zu sehen, ob es andauerte. Mit der Gebärde eines Blinden reckte ich die Arme. Ich betastete alle Wände. Vom Boden las ich Porzellan- und Ziegelscherben auf, die heruntergefallen waren, als ich die Öffnung gebrochen hatte. Sehr lange tastete ich an ebendieser Stelle die Wand ab. Ich mußte akzeptieren, daß sie sich wieder gebildet hatte. Kann ich denn so fasziniert von der himmelblauen Helligkeit des Raums gewesen sein, so gefesselt vom Funktionieren der Motoren, daß ich nicht gehört hätte, wie ein Maurer die Wand repariert? Ich -82-
trat dicht an sie heran. An meinem Ohr fühlte ich die Kühle des Porzellans und hörte jenseits eine grenzenlose Stille, als wäre die andere Seite verschwunden. Am Boden lag dort, wo ich sie bei meinem ersten Eindringen hatte fallen lassen, die Eisenstange, die mir zum Aufbrechen der Mauer gedient hatte. ›Nur gut, daß niemand sie gesehen hat‹, sagte ich mir, in jämmerlicher Verkennung der Lage. ›Man hätte sie sonst entfernt, ohne daß ich es bemerkt hätte.‹ Wieder preßte ich das Ohr an diese Wand, die endgültig schien. Durch die Stille ermutigt, suchte ich die Stelle, an der ich die Wand durchbrochen hatte, und begann auf sie einzuschlagen (ich dachte, es würde mich weniger Mühe kosten, sie dort zu durchstoßen, wo der Mörtel noch frisch war). Ich stieß immer wieder zu; die Verzweiflung wuchs. Das Porzellan auf der Innenseite war unverwundbar. Die stärksten, die ermüdendsten Schläge prallten dröhnend von seiner Härte ab und öffneten nicht einmal einen oberflächlichen Riß, noch sprengten sie von dem himmelblauen Schmelz den kleinsten Splitter. Ich nahm meine Nerven zusammen, entspannte mich. Von neuem schlug ich zu, an anderen Stellen. Die Glasur splitterte ab, und als dicke Wandbrocken herabfielen, hieb ich weiter drauflos, trüben Blicks und mit einer Wucht, die dem Gewicht des Eisens nicht angemessen war, bis der Widerstand der Mauer, der sich keineswegs der Anzahl und Stärke der Schläge entsprechend verringerte, mich zu Boden schleuderte, weinerlich vor Erschöpfung. Zuerst sah und berührte ich die Mauerbrocken, die auf der einen Seite glatt, auf der anderen rauh und erdig waren; dann trafen meine Augen in einer Vision, die so licht war, daß sie ephemer und übernatürlich wirkte, auf die himmelblaue Kontinuität des Porzellans, die unversehrte Wand ringsum, den abgeschlossenen Raum. Ich begann wieder zu hämmern. An einigen Stellen sprangen -83-
Stücke aus der Wand, die jedoch nicht die geringste Höhlung, ob hell oder dunkel, sehen ließen, sich rascher, als ich schauen konnte, neu bildeten und dann jene unverletzliche Härte bekamen, die ich bereits an der Stelle vorgefunden hatte, wo die Öffnung gewesen war. Ich begann zu schreien: »Hilfe!«, warf mich ein paarmal gegen die Wand und ließ mich fallen. Ich bekam einen ohnmächtigen Schreikrampf, das Gesicht naß und glühend. Ich war gepackt von Angst davor, an einem verwunschenen Ort zu sein, und von der wirren Erkenntnis, daß sich das Magische jenen, die wie ich ungläubig sind, unvermittelbar und tödlich zeigt, um sich zu rächen. Belagert von den furchtbaren himmelblauen Wänden, hob ich die Augen zum Oberlicht, wo sie unterbrochen waren. Ich sah, lange Zeit ohne zu begreifen, dann erschrocken eine n Ast der Zeder, der die Form verlor und sich in zwei verwandelte; dann durchdrangen die beiden Äste einander wieder, fügsam wie Geistererscheinungen, und gingen in einem einzigen auf. Ich sagte laut (oder dachte sehr deutlich): »Hier komme ich nie heraus. Ich bin an einem verwunschenen Ort.« Als ich dies formulierte, empfand ich Scham, wie ein Schwindler, der seinen Trug zu weit getrieben hat, und begriff alles: Diese Wände - wie Faustine, wie Morel, die Fische im Aquarium, eine der Sonnen, einer der Monde und der Traktat von Belidor - sind Projektionen der Maschinen. Sie stimmen mit den von Maurern aufgeführten Wänden überein (sie sind dieselben Wände, aufgenommen von den Maschinen und dann auf sich selbst reflektiert). Wo ich die ursprüngliche Wand durchbrochen oder unterdrückt habe, bleibt die projizierte stehen. Da sie eine Projektion ist, kann keine Macht sie durchkreuzen oder unterdrücken (solange die Motoren arbeiten). Wenn ich die erste Wand völlig niederbräche, so bliebe dieser Maschinenraum, solange die Motoren nicht arbeiten, offen und wäre kein Raum mehr, sondern Winkel eines anderen Raums; sobald die Motoren arbeiten, wird sich die Wand wieder -84-
undurchdringlich zwischen beide schieben. Morel muß diese Wehr mittels doppelter Mauer ersonnen haben, damit niemand an die Maschinen gelangt, die seine Unsterblichkeit aufrechterhalten. Er hat jedoch die Gezeiten mangelhaft erforscht (zweifellos in einer anderen Sonnenphase) und geglaubt, die Anlage könne ununterbrochen arbeiten. Bestimmt ist er auch der Erfinder der berüchtigten Seuche, die bis heute die Insel so gut geschützt hat. Mein Problem ist, die grünen Motoren anzuhalten. Es kann nicht schwierig sein, den Schalter zu finden, der sie außer Betrieb setzt. Binnen eines einzigen Tages habe ich die Lichtmaschine und die Wasserpumpe zu bedienen gelernt. Hier herauszukommen sollte nicht so schwer sein. Das Oberlicht hat mich gerettet, oder es wird mich retten, denn ich muß nicht verhungern, über die Verzweiflung hinaus in mein Los ergeben, und dabei alles, was ich fahren lasse, grüßen wie jener japanische Kapitän, in einem erstickenden Unterseeboot auf dem Meeresgrund und in tugendhaft bürokratischer Agonie. Im Nuevo Diario habe ich den Brief gelesen, den man in dem U-Boot fand. Der Tote grüßte den Kaiser, die Minister sowie, in hierarchischer Ordnung, alle Angehörigen der Marine, die er aufzählen kann, während er den Erstickungstod erwartet. Außerdem notiert er Beobachtungen wie die folgende: »Jetzt blute ich aus der Nase; ich glaube, die Trommelfelle sind geplatzt.« Indem ich diesen Vorgang eingehend erzählte, habe ich ihn wiederholt. Ich hoffe, das Ende nicht wiederholen zu müssen. In meinem Tagebuch erscheinen die Schrecken des Tages wohlgeordnet. Ich habe viel geschrieben: Es erscheint mir sinnlos, unvermeidliche Parallelen zu suchen zu den Todgeweihten, die Pläne für weitläufige Zukünfte machen oder im Augenblick des Ertrinkens ein minutiöses Bild ihres ganzen Lebens sehen. Der letzte Augenblick dürfte bestürzend und verworren sein; immer sind wir von ihm so weit entfernt, daß -85-
wir uns die Schatten, die ihn verdüstern, nicht vorstellen können. Jetzt will ich aufhören zu schreiben, um mich gelassen daran zu machen, die Möglichkeit zu finden, wie diese Motoren anzuhalten sind. Dann wird die Bresche sich abermals öffnen, wie auf einen Zauberspruch hin; wenn nicht, werde ich (sollte ich auch Faustine für immer verlieren) mit der Eisenstange auf sie einschlagen, wie ich es mit der Wand getan habe, und sie zerbrechen, und die Bresche wird sich öffnen wie auf einen Zauberspruch hin, und ich werde draußen sein. Noch immer ist es mir nicht gelungen, die Motoren anzuhalten. Der Kopf tut mir weh. Leichte Nervenanfälle, die ich rasch überwinde, lassen mich aus zunehmender Schläfrigkeit auffahren. Ich habe den zweifellos illusorischen Eindruck, daß ich diese Probleme schnell lösen könnte, wenn ich nur ein wenig Außenluft bekäme. Ich habe das Oberlicht attackiert; es ist unversehrbar, wie alles, was mich hier einschließt. Immer wieder sage ich mir, daß die Schwierigkeit nicht in meiner Schlafsucht liegt, auch nicht im Luftmangel. Diese Motoren müssen sehr anders sein als alle übrigen. Die Annahme scheint logisch, daß Morel sie so entworfen hat, daß nicht der erste beste, der die Insel erreicht, sie begreift. Die Schwierigkeit, mit ihnen zurechtzukommen, muß jedoch in ihrer Abweichung von anderen Motoren liegen. Da ich keine Art Motor verstehe, fällt diese Hauptschwierigkeit weg. Vom Funktionieren der Motoren hängt Morels Unsterblichkeit ab; ich darf wohl annehmen, daß sie sehr solide sind; ich muß also meinen Drang beherrschen, sie in Stücke zu schlagen. Es würde mir nur gelingen, mich zu ermüden und Luft zu vergeuden. Um mich zu beherrschen, schreibe ich. Wenn Morel auf den Gedanken gekommen wäre, die Motoren aufzuzeichnen…
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Endlich hat mich die Todesangst von dem Aberglauben an meine Unfähigkeit befreit; es war, als hätte ich mich allem mit Vergrößerungsgläsern genähert: Die Motoren waren nicht länger zufällige Anhäufung von Eisenteilen, sondern sie hatten Formen und Anordnungen, die es erlaubten, ihre Aufgabe zu begreifen. Ich schaltete ab und ging hinaus. Im Maschinenraum konnte ich (neben der Wasserpumpe und dem Generator, beide bereits erwähnt) folgendes identifizieren: a) eine Gruppe von Übertragungsgeräten, die mit der Walze in der Niederung verbunden sind; b) eine feststehende Gruppe von Empfängern, Aufzeichnern und Projektoren, mit einem Netz von Apparaten, strategisch so verteilt, daß sie die ganze Insel bestrahlen; c) drei tragbare Apparate - Empfänger, Aufzeichner und Projektoren für isolierte Aufführungen. In dem, was ich für den wichtigsten Motor hielt, was aber eine Werkzeugkiste war, entdeckte ich ein paar unvollständige Pläne, die mir Arbeit und zweifelhafte Hilfe gaben. Die Hellsichtigkeit, in der sich diese Rekognoszierung zutrug, ergab sich nicht sofort. Meine vorherigen Zustände waren: 1. Verzweiflung. 2. Aufspaltung in Handelnden und Betrachter. Ich war damit befaßt, mich als Insasse eines erstickenden U-Boots zu empfinden, auf dem Meeresboden, bei einer Filmaufnahme. Gelassen ob meiner erhabenen Haltung, verwirrt wie ein Held, verlor ich Zeit, und als ich hinaustrat, war es nicht mehr hell genug, um eßbare Wurzeln zu suchen. Zuerst setzte ich die Empfänger und Projektoren für isolierte Aufführungen in Gang. Ich brachte Blumen, Blätter, Fliegen, Frösche zustande. Gerührt sah ich sie erscheinen: reproduziert, sich selber gleich. Dann beging ich die Unvorsichtigkeit: Ich hielt die linke Hand vor den Empfänger, drehte den Projektor auf, und die Hand -87-
erschien, nur die Hand, die dieselben trägen Bewegungen machte wie im Augenblick der Aufzeichnung. Jetzt ist sie wie irgendein anderes Objekt oder fast wie ein Tier im Museum. Ich lasse den Projektor laufen, bringe die Hand nicht zum Verschwinden; ihr Anblick ist eher merkwürdig als unangenehm. In einer Erzählung wäre diese Hand für den Protagonisten eine furchtbare Drohung. In Wirklichkeit aber: Was kann sie Schlimmes anrichten? Die pflanzlichen Sender - Blätter, Blumen - sterben nach fünf bis sechs Stunden, die Frösche nach fünfzehn. Die Kopien überleben, unzerstörbar. Die echten Fliegen kann ich nicht von den künstlichen unterscheiden. Die Blumen und Blätter hätten vielleicht Wasser gebraucht. Den Fröschen habe ich nichts zu fressen gegeben; sie haben wohl auch unter dem Wechsel ihrer Umgebung gelitten. Was die Wirkungen auf meine Hand angeht, nehme ich an, daß sie von meinen durch die Maschine provozierten Ängsten, nicht jedoch aus ihr selber kommen. Ich empfinde ein ständiges, aber schwaches Brennen. Die Haut ist an ein paar Stellen abgeblättert. Heute nacht war ich unruhig. Ich fühlte scheußliche Veränderungen der Hand voraus. Ich träumte, ich hätte sie gekratzt und mühelos zerpflückt. Wahrscheinlich habe ich sie mir dabei verletzt. Noch ein Tag wäre unerträglich. Zuerst erregte ein Absatz in Morels Vortrag meine Neugier. Dann glaubte ich, sehr vergnügt, eine Entdeckung gemacht zu haben. Ich weiß nicht, wie diese Entdeckung sich in diese andere, treffende, ominöse verwandelte. Ich werde mir nicht sofort das Leben nehmen. Es gehört längst zu den Gepflogenheiten meiner scharfsinnigsten -88-
Theorien, sich am nächsten Tag aufzulösen, Beweis für eine erstaunliche Kombination aus Unfähigkeit und Enthusiasmus (oder Verzweiflung), Vielleicht verliert mein Einfall, wenn er erst aufgeschrieben ist, seine Kraft. Dies ist der Satz, der mich stutzen ließ: »Sie werden mir diese zuerst lästige, danach schreckliche Szene nachsehen müssen.« Warum schrecklich? Sie sollten erfahren, daß man sie auf eine neue Art photographiert hatte, ohne Vorwarnung. Allerdings ist es sicher nicht angenehm, a posteriori zu erfahren, daß acht Tage des eigenen Lebens in allen Einzelheiten für immer aufgezeichnet wurden. Irgendwann dachte ich auch: ›Eine dieser Personen mag ein furchtbares Geheimnis hüten; Morel wird versuchen, es zu erfahren oder zu enthüllen.‹ Beiläufig fiel mir ein, daß die Grundlage des Entsetzens bei gewissen Völkern davor, sich in Bildern dargestellt zu sehen, der Glaube ist, daß, sobald sich das Bild einer Person formt, die Seele in das Bild übergeht und die Person stirbt. Bei Morel Skrupel zu finden, weil er seine Freunde ohne deren Einwilligung photographiert hatte, erheiterte mich; und zwar glaubte ich, im Geist eines zeitgenössischen Wissenschaftlers das Nachleben dieses uralten Entsetzens zu entdecken. Ich las den Satz noch einmal: »Sie werden mir diese zuerst lästige, danach schreckliche Szene nachsehen müssen. Wir wollen sie vergessen.« Was soll der Schlußsatz bedeuten? Daß sie all dem bald kein Gewicht mehr beimessen oder sich nicht mehr daran erinnern würden? Die Auseinandersetzung mit Stoever war schrecklich. Stoever hat denselben Verdacht geschöpft wie ich. Ich weiß nicht, wie ich so lange brauchen konnte, das zu begreifen. Übrigens scheint die Hypothese, daß die Bilder eine Seele haben, der Prämisse zu bedürfen, daß die Sender ihre Seele verlieren, wenn sie von den Apparaten aufgenommen werden. Morel selber erklärt es: »Die Hypothese, daß die Bilder eine Seele haben, scheint bestätigt durch die Wirkungen meiner -89-
Maschine auf Personen, Tiere und Pflanzen, die als Sender fungieren.« Man muß wirklich ein sehr herrisches, kühnes Gewissen haben - von Gewissenlosigkeit nicht zu unterscheiden -, um diese Erklärung vor den Opfern selbst abzugeben; dies ist jedoch eine Ungeheuerlichkeit, die zu einem Menschen zu passen scheint, der in Verfolgung einer Idee ein Massensterben organisiert und allein Verfügungsgewalt über die Solidarität all seiner Freunde beansprucht. Was war diese Idee? Das nahezu vollständige Beisammensein seiner Freunde zu nutzen, um ein bekömmliches Paradies zu erlangen, oder etwas Unbekanntes, das ich noch nicht ermittelt habe? Sollte es etwas Unbekanntes sein, ist es für mich vielleicht ohne Belang. Ich glaube, ich kann jetzt die toten Seeleute des vom Kreuzer Namura beschossenen Schiffs identifizieren: Morel nutzte seinen Tod und den seiner Freunde, um die Gerüchte über die Seuche zu bekräftigen, deren mörderische Brutstätte diese Insel sein soll; Gerüchte, die Morel selbst verbreitet hatte, um seine Maschine, seine Unsterblichkeit zu schützen. Aber all dies, von mir vernünftig erwogen, bedeutet, daß Faustine gestorben ist; daß es keine andere Faustine mehr gibt als dieses Bild, für das ich nicht existiere. Damit ist für mich das Leben unerträglich. Wie soll ich weiter die Folterqual erdulden, mit Faustine zu leben und ihr so fern zu sein? Wo soll ich sie suchen? Außerhalb dieser Insel hat sich Faustine samt den Gesten und Träumen aus einer mir unvertrauten Vergangenheit in nichts aufgelöst. Auf den ersten Seiten sagte ich: »Ich habe das unbehagliche Gefühl, daß dieses Papier zu meinem Testament wird. Wenn ich mich damit abfinden muß, will ich dafür sorgen, daß meine Behauptungen nachprüfbar sind; damit niemand auch wenn ich einmal verdächtigt wurde, die Unwahrheit gesagt zu haben - glauben kann, daß ich lüge, wenn ich sage, daß man mich zu Unrecht -90-
verurteilt hat. Ich werde diesen Bericht unter Leonardos Motto stellen - Ostinato rigore* - und versuchen, mich daran zu halten.« Ich bin zur Klage und zum Selbstmord berufen; die vereinbarte Strenge vergesse ich trotzdem nicht. Im folgenden korrigiere ich Irrtümer; erkläre all das, was nicht ausdrücklich erklärt worden ist. So will ich die Entfernung zwischen dem Ideal der Genauigkeit, das mich von Anfang an geleitet hat, und dem Erzählten verringern. Die Gezeiten: Ich habe das Büchlein von Belidor (Bernard Forest de) gelesen. Es beginnt mit einer allgemeinen Beschreibung der Gezeiten. Ich gestehe, daß die Tiden dieser Insel lieber Belidors Erklärung folgen als meiner. Dabei muß man bedenken, daß ich die Gezeiten nie studiert habe (vielleicht auf dem Gymnasium, wo jedoch niemand etwas gelernt hat) und daß ich sie in den Anfangskapiteln dieses Tagebuchs geschildert habe, als sie für mich erst bedeutsam zu werden begannen. Vorher, als ich noch auf dem Hügel lebte, waren sie keine Gefahr, und wiewohl sie mich interessierten, hatte ich keine Zeit, sie in Ruhe zu beobachten (nahezu alles übrige war eine Gefahr). Belidor zufolge erreicht die Flut zweimal im Monat den höchsten Stand, an den Vollmond- und Neumondtagen; zweimal, und zwar an den Tagen des Viertelmonds, ist sie besonders niedrig. Es mag sein, daß sieben Tage nach einer Vollmond- oder Neumondflut gelegentlich eine meteorologische Flut aufgetreten ist (verursacht durch starke Wind e und Regen): Sicher rührt daher mein Irrtum, daß die Hochfluten sich einmal wöchentlich ereignen. *
Es steht aber nicht über dem Manuskript. Soll man diese Auslassung der Vergeßlichkeit zuschreiben? Wir wissen es nicht; wie an jeder zweifelhaften Stelle wählen wir das Risiko, kritisiert zu werden, die Treue gegenüber dem Original. (Anm. d. Hrsg.) -91-
Erklärung der Unpünktlichkeit der täglichen Gezeiten: Belidor zufolge verschieben sich die Gezeiten bei zunehmendem Mond jeden Tag um fünfzig Minuten nach hinten, bei abnehmendem kommen sie fünfzig Minuten früher. Das trifft auf die Insel hier nicht ganz zu: Ich glaube, daß Verfrühung und Verspätung täglich eine Viertelstunde bis zwanzig Minuten betragen; ich verzeichne diese bescheidenen Beobachtungen ohne Meßgeräte: Vielleicht können Gelehrte das Fehlende ergänzen und daraus einen hilfreichen Schluß für die bessere Kenntnis der Welt ziehen, in der wir leben. In diesem Monat gab es zahlreiche Hochfluten: zwei waren lunar, die übrigen meteorologisch. Erscheinen und Verschwinden. Erstes und folgende: Die Maschinen projizieren die Bilder. Die Maschinen arbeiten mit der Kraft der Gezeiten. Nach mehr oder minder langen Perioden mit Fluten geringer Höhe gab es eine Reihe von Hochwassern, die bis zu der Mühle in der Niederung vordrangen. Die Maschinen funktionierten, und die ewige Platte fing genau von dem Zeitpunkt der Woche an zu laufen, an dem sie stehengeblieben war. Wenn Morels Vortrag in der letzten Nacht der Woche gehalten worden ist, müßte das erste Erscheinen in der Nacht des dritten Tages erfolgt sein. Das Fehlen von Bildern in der langen Periode vor dem ersten Erscheinen hängt vielleicht damit zusammen, daß die Abfolge der Fluten von einer Sonnenperiode zur anderen variiert. Die zwei Sonnen und die zwei Monde: Da sich die Woche das ganze Jahr über wiederholt, sieht man diese unzeitigen Sonnen und Monde (wie ja auch die Gäste an heißen Tagen frieren, in schmutzigem Wasser baden, im Gestrüpp oder im Unwetter tanzen). Wenn die Insel unterginge - mit Ausnahme der Stellen, an denen die Maschinen und die Projektoren sich befinden -, wären die Bilder, das Museum und die Insel selbst weiterhin zu sehen. Ich weiß nicht, ob die übergroße Hitze der letzten Zeit darauf zurückzuführen ist, daß die Temperatur zur Zeit der Aufnahme und die augenblickliche Temperatur einander -92-
addierend überlagern. * Bäume und andere Gewächse: Die von der Maschine aufgezeichneten sind verdorrt; die nichtaufgezeichneten - jährlich wiederkehrende Pflanzen (Blumen, Gras) und die jungen Bäume - sind üppig. Lichtschalter, versperrte Klinken. Unbewegliche Vorhänge: Für die Klinken und die Lichtschalter gilt, was ich weiter oben von den Türen gesagt habe: Wenn sie unbeweglich waren, als die Szene aufgenommen wurde, so müssen sie es auch sein, wenn sie projiziert wird. Aus demselben Grund sind die Vorhänge nicht zu bewegen. Die Person, die das Licht ausschaltet: Die Person, die in dem Zimmer gegenüber von Faustines Tür das Licht ausdreht, ist Morel. Er tritt ein, bleibt einen Moment vor dem Bett stehen. Der Leser wird sich erinnern, daß in meinem Traum Faustine dies alles tat. Es ärgert mich, daß ich Morel mit Faustine verwechselt habe. Charlie. Unvollkommene Gespenster: Zuerst konnte ich sie nicht finden. Jetzt glaube ich, ihre Platten entdeckt zu haben. Ich lege sie nicht auf. Sie könnten mich bedrücken und nicht zu meiner (künftigen) Lage passen. Die Spanier, die ich im Anrichtezimmer sah: Es sind Angestellte Morels. Unterirdische Kammer. Wandschirm aus Spiegeln: Ich hörte Morel sagen, sie dienten optischen und akustischen Experimenten. Die von Stoever deklamierten französischen Verse: Âme, te souvient il, au fond du paradis, De la gare d'Auteuil et des trains de jadis.* Stoever sagt der alten Dame, sie seien von Verlaine. *
*Die Hypothese einer addierenden Überlagerung von Temperaturen scheint mir nicht unbedingt falsch (ein kleiner Heizstrahler ist an einem Sommertag unerträglich); ich glaube aber, die wirkliche Erklärung ist eine andere. Es war Frühling; die ewige Woche wurde im Sommer aufgenommen; bei Betrieb projizieren die Maschinen die Sommertemperatur. (Anm. d. Hrsg.) * Seele, erinnerst du dich im Paradies an den Bahnhof Auteuil und die Züge -93-
Somit dürften in meinem Tagebuch keine unerklärlichen Punkte mehr bleiben. ** Es enthält Elemente, um nahezu alles zu verstehen. Die ausstehenden Kapitel werden nicht überraschen. Ich möchte mir Morels Verhalten erklären. Faustine mied seine Gesellschaft; er heckte daraufhin diese Woche aus und den Tod all seiner Freunde, um mit Faustine die Unsterblichkeit zu erlangen. So kompensierte er den Verzicht auf die Möglichkeiten, die es im Leben gibt. Er war der Auffassung, für die anderen stelle der Tod keine abträgliche Entwicklung dar; statt einer Zeitspanne unsicheren Lebens würde er ihnen die Unsterblichkeit in Gesellschaft ihrer liebsten Freunde schenken. Auch bestimmte er über Faustines Leben. Aber eben die Entrüstung, die ich empfinde, läßt mich auf der Hut sein: Vielleicht spreche ich Morel eine Hölle zu, die die meine ist. Ich bin verliebt in Faustine, bin imstande, zu töten und mich umzubringen; ich bin das Ungeheuer. Vielleicht hat sich Morel in seinem Vortrag niemals auf Faustine bezogen; vielleicht war er verliebt in Irene, Dora oder die Alte. Ich bin überspannt, bin dumm. Morel ignoriert diese Favoritinnen. Er liebte die unzugängliche Faustine. Deshalb hat er sie getötet, hat sich zusammen mit seinen Freunden getötet, die Unsterblichkeit erfunden! Faustines Schönheit verdient diesen Wahn, diese Huldigungen, diese Verbrechen. Ich habe sie aus Eifersucht geleugnet oder um mich zu schützen, um die Leidenschaft nicht zuzulassen. Jetzt betrachte ich Morels Tat als einen angemessenen Dithyrambus. von einst? ** Es bleibt der unglaublichste: das Zusammentreffen, im selben Raum, eines Objekts und seines totalen Abbilds. Diese Tatsache suggeriert die Möglichkeit, daß die Welt ausschließlich aus Empfindungen besteht. (Anm. d. Hrsg.) -94-
Mein Leben ist nicht gräßlich. Wenn ich die unsteten Hoffnungen, mich aufzumachen und Faustine zu suchen, fahren lasse, kann ich mich in das seraphische Los schicken, sie zu schauen. Es gibt diesen Weg: leben, der Glücklichste der Sterblichen sein. Aber die Voraussetzung meines Glücks ist wie alles Menschliche unbeständig. Die Schau Faustines könnte - auch wenn ich es nicht dulden kann, nicht einmal in Gedanken unterbrochen werden: durch einen Zerfall der Maschinen (ich kann sie nicht reparieren); durch einen Zweifel, der mich überkommen und mir dieses Paradies ruinieren könnte (ich muß zugeben, daß es zwischen Morel und Faustine zu Gesprächen und Gesten kommt, die Leute von weniger festem Charakter zu Irrtümern verleiten könnten); durch meinen eigenen Tod. Der eigentliche Vorteil meiner Lösung ist, daß sie den Tod zur Voraussetzung und Garantie der ewigen Schau Faustines macht. Ich bin in Sicherheit vor den unendlichen Minuten, die nötig waren, um meinen Tod in einer Welt ohne Faustine vorzubereiten; ich bin in Sicherheit vor einem unendlichen Tod ohne Faustine. Als ich mich bereit fühlte, habe ich die Empfänger auf Simultanbetrieb geschaltet. Sieben Tage wurden aufgezeichnet. Ich habe meine Rolle gut gespielt: Ein uneingeweihter Betrachter mag annehmen, ich sei kein Eindringling. Dies ist das natürliche Ergebnis mühevoller Vorarbeit: vierzehn Tage ständiger Versuche und Studien. Unermüdlich habe ich jede einzelne meiner Handlungen wiederholt. Ich habe mir eingeprägt, was Faustine sagt, ihre Fragen und Antworten; oft schalte ich geschickt irgendeinen Satz ein; es wirkt so, als antworte Faustine mir. Nicht immer folge ich ihr; ich kenne ihre Bewegungen und gehe oft voran. Ich hoffe, daß wir insgesamt den Eindruck machen, unzertrennliche Freunde zu sein und uns zu verstehen, ohne -95-
miteinander reden zu müssen. Die Aussicht darauf, Morels Bild beseitigen zu können, hat mich erregt. Ich weiß, daß es ein sinnloser Gedanke ist. Trotzdem empfinde ich, da ich diese Zeilen schreibe, den gleichen Eifer, die gleiche Erregung. Mich quälte die Abhängigkeit von den Bildern (vor allem von denen Morels mit Faustine). Jetzt nicht mehr: Ich bin in diese Welt eingegangen; jetzt kann Faustines Bild nicht gelöscht werden, ohne daß meines verschwindet. Auch macht es mich froh - und das ist noch merkwürdiger, noch schwerer zu begründen -, daß ich von Haynes, Dora, Alec, Stoever, Irene usw. abhängig bin (ja von Morel selbst). Ich habe die Platten ausgetauscht; die Maschinen werden die neue Woche projizieren, ewig. Das lästige Bewußtsein, eine Rolle zu spielen, nahm mir in den ersten Tagen die Natürlichkeit; ich habe dies Bewußtsein überwunden, und wenn das Bild wie ich glaube - die Gedanken und Gemütszustände der Aufnahmetage birgt, wird die Wonne, Faustine zu schauen, der Zustand sein, in dem ich die Ewigkeit erlebe. Mit unermüdlicher Wachsamkeit hielt ich meinen Geist frei von Sorgen. Ich habe mich bemüht, Faustines Tun und Treiben nicht zu erforschen, jede Gehässigkeit zu vergessen. Mein Lohn wird eine gelassene Ewigkeit sein; mehr noch: Ich bin so weit gekommen, daß ich die Dauerhaftigkeit der Woche empfinde. In der Nacht, da Faustine, Dora und Alec in das Zimmer gehen, habe ich triumphal die Fassung gewahrt. Ich habe keinerlei Nachforschungen unternommen. Jetzt bin ich ein wenig verdrossen, daß ich diesen Punkt unaufgeklärt gelassen habe. In der Ewigkeit messe ich ihm keine Bedeutung bei. Den Verlauf meines Sterbens habe ich fast nicht gespürt; es begann im Gewebe der linken Hand; es ist jedoch schon weit gediehen; das Glühen nimmt so allmählich, so stetig zu, daß ich es nicht bemerke. Ich kann kaum noch sehen. Das Tastgefühl versagt mir den Dienst; meine Haut löst sich ab; die Empfindungen sind -96-
undeutlich, schmerzhaft; ich bemühe mich, sie zu ignorieren. Vor dem Spiegelschirm sah ich, daß ich bartlos, kahlköpfig, ohne Fingernägel, leicht gerötet bin. Die Kräfte schwinden. Was den Schmerz angeht, habe ich einen absurden Eindruck: Mir scheint, daß er zunimmt, daß ich ihn jedoch weniger spüre. Die beharrliche, winzige Sorge hinsichtlich der Beziehungen zwischen Morel und Faustine bewahrt mich davor, auf meinen Zerfall zu achten. Das ist ein unerwarteter und wohltätiger Effekt. Leider sind nicht alle meine Grübeleien so hilfreich: Es gibt da - nur in der Phantasie, zu meiner Beruhigung - die Hoffnung, daß meine Krankheit nichts ist als eine kraftvolle Autosuggestion; daß die Maschinen unschädlich sind; daß Faustine lebt und ich binnen kurzem aufbreche, um sie zu suchen; daß wir miteinander über diese falschen Vorabende des Todes lachen; daß wir Venezuela erreichen; ein anderes Venezuela, weil du, Vaterland, für mich die Senores der Regierung bist, die Milizen mit geliehenen Uniformen und tödlicher Schießkunst, die totale Verfolgungsjagd auf der Autobahn nach La Guayra, in den Tunneln, in der Papierfabrik von Maracay; dennoch liebe ich dich und grüße dich viele Male aus meiner Auflösung: Du bist ja auch die Zeit von El Cojo Ilustrado: eine Gruppe von Männern (darunter ich, ein Knirps, verschüchtert, respektvoll), die sich von acht bis neun Uhr morgens von Orduno anschreien lassen, von den Versen Orduños gebessert, in der Linie Zehn, einer offenen, klapprigen Tram, vom Pantheon bis hinunter zum Cafe Roca Tarpeya, eine inbrünstige Schule der Literatur. Du bist das Maniok-Brot, groß wie ein Schild und frei von Ungeziefer. Du bist die Überschwemmung der Ebenen mit Stieren, Stuten und Jaguaren, die von den Wassern ungestüm fortgerissen werden. Und du, Elisa, zwischen Indio-Wäschern, die du bei jedem Erinnern Faustine ähnlicher wirst; du hast ihnen gesagt, sie sollten mich nach Kolumbien bringen, und wir haben das eisige Hochland überquert; die Indios bedeckten mich mit schwelenden Blättern -97-
und Rindenasche, damit ich nicht erfror; während ich Faustine schaue, werde ich dich nicht vergessen - und ich dachte, ich liebte dich nicht! Und die Unabhängigkeitserklärung, die uns immer am 5. Juli, im ovalen Saal des Kapitols, der herrische Valentin Gómez vorlas, während wir, Orduño und seine Jünger, um ihn zu kränken, die Kunstfertigkeit von Tito Salas' Gemälde General Bolivar überschreitet die Grenze Kolumbiens priesen; und doch gestehe ich, daß wir danach, als die Kapelle spielte: »Gloria al bravo pueblo // (que el yugo lanzó // la ley respetando // la, virtud y honor)«* , eine patriotische Gefühlsregung nicht unterdrücken konnten, die Regung, die ich jetzt nicht unterdrücke. Aber meine eiserne Disziplin ringt sie immer wieder nieder, diese Gedanken, die die Ruhe des Endes gefährden. Noch sehe ich mein Bild in Gesellschaft Faustines. Ich vergesse, daß es ein Eindringling ist; ein uneingeweihter Betrachter könnte gla uben, die beiden seien gleichermaßen ineinander verliebt und hingen aneinander. Vielleicht ist das Versagen meiner Augen die Voraussetzung für diesen Anschein. Jedenfalls ist es tröstlich, im Anblick eines so befriedigenden Resultats zu sterben. Meine Seele ist noch nicht in das Bild übergegangen; sonst wäre ich tot, hätte (vielleicht) aufgehört, Faustine zu sehen, um mit ihr vereinigt zu sein in einer Schau, die niemand wahrnimmt. An den Menschen, der, gestützt auf diesen Bericht, eine Maschine erfindet, die imstande ist, die zerfallenen Anwesenheiten zu vereinen, möchte ich eine inständige Bitte richten. Er möge Faustine und mich suchen und mich eingehen lassen in den Himmel von Faustines Bewußtsein. Es wäre ein Akt des Erbarmens.
*
Ruhm dem tapferen Volk, das sein Joch abwarf, das Gesetz achtend, die Tugend und die Ehre. -98-
Die bescheidene Magie des Adolfo Bioy Casares Wer war Adolfo Bioy Casares? War er in Wirklichkeit Borges, wie Gerhard Köpf in seiner Novelle Borges gibt es nicht spielerisch postuliert, war er vielleicht sogar der bessere Borges, wie einige meinen, oder doch nur sein kleinerer Bruder? Auf den Topos vom Borges-Adepten scheint sich die Literaturkritik, außerhalb Argentiniens zumindest, weitgehend geeinigt zu haben, im Sinne eines Verdikts des argentinischen Großkritikers Julio Caillet Bois, der in vertrautem Kreis einmal meinte: »Bioy ist ein exzellenter Autor zweiter Güte.« Wenig nützt da der genauere Blick auf das umfangreiche gemeinsame Œuvre, das gewöhnlich ganz automatisch Borges zugeordnet wird, der (später vor allem aus der Not fast gänzlicher Blindheit) eine ganze Reihe von Co-Autor(inn)en beschäftigte. Sicher, eine Stilanalyse etwa würde weit eher auf Bioysche Wandlungsfähigkeit verweisen (von der Gisbert Haefs als Übersetzer auch des fast nicht zu übertragenden Gemeinschaftswerkes ein Lied singen könnte) als auf das Idiom borgestypischer Bibliothekare und Bücherwürmer. Doch schon die Tatsache, daß auch diese Bioy gewidmeten Zeilen bei Borges beginnen, belegt die Schwere der Hypothek: Der Anfangsverdacht Eckermannscher Sekundärtugenden lastet spätestens seit Borges' generösem Geleitwort zu Morels Erfindung auf Bioys gesamter literarischer Existenz. Wenig ändert daran für die literarische Öffentlichkeit auch der Respekt so anspruchsvoller (und politisch so ferner) Kollegen wie Julio Cortázar, Osvaldo Soriano oder Juan Rulfo, der Borges regelrecht verachtete, Bioy aber hochschätzte. Für den Spanier Juan Goytisolo ist Bioy gar einer von vielleicht drei hispanoamerikanischen Autoren, deren Werk auf Dauer Bestand -99-
haben wird. Doch nicht einmal die Häufung von Preisen und Anerkennungen der späteren Jahre, darunter immerhin der Premio Cervantes 1990, scheint auszureichen, Bioy einen Platz im Pantheon der ganz Großen zu sichern - hat er doch selbst die Flut der Ehrungen sarkastisch auf seine Langlebigkeit und die fünfzig Jahre währende Nähe zu Borges zurückgeführt. Wozu dann wird nun, über sechzig Jahre nach Erstveröffentlichung, fast vierzig Jahre nach der ersten deutschen Ausgabe, eine Neuübersetzung von Morels Erfindung vorgelegt? Warum eine neue Annäherung, wie sie nur bedeutenden Autoren vergönnt wird, deren Werk relativ früh in einer deutschen Version vorlag, die noch nicht als gültig anzusehen war? Kann dies gar der Auftakt zu einer kleinen Werkausgabe sein, so wie dieser immerhin weltweit gerühmte Roman den Auftakt zu einem imposanten Œuvre darstellt, das der Wiederentdeckung harrt? Wer sich dieses Vergnügens beraubt, mag vielleicht ebensowenig vermissen wie derjenige, der nie eine Seite Cortázar gelesen hat und also - laut Pablo Neruda - dem Armen gleicht, der nie einen Pfirsich gekostet hat. Doch anders als Cortázars Werk oder das von Borges muß man, so Bioys Biograph Marcelo Pichón Rivière, dessen Werk wirklich lesen, um es zu lieben: Autor wie Werk entfalten ihre Wirkung nicht aufgrund einer kulturellen Übereinkunft, aus der Distanz. Erst wenn man sich ihnen nähert, faszinieren sie, dann allerdings um so nachhaltiger. Versuchen wir also, beiden etwas näherzukommen. Jeder nicht völlig unbedarfte Leser wird sich vor dem platten Mißverständnis hüten, von einem Text direkt auf die Person des Autors zu schließen. Das gilt besonders dort, wo sich wie bei Bioy Ambiguität, ironische Brechung und mannigfaltige Spiegelungen als wesentliche Konstanten eines vielschichtigen Werkes erweisen. Und dennoch hat fast jeder nur etwas fortgeschrittene Leser seiner Romane und Geschichten das Gefühl, eine ziemlich präzise und sehr persönliche Vorstellung -100-
von dem Menschen zu haben, der hinter diesen literarischen Welten steht. Dabei war der reale Bioy - bis auf die Jahre seines Altersruhms - keineswegs ein öffentlicher, für viele zugänglicher Mensch; hierin ganz anders als Borges, dessen Werk sich weit hermetischer gibt, der als Person aber geradezu nach Kontakt mit jedweder Art von Außenwelt gierte. Zwar konnte es geschehen, daß man in Ermangelung einer persönlichen Empfehlung erst ein (in verblüffend fließendem Deutsch geführtes) Examen in Sachen deutscher Literaturgeschichte von Angelus Silesius bis Hugo von Hofmannsthal über sich ergehen lassen mußte. Hatte man sich aber als literarisch einigermaßen satisfaktionsfähig erwiesen, war Borges zu langen Gesprächen bereit, besonders gern über seinen Freund und literarischen Weggefährten. Bioy selbst dagegen lebte, wenn er nicht auf Reisen war, zurückgezogen im Kokon seiner großbürgerlichen Wohnung in der Calle Posadas, die (zum Teil aus Rücksicht auf die delikate Gesundheit seiner Frau) dunkel und seit Jahrzehnten unverändert war. Hier fand nur Einlaß, wer sein Vertrauen gewann. Hatte Adolfo Bioy Casares allerdings einmal seine an Schüchternheit grenzende Zurückhaltung aufgegeben, mochte man sich bei ihm behandelt fühlen wie eine seiner literarischen Figuren: mit liebevoller Distanz und sympathisierender Ironie. Bioy war der Sproß einer familia de abolengo, einer Oberschichtfamilie, die zum Kern der Oligarchie des Landes gehörte. Sein Großvater Bioy stammte aus der Alten Welt, aus einem Dorf etwa vierzig Kilometer von Pau, seine Großmutter Domecq (verwandt mit der spanischen Branntwein- und Sherry-Dynastie, wie Bioy gern anmerkte) kam aus einem Dorf noch etwas näher an der spanischen Grenze. Diese Landschaft seiner Vorväter hat Bioy in seinem Leben und in seinem Werk immer wieder aufgesucht. Die französischen Wurzeln haben es ihm ermöglicht, praktisch zweisprachig aufzuwachsen und zu lesen. So orientierte sich bereits sein erster eigener Schreibversuch als Achtjähriger, mit -101-
dem er einer geliebten Cousine imponieren wollte, an einer damals populären französischen Trivialschriftstellerin. Bioys Vater hatte es als Politiker zu einer bedeutenden Karriere gebracht, zeitweilig diente er seinem Land sogar als Außenminister. Weit wesentlicher aber in einem Land wie Argentinien: Über lange Jahre amtierte er als Vorsitzender der nationalen Vereinigung der Großgrundbesitzer. Dieser zugleich sehr gebildete Vater war zwar enttäuscht, als der lesehungrige junge Adolfo Vicente Perfecto Bioy Casares weder das Jurastudium noch einen philologischen Studienversuch abschloß; er unterstützte und beeinflußte ihn dennoch zeitlebens. Dem gerade Fünfzehnjährigen finanzierte er 1929 den Privatdruck der ersten Erzählsammlung mit dem Titel Prologo, der bis 1937 sechs weitere Bücher folgten, deren Titel sich im nachhinein zum Teil als ähnlich treffend erwiesen: Caos etwa, oder 17 disparos contra lo porvenir (»17 Schüsse gegen die Zukunft«). Soweit es überhaupt kritische Resonanz gab, fiel diese recht harsch aus. Ein Rezensent gab dem (im Fall der gemeinten Sammlung Caos unglücklicherweise nicht unter Pseudonym schreibenden) Jungautor sogar nachdrücklich den Rat, doch lieber Kartoffelpflanzer zu werden. Borges, der zumindest zu Luis Greve, muerto von 1937 freundliche Worte gefunden hatte, erzählte einmal, wie in diesen Jahren Bioy bei den Treffen des Autorenkreises um die Zeitschrift Sur die Anwesenden regelmäßig mit erbärmlichen Texten unbekannter junger Autoren zu ergötzen pflegte. Mit jugendlicher Grausamkeit gab er sie der Lächerlichkeit preis, war der Scharfzüngigste, wenn es galt, sie gemeinschaftlich niederzumachen. Erst viele Jahre später habe Borges erfahren, daß alle diese Texte von Bioy selbst stammten, der seine eigene literarische Hinrichtung in ungezählten Variationen inszenierte: »Er kam immer wieder mit neuen unsäglichen Texten. Dann, eines Tages, kommt er mir völlig unvermittelt mit einem Meisterwerk an.« Das Meisterwerk war Morels Erfindung. -102-
So sehr schämte Bioy sich seiner vorherigen Schreibversuche, daß Borges sie später, in seiner Zeit als deren Direktor, aus der Nationalbibliothek entfernen mußte; zumindest fehlten sie seither dauerhaft aus deren Bestand. Die alte argentinische Nationalbibliothek in der Calle Méjico war übrigens in vielfacher Hinsicht so etwas wie eine steingewordene Imagination von Bioy und Borges: Von basiliskenhaften Bibliothekarinnen und borgesianischen Katzen bewacht, barg sie (ohnehin ein Paralleluniversum höchst selektiver Literaturwahrnehmung à la Borges) mehrere Buchrealitäten. Gab es einen Titel an einem Tag, hatte es ihn am nächsten nie gegeben; dann wieder war er nur kurzzeitig verstellt, um beim vierten Versuch als dauerhaft dem Giftschrank zugeordnet gänzlich unerreichbar zu sein. Nur die frühen Texte von Bioy, die es grundsätzlich nicht gab, konnte man mit etwas Hartnäckigkeit aus Beständen entleihen, die der Bibliothek nicht gehörten, ihr aus dem Erbe eines armenischen Privatsammlers aber irgendwann einmal zukommen sollten. Wenn man sich der mitunter qualvollen Lektüre dieser in der Tat unausgegorenen frühen Versuche aussetzt, stellt man fest, daß bereits hier Themen, Motive und Obsessionen anklingen, die im Laufe seines Schriftstellerlebens für Bioy bestimmend bleiben werden: das Element des Phantastischen; Versuche, das Altern aufzuhalten; die Hoffnung auf ein Überdauern durch das künstlerische Werk; die prinzipielle Unmöglichkeit, den Anderen zu erkennen; der betrogene Mann; die Fiktion des gefundenen Tagebuchs. Trotz des angestrengten Versuchs, avantgardistisch zu schreiben, und des für den späteren Bioy so untypischen Mangels an (Selbst-)Ironie weisen die Texte der frühen Jahre in manchem auf den kommenden Autor hin. Wenn Bioy sich also 1937, als Dreiundzwanzigjähriger, vornimmt, von nun an vor allem danach zu trachten, gute Einfalle wie die Fabel des Romans, an dem er gerade schreibt, nämlich Morels Erfindung, nicht zu verderben, kann er auf eine -103-
Lehrzeit von bald 2000 geschriebenen Seiten zurückblicken, ein gut Teil davon (zu seinem späteren Leidwesen) gedruckt. Sein Entschluß, sich fortan damit zu bescheiden, die bisherigen Fehler mit größtmöglicher Disziplin zu vermeiden, anstatt weiter krampfhaft originell sein zu wollen, fußt somit auf einer schmerzhaft soliden Grundlage. Dies erklärt auch den sehr beherrscht, fast verknappt wirkenden Stil des Buches, den Bioy nach dem folgenden Roman (Fluchtplan) so nicht fortführen wird. Gerade diese Knappheit fordert dem Übersetzer weit mehr ab, als die glatte Oberfläche vermuten läßt, da schon das kleinste Verfehlen semantischer und teils auch syntaktischer Nuancen im deutschen Text den Eindruck einer Schroffheit erwecken würde, die das perfekt durchgearbeitete Original nirgends aufweist. Zugleich fehlt jene Art von sprachlichpsychologischem Beiwerk, die einem einfühlsamen Übersetzer erlauben könnte, noch mit etwas weniger feinmechanischer Präzision den Originalton zu treffen. Doch auch Bioys spätere Texte sind kein leichtes Geschäft für den Übersetzer, nur erwachsen die Schwierigkeiten dort eher aus einer polyphonen Art von Präzision, die wiederum höchste Ansprüche stellt. So reich und meisterhaft auch Bioys Stilkunst im Laufe seines Schaffens werden wird, seine Schreibweise bleibt auf den ersten Blick konventionell, fast zurückhaltend; sie wirkt immer unaufgeregt. Die stilistischen und schreibtechnischen Experimente eines Cortázar wären beim reifen Bioy undenkbar; ja immer wieder werden in seinen Geschichten ambitionierte avantgardistische Autoren karikiert. Manch ein argentinischer Autor wähnte sich in solchem Zerrspiegel wiedergegeben, dabei meinte Bioy zuallererst den jungen Adolfo Vicente »Perfecto«. In dessen Zeit, in den dreißiger Jahren, erging es Bioy besser als mit dem Schreiben mit Freundschaft, Liebe und literarischer Arbeit an fremden Texten. Zu Beginn des Jahrzehnts lernte er den fünfzehn Jahre älteren Jörge Luis Borges kennen. Dies geschah auf Betreiben seiner Mutter: Marta Casares hatte -104-
Victoria Ocampo gefragt, eine Freundin aus einer der großen Familien Argentiniens, wer ihrem so unglücklich in die Literatur verliebten »Adolfito« weiterhelfen könne, und diese hatte umgehend eine Begegnung mit dem vor allem als Lyriker bereits ziemlich bekannten Borges arrangiert. Die lebenslangen Freunde erinnerten sich unterschiedlich an dieses erste Zusammentreffen, aber einig waren sich beide, daß es bei der literarischen Gesellschaft im Hause Victoria Ocampos zu langweilig war, um sich nicht bei erster Gelegenheit davonzustehlen. Borges, der selbst gerade erst seine übermäßige Begeisterung für den Ultraismus überwunden hatte, bestand immer darauf, mit und von Bioy enorm gelernt zu haben. Die endlosen Gespräche und bald auch gemeinsame editorische Projekte haben aber gewiß ebenso die kritische Selbstanalyse Bioys befördert, während er mit der Idee für Morels Erfindung umging. 1931, kurz vor der Begegnung von Bioy und Borges, hatte die finanziell völlig unabhängige Victoria Ocampo die Zeitschrift Sur gegründet - großzügiger Parallelentwurf zu Ortega y Gassets Revista de Occidente -, die zur langlebigsten und bedeutendsten Kulturzeitschrift Lateinamerikas werden sollte. Kaum ein angesehener argentinischer Autor der Epoche, der nicht wenigstens eine kurze Zeit lang mitgearbeitet hätte. Die imposante Victoria prägte die Zeitschrift bis zu ihrem Tod: »Victoria war unerträglich, sie hatte keine Freunde. Aber ihre Rolle für Sur war immens wichtig«, erklärte Bioy einmal. Berühmt waren ihre vehementen Auseinandersetzungen mit Borges, der zeitweilig sogar als Redaktionssekretär amtierte, von ihr aber erst relativ spät wirklich anerkannt wurde. Anders verhielt sie sich gegenüber Bioy, der eine Weile als Mitherausgeber fungierte: »Ich war nie ein Geschöpf Victorias, deshalb kam ich mit ihr zurecht.« Zum engen Sur-Kreis zu gehören war gleichbedeutend mit dem literarischintellektuellen Ritterschlag. Die in ihren ersten Jahrzehnten deutlich liberale -105-
Zeitschrift entdeckte zahllose Autoren und Geistesströmungen erstmalig für den hispanischen Raum, und selbst wer sich wie Cortazar schließlich von Sur emanzipierte, konnte deren frühen Einfluß nie ganz verleugnen. Noch aus einem weiteren Grund war Victoria Ocampo entscheidend für Bioys weiteren Lebensweg: Über sie lernte er 1934 seine spätere Frau kennen, Victorias jüngere Schwester Silvina, eine Malerin und Dichterin eigenen Ranges. Auch wenn er sich in späteren Jahren höchst kritisch über das Institut der Ehe äußerte, blieb er mit der elf Jahre älteren Silvina doch bis zu ihrem Tod zusammen. Sie, die von den zahllosen Amouren dieses »homme à femmes« wußte, tröstete sich damit, daß seine Liebe zu ihr unantastbar sei; schließlich habe er immer wieder zu ihr zurückgefunden. Überhaupt galt die ganze lebensfrohe Gruppe glamouröser Literatur-Aristokraten um Bioy, Borges und Silvina den Zeitgenossen als ein Haufen verdächtiger Freigeister. Im mündlichen Bericht einer Randfigur und kurzzeitigen Mitautorin von Borges klingt eine Schilderung dieser Zeit wie die argentinische Version von Sodom und Gomorrha. Die Liste sittlicher und gesellschaftlicher Verfehlungen gipfelt darin, daß Bioy, ein Jugendfreund und Silvina wahrhaftig mit Auto und Wohnwagen über Land vagabundiert sind - eine damals fast undenkbare Narrheit, deren Bioy sich später nur als eine Abfolge diverser Desaster entsann. Tatsächlich verweist ein solcher Ausbruch aus der Metropole (ebenso wie Bioys lebenslange Liebe zu der Estanzia seiner Kindheit) auf ein frühes Interesse auch am ländlichen und am provinziellen Argentinien, das - neben den realen und imaginären Vierteln von Buenos Aires - die mythifizierten Inseln des Frühwerks ablösen wird. Die Gruppe um Bioy und Silvina stellte eine Art wohlsituierter Boheme dar, die einerseits bestimmte Rituale der konservativen Oberschicht für gegeben nahm (Tennis, Polo, großstädtische und großländliche Traditionen), andererseits aber -106-
liberal dachte und libertinistisch lebte. Man las und diskutierte die zeitgenössische europäische Avantgarde mit nur geringer Verspätung, von Joyce bis Cocteau, von Kafka bis Proust, man scherte sich wenig um Politik und um gesellschaftliche Konventionen. Vieles sollte sich Mitte der vierziger Jahre mit dem Wahlsieg Perons ändern, doch zunächst, und besonders mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, florierten in Argentinien die Wirtschaft wie das Geistesleben. Buenos Aires wurde zum Exilort eminenter Europäer wie Roger Caillois, dessen spätere Rolle bei der Propagierung argentinischer Literatur in Europa nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Nicht zufällig sollte auch die europäische Aufnahme von Morels Erfindung von Frankreich ausgehen, über die Rezeption durch vermeintliche literarische Gesinnungsgenossen wie Alain Robbe-Grillet und Michel Butor. Einige Kapitel von Morels Erfindung wurden vor der Buchveröffentlichung in Sur abgedruckt. Die ersten uneingeschränkt positiven Reaktionen auf etwas, das er geschrieben hatte, bestärkten Bioy in der Überzeugung, daß seine Schreibdisziplin sich ausgezahlt hatte. Als das Buch 1940 erschien, illustriert mit Zeichnungen der ihm eben angetrauten Silvina und geleitet von dem Vorwort seines Freundes Borges (»Es erscheint mir weder unzutreffend noch übertrieben, wenn ich [die Fabel] als perfekt bezeichne«), begann eine vielfältige Wirkungsgeschichte. Deutlicher Beleg hierfür ist Robbe-Grillets Drehbuch für Alain Resnais' Letztes Jahr in Marienbad, und noch die Grundidee zu Woody Allens The Purple Rose of Cairo wirkt, als wäre sie direkt bei Bioy entlehnt. Die auch von Borges hervorgehobene Qualität der philosophischliterarischen Erfindung, die Bioysche Versuchsanordnung im sauberen Laborraum der weltfernen Insel, in die der Erzähler geworfen wird, läßt Raum für vielfältige Interpretationsansätze. Man erkannte darin ein literarisches Bild für das Kino, für die Literatur natürlich, für die -107-
Kunst ganz allgemein, ja für die menschliche Existenz schlechthin. Schnell machte man William James, Hume, Berkeley als geistige Wegbereiter für die Erfindungen von Morel und später, in Fluchtplan, von Castel aus; deren nur zum Teil von den Diskussionen mit Borges beeinflußter Lektüre (Bioy hatte sich längst ganz auf das »andere Abenteuer« eingelassen, wie er später einmal schreiben sollte, auf das Lesen) war die philosophische Basis für die vielschichtige Vorstellung von Realität auf Bioys »physischen und metaphysischen Inseln« (Ernesto Sábato) geschuldet. Bis in unsere Tage reichen Interpretationen von Bioy als einem Vertreter der »ersten Postmoderne«, der die literarische Metapher geliefert habe für die Reproduzierbarkeit des ursprünglichen Original-Kunstwerks, im Sinne der Baudrillardschen Simulationstheorien. Vor diesem Hintergrund versteht ein Interpret (Horst Pankow 1998 in Jungle World) die Selbstaufgabe von Bioys flüchtigem Helden als Verzicht auf Selbstbestimmung in der Anpassung an das ewig Gleiche, Wiederkehrende, als physischen und intellektuellen Selbstmord: Morels Erfindung allein als kulturpessimistische, zeitgemäße Adaption von H. G. Wells' Insel des Dr. Moreau. Schon ein zeitgenössischer Kritiker aber schrieb: »Nach der Lektüre unterhält man sich damit, die Möglichkeiten dieser Erzählung weiterzuspinnen.« Die Vielzahl der je nach persönlicher Lesart oder dem jeweiligen literaturtheoretischen Ansatz möglichen Deutungsansätze ist sicher ein wesentlicher Grund dafür, daß unter Bioys Werken gerade Morels Erfindung zum modernen Klassiker avancierte. Bioy selbst schätzte den Roman zeitlebens, hielt ihn aber nicht unbedingt für seinen besten: Die strenge stilistische Disziplin, die er sich auferlegt hatte, überzeugte ihn im nachhinein nicht mehr völlig, weshalb Morels Erfindung auch der einzige Roman ist, den er nach der Erstveröffentlichung noch überarbeitete (die sprachlich etwas weniger karge Version, von Bioy als die gültige angesehen, liegt -108-
auch der vorliegenden Übersetzung zugrunde). Mit der Rezeptionslinie, die das Buch vor allem für seine Fabel lobte, war er durchaus einverstanden; für ihn gehörte Morels Erfindung gemeinsam mit Fluchtplan und der darauffolgenden Erzählsammlung La trama celeste (»Der himmlische Plan«) zu einer Phase literarischer Präzisionsarbeit, die sich komplexer Mechanismen philosophischliterarischen Erfindergeistes bedient habe. Erst in der Folge habe er mehr auf die alltäglichen Seiten der menschlichen Existenz geschaut. Kein Wunder also, daß sich der Ansatz zu einem anderen Verständnis nur hier und da schüchtern andeutet. Und doch könnte gerade hier eine Art Schlüssel zu Bioys Werk und letztlich ein Indiz für ein die Zeiten überdauerndes Interesse an seinen literarischen Welten liegen. Ausgerechnet Sábato, mit dem Bioy nicht sehr viel verband, konstatierte sehr früh: »Bioy Casares ist sentimental und romantisch, so sehr er dies auch zu verbergen trachtet. [… ] Seine Romane werden der condition humaine immer näherkommen, seine Erfindungen sich immer mehr mit der ganzen Erbarmungswürdigkeit und den Hoffnungen jener armen Wesen vermengen, die in dieser schrecklichen Welt leben und leiden.« Das klingt so gar nicht nach distanziertem philosophischliterarischem Experiment. Dazu sagte Bioy selbst noch 1989: »Ich habe das Schicksal der Menschen immer ein wenig als in komischer Weise erbarmungswürdig angesehen. Wegen der Beschränkungen des Menschen und wegen des kosmischen Mysteriums. Wegen dieses ganzen Lebens, das man nicht gesucht, nicht gewählt hat und das üblicherweise ein schreckliches Ende findet.« Solche Beschränkungen zumindest literarisch aufzuheben, alle nur erdenkbaren Formen von Welt auszuloten und tunlichst deren Unscharfen gleich mit, das ist eine der großen Obsessionen des Adolfo Bioy Casares. Seine früh gewonnene Überzeugung, daß der Mensch allein ist, unfähig, zu verstehen oder sich verständlich zu machen, sieht nur eine Möglichkeit, diese -109-
Isolation zumindest zeitweise zu durchbrechen - die Liebe. Und auch sie ist bei ihm nicht Erlösung, sondern zumeist Phantasma: »Zwischen Mann und Frau […] liegt ein Abgrund, und wenn sie hier und da eins sind, beruht das auf einem Mißverständnis« (Bioy Casares, in der Sammlung El héroe de las mujeres, »Der Held der Frauen«). Selten hat Bioy für diese Auffassung unserer Existenz eine klarere literarische Metapher gefunden als im vorliegenden Buch. Dabei liegt ihm, wie der Leser sich überzeugen kann, bereits hier jeder existentialistischtragische Gestus fern. Zu sehr ist er sich des ironischen Aspekts bewußt, der lächerlichen Seiten unseres Strebens und Irrens. Zwar dient der in den Bereich der Science Fiction gehörende (und vielleicht von einer Erzählung des Argentiniers Horacio Quiroga inspirierte) Einfall der geradezu exemplarischen Darstellung des bloßen Nebenstatt Miteinanders der Menschen der Entlarvung der unzähligen Selbsttäuschungen, denen wir unterliegen; zwar verweist der unvollkommene Schöpfer Morel auf einen anderen unvollkommenen Weltenschöpfer: Die Erschaffenden (auch die literarischen) beherrschen ihre Schöpfung nicht; Gott ist tot, und wir müssen sehen, wie wir zurechtkommen. Doch wenn Bioy eine alte bildnerische Tradition aufgreift, bei der Stifter (und Schöpfer) großer historischer oder biblischer Darstellungen ihr eigenes Konterfei in kryptischer oder apokrypher Weise dem Tableau hinzufügten, erzählt er zugleich eine bewege nde Liebesgeschichte: die einer bedingungslosen Liebe bis zur Selbstaufgabe, die um ihre Unmöglichkeit weiß und dennoch die letzte Hoffnung nicht aufgeben will, irgendwann Erfüllung zu finden. Durch die für Bioy typische liebevollironische Darstellung des (Anti-)Helden wird übergroßes Pathos vermieden, und doch verfehlen dessen zuweilen fast grotesk anmutende Versuche, zu verstehen und verstanden zu werden, ihre eigentümlich komische und zugleich anrührende Wirkung nicht. Grundsätzlich werden es solche Antihelden bleiben, die Bioy faszinieren, denn »die Mißerfolge im Leben bringen gute -110-
Literatur hervor, nicht die Triumphe«. Morels multisensorische Holographien und ihre Deutungen stellen nur den Auftakt dar zu den vielen folgenden Welten des Adolfo Bioy Casares, bis hin zu den kurzen Geschichten der letzten Sammlung von 1998, Una magia modesta, »Eine bescheidene Magie«. Von Beginn an sind sie mehr als reine philosophische Konstrukte, und bis zu seinem Tod im Jahre 1999 gab Bioy seine Deutung der Wirklichkeit(en) in einer reichen Abfolge von Romanen und vor allem Erzählungen, die ein (mit nur teilweiser Ausnahme der »Jugendsünden«) kongruentes Werkkorpus ergeben, wie es seinesgleichen sucht. Dieses wirkt so persönlich, weil Leben und Schreiben für Bioy im wesentlichen eins war: »Schreiben bedeutet, dem Haus des Lebens ein Zimmer hinzuzufügen. Es gibt das Leben, und es gibt das Nachdenken über das Leben, welches nur eine andere Art ist, intensiv zu leben.« Sein Credo war schon sehr früh: »Ich lebe, weil ich schreibe - Leben ist Literatur, Literatur ist Leben.« So verwundert es nicht, daß sich ganze Passagen seiner 1994 in Auszügen veröffentlichten Tagebücher wie klassische BioyErzählungen lesen, mit einem verunsicherten Helden, der nach Antworten auf eine Grundfrage menschlicher Existenz sucht: Ist es möglich, wenigstens für einen Moment die tragische Isolation des Ichs zu überwinden und eine Kommunikation zum Anderen aufzubauen, die uns jene zusätzliche Dimension erschließt, welche unser Leben erträglich (oder, für diesen Augenblick zumindest, »wirklich«) macht? Wie seine ebenso verunsicherten literarischen Helden erweist Bioy sich hier mehr als Weltenbeobachter denn als Mann der Tat, denn trotz seiner intensiv gelebten Frauenbeziehungen gibt er einmal zu, daß er sich nie in die Frauen zu verlieben getraut habe, die er wirklich begehrte, da er sich zu sehr vor Verletzungen gefürchtet habe. Und doch bringt er im Leben wie in seiner Literatur den Mut auf, die Eindimensionalität und die Zwangsläufigkeit irdischen Daseins nicht zu akzeptieren. Gegen die verzweifelte -111-
Einsamkeit des Todes setzt er immer wieder die Liebe: »Bioys Thema ist nicht kosmisch, sondern metaphysisch. Die Liebe ist eine privilegierte Form der Wahrnehmung, die umfassendste und klarsichtigste, nicht nur der Unwirklichkeit dieser Welt, sondern unserer eigenen Unwirklichkeit. Wir laufen Schatten hinterher, aber wir selbst sind gleichfalls Schatten«, erkannte der große Mexikaner Octavio Paz vielleicht als erster. Im Leben wie in seinem Werk nimmt Bioy zudem Zuflucht zum Traum als Verdopplung des Lebens, zur Reise als Möglichkeit, andere (Innen- wie Außen-) Welten zu entdecken, und zu seinen eigenen, oft phantastischen Deutungen der Wirklichkeit. Immer ist er dabei getrieben von der »Hoffnung, den Schlüssel zu finden, der andere, wunderbare Möglichkeiten erschließt. Um dem Tod etwas entgegenzusetzen, der so inakzeptabel wie phantastisch ist, reicht das eine Leben nicht aus, in dem wir uns naturgegeben befinden«, so Bioy. »Im Angesicht dessen, was wir nicht begreifen können, erfinden wir phantastische Geschichten, um Hypothesen zu wagen oder mit anderen den Schwindel unserer perplexen Verunsicherung zu teilen.« Und immer wieder schreibt Bioy gegen die Vergänglichkeit an. Die Anmaßung des fünfzehnjährigen Autors von Prologo (»Da ich am Leben hänge, möchte ich weiterbestehen, zumindest in diesen Seiten, auch nach meinem Tod«) hat er später vielfach ironisiert, nicht zuletzt in der kleinen, kläglichen Unsterblichkeit, die der venezolanische Flüchtling Morels Maschinen (robuster als die Pariser Metro) abtrotzt. Neben der Erlösung durch das Schreiben auch ein Motiv für die Niederschrift auf Morels Eiland - wird die Weigerung, sich in unser zwangsläufiges Vergehen zu schicken, Konstante seiner Geschichten bleiben: über die ironischprogrammatische Erzählung »Das Werk« und den meisterhaften Roman Tagebuch des Schweinekriegs bis hin zu den späten Erzählungen aus der Sammlung Historias desaforadas, »Ungeheure Geschichten«. Aus dieser besonderen Einheit von Leben und Werk erklärt sich -112-
auch jene eingangs konstatierte, rezeptionsästhetisch höchst interessante Sonderbeziehung zwischen den Lesern und dem Autor, die mit der deutschen Neuausgabe eines seiner wesentlichen Werke um eine durchaus bedeutende Facette erweitert werden kann. Bioy sah in der Existenz von Übersetzungen ohnehin ein literarisches Beispiel für die Gleichzeitigkeit annähernd identischer und doch völlig verschiedener Realitäten. In nochmals besonderer Weise wurde das für ihn manifest in der ihm liebsten fremdsprachigen Version von Morels Erfindung, einer ungarischen Fassung, die in einer gegenläufig gebundenen Doppelausgabe mit Italo Calvinos Der Baron auf den Bäumen erschienen war. Wenn mit der nun begonnenen Werkauswahl das gelingen sollte, was sich der schreibende Flüchtling auf Morels Insel von möglichen Mittlern in seiner Nachwelt erhofft: den physisch nicht mehr existenten Autor in das Bewußtsein des umworbenen Wesens (Faustine? Die Leser?) zu bringen, wäre zumindest ein Teil dessen erreicht, wonach Adolfo Bioy Casares in den langen Dekaden kontinuierlicher Arbeit an seinem (Über)Lebenswerk strebte. Daß daraus Liebe entstehen kann, erscheint fast wahrscheinlicher als im Falle Faustines und des Mannes, der sich mit ihrer »völligen Unkenntnis unserer Gepflogenheit, miteinander zu schlafen« nicht abfinden kann. Rene Strien
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